Politische Religion und Religionspolitik: Zwischen Totalitarismus und Bürgerfreiheit 9783666369049, 3525369042, 9783525369043


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German Pages [416] Year 2005

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Politische Religion und Religionspolitik: Zwischen Totalitarismus und Bürgerfreiheit
 9783666369049, 3525369042, 9783525369043

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Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung Herausgegeben von Gerhard Besier Band 28

Vandenhoeck & Ruprecht

Politische Religion und Religionspolitik Zwischen Totalitarismus und Bürgerfreiheit

Herausgegeben von Gerhard Besier und Hermann Lübbe

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 3-525-36904-2 Umschlagabbildung: Papst Johannes Paul II. und Lech Wałęsa, 1991. © Sławomir Sierzputowski / Agencja Gazeta.

© 2005, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Satz: Hannah-Arendt-Institut, Dresden Gesamtherstellung: Hubert & Co., Göttingen Umschlagkonzeption: Groothuis, Lohfert, Consorten, Hamburg Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt Vorwort Gerhard Besier / Hermann Lübbe

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Aus dem Grußwort Monika Medick-Krakau

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Zeithistorische Perspektive Die Funktion von Religion in den autoritären und totalitären Diktaturen Europas einerseits und in den USA andererseits

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Der Marxismus-Lenismus als „politische Religion“ Klaus-Georg Riegel

15

Der Nationalsozialismus als „politische Religion“ und die „Volksgemeinschaft“ Claus-Ekkehard Bärsch

49

„Berufsständische Ordnung“ und autoritäre Diktaturen. Zur politischen Umsetzung einer „klassenfreien“ katholischen Gesellschaftsordnung in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts Gerhard Besier

79

Die Konfrontation der französischen Kultur mit totalitären Ideologien und die Rolle von Laizismus und Religion Gilbert Merlio

111

Religion als Wettbewerb. Zur religiösen Kultur der USA Michael Zöller

133

Zeitgenössische Perspektive Die Rolle der Religion in den USA und in der EU Europäische Missverständnisse über die öffentliche Präsenz von Religion in den USA Manfred Brocker

143

145

6

Inhalt

Die Vielschichtigkeit von Religion und Staat in den Vereinigten Staaten von Amerika: Trennung, Integration, Akkommodation Derek H. Davis

167

Kirche und Religiosität in Polen vor und nach der politischen Wende Jerzy Tutaj

185

Das Religionsrecht zwischen der Sicherung freiheitlicher Vielfalt und der Abwehr fundamentalistischer Bedrohungen Hans Michael Heinig

197

Religiöse Pluralität in multikulturellen Gesellschaften Markus Vinzent

217

Islamischer Konservatismus der AKP als Tarnung für den politischen Islam? Die Türkei zwischen Europa und dem Islamismus Bassam Tibi

229

Religiöse Begründungen des Terrors durch radikale Islamisten Tilman Seidensticker

261

Systematische Perspektive Zur Vieldeutigkeit von Freiheit, Pluralismus und Fundamentalismus

273

Fundamentalismus, religiöser Pluralismus und die Aufklärung Hermann Lübbe

275

Monotheistische Offenbarungsreligionen als Quelle von Intoleranz und Gewalt? Bemerkungen zur Assmann-Debatte Herbert Schnädelbach

297

Neureligiöse Bewegungen und staatliches Handeln Joachim Süss

309

Das deutsche „Kooperationsmodell“ von Staat und Amtskirchen in seinen Auswirkungen auf religiöse Pluralität und gelebte Religionsfreiheit Hermann Weber

325

Inhalt

7

Frankreich: Laizität und Privatisierung der Religion – gesellschaftliche Befriedung oder agnostische Gegenkultur? Jean-Paul Willaime

343

Die sich wandelnde Gestalt des religiösen Pluralismus in Amerika Charles H. Lippy

359

Wie viel Religion verträgt eine offene Gesellschaft? Möglichkeiten und Grenzen religiöser Einflussnahme in demokratischen Verfassungen Jürgen Kühling

377

Muss man Religiosität respektieren? Jan Philipp Reemtsma

391

Personenregister

407

Autorenverzeichnis

413

Vorwort Das Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung veranstaltete in Dresden vom 30. September bis 2. Oktober 2004 eine Konferenz von Theologen, Religionswissenschaftlern, Juristen, Philosophen und Sozialwissenschaftlern zu den Beziehungen zwischen Religion und Politik in Modernisierungsprozessen. Mit dem vorliegenden Band werden die Arbeitsergebnisse dieser Konferenz veröffentlicht. Die Planung der Konferenz ließ sich von zwei Voraussetzungen leiten. Erstens: Entgegen den wirkungsreichen Annahmen religionskritisch inspirierter Theorien kultureller und sozialer Emanzipation hat sich die Religion grundsätzlich als modernitätskompatibel, ja in etlichen Fällen als modernisierungsbegünstigend erwiesen. Sogar die Geschichte der großen totalitären Systeme lässt sich im Rückblick als der Erweis der Unmöglichkeit lesen, Gesellschaften politisch religionsfrei zu machen. Im Versuch, die Bedingungen der humanen Nötigkeit religiöser Kultur aufzuheben, gewann der Totalitarismus selbst Züge einer „politischen Religion“. Wo demgegenüber Religionsfreiheit herrscht, gibt es politisch und rechtlich verbindliche Religion nicht mehr. Gleichwohl löst sich darüber die religiöse Kultur keineswegs ihrer bürgerrechtlichen Unverbindlichkeit wegen säkularistisch auf. Ganz im Gegenteil wird modernisierungsabhängig die Religionsfreiheit als das entscheidende ordnungspolitische Medium selbstbestimmten religiösen Lebens erfahrbar und wirksam. Zweitens pluralisiert sich modernisierungsabhängig die religiöse Kultur. Je weiter sich regional und sozial unsere wechselseitigen wirtschaftlichen und politischen Abhängigkeiten erstrecken, umso näher rückt uns zugleich die Vielfalt religionskultureller Herkunftsprägungen koexistierender Individuen und Kommunitäten. Mit den Migrantenströmen verbreiten sich auch die religiösen Kulturen und mit ihnen die regelungsbedürftigen Friktionen zwischen ihnen. Überdies nimmt auch die Pluralität religiöser Lebensformen innerhalb heimischer traditionaler Religionsgemeinschaften zu und die Vielfalt so genannter Sekten und sonstiger neuer Kommunitäten gleichfalls. Beide Voraussetzungen waren im ursprünglichen Titel der Konferenz aufgenommen: „Pluralismus, Fundamentalismus und die Freiheit der Religion. Über Formen bürgerlicher Koexistenz im kulturellen Dissens.“ Der knappere Titel dieses Bandes nimmt diese Interdependenzen und Entwicklungen auf. Das Recht, näherhin das Religionsrecht, ist das wichtigste Element der Gewährleistung von Freiheit und Frieden unter Bürgern, die nach Glauben und Bekenntnis sich nicht im Konsens befinden. Die wichtigsten Typen des Religionsrechts, die bürgerliche Koexistenz sogar noch zwischen zerstrittenen Fundamentalisten möglich machen, sind inhaltlich sehr verschieden und nach ihrer historischen Herkunft kontingent – von der religionsfreundlichen strikten Trennung von Staat und Religionsgemeinschaften, wie sie seit über 200 Jahren die

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Vorwort

USA prägt, über die französische Laizität bis zu den mannigfachen Formen des so genannten Staatskirchenrechts mit seiner Privilegierung einiger Religionsgemeinschaften vor anderen. Diese wichtigsten Typen des Religionsrechts werden hier exemplarisch vorgestellt, und sie werden so nach Nutzen und Nachteil in ihrer unterschiedlichen Kapazität zur Verarbeitung religionskultureller Modernisierungsprozesse vergleichbar. Wir danken Petra Tallafuss für die redaktionelle Betreuung dieses Bandes, ihr und Hans Jörg Schmidt für die Übersetzung der englischsprachigen Beiträge, beiden und Edward Hamelrath für Dolmetscherdienste sowie Hannelore Georgi und Carsten Schmidt für mannigfaltige Hilfen im Zusammenhang mit der Vorbereitung der Tagung und ihrem Verlauf. Kai Krause hat dankenswerter Weise das Personenregister vorbereitet. Walter Heidenreich und Christine Lehmann haben in bewährter Weise die Layout-Arbeiten besorgt. Dresden, Zürich im Mai 2005

Gerhard Besier, Hermann Lübbe

Aus dem Grußwort der Prorektorin für Bildung der Technischen Universität Dresden, Prof. Dr. Monika Medick-Krakau [...] Die folgenden Überlegungen sind meiner politik- und sozialwissenschaftlichen Prägung geschuldet und werden deshalb bei aller Überschneidung mit Ihrer, liebe Konferenzteilnehmer, eher historisch-kulturwissenschaftlichen Perspektive nicht deckungsgleich sein. Was uns, auch uns Wissenschaftlern, bis vor wenigen Jahren so selbstverständlich erschien – das Denken in den dichotomischen Kategorien von Staat und Gesellschaft, öffentlicher und privater Sphäre, individueller Freiheit und gesellschaftlicher Verantwortung –, ist in Wahrheit ein Differenztatbestand. Unser Staats- und Gesellschaftsmodell – mit Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit, gewaltenteilend demokratischem Regierungssystem und gesellschaftlichem und politischem Pluralismus – ist Erbteil der europäischen Aufklärung. Obgleich deren Werte das normative Gerüst des Völkerrechts, insbesondere seiner Weiterentwicklung im System der Vereinten Nationen abgeben, lässt sich der historische Siegeszug dieser Werte keineswegs mehr selbstverständlich unterstellen. Die dritte Welle der Demokratisierung scheint zunehmend zu verebben, und die historische Koinzidenz mit staatlichen Zerfallsprozessen in großen Regionen der Dritten Welt ist kaum zufällig. Bürgerliche Koexistenz im kulturellen Dissens setzt die Differenzierung der Sphäre des Öffentlichen und Politischen einerseits und der Sphäre der Privatheit andererseits voraus. Es kommt unserer Problemsichtigkeit zugute und schützt uns vor Überheblichkeit, wenn wir uns erinnern, dass diese Ausdifferenzierung auch für die Gesellschaften des alten Europa und Nordamerikas eine historisch junge und in manchen Bereichen durchaus brüchige Errungenschaft darstellt. Religion kann im schwierigen Balanceakt zwischen Individualismus und gesellschaftlichem Zusammenhalt sowohl konstruktiv als auch destruktiv wirken. Demokratie lebt ja bekanntlich von Voraussetzungen – von Werten und Normen – die sie nicht selbst schaffen kann, jedenfalls dann nicht, wenn sie verstanden wird als Prozess der Legitimation durch Verfahren. Die konstruktive, Demokratie stützende Rolle von religiösem Erbe wird greifbar zum Beispiel in den christlichen Wurzeln des rationalen Naturrechts (das lässt sich sagen ohne jede Schmälerung des Beitrags antiker philosophischer Traditionen). Religionen können im öffentlichen Raum große Bedeutung haben, ohne bürgerliche Koexistenz und ohne die Autonomie des Politischen und damit die politisch-gesellschaftliche Moderne zu beschädigen. Religiöser Fundamentalismus aber ist die Rücknahme der bzw. ein Angriff auf die Moderne, der sich – Ironie der Koexistenz des Ungleichzeitigen – zur Mobilisierung von Anhängerschaft immer stärker des Instrumentariums der technisch-wissenschaftlichen Zivilisation und vor allem der modernen Kommunikationstechniken bedient.

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Grußwort

Sie werden sich auch mit der Frage beschäftigen, ob Pluralismus und politische Demokratie durch diese Entwicklung in die Defensive gedrängt werden, und Sie werden dies in vergleichender Perspektive tun. Dies ist notwendig, da die Unterschiede auch zwischen den westlichen Gesellschaften immens sind. Gleichwohl wird die Mühe des Vergleichs häufig gescheut. Es ist ein Verdienst der Tagung, dass Sie diese Mühe auf sich nehmen. [...]

Zeithistorische Perspektive Die Funktion von Religion in den autoritären und totalitären Diktaturen Europas einerseits und in den USA andererseits

Der Marxismus-Leninismus als „politische Religion“ Klaus-Georg Riegel Es gehört zu den Paradoxien der westeuropäischen Modernisierungsprozesse, dass die politischen Religionen des Faschismus, Nationalsozialismus und Marxismus-Leninismus die politischen Zentren und Herrschaftsapparate zum entscheidenden Bezugspunkt für die Realisierung ihrer innerweltlichen Erlösungslehren wählten. Im Unterschied zu den vormodernen Theokratien entdeckten die modernen politischen Religionen das politische System als wichtigstes Vollzugsorgan ihrer Ideologien, Messianismen und Millenarismen. Damit wurde die für moderne Gesellschaften typische funktionale Differenzierung von Politik und Religion in soziale Teilsysteme mit eigenen Systemimperativen aufgehoben. Die politischen Erlösungsreligionen der Moderne führten damit eine völlig neue Konstellation von Erlösung und ihrer politischen Realisierung in die westlichen Modernisierungsprozesse ein. Emilio Gentile1 hat diesen Prozess der funktionalen Entdifferenzierung von Politik und Religion als „Sakralisierung“ des politischen Zentrums beschrieben. In diesem Sinne propagieren (1) politische Religionen innerweltliche Erlösungsdoktrinen. Die Führer, Ideologen und Anhänger dieser politischen Religionen fühlen sich nicht transzendenten Legitimationsmustern verpflichtet, sondern erfinden selbst sakrale Traditionen, Utopien, Messianismen, welche auf die umfassende Transformation und Rekonstruktion von Gesellschaft und Kultur ausgerichtet sind. Diese utopische Transformation und Rekonstruktion von Gesellschaft und Kultur wird als (2) gigantisches Experiment revolutionärer Politik2 begriffen. 1

2

Emilio Gentile, The Sacralization of Politics: Definitions, Interpretations and Reflections on the Question of Secular Religion and Totalitarianism. In: Totalitarian Movements and Political Religions, 1 (2000), S. 18 f., geht dann von einem Sakralisierungsprozess aus, wenn „a political movement confers a sacred status on an earthly entity (the nation, the country, the state, humanity, society, race, proletariat, history, liberty, or revolution) and renders it an absolute principle of collective existence, considers it the main source of values for individual and mass behaviour, and exalts it as the supreme ethical precept of public life. It thus becomes an object for veneration and dedication, even to the point of self-sacrifice.“ Vgl. Maxim Gorkij, Unzeitgemäße Gedanken über Kultur und Revolution, Frankfurt a. M. 1972, S. 98. „Für die Lenins ist die Arbeiterklasse dasselbe, was für den Metallurgen das Erz ist. Ist es denn möglich, aus diesem Erz – unter allen gegebenen Bedingungen – den sozialistischen Staat zu gießen? Offensichtlich ist es unmöglich – aber warum sollte man es nicht einmal versuchen? Was riskiert Lenin, wenn das Experiment misslingt? Er arbeitet wie ein Chemiker im Labor. Während ein Chemiker aber totes Material benutzt und dabei für das Leben wertvolle Resultate erzielt, operiert Lenin

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Klaus-Georg Riegel

(3) Die Führer und Ideologen dieses Laborexperimentes revolutionärer Politik verstehen sich als moralisch überlegene Elite, welche berechtigt ist, diese innerweltlichen Soteriologien zu realisieren. (4) Politische Religionen fordern eine exklusive Identifikation mit ihren Erlösungsvisionen. Aus diesem Grunde werden alternative Glaubensmächte als häretische Herausforderungen für das eigene Erlösungsmonopol3 begriffen und als „objektive Gegner“4 bekämpft. (5) Es überrascht daher nicht, dass politische Religionen eine Vernichtungssemantik entwickeln, welche die Verfolgung, Deportation und Vernichtung ihrer Glaubensrivalen legitimiert. Das Arsenal der von den politischen Religionen entwickelten eliminatorischen Praktiken ist umfassend und variiert je nach historischer Situation, ideologischer Zielsetzung und Implementierungschancen. (6) Politische Religionen beschränken ihre revolutionäre Politik nicht allein auf ihre eigene Gesellschaft und Kultur, sondern entwickeln universelle Soteriologien, welche organisatorisch über Institutionen der Weltmission verbreitet werden. (7) Die innerweltlichen Soteriologien von politischen Religionen setzen auf den Primat der Politik. Durch den Transfer von transzendenten Erlösungslehren auf politische Akteure und Institutionen avanciert das politische System zum sakralen Handlungsbereich für die Realisierung des Experiments revolutionärer Transformation und Rekonstruktion von Gesellschaft und Kultur. Das politische System wird zum institutionellen Ort der Selbsterlösung revolutionärer Akteure. Damit wird eine erhebliche institutionelle Beschränkung des Relevanzbereiches innerweltlicher Selbsterlösung durch revolutionäre Akteure eingeführt, die bewusst auf transzendentale Legitimationsmuster verzichten. Der von ihnen betriebene revolutionäre Terror wird zur sakralisierten Mission für die Implementierung der entsprechenden innerweltlichen Glaubensimperative. Die Eroberung des politischen Zentrums und die Besetzung der zentralen Herrschaftsapparate mit dem eigenen Führungspersonal werden daher als entscheidende Bedingung für die Realisierung des selbstverliehenen Mandates zur

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mit lebendigem Material und führt die Revolution in den Untergang. Die klassenbewussten Arbeiter, die Lenin folgen, müssen begreifen, dass mit der russischen Arbeiterklasse ein erbarmungsloses Experiment gemacht wird, das die besten Kräfte der Arbeiter vernichten und die normale Entwicklung der russischen Revolution für lange Zeit hemmen wird.“ Auf den russischen Marxismus bezogen bedeutet dies – in der Sprache Berdiajews: „Der Kommunismus verfolgt alle Religionen, weil er selbst eine Religion ist. Als die ‚einzig wahre‘ Religion vermag er die Existenz der anderen – der ‚falschen‘ Religionen – nicht zu ertragen. Seinen Glauben will er durch Zwang und Gewalt durchsetzen, ohne sich um die Freiheit des menschlichen Geistes zu kümmern. Er ist eine Religion der endgültigen Diesseitigkeit, der letzten und endgültigen Leugnung der jenseitigen Welt und des geistigen Lebens. Eben darum gewinnt er einen spiritualistischen und mystischen Wesenzug“ (Nikolai Berdiajew, Wahrheit und Lüge des Kommunismus, Luzern 1934, S. 30); vgl. auch Berdiajews umfassendere Definition des Kommunismus als Religion auf S. 57. Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Band 3: Totale Herrschaft, München 1973, S. 654–661.

Der Marxismus-Leninismus als „politische Religion“

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Implementierung der innerweltlichen Soteriologien begriffen. Die Führer, Ideologen, Anhänger sowie soziale Gruppen und Institutionen, welche diese Politik der revolutionären Machtergreifung und -sicherung betreiben, um ihre utopischen Heilspläne zu realisieren, schreiben sich selbst sakrale Bedeutung zu, die sich in Kulten der Selbstvergöttlichung, Riten der moralischen Askese und Selbstdisziplinierung niederschlagen. Sie bedienen sich dabei selektiv der sakralen Traditionen der christlichen Religionen, deren Mythen, Kulte, Riten und Kosmologien sie in ihr eigenes Repertoire der innerweltlichen Erlösungskulte zu integrieren versuchen.

1.

Die leninistische revolutionäre Virtuosengemeinschaft

Die russische revolutionäre Intelligencija der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hat die verschiedenen sozialistischen Varianten des politischen Messianismus5 der Französischen Revolution als innerweltliche Erlösungsdoktrin verstanden und sich angeeignet. Die Propheten der totalitären Demokratie6 des französischen Jakobinismus begründeten eine transnationale sakrale Tradition des sozialistischen Messianismus, der sich auch die leninistische Glaubensgemeinschaft, eine unter den vielen ideologischen Gruppierungen und Strömungen der revolutionären sozialistischen russischen Intelligenz, verpflichtet fühlte. Bekanntlich schuf sich die russische Intelligencija eigene soziale Organisationsformen, welche als Schwurbrüderschaften, Glaubensorden, Erweckungsbewegungen, terroristische Kampfbünde, Geheimgesellschaften, literarische Zirkel und Freundschaftsbünde ihren Mitgliedern einen Identifikationsraum gewährten, das messianische Wissen speicherten und seine Verbreitung durch Zeitungen, Pamphlete, Bücher, Deklarationen und persönliche Mission ermöglichten. Isaiah Berlin hat zu Recht davor gewarnt, diese Intelligencija mit Intellektuellen zu verwechseln. Die Mitglieder dieser Intelligencija, so Berlin, „glaubten sich durch mehr geeint als nur durch ein Interesse an Ideen, sie verstanden sich als einen seiner Sache ergebenen Orden, fast als eine weltliche Priesterschaft, die sich der Verbreitung einer bestimmten Lebenseinstellung, gleichsam eines Evangeliums, widmete.“7 Aus der sozialen und kulturellen Distanz, welche durch die besonderen Formen der sozialen Selbstorganisation verstärkt wurde, erwuchs die historisch einzigartige Form und Gestalt der russischen Intelligencija, deren Sendung und Mission auch von der revolutionären, sozialistischen Intelligencija fortgesetzt wurde. Auch bei ihr tritt eine Kombination von ethischem Rigorismus, revolutionärer Praxis und messianischem Sendungsbewusstsein hervor, welche für die weitere Entwicklung richtungsweisend werden sollte und von Dostojewski in der Figur des Stawrogin8 in den „Dämonen“ auch 5 6 7 8

Jacob L. Talmon, Political Messianism. The Romantic Phase, London 1960. Ders., The Origins of Totalitarian Democracy, London 1966. Isaiah Berlin, Russische Denker, Frankfurt a. M. 1981, S. 167. Ebd., S. 46.

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Klaus-Georg Riegel

literarisch gestaltet worden war. Am bekanntesten sind sicherlich Pestels dekabristischer „Wohlfahrtsbund“,9 der revolutionäre „Katechismus“ von Netschajew10, Tkatschows11 „Programm für revolutionäre Handlungen“ und Isutins12 Richtlinien für seine „Organisation“, alles Versuche, den ethischen Rigorismus und das Sendungsbewusstsein der revolutionären Intelligencija organisatorisch zu erfassen, zu disziplinieren, in konzentrierte politische Anschläge gegen die zaristische Autokratie zu überführen und den Heilsplan zu realisieren. Vor diesem Hintergrund müssen die ersten religionssoziologischen Deutungsversuche gesehen werden, welche von der russischen Intelligencija selbst unternommen wurden, um nach dem Scheitern der Revolution von 1905 das Selbstverständnis und die innere Struktur der sozialistischen Intelligencija näher zu kennzeichnen. In den „Vechi“13, geistigen Wegmarken, wird der heftig kritisierte Messianismus dieser sozialistischen Intelligencija mit ihren Organisationsformen in Beziehung gesetzt. So sprach Semen Frank – auch mit Blick auf die leninistische Gruppierung innerhalb der sozialistischen Intelligencija – von „Mönchsrevolutionären“14, welche nach bestimmten „unerschütterlichen Klosterregeln“15 leben und wirken. Frank kritisierte auch entschieden die Welterlösungsmission, welcher sich dieser „Mönchsorden“16 verschrieben habe: „Ein Häuflein weltfremder und weltverachtender Mönche erklärt der Welt den Krieg, um sie gewaltsam glücklich zu machen und ihre irdischen und materiellen Bedürfnisse zu befriedigen [...] Mit asketischer Härte sich selbst und anderen gegenüber, mit fanatischem Hass auf Gegner und Andersdenkende, mit sektiererischer Unduldsamkeit und schrankenlosem Despotismus, der sich aus dem Bewusstsein der eigenen Unfehlbarkeit speist, arbeitet dieser Mönchsorden an der Befriedigung der irdischen, allzu ‚menschlichen‘ Sorgen um ‚das Brot allein‘.“17 Erstaunlicherweise wird diese religionssoziologische Analyse später auch von führenden Leninisten in ihre eigene Selbstdefinition übernommen, allerdings 9 10

11 12 13 14 15 16 17

Vgl. Marc Raeff, The Decembrist Movement, Englewood Cliffs, NJ 1966; Glynn R. V. Barratt (Hg.), Voices in Exile. The Decembrist Memoirs, Montreal 1974; Gerhard Dudeck (Hg.), Die Dekabristen. Dichtungen und Dokumente, Leipzig 1975. Abgedruckt in Michael Bakunin, ‚Gewalt für den Körper, Verrat für die Seele?‘ Ein Brief von Michael Bakunin und Sergej Necaev. Mit einer Einleitung und Anmerkungen von Arthur Lehning, Berlin 1980, S. 117–123; vgl. auch Philip Pomper, Sergei Nechaev, New Brunswick, NJ 1979. Deborah Hardy, Petr Tkachev, the Critic as Jacobin, Seattle 1977, bes. Kap. 10. Vgl. Pomper, Sergei, S. 54 ff.; Franco Venturi, Roots of Revolution. A History of the Populist and Socialist Movements in Nineteenth Century Russia, New York 1966, S. 336 ff. Karl Schlögel (Hg.), Russische Wegzeichen. Zur Krise der russischen Intelligenz, Frankfurt a. M. 1990. Semen Frank, Die Ethik des Nihilismus (1909). In: Schlögel (Hg.), Russische Wegzeichen, S. 312. Ebd., S. 313. Ebd. Ebd.

Der Marxismus-Leninismus als „politische Religion“

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nicht als selbstkritische Analyse, sondern als triumphierender Ausweis des eigenen exklusiven Anspruchs einer ihren Gegnern moralisch überlegenen Avantgarde. So charakterisierte Bucharin 1922 die leninistische Kaderpartei als „revolutionären Orden“18: „Die gesamten Parteiarbeiter waren der Partei bis aufs letzte ergeben: der ‚Parteipatriotismus‘, die ausschließliche Hingabe an die Durchführung der Parteiweisungen, der erbitterte Kampf mit feindlichen Gruppierungen, der überall, in den Fabriken und Betrieben, auf offenen Versammlungen und in den Klubs und selbst im Gefängnis geführt wurde, machten aus unserer Partei einen eigenartigen revolutionären Orden.“19 Bucharin erwähnte noch ein anderes zentrales Strukturprinzip von Virtuosengemeinschaften, nämlich die „beständige Selbstreinigung“20: „Die Bildung einer Gruppe Einmütiger, einzig und allein für die revolutionäre Idee brennender und dabei gänzlich in ihren Ansichten übereinstimmender Menschen, bildete die erste notwendige Bedingung für einen erfolgreichen Kampf. Diese Bedingung wurde durch die schonungslose Verfolgung aller Abweichungen vom orthodoxen Bolschewismus sichergestellt. Und diese beständige Selbstreinigung ballte die Reihen dieser innersten Parteigruppe zu der Faust, die keine Gewalt lösen konnte.“21 Auch Stalin sprach schon 1921 von der Partei als „eine Art Schwertträgerorden“.22 Sinowjew beschrieb die Anhänger Lenins als „eine[r] Gruppe von Berufsrevolutionären [...], die sich nur der Revolution widmeten und nur die Interessen der Revolution kannten.“23 Dzierzynski, der erste Chef der Allrussischen Tscheka, der späteren GPU, wurde von Radek als ein „Fanatiker“ charakterisiert, dessen revolutionärer Terror durch sein „Opfergefühl“ bestimmt gewesen sei, „durch Opfer den Weg der Erlösung der anderen zu verkürzen.“24 Lenin selbst sakralisierte die Partei: „der Partei glauben wir, in ihr sehen wir die Vernunft, die Ehre und das Gewissen unserer Epoche, im internationalen Bündnis der revolutionären Internationalisten sehen wir die einzige Gewähr für die Befreiungsbewegung der Arbeiterklasse.“25

18 Nikolai Bucharin, Die eiserne Kohorte der Revolution. In: Russische Korrespondenz, Jg. III, Band 2, Nr. 11/12, 1922, S. 729–732, hier: 730. 19 Ebd., S. 730. 20 Ebd. 21 Ebd. 22 Josef Stalin, Über die politische Strategie und Taktik der russischen Kommunisten (1921). In: ders., Werke, Band 5, Frankfurt a. M. 1972, S. 53–75, S. 61. 23 Grigorij Sinowjew, Vom Werdegang unserer Partei, Hamburg 1920, S. 17 f. 24 Wolfgang Baumgart (Hg.), Von Brest-Litovsk zur Deutschen Novemberrevolution. Aus den Tagebüchern, Briefen und Aufzeichnungen von Alfons Paquet, Wilhelm Groener und Albert Hopman März bis November 1918, Göttingen 1971, S. 117; vgl. auch Paquet, Im kommunistischen Russland. Briefe aus Moskau, Jena 1919, S. 121 f. 25 Wladimir I. Lenin, Politische Erpressung (1917). In: ders., Werke, Band 25, Berlin 1971, S. 263–266, hier: 266.

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Klaus-Georg Riegel

Das leninistische Modell eines konspirativ arbeitenden und zentralistisch gesteuerten Apparates von disziplinierten Virtuosen26 lässt sich als eine revolutionäre Glaubensgemeinschaft beschreiben, welche nur besonders qualifizierte Virtuosen anspricht, Akteure, die willens und in der Lage sind, unerbittlich und mit letzter Hingabe ihre Lebensführung unter das Diktat von Glaubenserwartungen zu stellen. Der exklusive Verhaltenskodex für revolutionäre Virtuosen, die totale Identifikation mit den Glaubenswahrheiten und die Unterwerfung unter die umfassende Glaubens- und Verhaltenskontrolle der internen Disziplinargewalten kennzeichnen den geschlossenen Sinnhorizont dieser Glaubensgemeinschaften. Sie erheben den Anspruch, schon in der Gegenwart eine exklusive Glaubensordnung zu realisieren, die in einem radikalen Gegensatz zu der gelebten Alltagsmoral der noch zu revolutionierenden Gesellschaft steht. In Lenins Katechismus von 1902, „Was tun? Brennende Fragen unserer Bewegung“, wird ein Disziplinierungsmodell für revolutionäre Virtuosen, eine Ver26 Das Konzept der revolutionären Glaubensgemeinschaft wird hier in Analogie zu Max Webers Theorie der Virtuosengemeinschaften (Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Studienausgabe, hg. von J. Winckelmann, 5. Auflage Tübingen 1985) für religiös qualifizierte Akteure entwickelt. Weber meint, dass die religiös qualifizierten Virtuosen im Kontext des Problems der Theodizee ihr Wollen und Handeln systematisch, dauerhaft und ausschließlich der religiösen Zielsetzung unterordnen, also ihre gesamte Handlungsführung „einer methodische(n) Regulierung alles Denkens und Tuns, nach Art und Inhalt, im Sinn der vollkommensten wachen, willensmäßigen und triebfeindlichen Beherrschung der eigenen körperlichen und seelischen Vorgänge und einer systematischen Lebensreglementierung in Unterordnung unter den religiösen Zweck“ (ebd., S. 327) unterwerfen. Die asketische Selbstdisziplinierung von Mönchen bildet für Weber die entscheidende historische und strukturelle Voraussetzung für weitgehende revolutionäre Rationalisierungsprozesse des Okzidents. Für die „innerweltliche Askese“ gilt: „Die Welt wird im letzteren Fall eine dem religiösen Virtuosen auferlegte ‚Pflicht‘. Entweder in dem Sinne, dass die Aufgabe besteht, sie den asketischen Idealen gemäß umzugestalten. Dann wird der Asket ein rationaler ‚naturrechtlicher‘ Reformer oder Revolutionär, wie ihn das ‚Parlament der Heiligen‘ unter Cromwell, der Quäkerstaat und in anderer Art der radikale pietistische Konventikel-Kommunismus gekannt hat“ (ebd., S. 329). Dank seiner „spezifisch rationale(n) Methodik der Lebensführung“ (ebd., S. 697) ist das Mönchtum – für das westliche Mönchtum nennt Weber als psychologisch wirksame Heilsmethodik „Beichtpraxis, Gehorsamsprobe, exercitia spiritualia der Jesuiten“ (ebd., S. 696) – „die Elitetruppe der religiösen Virtuosen innerhalb der Gemeinschaft der Gläubigen“ (ebd., S. 697). Zusammenfassend: „Die welthistorische Bedeutung der mönchischen Lebensführung im Okzident [...] beruht darauf [...] Sie war zu einer systematisch durchgebildeten Methode rationaler Lebensführung geworden, mit dem Ziel, den status naturae zu überwinden, den Menschen der Macht der irrationalen Triebe und der Abhängigkeit von Welt und Natur zu entziehen, der Suprematie des planvollen Wollens zu unterwerfen, seine Handlungen beständiger Selbstkontrolle und der Erwägung ihrer ethischen Tragweite zu unterstellen und so den Mönch – objektiv – zu einem Arbeiter im Dienst des Reiches Gottes zu erziehen, und dadurch wiederum – subjektiv – seines Seelenheils zu versichern. Diese – aktive – Selbstbeherrschung war, wie das Ziel der exercitia des heiligen Ignatius und der höchsten Formen rationaler mönchischer Tugenden überhaupt, so auch das entscheidende praktische Lebensideal des Puritanismus“ (Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. In: ders., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Band 1, Tübingen 6. Auflage 1972, S. 17–206, hier: 116 f.).

Der Marxismus-Leninismus als „politische Religion“

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schränkung von revolutionärer Gesinnung und unbedingter Disziplin, entworfen, dessen Struktureigenschaften auf analoge totale Disziplingemeinschaften27 wie Orden, Klöster, Gefängnisse und Armeen verweist, welche mit der Strategie des Benthamschen „Panopticons“28 arbeiten. Lenins Glaubensimperative, „strengste Konspiration, strengste Auslese, Heranbildung von Berufsrevolutionären,“29 zielen auf die militärische Dressurtechnik. Nur die systematische Professionalisierung revolutionärer Akteure verspricht Erfolg. „Haben wir erst Trupps speziell geschulter Revolutionäre aus der Arbeiterklasse, die eine lange Lehrzeit durchgemacht haben (und zwar selbstverständlich von Revolutionären ‚aller Waffengattungen‘), dann wird keine politische Polizei der Welt mit diesen Trupps fertig werden, denn diese Trupps der Revolution grenzenlos ergebener Menschen werden auch das grenzenlose Vertrauen der breitesten Arbeitermassen genießen.“30 Die leninistischen Berufsrevolutionäre sollen „sich speziell und uneingeschränkt der sozialdemokratischen Tätigkeit widmen, und [...] sich mit Geduld und Zähigkeit zu Berufsrevolutionären heranbilden.“31 Nur dann wird das revolutionäre Heilsziel erreicht werden. „Gebt uns eine Organisation von Revolutionären, und wir werden Russland aus den Angeln heben.“32 Die leninistische Disziplinmaschine, die Partei der Berufsrevolutionäre, setzt auf eine kontinuierliche Heranbildung, auf systematische Exerzitien, welche eine umfassende Transformation der persönlichen Identität der „Trupps der Revolution grenzenlos ergebener Menschen“33, „eine militärische Organisation von Agenten,“34 herbeiführen soll. Hingabebereitschaft, Opfergesinnung, Disziplin und Gehorsam sind die Tugenden, die von Lenins revolutionären Virtuosen, den Berufsrevolutionären, in qualvollen Prozessen der Selbst-Disziplinierung angestrebt werden. „Ein kleiner, festgefügter Kern der zuverlässigsten, erfahrensten und gestähltesten Arbeiter“35 wird in dieser Disziplinmaschine geformt. „Unsere größte Sünde in organisatorischer Hinsicht“, so Lenin, „besteht darin, dass wir durch unsere Handwerkelei das Ansehen der Revolutionäre in Russland herabgesetzt haben. Schlaff und schwankend in theoretischen Fragen, mit engem Horizont, seine Schlaffheit mit der Spontaneität der Massen rechtfertigend, eher dem Sekretär einer Trade-Union ähnlich als einem Volkstribun, 27 Es handelt sich um totale Institutionen im Sinne Goffmans, vgl. Erving Goffman, Über die Merkmale totaler Institutionen. In: ders., Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen, Frankfurt a. M. 1973, S. 13–124. 28 Dazu Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a. M. 1979, S. 251–292. 29 Lenin, Was tun? Brennende Fragen unserer Bewegung (1902). In: ders., Ausgewählte Werke, Band 1, Berlin 1970, S. 139–314, hier: 267. 30 Ebd., S. 260. 31 Ebd., S. 254. 32 Ebd. 33 Ebd., S. 260. 34 Ebd., S. 302. 35 Ebd., S. 247.

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unfähig, einen umfassenden und kühnen Plan aufzustellen, der auch den Gegnern Achtung abzwänge, unerfahren und ungeschickt in seiner beruflichen Kunst – im Kampf gegen die politische Polizei – das ist doch kein Revolutionär, sondern ein kläglicher Handwerker.“36 Die Disziplin der Partei formt den Berufsrevolutionär. Seine innerweltliche Askese, seine rationale Methodik der Lebensreglementierung, erfasst die gesamte Person. „Solche Führer können aber herangebildet werden ausschließlich durch eine systematische, ständige Bewertung aller Seiten unseres politischen Lebens, aller Versuche zum Protest und Kampf [...].“37 Eine ständige „Kampfbereitschaft“ ist erforderlich und die Aufforderung an die Virtuosen, „über all das nachzudenken, dass man sie veranlasst, die kleinsten Äußerungen der Gärung und des aktiven Kampfes zusammenzufassen und zu verallgemeinern“.38 Der permanente Kampf, der sich um das Deutungsmonopol für die beste Theorie, Strategie und Taktik innerhalb der Partei entzündet, wird von Lenin als eine beständige Läuterung und Selbstreinigung aufgefasst, um die Grenzlinien zu häretischen Alternativen zu markieren, verborgene Glaubenszweifel aufzudecken, gegen offene oder „maskierte“ Feinde der Partei vorzugehen, die interne Solidarität zu stärken, die Läuterungsriten durchzuführen und die Gehorsamsproben einzufordern. „Unsere Aufgabe ist es, die Festigkeit, die Standhaftigkeit, die Reinheit unserer Partei zu wahren.“39 Folgerichtig hatte Lenin sein Leitmotiv, die permanente Parteireinigung, an den Anfang seines Katechismus gestellt. „Dass die Parteikämpfe gerade einer Partei Kraft und Leben geben, dass der größte Beweis der Schwäche einer Partei das Verschwimmen derselben und die Abstumpfung der markierten Differenzen ist, dass sich eine Partei stärkt, indem sie sich purifiziert, davon weiß und befürchtet die Behördenlogik wenig!“40 1. Die Partei der disziplinierten Virtuosen ist der Träger des leninistischen Messianismus. Der reibungslos funktionierende Apparat von „militärischen Agenten“, welcher als Disziplinmaschine die Berufsrevolutionäre formt und die Glaubensfeinde vernichtet, fungierte als Avantgarde des Proletariats, das in der Marxschen Geschichtstheologie41 ursprünglich die neue, kommunistische Zukunft herbeiführen sollte. Die Partei der Berufsrevolutionäre vollzog 36 37 38 39

Ebd., S. 254. Ebd., S. 287. Ebd. Lenin, Zweite Rede bei der Erörterung des Parteistatuts auf dem II. Parteitag der SDARP 2.(15. )8.1903. In: ders., Über den Parteiaufbau. Eine Sammlung ausgewählter Aufsätze und Reden, Berlin 1959, S. 144–147, hier: 147. 40 Lenin, Was tun? S. 139. Lenin zitiert hier aus einem Brief Lassalles an Marx vom 24.6.1852. 41 Berdiajew, Wahrheit, bes. S. 18 ff. erinnert zu Recht daran, dass die Marxsche „messianische Idee des Proletariats“ (ebd., S. 19) „in der Übertragung der Eigenschaften des auserwählten Volkes Gottes auf das Proletariat“ (ebd., S. 20) bestehe. „Marx’ proletarischer Kommunismus ist ein säkularisierter Chiliasmus des Alten Israel“ (ebd., S. 20). Lenins Messianismus, so wird hier argumentiert, transponiert diese „messianische Idee des Proletariats“ auf die Partei der Berufsrevolutionäre, welche die Masse der Proleta-

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das Erlösungswerk, um nur eine Stufe voranzuschreiten, „die notwendig ist zur radikalen Reinigung der Gesellschaft von den Niederträchtigkeiten und Gemeinheiten der kapitalistischen Ausbeutung, eine Stufe, um weiter vorwärts schreiten zu können.“42 Die charismatische Verklärung der Partei, des revolutionären Ordens, speiste sich aus diesem Glauben an ihre revolutionäre Rolle, eine sozialistische und kommunistische Gesellschaftsordnung in einer rückständigen, peripheren Gesellschaft zu errichten. Periphere, industriell unterentwickelte Gesellschaften waren nicht mehr gezwungen, die Parusieverzögerung, welche ihnen die Marxsche Prophetie zugemutet hatte, passiv zu erdulden. Periphere Gesellschaften konnten, wie die russische Oktoberrevolution von 1917 demonstrierte, einen Entwicklungssprung, eine messianische Entwicklungsrevolution, ein gigantisches Experiment revolutionärer Politik mit Aussicht auf Erfolg wagen, wenn sie über einen Apparat von disziplinierten Virtuosen verfügten. 2. Die leninistische Virtuosenreligion verstand sich als kreative Innovation und Adaption der Marxschen Sakraltradition an den russischen Sonderweg zur sozialistischen und kommunistischen Erlösung. Der Leninismus konnte also selektiv aus dem marxistischen Reservoir diejenigen Glaubensüberzeugungen, Kultsymbole und rituellen Praktiken schöpfen, welche diesen Sonderbedingungen am ehesten zu entsprechen schienen. Schließlich hatte Marx die sozialistische Revolution für die industrialisierten Gesellschaften des entwickelten westlichen Kapitalismus prognostiziert, nicht aber für die russische, industriell rückständige Peripherie, welche von ihm nur unter gewissen Sonderbedingungen43 bei gleichzeitiger Revolutionierung der westlichen rier repräsentiert und führt; es handelt sich dabei im Grunde genommen um eine vorweggenommene Erlösung der ursprünglich berufenen messianischen Klasse. 42 Lenin, Staat und Revolution (1917), Berlin 1977, S. 107. 43 Die von Vera Zasulic 1881 an Marx gestellte Frage, ob „alle Länder der Welt sämtliche Phasen der kapitalistischen Produktion durchschreiten müssen“, bedeutete tatsächlich für die russischen Marxisten „eine Frage von Leben und Tod“ (Sasulitsch, Vera Sasulitsch an Marx, 16.2.1881. In: Marx-Engels-Archiv. Zeitschrift des Marx-Engels-Institut, Band 1, Reprint Frankfurt a. M. 1969, S. 317). Marx hatte 1881 in seiner Antwort konzediert, dass die russischen Marxisten ihren rohen Kommunismus, die Bauerngemeinde der obscina, zum Ausgangspunkt ihrer revolutionären Bemühungen dann nehmen könnten, „wenn die russische Revolution das Signal zu einer Arbeiterrevolution im Westen wird, so dass beide einander ergänzen, dann kann das heutige russische Gemeindeeigentum zum Ausgangspunkt einer kommunistischen Entwicklung dienen.“ (Karl Marx, Vorrede zur zweiten russischen Ausgabe des ‚Kommunistischen Manifestes‘ (1882). In: Marx /Friedrich Engels, Die russische Kommune. Kritik eines Mythos, hg. von Maximilian Rubel, München 1972, S. 69–71, hier: 71) Plechanow, Axelrod und Sasulitsch, die sich in Genf als Zirkel ‚Befreiung der Arbeit‘ zwischen 1880 und 1883 zusammengeschlossen hatten, entschieden sich für die orthodoxe Variante der Marxschen Theorie, ebenso wie Lenin, der dem rückständigen Russland im kühnen Vorgriff kapitalistische Vorbedingungen für eine sozialistische Revolution attestierte. Dennoch blieb dieses Problem der sozialistischen Revolution in einem rückständigen, peripheren Agrarland ein permanenter Anlass für dogmatische Schismen und Machtkonstellationen zwischen den westlichen kommunistischen Parteien und der Moskauer Zentrale. Innerhalb des

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Industrienationen für eine sozialistische Revolution in Betracht gezogen wurde. Die leninistische politische Religion hatte unter diesen Umständen eine eigene Sakraltradition44 zu erfinden, um die Abweichungen von der Marxschen Orthodoxie zu rechtfertigen. Die umfangreiche Produktion von Katechismen, Büchern, Pamphleten, Legenden, Hagiographien, Geschichtsfälschungen und Theorieentwürfen summierte sich zu einem leninistischen Bestand an Dogmen, an den sich die ideologischen Experten zu halten hatten. Der Leninismus wurde zur Buchreligion, deren Dogmen, Interpretamente und ideologische Formeln jeder Kader zu erlernen und zu beherrschen hatte, um in den engeren oder weiteren Kreis der leninistischen Lehrer, Führer und Schüler aufzurücken. 3. Nach der Oktoberrevolution von 1917 definierte und legitimierte sich die leninistische Virtuosenreligion als ecclesia militans und triumphans. Sie war nun nicht mehr eine minoritäre, periphere Partei innerhalb der transnationalen „confraternity“45 des westeuropäischen Sozialismus, sondern eine siegreiche Glaubensmacht, die zur Weltreligion avancierte, welche sich der Missionierung der noch nicht vom kapitalistischen Joch erlösten Gesellschaften zu widmen begann. Die bisher als normative Bezugsgruppen dienenden westeuropäischen sozialistischen Parteien verloren ihr sakrales Deutungsmonopol und verwandelten sich selbst in ein Missionsfeld, auf dem die leninistischen Missionskader46 wirkten, um den bisher in den westlichen Industrienationen noch nicht zum Ausbruch gekommenen sozialistischen Revolutionen doch noch zum Durchbruch zu verhelfen. Nach den im Frühjahr 1919 in Westeuropa gescheiterten Revolutionsversuchen, wandte sich Lenin verstärkt der kolonialen Peripherie zu, um mit ihrer Revolutionierung die modernen, kapitalistischen Gesellschaften des Westens, gleichsam im Würgegriff der kolonialen Peripherie, doch noch dem wahren Sozialismus und Marxismus-Leninismus setzte sich dieser Konflikt im Schisma zwischen Trotzki und Stalin bis in die asiatische Peripherie (China, Vietnam, Nordkorea, Kambodscha) fort. 44 Vgl. Eric Hobsbawm, Inventing Traditions. In: ders./Terence Ranger (Hg.), The Invention of Tradition, Cambridge 1990, S. 1–14. 45 Talmon, Political Messianism, S. 18. 46 Zu den wichtigsten Missionsanstalten in Moskau zählten die Lenin-Schule, die Sun Yatsen Universität und die Universität der Ostvölker; vgl. Barry McLoughin, Stalinistische Rituale von Kritik und Selbstkritik in der Internationalen Lenin-Schule, Moskau, 1926–1937. In: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung, 16 (2003), S. 85– 112; Klaus-Georg Riegel, Transplanting the Political Religion of Marxism-Leninism to China: The Case of the Sun Yat-sen University in Moscow (1925–1930). In: Karl-Heinz Pohl (Hg.), Chinese Thought in a Global Context, Leiden 1999, S. 327–355; Stalin, Über die politischen Aufgaben der Universität der Ostvölker (1925), Berlin 1951, S. 19, hat im Übrigen sehr klar die „Mission“ dieser Anstalten umrissen. „Die Aufgabe der Universität der Ostvölker besteht darin, aus ihnen wirkliche Revolutionäre zu schmieden, Menschen, die gewappnet mit der Theorie des Leninismus, ausgerüstet mit der praktischen Erfahrung des Leninismus, fähig sind, die nächsten Aufgaben der Befreiungsbewegung der Kolonien und der abhängigen Länder unter Einsatz aller ihrer Kräfte zu erfüllen.“ Vgl. auch Stalin, Eine Besprechung mit Studenten der Sun-Yat-Sen-Universität, 13. 5.1927. In: ders., Werke, Band 9, Frankfurt a. M. 1972, S. 207–232.

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Kommunismus zu erschließen. So rief Moskau als das neue Zentrum des universalen Missions- und Erlösungswerkes die ‚Völker des Orients‘ „zum ersten wahren heiligen Krieg unter dem roten Banner der Kommunistischen Internationale“47 auf: „Lange, allzu lange haben die Völker des Orients im Dunkel der Unwissenheit verharrt, unter dem despotischen Druck ihrer tyrannischen Herrscher, im Joch der fremdländischen Eroberer und Kapitalisten geschmachtet. Das Dröhnen des Weltgemetzels, der Donner der russischen Arbeiterrevolution, die das östliche russische Volk von den jahrhundertealten Fesseln der kapitalistischen Sklaverei befreite, hat jetzt auch die Völker des Orients erweckt. Vom jahrhundertelangen Schlaf erwacht, erheben sie sich nun.“48 Spätestens seit dem Kongress in Baku (September 1920)49 wurde die bolschewistische Weltmission zum festen Bestandteil der leninistischen Strategie und Taktik der angestrebten Weltrevolution. Der am 2. März 1919 im Kreml zusammengetretene Gründungskongress der Kommunistischen Internationale sollte der Weltmission des leninistischen Bolschewismus die organisatorische Form und den ideologischen Inhalt geben, welche sich in den auf dem 2. Kongress der Kommunistischen Internationale (Juli – August 1920) beschlossenen einundzwanzig Bedingungen niederschlugen, die von den beitrittswilligen kommunistischen Parteien erfüllt werden mussten, um als Mitglied der siegreichen Weltkirche aufgenommen zu werden. Das Organisationsstatut und die ideologischen Absichtserklärungen dieser Kommunistischen Internationalen lassen die Handschrift Lenins erkennen. Seine Kaderpartei, konspirativ, diszipliniert und zentralisiert, wird als organisatorischer und ideologischer Kern der neuen Weltkirche begriffen, ein Modell, dem alle anderen Parteien zu entsprechen haben. Um der neuen Weltkirche beitreten und in ihr als Mitglied wirken zu können, müssen diese Parteien sich sogar einer personellen und ideologischen Reinigung und Säuberung unterwerfen, „die reformistischen und Zentrumsleute entfernen und sie durch bewährte Kommunisten ersetzen“50 und mit den sozialdemokratischen Renegaten und „notorische[n] Opportunisten“51 brechen. In Artikel 13 wird die periodische Reinigung gefordert, „um die Partei von den sich in sie einschleichenden kleinbürgerlichen Elementen systematisch zu säubern.“52 Die bolschewistische Weltkirche beanspruchte das Monopol der Un47 ‚Aufruf an die Ostvölker‘. In: Die Kommunistische Internationale 15 (1921), S. 141– 151, hier: 149 (Feltrinelli reprint Mailand 1967). 48 Ebd. 49 Congress of the Peoples of the East. Baku, September 1920. Stenographic Report, übers. und hg. von Brian Pearce, London 1977. Vgl auch Hélène Carrère d’Encaussé/ Stuart R. Schramm, Marxism and Asia. An Introduction with Readings, Baltimore 1969, S. 170–186. 50 Die Einundzwanzig Bedingungen (1920). In: Julius Braunthal, Geschichte der Internationale, Band 2, Berlin 1978, S. 557–561, hier: 558. 51 Ebd., S. 559. 52 Ebd., S. 560.

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fehlbarkeit im Prozess der Heilsauslegung53 und verlangte, dass sich die nationalen Bruderparteien diesem Anspruch fügten. Die Dritte Internationale „mit dem internationalen proletarischen Messianismus“54 setzte die fehlgeschlagene messianische Idee von Moskau als Drittem Rom fort. „Der russische Kommunismus glaubt an das ‚ex oriente lux‘: das Licht der russischen Revolution soll die bürgerliche Finsternis des Abendlandes erleuchten.“55 Stalin hat konsequent die Komintern zu einem gigantischen bürokratischen Apparat mit Geheimpolizei, Parteikontrollkommissionen und Folterspezialisten ausgebaut, um seine Säuberungsobsession56 auch in den Bruderparteien durchzusetzen und seiner Anstaltskirche das Signum der missionierenden Weltkirche zu verschaffen. 4. Der erfolgreiche coup d’état vom Oktober 1917 demonstrierte den Primat der Politik, die messianische Entwicklungsrevolution in einer rückständigen Gesellschaft zu wagen. Die leninistische Virtuosenreligion entwickelte eine Vernichtungssemantik, die diese strategische Entscheidung durch die Anwendung des revolutionären Terrors gegen die Glaubensrivalen und feindlichen sozialen Klassen durchzusetzen trachtete. Die Sakralisierung des revolutionären Terrors57 legitimierte eine Politik der sozialen Eliminierung „konterrevolutionärer“ sozialer Klassen und politischer Parteien. „Unsere Bourgeoisie ist besiegt, aber noch nicht mit der Wurzel ausgerottet, nicht vernichtet und nicht einmal endgültig niedergerungen. Auf die Tagesordnung tritt deshalb eine neue, höhere Form des Kampfes gegen die Bourgeoisie, der Übergang 53 54 55 56

Vgl. Art. 16., ebd. Berdiajew, Wahrheit, S. 22. Ebd. Vgl. die Detailstudien in Hermann Weber/Ulrich Mählert (Hg.), Terror. Stalinistische Parteisäuberungen 1936–1953, Paderborn 1998. 57 Schon früh hatte Albert Mathiez, Le Bolchévisme et le Jacobinisme, Paris 1920, S. 6 f. auf die analogen Terrorkonzeptionen von Robespierre und Lenin verwiesen. „La fin, c’est dans les deux cas le bonheur des masses“ (ebd., S. 7). So hatte Robespierre, Über die Grundsätze der revolutionären Regierung, 25.12.1793. In: Maximilien Robespierre, Ausgewählte Texte, Hamburg 1989 die Interdependenz von Tugend und Terror betont. „Wenn in friedlichen Zeiten der Kraftquell der Volksregierung die Tugend ist, so sind es in Zeiten der Revolution Tugend und Terror zusammen. Ohne die Tugend ist der Terror verhängnisvoll, ohne den Terror ist die Tugend machtlos. Der Terror ist nichts anderes als die unmittelbare, strenge und unbeugsame Gerechtigkeit; er ist also eine Emanation der Tugend [...] angewandt auf die dringendsten Bedürfnisse des Vaterlandes“ (ebd., S. 594). In diesem Sinne sakralisiert die Eschatologie der befreiten, kommunistischen Gesellschaft den Terror gegen die ‚Klassenfeinde‘, ‚Schädlinge‘, ‚Saboteure‘, ‚Blutsauger‘, ‚Parasiten‘ (Lenin). Gemäß dieser leninistischen Revolutionslogik ist ihre Vernichtung die Voraussetzung für die Realisierung dieser Eschatologie. Vgl. Lenins Artikel, noch vor der Oktoberrevolution im Juni 1917 geschrieben, in dem er den zukünftigen bolschewistischen Terror als historische Fortsetzung und Erfüllung der Jakobinerherrschaft legitimiert. Lenin, Kann man die Arbeiterklasse mit dem ‚Jakobinertum‘ schrecken? In: ders., Werke, Band 25, Berlin 1970, S. 112–114. Allgemein zu dieser jakobinischen Dimension revolutionärer Modernität vgl. Shmuel N. Eisenstadt, Fundamentalism, Sectarianism, and Revolution. The Jacobin Dimension of Modernity, Cambridge 1999, S. 48–50.

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von der sehr einfachen Aufgabe der weiteren Expropriierung der Kapitalisten zu der viel komplizierteren und schwierigeren Aufgabe der Schaffung von Bedingungen, unter denen die Bourgeoisie weder existieren noch von neuem entstehen kann. Es ist klar, dass das eine unendlich höhere Aufgabe ist und dass es ohne ihre Lösung noch keinen Sozialismus gibt.“58

Die „neue, höhere Form des Kampfes“ gilt auch für die Vernichtung der Kulaken. In diesem Sinne charakterisierte Lenin die Kulaken als „die bestialischsten, rohesten und brutalsten Ausbeuter“59. Sie wurden von ihm als „Blutsauger“, „Spinnen“, „Blutegel“, „Vampire“60 stigmatisiert. „Diese Blutegel haben sich mit dem Blut der Werktätigen vollgesaugt und wurden um so reicher, je mehr der Arbeiter in den Städten und Fabriken gehungert hat. Diese Vampire haben Gutsbesitzerländereien zusammengerafft, sie raffen immer mehr zusammen und zwingen die armen Bauern immer und immer wieder in die Schuldknechtschaft. Schonungsloser Krieg diesen Kulaken! Tod den Kulaken! Hass und Verachtung den Parteien, die sie verteidigen: den rechten Sozialrevolutionären, den Menschewiki und den heutigen linken Sozialrevolutionären. Mit eiserner Faust müssen die Arbeiter die Aufstände der Kulaken niederschlagen, die sich mit ausländischen Kapitalisten gegen die Werktätigen ihres Landes verbünden.“61

In gleicher Weise hatte Bucharin sich gegen „die bürgerlichen Volksfeinde“62 gewandt, die von ihm als „Horde der Parasiten“, „Ausbeuter[n] und Aussauger[n]“, „Feinde[n] des Volkes“63, als „Spinnen-Spekulanten“, „Taugenichtse“, „Blutsauger und Schmarotzer“, „Wucherer“64 bezeichnet wurden; „Blutsauger, Wucherer und Parasiten“65, die mit der Gewalt „des eisernen Apparates der Arbeiterdiktatur“66 vernichtet werden sollten. Die „Sache der Revolution und der Errichtung der kommunistischen Ordnung“67 legitimiere den Terror gegen die Bourgeoisie. Er hat „zum Ziel die Befreiung von Millionen Arbeitenden, Erlösung von der Peitsche des Kapitals, von räuberischen Kriegen, von wilder Ausplünderung und Vernichtung alles dessen, was die Menschheit im Laufe von Jahrhunderten und Jahrtausenden erbaut und 58 Lenin, Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht (1918). In: ders., Werke, Band 27, Berlin 1972, S. 229–268, hier: 234 f. 59 Lenin, Genossen Arbeiter! Auf zum letzten, entscheidenden Kampf! (1918). In: ders., Werke, Band 28, Berlin 1972, S. 40–44, hier: 42. 60 Ebd., S. 43. 61 Ebd. Stalin hatte 1929, die rechte Abweichung Bucharins verurteilend, die Existenz der Kulaken als unvereinbar mit der sozialistischen Gesellschaftsordnung erklärt. „Es ist das Pech der Bucharinleute, dass sie die Mechanik des Klassenkampfes nicht begreifen, nicht begreifen, dass der Kulak der geschworene Feind der Werktätigen, der geschworene Feind unserer ganzen Gesellschaftsordnung ist.“ (Stalin, Die Bucharingruppe und die rechte Abweichung in unserer Partei (1929). In: ders., Werke, Band 11, Frankfurt a. M. 1972, S. 285–291, hier: 288. 62 Bucharin, Das Programm der Kommunisten (Bolschewiki), Wien 1918, S. 22. 63 Ebd., S. 17. 64 Ebd., S. 40. 65 Ebd., S. 15. 66 Ebd. 67 Ebd., S. 14 f.

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angekauft hat.“68 Konsequent wandte die auf Betreiben Lenins im Dezember 1917 gegründete Tscheka, „Allrussische Außerordentliche Kommission zur Bekämpfung der Konterrevolution und Sabotage“, die leninistische Strategie der sozialen Vernichtung auch in ihren Verhörmethoden an. „Wir führen nicht Krieg gegen individuelle Personen. Wir vernichten die Bourgeoisie als Klasse. Während der Untersuchung suchen wir nicht nach individuellen Schuldbeweisen, ob der Beschuldigte in Taten oder Worten gegen die Sowjetmacht gehandelt hat. Die ersten Fragen, die gestellt werden sollten, sind: Zu welcher Klasse gehört er? Was ist seine Klassenherkunft? Welche Erziehung oder Beruf hat er? Und es sind diese Fragen, welche das Schicksal des Beschuldigten bestimmen sollten. Darin liegt die Bedeutung und das Wesen des roten Terrors.“69 Die stigmatisierende Verwendung biologischer Metaphern durch Lenin und Bucharin ist nicht zufällig. Sie soll den Stigmatisierten ihr menschliches Gesicht nehmen, um ihre soziale Vernichtung als „schädliche Elemente“ effizienter zu bewerkstelligen. Angestrebt wird die „Säuberung der russischen Erde von allem Ungeziefer, von den Flöhen – den Gaunern, von den Wanzen – den Reichen usw. usf.“70 Lenin empfiehlt, dass „sie die Klosetts reinigen“71, dass man ihnen „nach Abbüßung ihrer Freiheitsstrafe gelbe Pässe aushändigen [solle], damit das ganze Volk sie bis zu ihrer Besserung als schädliche Elemente überwache. An einem vierten Ort wird man einen von zehn, die sich des Parasitentums schuldig machen, auf der Stelle erschießen.“72 Eine Kombination dieser revolutionären Terrormaßnahmen wird, so 68 Ebd., S. 14. 69 So äußerte sich M. Latsis, der Leiter der östlichen Front der Tscheka, im November 1918 in einem Artikel der Zeitschrift Krasnyi Terror (Der Rote Terror). Zit. nach George Leggett, The Cheka. Lenin’s Political Police, Oxford 1981, S. 114. Isaak Steinberg, der erste, aus den Reihen der linken Sozialrevolutionäre stammende Justizkommissar im Rat der Volkskommissare zitierte diese Stelle aus Latsis Artikel und stellte fest: „Wenn der Bürgerkrieg nicht den Menschen, nicht seine Schuld, sondern bloß die Klasse, von der er abstammt, seine zufällige Klassenzugehörigkeit, verantwortlich macht, wäre es da nicht besser, die gesamte Bourgeoisie, den Adel, die Geistlichkeit, Offiziere, Rechtsanwälte und Professoren mit einmal abzuschlachten.“ (Isaak Steinberg, Gewalt und Terror in der Revolution. Das Schicksal der Erniedrigten und Beleidigten in der russischen Revolution (1931), Berlin 1981, S. 61) Im Übrigen nennt Steinberg diese Ideologie des roten Terrors „eine Theorie der Menschenausrottung“ (ebd., S. 60). Ähnlich äußerte sich Stepun. „Der Terror war furchtbar. Man verfolgte die Menschen nicht nur wegen ihres Handelns und Denkens, sondern auch wegen ihrer verschwiegenen Gesinnung. Nicht die Bestrafung von Verbrechen war der Sinn der Todesurteile, sondern die Liquidierung eines für den sowjetischen Neubau ungeeigneten Menschentyps. Gutsbesitzer, Bourgeois, Priester, Bauern und weiße Offiziere wurden ebenso einfach liquidiert, wie man in rationell geführter Wirtschaft eine Rinderrasse abschafft, um eine andere einzuführen.“ (Fedor Stepun, Das Antlitz Russlands und das Gesicht der Revolution. Aus meinem Leben 1884–1922, München 1961, S. 372). 70 Lenin, Wie soll man den Wettbewerb organisieren? (1917). In: ders., Werke, Band 26, Berlin 1970, S. 402–414, hier: 413. 71 Ebd., S. 413. 72 Ebd.

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versichert Lenin, den Erfolg des Sozialismus rascher und sicherer hervorbringen.73 Offensichtlich soll der leninistische Terror eine systematisch geplante Desinfektionskampagne initiieren, um die von kapitalistischer Ausbeutung und Willkür befleckte Gesellschaft von den schädlichen Insekten, Bakterien und Mikroben zu reinigen, zu desinfizieren, als Vorbedingung für eine zukünftige Erlösung in einer sozialistischen und kommunistischen Gesellschaftsordnung. „Nur durch die freiwillige und gewissenhafte, mit revolutionärem Enthusiasmus geleistete Mitarbeit der Massen der Arbeiter und Bauern an der Rechnungsführung und Kontrolle über die Reichen, die Gauner, die Müßiggänger und Rowdys ist es möglich, diese Überbleibsel der fluchbeladenen kapitalistischen Gesellschaft, diesen Auswurf der Menschheit, diese rettungslos verfaulten und verkommenen Elemente, diese Seuche, diese Pest, diese Eiterbeule zu besiegen, die der Kapitalismus dem Sozialismus als Erbschaft hinterlassen hat.“74 Man sieht, die leninistische Vernichtungssemantik bedient sich der Metaphorik der inquisitorischen Heilkunst,75 welche auf die chirurgische Amputation kranker, verfaulter und vergifteter Körperteile setzt, um die Reinheit und das Wohlergehen der Gemeinschaft der Gläubigen nicht zu gefährden. „Für diese Feinde des Volkes, für diese Feinde des Sozialismus und der Werktätigen darf es keine Schonung geben. Kampf auf Leben und Tod gegen die Reichen und ihre Kostgänger, die bürgerlichen Intellektuellen, gegen die Gauner, Müßiggänger und Rowdys.“76 Es überrascht daher nicht, dass die wichtigsten Instrumente des leninistischen Terrors, die Volksgerichtshöfe, Revolutionstribunale, die Tscheka, Konzentrationslager und Zwangsarbeitslager77 schon zu seinen Lebzeiten und mit seiner aktiven Unterstützung ge73 „desto sicherer und rascher wird der Erfolg des Sozialismus sein, desto leichter wird die Praxis [...] die besten Methoden und Mittel des Kampfes herausarbeiten“ (ebd.). 74 Ebd., S. 409. 75 Vgl. Le dictionnaire des inquisiteurs: Valence 1494, hg. von Louis Sala-Molins, Paris 1981, S. 239. Die Häresie gilt dort als „un véritable cancer, qu’il faut [...] cautériser dès le début, afin qu’il ne pourrisse tout le coeur et ne tue toute vie spirituelle. Il faut retrancher la chair pourrie, rejeter loin de la bergerie la brebis galeuse, de peur que toute la maison, toute la masse, tout le corps ne s’infecte, ne se corrompe, ne pourrisse, ne meure.“ Auch Benedikt bemüht als letztes Mittel einen chirurgischen Eingriff. „Er selbst und alle Brüder sollen für ihn beten, damit der Herr, der alles vermag, den kranken Bruder wieder gesund macht. Erst wenn auch so keine Heilung eintritt, greife der Abt zum Messer, um abzuschneiden, wie der Apostel sagt: ‚Schaffet den Bösen fort aus eurer Mitte!‘ Er sagt auch: ‚Wenn der Ungläubige weggehen will, dann soll er gehen, damit nicht ein räudiges Schaf die ganze Herde verseucht.‘“ (Die Benediktusregel, hg. von Basilius Steidle, Beuron 1978, Kap. 28, S. 117). 76 Lenin, Wie soll man, S. 409. 77 Vgl. Leggett, The Cheka, S. 171–203. 1922 stellte Dzierzynski fest, dass die ‚Allrussische Tscheka‘ ihre Aufgabe erfüllt habe. „Die Allrussische Tscheka wurde zum Schrecken aller, die sich mit den Errungenschaften der Werktätigen nicht abfinden konnten, die von der Wiederauferstehung des alten Regimes träumten, die neue Fesseln für die Arbeiter und Bauern in Bereitschaft hielten. Die Allrussische Tscheka wurde zur Hüterin der Revolution und hat die ihr übertragene schwierige Aufgabe ehrenvoll durchgeführt [...]. Die aufgedeckten Verschwörungen und Aufstände ziehen in langer Kette an

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formt wurden. Die militärische, von Trotzki geleitete Niederschlagung des Kronstädter Matrosenaufstandes,78 wurde von Lenin gefordert. Es waren jene Kronstädter Matrosen, die von 1905 bis 1917 als revolutionäre Avantgarde der Bolschewiki fungierten. Während ihres kurzlebigen Aufstandes publizierten sie in mehreren Ausgaben ihrer Izvestija ihre Vorstellungen über eine Freiheitscharta einer sozialistischen Rätedemokratie, welche freie Wahlen, Meinungs- und Pressefreiheit, Überprüfung der Dossiers von Verhafteten in Gefängnissen und Konzentrationslagern und die Auflösung der Tscheka79 vorsahen. Auch die „Landesverweisung von Schriftstellern und Professoren, die die Konterrevolution unterstützen,“80 wurde von Lenin angeordnet und persönlich überwacht. Die in den Jahren zwischen 1922 und 1923 organisierte Zwangsdeportation – vorwiegend in Richtung Deutschland – von insgesamt 224 führenden Vertretern der russischen Geisteswissenschaften, Belletristik und Publizistik wurde von Lenin in seinem Schreiben an Dzierzynski mit inquisitorischer Schärfe angetrieben. „Das sind alles ausgesprochene Konterrevolutionäre, Helfershelfer der Entente, eine Organisation von Dienern und Spionen der Entente, von Verderbern der studierenden Jugend. Man muss die Sache so organisieren, dass man diese ‚Militärspione‘ aufspürt, ständig und systematisch aufspürt, und sie des Landes verweist.“81 Lenin drängte Stalin, diese chirurgische Operation noch vor dem Ende des Schauprozesses gegen die Sozialrevolutionäre abzuschließen. „Wir wollen Russland auf Dauer säubern.“82 Selbst die Inszenierung von Schauprozessen gegen Glaubensrivalen, in diesem Falle die Sozialrevolutionäre, wurde von Lenin entschieden betrieben. Lenin sprach davon „unser revolutionäres Rechtsbewusstsein anzuwenden, systematisch, beharrlich, hartnäckig an einer Reihe von Musterprozessen zu zeigen, wie man mit Verstand und Energie vorgehen muss.“83 In diesem gegen führende Vertreter der sozialrevolutionären Partei angestrengten Schauprozess84 lassen sich fast alle Struktur-

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uns vorüber. Das scharfe Auge der Allrussischen Tscheka drang überallhin. Die Allrussische Tscheka war eine Waffe der Diktatur der Werktätigen. [...] Die Allrussische Tscheka ist stolz auf ihre Helden und Märtyrer, die im Kampf gefallen sind.“ (Feliks E. Dzierzynski, Fünf Jahre Arbeit (1922). In: ders., Ausgewählte Artikel und Reden, 1908–1926, Berlin 1953, S. 145–147, hier: 145 f.). Vgl. Paul Avrich, Kronstadt 1921, New York 1970. Vgl. die Ausgaben vom 3. bis zum 16. März 1921. In: Kronstadt. Izvestia du Comité Révolutionnaire Provisoire des matelots, soldats rouges et ouvriers de la ville de Kronstadt, Les Pavillons-sous-Bois 1988. Lenin, An F. Dzierzynski, 19. 5.1922. In: ders., Briefe, Band 9, Berlin 1974, S. 271 f., hier: 271. Ebd., S. 271 f. Lenin, Letter to Stalin, 17. 7.1922. In: Richard Pipes (Hg.), The Unknown Lenin. From the Secret Archive, New Haven / London 1996, S. 168 f., hier: 169. Lenin, Notiz für D. I. Kurski (20. 2.1922). In: ders., Werke, Band 36, Berlin 1971, S. 550. Marc Jansen, A Show Trial Under Lenin. The Trial of the Socialist Revolutionaries, Moscow 1922, The Hague 1982.

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elemente der späteren stalinistischen Schauprozesse nachweisen. Die Konstruktion von fiktiven Kausalzusammenhängen ohne Indizienbeweise, öffentliche Schuldbekenntnisse der Angeklagten als wichtigste Beweisgrundlage, die Mobilisierung der Öffentlichkeit, Massendemonstrationen und gelenkte Diffamierungskampagnen. Dieses Inquisitionstribunal, an dessen Inszenierung sich Trotzki, Bucharin und Piatakow in unterschiedlichen Rollen beteiligten, zielte auf einen Gegner, der durch den bolschewistischen Terror längst als politisch relevante Opposition zerschlagen worden war, dessen häretischer Einfluss85 aber auf die um Glaubensreinheit, Disziplin und Gehorsam eingeschworenen Bolschewiki gefürchtet wurde. 5. In der leninistischen Sakraltradition avancierte Lenin zur Ikone, auf die sich die militanten, heroischen und charismatischen Attribute, welche der Partei der disziplinierten Berufsrevolutionäre zugeschrieben wurden, fokussierten. Die Parteiimperative, die leninistischen Glaubensgebote des unbedingten Gehorsams, der eisernen Disziplin und der heroischen Hingabe, verwandelten sich in persönliche Attribute des charismatischen Führers und Strategen der Oktoberrevolution. Obgleich Lenin es ablehnte, sich aktiv an dieser ikonographischen Sakraltradition zu beteiligen, bleibt doch festzuhalten, dass er am 14. August 1918 per Dekret anordnete, eine sprechende Stadt nach dem Vorbild von Campanellas Sonnenstaat zu inszenieren, die den illiteraten Massen durch Statuen, Monumente, Wandmalereien86 den Gang in die neue Stadt der Bolschewiki weisen sollten. Als Sprachrohr dieser revolutionären Monumentalwelt dienten Agitatoren, die den vorbeieilenden Massen die revolutionäre Symbolwelt durch Instruktion, Aufklärung und Agitation erläutern sollten. In diesem Revolutionskult wird die „innerweltliche Gemeinschaftsreligion“87 symbolisch bekräftigt und ihr „Selbstverständnis als in sich zentrierter Einheit“88 verstärkt. In den Kultfeiern findet eine Identifikation

85 In der vom Exekutivkomitee der Sozialistischen Internationale angeregten Denkschrift Raphael R. Abramowitsch/Wasilij Suchomlin/Iraklij Zeretelli, Der Terror gegen die sozialistischen Parteien in Russland und Georgien, Berlin 1925, S. 26 wird dieser ideologische Monopolanspruch klar als wesentliche Ursache für den bolschewistischen Glaubensterror angesprochen. „Die Aufrechterhaltung des absoluten Monopols auf politische Rechte und Wirkungsmöglichkeiten im Alleinbesitz der RKP – das ist die alleinige Triebfeder der ganzen Politik der Bolschewisten in Russland. Und von da aus gesehen, ist jede Kritik an der kommunistischen Politik, jede Polemik gegen die RKP. eine Majestätsbeleidigung, eine Gotteslästerung und Kirchenschändung, ein hart zu sühnendes Staatsverbrechen. Und von da aus gesehen ist schon allein das Vorhandensein anderer politischer Gruppierungen und Vertreter anderer Ansichten durchaus unzulässig und strafbar.“ Man findet in dieser Denkschrift (ebd., S. 28–66) auch eine sehr detaillierte Beschreibung der gegen die sozialistischen Glaubensrivalen angewandten Repressalien (Massenverhaftungen, Hausdurchsuchungen, Gefängnis, Verbannung und Konzentrationslager). 86 Vgl. Richard Stites, Revolutionary Dreams. Utopian Vision and Experimental Life in the Russian Revolution, New York 1989, S. 88–92. 87 Eric Voegelin, Die politischen Religionen (1938), München 1993, S. 44. 88 Ebd.

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des Gottes der innerweltlichen Erlösung mit der Gemeinschaft der Gläubigen statt. Im Zusammenhang mit den Kultfeiern zur russischen Oktoberrevolution von 1917 entstand eine reichhaltige und differenzierte Kultsymbolik von Revolutionsmythen, Festen, Kunstrichtungen und Herrschaftsriten, welche den Revolutionskult in Massenaufzügen feierten, die ihre Stilelemente aus den traditionellen zaristischen Militärparaden, russisch-orthodoxen Prozessionen und proletarischen Demonstrationen89 selektiv entnahmen. Die Zeremonien zu den Revolutionsfeiern von 1918 rückten Moskau als sakrales Zentrum und Lenin als Kultobjekt in den Vordergrund des sich formierenden Sakralkanons. „The Kremlin was the point of convergence of all the processions – the point, in Christian ritual, where man, earth, universe, and god meet; and it resembles the central point of the city from which, in some utopias, radiated all streets, roads, energy, and power.“90 Dieser revolutionäre Sakralkanon war nicht nur auf die bedeutenden Kultfeiern der Oktoberrevolution oder die 1. Mai Demonstrationen zentriert, sondern sollte auch die Grundlage für eine „Revolutionierung des Alltags“91 bilden, der bisher von den Riten, Zeremonien und Kulten der russisch-orthodoxen Kirche bestimmt wurde. Sowjetstern, Hammer und Sichel und rote Fahne sollten die traditionellen Symbole kirchlichen Glaubens (Kuppelkreuz, Heiligenbilder) ersetzen.92 Die kirchlichen Festtage wie Weihnachten, Ostern, Pfingsten, aber auch die wichtigsten Zeremonien, welche die einzelnen „rites de passage“ im Lebenslauf der Gläubigen (Taufe, Eheschließung und Begräbnis) sakralisierten, wurden mit den Ikonen des revolutionären, innerweltlichen Sakralkanons bestückt, eines „revolutionären ‚Lebenszeremoniells‘“93, einer „neuen Lebenstheatralik“94, welche zudem noch in den Rahmen einer neuen, säkularen und westlichen Zeitrechnung verankert wurden.95 Der Vernichtung der Sakralwelt der orthodoxen Kirche96 sollte der Aufbau eines neuen Gottesreiches auf Erden folgen, ein Chiliasmus, der tief in der Vorstellungswelt der bäuerlichen Bevölkerung verwurzelt war.97 So feierte Anatoli 89 Stites, Revolutionary Dreams, S. 91 ff. 90 Ebd., S. 92. 91 Rene Fülöp-Miller, Geist und Gesicht des Bolschewismus. Darstellung und Kritik des kulturellen Lebens in Sowjet-Russland, Wien 1926, bes. S. 247–304. 92 Ebd., S. 248. 93 Trotzki, Fragen des Alltagslebens, Hamburg 1923, S. 73. 94 Ebd., S. 74. Für die Inszenierung der Beerdigungsfeierlichkeiten für politisch bedeutende Bolschewisten schlägt Trotzki beispielsweise vor, „ein neues, von revolutionärer Symbolik durchtränktes theatralisches Zeremoniell [...]: rote Fahnen, der revolutionäre Trauermarsch, eine Gewehrsalve als Abschiedsgruß“ (ebd., S. 72). 95 Einzelheiten in Fülöp-Miller, Geist, S. 257–264. 96 Zur stalinistischen Verfolgung, Unterdrückung und Terror gegen die russische Orthodoxie vgl. Michael Vital’evic Skarovskij, Die russische Kirche unter Stalin in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts. In: Manfred Hildermeier (Hg.), Stalinismus vor dem Zweiten Weltkrieg. Neue Wege der Forschung, München 1998, S. 233–254. 97 Vgl. Emanuel Sarkisyanz, Russland und der Messianismus des Orients. Sendungsbewusstsein und politischer Chiliasmus des Ostens, Tübingen 1955, S. 95–106.

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Lunatscharski, der Volkskommissar für das Bildungswesen, die Oktoberrevolution als einzigartiges, endgültiges Erlösungswerk, durch das die neue Stadt, das neue Jerusalem, auf den Trümmern der alten Welt aufgebaut werden sollte. „Die Oktoberrevolution hat der alten Welt einen derart zerschmetternden Schlag versetzt, dass deren Scherben nach allen Seiten geflogen sind. Keine Revolution, die irgendwann auf der Welt vor sich ging, kann sich ihrer Radikalität nach, ihren Zerstörungen und dem Brand nach, der auf Erden angefacht wurde, auch nur entfernt mit der Oktoberrevolution vergleichen. Dieser Brand lodert noch, und bei seinem Lichtschein beginnen wir, ein neues imposantes Gebäude zu errichten, die neue Stadt, von der die Menschheit so lange träumte.“98 Die neue Stadt der irdischen Verheißung, das „imposante Gebäude“, wird aber von „Untieren“ bedroht. „Diese Untiere beginnen ihre Löcher zu bauen, ihr Spinnennetz zu weben. Wie lange werden sie kriechen? Wo ist die Grenze? Kann man einen Zauberkreis zeichnen und sagen, was hinter ihm liegt: dort der spießbürgerliche Unrat, die NÖP-Leute und die Kulaken, die alte und neue Bourgeoisie, das Kleinbürgertum, hier aber alles Ehrliche, alle diejenigen, die auf diese Seite der Barrikade herüber gekommen sind, das ganze heroische Proletariat, aus einem Stück Stahl gemacht, seine ganze kommunistische Avantgarde – ?“99 Die periodischen Säuberungen der Partei waren aber in der Lage, so Lunatscharski, die „kriechenden Untiere“ zu vernichten und damit eine drohende Ansteckung100 zu vermeiden. „Aber unsere Freude ist es, dass jetzt alles Gesunde unter dem roten Banner schreitet und jene Krankheit erdrosselt.“101 Gemeint ist der Neue Mensch der sozialistischen und kommunistischen Zivilisation, der aus den Ruinen der alten bürgerlichen Welt sich erhebt. In den Worten von Leo Trotzki: „Der Mensch wird unvergleichlich viel stärker, klüger und feiner; sein Körper wird harmonischer, seine Bewegungen werden rhythmischer und seine Stimme wird musikalischer werden. Die Formen des Alltagslebens werden dynamische Theatralität annehmen. Der durchschnittliche Menschentyp wird sich bis zum Niveau des Aristoteles, Goethe und Marx erheben. Und über dieser Gebirgskette werden neue Gipfel aufragen.“102 98 Anatoli Lunatscharski, Aleksandr S. Gribojedow (1929). In: ders., Das Erbe. Essays, Reden, Notizen, ausgewählt und übers. von Franz Leschnitzer, Dresden 1965, S. 197– 213, hier: 208. 99 Ebd. 100 Diese ‚Untiere‘ bedrohen die „neu aufzubauende sozialistische Stadt [...] Indes sie in alle Löcher kriechen, streuen sie überall feinen Staub und Ansteckung aus. Wir atmen die ein, und in uns selber keimt manchmal ekliger Unflat auf. Selbst die Partei, der Hort unserer Hoffnungen, ist bisweilen nicht ansteckungsfrei. Die von der Partei durchgeführten periodischen Säuberungen zeigen, in welch infizierter Umwelt man zu leben hat“ (ebd., S. 209). 101 Ebd. 102 Trotzki, Literatur und Revolution (1924), Essen 1994, S. 252.

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6. „Ja, auch wir haben unsere Heiligen. Auch wir haben unsere Märtyrer, auch wir haben unsere geheiligten Särge.“103 Diese im Kontext einer rühmenden Erinnerung von Person und Werk Stschedrins durch Lunatscharski geäußerte Charakteristik der bolschewistischen Sakraltradition trifft in besonderem Maße auf den Leninkult zu. Im Leninkult rückte Lenin selbst in den Mittelpunkt der gläubigen Devotion und charismatischen Verklärung. Am ersten Mai 1918 pries ihn der Dichter Bednyi als „vozhd’“ (Führer). Nach dem Attentatsversuch von Fania Kaplan Ende August 1918 tauchten die ersten explizit religiösen Assoziationen auf, die Lenins Überleben erklären sollten. Lenin wurde von Sinowjew als Heiliger, als Apostel, als Prophet, als Märtyrer, als Führer von Gottes Gnaden104 gepriesen. Im Februar 1919 wurde die erste offizielle Büste Lenins enthüllt und Kopien in 29 Städten aufgestellt. Nach dem 50. Geburtstag Lenins am 22. April 1920 wurden die übermenschlichen Qualitäten des Führers (vozhd’), seine Einfachheit und Menschlichkeit, seine Verbundenheit mit dem Volk (narodnost’) und seine Macht (moshch’)105 gepriesen. In den politischen Postern wurden bestimmte Stilelemente aus dem Sakralkanon der klassischen Ikonen der russisch-orthodoxen Kirche ausgewählt. Neben dem extensiven Gebrauch von roten Farben wurde eine disproportionale Perspektive gewählt, die Lenin, flankiert von Arbeitern und Bauern (Aposteln), größer als die Sonne und der Erdball zeigte. Lenins ausgestreckter Arm wies in die Glaubensrichtung für die Anhänger oder erschien als eine Gebärde der Segnung.106 Nach Lenins Tod wird der Leninkult durch spezielle Parteikommissionen107 organisiert. Wie bei Prozessionen der russisch-orthodoxen Kirche üblich, trugen zu diesem Begräbnis in der Trauerprozession manche Gruppen von Trauernden Leninportraits auf Bannern.108 Später wurden auch in vielen Bauernhaushalten Leninecken dort eingerichtet, wo zuvor Ikonen verehrt wurden. Die Entscheidung des Politbüros, ein Mausoleum zu errichten, in dem der einbalsamierte Lenin von den Pilgermassen gesehen und verehrt werden konnte, verwies auf den russisch-orthodoxen Volksglauben, dass die Körper der Heiligen nach dem Tode nicht verwesen. Der Propaganda-Slogan „Lenin ist tot! Der Leninismus lebt! Der Leninismus wird triumphieren!“ erinnerte überdies an den Mythos der zwei Körper des Königs, seiner irdischen Sterblichkeit und seiner unsichtbaren politischen Unsterblichkeit.109

103 Lunatscharski, Über Stschedrin (1933). In: ders., Das Erbe, S. 226. 104 Nina Tumarkin, Lenin lives! The Lenin Cult in Soviet Russia, Cambridge, Mass. 1983, S. 82. 105 Victoria E. Bonnell, Iconography of Power. Soviet Political Posters under Lenin and Stalin, Berkeley, CA 1999, S. 142. 106 Ebd., S. 144. 107 Einzelheiten in Tumarkin, Lenin, S. 134–164. 108 Bonnell, Iconography, S. 148. 109 Ebd., S. 149.

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Mit der Inszenierung der Totenfeiern für den verstorbenen Lenin erreichte der Leninkult110 seinen sakralen Höhepunkt. Die Konkurrenz der präsumptiven Nachfolger des Glaubensstifters setzte ein und zielte auf die Monopolisierung der leninistischen Sakraltradition. Stalin, der selbst keine besondere Rolle in der Inszenierung des Totenkultes gespielt hatte,111 nutzte seine Totenklage zu einem Treueschwur auf die leninistischen Glaubensgebote, als deren Glaubenswächter er sich vor der Partei empfahl. Sarkastisch kommentierte Souvarine Stalins Bemühungen als „Litaneien mit kirchenslawischer Harmonie [...], in denen der ehemalige Schüler des Tifliser Seminars mit dem vergöttlichten Lenin auf Duzfuß steht und klar seine klerikale Mentalität bekundet. Danach setzt er Stück für Stück seine aus dem Zusammenhang gerissenen, inbrünstigen Gebetsanrufungen zusammen und macht aus ihnen eine Art Credo zum Gebrauch der Katechumenen der leninistischen Religion.“112 Insbesondere zwei Treueschwüre verdienen erwähnt zu werden, welche für die stalinistische Interpretation des Leninismus bedeutsam wurden: „Als Genosse Lenin von uns schied, hinterließ er uns das Vermächtnis, den erhabenen Namen eines Mitgliedes der Partei hochzuhalten und in Reinheit zu bewahren. Wir schwören Dir, Genosse Lenin, dass wir dieses Dein Gebot in Ehren erfüllen werden!“113 Stalin versprach damit nicht nur die dogmatische ‚Reinheit‘ des Leninismus zu bewahren, sondern präsentierte sich zudem noch als Garant für die Einheit der Partei. „Als Genosse Lenin von uns schied, hinterließ er uns das Vermächtnis, die Einheit unserer Partei wie unseren Augapfel zu hüten.“114 Nur die „Ein110 Die Studie von Benno Ennker, Die Anfänge des Leninkults in der Sowjetunion, Köln 1997 ist unergiebig, da Ennker sich hauptsächlich um den Nachweis bemüht, dass Dzierzynski als Vorsitzender der Beisetzungskommission nach Lenins Tod die Initiative für seine Einbalsamierung und die spätere Errichtung des Mausoleums ergriffen habe. Eine religionssoziologische Deutung des Leninkultes sei eine „abwegige Spekulation“ (S. 328), da weder religiöse Motive bei den führenden Bolschewiki, noch ein Eingehen auf die „Bedürfnisse der russisch-orthodoxen Volkstradition“ (S. 315) festzustellen sei. Es handele sich lediglich um eine „populistische Ausbeutung der traditionalen Lebenswelt des Volkes“ (S. 197). Abgesehen davon, dass auch eine zum Zweck der Massenmobilisierung angewandte ‚populistische Ausbeutung der traditionalen Lebenswelt des Volkes‘ ein Eingehen auf die ‚Bedürfnisse der russisch-orthodoxen Volkstradition‘ impliziert, verkennt Ennker völlig die rituelle, sakrale Sonderwelt von politischen Religionen, welche die Selbsterlösung der politisch aktiven Akteure anstreben und dabei aus dem traditionellen Reservoir von sakralen Riten, Symbolen und Kosmologien selektiv diejenigen Praktiken und Legitimationsmuster entnehmen, welche ihnen zur Legitimation ihrer innerweltlichen Mission geeignet erscheinen. Ein Rekurs auf religiöse, genuin christliche, transzendente Motive der Herrschaftseliten ist nicht notwendig, da diese Eliten selbst eine eigene politische, innerweltliche Religion inszenieren; vgl. auch Riegel. In: Zeitschrift für Politik, 2 (2001), S. 237–239. 111 Robert H. McNeal, Stalin. Man and Ruler, New York 1988, S. 89. 112 Boris Souvarine, Stalin. Anmerkungen zur Geschichte des Bolschewismus (1935), München 1980, S. 328 f. 113 Stalin, Zum Tode Lenins, 26.1.1924. In: ders., Werke, Band 6, Frankfurt a. M. 1972, S. 41–46, hier: 41. 114 Ebd., S. 42.

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heit der Partei“, ruft Stalin emphatisch aus, verspreche „die Leiden der Werktätigen“115 zu beenden. Die Erlösung von diesen Leiden konnte nur Lenin herbeiführen. „Die Größe Lenins besteht vor allem gerade darin, dass er die Sowjetrepublik schuf und damit den unterdrückten Massen der ganzen Welt durch die Tat zeigte, dass die Hoffnung auf Erlösung nicht verloren, dass die Herrschaft der Gutsbesitzer und Kapitalisten nicht von langer Dauer ist, dass das Reich der Arbeit durch die Anstrengungen der Werktätigen selbst geschaffen werden kann, dass das Reich der Arbeit auf Erden und nicht im Himmel errichtet werden muss.“116 In seiner Gedenkrede vor Kremlkursanten am 28. Januar 1924 verglich Stalin Lenin mit einem „Bergadler“117, pries ihn als „Genius der Revolution“118, dessen „Schlichtheit und Bescheidenheit“119 ebenso wie seine „Prinzipienfestigkeit“120 und sein „Glaube an die Massen“121 es ihm ermöglichten, „an den Wendepunkten der revolutionären Bewegung die richtige Strategie und die klare Linie des Handelns festzulegen.“122 Stalins Strategie, die Sakralisierung Lenins zu monopolisieren, um den eigenen Herrschaftsanspruch zu legitimieren und zur Bildung eines eigenen Führerkultes123 als unfehlbarer und allwissender „Genius der Revolution“ zu benutzen, musste sich in der Konkurrenz der weiteren „Schüler Lenins“ bewähren, die ebenfalls den Leninkult zugunsten eigener Herrschaftsaspirationen zu manipulieren versuchten. Sinowjew rühmte Lenin sogar als „Beichtvater, der ihn [Genosse Kreibich] damals tüchtig verprügelt hat. Ich habe viele Genossen sagen hören: ja Lenin hat mich manchmal geprügelt, aber das war fast ein Vergnügen, bei dem es sich lohnte, Haue zu kriegen. Ich schließe mich ganz dieser Meinung an. Ja es war ein Vergnügen, von dem Meister selbst Prügel zu nehmen. Was ist aber ohne Lenin zu tun?“124 Bucharin beschrieb Lenin als eine „geniale Maschine“. „Lenin ist nicht mehr unter uns und deshalb wird es natürlich, solange wir nicht zu richtigen Beschlüssen gelangen, mehr inneren Kampf geben als es unter Lenin gegeben hatte. Lenin war eine geniale Maschine, die uns diese Diskussionskosten erspart hat.“125 Auch Trotzki, der seine Machtrivalen als Epigonen zu kritisieren pflegte, war bestrebt, die leninistische Sakraltradition mit einem originellen Beitrag zu beleben. Lenin war nur noch mit Marx, dem Gründer und Propheten des Sozia115 116 117 118 119 120 121 122 123

Ebd., S. 42. Ebd., S. 42 f. Stalin, Über Lenin. In: ders., Werke, Band 6, Frankfurt a. M. 1972, S. 47–57, hier: 47. Ebd., S. 55. Ebd., S. 49. Ebd., S. 52. Ebd., S. 54. Ebd., S. 57. Vgl. Robert C. Tucker, Stalin in Power. The Revolution from Above, 1928–1941, New York 1992, bes. S. 154. 124 Grigorij Sinowjew, Die Weltpartei des Leninismus, Hamburg 1924, S. 126. 125 Bucharin, Die Ergebnisse des XIV Parteitages der KPdSU, 1926. In: Ulf Wolter (Hg.), Die linke Opposition in der Sowjetunion. Texte von 1923 bis 1928, Berlin (West) 1976, Band 3, S. 452–519, hier: 519.

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lismus, vergleichbar. „Ich habe das Verhältnis Lenins zu Marx, das von dankbarer Liebe des Schülers und – vom Pathos der Distanz erfüllt war, gut gekannt. Das Verhältnis des Lehrers zum Schüler wurde durch den Gang der Geschichte zum Verhältnis des theoretischen Vorgängers zum ersten praktischen Vollbringer.“126 Es überrascht nicht, dass Trotzki – aus der Perspektive der genialen Titanen, Marx, Lenin und Trotzki – die Versuche seiner Konkurrenten, eine leninistische Sakraltradition zu begründen, nur als epigonenhaft bezeichnen konnte. „Das Verhältnis zu Lenin als zu einem Revolutionsführer wurde ersetzt durch das Verhältnis zu ihm als zu einem Oberhaupt einer Priesterhierarchie. Auf dem Roten Platz stellte man trotz meinem Protest das für einen Revolutionär unwürdige und beleidigende Mausoleum auf. In ähnliche Mausoleen verwandelten sich die offiziellen Bücher über Lenin. Seine Gedanken zerschnitt man in Zitate für falsche Predigten. Mit der einbalsamierten Leiche kämpfte man gegen den lebendigen Lenin und – gegen Trotzki. [...] Die Partei war zum Schweigen verurteilt. Es entstand die reinste Diktatur des Apparates über die Partei. Mit anderen Worten: die Partei hörte auf, eine Partei zu sein.“127

2.

Die stalinistische Anstaltskirche128

Der schon von Lenin in Angriff genommene Aufbau der Parteikader zu einem hierarchisch und zentralistisch gegliederten Herrschaftsapparat wurde von Stalin weiter getrieben. Die organisatorischen Notwendigkeiten des Kriegskommunismus und die späteren Industrialisierungs- und Kollektivierungsprogramme erzwangen eine umfassende Transformation der leninistischen Virtuosengemeinschaft zu einem bürokratisierten und hierarchisch geordneten kirchlichen Anstaltsbetrieb.129 Notwendig wurde ein fachlich geschulter und disziplinierter 126 Trotzki, Mein Leben. Versuch einer Autobiographie, Berlin 1930, S. 494. Trotzki unterstreicht noch seine Nähe zu den Genies Marx und Lenin, wenn er darauf verweist, dass Lenin seinen Vergleich mit Marx selbst noch einen Monat vor seinem Tode gelesen und seinen Eindruck Krupskaja, deren Brief an ihn Trotzki zitiert, mitgeteilt habe. „Und es war mir wohltuend, zu wissen, dass Lenin, kurz vor seinem Tode, aufmerksam und vielleicht bewegt meine Zeilen über ihn gelesen hatte; denn der Maßstab Marx war in seinen Augen der gewaltigste Maßstab, den man auf einen Menschen anwenden konnte“ (ebd., S. 494). 127 Ebd., S. 498. 128 Weber, Wirtschaft, S. 29. „Hierokratischer Verband soll ein Herrschaftsverband dann und insoweit heißen, als zur Garantie seiner Ordnungen psychischer Zwang oder die Versagung von Heilsgütern (hierokratischer Zwang) verwendet wird. Kirche soll ein hierokratischer Anstaltsbetrieb heißen, wenn und soweit sein Verwaltungsstab das Monopol legitimen hierokratischen Zwanges in Anspruch nimmt.“ 129 Stepun, Das Antlitz Russlands und das Gesicht der Revolution, Bern / Leipzig 1934, S. 59, hat diese Anstaltskirche als ein „ideokratisch-hierarchisch-bürokratisches System“ bezeichnet, welches die Struktur der orthodoxen Kirche zu imitieren versuchte. An der Spitze dieser bolschewistischen Kirche stehen die Propheten Marx, Engels und Lenin. „Dann kommt der Clerus: das Bureau und das Exekutivkomitee der Partei. Eine Stufe niedriger die wahrhaft gläubige Arbeiteraristokratie, ‚die proletarische Vorhut‘, und

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Kaderapparat von Funktionären, welcher für die Verwaltungs- und Herrschaftsbürokratien arbeitete. Er löste die pneumatisch gestimmten Virtuosen aus der chiliastischen Revolutionsbewegung ab. Die stalinistischen Funktionärskader präsentierten eine veränderte biographische Identität. Ihre nichtintellektuelle Herkunft, das dörfliche Milieu und die bescheidenen Bildungsvoraussetzungen130 formten Parteigesichter, die auf konturlose Biographieschablonen zugeschnitten waren. Die Virtuosenethik von revolutionär Qualifizierten verwandelte sich in einen „Anstaltsgehorsam“131 mit einer „formalen Gehorsamsdemut“132. Die „Anstaltsgnade“133 ersetzte die „charismatische Gnadenspendung“134 des erlösungsbedürftigen Virtuosen. Die „Anstaltsgnade“ wurde 1. nach dem Prinzip „extra ecclesia nulla salus“135 verliehen. Die Zugehörigkeit zur Heilsanstalt

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schließlich ganz unten die unbewusste Masse der nur ‚objektiven‘ Proletarier und Halbproletarier, mehr Basis als Subjekt der Revolution“ (ebd., S. 60). Über die „Reinheit, Straffheit und Strenge“ (ebd., S. 60) der Organisation wachen „kommunistische Beobachtungszellen“ (ebd., S. 65). Säuberungsmaßnahmen sollen ein „proletarische(s) Menschenmodell“ (ebd., S. 61) formen. Auch Berdiajew, Wahrheit und Lüge, hat den Stalinismus als eine Kirche theokratischen Zuschnittes bezeichnet. „Der kommunistische Staat unterscheidet sich scharf vom gewöhnlichen, weltlichen, säkularisierten Staat. Er hat einen ‚geheiligten‘, einen ‚theokratischen‘ Charakter und übernimmt die Funktionen, die der Kirche eigen sind. Er maßt sich an, die Seelen zu formen, teilt ihnen einen obligatorischen Lehrgehalt mit, bemächtigt sich des ganzen inneren und äußeren Lebens der Menschen und verlangt, dass man nicht nur ‚was des Kaisers‘, sondern auch ‚was Gottes ist‘ entgegenbringt“ (ebd., S. 30). Den kirchlichen Anstaltscharakter des Stalinismus betont auch Roy Medvedev, Let History Judge. The Origins and Consequences of Stalinism, New York 1989, S. 617. „The cult of Stalin, following the logic of any cult, tended to transform the Communist Party into an ecclesiastical organization, producing a sharp distinction between ordinary people and leader-priests headed by their infallible pope.“ Ähnlich argumentiert auch Lewin, der eine parallele Entwicklung in der Kirchengeschichte sieht, nämlich die Transformation von Sekten in Kirchen. Eine solche Parallele „can throw a searching light on the transformation of the revolutionary Bolshevik party from a network of clandestine committees into a mighty bureaucracy, with a powerful hierarchy on one pole and a rightless ‚laity‘ on the other, with privileges at the top and obligatory catechesis handed from above for the use of the lower rungs, and finally with a laicized version of [...] sin, apostates, and inquisition“ (Moshe Lewin, The Making of the Soviet System. Essays in the Social History of Interwar Russia, New York 1994, S. 305); vgl. auch Stephen Kotkin, Magnetic Mountain. Stalinism as a Civilization, Berkeley, CA 1997, bes. Kap. 10. Kotkin bezeichnet die stalinistische Anstaltskirche als eine Theokratie. Lewin, The Making, S. 267. Weber, Wirtschaft, S. 340. „Der rein als solcher verdienstliche Anstaltsgehorsam also, nicht die konkrete inhaltliche ethische Pflicht, aber auch nicht die methodisch selbst gewonnene ethische Virtuosenqualität ist der letzte religiöse Wert.“ Ebd., S. 340. Ebd. „Die Anstaltsgnade hat endlich und namentlich, der Natur der Sache nach, auch die Tendenz, als Kardinaltugend und entscheidender Heilsbedingung den Gehorsam, die Unterwerfung unter die Autorität, sei es der Anstalt als solcher oder den charismatischen Gnadenspendenden [...] zu entwickeln.“ Ebd., S. 338. Ebd., S. 339. Im Folgenden wird Webers Kirchenbegriff per analogiam zur Charakteristik der stalinistischen Anstaltskirche verwendet. „Zur Kirche entwickelt sich die Hierokratie, wenn 1. ein besonderer, nach Gehalt, Avancement, Berufspflichten, spezifi-

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wurde durch geregelte Parteiaufnahmen ermöglicht. Der Nachweis eines Minimums an Glaubensformeln aus den entsprechenden Katechismen, ein zweifelsfreier Klassenhintergrund, der Erwerb des Parteiausweises und die Demonstration von Gehorsam, Disziplin und Ordnungswillen, gehörten zur Standardausrüstung eines Parteikaders. 2. Die Heilsanstalt wurde in eine Hierarchie von Sakralinstanzen geordnet, welche amtsmäßig Heilsprämien verteilte. Zu erwähnen sind vor allem die oberen Sakralränge mit ihren Sakralfunktionären, welche amtsmäßig damit befasst waren, die korrekte Auslegung des Dogmenstandes zu überwachen, die Reglementierung der Lehrautorität auf den Gebieten der Unterweisung und Mission voranzutreiben und die Sakraltexte so zu reformulieren, dass sie auch der Volksreligiosität zugänglich wurden. Der Strukturwandel von der leninistischen Virtuosenreligion zur stalinistischen Anstaltskirche zog natürlich auch eine Reformulierung des leninistischen Dogmenbestandes nach sich. Die Sakralspezialisten der stalinistischen Orthodoxie arbeiteten ein Legitimationsprogramm aus, durch das Leninismus und Stalinismus zu der neuen Sakraltradition Marxismus-Leninismus geformt werden sollte. So wurde 1. Stalin als die neue Lehrautorität in Glaubensfragen dadurch legitimiert, dass er als getreuer Schüler Lenins zu gelten hatte, während Stalins Machtrivalen aus dieser Nachfolge ausgeschlossen wurden. Die Konstruktion eines 2. Leninkultes diente dazu, Stalin als seinen getreuen Interpreten und Sachwalter darzustellen, eine „invented tradition“136 besonderer Art. Neben der Konstruktion des Leninkultes wurde 3. eine stalinistische Sakraltradition von den Sakralspezialisten kompiliert, welche aus einer Sammlung von „Vorlesungen“ an der Swerdlow-Universität bestand, die Stalin 1924 dort vor „roten Studenten“ gehalten hatte. Stalins „Über die Grundlagen des Leninismus“137 bildeten den Grundstock des Parteidogmenbestandes, den jeder Kader

schen (außerberuflichen) Lebenswandel reglementierter und von der ‚Welt‘ ausgesonderter Berufspriesterstand entstanden ist, – 2. die Hierokratie ‚universalistische‘ Herrschaftsansprüche erhebt, d. h. mindestens die Gebundenheit an Haus, Sippe, Stamm überwunden hat, in vollem Sinne erst, wenn auch die ethnisch-nationalen Schranken gefallen sind, also bei völliger religiöser Nivellierung, – 3. wenn Dogma und Kultus rationalisiert, in heiligen Schriften niedergelegt, kommentiert und systematisch, nicht nur nach Art einer technischen Fertigkeit, Gegenstand des Unterrichts sind, – 4. wenn dies alles sich in einer anstaltsartigen Gemeinschaft vollzieht. Denn der alles entscheidende Punkt [...] ist die Loslösung des Charisma von der Person und seine Verknüpfung mit der Institution und speziell: mit dem Amt. Denn die ‚Kirche‘ ist von der ‚Sekte‘ im soziologischen Sinn dieses Wortes dadurch unterschieden: dass sie sich als Verwalterin einer Art Fideikommiss ewiger Heilsgüter betrachtet, die jedem dargeboten werden, in die man – normalerweise – nicht freiwillig, wie in einen Verein, eintritt, sondern in die man hineingeboren wird, deren Zucht auch der religiös nicht Qualifizierte, Widergöttliche unterworfen ist, mit einem Wort: nicht wie die ‚Sekte‘ als eine Gemeinschaft rein persönlich charismatisch qualifizierter Personen, sondern als Trägerin und Verwalterin eines Amtscharisma“ (ebd., S. 692 f.). 136 Hobsbawm, Introduction: Inventing Traditions, S. 1–14. 137 Stalin, Über die Grundlagen des Leninismus. Vorlesungen an der Swedlow-Universität, Anfang April 1924. In: ders., Fragen des Leninismus, Moskau 1947, S. 9–100.

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beherrschen musste. Wie alle Katechismen bestand die stalinistische Interpretation des Leninismus in einer dogmatischen, rigiden und peniblen Aufzählung der unverzichtbaren Dogmen, ihrer korrekten Memorierung und Anwendung für die Praxis. „In dieser fleißigen Zusammenstellung, in der plagiierte Phrasen mit Zitaten abwechseln, sucht man vergeblich das kritische Gedankengut Lenins. Alles, was in dem in Anspruch genommenen Werk lebendig, relativ, bedingt und dialektisch ist, wird passiv, absolut, bestimmt, zwingend, kategorisch in diesem als Katechismus dienenden Handbuch [...] Aber in seiner Eigenschaft als Parteisekretär hatte Stalin die Lektüre für die Neubekehrten zur Pflicht machen können. Diese Proselyten waren periodischen Säuberungen ausgesetzt und gehalten, die Elementarvorlesungen in Doktrin zu belegen, damit sie dort mit Tabus belegte Aphorismen auswendig lernten. Mehr als 200 000 Arbeiter, in ihrer großen Mehrheit politisch Ungebildete, sind en bloc in die kommunistischen Reihen aufgenommen worden, um deren ‚soziale Zusammensetzung zu verbessern‘.“138

Stalins Leninismus verwandelte sich „zu einer eigenartigen weltlichen Religion. Man musste nur glauben und zustimmen.“139 Es war der Beginn des Stalin-Kultes, einer „‚socialist religion‘ with a god. And the all-powerful, all-knowing, allholy god of the new religion was himself, Stalin.“140 Stalins Kaderpartei firmiert als „Partei des Leninismus“141. Diese Partei fungiert als „Kampfstab des Proletariats“142, ein Führungsanspruch, der sich aus der Kriegssituation ergibt, in der sich die „Millionenmassen der Proletarier“143 befinden. „Keine Armee kann im Krieg ohne einen erfahrenen Stab auskommen, wenn sie nicht einer Niederlage entgegengehen will. Ist es nicht klar, dass das Proletariat erst recht nicht ohne einen solchen Stab auskommen kann, wenn es sich nicht seinen Todfeinden mit Haut und Haar ausliefern will?“144 Ihren Führungsanspruch kann die Partei nur erfüllen, wenn sie „mit einer revolutionären Theorie, mit der Kenntnis der Gesetze der Bewegung, mit der Kenntnis der Gesetze der Revolution gewappnet“145 ist. Die Partei des Leninismus darf sich aber nicht nur damit begnügen, die „Diktatur des Proletariates“ zu erringen, so Stalin, sie muss auch die Grundlagen für die neue sozialistische Zivilisation schaffen. „Das heißt, die Millionenmassen der Proletarier mit dem Geist der Disziplin und Organisation zu beseelen; das heißt, in den proletarischen Massen eine Schutzwehr und ein Bollwerk gegen die zerfressenden Einflüsse der kleinbürgerlichen Elementargewalt und der kleinbürgerlichen Gewohnheiten schaffen; das heißt, die organisatorische Arbeit der Proletarier zur Umerziehung und Ummodelung der kleinbürgerlichen Schichten zu un-

138 Souvarine, Stalin, S. 334. 139 Dimitri Wolkogonow, Stalin. Triumph und Tragödie. Ein politisches Portrait, Düsseldorf 1989, S. 735. 140 Medvedev, Let History, S. 319. 141 Stalin, Über die Grundlagen, S. 87. 142 Ebd., S. 88. 143 Ebd. 144 Ebd. 145 Ebd., S. 87.

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terstützen; das heißt, den proletarischen Massen helfen, sich selbst zu erziehen, als die Kraft, die fähig ist, die Klassen aufzuheben und die Bedingungen für die Organisierung der sozialistischen Produktion vorzubereiten. Aber das alles durchzuführen ist unmöglich ohne eine Partei, die durch ihre Geschlossenheit und Disziplin stark ist.“146

Offensichtlich hat hier die Partei des Leninismus als zivilisatorische Avantgarde, als missionierende Glaubensmacht des Sozialismus, zu wirken, welche für sich die kulturellen Vorbedingungen, die zivilisatorischen Voraussetzungen, die innerweltlichen Erlösungsqualifikationen für die „sozialistische Produktion“ schaffen soll, ohne die auch die proletarischen Massen, noch mit „kleinbürgerlichen Gewohnheiten“ befleckt, nicht den Schritt in eine „klassenfreie“, „sozialistische Produktion“ wagen können. Die stalinistische Kaderpartei hat eine Kultur- und Glaubensmission auch stellvertretend für die proletarischen Massen zu erfüllen. Die Partei des Leninismus muss daher besonders hohen moralischen Anforderungen genügen, um ihre utopische Kultur- und Glaubensmission erfüllen zu können. Als wichtigste Bedingung nennt Stalin „die Einheit des Willens und die Einheit des Handelns aller Parteimitglieder [als] jene unerlässliche Bedingung, ohne die weder eine einheitliche Partei noch eine eiserne Disziplin in der Partei denkbar ist.“147 Die geforderte „eiserne Disziplin“ sollte nicht blind sein. „Im Gegenteil, die eiserne Disziplin schließt Bewusstheit und Freiwilligkeit der Unterordnung nicht aus, sondern setzt sie vielmehr voraus, denn nur eine bewusste Disziplin kann eine wirklich eiserne Disziplin sein. Aber nachdem der Meinungskampf beendet, die Kritik erschöpft und ein Beschluss gefasst ist, bildet die Einheit des Willens und die Einheit des Handelns aller Parteimitglieder jene unerlässliche Bedingung, ohne die weder eine einheitliche Partei noch eine eiserne Disziplin in der Partei denkbar ist.“148 Stalins warnender Hinweis auf Lenins Dogma des Verbotes der Fraktionsbildung, kanonisiert in der Resolution des X. Parteitages, wird durch die Empfehlung, die Partei „von opportunistischen Elementen“149 zu säubern, verstärkt. Stalin zählt alle häretischen Infektionsquellen auf, welche die angestrebte „Einheit des Willens und die Einheit des Handelns“ gefährden könnten. Nur durch ihre „Liquidierung“, ihre „Säuberung“ kann der „Geist des Schwankens und des Opportunismus, der Geist der Zersetzung und der Unsicherheit“150 aus der Partei vertrieben werden. „Wenn es unserer Partei gelungen ist, in der Partei die innere Einheit, die beispiellose Geschlossenheit in ihren Reihen zu schaffen, so vor allem deshalb, weil sie es verstanden hat, sich rechtzeitig von dem Unrat des Opportunismus zu reinigen, weil sie es verstanden hat, die Liquidatoren und Menschewiki aus der Partei zu verjagen. Der Weg zur Entwicklung und Festigung der proletarischen Parteien führt über ihre Säuberung von Opportunisten und Reformisten, 146 147 148 149 150

Ebd., S. 94. Ebd., S. 95. Ebd. Ebd., S. 96. Ebd., S. 97.

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von Sozialimperialisten und Sozialchauvinisten, Sozialpatrioten und Sozialpazifisten. Die Partei stärkt sich, in dem sie sich von opportunistischen Elementen reinigt.“151 Zu diesem Katechismusbestand wurde 1938 noch die „Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (Bolschewiki)“152 hinzugefügt, die das ideologische Rüstzeug des stalinistischen Kaders vervollständigte. Zur Legitimierung und Durchsetzung ihrer ideologischen Universalkompetenz bediente sich die stalinistische Anstaltskirche zudem noch der Inszenierung von 4. Inquisitionstribunalen. In ihnen kam ihr „Monopol legitimen hierokratischen Zwanges“153 symbolisch zu Geltung.

3.

Inquisitionstribunale

Die stalinistische Anstaltskirche nimmt das „Monopol legitimen hierokratischen Zwanges“154 in Anspruch, wenn es gilt, durch Spendung oder Versagung von Heilsgütern Häresien zu vernichten. Gleichzeitig wird als Gegenmodell zur häretischen Unterwelt die Lichtgestalt der triumphierenden Orthodoxie als moralisches Lehrstück der eigenen Gemeinde präsentiert. Instruktiv ist dafür die Inszenierung der Moskauer Schauprozesse (1936–1939). Ein Vergleich der in diesem Rahmen angewandten Konfessionsrituale mit historisch differenten Geständnisprozeduren ist aufschlussreich. Im Unterschied zur klassischen Inquisition der römischen Amtskirche verhüllte die stalinistische Inquisitionspraxis ihre Methoden der Geständniser-

151 Ebd., S. 98. Milovan Djilas, Die neue Klasse. Eine Analyse des kommunistischen Systems, München 1963, S. 170 f. beschreibt die psychologische Wirkung dieser angestrebten Geschlossenheit von Denken und Handeln für die Parteimitglieder sehr prägnant. „‚Einheit des Willens und der Aktion‘ ist unmöglich ohne psychisch-moralische Einheit und umgekehrt. Aber gerade diese psychische und moralische Einheit – für die es weder Statuten noch Gesetze gibt, sondern die spontan entsteht, um sich später zu einer Gewohnheit und einer bewussten Haltung herauszubilden –, gerade diese Einheit macht die Kommunisten mehr als alles andere zu jener unzerstörbaren Familie, die für andere unbegreiflich und unerforschlich ist und unerschütterlich in der Solidarität und Identität ihrer Reaktionen, Gedanken, Gefühle. Mehr als alles andere ist die Existenz dieser psychisch-moralischen Einheit, die nicht auf einen Schlag geschaffen wird und die noch nicht einmal endgültig gebildet ist, es sei denn als erstrebenswertes Ziel – der zuverlässigste Beweis dafür, dass die kommunistische Bewegung sich gefestigt hat und auf ihre Anhänger und viele andere Menschen eine unwiderstehliche Kraft ausübt und mächtig ist, weil sie zu einem Stück, einer Seele und einem Körper zusammengeschmolzen ist. Es ist der Beweis dafür, dass eine neue, homogene Bewegung entstanden ist, die einer ganz anderen Zukunft entgegengeht, als man je vorausgesehen hatte.“ 152 Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (Bolschewiki). Kurzer Lehrgang. Unter der Redaktion einer Kommission des Zentralkomitees der KPdSU (B). Gebilligt vom ZK der KPdSU (B). 1938, Berlin 1946. 153 Weber, Wirtschaft, S. 29. 154 Ebd., S. 29.

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pressung.155 Sie konzentrierte sich auf die Inszenierung eines Prozesses, der öffentlich nachvollziehen sollte, was in der geheimen Prozedur der Geständniserpressung schon zwischen den Angeklagten und den Anklägern verabredet worden war. Alle Spuren, die auf psychische und physische Torturen hinweisen könnten, wurden in diesem arrangierten Lehrstück peinlich genau verwischt. Auch die körperliche öffentliche Bestrafung nach Abschluss des Konfessionsrituals wurde vermieden. Die für das Inquisitionsverfahren übliche Zurschaustellung des Strafrituals wurde im stalinistischen Verfahren hinter dem Vorhang des Schweigens verborgen. Die Inquisition der römischen Amtskirche arbeitete als eine im damaligen Rechtsbewusstsein legitime Institution.156 Die stalinistische Inquisition präsentierte sich dagegen als ein Gerichtsprozess, welcher nach den üblichen Rechtsverfahren von demokratischen Verfassungsstaaten zu arbeiten schien. Tatsächlich stellte er jedoch ein von den Säuberungs- und Folterexperten des NKWD arrangiertes Gerichtsdrama dar, das nach verteilten und vorher einstudierten Rollen Schuld und Sühne, Recht und Verrat, Glaube und Häresie nach den Regeln der stalinistischen „Hinrichtungsliturgie“157 zu demonstrieren hatte. Die stalinistische Inquisitionspraxis operierte im Zwielicht von fiktiven und echten Geständnissen. Die vormaligen Schüler und engsten Kampfgefährten des Glaubensstifters sollten als Darstellungsvirtuosen echte Geständnisse präsentieren, welche über ihre fiktiven Verbrechen und Häresien Auskunft gaben. Das Vertrauen der stalinistischen Inquisitionspraxis konnte sich nicht – wie im Falle der klassischen Inquisition – auf die Mechanik glänzend eingespielter und legitimierter Sanktionsapparate stützen, welche die Schuldbeweise mit der eisernen Logik des Verhörs, der Tortur und der öffentlichen Destruktion der Häretiker produzierten. Die stalinistische Säuberungsmethodik war auf den Willen der angeklagten Schüler und Kampfgefährten Lenins angewiesen, fiktive Geständnisse als echte Selbstbezichtigungen vorzuspielen. Der schweigende und unbußfertige Häretiker, der stumm sein Schicksal zur Schau stellt, hätte dem Schauspiel seine intendierte Wirkung genommen. Das öffentliche Bekenntnis der eigenen Verbrechen und Häresien in den Moskauer Schauprozessen brach zudem mit dem Konfessionsritual der christlichen Beichte. Für dieses Geständnisritual war eine Verklammerung von Öffentlichkeit und Geheimnis in der privaten Beichte institutionalisiert.158 Dem Sünder wurde eine individuelle und geheime Schuldbiographie konzediert. Von ihm wurde eine individuelle Bilanzierung von Geständnis, Reue und Buße ver-

155 Vgl. Riegel, Inquisitionssysteme von Glaubensgemeinschaften. Die Rolle von Schuldgeständnissen in der spanischen und stalinistischen Inquisitionspraxis. In: Zeitschrift für Soziologie, 3 (1987), S. 175–189. 156 Vgl. John H. Langbein, Torture and the Law of Proof. Europe and England in the Ancien Regime, Chicago 1976. 157 Foucault, Überwachen, S. 66. 158 Vgl. Riegel, Konfessionsrituale im Marxismus-Leninismus, Graz 1985.

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langt. Sein Sündenbekenntnis159 summierte nicht lediglich die kollektiven Schuldstereotypen der Glaubensgemeinschaft. Im öffentlichen Konfessionsritual, der „chistka“ (Säuberung), wird dagegen der Sünder vor der kollektiven Zensurmacht der Glaubensgemeinschaft bloßgestellt, gedemütigt und auf Dauer stigmatisiert.160 Die Partei und ihre Sanktionsinstanzen wissen um seine Vergehen, speichern sie in den Kaderakten und Dossiers. Die Kaderakte gerinnt zum „Kompromat“, das die dunklen Punkte der Vergangenheit mit den Verdachtsmomenten der Gegenwart zu einer erneut drohenden Anklage kombiniert. Der bekennende Poenitent soll mit seinem Geständnis, so will es die Pädagogik der Furcht wie der moralischen Belehrung, einen Beitrag zur Idealisierung und Legitimierung der stalinistischen Sanktionsmacht leisten. Das öffentliche Geständnis, auf das die stalinistische Säuberungsmethodik dringt, erlangt deshalb eine so zentrale Bedeutung, weil es für die Inszenierung eines moralischen Lehrstückes unverzichtbar ist. Es ist scheinbar glaubwürdig, weil der Beschuldigte selbst für die Richtigkeit der Anklage bürgt. Indizienbeweise könnten die Schuldvermutung verstärken, aber nicht mit letzter Sicherheit. Die letzte Sicherheit scheinen authentische, aus freien Entschluss gemachte Geständnisse zu erbringen. Die Selbstbelastung der Selbstbezichtigung, die der geständniswillige Angeklagte auf sich nimmt, suggeriert die Echtheit der Konfession. Dieses Geständnis soll dem Parteikader demonstrieren, dass auch er seine eigenen Verfehlungen freiwillig den zuständigen Disziplinbehörden anzeigen und durch Ableistung von Bußwerken seinen Beitrag zum Aufbau des Sozialismus mit verstärkten Kräften leisten soll. Die im Geständnis präsentierten Verbrechenskataloge umfassen daher nicht nur die inkriminierte Zugehörigkeit zu häretischen Glaubensrichtungen, sondern benennen auch konkrete Handlungen und Tatbestände. Das Desaster der stalinistischen Industrialisierungspolitik kann, wie in einem Spiegel, in diesen Verbrechenskatalogen abgelesen wer-

159 Vgl. auch Riegel, Rituals of Confession within Communities of virtuosi: An Interpretation of the Stalinist Criticism and Self-criticism in the Perspective of Max Weber’s Sociology of Religion. In: Totalitarian Movements and Political Religions, 1 (2000) 3, S. 16–42. 160 Rudolf Herrnstadt, Das große Sterben. ‚Partei-Reinigung‘ in Sowjetrussland. In: Berliner Tageblatt Nr. 457, 29. 9.1933 erläutert seinen deutschen Lesern anschaulich diese Stigmatisierung durch eine Tschistka. „Es ist nicht leicht zu beschreiben, was der Ausschluss aus der Partei für ein langjähriges Parteimitglied bedeutet. Dass es mancher praktischer Vorteile verlustig geht, ist noch das geringste. Das Ueberwältigende ist ihm: deklassiert, diskriminiert, ausgestossen worden zu sein aus der grossen Gemeinschaft der ‚Vorkämpfer‘, als ‚Schädling‘ gebrandmarkt zu sein von derjenigen Instanz, gegen die es keine Berufung gibt. Zurückversetzt zu sein in die Masse der Geführten, bestenfalls in den Stand der Anwärter. Mit einem Brandmal versehen zu sein, das in den kommenden Jahrzehnten durch grosse Leistungen vielleicht übertönt, jedoch niemals mehr getilgt werden kann.“ Zu Herrnstadt vgl. Riegel, Gesinnung und Disziplin. Die Selbstdarstellung eines Parteidissidenten (Herrnstadt) der SED. In: Zeitschrift für Politik, 3 (1991), S. 255–273.

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den. Die Sabotage an Industrieanlagen, die Verschwendung öffentlicher Mittel, der Diebstahl von „Volkseigentum“, die zahlreichen Bergwerks- und Eisenbahnunglücke sprechen eine beredte Sprache. So zählte Stalin sehr konkret die „Schädlingstätigkeiten“ auf. Die „Schädlinge“ operieren nach Stalin auf folgenden Gebieten: „Sie stecken Lagerhäuser in Brand und beschädigen Maschinen. Sie organisieren Sabotage. Sie organisieren Schädlingsarbeit in den Kollektivwirtschaften, in den Sowjetwirtschaften, wobei manche von ihnen, unter denen sich auch einige Professoren befinden, in ihrem Schädlingsdrang so weit gehen, dass sie dem Vieh in den Kollektiv- und Sowjetwirtschaften die Pest, die sibirische Seuche einimpfen, die Verbreitung der Meningitis unter den Pferden fordern usw. Aber das ist nicht die Hauptsache. Die Hauptsache in der ‚Tätigkeit‘ dieser Ehemaligen besteht darin, dass sie massenhaft Diebstahl und Veruntreuung von Eisenbahnfrachten, Diebstahl und Veruntreuung in den Werken und Fabriken, Diebstahl und Veruntreuung in Lagerhäusern und Handelsbetrieben – besonders aber Diebstahl und Veruntreuung in den Sowjet- und Kollektivwirtschaften (organisieren) –, das ist die Hauptform der ‚Tätigkeit‘ dieser Ehemaligen. Sie fühlen sozusagen mit ihrem Klasseninstinkt, dass die Grundlage der Sowjetwirtschaft das gesellschaftliche Eigentum bildet, dass man, um der Sowjetmacht zu schaden, eben diese Grundlage erschüttern muss – und sie bemühen sich tatsächlich, das gesellschaftliche Eigentum dadurch zu erschüttern, dass sie Diebstahl und Veruntreuung in Massenumfang organisieren.“161

In diesem Kontext der stalinistischen Dämonologie gewinnt der ideologische Schlüsselbegriff des „vreditel’“ (Schädling, Saboteur)162 seit dem Schachty Schauprozess von 1928 eine überragende Bedeutung. „The word vreditel’ comes from the verb vredit (to injure, harm, hurt) and originally referred to agricultural pests or vermin.“163 Im Prozess gegen die Industriepartei von 1930 wird beispielsweise ein Angeklagter, „ein Wurm, der sich windet“164, der „Schädlingsarbeit“ überführt. „Es stellt sich allmählich heraus, dass der Professor, der das Unschuldslamm spielt, der direkte Nachfolger Chrennikows in der Organisierung der Schädlingsarbeit und der Spionage in der Metallbranche und der Kriegsindustrie gewesen ist.“165 Die Omnipräsenz der „Schädlingsarbeit“ erfordere, so Stalin, „revolutionäre Wachsamkeit“. „Die Schachty-Affäre zeigte, dass es bei den Parteiorganisationen und Gewerkschaften an revolutionärer Wachsamkeit mangelte. Sie zeigte, dass unsere Wirtschaftler in technischer Hinsicht unerhört zurückgeblieben sind, dass manche alten Ingenieure und Techniker, da sie unkontrolliert arbei161 Stalin, Die Ergebnisse des ersten Fünfjahrplans. Bericht am 7.1.1933. In: ders., Werke, Band 13, Berlin 1955, S. 145–192, hier: 186. 162 Vgl. Julie A. Cassiday, The Enemy on Trial. Early Soviet Courts on Stage and Screen, DeKalb, Ill. 2000, S. 120 f. 163 Ebd., S. 120. 164 Vgl. Spione und Saboteure vor dem Volksgericht in Moskau. Bericht über den Hochverratsprozess gegen Ramsin und Genossen vom 25. November bis 7. Dezember 1930 im Gewerkschaftshaus in Moskau von Andor Gabor auf Grund der stenografischen Protokolle zusammengestellt, Berlin 1931, S. 62. 165 Ebd., S. 63.

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ten, leicht auf die Bahn der Schädlingsarbeit abgleiten, um so mehr, als sie von Feinden im Ausland ununterbrochen mit ‚Angeboten‘ bedrängt werden.“166 Jeder Parteikader müsse sich, ermahnt Stalin, in „revolutionärer Wachsamkeit“ üben, um den unsichtbaren Feind, den „Schädling“ zu bekämpfen, der überall, in allen Lebenssphären und Wirtschaftssektoren eingedrungen ist und dort seine „Schädlingsarbeit“, seine „Spionagetätigkeit“, seine „Subversion“ entfaltet hat. Der Aufbau des Sozialismus, so Stalin, stehe auf dem Spiel, wenn es den Feinden der Sowjetmacht gelingen sollte, die ehrgeizigen Industrialisierungsprojekte der Partei zu untergraben. Die notwendige „revolutionäre Wachsamkeit“ muss daher arbeiten wie „jener Scheinwerfer, der uns hilft, den Stand der Arbeit eines Apparates zu jeder beliebigen Zeit zu beleuchten und die Bürokratie und Kanzleimenschen ans Licht zu ziehen“.167 In seinem Referat und Schlusswort auf dem Plenum des ZK der KPdSU (B) vom 3. und 5. März 1937, „Über die Mängel der Parteiarbeit und die Maßnahmen zur Liquidierung der trotzkistischen und sonstigen Doppelzüngler“, formulierte Stalin die ideologischen Direktiven für die Säuberungen, die „chistki“ der „Ezhovschina“ (1937–1938), die auch gegen die regionalen Parteisatrapen und ihren Clanstrukturen sowie gegen führende Parteikader168 gerichtet waren. Stalin beklagte erneut die fehlende ‚revolutionäre Wachsamkeit‘ der führenden Parteikader und fragte nach den Ursachen, weshalb sie sich „so naiv und blind gezeigt haben, dass sie das wahre Gesicht der Volksfeinde nicht zu erkennen, die Wölfe im Schafspelz nicht herauszufinden, ihnen die Maske nicht herunterzureißen vermochten?“169 Er bestreitet seinen Gegnern politische Motive. „Der gegenwärtige Trotzkismus ist keine politische Strömung in der Arbeiterklasse, sondern eine prinzipien- und ideenlose Bande von Schädlingen, Diversanten, Kundschaftern, Spionen, Mördern, eine Bande geschworener Feinde der Arbeiterklasse, die im Solde der Spionageorgane ausländischer Staaten arbeiten.“170 Nur eine systematische „Schulung“, eine Selbstdisziplinierung der Parteikader, kann eine ‚revolutionäre Wachsamkeit‘ erzeugen, welche die „Schädlinge“, „Volksfeinde“, „Spione“ entlarvt. Eine systematisch betriebene Kritik und Selbstkritik der Parteikader („samokritika“), eine „Schulung“ der „Kader an Hand ihrer eigenen Fehler“171, vermag auch den inneren Disziplinarraum der Kader zu erreichen. „Das bedeutet, dass es Pflicht der Bolschewiki ist, ihre Fehler nicht zu vertuschen, der Frage nach ihren Fehlern nicht auszuweichen, wie 166 Stalin, Über die Aufgaben der Wirtschaftler (1931). In: ders., Werke, Band 13, Berlin 1955, S. 33. 167 Stalin, Rechenschaftsbericht auf dem XVII. Parteitag über die Arbeit des ZK der KPdSU (B), 26.1.1934. In: ders., Werke, Band 13, Berlin 1955, S. 330. 168 Vgl. Oleg W. Chlewnjuk, Das Politbüro. Mechanismen der politischen Macht in der Sowjetunion der dreißiger Jahre, Hamburg 1998, S. 264–304. 169 Stalin, Über die Mängel der Parteiarbeit und die Maßnahmen zur Liquidierung der trotzkistischen und sonstigen Doppelzüngler (1937), Stuttgart 1952, S. 4. 170 Ebd., S. 12. 171 Ebd., S. 39.

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dies bei uns häufig geschieht, sondern offen und ehrlich ihre Fehler zuzugeben, offen und ehrlich die Wege zur Behebung dieser Fehler aufzuzeigen, offen und ehrlich ihre Fehler zu korrigieren [...] Denn nur auf diesem Wege, nur in der Atmosphäre offener und ehrlicher Selbstkritik kann man wirklich bolschewistische Kader erziehen, kann man wirkliche bolschewistische Führer erziehen.“172 Das öffentliche Drama von Sündenbekenntnis, Reue und Buße sollte, so will es die stalinistische Pädagogik der Furcht und Belehrung, in den inneren Disziplinarraum des Parteikaders loziert werden, in dem der Sünder gleichermaßen die Rollen des Anklägers, des Richters und der Geschworenen zu spielen hatte. Die geforderte Internalisierung von Kritik und Selbstkritik beabsichtigte, die stalinistische Ethik im moralischen Selbst des gläubigen Kaders zu verankern und aus ihm den „Neuen Menschen“ zu formen, der durch permanente öffentliche und private Selbstkontrolle alle sündhaften Gedanken, Zweifel, Taten, Verstrickungen und Versuchungen sich selbst und dem Parteikollektiv anzuzeigen gewillt ist. Die Utopie des stalinistischen „Neuen Menschen“ fand auch in den Tagebüchern der 30er Jahre ihren Niederschlag, wo junge Aktivisten ihrem Tagebuch die Stationen ihrer Selbsterlösung aus der Finsternis der rückständigen, korrupten und beschmutzten bürgerlichen Welt anvertrauten. „On his own initiative, and outside the parameters of official Bolshevik discourse, he kept purging his soul, exposing, and holding trial over the potential class enemy within himself.“173 Die Konstruktion von plausiblen Verschwörungslegenden, wie sie insbesondere in revolutionären Virtuosengemeinschaften kultiviert werden, leisteten auch in diesem Falle einen nützlichen Dienst. Die Reduktion von komplexen Handlungsverläufen auf einfache, komplexitätsreduzierende Erklärungsmuster dienten nicht nur der Entlastung der stalinistischen Orthodoxie. Sie waren auch als permanente Drohungen an den Kaderapparat und die technische Funktionsintelligenz gedacht, ihre Funktionen so zu erfüllen, dass es zu keinem Einwirken von „Schädlings- und Diversionsarbeit“ kommen durfte. Die durch die Inszenierung der Moskauer Schauprozesse ausgelösten Denunziationsepidemien und die sich ihnen anschließenden Säuberungswellen hatten daher auch die latente Funktion, die Arbeitsleistung der Kader, Manager und Ingenieure durch die angedrohte Demaskierung verborgener Diversionsakte und häretischer Verstrickungen anzuspornen und ihre Qualität zu verbessern. Die formalisierte und reglementierte Anstaltskontrolle der stalinistischen Orthodoxie sollte in den inneren Disziplinarraum des einzelnen Parteiaktivisten gesenkt werden und diesen zur inneren Selbstkontrolle anhalten, sei172 Ebd., S. 39 f. 173 Jochen Hellbeck, Self-Realization in the Stalinist System: Two Soviet Diaries of the 1930s. In: Hildermeier (Hg.), Stalinismus, S. 283. Auszüge aus diesen Tagebüchern finden sich in Véronique Garros/Natalia Koronevskaja/Thomas Lahusen (Hg.), Intimacy and Terror. Soviet Diaries of the 1930s, New York 1995; vgl. auch die von Hellbeck (Hg.), Tagebuch aus Moskau 1931–1939, München 1996 besorgte Übersetzung des Tagebuches von Stepan Podlubnyj.

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ne Dienst- und Aufbauleistungen für den Sozialismus permanent zu verbessern. Die Moskauer Schauprozesse bildeten die Bühne, auf der die Geständnisse der prominenten Verbrecher der Partei den Blick in den kriminellen Abgrund der Konterrevolution gewährten; ein Vexierbild, von dem sich der tugendhafte Parteikader entrüstet abwenden sollte. Er sollte, so die moralische Maxime des Lehrstückes, das heroische sozialistische Aufbauwerk begeistert fortsetzen und dabei seinem genialen Führer nachfolgen. Er, der Führer, so lautete die frohe Botschaft, hat die Glaubensfeinde entlarvt und die tugendhaften Kader mit den Heilsgütern seiner Anstalt belohnt.

Der Nationalsozialismus als „politische Religion“ und die „Volksgemeinschaft“ Claus-Ekkehard Bärsch

1.

Das Problem der kollektiven Identität des Volkes und der Topos „politische Religion“

Im Anschluss an den ausgezeichneten Vortrag von Klaus-Georg Riegel über den Marxismus-Leninismus als „politische Religion“ möchte ich mit einigen autobiographischen Assoziationen anfangen. Geboren in einer völkischen Demokratie, 1939 in Weimar getauft, musste ich in einer Volksdemokratie zur Schule gehen und durfte nach dem Abitur aus politischen Gründen nicht sofort studieren. Da mein Konfirmationsspruch lautet „Befiehl dem Herrn deine Wege und hoffe auf ihn, er wird’s wohl machen; und wird deine Gerechtigkeit hervorbringen wie das Licht und dein Recht wie den Mittag“ (Psalm 37, Vers 5), traute ich mich, mutterseelenallein, in die Welt der plural-parlamentarischen Demokratie zu flüchten, wo es mir bislang recht gut erging. Akkulturiert wurde ich in Schwabing, damals mehr ein Zustand als ein Stadtteil Münchens, wo Tag und Nacht debattiert wurde und Alfred Edel mich dazu überredete, in den Liberalen Studentenbund Deutschlands einzutreten. Der spezifische Gegenstand meines Vortrages über die politische Religion des Nationalsozialismus – das Volk – ist ein wesentliches Merkmal des Politischen seit Beginn der Moderne, verfassungsrechtliches Fundament aller modernen Regierungs- und Staatsformen und zählt zum Kultus des politischen Lebens wie das Amen in der Kirche. Vielleicht wird deshalb das Volk bzw. die Volksgemeinschaft aus dem wissenschaftlichen Diskurs sowie den öffentlichen und privaten Debatten über den Nationalsozialismus verbannt. Werden die an sich positiv bewerteten Begriffe Volk und Gemeinschaft zu einem neuen Hauptwort – wie es in der deutschen Sprache ohne Umschweife möglich ist – zu dem Begriff Volksgemeinschaft verbunden, gerät das Volk in den Geruch des Nationalsozialismus. Aber das dem Nationalsozialismus vorausgehende und ihm folgende Problem bleibt: Was ist das allen Mitgliedern des Volkes Gemeinsame, was ist unter dem Volk als Gemeinschaft oder der Gemeinschaft als Volk, also der Volksgemeinschaft, zu verstehen? Welche Konzeption von Volk ist vernünftig, worin besteht das von allen Mitgliedern des Volkes verstandene und akzeptierte Band? Wir – also die Freunde des Pluralismus und Verächter des Funda-

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mentalismus – müssen akzeptieren, dass in einer Demokratie mit freien und geheimen Wahlen nicht wir als selbst ernannte Repräsentanten der Vernunft, sondern, dass es das Volk ist, das aus welchen Gründen auch immer, darüber entscheidet, was es unter Volk versteht sowie welche Eigenschaften und welcher Wert dem eigenen Volk zukommen soll. Selbst wenn das „Volk“ kein Bewusstsein vom Volk hat oder haben kann, weil es aus empirisch-analytischen Gründen kein denkendes Subjekt ist, entscheiden die Wähler darüber, welcher Rede vom Volk oder über das Volk sie folgen. Die Demokratie setzt einen jeweils zu bestimmenden Begriff des Volkes voraus, und diejenigen herrschen, deren Begriff von Volk der herrschenden Meinung entspricht oder deren Bestimmung des Volkes die herrschende Meinung wird. Das gilt auch dann, wenn das Volk nicht unmittelbar herrscht, sondern wenn es gemäß Art. 20, Abs. 2 des Grundgesetzes, der wiederum gemäß Art. 79, Abs. 3 ewig gelten soll, die „Staatsgewalt“ vom „Volke“ nur ausgeht, und „vom Volk in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung, ausgeübt“ wird. Im Zweifel entscheidet die Mehrheit der Wähler darüber, welche Auffassung von „Volk“ im Volk für das Volk maßgebend ist. Gelingt es den Feinden der liberal-pluralistischen Demokratie einen fundamentalen Begriff des Volkes durch Aussagen über das Wesen und den Wert des Volkes im Volk durchzusetzen, dann ist der plural-demokratische Verfassungsstaat nur noch ein Leichnam. Wie dem auch sei, ich möchte den Problemgehalt meines Vortrags mit folgender, für die gefühlsbetonten Freunde der Demokratie vielleicht polemisch wirkenden Frage zuspitzen: Haben die Nationalsozialisten das Verständnis von Volk und den Wert des Volkes – selbstverständlich nur des deutschen Volkes – in nicht zu überbietender Weise radikalisiert? Um diese Frage zu beantworten, ist es zunächst hilfreich, an folgende Kategorien zu erinnern, mit denen die nationalsozialistische Meinung vom Volk bzw. über das Volk erfasst und beschrieben werden kann: Identität oder Differenz, Einheit oder Vielheit, Homogenität oder Heterogenität, Exklusion oder Inklusion sowie Substanz, Potenzialität, Aktualität, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, Ursprung und Ziel. Damit wird nicht behauptet, dass die Nationalsozialisten sich dieser Kategorien bewusst waren und die oben genannten Kategorien absichtlich benutzt haben, um ihre Anschauung von Mensch, Volk, Geschichte und Welt zu bilden. Ohne es an dieser Stelle zu begründen, möchte ich einige kognitive Kategorien heranziehen, um dadurch den Problemgehalt des Themas „Volksgemeinschaft“ und „politische Religion“ erfassen, bestimmen und vermitteln zu können, was notabene in der bisherigen Forschung über Nationalsozialismus, Totalitarismus und Fundamentalismus vernachlässigt wurde. Ausgangs-, Mittel- und Endpunkt im Hinblick auf die „Volksgemeinschaft“ soll die Frage nach der Identität, der Identität des Kollektivums Volk, sein. Denn es ist offensichtlich, dass das Paradigma der sowohl individuellen als auch kollektiven Identität, insbesondere im deutschen Kulturkreis, geradezu allseitig anerkannt und verinnerlicht wurde. Worauf es mir ankommt, möchte ich zunächst

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am Beispiel des Postulats „Werde, der Du bist!“ darstellen. Diese, dem Individuum geltende Forderung setzt voraus, dass ein Mensch in seiner gegenwärtigen Lage noch nicht das ist, was er sein kann. Im Verlaufe einer Entwicklung ist er noch nicht das, was er dem Grunde nach schon ist. Wird nun das Postulat „Werde, der Du bist!“ auf das Kollektivum Volk übertragen, lautet es: „Werdet, was Ihr seid!“ oder „Das deutsche Volk soll werden, was es ist!“. Die Form der kollektiven Selbstbestimmung lautet: „Wir wollen werden, was wir sind!“ In diesem Postulat der Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung des deutschen Volkes wird vorausgesetzt: 1. Das deutsche Volk ist noch nicht das, was es an sich schon ist. 2. Das deutsche Volk macht sich zu dem, was es sein kann. 3. Das deutsche Volk kann werden, was es zur Zeit noch nicht, aber gemäß seiner potenziellen Substanz bzw. substantiellen Potenzialität ist. Die Verwirklichung der Identität – es mag dahingestellt bleiben, ob es vernünftig ist, eine Kategorie des Erkennens in eine Kategorie des Werdens zu verwandeln – ist nur möglich, wenn an die Existenz einer Substanz geglaubt wird. Soll Identität einem Individuum oder einem Kollektiv zukommen, wird implizit die Relation von Potenzialität und Aktualität vorausgesetzt. Die für das Thema des Beitrages relevanten Fragen bestehen nunmehr darin, ob in der nationalsozialistischen Auffassung von der Qualität des deutschen Volkes eine die zukünftige Identität garantierende Substanz benannt und propagiert wurde, und ob die Konzeption des Volkes radikalisiert wurde. Mit anderen Worten: Was ist das Radikal des deutschen Volkes? Wodurch wurde der Begriff des Volkes in unüberbietbarer Weise substanzialisiert? Bevor die Merkmale des Topos politische Religion aufgezählt werden, soll das Problem der kollektiven Identität nochmals durch uns allen bekannte Fragen erläutert werden. Viele Menschen unseres Kulturkreises werden durch die Fragen: „Wer sind wir? Wo kommen wir her?“ und „Wohin gehen wir?“ bewegt. Daraus folgt im Hinblick auf die zu zitierenden Texte führender Repräsentanten (Dietrich Eckart, Joseph Goebbels, Alfred Rosenberg, Adolf Hitler) der nationalsozialistischen Weltanschauung: 1. Wird die Identität des deutschen Volkes durch die Antwort auf die Frage „Wohin gehen wir?“, also durch den Status der Zukunft, bestimmt? 2. Wird die Identität des deutschen Volkes durch die Antwort auf die Frage „Wo kommen wir her?“, also durch den Ursprung, bestimmt? 3. Kommt bei dieser Ursprungs- und Zielspekulation einem Menschen, z. B. einem Führer, eine identitätsstiftende Funktion zu? 4. Hat die Negation der Differenz, der Vielheit und der Heterogenität eine Exklusion in der Form einer Negation der Mitglieder eines anderen Kollektivs zur Folge? Der Topos politische Religion soll hier aus der Perspektive der Religionspolitologie bestimmt werden. Der Name Religionspolitologie, so zweifelhaft die Ver-

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bindung zwischen den römischen Begriff religio und dem griechischen Wort polites sein mag, wurde absichtlich gewählt. Der Begriff Politologie wurde abgeleitet von dem griechischen Wort polites (Bürger). Damit soll betont werden, dass der vorrangige Gegenstand religionspolitologischen Forschens die in gesellschaftlicher Existenz sich entscheidenden und mit oder gegeneinander handelnden Menschen – seien es die Herrschenden oder Beherrschten, die Regierenden oder Regierten, die Befehlenden oder die Gehorchenden – sind. Als wesentliches Merkmal soll in Rücksicht auf die abendländische Tradition, der Glaube, und zwar der in der Unterscheidung von Diesseits und Jenseits, bzw. Transzendenz und Immanenz, artikulierte Glaube an Gott, das Göttliche, die Götter und andere übernatürliche Mächte, gelten. Zum Merkmal einer religiösen Existenzinterpretation, das heißt also, woran geglaubt wird, gehören in unserer Tradition das Unendliche, die Unsterblichkeit der Seele, der Sinn des Opferns, das Charisma, der Messianismus, vor allem Heil und Erlösung; nicht vergessen werden darf aber – was in den modernen Kritiken und Diskursen verdrängt oder verschwiegen wird, das Böse, die Macht des Bösen sowie die Inkarnation des Bösen oder eben das, was man „das Böse“ nennt. Selbstverständlich ist der Topos Religion noch durch viele Phänomene (z. B. Kultus oder Alltagsfrömmigkeit) zu ergänzen. Vielleicht ist es auch besser, im Hinblick auf das Politische den Begriff Religiosität zu bevorzugen. Aber im Hinblick auf das Thema des Vortrags ist eine differenzierte Bestimmung des Topos Religion nicht nötig. Es gibt viele Möglichkeiten, den nicht zwangsläufigen, aber notwendigen Zusammenhang von Politik und Religion zu begründen. Hier soll genügen, dass die Ordnung der Gesellschaft (Institutionen, Gesetze, allgemeine Regeln des Zusammenlebens etc.) nicht ein für alle mal feststeht und immer wieder geändert wird. Der Zusammenhang zwischen Politik und Religion resultiert daraus, dass in einer Religion Aussagen über den Sinn des Lebens, alle Sphären des Daseins, die menschliche Natur und das Verhalten der Menschen enthalten sind, und dass an die Wirkung Gottes sowie überirdischer Mächte, einschließlich des Bösen, geglaubt wird. Durch diesen Glauben können die Entscheidungen und die Handlungen der Menschen beeinflusst werden. Mit dem Adjektiv politisch wird der Umfang des Topos Religion bzw. der Gehalt von Religiosität beschränkt. Außerdem ist zu bedenken, dass eine Religion, auch eine politische Religion, nicht von einem Professor in lebenslanger systematischer Arbeit widerspruchsfrei konzipiert wird. Eine Gesamtauffassung von Welt – einschließlich des menschlichen Seins und Verhaltens, andere Möglichkeiten dürfen selbstverständlich nicht ausgeschlossen werden – kann dann als politische Religion beurteilt werden, wenn folgende Merkmale zutreffen: 1. Es wird an die Existenz überirdischer Mächte sowie an eine jenseitige Welt geglaubt. 2. Dieser Glaube ist auch – womit er politisch relevant und zu dem wird, wodurch die Religion das Adjektiv politisch erhält – vorrangig oder gleichrangig auf die Erlösung sowie das Heil in der diesseitigen Welt ausgerichtet.

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3. Die handelnden oder handeln wollenden Menschen sind davon überzeugt, in der politischen Ordnung und durch die Qualität der politischen Ordnung die Erlösung von allen oder den meisten Übeln der menschlichen Existenz sowie der Unvollkommenheit der Schöpfung zu erreichen. 4. In der Beziehung zwischen Mensch, Gemeinschaft (z. B. Volk, Nation, Rasse) und Geschichte einerseits, sowie Gott oder überirdischen Mächten andererseits, wird der wesentliche Unterschied zwischen Diesseits und Jenseits durch eine partielle Immanentisierung der Transzendenz gemildert. Ob eine totale Immanentisierung der Transzendenz noch als Religion bezeichnet werden kann, soll dahingestellt werden. Durch die Immanentisierung der Transzendenz können z. B. ein Mensch oder eine Gemeinschaft als Inkarnation bzw. Personifikation Gottes oder des Bösen wahrgenommen und bewertet werden. Auf der Grundlage dieser Kriterien soll am Schluss des Beitrages die Frage beantwortet werden, ob und inwieweit die nationalsozialistische Auffassung von Mensch, Volk, Rasse, Geschichte und Welt als politische Religion charakterisiert werden kann. Nach dieser Einleitung (1.) ist der Beitrag nunmehr in folgende Teile gegliedert: 2. Das deutsche Volk und das „Dritte Reich“: Der apokalyptische Kampf zwischen den Kindern des Lichts und der Finsternis sowie der Glaube an das Charisma Adolf Hitlers in den Schriften von Dietrich Eckart und Joseph Goebbels. 3. Gott, die arisch-nordische Rasse und das deutsche Volk: die allen Deutsche gemeinsame Teilhabe an einer göttlichen Substanz als das fundamentum in re der deutschen Volksgemeinschaft in den Schriften Alfred Rosenbergs und Adolf Hitlers. 4. Zusammenfassung In medias res des unmittelbaren Problemgehalts führt uns die Ziffer 24 des Parteiprogramms der NSDAP: „Wir fordern die Freiheit aller religiösen Bekenntnisse im Staat, soweit sie nicht dessen Bestand gefährden oder gegen das Sittlichkeits- und Moralgefühl der germanischen Rasse verstoßen. Die Partei als solche vertritt den Standpunkt eines positiven Christentums, ohne sich konfessionell an ein bestimmtes Bekenntnis zu binden. Sie bekämpft den jüdisch-materialistischen Geist in und außer uns und ist überzeugt, dass eine dauernde Genesung unseres Volkes nur erfolgen kann von innen heraus auf der Grundlage: Gemeinnutz vor Eigennutz.“ Zwar wurden Dietrich Eckart, Joseph Goebbels und Adolf Hitler katholisch und Alfred Rosenberg protestantisch erzogen, aber keiner vertritt eine Überzeugung, die mit allen Glaubenssätzen der kirchlichen Lehrämter beider Konfessionen übereinstimmt. Für alle war Jesus Christus – meist nur als Jesus bezeichnet – kein Jude. Bekenntnisse zu Jesus sind bei Dietrich Eckart, Joseph Goebbels, Alfred Rosenberg und Adolf Hitler zu finden. In den folgenden

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Abschnitten des Beitrags kommt es darauf an, diejenigen ideologischen Tatbestände darzulegen, die unter dem Topos politische Religion subsumiert werden können. Dabei sollte berücksichtigt werden, dass politische Religionen stets nur ein Teil des äußerst komplexen Zusammenhangs von Politik und Religion sein können. Die questio juris, worauf Hermann Lübbe mit Recht mehrfach hingewiesen hat,1 besteht darin, ob in der nationalsozialistischen Weltanschauung eine Affirmation der Religion überhaupt und ob in ihr religiöse Implikationen der Ideologeme Drittes Reich, Volk, Rasse, Führer und Antisemitismus festzustellen sind. In den folgenden Abschnitten wird auf geistesgeschichtliche, religionsgeschichtliche und theologische Kommentare und Klassifikationen verzichtet.

2.

Das deutsche Volk und das künftige „Dritte Reich“: Der apokalyptische Kampf zwischen den Kindern des Lichts und der Finsternis sowie der Glaube an das Charisma Adolf Hitlers

2.1

Dietrich Eckart (1868–1923), Freund und Förderer Adolf Hitlers: Die Wahrnehmung und Bewertung des deutschen Volkes mit den Mustern der Mystik und Apokalyptik

Wer die letzten Seiten von Hitlers „Mein Kampf“ gelesen hat, was jeder aufrechte Antifaschist tun sollte, wird auf die Bedeutung Dietrich Eckarts für die nationalsozialistische Bewegung von Hitler selbst hingewiesen. Auf Seite 7812 will Hitler „jene Helden vor Augen führen, die im klarsten Bewusstsein sich für uns geopfert haben“. Er nennt nur einen beim Namen und das in einer neuen Zeile, gesperrt gedruckt in der Mitte, nämlich „ D i et r i c h E c k a r t “ . Darunter steht kein Text. Auf der nächsten Seite ist nur noch das eine Seite umfassende „Schlusswort“ abgedruckt. Der 1886 in der bayerischen Oberpfalz geborene und 1923 in Berchtesgaden gestorbene Dichter Dietrich Eckart wurde erst nach dem Ersten Weltkrieg politisch aktiv und führte Hitler in die Münchener Gesellschaft ein. Dietrich Eckart war einer der wenigen Duzfreunde Hitlers, er gab bis Ende des Ersten Weltkrieges die Zeitschrift Auf gut deutsch heraus, verfasste das berühmte Sturmlied des SA („Sturm, Sturm, Sturm! [...] Wehe dem Volk, das heute noch träumt / Deutschland, erwache!“) und war bis zu seinem Tode der erste „Hauptschriftleiter“ des Völkischen Beobachters. Es war Dietrich Eckart und nicht Arthur Moeller van den Bruck, der schon 1919 den Begriff Drittes Reich in die nationalsozialistische Weltanschauung einführte. Bevor Dietrich Eckart politisch 1 2

Vgl. Hermann Lübbe, Modernisierungsgewinner. Religion, Geschichtssinn, Direkte Demokratie und Moral, München 2004, S. 77. Adolf Hitler, Mein Kampf, 2 Bände in einem Band, ungekürzte Ausgabe, 671.–675. Auflage München 1941.

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aktiv wurde, verehrte er den zum Katholizismus konvertierten schlesischen Dichter und Mystiker Johannes Scheffler (1624–1672), auch bekannt als „Angelus Silesius“. Dietrich Eckarts Gottesvorstellung, in der seine spezifische Affirmation der Religion als solcher zu erkennen ist, war die deutsche Mystik. Zum Beleg einige Zeilen aus den vielen Gedichten Eckarts über die Beziehungsfelder zwischen Mensch und Gott. Diese wurden später von Alfred Rosenberg publiziert.3 „Bedenke jederzeit, die Welt ist nur ein Nichts. Ein Traumgebilde bloß des inneren Gesichts. Wer aber sieht so falsch? Du kannst nur sagen: Ich. Erwache! und du fühlst zu Gott geworden dich.“4

Oder: „Wär’ Gott dir meilenfern, statt dass er über Nacht, Wie du aus dir zu ihm, aus sich zu dir erwacht, So wärest du ja nie vor seiner Kraft gefeit, Und niemals gäb’s für dich die wahre Seligkeit.“5

Abgesehen von der häretischen Struktur dieser Gotteserfahrung soll noch daraufhin gewiesen werden, dass die Aufhebung des Unterschieds (bzw. der Ferne) zwischen Gott und Mensch, für Dietrich Eckart auch den Unterschied zwischen der christlichen und jüdischen Religion bedeutet. In Dietrich Eckarts Mystik ist ein Bekenntnis zur christlichen Trinität enthalten: „Das Neue Testament entrang dem alten sich, Wie sich einmal erlöst von dieser Welt dein Ich; Und wie du dann dem Wahn von einst entfremdet bist, So hat sein Judentum verworfen Jesus Christ.“6 „Verstrickt im Wahn der Welt bist du Gottsohn zumeist; Willst du dich daraus entwirren, versuch’s dein Heilger Geist; Wenn’s dir gelingt, durchschaut in dir Gottvater sich – Hält die Dreieinigkeit nicht jedem Zweifel Stich?!“7

Ist nun ein Zusammenhang zwischen der in der Psyche erlebten Präsenz des trinitarischen Gottes und der Beziehung zwischen deutschem Volk, Gott und dem zukünftigen Status der Geschichte festzustellen? In dem in der Zeitschrift Auf gut deutsch 1919 erschienenen Aufsatz „Luther und der Zins“ bewertet Dietrich Eckart die Weltwirtschaft und die ökonomische Krise nach dem Ersten Weltkrieg. Auf die Einzelheiten soll hier nicht eingegangen werden. Der letzte Absatz lautet: „Zeichen und Wunder geschehen, aus der Sintflut will sich eine neue Welt gebären, jene Pharisäer aber greinen um elende Notgroschen! Die Befreiung der Menschheit vom Fluche des Goldes steht 3 4 5 6 7

Alfred Rosenberg (Hg.), Dietrich Eckart. Ein Vermächtnis, 2. Auflage München 1935. Ebd., S. 111. Ebd., S. 109. Ebd. Ebd., S. 111.

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vor der Türe! Nur darum unser Zusammenbruch, nur darum unser Golgatha! Heil ist uns Deutschen widerfahren, nicht Jammer und Not, so arg wir’s auch jetzt noch empfinden. Nirgends auf Erden ein anderes Volk, das fähiger, gründlicher wäre, das dritte Reich zu erfüllen, denn unsres! Veni Creator spiritus!“8 Der Zusammenhang zwischen Politik und Religion als Zusammenhang zwischen Volk und Gott ist offensichtlich. Gleichwohl soll auf folgende Momente hingewiesen werden: 1. „Creator spiritus“ ist Gott als Geist und damit eine eindeutige Bejahung der Trinität der christlichen Religion. 2. Es wird die Trinität, wie schon bei Joachim von Fiore, historisiert. Das „Dritte Reich“ ist ein Reich in dieser Welt. 3. Diesem Status der zukünftigen Erlösung gehen, wie in der Offenbarung des Johannes, Zusammenbruch, Not und Elend voraus. 4. „Golgatha“, Symbol der „Kreuzigung und des Opfers Christi“, wird dem deutschen Volk als „unser Golgatha“ exklusiv zugeordnet. 5. Nicht nur durch Gott und Christus können die Menschen erlöst werden. Die Erlösung von allen Übeln der Welt kann auch durch ein Volk, aber nur durch das deutsche Volk, herbeigeführt werden. Dietrich Eckart propagiert keine vollständige Säkularisierung bzw. Immanentisierung. Aus der Perspektive der christlichen Eschatologie nimmt Dietrich Eckart eine partielle Immanentisierung des jenseitigen Reich Gottes vor. Dietrich Eckart weiß auch, warum das deutsche Volk fähig ist das „Dritte Reich“ herbeizuführen: „Im deutschen Wesen ist Christ zu Gast.“ Mit dieser durch Christus vermittelten Beziehung zu Gott ist allerdings mit einem diametralen Gegensatz untrennbar verbunden: „Im deutschen Wesen ist Christ zu Gast; drum ist es dem Antichrist verhasst.“9 Die Bestimmung des deutschen Wesens (Christ) im Rahmen eines substanziellen Dualismus (Antichrist) wird allerdings durch eine urchristliche Doktrin erweitert. Abgelehnt wird zunächst die Trennung zwischen Gott und Mensch, die in der jüdischen Religion enthalten ist: „Dieser jüdische Gottesbegriff geht uns Deutsche nichts an! Wir empfinden Gott nirgendwo anders, als in uns selbst. Uns ist die Seele das Göttliche, von der wiederum der Jude keine Ahnung hat. ‚Das Himmelreich ist inwendig in euch‘ [Lk 17,21], also auch Gott, der zum Himmelreich gehört. Unsterblich fühlen wir unsere Seele, ewig von Anbeginn zu Anbeginn, und lehnen es deshalb ab, uns einreden zu lassen, dass wir aus dem Nichts entstanden seien ... So lehrte längst der arische Geist, noch ehe Christus das Licht der Welt wie in einem Brennspiegel zusammenfasste.“10 Es ist offensichtlich, dass die Divinisierung des deutschen Volkes mit der arischen Rassedoktrin zusammenfällt, was erst im nächsten Abschnitt näher 8

Dietrich Eckart (Hg.), Auf gut deutsch. Wochenzeitschrift für Ordnung und Recht, (1919) Nr. 19/20, S. 296. 9 Ebd., (1919) 4, S. 60. 10 Ebd., (1919) 3, S. 38.

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behandelt wird. Zu klären ist an dieser Stelle nur noch, ob einem Volk die Personifikation des Antichristen, des vom Satan geschickten gewaltigen Gegners christlicher Erlösung, zugeordnet wird. Dietrich Eckart hat einen in Versen gefassten Kommentar zur Räterepublik in Ungarn in einer Sondernummer der Zeitschrift Auf gut deutsch mit dem Titel „Aus Ungarns Schreckenstagen“ publiziert. Die Verse stehen neben den Karikaturen von 29 Revolutionären, die alle als Juden bezeichnet werden. Neben jeder Karikatur steht ein Vierzeiler von Eckart. Das Titelblatt stellt Bela Kun, den führenden ungarischen Revolutionär, dar. Daneben steht der Vers: „Bela Kun Diktator Nur schauen, schauen! Mehr tut hier nicht not, Um klar zu machen, was auch uns bedroht!“

Die folgenden ersten fünf Verse sollen hier zitiert werden: „Seht Ihr’s denn nicht! Fühlt Ihr’s denn nicht? Schreiens denn nicht schon die Steine? Der Jude ist los! Über Leben und Licht Entfesselt stürzt das Gemeine. Auf tat sich die alte teuflische Macht, Voll Lüge und List, Und die Hölle lacht, Und der Antichrist ‚Alle Völker sollt Ihr fressen‘ Dieses freche Bibelwort, Keinen Augenblick vergessen, Wirkt es auch noch heute fort. Mit dem Zins hat’s angefangen, Mit dem Zins begann die Fron; Nun erfüllt sich das Verlangen, Judas’ nach dem Weltenthron.“

Hinzuzufügen ist die Berufung auf die Offenbarung des Johannes: Die letzten drei Verse des Pamphlets lauten: „Ja, das Tier, das unheilträchtig Christ und Menschentum befehdet, Wenn es, aller Sprachen mächtig, Seine großen Töne redet. Also offenbart sich heute Des Johannes Prophezeiung; Und das nennen viele Leute – Soll man’s glauben! – Volksbefreiung! Dieb und Mörder – ist das Ende, Ist der Anfang dieses Bundes. Auf zum Kampf! Es naht die Wende! Tod den Schurken auch bei uns!“

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Das sollte genügen, um den im Titel dieses Abschnittes behaupteten Bezug auf die Apokalyptik, nämlich die Offenbarung des Johannes, der Mutter aller okzidentalen Apokalyptik samt der zahlreichen Transformationen, zu dokumentieren. Anzufügen wäre noch, dass Dietrich Eckart voraussagt, was seinem Duzfreund Adolf zum Maß seiner Taten wurde: „Die Entscheidungsstunde ist gekommen, zwischen Sein und Schein, Deutschtum und Judentum, zwischen dem All und dem Nichts, Wahrheit und Lüge, zwischen Innen und Außen, zwischen Güte und Mord hat die Menschheit abermals die Wahl.“11 Ohne alle Zwischenschritte einer sorgfältigen Argumentation zu formulieren, kann im Hinblick auf die Gemeinschaft als Volk, auf die Volksgemeinschaft der Deutschen, Folgendes festgehalten werden: Dietrich Eckart glaubt zwischen dem deutschen Volk und Gott bestehe eine Verbindung. Es ist die der Konsubstanzialität zwischen der Seele des deutschen Volkes und Gott. Alle Deutschen werden miteinander zu einem Wesen verbunden, weil sie eine ihnen gemeinsame göttliche Seele haben. Diese ist die Substanz der deutschen Volksgemeinschaft bzw. der Homogenität und Identität des deutschen Volkes. Diese Substantialisierung führt zu einer fundamentalistischen Unterscheidung. Die Relation göttlich-christlich-deutsch korrespondiert für Eckart zwanghaft mit der Relation satanisch-antichristlich-jüdisch.

2.2

Der „Katechismus neuen politischen Glaubens“ des Dr. phil. Joseph Goebbels: Gott, Christus, Volksgemeinschaft und Erlösung einerseits, sowie der Jude als Antichrist andererseits

Unter Hinweis auf die Zeit des Vortrags, den Raum des Beitrags und meine Studien über die Ideologie und Psyche des jungen Joseph Goebbels12 erlaube ich mir, nur wenig zu zitieren; nur so ausführlich, dass die Subsumtion unter den Topos politische Religion gerade noch ermöglicht wird. Eine Analyse der Ideologie von Joseph Goebbels hat den Vorteil, dass er Tagebücher geschrieben hat. Inhalt und Form der Tagebücher lassen ohne Zweifel erkennen, dass er alle Nöte, Konflikte und Probleme seiner Psyche und Existenzdeutung geradezu tabulos geschildert hat. Das Tagebuch war, wie er selbst schreibt, ein „Gewissensarzt“13 und sein „sorgsamer Beichtvater“14. Ich möchte zunächst nur die Affirmation der Religion oder der Religiosität belegen. Die erste Eintragung des am 27. Juni 1924 begonnenen Tagebuches lautet:

11 Ebd., (1919) 9/10, S. 86. 12 Bärsch, Erlösung und Vernichtung – Dr. phil. Joseph Goebbels. Zur Psyche und Ideologie eines jungen Nationalsozialisten, München 1986 (2. und 3. Auflage unter dem Titel „Der junge Goebbels. Erlösung und Vernichtung“, München 1995 und 2004). 13 Elke Fröhlich (Hg.), Die Tagebücher von Joseph Goebbels. Sämtliche Fragmente, 4 Bände, Band 1, München 1988, 23. 9.1924. 14 Ebd., 23. 3.1925.

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„Franz Herwig. ‚St. Sebastian von Wedding‘. Eine Christusnovelle. Ich muss viel an Jakob Wassermanns ‚Christian Wahnschaffe‘ denken. Aber der St. Sebastian ist doch reiner, überzeugender mit einem Wort, christlicher. Es geht was vom wahren Geist des Katholizismus durch dieses Büchlein. So etwas Franz von Assisi. Wie weit ist die offizielle Kirche doch von diesem Geiste fern! Alle diese Bücher aus dem Geiste des Urchristentums, das ist ja nichts anderes als der Ausfluss einer starken Sehnsucht nach dem Geiste Christi. Hauptmann der ‚Narr in Christo‘. Vorläufig noch das erste Buch in deutscher Sprache aus diesen Gedanken. Aber wie weit steht der ‚Narr‘ noch hinter Dostojewskis ‚Idiot‘! Russland wird den neuen Christusglauben mit all der jungen Inbrunst und all dem kindlichen Glauben, all dem religiösen Schmerz und Fanatismus finden... Man kann den Gang der Geschichte nicht zurückhalten. Der neue Mensch hat immer und überall nur eine Sehnsucht: Nach einer neuen Welt. Else ist sommerlich gut zu mir.“

Im Hinblick auf die Authentizität der Tagebücher soll zunächst vorausgeschickt werden, dass Else eine jüdische Mutter hatte. Die sexuelle Beziehung zwischen Joseph und Else dauerte bis zum Jahre 1926. Daraus folgt, abgesehen von allen anderen, wie z. B. psychoanalytischen Deutungen, dass Goebbels seine Tagebücher nicht im Hinblick auf ein zukünftiges Prestige als strammer Nationalsozialist geschrieben hat. Goebbels hat in den über 50 Eintragungen über sein Verhältnis zu Else stets betont, Else sei gut zu ihm. Daher ist das Bekenntnis zur „Religion des Urchristentums“ und zu der Sehnsucht nach einer „neuen Welt“ ernst zu nehmen. Goebbels hat seine Bejahung der christlichen Religiosität nie widerrufen. Ein Jahr später, er war nunmehr Mitglied der NSDAP, notierte er: „Jetzt ist dieses Tagebuch zu Ende. Ich habe den heutigen Abend benutzt, etwas darin herumzublättern. Das alte Leid: Viel Freud, viel Leid! Wie reich war dieses Jahr! Ich kann es kaum glauben! Eines ist geblieben: die Liebe. So gehe ich mit Liebe an den neuen Tag! Herrgott, gib mir Kraft, dass ich bestehe. Ich will, dass das Recht komme. Mit Liebe an den neuen Tag. ‚Nun aber bleibet uns: Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei! Aber die Liebe ist die größte unter ihnen!‘ So schließe ich dieses Buch im Zeichen des Glaubens und der Liebe! Ich glaube an die Zukunft! Ich liebe mein Volk und mein Vaterland! Arbeiten! Opfern! Nicht verzweifeln!!!“15 Bemerkenswert an dieser Stelle ist das Zitat. Goebbels scheute sich nicht, aus dem Ersten Brief des Paulus an die Korinther (Vers 13), den von allen so genannten „Deutschen Christen“ diskriminierten Apostel zu zitieren. Offensichtlich ist auch die Verknüpfung zwischen Glaube, Liebe, Hoffnung – also Religion – einerseits, sowie Volk und Vaterland – also Politik – andererseits. Goebbels hat sich auch öffentlich und im politisch-ideologischen Zusammenhang zum Monotheismus bekannt. In einem Beitrag, dessen Gegenstand die Kritik an der „Revolution an sich“ ist, in dem er weiterhin behauptet, jeder Revolutionär, der die Revolution an sich wolle, sei ein Zersetzer und Zerstörer und unterliege dem Prinzip des Bösen, heißt es am Schluss: „Da gibt es kein

15 Ebd., 9. 6.1925.

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Ding an sich außer Gott.“16 Dieses Zitat stammt aus der Schrift „Wege ins dritte Reich“, welche in dem parteioffiziellen Verlag „Franz Eher Nachfolger“ publiziert wurde. In dem Verlag, wo auch Hitlers „Mein Kampf“ erschien, wurde 1929 auch Goebbels Roman „Michael. Ein deutsches Schicksal in Tagebuchblättern“ veröffentlicht. Dort finden wir eine die Deutschen und Christus betreffende prägnante Formulierung: „Wir modernen Deutschen sind so etwas wie Christussozialisten.“17 Der Protagonist Michael schreibt im Verlauf seiner Entwicklung zum Nationalsozialisten ein Drama über Christus: „Die Erleuchtung ist über mich gekommen. Ich schreibe ein Drama. Der Held ist Jesus Christus.“18 In seinen realen Tagebüchern aus dem Jahre 1924 kam Goebbels zu folgendem Ergebnis: „Die völkische Frage verknüpft sich in mir mit allen Fragen des Geistes und der Religion. Ich fange an, völkisch zu denken. Das hat nichts mehr mit Politik zu tun. Das ist Weltanschauung. Ich fange an, Untergrund zu finden. Boden, auf dem man stehen kann.“19 Die Verknüpfung zwischen Volk und Religion wird in dem im Franz Eher Nachf. Verlag publizierten Tagebuchroman folgendermaßen präzisiert: „Epilog zu Christus. Dichter und Zeitgeist stehen hinter der Welt. Dichter: Ich bin gesegnet worden, In mir löst sich die Pein Ich wache auf, Ich lebe, ich glaube! (...) Ich stehe auf, ich habe Kraft, Tote zu wecken. Sie wachen auf aus tiefem Schlaf, Nur wenige erst, doch mehr und mehr. Die Reihen füllen sich, ein Heer steht auf, Ein Volk, eine Gemeinschaft. Gedanke bindet uns, Wir sind vereint im Glauben, Im starken Willen Nach junger Form und Fülle der Verheißung Und werden so das neue Reich gestalten.“20

Goebbels hat keine „Lehre“ vom „Dritten Reich“ entwickelt, aber immerhin ein Buch mit dem Titel „Wege ins dritte Reich. Briefe und Aufsätze für Zeitgenossen“ geschrieben. In den meisten Beiträgen, so auch in „Die zweite Revolution. Briefe an Zeitgenossen“, werden die Figurationen seiner Argumentationen wiederholt und nach aktuellen Anlässen variiert oder verschieden akzentuiert. 16 Joseph Goebbels, Die Revolution als Ding an sich. In: ders., Wege ins dritte Reich, Briefe und Aufsätze an Zeitgenossen, München 1926. 17 Goebbels, Michael. Ein deutsches Schicksal in Tagebuchblättern, München 1929, S. 82. 18 Ebd., S. 52. 19 Fröhlich (Hg.), Tagebücher, 20. 8.1924. 20 Goebbels, Michael, S. 97.

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In der Rede „Lenin oder Hitler?!“, die Goebbels im ganzen Reich hielt und mit der er sich innerhalb der NSDAP einen Namen machte, wählt Goebbels zur Benennung des zukünftigen Zustands des deutschen Volkes den Begriff Drittes Reich: „Wir wollen den deutschen Gedanken in eine neue Form prägen. In die Form des dritten Reiches. Dieses dritte Reich wollen wir mit der letzten Innbrunst unseres Herzens, das dritte Reich eines Großdeutschlands, das dritte Reich einer sozialistischen Schicksalsgemeinschaft.“21 In „Denker oder Prediger“ werden die Begriffe Kampf, Revolution, Bewegung, Volk, Mission und Erlösung mit dem zukünftigen Reich verbunden. In diesem Aufsatz will Goebbels einen schwäbischen Parteifreund davon überzeugen, dass ein politischer Redner predigen müsse. Im Gegensatz zu den Parteigenossen in Schwaben müsse er um die „Seele des deutschen Arbeitsmannes“ kämpfen und die Masse formen: „ich stand vor tausenden und predigte Barrikaden und Revolution. [...] Man hat bei Ihnen das Hungern noch nicht gelernt. Deshalb kann man in Gedanken Erfüllung finden. [...] Der Gedanke nach Freiheit ist nicht das Vorrecht einer Klasse. Der Hunger nach Brot gestaltet die Welt. Hunger nach letzter Erfüllung der geheimnisvoll uns übertragenen Mission schafft das größere: Volk und Mensch. Das ist unsere letzte Aufgabe, und sie geht auch nicht an Ihnen vorbei. Stehen Sie auf und predigen Sie! Werfen Sie die Blässe des Gedankens über Bord, sie erzieht keine Narren, sie formt keine Helden. Wir werden erst dann ans Ziel gelangen, wenn wir Mut genug haben, lachend zu zerstören, zu zertrümmern, was uns heilig war als Tradition, als Erziehung, als Freundschaft und menschliche Liebe. Zum Prediger gehört, dass er sich selbst nichts ist und die anderen ihm alles. Lernen wir das! Dann stehen wir turmhoch über all dem Geifer, der um uns spritzt. Dann werden wir Helden, werden wir Erlöser sein. Dann begreifen wir das Tiefste, dass wir nicht auf dieser Welt sind, um zu leiden und zu sterben, sondern um eine Mission zu erfüllen. Der eine fühlt den Trieb zur Mission stärker in sich, der andere schwächer. In uns brennt er dann wie ein Fanal. Dann müssen wir so sein, wie wir sind. Dann müssen wir leiden, damit das Lachen nicht auf Ewigkeit aus Deutschland verschwindet. Dann müssen wir kämpfen, damit wir Ruhe finden vor diesem Dämon, der uns peitscht und vorwärtstreibt. Dann müssen wir überwinden, dass wir unüberwindlich werden. Dann erfüllt sich an uns das Geheimnis der Geschichte: dass wir ein Stück Erlösung sind für ein Reich, das kommt. Mit Handschlag Ihr Joseph Goebbels“22

Auch in dem Aufsatz „Klassenkampf und Volksgemeinschaft“ stellt er fest, die „Volksgemeinschaft“ sei „überhaupt nicht da“. Diese könne „ohne eine systematische Revolutionierung all dessen, was als Staats- und Gesellschaftsform um uns ist“ nicht kommen. Die „deutsche Einheit“ sei ein „leid- und schmerzvolles Produkt der gemeinsamen Not“. Goebbels betont, es gebe zwei Arten von Not: „Es ist ja nicht nur die Not des Leibes, die da um Erlösung ringt, sondern 21 Goebbels, Lenin oder Hitler?!, Zwickau 1926, S. 197. 22 Ders., Die zweite Revolution, Zwickau 1926, S. 59 ff.

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in ihrem Gefolge eine wenn auch manchmal unbewusste, so doch gerade darum die um so namenlosere Not der deutschen Seele.“23 Was ist für Goebbels das die Klassen verbindende Gemeinsame? Zunächst prophezeit er in diesem Aufsatz den Kampf „zwischen Kommunismus und Nationalsozialismus“. Setzten sich aber einige „vernünftige Kerle zusammen, von links und rechts, junge, ehrliche Idealisten die wissen, was sie wollen“, sie kämen, „in ein paar Stunden zur Einigung“. Das Verbindende „der kommenden deutschen Volksgemeinschaft“ habe folgende Gestalt: „Es gibt bei Gott und allen Himmeln nur eins, was uns alle verbinden könnte: Die Idee der Zukunft. Schon in der Gemeinsamkeit dieser Idee liegt ein gut Stück Sozialismus. Der Sozialismus ist wie jede große Idee eine Weltidee. Erschrecken Sie nicht: Ideen sind international, jedoch spiegeln sie sich im Menschen national, d.h. erdverbunden. Sie sind nur im Staate einzeln zu verdichten und zu verkörpern. Jede große Idee birgt in sich das Moment der Erlösung. [...] So klingt in unser hysterisches Tagesgeschrei schon verhalten der Marschrhythmus der Massen hinein, der Rhythmus von Axt- und Hammerschlag, das ewige Lied der Arbeit, die die Welt befreit. Erlösung marschiert.“24

Sozialismus, Erlösung und Geschichte verknüpft Goebbels mit Gott: „Erst wenn 60 Millionen mit der letzten Innbrunst ihres Herzens frei werden wollen, dann wird das Weltenschicksal, dann wird der Gott der Geschichte seinen Segen geben. [...] Der Sozialismus kann und wird nicht die Welt erlösen. Die Welt wird nie erlöst werden. Er wird ein Volk, vielleicht die Völker erlösen; er ist die Staatslehre der Zukunftsnation. [...] Wir sind Willen zur Zukunft. Wir wollen durch Deutschland die Welt erlösen und nicht durch die Welt Deutschland erlösen.“25 Goebbels Bewusstsein von Volk bzw. von Volk als Gemeinschaft, sein Bewusstsein von Gemeinschaft, ist also abhängig und wird bestimmt vom Status der Zukunft. Die Frage „Wer sind wir?“, wird bestimmt durch die Antwort auf die Frage „Wohin gehen wir?“. Das deutsche Volk hat noch nicht den Status der kollektiven Identität. Der Selbstbestimmung des deutschen Volkes korrespondiert die Fremdbestimmung des jüdischen Volkes. Die Beziehung zwischen Gott, Christus und dem deutschen Volk, damit die Realisierung der kollektiven Identität der Deutschen, wird gestört durch den „Antichrist“, den gewaltsamen von Satan geschickten Verhinderer der Erlösung: Dem deutschen Volk als potenziellem Volk Gottes ist „der Jude“ entgegengesetzt. So wie Christ und Anti-Christ einander gegenübergestellt werden, so auch das deutsche Volk und das jüdische. Am 26. Juni 1926 kommentiert Goebbels die Lektüre eines Buches über Russland nach dem Ersten Weltkrieg: „Dazwischen las ich Iw. Naschewins ‚Rasputin‘ mit tiefer Erschütterung aus. Das grandiose Gemälde des russischen Bolschewismus. 23 Ebd., S. 15. 24 Ebd., S. 16; vgl. auch „Der Glaube an das Proletariat“ und „Idee und Opfer“. In: Goebbels, Die zweite Revolution. 25 Ders., Lenin oder Hitler, S. 26, 31.

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Wohl etwas weißrussisch gesehen. Aber niederdrückend in seiner satanischen Grausamkeit. So mag der Teufel wüten, wenn er die Welt beherrscht. Der Jude ist wohl der Antichrist der Weltgeschichte. Man kennt sich kaum mehr aus in all dem Unrat von Lügen, Schmutz, Blut und viehischer Grausamkeit. Antichrist der Weltgeschichte. Wenn wir Deutschland davor bewahren, dann sind wir wahrhaft patres patriae. Heute nur Arbeit als Ausspannung. Heute Abend in Langenberg Sonnewende. Ich rede.“26 So wie „der Jude“ der „Antichrist“ ist, sind die „patres patriae“ der „modernen Deutschen“, wie es in dem Tagebuchroman „Michael“ steht, „so etwas wie Christussozialisten“27. An dieser Stelle soll betont werden, dass auch für Goebbels gilt: „Christus kann gar kein Jude gewesen sein. Das brauche ich erst gar nicht wissenschaftlich zu beweisen. Das ist so.“28 Im Verhältnis zum deutschen Volk heißt dies wiederum: „Der Jude ist uns im Wesen entgegengesetzt.“29 Daraus leitet er folgende Handlungsanweisung ab: „Entweder er richtet uns zu Grunde, oder wir machen ihn unschädlich. Ein anderes ist nicht denkbar.“30 In der Rede „Lenin oder Hitler?!“ wird das deutsche Volk zum Kampf mit einer physischen Folge aufgefordert: „Wir wollen den Kampf gegen diesen Weltfeind aufnehmen. Wir wollen Deutschland zu einem Staat, das deutsche Volk zu einer Nation machen. Dieses Volk soll bereit gemacht werden, dem Feind den Dolch mitten ins Herz zu stoßen.“31 Für Goebbels ist Deutschland also noch kein Staat und das deutsche Volk noch keine Nation. Die Bedingung zukünftiger kollektiver Identität setzt die Vernichtung aller Juden voraus.

2.3

Der Glaube an das Charisma Adolf Hitlers und die identitätsstiftende Funktion des Führers

Im Hinblick auf dieses Thema muss ich mich ganz kurz fassen: Demonstrieren kann man die identitätsstiftende Funktion Adolf Hitlers unter Verweis auf den Gruß „Heil Hitler“. Dadurch, dass sich mehrere mit den Worten „Heil Hitler“ grüßen, werden sie miteinander verbunden. Das Heil gilt nicht nur Hitler, sondern auch den sich Grüßenden. Dem, der mit den Worten „Heil Hitler“ gegrüßt wird, kommt durch das Heil Hitlers selbst Heil zu. Weiterhin werden die Menschen durch die Identifikation, die Identifikation jedes Einzelnen, mit Hitler – seiner Größe, seinem Genie, seiner Macht und seinem Willen – verbunden. Sie werden durch den Glauben an Hitler vereint. Dies gilt ganz besonders, wenn 26 27 28 29 30 31

Fröhlich (Hg.), Tagebücher, 26.61.926 (Hervorhebung durch den Verfasser). Goebbels, Michael, S. 82. Ebd., S. 58. Ebd. Ebd. Goebbels, Lenin oder Hitler, S. 24.

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daran geglaubt wird, dass Hitler eine außerordentliche und auserwählte Beziehung zu Gott hat und somit Vermittler zwischen Gott und Mensch bzw. Gott und deutschem Volk ist. Das kann hier im Einzelnen nicht dargelegt werden.32 Am deutlichsten hat Goebbels im Aufsatz „Die Führerfrage“33 viele Eigenschaften beschrieben, die Adolf Hitler als Führer zukommen sollen. Hier seien die religiösen Dimensionen zitiert: „Vor dem Gericht in München wuchsen Sie vor uns in das letzte Format des Führers hinein. [...] Was Sie da sagten, ist das Größte, das nach Bismarck in Deutschland gesprochen wurde [...] Was Sie da sagten, das ist der Katechismus neuen politischen Glaubens in der Verzweiflung einer zusammenbrechenden, entgötterten Welt. Sie verstummten nicht. Ihnen gab ein Gott zu sagen, was wir leiden. Sie fassten unsere Qualen in erlösende Worte, formten Sätze der Zuversicht auf das kommende Wunder. Das wird Ihnen einst Deutschland danken.“34 Goebbels hat sich nicht aus machtpolitischem Kalkül öffentlich zu Hitler bekannt. Er konnte nicht wissen, dass 1933 die Herrschaft der NSDAP zufällt. In dem im Jahre 1926 geschriebenen Tagebuch können sogar libidinöse Bindungen an Hitler festgestellt werden. Über welchen deutschen Politiker, kurz zuvor aus dem Gefängnis entlassen, sind schon solche Bekenntnisse, die teils zärtlich ulkig („So ein Brausekopf kann mein Führer sein!“35), teils zärtlich schmusig („Wie ein Kind, lieb, gut, barmherzig. Wie eine Katze, listig, klug, gewandt.“36) wirken, bekannt? Das spricht dafür, dass die direkte Liebeserklärung samt Begründung ehrlich gemeint ist: „Wir feiern Hitlers Geburtstag. Siebenunddreißig Jahre ist er alt. Siebenunddreißig Kerzen und Blumen brennen. Und er erzählt vom 9. November 1923. Adolf Hitler, ich liebe Dich, weil Du groß und einfach zugleich bist. Das, was man Genie nennt.“37 Daher ist es glaubhaft, wenn er sich anlässlich der Lektüre von Hitlers „Mein Kampf“ fragt: „Ich lese Hitlers Buch zu Ende. Mit reißender Spannung! Wer ist dieser Mann? Halb Plebejer, halb Gott! Tatsächlich der Christus, oder nur der Johannes?“38 Stellvertretend für die Mitglieder der NSDAP sei noch Julius Streicher zitiert: „Wir kämpfen, wie die Jünger nach dem Mord von Golgatha einst kämpften. Diese einfachen kleinen Menschen fingen an zu reden und zu kämpfen. So geht auch ihr hinaus als Apostel der Gegenwart! Es geht um Großes, es geht um Alles. Deutscher, erkenne die Stunde! Wir haben unsere Pflicht getan. Erkennst Du die Schwere der Stunde nicht, 32 Vgl. Bärsch, Die politische Religion des Nationalsozialismus. Die religiösen Dimensionen der NS-Ideologie in den Schriften von Dietrich Eckart, Joseph Goebbels, Alfred Rosenberg und Adolf Hitler, 2. Auflage München 2002, Kap. B.II: Der Glaube an das Charisma Adolf Hitlers. 33 In: Goebbels, Die zweite Revolution, S. 5 ff. 34 Ebd., S. 6. 35 Fröhlich (Hg.), Tagebücher, 13. 4.1926. 36 Ebd., 24. 7.1926 (Hervorhebung durch den Verfasser). 37 Ebd., 19. 4.1926 (Hervorhebung durch den Verfasser). 38 Ebd., 14.10.1925.

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dann versinke! Aber klage nicht! Du trägst ja selbst die Schuld! Wir Nationalsozialisten glauben, dass Adolf Hitler der Sendbote für ein neues Deutschland ist! Wir glauben, dass er von Gott gesandt ist, um das deutsche Volk vom Blutsauger Alljuda zu befreien. Es geht um die Erlösung des deutschen Volkes, auf das die Welt erlöst werde. Marschiert mit uns! Durch Kampf zum Sieg!“39

An dieser Stelle ist der Teil über die religiöse Dimension des Kultes um Adolf Hitler abzubrechen. Das Ideologem Führer enthält keine biologischen, materialistischen, eugenischen und sozialdarwinistischen Argumente und Rechtfertigungen. Ob der Nexus zwischen Volk und zukünftigem Reich, sowie Gott, Volk und Adolf Hitler allein ausreicht, um die nationalsozialistische Weltanschauung als politische Religion qualifizieren zu können, kann mit Recht bezweifelt werden. Daher ist weiterhin der Zusammenhang zwischen Volk und Rasse zu behandeln. Nur wenn man den nationalsozialistischen Rassismus mit guten Gründen als religiösen Rassismus bezeichnen kann, hat die nationalsozialistische Weltanschauung den Charakter einer politischen Religion. An sich muss zwischen Rasse, Biologie, Natur und Gott kein Widerspruch bestehen. Ist Gott der Schöpfer der Natur und damit auch der Rassen, dann kann die Ansicht vertreten werden, vor Gott sind alle Rassen gleich. Versteht man unter Rassismus wiederum die Annahme der Überlegenheit, oder gar extremen Überlegenheit einer Abstammungsgemeinschaft, so gilt es, die Frage zu beantworten, womit die Überlegenheit oder extreme Überlegenheit einer durch Abstammung determinierten Gemeinschaft begründet wird. Wurde diese von Rosenberg und Hitler ausschließlich mit biologisch-genetischen Argumenten gerechtfertigt? In dem folgenden Kapitel ist also zu klären, ob die Überlegenheit der deutschen Volksgemeinschaft durch die Überlegenheit der arischen Rasse mit rein darwinistisch-biologischen Argumenten oder durch die Verbindung zwischen Gott, Rasse und Volksgemeinschaft begründet wurde. An dieser Stelle soll auch vorweggeschickt werden, dass es in der Sphäre des Politischen leider Gottes nicht darauf ankommt, was empirisch-analytisch bzw. wissenschaftlich-objektiv der Fall ist, sondern darauf, was die in gesellschaftlicher Existenz handelnden Menschen für wahr halten, was natürlich nicht heißt, dass das, was die Mehrheit oder Minderheit eines Volkes für wahr hält, auch wahr oder gar gerechtfertigt ist.

39 Rede vom 21. 4.1932. In: Julius Streicher, Kampf dem Weltfeind, Reden aus der Kampfzeit, gesammelt und bearbeitet von Dr. Heinz Preiß, Nürnberg 1938, S. 132.

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3.

Gott, Rasse und die Gemeinschaft des Volkes

3.1

Alfred Rosenberg: Die „Gottgleichheit“ der „nordischen“ „Rassenseele“ und das deutsche Volk einerseits, sowie die „Satan-Natur“ des jüdischen Volkes andererseits

Um das Verhältnis von Religion und kollektiver Identität zu belegen, seien von Alfred Rosenberg – Stellvertreter des Führers in weltanschaulichen Fragen der NSDAP und nach Hitler maßgeblicher Ideologe der nationalsozialistischen Bewegung – zwei Stellen aus seinem Hauptwerk, „Der Mythus des XX. Jahrhunderts. Eine Wertung der seelisch-geistigen Gestaltenkämpfe unserer Zeit“, zitiert. Im Vorwort der dritten Auflage aus dem Jahre 1931 wird das Ziel der „nordisch-deutsche[n] Wiedergeburt“ bestimmt: „Das ist ein Traum, wert gelehrt und gelebt zu werden. Um dieses Erleben und dieses Leben, das allein ist Abglanz einer erahnten Ewigkeit, die geheimnisvolle Sendung auf dieser Welt, in die wir hineingesetzt werden, um das zu werden, was wir sind.“40 Das deutsche Volk hat seine Identität also noch nicht erreicht. Die kollektive Variante aller Ideologien der Selbstverwirklichung der Moderne ist offensichtlich. Das deutsche Volk ist noch nicht das, was es ist, es kommt darauf an, das zu werden, was es an sich ist. Auch am Schluss des ohne Sach- und Namenverzeichnis 701 Seiten umfassenden Werkes wird die noch nicht vorhandene Identität und das Ziel der Identität eindeutig formuliert. Rosenberg meint, den Mythus des 20. Jahrhunderts dahingehend beschreiben zu können: „Dieser altneue Mythus treibt und bereichert bereits Millionen von Menschenseelen. Er sagt heute mit tausend Zungen, dass wir uns nicht ‚um 1800 vollendet‘ hätten, sondern dass wir mit erhöhtem Bewusstsein und flutendem Willen zum ersten Mal als ganzes Volk wir selbst werden wollen: ‚Eins mit sich selbst‘, wie es Meister Eckehart erstrebte.“41 Eindeutiger kann die noch nicht vorhandene aber zukünftige Identität des Volkes, des ganzen Volkes, „Eins mit sich selbst zu sein“, nicht formuliert werden. Unschwer zu erkennen ist Rosenbergs Paradigma der Religiosität, nämlich der Mystik Meister Eckharts. Rosenberg widmet dem Dominikaner aus Thüringen, neben vielen Hinweisen, mit der Überschrift „Mystik und Tat“42 ein eigenes Kapitel, das 60 Seiten umfasst. Ob Alfred Rosenberg, der aus der Übersetzung von Hermann Büttner Meister Eckhart43 intensiv zitiert, die Mystik Meister Eckharts (er schreibt übrigens Eckehart) richtig interpretiert, mag dahingestellt bleiben. Denn im Rahmen dieses Beitrags interessiert der Zusam40 Rosenberg, Der Mythus des XX. Jahrhunderts. Eine Wertung der seelisch-geistigen Gestaltenkämpfe unserer Zeit, 3. Auflage München 1931, S. 17 (1. Auflage München 1930). 41 Ebd., S. 699. 42 Ebd., S. 217–273. 43 Meister Eckhart, Schriften aus dem Mittelhochdeutschen übersetzt und eingeleitet von Hermann Büttner, Jena 1910.

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menhang von Mystik und kollektiver Identität in der nationalsozialistischen Weltanschauung Rosenbergs. Für Rosenberg gilt: „Sechshundert Jahre sind es her, seit der größte Apostel des nordischen Abendlandes uns unsere Religion schenkte, ein reiches Leben daran setzte, unser Sein und Werden zu entgiften, das Leib und Seele knechtende syrische zu Dogma überwinden und den Gott im eigenen Busen zu erwecken, das ‚Himmelreich inwendig in uns‘.“44 Rosenberg bekennt sich, getreu der Ziffer 24 des Parteiprogramms der NSDAP, ausdrücklich zum „positiven Christentum“. Er stellt das „positive Christentum“ gegenüber dem negativen heraus.45 Beide seien „von jeher im Kampf begriffen“46. Für Rosenberg ist – wie für alle Nationalsozialisten – Christus kein Jude.47 Er fordert keineswegs die totale Negation des Christentums, vielmehr darüber hinaus ein neues, „fünftes Evangelium“48. Er meint sogar, in zwei kanonischen Evangelien Elemente des „positiven Christentums“ auffinden zu können. Das Evangelium des Markus sei das „Urevangelium“. Rosenberg bejaht hier den angeblich „eigentlichen Kern der Botschaft von der Gotteskindschaft“49. Bei der Bewertung des Johannes-Evangeliums stellt er die Polarität von „gut und böse“ heraus. Jesus Christus ist nach Rosenberg mitnichten ein „kleiner arischer Wanderprediger aus Galiläa“, sondern „Vermittler zwischen Mensch und Gott“50. Ja, eine, wenn auch nur eine, wie z. B. Zarathustra, „vollkommen eigengesetzliche Verkörperung des Göttlichen in einem Menschen“51. Aber nicht der „Gekreuzigte“ sei heute das „bildende Ideal“52, sondern Jesus, der „Empörer aus Nazareth“53, „Jesus der Held“54. Nicht der „Knecht“ habe sich geopfert: „Und jetzt dürfen wir wohl auch sagen, dass die Liebe Jesu Christo, die Liebe eines seines Seelenadels und seiner starken Persönlichkeit bewussten Mannes gewesen ist. Jesus opferte sich als Herr, nicht als Knecht.“55 Das negative Christentum sei das des Paulus. Die christlichen Kirchen hätten seit Paulus die „Botschaft vom Himmelreich inwendig in uns, von der Gotteskindschaft, vom Dienst für das Gute und von der flammenden Abwehr gegen das Böse“56 gefälscht. Die christlichen Kirchen seien seit Paulus allesamt paulinisch.57 Die Verbindung von Rasse und Volk wird durch die Konfiguration „rassegebundene Volksseele“ treffend formuliert. Was aber sind die wesentlichen Merkmale des Rassebegriffs Rosenbergs? 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57

Rosenberg, Der Mythus, S. 218 f. Ebd., S. 78. Ebd., S. 79. Ebd., S. 76. Ebd., S. 604. Ebd. Ebd., S. 624. Ebd., S. 442. Ebd., S. 604. Ebd., S. 134. Ebd., S. 414. Ebd., S. 622. Ebd., S. 607. Ebd., S. 606, 235.

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1. „Seele aber bedeutet Rasse von innen gesehen. Und umgekehrt ist Rasse die Außenseite einer Seele.“58 2. „Das Leben einer Rasse, eines Volkes, ist keine sich logisch entwickelnde Philosophie, auch kein sich naturgesetzlich abwickelnder Vorgang, sondern die Ausbildung einer mystischen Synthese, einer Seelenbetätigung, die weder durch Vernunftschlüsse erklärt noch durch die Darstellung von Ursache und Wirkung begreiflich gemacht werden kann.“59 3. „Das nordisch-seelische Erbgut bestand tatsächlich im Bewusstsein nicht nur der Gottähnlichkeit, sondern der Gottgleichheit der menschlichen Seele.“60 Gottgleich ist aber nicht nur die Seele der nordischen Rasse, sondern – „Rasse und Ich, Blut und Seele stehen im engsten Zusammenhang“61 – auch des Volksglaubens sowie des völkischen Glaubens liebstes Kind, nämlich das Blut: „Heute erwacht aber ein neuer Glaube: Der Mythus des Blutes, der Glaube, mit dem Blute auch das göttliche Wesen des Menschen überhaupt zu verteidigen. Der mit hellstem Wissen verkörperte Glaube, dass das nordische Blut jenes Mysterium darstellt, welches die alten Sakramente ersetzt und überwunden hat.“62 Das deutsche Volk hat mithin eine über das göttliche Blut und die göttliche Seele seiner Rasse vermittelte und real existierende Beziehung zu Gott. Die Einheit von göttlicher und menschlicher Natur nach dem Muster der Mystik macht die prinzipielle Konfiguration des religiösen Gehalts der Rassedoktrin Rosenbergs aus. Die Divinisierung der Rassenseele ist allerdings nur die eine Seite des „Mythus“. Warum ist die „Selbstverwirklichung“63 der Rassenseele noch nicht vollendet? Rosenberg ist, wie Dietrich Eckart und Goebbels, davon überzeugt, dass es eine Gott sowie der „rassegebundenen Volksseele“ der Deutschen entgegenwirkende Macht gibt. Das gemäß der Semantik Rosenbergs „polare Urphänomen“64 zur „nordischen Rassenseele“ ist die jüdische „Gegenrasse“65. Nur die jüdische Rasse – nicht die Rasse der Neger oder Chinesen – ist für Rosenberg die „Gegenrasse“. Der Antisemitismus hat eine entscheidende Funktion bei dem Versuch, zu erklären, warum die kollektive Identität des deutschen Volkes noch nicht vollendet werden konnte.66 Die Gegenkraft zur gottgleichen nordischen Seele kann nur so bestimmt werden: „So sehen wir denn seit 2500 Jahren das ewig gleiche Bild. Grauenhaft, halb und halb dämonisch, lächerlich und tragisch zugleich, von aller Hoheit verachtet und sich doch unschuldig füh-

58 59 60 61 62 63 64 65 66

Ebd., S. 2. Ebd., S. 117. Ebd., S. 246. Ebd., S. 258. Ebd., S. 14. Ebd., S. 248, 685, 689. Ebd., S. 125. Ebd., S. 462, vgl. S. 686 zum Antisemitismus Rosenbergs überhaupt. Ebd., vgl. S. 2 ff., 33, 64, 129, 158, 265 ff., 282, 294, 363 ff., 412, 460, 493, 528 ff., 553, 566, 591, 670 ff., 686 ff.

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lend (weil bar jeder Fähigkeit etwas anders verstehen zu können, als sich selbst), zieht Ahasver als Sohn der Satan-Natur durch die Geschichte der Welt.“67 Rosenbergs Maß für die politische Ordnung – Staat68 und Recht69 – ist die „rassegebundene Volksseele“70, bzw. das „Volkstum“, welches wiederum auf die „blut-seelischen Urgründe zurückgeführt“71 wird. Der Zusammenhang von Rasse und Volk wird nicht mit biologisch-naturwissenschaftlichen, daher auch nicht pseudowissenschaftlichen, Argumenten begründet. Vielmehr kritisiert Rosenberg die „Flucht des 19. Jahrhunderts zum Darwinismus und Positivismus“. Hier sei das „Blut“ zur chemischen Formel entseelt“72 worden. Die Urgründe sind die „Gottgleichheit“73 und „das göttliche Wesen“74 des nordischen Blutes. Rosenbergs Gott ist, wobei er zwischen Wissenschaft und Religion eine scharfe Trennung vornimmt, nicht der Gott der christlichen Kirchen oder der Germanen, sondern der Gott der Mystik. „Der kirchliche Jahwe ist nun heute tot wie Wotan vor 1 500 Jahren. Zum philosophischen Bewusstsein jedoch ist nordischer Geist dann in Immanuel Kant gelangt, dessen wesentliches Werk in der endlich einmal durchgeführten Scheidung der Befugnisse von Religion und Wissenschaft liegt. Religion hat nur mit dem ‚Himmelreich in uns zu tun‘, echte Wissenschaft nur mit Mechanistik, Physik, Chemismus, Biologie. Diese kritische Scheidung bedeutet, durchgeführt, die erste Voraussetzung für eine arteigene nordische Kultur: Sie bedeutet aber auch die Überwindung der syrischen-jüdisch bestimmten Dogmen und das Frei-Werden unseres polar-bewussten, dynamischen Lebens.“75

3.2

Adolf Hitler: Die „Güte des Allmächtigen“, der „Arier als Ebenbild des Herrn“ und das deutsche Volk einerseits, sowie die „Personifikation des Teufels“ und das jüdische Volk andererseits76

Warum die politische Religiosität Hitlers nicht zum zentralen Thema der wissenschaftlichen Diskurse und der öffentlichen Debatten wurde, könnte das Thema eines Forschungsprojekts sein. Immerhin liegen schon seit längerem zwei ausgezeichnete Studien zur Religion Hitlers vor, nämlich die des katholischen 67 68 69 70 71 72 73 74 75 76

Ebd., S. 265. Ebd., vgl. Kap. „Volk und Staat“, S. 523–562! Ebd., vgl. Kap. „Das nordisch-deutsche Recht“, S. 563–598! Ebd., S. 697. Ebd. Ebd., S. 22. Ebd., S. 46, 38, 629. Ebd., S. 144. Ebd., S. 134. Wolfgang Hammer, Dialog mit dem Führer, Band 1: Adolf Hitler – ein deutscher Messias? Geschichtliche Aspekte, München 1970, Band 2: Adolf Hitler – der Tyrann und die Völker. Politische Aspekte, München 1972, Band 3: Adolf Hitler, ein Prophet unserer Zeit? Ideologische Aspekte, München 1974.

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Publizisten Friedrich Heer77 und die aus drei Bänden bestehende Untersuchung „Dialog mit dem Führer“ des protestantischen Theologen Wolfgang Hammer. Hinzu kommt, dass die religiösen Bekenntnisse Adolf Hitlers in „Mein Kampf“ ohne großen hermeneutischen Aufwand gefunden werden können. Voranzuschicken ist, dass Hitler in dem Kapitel „Weltanschauung und Partei“ die Begriffe völkische Weltvorstellung78 und völkische Weltanschauung79 zum Zwecke der grundsätzlichen Charakterisierung des Programms der NSDAP und seiner Weltanschauung verwendet. Fast alle Implikationen der „völkischen Weltvorstellung“ und „völkischen Weltanschauung“ sind in folgendem Zitat enthalten: „Für was wir zu kämpfen haben, ist die Sicherung des Bestehens und der Vermehrung unserer Rasse und unseres Volkes, die Ernährung seiner Kinder und Reinhaltung des Blutes, die Freiheit und Unabhängigkeit des Vaterlandes, auf das unser Volk zur Erfüllung der auch ihm vom Schöpfer des Universums zugewiesenen Mission heranzureifen vermag.“80 Im Folgenden kommt es lediglich darauf an, den Zusammenhang zwischen dem „Schöpfer des Universums“, Rasse und Volk so knapp wie möglich darzustellen. Zunächst ist die Art und Weise der Affirmation der Religion oder Religiosität zu dokumentieren. Anzuknüpfen ist an die Bestimmung von völkischer Weltvorstellung am Schluss des Kapitels „Weltanschauung und Partei“: „Die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei übernimmt aus dem Gedankengut einer allgemeinen völkischen Weltvorstellung die wesentlichen Grundzüge, bildet aus denselben unter Berücksichtigung der praktischen Wirklichkeit der Zeit und des vorhandenen Menschenmaterials sowie seiner Schwächen, ein politisches Glaubensbekenntnis, das nun seinerseits in der so ermöglichten straffen organisatorischen Erfassung großer Menschenmassen die Voraussetzungen für die siegreiche Durchfechtung dieser Weltanschauung selber schafft.“81 Hitler lehnt es ab, bei einer allgemeinen Weltanschauung stehen zu bleiben: „Aus allgemeinen Vorstellungen muss ein politisches Programm, aus einer allgemeinen Weltanschauung ein bestimmter politischer Glaube geprägt werden.“82 Es ist zu prüfen, ob Hitler die Begriffe Glaube und Glaubensbekenntnis im profanen Sinn verwendet. Dazu ist es hilfreich, die Bestimmung dessen, was er unter der Bezeichnung religiös versteht, heranzuziehen: „Natürlich liegen auch schon in der allgemeinen Bezeichnung religiös einzelne grundsätzliche Gedanken oder Überzeugungen, zum Beispiel die der Unzerstörbarkeit der Seele, der Ewigkeit ihres Daseins, der Existenz eines höheren Wesens usw.“

77 Friedrich Heer, Der Glaube des Adolf Hitler. Anatomie einer politischen Religiosität, 2. Auflage Frankfurt a. M. 1989. 78 Hitler, Mein Kampf, S. 424. 79 Ebd., S. 421. 80 Ebd., S. 234. 81 Ebd., S. 424 (Hervorhebung durch den Verfasser). 82 Ebd., S. 418.

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Nunmehr kommt es darauf an, wie Hitler fortfährt und ob er den Glauben an die „Unzerstörbarkeit der Seele, der Ewigkeit ihres Daseins, der Existenz eines höheren Wesens“ verwirft oder nicht. Hitler führt weiter aus: „Allein alle diese Gedanken, und mögen sie für den Einzelnen noch so überzeugend sein, unterliegen so lange der kritischen Prüfung dieses Einzelnen, und damit so lange einer schwankenden Bejahung oder Verneinung, bis eben nicht die gefühlsmäßige Ahnung oder Erkenntnis die gesetzmäßige Kraft apodiktischen Glaubens annimmt. Dieser vor allem ist der Kampffaktor, der der Anerkennung religiöser Grundanschauungen Bresche schlägt und die Bahn freimacht.“83 Hitler verwirft den Glauben an die „Unzerstörbarkeit der Seele, die Ewigkeit ihres Daseins“ und „die Existenz eines hohen Wesens“ nicht, er bejaht also die abendländische Tradition der Unterscheidung von Diesseits und Jenseits. Darüber hinaus fordert er die „gesetzmäßige Kraft apodiktischen Glaubens“ zur „Anerkennung religiöser Grundanschauungen“. Hitler bekennt sich auch an anderen Stellen von „Mein Kampf“ zur Religion. Er ist z. B. der Überzeugung, dass die „Begründer von Religion zu den größten Menschen dieser Erde gerechnet“ werden müssen, wozu er auch die „Religion der Liebe“ ihres „erhabenen Begründers“84, also Jesus Christus, zählt. Der Glaube hat auch eine bestimmte Funktion im „Kampf gegen die jüdische Weltgefahr“, „den Juden, als den bösen Feind der Menschheit, als den wirklichen Urheber allen Leides“85 zu erkennen. Dabei habe die „nationalsozialistische Bewegung ihre gewaltigste Aufgabe zu erfüllen“. Hitlers Ziel ist das Heil der arischen Menschheit: „Sorgen aber muss sie dafür, dass wenigstens in unserem Lande der tödlichste Gegner erkannt und der Kampf gegen ihn als leuchtendes Zeichen einer lichteren Zeit auch den anderen Völkern den Weg weisen möge zum Heil einer ringenden arischen Menschheit. Im Übrigen mag dann die Vernunft unsere Leiterin sein, der Wille unsere Kraft. Die heilige Pflicht, so zu handeln, gebe uns Beharrlichkeit und höchster Schirmherr bleibe unser Glaube.“86 Der Glaube hat also gegenüber der Vernunft und dem Willen die höchste Bedeutung im Kampf um das „Heil“ der „arischen Menschheit“. Die Weltanschauung Hitlers ist religiös-monotheistisch und nicht heidnisch. Hitler macht sich sogar über diejenigen „Naturen“ lustig, die vom „altgermanischen Heldentum, von grauer Vorzeit, Steinäxten, Ger und Schild schwärmen“, und als „Rauschebärte“ mit „altdeutschen, vorsorglich nachgemachten Blechschwerten in den Lüften herumfuchteln“87. Hitler glaubt an einen „Schöpfer des Universums“88, den „Willen des ewigen Schöpfers“89 und an die „Güte des Allmächtigen“90. Da83 84 85 86 87 88 89 90

Ebd., S. 417 (Hervorhebung durch den Verfasser). Ebd., S. 230. Ebd., S. 724. Ebd., S. 724 f. Ebd., S. 416. Ebd., S. 234. Ebd., S. 314. Ebd., S. 439.

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rüber hinaus ist er davon überzeugt, im Sinne des „göttlichen Willens“91 zu urteilen und im Sinne des „allmächtigen Schöpfers“ zu „handeln“92. Nunmehr kommt es darauf an nachzuweisen, in welcher Weise Hitler seinen Glauben an den allmächtigen Schöpfer in die Rassedoktrin integriert und welcher Zusammenhang zwischen Volk und Rasse besteht. Vorauszuschicken ist, das wird leicht übersehen, dass die Einheit des deutschen Volkes noch keine rassische Grundlage hat. In dem Kapitel „Der Staat“, wonach „der Staat keinen Zweck, sondern ein Mittel darstellt“93 beginnt er Ausführungen über den Zweck des Staates mit folgender Feststellung: „Unser deutsches Volkstum beruht leider nicht mehr auf einem einheitlichen rassischen Kern. Der Prozess der Verschmelzung der verschiedenen Urbestandteile ist auch noch nicht soweit fortgeschritten, dass man von einer dadurch neu gebildeten Rasse sprechen könnte. Im Gegenteil: Die blutsmäßigen Vergiftungen, die unseren Volkskörper, besonders nach dem Dreißigjährigen Kriege, trafen, führten nicht nur zu einer Zersetzung unseres Blutes, sondern auch zu einer solchen unserer Seele.“94 Aber trotz aller Vermischungen seien die „Urelemente“95 und „Urbestandteile“96 der arischen Rasse noch vorhanden. Die Verwendung der Begriffe Elemente und Bestandteile mit dem Präfix Ur rechtfertigt den Schluss, dass auch Hitler das Verhältnis von Rasse und Volk in der Kategorie der Substanz wahrnimmt, dass die arische Rasse die Substanz der erst noch herzustellenden kollektiven Identität des deutschen Volkes ist. Wenn Hitler im gleichen Kontext wieder auf die „Mission des deutschen Volkes“ und die daraus abgeleitete Aufgabe des Staates zu sprechen kommt, führt er eine Ursache für die Existenz der „Urelemente“ im deutschen Volk an. Zunächst bestimmt er die Aufgabe des Staates. Der Staat „habe nämlich die Aufgabe, aus diesem Volk die wertvollsten Bestandteile an rassischen Urelementen nicht nur zu sammeln und zu erhalten, sondern langsam und sicher zur beherrschenden Stellung empor zu führen“97. Daher, auf die Verwendung der religiösen Semantik kommt es hier an, „erhält der Staat zum ersten Mal ein inneres hohes Ziel“, dieses sei die „Aufgabe der Erhaltung und Förderung eines durch die Güte des Allmächtigen dieser Erde geschenkten höchsten Menschentums“98. Der letzte Grund für die Qualität der im deutschen Volk enthaltenen „arischen Urelemente“ ist mithin Gott. Natürlich ist nicht zu bestreiten, dass Hitler in seiner Bewertung des Zusammenhangs zwischen Natur und Rasse Argumente und Begriffe des so genannten Sozialdarwinismus gebraucht, wie z. B. Selbsterhaltung, Kampf ums Dasein, 91 92 93 94 95 96 97 98

Ebd., S. 146. Ebd., S. 70. Ebd., S. 431. Ebd., S. 436 f. Ebd., S. 438 f. Ebd. Ebd., S. 439. Ebd. (Hervorhebung durch den Verfasser).

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Auslese und Entwicklung.99 Aber auch da kommt er ohne Gott nicht aus: „Während die Natur“ bei der Fortpflanzung „aus einer Überzahl von Einzelwesen die Besten sich als Wert zum Leben auserwählt, sie also allein erhält und ebenso zur Trägerin, zur Forterhaltung ihrer Art werden lässt, schränkt der Mensch die Zeugung ein, sorgt jedoch krampfhaft dafür, dass jedes einmal geborene Wesen um jeden Preis auch erhalten werde“. Diese Korrektur „des göttlichen Willens“ scheint ihm ebenso weise wie human zu sein, und er freut sich, „wieder einmal in einer Sache die Natur übertrumpft ja ihre Unzulänglichkeit bewiesen zu haben“100. Hitlers Überzeugung von der Übereinstimmung zwischen Natur und Gott wird auch im Hinblick auf die Verwerfung der Rassekreuzung deutlich. „Rassekreuzung“ führe zu einem regressiven Prozess, habe die „Niedersenkung des Niveaus der höheren Rasse“ zur Folge; ein „körperlich und geistiger Rückgang und damit der Beginn eines, wenn auch langsam, so doch sicher fortschreitendem Siechtums. Eine solche Entwicklung herbeizuführen, heißt aber denn doch nichts anderes als Sünde treiben wider den Willen des ewigen Schöpfers.“101 So argumentiert kein Anhänger Darwins. Hitler hat vielmehr ein physiko-theologisches Weltbild. Gott ist für ihn, wie für alle Theisten, der Schöpfer der Natur. Die entscheidende Frage ist allerdings, wie die Überlegenheit der arischen Rasse begründet wird: „Menschliche Kultur und Zivilisation sind auf diesem Erdteil unzertrennlich gebunden an das Vorhandensein des Ariers. Sein Aussterben oder Untergehen wird auf diesen Erdteil wieder die dunklen Schleier einer kulturlosen Zeit senken. Das Untergraben des Bestandes der menschlichen Kultur durch die Vernichtung ihres Trägers aber erscheint in den Augen einer völkischen Weltanschauung als das fluchwürdigste Verbrechen. Wer die Hand an das höchste Ebenbild des Herrn zu legen wagt, frevelt am gütigen Schöpfer dieses Wunders und hilft mit an der Vertreibung aus dem Paradies.“102 Hitler beruft sich nicht nur auf die Natur, diese wird vielmehr überformt durch Kultur. Der Arier als Kulturbegründer ist nicht Abbild der Natur, sondern höchstes Ebenbild des Herrn, des „gütigen Schöpfers“, mithin einer transzendenten Macht. Das arische Urelement, die Substanz des deutschen Volkes, erhält also das Attribut göttlich. Hier soll darauf verzichtet werden, wie die Furcht Hitlers, der den Untergang des Ariers und damit der Kultur für möglich hält, religionswissenschaftlich oder theologisch zu deuten ist. Aber für den grenzenlosen Fanatismus Hitlers ist möglicherweise seine Furcht vor dem Nichts mitverantwortlich. Weiterhin soll festgehalten werden, dass bei der Verwendung des Begriffs völkische Weltanschauung eine Relation zwischen dem Schöpfer und dem deutschen Volk artikuliert wird. Das arische Urelement ist die Substanz des deutschen Volkes, ist göttlich. Wodurch die bisherige Aktualisierung 99 100 101 102

Ebd., S. 145, 312 ff. Ebd., S. 145 (Hervorhebung durch den Verfasser). Ebd., S. 314 (Hervorhebung durch den Verfasser). Ebd., S. 421, zum Topos Ebenbild des Herrn, vgl. S. 196, 445 (Hervorhebung durch den Verfasser).

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dieser potenziellen Kraft verhindert wurde, soll alsbald dokumentiert werden. Von prinzipieller Bedeutung für die Rassedoktrin Hitlers ist die Einteilung der Menschheit. Nach Hitler gibt es drei Arten, nämlich „Kulturbegründer, Kulturträger und Kulturzerstörer“103. Auf die so genannten „Kulturträger“ geht Hitler nur knapp ein. „Kulturbegründer“ ist allein der Arier. Dem Arier werden folgende Prädikate zugeordnet: – „Allein der Begründer höheren Menschentums“, – „Urtyp“ dessen, „was wir unter dem Wort Mensch verstehen“, – „Der Prometheus der Menschheit, aus dessen lichter Stirn der göttliche Funke des Genies zu allen Zeiten hervorbrach.“104 Der „göttliche Funke“, also das „Göttliche“, ist dem Arier von Anfang an und stets gleich bleibend immanent. Das Verhältnis des deutschen Volkes zum Göttlichen ist ein doppeltes: Einmal im Außenverhältnis zum jenseitig-allmächtigen Schöpfer, zum anderen in einer Art Innenverhältnis, nämlich zum rassisch-substanziellen Kern. Das ist der Grund, weshalb das deutsche Volk in der Lage ist, die „ihm vom Schöpfer des Universums zugewiesene Mission“105 zu erfüllen. Wie bei den meisten Reden von oder über Gott, kann die ihm entgegen gesetzte Macht nicht fehlen: „Den gewaltigsten Gegensatz zum Arier bildet der Jude. Bei kaum einem Volk der Welt ist der Selbsterhaltungstrieb stärker entwickelt als beim so genannten auserwählten. Als bester Beweis hierfür darf die einfache Tatsache des Bestehens dieser Rasse allein schon gelten. Wo ist das Volk, das in den letzten 2000 Jahren so wenigen Veränderungen der inneren Veranlagung, des Charakters usw. ausgesetzt gewesen wäre als das jüdische? Welches Volk endlich hat größere Umwälzungen mitgemacht als dieses – und ist dennoch immer als dasselbe aus den gewaltigsten Katastrophen der Menschheit hervorgegangen? Welch ein unendlich zäher Wille zum Leben, zur Erhaltung der Art spricht aus diesen Tatsachen!“106

Wenn Hitler darwinistisch oder pseudodarwinistisch argumentieren würde, müsste er die erfolgreiche Selbsterhaltung bewundern. Den „gewaltigsten Gegensatz“ zum „höchsten Ebenbild des Herrn“ wie dem „allgütigen Schöpfer“ bildet aber in der religiösen Tradition des Abendlandes das Böse; das Böse als die Macht der Vernichtung, Zerstörung, Lüge und der Finsternis im Gegensatz zu Leben, Wahrheit und Licht. So sei z. B. „der Jude“ ein Lügner von Anfang an: „Im Leben des Juden als Parasit im Körper anderer Nationen und Staaten liegt eine Eigenart begründet, die Schopenhauer einst zu dem schon erwähnten Ausspruch veranlasste, der Jude sei der ‚große Meister im Lügen‘. Das Dasein treibt den Juden zur Lüge, und zwar zu immerwährenden Lüge, wie es den Nordländer zur warmen Kleidung zwingt.“107 103 104 105 106 107

Ebd., S. 318. Ebd., S. 317 (Hervorhebung durch den Verfasser). Ebd., S. 234. Ebd., S. 329. Ebd., S. 335.

Der Nationalsozialismus als „politische Religion“

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Für Hitler sind die Juden „wahre Teufel“108. Deshalb – und nur deshalb – ist „der Jude“, im Gegensatz zum „Arier“, dem „Kulturbegründer“, der „Kulturzerstörer“109. Können die Juden als „Personifikation des Teufels“ und „Kulturzerstörer“ überhaupt eine Religion haben? War Hitler so konsequent zu behaupten, „der Jude“ habe keine Religion und hat er in demselben Zusammenhang begründet, warum „der Arier“ sie hat? In dem Kapitel „Volk und Rasse“ heißt es, worauf in keinem öffentlichen Diskurs über das deutsche Volk, den Totalitarismus, den Nationalsozialismus und den Holocaust (Shoah) Bezug genommen wird, dazu: „Das Judentum war immer ein Volk mit bestimmten rassischen Eigenarten und niemals eine Religion, nur sein Fortkommen ließ es schon frühzeitig nach einem Mittel suchen, das die unangenehme Aufmerksamkeit in Bezug auf seine Angehörigen zu zerstreuen vermochte. Welches Mittel aber wäre zweckmäßiger und zugleich harmloser gewesen als die Einschiebung des geborgten Begriffes der Religionsgemeinschaft? Denn auch hier ist alles entlehnt, besser gestohlen – aus dem ursprünglichen eigenen Wesen kann der Jude eine religiöse Einrichtung schon deshalb nicht besitzen, da ihm der Idealismus in jeder Form fehlt und damit auch der Glaube an ein Jenseits vollkommen fremd ist. Man kann sich aber eine Religion nach arischer Auffassung nicht vorstellen, der die Überzeugung des Fortlebens nach dem Tode in irgendeiner Form mangelt. Tatsächlich ist auch der Talmud kein Buch zur Vorbereitung für das Jenseits, sondern nur für ein praktisches und erträgliches Leben im Diesseits.“110

Daraus folgt – andere Aspekte wären ebenso zu berücksichtigen – im Hinblick auf die hier interessierende Fragestellung: 1. Hitler nimmt alle Juden mit den Kategorien des Ursprungs und der Identität, die historisch gleich bleibt, wahr. Alle Mitglieder des jüdischen Volkes waren, sind und bleiben areligiös. 2. Das Kriterium für die Areligiosität ist der fehlende „Glaube an ein Jenseits“. 3. Alle Arier sind religiös. Zur „arischen Auffassung“ von Religion gehört der „Glaube an ein Jenseits“ und die „Überzeugung des Fortlebens nach dem Tode in irgendeiner Form“. 4. Für Hitler ist der in der Unterscheidung von Jenseits und Diesseits artikulierte Glaube maßgebend für die Bestimmung der kollektiven Identität der arischen Volksgemeinschaft.

108 Ebd., S. 68. 109 Ebd., S. 330. 110 Ebd., S. 335 f.

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4.

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Zusammenfassung

Zusammenfassend ist aus deskriptiv-phänomenologischer Hinsicht Folgendes festzuhalten: 1. Das „Dritte Reich“ ist ein Reich der Zukunft, welches durch Erlösung qualifiziert wird. 2. Gegenwart und Zukunft sind durch einen qualitativen Sprung getrennt. Dem Sprung geht eine Zeit der Krise bis zur Katastrophe voraus. 3. Zur Überwindung der Katastrophe und zum Zwecke der Erlösung muss ein Kampf stattfinden. Dieser Kampf ist kein beliebiger Konflikt, sondern wird innerhalb eines substanziellen Dualismus als Kampf gegen das Böse gedeutet. 4. Es wird an das Charisma Adolf Hitlers geglaubt. Dieser Glaube besteht darin, dass die Nationalsozialisten davon überzeugt sind, Hitler sei der von Gott gesandte Führer des deutschen Volkes, dass er eine außerordentliche Beziehung zu Gott habe und in der Lage sei, eine besondere Beziehung zwischen Gott und dem deutschen Volk zu vermitteln. 5. Die Repräsentanten des Bösen bzw. des Satans sind die Juden – alle toten, lebenden und noch nicht geborenen Mitglieder des jüdischen Volkes. Nochmals: Nur der „Jude“ ist der „Antichrist“ (Dietrich Eckart, Joseph Goebbels), der „Sohn der Satan-Natur“ (Alfred Rosenberg) oder die „Personifikation des Teufels“ (Adolf Hitler). Jedes einzelne Mitglied eines einzigen Volkes unter allen Völkern dieser Welt verkörpert das Böse. 6. Nicht nur wegen der außerordentlichen Beziehung Adolf Hitlers zu Gott und dadurch Gottes zum deutschen Volk ist das deutsche Volk in der Lage, seine Erlösung selbst zu vollenden. Vielmehr besteht das Fundament seiner potenziellen Kraft in der göttlichen Substanz der arisch-nordischen Rasse. Der Arier ist gemäß der Rassedoktrin Rosenbergs und Hitlers ein gottmenschlicher Makroanthropos. Die Realpräsenz Gottes findet im Blut des Ariers, und damit des deutschen Volkes, statt. Die arisch-nordische Megapsyche ist gottgleich. Die arisch-nordische Seele hat das an sich jenseitige Himmelreich in ihrem Selbst. Weil das deutsche Volk durch seine Teilhabe an der arischen Rasse divinisiert wird, muss ein anderes Kollektivsubjekt zur satanischen Gegenrasse substanzialisiert werden. Diese Anschauung von Mensch, Volk, Zukunft und Welt kann aus folgenden Gründen als „politische Religion“ beurteilt werden: 1. Es wird an die Existenz überirdischer Mächte sowie an eine jenseitige Welt geglaubt. 2. Dieser Glaube ist auf das Heil oder die Erlösung in einer diesseitigen Welt ausgerichtet. Die Transzendenz wird partiell immanentisiert. 3. Die Nationalsozialisten sind davon überzeugt, in der politischen Ordnung und durch die Qualität der politischen Ordnung die Erlösung des deutschen Volkes herbeiführen zu können.

Der Nationalsozialismus als „politische Religion“

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4. Der spezifische Glaube von Dietrich Eckart, Joseph Goebbels, Alfred Rosenberg und vor allem Adolf Hitlers ist für das Bewusstsein von Volk maßgebend und dafür ausschlaggebend, wie die kollektive Identität des deutschen Volkes konstituiert werden soll. 5. Das Maß der Ordnung (Staat, Recht, Moral) der Gesellschaft ist wiederum das rassegebundene Volkstum. Das Ziel des Handelns besteht darin, die göttliche Potenzialität dieses rassegebundenen Volkstums zu aktualisieren. 6. Der Antisemitismus besteht in der wechselseitigen Beziehung zwischen der Divinisierung aller Mitglieder des deutschen Volkes und der Satanisierung aller Mitglieder des jüdischen Volkes. Im Hinblick auf alle Völker der Welt besteht nur zwischen Gott und dem deutschen Volk sowie nur zwischen dem Bösen und dem jüdischen Volk der Status der Konsubstanzialität. 7. Die Nationalsozialisten (und viele Mitglieder des deutschen Volkes) waren davon überzeugt, Adolf Hitler verkörpere die Identität der deutschen Volksgemeinschaft und sein Wille repräsentiere, da er der von Gott gesandte Retter des deutschen Volkes ist, den Willen Gottes. Auch Adolf Hitler glaubte felsenfest an das ihm von Gott verliehene Charisma, d. h., er glaubte, in einer außerordentlichen und auserwählten Verbindung zu Gott zu stehen.111 Der daraus folgende Wille zur Tat, ein wesentliches Merkmal jedes politischreligiösen Fundamentalismus, kann am Beispiel Hitlers demonstriert werden: „So glaube ich heute im Sinne des allmächtigen Schöpfers zu handeln: In dem ich mich des Juden erwehre, kämpfe ich für das Werk des Herrn.“112 Der „Gedanke geht“, so Heinrich Heine, „der Tat voraus wie der Blitz dem Donner“113. Das war, was im so genannten Funktionalismusstreit von allen Seiten übersehen wurde, bei Adolf Hitler der Fall: „Die Gewinnung der Seele des Volkes kann nur gelingen, wenn man neben der Führung des positiven Kampfes für die eigenen Ziele den Gegner dieser Ziele vernichtet. [...] Die Nationalisierung unserer Masse wird nur gelingen, wenn bei allem positiven Kampf um die Seele unseres Volkes ihre internationalen Vergifter ausgerottet werden.“114 Es ist zu betonen, dass die politische Religion des Nationalsozialismus nur ein Sonderfall einer politischen Religion ist. Politische Religionen wiederum sind nur ein Spezialfall des Zusammenhangs von Politik und Religion. Es gibt viele Varianten des Zusammenhanges von Politik und Religion, wie z. B. das Paradigma einer Zivilreligion. Der Zusammenhang von Politik und Religion, wie er ist und wie er sein soll, ist auch künftig ein zentrales Thema des Politi-

111 Vgl. Bärsch, Die politische Religion des Nationalsozialismus, 2. Auflage München 2002, S. 291 ff. 112 Hitler, Mein Kampf, S. 70. 113 Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, drittletzter Absatz, hier zit. nach Heinrich Heine, Werke, Schriften über Deutschland, hg. von Helmut Schanze, Frankfurt a. M. 1968, S. 164. 114 Ebd., S. 371 f.

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schen. Das gilt auch oder ganz besonders für die Freunde der plural-parlamentarischen Demokratie, wie Hermann Lübbe in seinem jüngsten Buch115 nicht minder brillant als gelehrt nachgewiesen hat.

115 Lübbe, Modernisierungsgewinner.

„Berufsständische Ordnung“ und autoritäre Diktaturen. Zur politischen Umsetzung einer „klassenfreien“ katholischen Gesellschaftsordnung in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts1 Gerhard Besier

1.

Politischer Katholizismus in der Zwischenkriegszeit

Der politische Katholizismus, bis heute eine vitale Kraft, hat mindestens zwei Seiten.2 Eine Traditionslinie führt über die katholische Parteienbildung zu den „christlichen Demokratien“ der Nachkriegszeit.3 Die zweite Traditionslinie favorisierte antidemokratisches Gedankengut und verband sich mit den rechtsautoritären Bewegungen und Regimes der Zwischenkriegszeit. Zwischen beiden katholischen Kraftfeldern bestanden beträchtliche Spannungen.4 Während die christlich-demokratische Parteibewegung maßgeblich von katholischen Laien getragen war, gehört die Abneigung gegen das individualistische und auf säkularen Prinzipien beruhende parlamentarische System zur Geschichte des Papsttums – verbunden mit dem Konzept einer „radikalen“ Rekatholisierung Europas unter autoritären Vorzeichen. Seit dem Verlust des Kirchenstaates und dem Ersten Vatikanischen Konzil suchten die Päpste ihren schwindenden Einfluss zu festigen, indem sie – gegenüber den Nationalstaaten wie gegenüber den nationalen Kirchen – für den Vatikan eine zentrale Rolle bei der Sicherung der katholischen Religion beanspruchten. In Rom sollte der Fokus der Verteidigung, Propagierung und Definition des katholischen Glaubens liegen. Von hier aus sollte die katholische Kirche administrativ, ideologisch und emotional ge1 2 3

4

Vgl. hierzu und zum Folgenden insgesamt Gerhard Besier/Francesca Piombo, Der Heilige Stuhl und Hitler-Deutschland. Die Faszination des Totalitären, München 2004. Vgl. Tom Buchanan/Martin Conway (Hg.), Political Catholicism in Europe, 1918–1965, Oxford 1996. Vgl. Michael Gehler/Wolfram Kaiser/Helmut Wohnout (Hg.), Christdemokratie in Europa im 20. Jahrhundert, Wien / Köln / Weimar 2001. Zur angloamerikanischen Entwicklung vgl. Jay P. Corrin, Catholic Intellectuals and the Challenge of Democracy, Notre Dame 2002. Vgl. auch Thomas Bokenkotter, Church and Revolution. Catholics in the Struggle for Democracy and Social Justice, New York 1998. Vgl. Martin Conway, Introduction. In: Buchanan / Conway, Political Catholicism, S. 1–33, hier: S. 23; vgl. auch ders., Catholic Politics in Europe 1918–1945, London / New York 1997.

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führt werden; hier saßen die Wächter des wahren Glaubens, aber auch die Erneuerer. Zug um Zug wurde eine absolute Monarchie des christlichen Glaubens errichtet, die als supranaturale Bastion den anbrandenden Modernismen trotzen wollte. Mit Hilfe päpstlicher Enzykliken umspannte die katholische Lehre nahezu alle politischen, sozialen und kulturellen Bereiche menschlichen Lebens. Für die Gläubigen gab es bald keine Lebensfelder mehr, die ihre Kirche ihnen nicht vorgeordnet hätte. „It was during the pontificate of Pius XII from 1939 to 1958 that the autocratic power of the Papacy reached its fullest expression.“5

2.

Katholischer Ständestaat als „Dritter Weg“

Im politischen Bereich blieb es nicht bei der eindeutigen Ablehnung liberaler, marxistischer und nationalsozialistischer Staatskonzepte. Vielmehr wurde sie ergänzt durch die Skizze eines „Dritten Weges“ – den Staatsaufbau auf der Grundlage der christlichen Soziallehre, wie sie Papst Leo XIII. 1891 in seiner Enzyklika Rerum novarum verkündet und Pius XI. 1931 in seiner Enzyklika Quadragesimo anno wieder aufgenommen hatte.6 Die erstgenannte Enzyklika empfahl die Gründung von Vereinen „zur Hebung und Förderung der leiblichen und geistigen Lage der Arbeiter“7, um sie den sozialistischen Organisationen zu entziehen. „Die Unwissenheit in Glaubenssachen, die wachsende Unkenntnis der Pflichten gegen Gott und den Nächsten soll durch geeignete Unterweisungen bekämpft werden. Man sorge für gründliche Aufklärung über die Irrtümer der Zeit und über die Trugschlüsse der Glaubensfeinde, für Belehrung und Warnung gegen die Lockmittel der Verführung.“8 Pius XI. nahm das vierzigjährige Gedächtnis an diese Enzyklika Leos XIII. zum Anlass, in einer eigenen Enzyklika einen gesellschaftlichen Ordnungsentwurf vorzustellen, der als Grundlage für die Herstellung eines katholischen Staates wie auch für eine katholische Gesellschaft dienen sollte. Im Mittelpunkt dieses Konstrukts stand die „klassenfreie“, berufsständisch organisierte Gesellschaftsordnung. Unverkennbar ist der Anspruch der Kirche, Staat und Gesellschaft auf das Naturrecht und das Sittengesetz festzulegen. Danach sollen „wohlgefügte Glieder des Gesellschaftsorganismus sich bilden, also ‚Stände‘, denen man nicht nach der Zugehörigkeit zur einen oder anderen Arbeitsmarktpartei, sondern nach der verschiedenen gesellschaftlichen Funktion des einzelnen angehört.“9 Martin 5 6 7 8 9

So Conway, Introduction, S. 13. Vgl. Oswald von Nell-Breuning, Soziallehre der Kirche. Erläuterungen der lehramtlichen Dokumente, 3. erw. Auflage Wien 1983, bes. S. 46, 53. Zit. nach Ernst Rudolf Huber/Wolfgang Huber (Hg.), Staat und Kirche im 19. und 20. Jahrhundert. Dokumente des deutschen Staatskirchenrechts, Band 3, 2. Auflage Berlin 1990, S. 304. Ebd. Zit. nach Ernst Rudolf Huber/Wolfgang Huber (Hg.), Staat und Kirche, Band 4, Berlin 1988, S. 426.

„Berufsständische Ordnung“ und autoritäre Diktaturen

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Conway fasst diese Vorstellungen so zusammen: „In this rather utopian manner, the individual competition and class conflict of modern world would, so papal statements proclaimed, be replaced by an organic community in which all of the elements of society worked together for the common good.“10 Dieses Konzept des idealen katholischen Ständestaates als „goldener Mittelweg“11 zwischen Demokratie und totalitärem Regime war aber keine bloße Utopie. Vielmehr gehörte seine mindestens ansatzweise Realisierung in den katholischen Ländern Portugal, Polen,12 Österreich13 und Spanien zu den von der Kirche begrüßten und gestützten Entwicklungen. Pius XI. nahm zu diesen autoritären Systemen ausnahmslos eine positive Haltung ein, weil er, um die katholisch geprägte, soziale und politische Ordnung aufrecht zu erhalten, eine Zentralisierung der Macht in den Händen eines charismatischen Führers und dessen Eliten für essentiell hielt. Zur Durchsetzung seines Staats- und Gesellschaftskonzepts gebrauchte der Vatikan drei Instrumente: den Codex Iuris Canonici, die Konkordate und die Katholische Aktion.14 Die Konkordate sollten nicht nur eine Schutzfunktion für die katholische Kirche und das Glaubensleben der Katholiken in den jeweiligen Staaten erfüllen. Sie besaßen auch eine offensive Funktion, indem sie die nationalen Episkopate stärker an Rom banden und direkte Arrangements zwischen den Nationalstaaten und den nationalen Kirchentümern praktisch ausschlossen. Darüber hinaus war seitens des Vatikans ein besonderes Kooperationsverhältnis zu den „Konkordatsstaaten“ – etwa im Unterschied zu laizistischen Staaten – intendiert. Dieses Anliegen ließ sich freilich nicht immer realisieren, wie das Verhältnis zwischen dem Vatikan und dem nationalsozialistischen Deutschland illustriert.

10 Buchanan/Conway, Political Catholicism, S. 15. 11 So Alois Hudal, Der Vatikan und die modernen Staaten, Innsbruck 1935, S. 12. 12 Am 23. 4.1932 ließ Kardinal Hlond einen Hirtenbrief „Um die Christlichen Grundsätze des Staatslebens“ (Poznań 1932) herausgehen. Die hier ausgeführten Grundsätze lauteten: Der Staat muss Gott anerkennen und ist ihm Verehrung schuldig; Die Pflichten des Staates gegen Gott; Im öffentlichen Leben verpflichtet das göttliche Gesetz (Rekurs auf Leo XIII., Immortale Dei); Verhältnis des Staates zur Familie; Das Recht der Eltern auf die Kinder und ihre Erziehung; Staat und Kirche; Unabhängigkeit der Kirche vom Staat; Die Kirche eine Wächterin der Moral des öffentlichen Lebens. 13 Emmerich Tálos hält im Falle von Österreich die Berufung auf die Enzyklika Quadragesimo anno für eine Farce. „‚Berufsständische Ordnung‘ bedeutete auch in der Realität die autoritäre Abstimmung zwischen staatlichen und gesellschaftlichen Interessen.“ Emmerich Tálos, Das austrofaschistische Herrschaftssystem 1933–1938. In: Wolfgang Maderthaner/Michaela Maier (Hg.), „Der Führer bin ich selbst.“ Engelbert Dollfuß – Benito Mussolini. Briefwechsel, Wien 2004, S. 103–127, hier: 116. 14 Vgl. Angelika Steinmaus-Pollak, Das als Katholische Aktion organisierte Laienapostolat. Geschichte seiner Theorie und seiner kirchenrechtlichen Praxis in Deutschland, Würzburg 1988.

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3.

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Die Aufrichtung der Königsherrschaft Christi

Pius XI. sah im Nationalsozialismus wohl eine ernste Bedrohung der katholischen Glaubensautorität, konnte aber andererseits mit Weimar und anderen Demokratien auch „wenig anfangen“15. Als sich Ratti 1932 für einen „katholischen Totalitarismus“ aussprach,16 hatte sich sein Hang zu einem ausgesprochen autokratischen Denken längst verfestigt. Die Wurzeln dieses Denkens reichen in die erste Phase von Rattis Pontifikat zurück.17 Diese gründen in der Weiterentwicklung des Gedankens von der Königsherrschaft Christi, wie sie in den Enzykliken Ubi arcano18 und Quas primas19 ihren Niederschlag gefunden haben.20 Das Motiv dieser theologisch verstandenen Anerkennungsoffensive liegt im beinahe schon realisierten Anspruch der Moderne auf Autonomie, die Pius XI. ihr in „heiligem Kampf“ wieder streitig machen wollte. Mit der Betonung der Herrschaft Christi – übrigens ganz analog zur Entwicklung in der protestantischen Theologie der 20er Jahre21 – ging die prinzipielle Bestreitung einer Anschauung einher, wonach der christliche Glaube und eine von ihm geprägte Moralität auf den Bereich des Privaten eingeschränkt bleiben müsse, da die politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Lebensbereiche von Eigengesetzlichkeiten bestimmt seien.22 Aus diesen „liturgiefremden Gründen“23 wurde in der Römisch-katholischen Kirche als Höhepunkt der Entwicklung Mitte Dezember 192524 das Christkönigsfest geschaffen: Als Gegenpol zu der progressiven Säkularisierung des öffentlichen Lebens sollte das Fest bekräftigen, dass die Herrschaft Christi in Familie, Gesellschaft und Institutionen anzuerkennen sei.25 Diese in Abwehr gegen die Moderne entwickelten theokratischen Vorstellungen setzte Pius XI. mehr oder weniger begrifflich gleich mit einem „katholischen Totalitarismus“26, wie allerdings nur aus zweiter, durch15 Peter Godman, Der Vatikan und Hitler. Die geheimen Archive, München 2004, S. 35. 16 Peter Kent, The Pope and the Duce. The International Impact of the Lateran Agreements, New York 1981, S. 193. Vgl. auch Jone Gaillard, The Attractions of Fascism for the Church of Rome. In: John Milfull (Hg.), The Attractions of Fascism. Social Psychology and Aesthetics of the „Triumph of the Right“, New York / Oxford / München 1990, S. 207–214, hier: 208), der mit Ernesto Rossi, Il manganello e l’aspersorio, Bari 1968, S. 210, Pius XI. zitiert: „wenn es eine totalitäre Herrschaftsform gibt – in faktischem und rechtlichem Sinne totalitär –, ist es die Herrschaftsform der Kirche.“ 17 Vgl. Patrizio Foresta, Der „katholische Totalitarismus“. Das Papsttum und die Modernität in der Wahrnehmung Pius’ XI. (Ms.). 18 Acta Apostolicae Sedis (AAS), 14 (1922), S. 673–700. 19 AAS, 17 (1925), S. 593–610. 20 Vgl. auch Marc Agostino, Le Pape Pie XI et l’opinion 1922–1939, Rome 1991, S. 76 ff. 21 Vgl. Gerhard Besier, Kirche, Politik und Gesellschaft im 20. Jahrhundert, München 2000, S. 14 ff. 22 Vgl. Christian Walther, Königsherrschaft Christi. In: TRE, XIX (1999), S. 311–323. 23 So Foresta, Der „katholische Totalitarismus“. 24 Vgl. Enzyklika Quas primas vom 11.12.1925, AAS, 17 (1925), S. 593–610. 25 Vgl. Karl Suso Frank, Christkönig. In: LThK3, III (1994), S. 1140 f. 26 Francesco Malgieri/Enzo Collotti, Chiesa cattolica e regime fascista. In: Angelo Del Boca (Hg.), Il regima fascista. Storia e storiografia, Roma, Bari 1995, S. 166–181, hier: 174.

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aus nicht zuverlässiger Hand überliefert ist. In Abgrenzung zum „faschistischen Totalitarismus“ soll Pius XI. Anfang Februar 1932 anlässlich einer päpstlichen Audienz zu Mussolini gesagt haben, dieser Begriff sei im Blick auf den italienischen Staat völlig akzeptabel. Aber für das Seelenheil sei allein der „katholische Totalitarismus“ zuständig.27 Bei aller Fragwürdigkeit der Anwendung des Totalitarismusbegriffs auf das theologische Konzept der Königsherrschaft Christi lassen sich auf der politischen Handlungsebene durchaus Konvergenzen zwischen Faschismus und Katholizismus feststellen – ebenso wie Divergenzen, die – etwa 1931 – aufbrachen, nachdem die „Azione Cattolica“28 als „Besatzungsheer“29 der alles durchdringenden Königsherrschaft Christi vom faschistischen Staat zurückgedrängt werden sollte. Zu Recht weist Foresta darauf hin, dass die ideologische Kontroverse zwischen der katholischen Kirche und dem sich säkularisierenden Abendland nicht auf die historische Situation der 20er und 30er Jahre verengt werden dürfe. Dem ist freilich entgegenzuhalten, dass Pius XI. durch einschlägige Lehrschreiben wie Quadragesimo anno vom 15. Mai 1931 frühere Interpretationen ausdrücklich aufnahm und sie für die Gegenwart erneut in Kraft setzte. Insofern sind solche Vorstellungen von der „Verwirklichung einer effektiv hierokratischen Gesellschaft“30 auch auf die konkrete historische Situation zu beziehen. In Ländern wie Polen, Italien oder Portugal standen sich, formal betrachtet, die Totalitätsansprüche politischer Diktaturen und des römischen Katholizismus gegenüber, und die katholische Kirche suchte diese Konstellation zur Restaurierung katholischer Staaten zu nutzen, wie es kurzzeitig in Österreich gelungen zu sein schien.31 Auch in der Beschreibung dessen, was der Königsherrschaft Christi entgegenstehe, nahm Pius XI. die negativen Erscheinungen seiner Zeit, wie er sie sah, in Gebrauch. Den Klassenkampf bezeichnet Ubi arcano als „die verwurzeltste und tödlichste Krankheit der Gesellschaft“, das Parteiensystem diene „eher zur Befriedigung der Interessen des einzelnen als zur Erlangung des Gemeinwohls“; schließlich werde „das sanfte und friedliche Heiligtum der Familie zerstört“32. Kirchen und Seminare würden besetzt, Priester getötet und die Kirche verfolgt. Einen Sieg gegen Materialismus und Säkularisierung könne nur 27 Renzo De de Felice (Hg.), Mussolini e Hitler. I rapport segreti (1922–1933), 2. Auflage Firenze 1983, S. 272 f. 28 Vgl. Jutta Bohn, Das Verhältnis zwischen katholischer Kirche und faschistischem Staat in Italien und die Rezeption in deutschen Zentrumskreisen (1922–1933), Frankfurt a. M. 1992, bes. S. 152 ff. 29 So Fulvio De Giorgi, Linguaggi militari e mobilitazione cattolica nell’ Italia fascista. In: Contemporanea, 5 (2002), S. 253–286, hier: 266. 30 Giuseppe Batelli, Chiesa, società e „devozioni politiche“. In: StSt, 43 (2002), S. 611–626; Giovanni Miccoli, Chiesa e società in Italia dal Concilio Vaticano I (1870) al pontificio di Giovanni XIII. In: Romano Ruggiero / Corrado Vivanti (Hg.), Storia d’Italia, Band 5,2: I documenti, Torino 1973, S. 1494–1548, hier: 1521 f. 31 So für Italien Pietro Scoppola (Hg.), Chiesa e stato nella storia d’Italia. Storia documentaria dall’unità alla republica, Bari 1967, S. 685. 32 AAS, 14 (1922), S. 673–680; vgl. Anton Rohrbasser/Paul Cattin (Hg.), Heilslehre der Kirche. Dokumente von Pius XI. bis Pius XII., Freiburg ( Schweiz) 1953, S. 1000 f.

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die Kirche erringen, indem sie die Herrschaft Christi wieder aufrichte, deren Gesetz im privaten wie öffentlichen Leben Gehorsam zu leisten sei. Die katholischen Bürger und die weltliche Obrigkeit sind aufgerufen, in diesem Sinne das Königtum Christi wiederherzustellen. Indem die Vorteile der Anerkennung seines Königtums gepriesen werden, entsteht skizzenhaft das Bild eines katholischen Ständestaates: „Würden stattdessen die Menschen privatim und in der Öffentlichkeit die souveräne Macht Christi anerkannt haben, so würden notwendigerweise unglaubliche Wohltaten, wie gerechte Freiheit, ruhige Disziplin und friedliche Eintracht, die ganze bürgerliche Gesellschaft überfluten. Wie die königliche Würde Unseres Herrn gewissermaßen die menschliche Autorität der Fürsten und Staatsoberhäupter heiligt, so veredelt sie die Pflichten der Bürger und ihren Gehorsam. In diesem Sinne ermahnte der Apostel Paulus, als er die Frauen aufforderte, in ihrem Manne, in ihrem Vorgesetzten Jesus Christus zu verehren, dass sie ihnen nicht als Menschen gehorchen sollten, sondern einzig, weil sie die Statthalterschaft Christi vertreten. Wenn die Fürsten und legitim erwählten Magistraten davon überzeugt sein werden, dass sie nicht kraft eigenen Rechts befehlen, sondern weit eher zufolge Auftrag und an Stelle des göttlichen Königs, so begreift jeder leicht, welch heiligen und weisen Gebrauch sie von ihrer Autorität machen und welches Interesse sie am allgemeinen Wohl und an der Würde ihrer Untergebenen bei der Aufstellung und der Handhabung der Gesetze haben werden. Ist derweise jede Ursache zur Auflehnung weggeschafft, werden alsbald Ordnung und Ruhe aufblühen und sich festigen.“33

Auch die Wahl der Selig- und Heiligsprechungen zwischen 1923 und 1931 scheint von dem Gesichtspunkt getragen zu sein, die Übel wie die Hoffnungszeichen der Zeit symbolisch zu interpretieren.34 Personen, die von der Kirche zu den Abtrünnigen gesandt wurden, oder bedeutende Verteidiger des Papsttums wie der Erzbischof von Capua, Robert Bellarmin, erhielten in diesen Jahren als Zeichen der göttlichen Vorsehung das Heiligkeitsprädikat.35 In den historischen Rekonstruktionen und Deutungsversuchen erscheinen die Ereignisse der Reformation als die zu überwindende Initialzündung des ubiquitären säkularen Aufstandes gegen die kirchliche Autorität.36 Zu deren hierarchischer Wiederherstellung im Sinne der mittelalterlichen Christianitas ruft Unigenitus Dei Filius vom März 1924 die Ordensleute auf.37 Auch der Festka33 Zit. nach Ecclesiastica. Dokumente und Nachrichten zur zeitgenössischen Kirchengeschichte, Nr. 2, VI. vom 9.1.1926. 34 Vgl. Foresta, Der „katholische Totalitarismus“. 35 Vgl. Luisa Magnoni, I Patti lateranensi e la cultura cattolica. In: StSt, 43 (2002), S. 153– 165, hier: 159. 36 Vgl. Giovanni Miccoli, Das katholische Italien und der Faschismus. In: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken, 78 (1998), S. 539–566, hier: 544; vgl. auch den Hirtenbrief des Bischofs von Linz, Johannes Maria Gföller, vom 27. 2.1927. Dieses soll, im Anschluss an das Rundschreiben Pius’ XI. vom 11.12.1925, den Gedanken der Autorität stärken – der elterlichen, staatlichen und kirchlichen Autorität. Linzer Diözesanblatt, Nr. 2, 1927, S. 25–34. Indem die Bischöfe in aller Welt die Ausführungen des Papstes in eigenen Hirtenschreiben aufnahmen, trat eine große Multiplikationswirkung ein. 37 Vgl. AAS, 16 (1924), S. 133–148.

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lender des Kirchenjahres versinnbildlichte den heiligen Kampf, wobei der Dank an die Madonna für die christlichen Siege des 16. Jahrhunderts gegen die Türken zum Sieg der Polen über die Bolschewiki mutieren konnte.38 Zahlreiche Rundschreiben Pius’ XI. zur Würdigung großer Kirchenmänner, die Dezennien zuvor heilig gesprochen wurden oder deren Todestag sich zum vielhundertsten Male jährte, dienten ebenfalls dem Ziel, mit modernen Mitteln die mittelalterliche Weltordnung wiederherzustellen. So heißt es in dem Rundschreiben zur sechsten Jahrhundertfeier der Heiligsprechung Thomas von Aquins Ende Juni 1923: Thomas „gibt nicht nur bestimmte Richtlinien und Lebensregeln für die Einzelmenschen, sondern auch solche für das Zusammenleben in der Familie wie im Staat. Darauf gründet die Moralwissenschaft über das wirtschaftliche Leben und die Sittenlehre der Staatswissenschaft. Hierzu gehören jene meisterhaften Abschnitte im zweiten Teil der Summe, die handeln von der väterlichen oder häuslichen Regierung einer Familie, von der rechtmäßigen Befehlsgewalt des Staates oder der Nation, von Natur- und Völkerrecht, Krieg und Frieden, von Gerechtigkeit und Eigentum, von den Gesetzen und vom Gehorsam, von der Pflicht, für die Bedürfnisse der einzelnen und das Gedeihen der Gesamtheit zu sorgen. Und das alles wird in Beziehung gesetzt zur natürlichen und zur übernatürlichen Ordnung. Wenn diese Leitsätze im privaten und öffentlichen Leben und in den gegenseitigen Beziehungen der Nationen heilig gehalten und unverletzt bewahrt werden, dann braucht man nach anderem nicht zu suchen, um den Menschen zu jenem ‚Frieden Christi im Reich Christi‘ zu führen, nach dem die ganze Welt so verlangt. Darum muss man wünschen, dass die Lehren des Aquinaten über das Völkerrecht und über die Gesetze, die für das Verhalten der Völker zueinander Geltung beanspruchen, mehr und mehr zum geistigen Eigentum werden, denn sie allein bilden die Grundlagen eines wahren Völkerbundes.“39

Ähnlich wie schon Leo XIII. in der Enzyklika Annum sacrum von 1899 geht es Pius XI. um die Aufrichtung der unbedingten Herrschaft Christi nicht nur über 38 Vgl. De Giorgi, Linguaggi militari, S. 274. 39 Rundschreiben unseres Heiligsten Vaters Pius XI. zur sechsten Jahrhundertfeier der Heiligsprechung des Thomas von Aquin (29. 6.1923: Studiorum ducem), Freiburg i. Brsg. 1923, S. 31. Vgl. auch Rundschreiben unseres Heiligen Vaters Pius XI. zum 300. Todestag des heiligen Märtyrers Josaphat des Erzbischofs von Polozk ritus orientalis (12.11.1923: Ecclesiam Dei), Freiburg i. Brsg. 1923; Rundschreiben Pius XI. über die Förderung der Missionen (28. 2.1926: Rerum ecclesiae), Freiburg i. Brsg. 1926; Rundschreiben Pius XI. über den hl. Franziskus von Assisi zu seinem 700. Todestage (30. 4.1926: Rite expiatis), Freiburg i. Brsg. 1926; Apostolischer Brief Pius XI. zum 200jährigen Jubiläum der Heiligsprechung des heiligen Aloisius von Gonzaga (Singulare illud vom 13. 6.1926), Trier 1926; Rundschreiben Pius XI. über die Förderung der wahren Einheit der Religion (6. Januar, am Feste der Erscheinung des Herrn, 1928: Mortalium animos), Freiburg i. Brsg. 1928; Rundschreiben Pius XI. zum glücklichen Abschluss seines fünfzigsten Priesterjahres (23.12.1929: Quinquagesimo ante anno), Freiburg i. Brsg. 1930; Rundschreiben Pius XI. über die christliche Erziehung der Jugend (31.12.1929: Rappresentanti), Freiburg i. Brsg. 1930; Rundschreiben Pius XI. zum 1500. Todesjahres des heiligen Augustinus Bischofs von Hippo und Kirchenlehrers (20. 4.1930: Ad salutem humani generis), Freiburg i. Brsg. 1930; Rundschreiben Pius XI. Über die christliche Ehe in Hinsicht auf die gegenwärtigen Verhältnisse, Bedrängnisse, Irrtümer und Verfehlungen in Familie und Gesellschaft (Casti connubii vom 31.12.1930), München 1931.

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die Gläubigen, sondern über die ganze Menschheit.40 Alle Völker und Regierenden sollen sich seiner „Herrschermacht“ beugen und sie bezeugen.41 Die Enzyklika Quas primas forderte mit „aktiver und militanter Religiosität“42 einerseits zum guten und heiligen Kampf gegen den „sogenannten Laizismus“, die „Pest unserer Zeit“43, auf und zeichnete andererseits ein Idealbild vom christlichen Staat.44 Der Sammelbegriff Laizismus umfasst alle modernen Phänomene, die Gott seine Autorität über irgendeinen individuellen und gesellschaftlichen Bereich absprechen wollen. Insofern missverstand Mussolini den Papst bei der Audienz vom 3. Februar 1932, als er meinte, ihm bliebe im Rahmen des Staates der „faschistische Totalitarismus“. Dieser sollte sich im Gegenteil dem Herrschaftsanspruch der Kirche unterordnen und aktiv an der Ausbreitung des Königreiches Christi, dem „katholischen Totalitarismus“, mitwirken. In diesem Sinne konnten zahlreiche Geistliche wie Kardinal Ildefonso Schuster, der Nachfolger Rattis auf dem Mailänder Bischofsstuhl, den grausamen Abbessinienfeldzug Mussolinis als Öffnung des Landes für den katholischen Glauben und die römische Zivilisation preisen.45 Und Nuntius Angelo Roncalli, der spätere Papst Johannes XXIII., schrieb aus Athen: „Wie dem Duce alles gelungen ist, ein Punkt nach dem anderen, eine Schlacht nach der anderen, ohne Rückschlag oder Unterbrechung, verleitet einen beinahe zu glauben, eine himmlische Kraft habe Italien geleitet und geschützt. Vielleicht war es der Lohn dafür, dass er mit der Kirche Frieden geschlossen hat.“46 Mussolini erscheint als gehorsames Instrument Gottes und seiner Kirche, was im Verständnis des Vatikans eben dasselbe war. Ähnlich stilisierte Franco wenig später seinen Putsch als gottgewollten Kreuzzug gegen den atheistischen Sozialismus in seinem Land.47 Die Konkordatspolitik Pius’ XI. und seines Kardinalstaatssekretärs bildete – neben der Katholischen Aktion – ein entscheidendes Instrument bei der geplanten Durchsetzung des „katholischen Totalitarismus“. Neben Portugal, Polen, Italien und Österreich besaß auch Deutschland als „Konkordatsstaat“ die päpst40 Vgl. Enzyklika Quas primas vom 11.12.1925, AAS, 17 (1925), S. 593–610, hier: 602 ff.; vgl. Rohrbasser (Hg.), Heilslehre, S. 67 ff. 41 Rohrbasser (Hg.), Heilslehre, S. 65. 42 So De Giorgi, Linguaggi militari, S. 271. 43 Rohrbasser (Hg.), Heilslehre, S. 70. 44 Vgl. Christoph Joosten, Das Christkönigsfest. Liturgie im Spannungsfeld zwischen Frömmigkeit und Politik, Tübingen / Basel 2002, S. 115 ff. 45 Vgl. Friedrich Engel-Janosi, Vom Chaos zur Katastrophe. Vatikanische Gespräche 1918–1938. Vornehmlich auf Grund der Berichte der österreichischen Gesandten beim Heiligen Stuhl, Wien/München 1971, S. 165; Aram Mattioli, Eine veritable Hölle. In: Die Zeit vom 13.12. 2001; s. auch ders., Entgrenzte Kriegsgewalt. Der italienische Gifteinsatz in Abessinien 1935–1936. In: VfZ, 51 (2003), S. 311–337. 46 Mattioli, Hölle; weitere Beispiele und Literaturangaben bei Lutz Klinkhammer, Mussolinis Italien zwischen Staat, Kirche und Religion. In: Klaus Hildebrand (Hg.), Zwischen Politik und Religion. Studien zur Entstehung, Existenz und Wirkung des Totalitarismus, München 2003, S. 73–90, hier: 88. 47 Vgl. Besier, Die Kirchen und das Dritte Reich. Spaltungen und Abwehrkämpfe 1934– 1937, Berlin 2001, S. 757.

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liche Anwartschaft, bei der politischen und kulturellen Offensive jener konfessionsgeprägten Staaten mitzuwirken, die den göttlichen Auftrag hatten, seinem Stellvertreter auf Erden48 das Regnum Christi zurückzuerobern. Eine solche „Vision“ von christlichem Maximalismus beanspruchte freilich die unbedingte Superiorität der einen „Weltkirche“. Diese Verhältnisbestimmung zwischen einigen ausgewählten europäischen Staaten und der Kirche musste einerseits zu einer gegenseitigen Begünstigung von Papsttum und Faschismus führen, begründete andererseits aber auch die verbissenen Kämpfe im Falle des Aufeinanderstoßens der Macht- und Einflusssphären.49 Solche Konkurrenzen traten besonders auch im Zusammenhang mit Mussolinis Sakralisierung der zeitgenössischen Politik50 sowie den Rivalitäten im semantischen, architektonischen, sakramentalen und volkstümlichen Bereich hervor.51 Beide Seiten nutzten kriegerischmilitärische Metaphern, arbeiteten mit der triumphalen Form kollektiver Mobilisierung, bevorzugten monumentale Bauten und spielten dabei mit ideologischen Synthesekonzepten, deren Realisierung allerdings nur im europäischen Raum möglich schien – Umstände, die das in dieser Hinsicht viel entspanntere Verhältnis zwischen Rom und Washington während der Pacelli-Ära erklären können.52 Immer wieder proklamierte der Vatikan, dass die katholische Kirche keine Staatsform ablehne. „Sie lebt in korrekten und guten Beziehungen zu Staaten der verschiedensten Regierungsformen und der unterschiedlichsten inneren Struktur. Sie hat Konkordate abgeschlossen mit Monarchien, mit demokratisch und mit autoritär geleiteten Staaten“53, führte Pacelli Ende Januar 1934 aus. Entscheidend für das Verhältnis zu diesen Staaten war immer, ob sie der Kirche das Recht einräumten, die Königsherrschaft Christi aufzurichten und sich damit seiner Herrschaft zu beugen – einer Herrschaft freilich, die sich nicht im vagen Raum des Spirituellen bewegte, sondern die stellvertretend und ganz konkret in dieser Welt von der Kirche ausgeübt wurde. Da die Akzeptanz dieser kirchlichen Verhandlungsgrundlage seitens der verschiedenen Staaten auf un48 Es war sinnfällig, dass nach 1929 die vatikanische Goldmünze im Wert von 100 Lire auf der einen Seite das Bildnis des Christus Rex, auf der anderen Seite das Pius’ XI. zeigte. 49 Vgl. Daniele Menozzi, Regalità sociale di Cristo e secolarizzazione. All origini della „Quas Primas“. In: CRST, 16 (1995), S. 79–113; Scoppola, Storiografia, S. 192; Bohn, Das Verhältnis, S. 152 ff. 50 Vgl. Emilio Gentile, The Sacralization of Politics in Fascist Italy, Cambridge 1996. 51 Vgl. De Giorgi, Linguaggi militari. 52 Vgl. Michael Zöller, Washington und Rom. Der Katholizismus in der amerikanischen Kultur, Berlin 1995. 53 Zit. nach Dieter Albrecht (Hg.), Der Notenwechsel zwischen dem heiligen Stuhl und der deutschen Reichsregierung, Band 1: Von der Ratifizierung des Reichskonkordats bis zur Enzyklika „Mit brennender Sorge“, Mainz 1965, S. 69. Am 16. November 1918 wurde im Osservatore Romano ein Brief des Papstes an den Kardinalstaatssekretär veröffentlicht, in dem es heißt: „Kirche [ist] perfekte Gesellschaft, die als einziges Ziel die Heiligung der Menschen aller Zeiten und Länder hat; wie sie sich an die verschiedenen Regierungsformen anpasst, so akzeptiert sie ohne jede Schwierigkeit die legitimen territorialen und politischen Variationen der Völker.“

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terschiedliche Gegenliebe stieß, gelangte der Heilige Stuhl allerdings dann doch zu bestimmten Präferenzen. Diese lagen eindeutig bei den so genannten „Neuen Staaten“ – autoritären Diktaturen in den dominant katholischen Staaten Portugal, Österreich, Polen, Italien und Spanien.

4.

Die „Neuen Staaten“ katholischer Provenienz

4.1.

Portugal

Nach dem Ende der Monarchie und der Bildung einer Republik 1911 folgte Portugal zunächst dem laizistischen Beispiel Frankreichs.54 Die katholische Kirche wurde weithin mit der ungeliebten Monarchie identifiziert und von den Republikanern entsprechend schlecht behandelt. Sie verlor nicht nur ihre privilegierte Stellung, sondern fühlte sich – wie später in Spanien während der Zweiten Republik (1931–1936) – durch die Auswirkungen der 1911 verabschiedeten Trennungsgesetze regelrecht verfolgt. Es kam in Portugal zur Einziehung des kirchlichen Besitzes durch den Staat, die theologische Fakultät an der Universität von Coimbra wurde geschlossen und viele kirchliche Feiertage wurden abgeschafft. Man führte die Ehescheidung ein, nahm der kirchlichen Trauung ihre rechtsverbindliche Kraft und ersetzte sie durch die Ziviltrauung; Prozessionen und andere kirchliche Äußerungsformen wurden durch den Staat eingeschränkt, der Religionsunterricht an den Schulen verboten. Im Vollzug dieser Maßnahmen mussten viele Bischöfe ihre Diözesen verlassen und ins Exil gehen. 1913 brach Portugal schließlich die diplomatischen Beziehungen zum Vatikan ab. Seit 1912 begann eine katholische Studentenbewegung an der Universität Coimbra, das Centro Academica da Demoçracia Cristăo (CADC), gegen die laizistischen Bestrebungen des republikanischen Säkularismus zu opponieren und für die katholischen Interessen im öffentlichen Leben einzutreten. António de Oliveira Salazar (1889–1970) war einer der Köpfe dieser politisch aktiven katholischen Studentenbewegung. Unter dem Motto „Pietät, Studium, Aktion“ trat die CADC für eine konservative Einheitsbewegung, die moralische Regeneration des Landes und die Rechristianisierung Portugals ein. Nach einer kurzen christlich-demokratischen Phase erklärte Salazar, inzwischen Ökonom an der Universität von Coimbra, dass es keine zureichenden Gründe für die parlamentarische Demokratie gebe. Seit 1917 nahm auch eine katholische Partei, das Centro Católico Portuguesa (CCP), an den Wahlen teil und verfügte vor allem im Norden des Landes über ein beträchtliches Wählerreservoir. Wie in anderen Ländern auch erfuhr die katholische Partei Portugals mancherlei Unterstützung durch die katholische Kirche. Die Wahlerfolge und der Eintritt Portugals in den Ersten Weltkrieg 1917 führten zu einem vorsichtigen Modus vivendi zwischen Staat und Kirche. Durch die Marienerscheinungen in 54 Vgl. Tom Gallagher, Portugal. In: Buchanan/Conway, Political Catholicism, S. 128–155.

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dem Ort Fátima zwischen Mai und Juni 1917 kam es zu einer Wiederbelebung der Volksfrömmigkeit.55 1918 wurden wieder diplomatische Beziehungen zum Vatikan aufgenommen. Ein weiteres Zeichen für die katholische Rückgewinnung von Einfluss in der portugiesischen Bevölkerung war die erfolgreiche Gründung der katholischen Tageszeitung Novidades im Jahr 1923. In dieser Zeitung und anderen katholischen Regionalblättern veröffentlichte Salazar seine programmatischen Vorstellungen zur ökonomischen und finanziellen Gesundung Portugals. Ende Mai 1926 beendete ein Militärputsch die Erste Republik. Nach einem Intermezzo als Finanzminister von nur wenigen Tagen im Juni 1926 übernahm Salazar Ende April 1928 noch einmal dieses Ministerium, verschaffte sich schnell die Kontrolle über die Wirtschafts- und Finanzpolitik der Regierung und dirigierte damit faktisch das Kabinett.56 1929 wurde sein alter Freund aus CADC-Zeiten, Manuel Goncalves Cerejeira, Erzbischof von Lissabon. Ohne sich zum Handlanger klerikaler Interessen machen zu lassen, konnte er mit ihm ein Tandem bilden, denn auch Cerejeira lag an der Unabhängigkeit seiner Kirche von dem Regime. 1930 schuf sich Salazar mit der Uniao Nacional das politische Instrument zur Erlangung der Macht; alle anderen politischen Bewegungen, die CCP eingeschlossen, mussten sich auflösen. An der Macht setzte Salazar seine Lehre vom „Finanzausgleich“ und des korporativ strukturierten, starken Staates durch. Aufgrund seiner wirtschaftlichen Erfolge wie seiner Unterstützung durch konservative Kreise wurde er schließlich Anfang Juli 1932 zum Ministerpräsidenten ernannt – eine Funktion, die er bis zu seinem Unfall 1968 innehaben sollte. Salazar nannte sein Regime Estado Novo (Neuer Staat) und gab ihm im Frühjahr 1933 eine ganz auf ihn zugeschnittene Verfassung. In einer manipulierten Volksabstimmung gaben die 1,3 Mio. Wahlberechtigten dieser Verfassung ihre Zustimmung. Neben einem starken Präsidenten und der in ihren Befugnissen stark eingeschränkten Nationalversammlung sah die Verfassung eine Korporativkammer vor, in der die nach Berufszweigen gegliederten „Stände“ als Konsultativorgan saßen. Die traditionellen Mittel des Arbeitskampfes, Streikrecht und Vereinigungsfreiheit waren verboten. Diese korporativistische Staatsidee 55 Vgl. Johannes Maria Höcht, Fatima und Pius XII. Maria Schützerin des Abendlandes. Der Kampf um Russland und die Abwendung des dritten Weltkrieges, Wiesbaden 1959, S. 42 ff. 56 Vgl. zum Folgenden Walther Bernecker/Horst Pietschmann, Geschichte Portugals. Vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart, München 2001; David Birmingham, A Concise History of Portugal, Cambridge 1993; Manuel Braga da Cruz, Der Estado Novo und die katholische Kirche. In: Fernando Rosas (Hg.), Vom Ständestaat zur Demokratie. Portugal im 20. Jahrhundert, München 1997, S. 49–63; Marko Golder/Manuel von Rahden, Studien zur Zeitgeschichte Portugals. Sport- und Jugendpolitik im Estado Novo (1933–1974). Militär und Parteien während der Nelkenrevolution (1974–75), Hamburg 1998; Juan Linz/Alfred Stepan (Hg.), The Breakdown of Democratic Regimes, Baltimore 1978; Walter Opello, Portugal’s Political Development. A Comparative Approach, Boulder 1985; António Costa Pinto, Salazar’s Dictatorship and European Fascism. Problems of Interpretation, New York 1995.

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war das eigentlich Zentrale des Systems. Dahinter stand die Idee eines „Dritten Weges“ und die Absage an eine klassenkämpferische Gesellschaftskonzeption kommunistischer Provenienz ebenso wie an den Individualismus eines liberal-kapitalistischen Systems. Bei der Umgestaltung des Staates berief sich Salazar auf den „ständischen“ Gedanken der katholischen Gesellschaftslehre. Das galt auch für seine Sozialgesetzgebung – festgesetzter Lohn, Arbeitszeit und Jahresurlaub –, bei der er sich ausdrücklich auf die kirchliche Soziallehre meinte stützen zu können. Die „einheitliche und korporative Republik“ wollte alle moralischen und sozialen Interessen der Bevölkerung harmonisieren. Anscheinend entsprachen seine praktischen Umsetzungen dem katholischen Selbstverständnis, denn von dieser Seite erhielt er die deutlichste Unterstützung für sein Staatskonzept. Trotz der formal nicht aufgehobenen Trennung von Staat und Kirche galt das römisch-katholische Bekenntnis als die traditionelle Konfession der portugiesischen Nation. 1933 autorisierte der portugiesische Episkopat die Accao Católico Portugues (ACP), deren vornehmliche Aufgabe wie in anderen Ländern darin bestand, die Gesellschaft zu rechristianisieren. Das Erziehungsministerium überließ Salazar katholischen Aktivisten, die seine Überzeugung teilten, dass Erziehung ein wichtiger Schlüssel für soziale Kontrolle und die Popularisierung traditioneller Werte sei. Anfang Mai 1940 wurden ein Konkordat und ein Missionsabkommen für die Kolonien abgeschlossen. Letzteres verpflichtete die staatlichen Schulen zum Unterricht in katholischer Religion und Sittenlehre. Die Kehrseite dieses Entgegenkommens war – ähnlich wie im Italien Mussolinis – eine strikte Begrenzung des kirchlichen Einflusses auf religiöse Angelegenheiten, während die Entscheidung über nationalpolitische Fragen allein dem Diktator vorbehalten bleiben sollte. Obwohl das Konkordat die Kirche als privilegierte Institution anerkannte, blieb eine Reihe von Gesetzen aus der Ersten Republik in Kraft: Der Religionsunterricht an den Schulen blieb freiwillig, die Ziviltrauung wurde ebenso beibehalten wie die Scheidung und das 1910 durch den Staat eingezogene kirchliche Eigentum wurde nicht zurückerstattet.

4.2

Österreich

Das im Falle Portugals zutage getretene Gedankengut bestimmte auch das Handeln des österreichischen Priesterpolitikers Ignaz Seipel.57 Er wollte ein „christliches“ Regime mit einer „Führerpersönlichkeit“ an der Spitze aufrichten. 1921 hatte der Universitätsprofessor und Prälat Ignaz Seipel den Vorsitz der Christlichsozialen Partei übernommen, koalierte mit den Großdeutschen und dem 57 Vgl Klemens von Klemperer, Ignaz Seipel. Staatsmann einer Krisenzeit, Graz / Wien / Köln 1976, bes. S. 194 f., 212; Friedrich Rennhofer, Ignaz Seipel. Mensch und Staatsmann. Eine biographische Dokumentation, Graz / Wien / Köln 1978; vgl. insgesamt: Günther Schefbeck (Hg.), Österreich 1934. Vorgeschichte – Ereignisse – Wirkungen, München 2004.

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deutsch-nationalen Landbund, lenkte bis 1929, zweimal auch als Bundeskanzler, die Geschicke des Landes und führte einen kompromisslos antimarxistischen Kulturkampf.58 Pius XI. begrüßte in ihm jene starke Führungspersönlichkeit, die er in Deutschland vermisste. Wie Mussolini gehörte Seipel in den Augen des Papstes zu den „Vorherbestimmten [...] von der Vorsehung Erweckten“, die ihre Länder von einem „impotenten Parlamentarismus“ befreiten.59 Ratti sollte sich in Seipel nicht täuschen: Im Zuge der Auseinandersetzungen gewannen dessen antiparlamentarische und antidemokratische Ideen immer mehr die Oberhand. Seipels Ziel bestand in der Errichtung eines Einparteienstaates unter katholischen Vorzeichen.60 Auf große Sympathien stieß Seipel unter anderem in den aus den Frontkämpfervereinigungen entstandenen Heimwehren61, die von Mussolini, aber auch Ungarn62 mit Geld und Waffenlieferungen unterstützt wurden.63 Bei Auseinandersetzungen zwischen Heimwehrmitgliedern und dem sozialdemokratischen Republikanischen Schutzbund 58 Vgl. hierzu und zum Folgenden Irmgard Bärnthaler, Die Vaterländische Front. Geschichte und Organisation, Wien / Frankfurt a. M. / Zürich 1971; Francis L. Carsten, Die erste österreichische Republik im Spiegel zeitgenössischer Quellen, Graz / Wien / Köln 1988; Heinrich Drimmel, Vom Kanzlermord zum Anschluss. Österreich 1934–1938, 2. Auflage Wien 1988; Anton Hopfgartner, Kurt Schuschnigg. Ein Mann gegen Hitler, Graz / Wien / Köln 1989; Ulrich Kluge, Der Österreichische Ständestaat 1934–1938. Entstehung und Scheitern, München 1984; Lucian O. Meysels, Der Austrofaschismus. Das Ende der Ersten Republik und ihr letzter Kanzler, Wien 1992; Arnold Suppan (Hg.), Außenpolitische Dokumente der Republik Österreich 1918–1938, Band 2: Im Schatten von Saint-Germain 15. März 1919 bis 6. September 1919, Wien 1994; Erika Weinzierl, Prüfstand. Österreichs Katholiken und der Nationalsozialismus, Mödling 1988; dies./Kurt Skalnik (Hg.), Österreich 1918–1938. Geschichte der Ersten Republik, 2 Bände, Graz / Wien / Köln 1983; Rolf Steininger/Michael Gehler (Hg.), Österreich im 20. Jahrhundert, Band 1: Von der Monarchie bis zum Zweiten Weltkrieg, Wien 1997, bes. S. 153 ff. 59 Engel-Janosi, Chaos, S. 56 f. 60 Vgl. Ernst Hanisch, Der politische Katholizismus als ideologischer Träger des „Austrofaschismus“. In: Emmerich Tálos / Wolfgang Neugebauer (Hg.), „Austrofaschismus“. Beiträge über Politik, Ökonomie und Kultur 1934–1938, 4. Auflage Wien 1988, S. 53–73. 61 Vgl. Walter Wiltschegg, Die Heimwehr. Eine unwiderstehliche Volksbewegung?, Wien 1985. 62 Vgl. Gabriel Adriányi, Geschichte der katholischen Kirche in Ungarn, Köln / Weimar / Wien 2004, S. 256 ff.; zur Unterstützung der italienisch-ungarischen Beziehungen durch den Vatikan vgl. Kent, Pope, S. 26 ff.; vgl. auch Magda Ádám (Hg.), Allianz Hitler-Horty-Mussolini. Dokumente zur ungarischen Außenpolitik 1933–1944, Budapest 1966. Vgl. auch unten Kapitel 4.4. 63 Vgl. Wolfgang Maderthaner, 12. Februar 1934: Sozialdemokratie und Bürgerkrieg. In: Steininger/Gehler, Österreich im 20. Jahrhundert, Band 1, S. 153–202, bes. S. 158 ff. Zum Konzept der Neuordnung, wie es sich den Heimwehren auf der Führertagung am 18. 5.1930 in Korneuburg darstellte, vgl. das Buch des Wiener Soziologen und Nationalökonomen Othmar Spann (Der wahre Staat. Vorlesungen über Abbruch und Neubau der Gesellschaft, 3. Auflage Leipzig 1931, bes. S. 62, 175 ff., 237 ff.); zur Vorprägung durch Karl von Vogelsang und das ständische Gedankengut vgl. zusammenfassend Ernst Bruckmüller, Die Ständische Tradition – ÖVP und Neokorporatismus. In: Robert Kriechbaumer/Franz Schausberger (Hg.), Volkspartei – Anspruch und Realität. Zur Geschichte der ÖVP seit 1945, Wien / Köln / Weimar 1995, S. 281–316, hier: 282 ff.

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Ende Januar 1927 kamen ein Invalide und ein Kind zu Tode, die sich in der Schutzbundgruppe befanden. Als das Schöffengericht die schuldigen Heimwehrmänner freisprach, rief die sozialdemokratische Arbeiterzeitung zu einer Demonstration vor dem Justizpalast auf. Auf Befehl Seipels schossen Polizei und Armee auf die unbewaffneten Demonstranten. Aufgrund dieser Vorfälle musste sich Seipel schließlich 1929 aus der aktiven Politik zurückziehen, hielt aber im Hintergrund weiterhin die Fäden in der Hand. „Sein Gedankengut bereitete den Austrofaschismus vor“64, urteilt der österreichische Historiker Karl Vocelka und steht damit der These, in Österreich habe sich erst infolge der nationalsozialistischen Bedrohung eine „Abwehrdiktatur“ gebildet, ablehnend gegenüber.65 Bereits die Verfassungsreform von 1929 stärkte die Stellung des Bundespräsidenten zum Nachteil des Parlaments, obwohl die sozialdemokratische Opposition das Ärgste vereitelte.66 Als entscheidende Rückendeckung für seine politischen Vorstellungen interpretierte Seipel die päpstliche Sozialenzyklika „Quadragesimo anno“ vom Mai 1931. Von Krankheit gezeichnet, reiste er im Land umher, propagierte seine ständische Gesellschaftsordnung in Auslegung der Enzyklika und versicherte den „Sturmscharen“, dass ihre Ziele dem päpstlichen Willen entsprächen.67 Nach dem Tod Seipels rückte – auf dessen ideologischer Grundlage – eine neue Generation christlichsozialer Politiker nach – allen voran Engelbert Dollfuß68 und Kurt Schuschnigg69. Dollfuß, der als Student in Wien Othmar Spanns Vorlesungen über die neuromantische ständische Gesellschaftsordnung gehört hatte,70 wurde im Mai 1932 Bundeskanzler, schaltete mit Gewaltmaßnahmen die sozialdemokratische Opposition aus71 und baute, mit Notverordnungen und dem Standrecht regierend, einen autoritären Staat auf, der in der oligarchisch-elitären Maiverfassung von 1934 gipfelte. Auf einer Rede anlässlich des 250. Jahrestages der Befreiung Wiens von der türkischen Belagerung am 11. September 1933 hatte Dollfuß alle Elemente seines Programms genannt: die Herstellung einer „neuösterreichischen Identität“ gegen die Anschlussbestrebungen des „Dritten Reiches“ und die Schaffung eines „sozialen, christlichen, deutschen Staates Österreich auf ständischer 64 So Karl Vocelka, Geschichte Österreichs. Kultur – Gesellschaft – Politik, Graz / Wien/ Köln 2000, S. 276. 65 Vgl. dagegen Gottfried-Karl Kindermann, Österreich gegen Hitler. Europas erste Abwehrfront 1933–1938, München 2003. 66 Vgl. Emmerich Tálos, Das austrofaschistische Herrschaftssystem 1933–1938. In: Maderthaner / Maier (Hg.), „Der Führer bin ich selbst“, S. 103–127, hier: 104; Walter Reich, Die Ostmärkischen Sturmscharen. Für Gott und Ständestaat, Frankfurt a. M. 2000, S. 107 f. 67 Vgl. Reich, Die Ostmärkischen Sturmscharen, S. 112, 116. 68 Vgl. Gudula Walterskirchen, Engelbert Dollfuß. Arbeitermörder oder Heldenkanzler, Wien 2004. 69 Vgl. Karl Schuschnigg, Im Kampf gegen Hitler. Die Überwindung der Anschlussidee, Wien / München 1988. 70 Vgl. Reich, Die Ostmärkischen Sturmscharen, S. 101 ff., hier: 104 f. 71 Vgl. im Einzelnen Maderthaner, 12. Februar 1934. Mussolini riet ihm ausdrücklich zu diesem Schritt. Vgl. Mussolini an Dollfuß vom 1. 7.1933. In: Maderthaner/Maier (Hg.), Führer, S. 23–27, hier: 25.

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Grundlage unter starker, autoritärer Führung“.72 Gleichzeitig erteilte er der parlamentarischen Demokratie eine programmatische Absage: „Das Parlament hat sich selbst ausgeschaltet, ist an seiner eigenen Demagogie und Formalistik zugrunde gegangen. [...] eine solche Volksvertretung, eine solche Führung unseres Volkes wird und darf nie wieder kommen.“73 Zur Umsetzung dieser Vorstellungen hatte es nur eines Vorwandes bedurft, der es Dollfuß erlaubte, die Mechanismen des demokratischen Verfassungsstaates außer Kraft zu setzen. Eine solche Situation – nämlich den geschlossenen Rücktritt des Nationalratspräsidiums im März 1933 – konnte Dollfuß nutzen und einen klerikalen Ständestaat mit autoritärer Führung errichten. Der Weg Österreichs in den „Austrofaschismus“ wurde von der Römisch-katholischen Kirche wohlwollend begleitet und unterstützt.74 Durch die positive Haltung des Vatikans „entstand für weite christlichsoziale Kreise [...] die Fiktion, dass ein radikal ständischer Umbau im Sinne der höchsten Autorität des politischen Katholizismus, nämlich des Papstes, war.“75 Der österreichische Episkopat unterstützte diese Sicht der Dinge. In einem Hirtenbrief der österreichischen Bischöfe vom 21. Dezember 1933 heißt es: „Wenn Wir nun in diesem Hirtenschreiben offen und unzweideutig die Grundideen und Bestrebungen unserer Regierung gebilligt haben, so darf uns daraus nicht etwa der gänzlich unberechtigte Vorwurf einer parteipolitischen Stellungnahme der Kirche gemacht werden. Wir stehen voll und ganz auf dem Boden jener Grundsätze, die Leo XIII. in seinem Rundschreiben vom 10. Jänner 1890 [...] in die Worte gekleidet hat [...] ‚man muss auch in staatlichen Angelegenheiten, die vom Sittengesetz und von der Religion nicht getrennt werden können, beständig und vorzugsweise im Auge behalten, was den Interessen des Christentums förderlich ist‘.“76

Mitte April 1933 war Dollfuß nach Rom gereist,77 die österreichische Verhandlungsdelegation unter Schuschnigg, dem Reichsführer der „Ostmärkischen Sturmscharen“78, folgte kurz darauf nach, um mit den „persönlichen Vertrauensmännern“ Pacellis79, Weihbischof Franz Kamprath und Alois Hudal,80 zu verhandeln. Pfingsten 1933 kam es zum Abschluss des Konkordats.81 Für den 72 Zit. nach Maderthaner, 12. Februar 1934. In: ders. / Maier (Hg.), Führer, S. 163. 73 Zit. nach Helmut Wohnout, Regierungsdiktatur oder Ständeparlament? Gesetzgebung im autoritären Österreich, Wien / Köln / Weimar 1993, S. 430. 74 Es gab freilich auch gegenläufige Trends. Vgl. dazu Hanisch, Ideologie, S. 26 ff. 75 Wohnout, Regierungsdiktatur, S. 428. 76 Wiener Diözesanblatt, Nr. 12 vom 21.12.1933, S. 104. 77 Vgl. Josef Kremsmair, Der Weg zum österreichischen Konkordat von 1933/34, Wien 1980, S. 291 ff.; zum Verhältnis Mussolini – Dollfuß vgl. Maderthaner/Maier (Hg.), Führer. 78 Vgl. Reich, Die Ostmärkischen Sturmscharen, bes. S. 202 ff. 79 Kremsmair, Konkordat, S. 293. 80 Als Anerkennung für sein Bemühen um das Zustandekommen des Konkordats wurde Hudal 1933 zum Bischof ernannt (Kremsmair, Konkordat, S. 304); vgl. auch Philippe Chenaux, Pacelli, Hudal et la question du nazisme (1933–1938). In: Rivista di storia della Chiesa in Italia, 57 (2003), S. 133–154. 81 Text: AAS, 26 (1934), S. 249 ff.; vgl. Klaus Scholder, Österreichisches Konkordat und nationalsozialistische Kirchenpolitik 1938/39. In: ZevKR, 20 (1975), S. 230–243; s.

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schul- und kultusrechtlichen Teil hatten die Konkordate mit Bayern, Preußen, Baden und Italien als Vorbild gedient. Die eherechtlichen Bestimmungen, etwa die Anerkennung der kirchlich geschlossenen Ehen durch den Staat, standen im Zentrum der vatikanischen Interessen und folgten dem Lateranvertrag.82 Die Kirche war nunmehr im Bundeskulturrat und in den Landtagen vertreten, der Kirchenaustritt wurde durch gesetzlichen Zwang behindert.83 Am 1. Mai 1934, dem Tag der Auflösung des Mehrparteiensystems in Österreich, „wurde auch das Konkordat [... ratifiziert], das nicht zuletzt der Preis für die Unterstützung der Kirche für das austrofaschistische System war.“84 In den gegenseitigen Dankadressen von Dollfuß und Pacelli anlässlich der Ratifizierung des Vertragswerkes kam nicht nur das Einvernehmen, sondern auch die Basis dieses Einvernehmens zum Ausdruck. Dollfuß bedankte sich bei dem Kardinalstaatssekretär mit den Kernsätzen: „In dem Augenblicke des Inkrafttretens des Konkordates, dessen Auswirkungen der Wohlfahrt unseres Landes im höchsten Maße dienen werden, bitte ich Eure Eminenz, meinen ehrfurchtsvollsten Dank für die verständnisvolle und tätige Mitarbeit an dem glücklichen Zustandekommen dieses mir so am Herzen liegenden Werkes entgegennehmen zu wollen.“85 Und Pacelli replizierte: „Die innere Hingabe und die wahrhaft staatsmännische Weisheit, mit der Euer Exzellenz sich in bedeutsamer und schwerer Zeit dem Zustandekommen dieses großen Werkes widmeten, mit dem Österreich seine staatliche Aufbauarbeit bewusst auf den Boden traditioneller Treue zu Christus und seiner Kirche stellt, ist der freudigen Zustimmung aller derer sicher, die in vertrauensvollem und harmonischem Wirken von Kirche und Staat die beste Gewähr für das wahre Wohl der Völker sehen.“86 Ernst Hanisch verweist darauf, dass der Ständestaat sowohl auf faschistischem Gedankengut als auch auf den „Traditionen des spezifisch österreichischen Autoritarismus“ basiert habe.87 Wolfgang Maderthaner sieht den Versuch einer Verknüpfung von „wesentliche[n] Elemente[n] faschistischer Ideologie

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auch den kritischen SD-Bericht „Kirchenstaat Österreich“, Bundesarchiv (BA), ZB I 1653, Bl. 387–391. Darin ist von einer „Klerikalisierung des gesamten staatlichen Lebens“ die Rede (ebd., Bl. 391). Vgl. Engel-Janosi, Chaos, S. 133. Vgl. Tálos, Herrschaftssystem, S. 121. Am 30.11.1933 fasste die österreichische Bischofskonferenz einen Beschluss bezüglich der politischen Betätigung des Klerus. Danach war es den Geistlichen auf allen Ebenen untersagt, politische Mandate innezuhaben und sich politisch zu betätigen. Wiener Diözesanblatt, Nr. 12 vom 21.12.1933, S. 99. So Vocelka, Geschichte Österreichs, S. 293, zu den Nachbesserungen, Korrekturen und Turbulenzen zwischen Unterzeichnung und Ratifizierung des Konkordats vgl. Kremsmair, Konkordat, S. 299 ff. Das Konkordat. In: Wiener Diözesanblatt, Nr. 4 vom 7. 5.1934, S. 27. Ebd., S. 28. Ernst Hanisch, Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert, Wien 1994, S. 314 f.

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mit katholischem Klerikalismus“88. Dieter A. Binder spricht davon, „dass hier eine Gleichsetzung von ‚absolutistischem Gottesgnadentum‘ und ‚staatstragender Bürokratie‘ leitmotivisch intendiert“ gewesen zu sein schien.89 Dollfuß’ Zeitgenosse, der aus Graz stammende und in Rom lebende Bischof Alois Hudal, brachte das Konkordat in Zusammenhang mit dem christlichen Ständestaat. 1935 schrieb er: „Dieses Konkordat findet [...] in gewisser Hinsicht seine Ergänzung und Vertiefung durch den Neuaufbau des Staates aus dem Ideal christlicher Ständeorganisationen, in dem die Schattenseiten der Demokratie und Überspitztheiten des Totalitätsstaates in kluger Weise durch einen goldenen Mittelweg vermieden werden können.“90 Österreich sollte Ausgangspunkt und Zentrum einer katholischen Restauration in Mitteleuropa werden, sollte die Rekatholisierung des Kontinents einleiten.91 Auch wenn der berufsständische Aufbau in Wahrheit über marginale Ansätze nicht hinauskam, manifestierte er doch einen geradezu transzendentalen Anspruch: Dieser katholische Musterstaat leitete seine Verfassung aus den päpstlichen Enzykliken ab. In Wirklichkeit propagierte er eine vormoderne ständische Utopie mit faschistischen Zügen.

4.3

Polen

Auch Polen gehörte zu den „Neuen Staaten“ mit katholischen Ständeidealen. In der 1921 verabschiedeten polnischen Staatsverfassung definierte sich die Zweite Polnische Republik in hohem Maße als national und katholisch, wobei letzteres zunehmend die Überhand gewann.92 Das Mitte Februar 1925 unterzeichnete Konkordat privilegierte die katholische Kirche vor allen andern Konfessionen, bekräftigte die engen Beziehungen zwischen Staat und Kirche und machte den Religionsunterricht für alle öffentlichen Schulen zur Pflicht.93 In keinem anderen Land Mittel- und Ostmitteleuropas besaß die katholische Kirche solche Einflussmöglichkeiten wie in Polen. Nach dem Staatsstreich Józef Piłsudskis Mitte Mai 1926 („Marsch auf Warschau“) näherte sich die ideologisch-politische Konzeption der Nationaldemokratie immer mehr dem katholischen Standpunkt an, die Angelegenheiten der Nation wurden nunmehr den Gesetzen einer thomistisch bestimmten katholischen Ethik untergeordnet. Unter den „jungen“ katholischen Nationalisten ging – mit positiver Konnotation – Anfang der 30er Jahre schließlich die Parole vom „neuen Mittelalter“ um, die 88 Maderthaner, Legitimationsmuster des Austrofaschismus. In: ders./Maier (Hg.), „Der Führer bin ich selbst“, S. 131–157, hier: 142. 89 Dieter A. Binder, Der „Christliche Ständestaat“. Österreich 1934–1938. In: Steininger / Gehler (Hg.), Österreich im 20. Jahrhundert, S. 203–243, hier: 211. 90 Hudal, Vatikan, S. 12. 91 Vgl. Hanisch, Katholizismus, bes. S. 53 ff. 92 Vgl. Jerzy Topolski, Polska dwudziestego wieku: 1914–1997, 3. Auflage Poznan 1998, S. 73. 93 Vgl. Ute Caumanns, Die polnischen Jesuiten, der Przegląd Powszechny und der politische Katholizismus in der Zweiten Republik, Dortmund 1996, bes. S. 66 ff.

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Losung von der Bildung eines „Katholischen Staates Polnischer Nation“.94 Diese Katholisierung der polnischen Nationalideologie brachte der deutschen katholischen Minderheit jedoch keine spürbaren Erleichterungen. Piłsudski selbst, der 1899 zum Luthertum konvertiert war95 und bis 1916 der Evangelisch-Augsburgischen Kirche96 angehört hatte, blieb, wie die Mehrheit der Obristen, religiös eher indifferent, wenngleich nach außen hin ein anderer Eindruck erweckt werden sollte.97 Die kultische Verehrung um seine Person, die der von Mussolini und später Hitler oder Franco in nichts nachstand, wurzelte denn auch weniger in den katholischen Überzeugungen Piłsudskis als in dessen militärischen und politischen Taten. So schrieben seine Anhänger die Staatsgründung und den Sieg Polens über die Rote Armee 1920 allein dem Genie ihres „Führers“ zu und werteten den Maiumsturz 1926 als weiteres zentrales Grunddatum für die Wiederherstellung von Ruhm, Größe und Stärke des polnischen Staates.98 Auch die rücksichtslose Ausschaltung der parlamentarischen Opposition 1930 war ein Bestandteil des Piłsudski-Mythos. Nach dem deutsch-polnischen Abkommen vom 26. Januar 193499 schloss sich die nationalsozialistische Führung dem polnischen Piłsudski-Bild an. Im Geleitwort des preußischen Ministerpräsidenten Hermann Göring zur autorisierten deutschsprachigen Piłsudski-Biographie „Erinnerungen und Dokumente“ heißt es: „In selbstloser und äußerster Hingabe hat Marschall Piłsudski für sein Vaterland gearbeitet. In mythischer Größe ist er schon zu Lebzeiten in die Geschichte seines Vaterlandes eingegangen. Das heutige Polen wäre nicht ohne Piłsudski. [...] Josef Piłsudski war aber auch der Mann, der mit dem deutschen Führer und Kanzler die Voraussetzungen und Grundlagen schuf, auf denen zum Segen unserer Nationen und darüber hinaus zur Erhaltung des Friedens der Welt weitergebaut werden konnte und weitergebaut wird.“100

Das im Unterschied zum Heiligen Stuhl nationalkatholische Verständnis der polnischen Regierung wie der polnischen Geistlichkeit kam u. a. auch dadurch 94 Bogumil Grott, Polnische Parteien und nationalistische Gruppen in ihrem Verhältnis zur katholischen Kirche und zu deren Lehre vor dem Zweiten Weltkrieg. In: ZfO, 45 (1996), S. 72–88, hier: 81 f. 95 Vgl. Józef Warszawski, Piłsudski a religia, 2. Auflage Warszawa 1999. 96 Vgl. Eduard Kneifel, Geschichte der Evangelisch-Augsburgischen Kirche in Polen, Niedermarschacht 1962, bes. S. 203 ff. 97 Vgl. Jerzy Kochanowski, Horthy und Piłsudski – Vergleich der autoritären Regime in Ungarn und Polen. In: Erwin Oberländer (Hg.), Autoritäre Regime in Ostmittel- und Südosteuropa 1919–1944, Paderborn 2001, S. 19–94, hier: 90 f. Doch die katholische Kirche ließ sich nicht täuschen. Die Frage, ob Piłsudski denn wirklich katholisch sei, führte im Zusammenhang mit seiner Beisetzung zu Konflikten mit dem Krakauer Erzbischof Adam Sapieha. Vgl. Gazeta Wyborcza vom 27. 8. 2004, S. 16. 98 Vgl. Heidi Hein, Der Piłsudski-Kult und seine Bedeutung für den polnischen Staat 1926–1939, Marburg 2002, S. 319. 99 Vgl. Albert Kotowski, Hitlers Bewegung im Urteil der polnischen Nationaldemokratie, Wiesbaden 2000, S. 126 ff. 100 Wacław Lipiński, Josef Piłsudski. Erinnerungen und Dokumente. Von Josef Piłsudski, dem Ersten Marschall von Polen persönlich autorisierte deutsche Gesamtausgabe, 2 Bände, Essen 1935.

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zum Ausdruck, dass die Forderungen der kleinen Minderheit deutscher Katholiken im Posener Land und in Mittelpolen hinsichtlich der Erhaltung ihrer kulturellen Eigentümlichkeiten kaum Unterstützung fanden.101 In dem Polen zugeteilten Gebiet Oberschlesiens lebte immerhin eine Viertelmillion römischer Katholiken deutscher Sprache.102 Ähnlich erging es den litauischen Katholiken im Gebiet um Wilna, wo sie die Mehrheit der Bevölkerung stellten.103

4.4

Ungarn

Mit Recht ist Piłsudskis autoritäres Regime in Polen mit dem des Reichsverwesers Miklós Horthy (1920–1944) in Ungarn verglichen worden.104 Der katholische Fürstprimas János Csernoch richtete an Horthy folgende Botschaft: „Die ungarische katholische Kirche unterstützt mit ihrer traditionellen Treue und mit ihrer großen moralischen Macht in Ihrer Exzellenz die gesetzliche Staatsgewalt, ist in Treue und Liebe der hohen Person Ihrer Exzellenz zugetan und bittet um Ihren wirksamen Schutz.“105 Horthy, übrigens kalvinistischer Herkunft, sicherte den erbetenen Schutz zu und bekräftigte, dass „die religiöse und moralische Grundlage“ der Kirche „die einzige Basis für den Wiederaufbau unseres armen Vaterlandes“ sei. So legitimierte für ein Vierteljahrhundert das kirchliche Wohlwollen die autoritäre Diktatur wie umgekehrt das Regime in seiner rechtsautoritären Grundhaltung nicht nur den „christlichen Werten“ Rückhalt gab, sondern den Episkopat auch politisch stärkte, indem dieser etwa Plätze im Oberhaus des Parlaments erhielt. Der niedere Klerus war in der Legislative durch zehn bis zwölf Abgeordnete vertreten. In der Kommunalverwaltung waren ebenfalls zahlreiche Priester tätig. Die Ministerämter für Volksverpflegung 101 Vgl. Joachim Rogall, Die Deutschen im Posener Land und in Mittelpolen, München 1993, S. 137, 140; Martin Scheuermann, Minderheitenschutz contra Konfliktverhütung? Die Minderheitenpolitik des Völkerbundes in den zwanziger Jahren, Marburg 2000, S. 22 ff., 88 ff. 102 Vgl. Oskar Wagner, Zwischen Völkern, Staaten und Kirchen. Zur Geschichte des Protestantismus in Ostmitteleuropa, Berlin (West) 1986, S. 134; zum Status deutschstämmiger Katholiken in Polen vgl. Archives of the League of Nations (LON), Geneva, R 3906, 41/5154/560 und R 3906, 41/6274/560. 103 Vgl. Stanislaw Wilk, Der Heilige Stuhl und die Staaten Ostmitteleuropas nach dem 1. Weltkrieg (Abriss der Problematik). In: Jerzy Kloczowski u. a. (Hg.), Churches in the Century of the Totalitarian Systems, Band 2, Lublin 2001, S. 247–259, hier: 258; zur weiteren Entwicklung vgl. auch Hoover Institution Archives, Poland. Ambasada (Catholic Church), Records, 1924–1945. 104 Vgl. Jerzy Kochanowski, Horthy und Piłsudski – Vergleich der autoritären Regime in Ungarn und Polen. In: Erwin Oberländer (Hg.), Autoritäre Regime in Ostmittel- und Südosteuropa 1919–1944, Paderborn 2001, S. 19–94. 105 Zit. nach ebd., S. 89; s. auch Norbert Spannenberger, Die katholische Kirche in Ungarn in ihren nationalen und gesellschaftlichen Bedeutungen 1919–1939. In: HansChristian Maner/Martin Schulze Wessel (Hg.), Religion im Nationalstaat zwischen den Weltkriegen 1918–1939. Polen – Tschechoslowakei – Ungarn – Rumänien, Stuttgart 2002, S. 157–175, bes. 165 f., 169.

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bzw. Kultus und Unterricht hatten über Jahre hinweg Geistliche inne. Faktisch räumte man der Römisch-katholischen Kirche, der 62,8 Prozent der Bevölkerung angehörten, die Stellung einer Staatskirche ein. Staat und Kirche waren sich in der antirevolutionären, „nationalpolitischen“ Zielsetzung ganz einig: Es ging um die Schaffung eines einheitlichen, christlichen Magyarentums, um die Einheit von Konfession und Nation und die Revision des Friedensvertrages von Trianon.106 Da die Kirche zu den größten Grundbesitzern des Landes gehörte, wurde mit Rücksicht auf sie die Agrarreform deutlich abgemildert. Nahezu die Hälfte des Unterrichtswesens befand sich in katholischer Hand. Schließlich zeigt die Ausrichtung des XXXIV. Eucharistischen Weltkongresses 1938 in Budapest das hohe Interesse Horthys an einer optimalen Gestaltung des Staat-Kirche-Verhältnisses. Nicht zuletzt spielte die propagandistische Bedeutung der Veranstaltung für Horthy eine so wichtige Rolle, dass er den Ministerpräsidenten Darányi gegen einen „katholischen Kabinettschef“ austauschte. Im Klerus wie unter katholischen Intellektuellen trug die Enzyklika Quadragesimo anno „durch die Einengung des Spektrums möglicher Interpretationen von Rerum novarum zum Anschluss der Amtskirche an den nationalen Konservatismus der politischen Einrichtung bei“107. In einem Rundschreiben erklärte die Ungarische Bischofskonferenz, wie die päpstlichen Äußerungen umgesetzt werden sollten. Ihre Ausführungen entsprachen ganz den korporatistischen Vorstellungen des katholischen Ständestaates.108 Während des Zweiten Weltkrieges verschlechterte sich dann allerdings das Staat-Kirche-Verhältnis beträchtlich, weil der Klerus die Judenverfolgungen kritisierte und den Verfolgten Hilfe leistete.109 Doch die kirchliche Unterstützung im Vorfeld hatte auch diesen Staat nachhaltig mit geprägt. Im Zentrum des Horthy-Regimes stand die Pflege eines ungarischen Nationalismus und eines superioren Kulturdünkels. Dieser umfasste auch einen neuen „christlichen Nationalismus“110. Die Kirche protestierte auch nicht, als am 1. Oktober 1932 Gyulu Gömbös die Regierung übernahm. Er besaß in der Armeeführung einen star106 Vgl. Éva Mártonffy-Petrás, Eine Alternative zum politischen Katholizismus: Die Rezeption der Soziallehre im Kreise der katholischen Intelligenz Ungarns in den dreißiger Jahren. In: Maner/Schulze Wessel, Religion im Nationalstaat, S. 199–219, hier: 206; Anikó Kovács-Bertrand, Der ungarische Revisionismus nach dem Ersten Weltkrieg. Der publizistische Kampf gegen den Friedensvertrag von Trianon (1918–1931), München 1997. 107 So Mártonffy-Petrás, Politischer Katholizismus, S. 208 f. 108 Vgl. ebd., S. 211. 109 Vgl. Gabriel Adriányi, Geschichte der katholischen Kirche in Ungarn, Köln 2004, S. 270 ff.; Rolf Fischer, Entwicklungsstufen des Antisemitismus in Ungarn 1878–1939. Die Zerstörung der magyarisch-jüdischen Symbiose, München 1988, S. 181–193, hier: 192; Robert A. Graham, Die diplomatischen Aktionen des Heiligen Stuhls für die Juden in Ungarn im Jahr 1944. In: Herbert Schambeck (Hg.), Pius XII. zum Gedächtnis, Berlin (West) 1977, S. 191–226. 110 Vgl. insgesamt Árpád von Klimó, Nation, Konfession, Geschichte. Zur nationalen Geschichtskultur Ungarns im europäischen Kontext (1860–1948), München 2003, bes. S. 212–277.

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ken Rückhalt, war selbst Offizier und hatte sich bei der Leitung der Sonderkommandos einen legendären Ruf als konsequenter Kämpfer für einen rechtsradikalen Kurs erworben. Gömbös wollte in Ungarn eine totalitäre faschistische Diktatur nach italienischem und deutschem Vorbild aufbauen. Einen ersten Höhepunkt hatte die faschistische Bewegung bereits in den Jahren zwischen 1919 und 1922 gehabt, um dann zu stagnieren. Sie hatte ihr Hauptzentrum im Süden, wo ihre Mitglieder als „Szegeder Faschisten“ bekannt wurden. Gömbös gründete eine faschistische Jugendorganisation, eine neue Kaderorganisation und eine politische Miliz. Unter dem Einfluss des Nationalsozialismus wuchs die Bewegung in den folgenden Jahren rasch an. Aufgrund des plötzlichen Todes Gömbös’ am 6. Oktober 1936 zerschlugen sich die Pläne zur Errichtung einer totalitären Diktatur. Neben Gömbös’ Bewegung gab es eine ganze Reihe weiterer rechtsradikaler bzw. nationalsozialistisch orientierter Organisationen, die in den 30er Jahren aus dem Boden schossen. Die wichtigste war die hungaristische Pfeilkreuzler-Bewegung des praktizierenden Katholiken Ferenc Szálasi.111 In diesen Organisationen tauchte als Emblem das Pfeilkreuz auf, die Anhänger trugen grüne Hemden. Hier wurden Pläne von einem karpathodanubischen Großen Vaterland geschmiedet, in das die früheren zu Ungarn gehörenden Ethnien mit einer gewissen Autonomie integriert werden sollten (konnacionalizmus). Dieses Großreich sollte gleichberechtigt neben dem faschistischen Italien und dem nationalsozialistischen Deutschland als dritte totalitäre Diktatur etabliert werden. Das Totalitätsstreben der Kirchen auf religiösem Gebiet wurde vollkommen akzeptiert, nicht jedoch eine „politisierende Kirche“, die sich in weltliche Geschäfte einmischen wollte.112 Verschiedene Konkordatsentwürfe trugen diesen Grundsätzen Rechnung.113

4.5

Spanien

Nach dem Sieg der verbündeten Sozialisten und Republikaner bei den Gemeindewahlen in Spanien Mitte April 1931 trat König Alfons XIII., der die Restaurationsmonarchie repräsentiert hatte, zurück. Kurz darauf wurde die Zweite Spanische Republik ausgerufen. Neben der Demokratisierung der Gesellschaft bildete die strikte Trennung von Staat und Kirche den entscheidenden Ansatz für die Modernisierungspläne der Republikaner.114 In der Anfang Dezember 1931 verabschiedeten Verfassung hieß es eindeutig: „Der spanische Staat hat 111 Vgl. Margit Szöllösi-Janze, Die Pfeilkreuzlerbewegung in Ungarn. Historischer Kontext, Entwicklung und Herrschaft, München 1989, S. 231 f. In Szálasis System des Hungarismus bildete „das Christentum, die christliche Nation und ihre gesetzlich geregelte Verbindung zu den Amtskirchen“ eine wichtige Rolle. Vgl. ebd., S. 230. Sein Ziel war eine klassenlose hungaristische Volksgemeinschaft. 112 Vgl. ebd., S. 231. 113 Vgl. ebd., S. 232. 114 Vgl. Tilman Tobias Klinge, Katholizismus und konservative Politik in Spanien bis zum Bürgerkrieg (1812–1936), Hildesheim 1998, S. 193 ff.

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keine offizielle Religion.“ Dadurch verlor die Kirche ihre Stellung als Staatsreligion, erhielt auch keinen Körperschaftsstatus mehr, sondern wurde – mit Beifall der protestantischen Minorität115 – allen anderen religiösen Bekenntnissen gleichgestellt und als Verein eingestuft.116 Gewissens- und Kultusfreiheit wurden garantiert. Der Staat gewährte den Kirchen, religiösen Vereinen und kirchlichen Einrichtungen keine Staatszuschüsse und sonstigen Vergünstigungen mehr.117 Darüber hinaus drohte er, alle Orden aufzulösen und ihnen den wirtschaftlichen Erwerb zu verbieten. Tatsächlich wurde der Jesuitenorden schon im Januar 1932 aufgelöst, die anderen Orden wurden den Steuergesetzen unterworfen und den Kirchen ihre bisherigen Einwirkungsmöglichkeiten beschnitten. So erklärte der Staat die „nationale Bildung“ zu seiner eigenen Aufgabe, betonte den weltlichen Charakter der Schule und schloss die religiösen Orden aus dem Unterrichtswesen aus. Gegen diese liberalen Verfassungsgrundsätze gab es eine mächtige Opposition innerhalb der ihrer Privilegien beraubten Kirche. An ihrer Spitze stand Kardinal Pedro Segura, der als Erzbischof von Toledo zugleich Primas der spanischen Kirche war. Wegen seiner monarchistisch geprägten Opposition gegen die Republik – er war persönlich mit Alfonso XIII. befreundet118 – musste er Mitte Mai 1931 Spanien verlassen, betrieb aber von Rom aus weiter seine Agitationen und suchte den spanischen Episkopat gegen die legale Regierung einzunehmen. In mehreren Rundschreiben verwarf er – unter Verweis auf Quas Primas (1925) – den Laizismus des Staates und verurteilte auch – unter Berufung auf die Enzyklika Immortale Dei von Leo XIII. (1885) und Ubi arcano (1922) von Pius XI. – die säkulare Staatslehre, wonach der Ursprung der Macht vom Volke ausgehe. Schließlich rief er die Katholiken zu einer verstärkten Propagandatätigkeit gegen die Republik auf. Auf Druck der Regierung und des Vatikans sah sich Segura im September 1931 gezwungen, freiwillig auf sein Amt zu verzichten. Sein Nachfolger, Kardinal Gomá y Tomás, galt ebenfalls als entschiedener Gegner der Republik und Befürworter des Franco-Putsches, den er für gottgewollt hielt.119 Schon bei der ersten Rebellion gegen die Republik am 10. August 1932 gab es Vermutungen, dass Teile des Klerus an der Konspiration beteiligt waren, obwohl die Kirche sie öffentlich verurteilte.120 Wie sehr sich die Kirche insgesamt in einer Abwehrsituation gegen das laizistische, antiklerikale Regime sah, 115 Vgl. Besier, Confessional versus Ideological Convictions: The Fliednersche Evangelisationswerk and the Ecclesiastical Foreign Office of the German Protestant Church During the Spanish Civil War. In: KZG, 15 (2002), S. 509–518. 116 Vgl. Callahan, The Catholic Church in Spain, S. 286 f., 291 ff. 117 Vgl. Walther L. Bernecker/Horst Pietschmann, Geschichte Spaniens, 3. Auflage Stuttgart 2000, S. 294 ff.; Helmut Altrichter/Walther L. Bernecker, Geschichte Europas im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2004, S. 126 ff. 118 Vgl. William J. Callahan, The Catholic Church in Spain, 1875–1998, Washington DC 2000, S. 227. 119 Vgl. Mary Vincent, Spain. In: Buchanan/Conway, S. 97–128, hier: 118; Bernecker/ Pietschmann, Spanien, S. 307 (Hirtenbrief vom Dezember 1931). 120 Vgl. Callahan, Catholic Church in Spain, S. 299 f.

„Berufsständische Ordnung“ und autoritäre Diktaturen

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kommt in der Deklaration zur Ley de Confessiones y Congregationes121 vom 25. Mai 1933 und in der Enzyklika Dilectissima nobis122 vom 3. Juni 1933 zum Ausdruck. In der Enzyklika verglich Pius XI. die Situation der Kirche in Spanien mit der in Mexiko und in Sowjetrussland. Im Februar 1933 gelang es dem Führer der ganz aus der katholischen Protestbewegung entstandenen Acción Nacional, José María Gil Robles (1898– 1980), „alle Kräfte, die die Grundsätze der katholischen Soziallehre (Religion, Familie, Besitz und Ordnung) verteidigen, in einer Organisation zu vereinen“123 – der Confederación Española de Derechas Autónomas (CEDA). Im Programm dieses katholisch-konservativen Wahlbündnisses heißt es, sein prinzipielles Ziel und der fundamentale Grund seiner Existenz sei es, für die Herrschaft der christlichen Grundsätze im öffentlichen Recht und in der Regierung des Staates zu sorgen.124 Bei mehreren Erkundungsreisen nach Italien und Deutschland studierten die CEDA-Propagandisten, darunter auch Robles, die faschistischen bzw. nationalsozialistischen Methoden der Massenmobilisierung. Ihre Kampagne richtete sich vornehmlich gegen die Sozialistische Partei als der wichtigsten Repräsentantin der verhassten Republik und stand unter der Parole „Erlösung oder Revolution“.125 Aus den Wahlen vom November 1933 ging die CEDA als nunmehr stärkste Gruppierung der Cortes hervor. Nach dem Machtverlust der Linken suchte sie ihr katholisch-korporatistisches Staatsideal aufzurichten. „In the wake of the impetus provided by Quadragesimo anno, Catholic intellectuals spent much more time on corporative theory and the practical examples offered by the new European dictatorships.“126 Im Oktober 1934 forderte die Jugendbewegung der Acción Popular de España auf dem Deckblatt ihrer Zeitschrift: „Wir wollen einen neuen Staat.“ Die ebenfalls publizierten 19 Programmpunkte der Bewegung schlossen dezidiert eine „Erklärung zugunsten des Antiparlamentarismus“ ein.127 Im Zusammenhang mit der Niederschlagung des revolutionären Streiks in Madrid, Sevilla und in anderen Großstädten bewährte sich der Schulterschluss der CEDA mit den Militärs, die Jugendorganisation leistete Streikbrecherdienste.128 Innerhalb der CEDA orientierten sich viele an Dollfuß’ Österreich. Dessen Vorgehen gegen die Sozialdemokratie im Februar 1934 wurde in CEDA-Kreisen lebhaft begrüßt. Die katholische Presse, so berichtete die vatikanorientierte Madrider Zeitung El Debate, sprach von „einem Lehrstück für uns alle“.129 Ihr Herausgeber, Angel Herrera Oria, war zugleich 121 Vgl. Metropolitanos españoles a los fieles vom 25. Mai 1933. In: Jesús Iribarren (Hg.), Documentos colectivos del episcopado español, 1870–1974, Madrid 1974, S. 190 f., 193; Bernecker, Religion in Spanien, S. 89, 552–598. 122 Text: AAS, 25 (1933), S. 261–274. 123 Revista Social y Agraria vom 31.10.1933. 124 Vgl. Vinzent, Spain, S. 110. 125 Ebd. 126 Ebd., S. 112. 127 Ebd., S. 113. 128 Vgl. Klinge, Katholizismus, S. 203. 129 El Debate, 14.–17. Februar 1934.

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Präsident der Katholischen Aktion Spaniens und hatte sich dem Kampf gegen die „legalen Aggressionen“ der Republik verschrieben.130 Der CEDA-Agrarminister Giménez Fernández plante eine Agrarreform im Lichte von Quadragesimo anno. Wichtiger als die Enteignung der Großgrundbesitzer war ihm eine „moralische Reform“. Diese sollte den Großgrundbesitzern ihre GemeinwohlVerpflichtung vor Augen führen und die Landlosen dazu anhalten, sich mit Pachtverträgen zu begnügen, so dass die tatsächlichen Besitzverhältnisse keine Änderung erfahren hätten. Hinter solchen Überlegungen standen korporatistische Staatsideale, die auch der CEDA als einzig gangbarer Weg zwischen den unmöglichen Alternativen von Kapitalismus und Kommunismus erschienen. Unter diesen Umständen musste die Agrarreform zum Fiasko werden. Frühere Reformen wurden außer Kraft gesetzt, bereits angesiedelte Landarbeiter von den Grundbesitzern mit Gewalt wieder vertrieben. Nicht die politisch unbedeutende Falange Española, die sich 1934 mit den sektiererischen nationalsyndikalistischen Angriffsgruppen (JONS) zusammengeschlossen hatte, galt auf der Linken als die spanische Form des Faschismus, sondern die Bewegung von Gil Robles. Seine Partei propagierte nicht nur einen „Neuen Staat“ berufsständischer Ordnung, sondern zeigte mit ihrer uniformierten Jugendorganisation, den Aufmärschen und dem halbfaschistischen Armgruß eben auch eine beachtliche Nähe zu dem italienischen und deutschen Vorbild. Nach der blutigen Niederschlagung regionaler Arbeiteraufstände im Herbst 1934131 und der Suspendierung des katalanischen Autonomiestatuts schloss sich die Linke 1935 – dem Vorbild des Rassemblement Populaire in Frankreich folgend – wieder zu einer Volksfrontkoalition zusammen und gewann mit überwältigender Mehrheit die Wahlen vom Februar 1936. Robles forderte den Ministerpräsidenten auf, sofort das Kriegsrecht auszurufen. Als Alcalá Zamora sich weigerte, begrüßte Robles die aufständischen Militärs offen als Ordnungsmacht.132 In den ersten Monaten nach der Machtübernahme kam es zu erheblichen Ausschreitungen gegen Bischöfe, Priester und Ordensleute, die als Feinde der Republik angesehen wurden. Aber auch Franco scheute sich nach seinem Putsch nicht, separatistisch gesonnene baskische Geistliche hinrichten zu lassen,133 obwohl er seinen Aufstand als Kreuzzug „für die Erhaltung der christlichen Zivilisation“ interpretierte. Nach den Worten Kardinal Gomás konnte der ausgebrochene Bürgerkrieg „nicht durch einen Kompromiss, durch ein Arrangement oder durch Versöhnung beendet werden. [...] Eine Pazifizierung ist nur durch Waffen möglich.“134 Die Kirche sanktifizierte die Militärrevolte und gab den Aufständischen jede erdenkliche Unterstützung.135 In einem Hirtenbrief 130 131 132 133 134

Callahan, Catholic Church, S. 314. Vgl. ebd., S. 320 f. Vgl. Klinge, Katholizismus, S. 209. Vgl. Callahan, Catholic Church, S. 355 f. Gomas Votum vor dem Internationalen Eucharistischen Kongress in Budapest (Mai 1938), zit. nach J. Chao Rego, La iglesia en el franquismo, Madrid 1976, S. 35. 135 Vgl. Callahan, Catholic Church, S. 344 ff.

„Berufsständische Ordnung“ und autoritäre Diktaturen

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über die „Zwei Städte“ sakralisierte Gomá den Konflikt, indem er die Franquisten als Kämpfer für die himmlische Stadt der Kinder Gottes bezeichnete; die legitime republikanische Regierung repräsentierte dagegen die irdische Stadt, bewohnt von Kommunisten und Anarchisten, den Söhnen Kains.136 Den Sieg des Caudillo feierte die Römisch-katholische Kirche Spaniens mit einem feierlichen Te Deum in allen Kirchen des Landes.137 Unter Franco erhielt die Kirche ihre frühere privilegierte Stellung zurück. Allerdings, auch das ist typisch für die „Neuen Staaten“, machte der Diktator von vornherein deutlich, dass er eine klerikale Einmischung in die spezifischen Angelegenheiten des Staates nicht dulden werde.138

4.6

Italien

In vielerlei Hinsicht bildete natürlich Italien das Vorbild für die „Neuen Staaten“ katholisch-autoritärer Prägung.139 Lutz Klinkhammer zeigt im Einzelnen, dass es „im Verlauf der 30er Jahre zweifellos zu einer Christianisierung des Faschismus [...], aber ebenso zu einer Faschisierung des italienischen Katholizismus“140 gekommen ist. Der politische Totalitätsanspruch des faschistischen Staates reichte tief in die Sphäre des Religiösen, wie die faschistische „Liturgie“, der Totenkult, die sonstigen Rituale, die religiöse Verehrung Mussolinis sowie der „Märtyrer“ der Bewegung und die Überhöhung der faschistischen Ideologie zur Dogmatik hinreichend belegen.141 Auch darin eiferte der Nationalsozialismus dem italienischen Faschismus nach.142 Umgekehrt drang der religiöse Totalitätsanspruch des Heiligen Stuhls weit in den Bereich des Gesellschaftspolitischen ein, indem er – unter Berufung auf göttliches und Naturrecht – umfassende Gestaltungsansprüche für das Gemeinwesen insgesamt geltend machte. Im Rahmen dieses spannungsvollen Nebeneinanders kam es – etwa im Zusammenhang mit dem Äthiopienkrieg143 – zeitweise zu Allianzen, wegen des 136 137 138 139

140 141 142

143

Vgl. ebd., S. 349. Vgl. Vinzent, Spain, S. 120. Vgl. Callahan, Catholic Church, S. 346. Vgl. Jutta Bohn, Das Verhältnis zwischen katholischer Kirche und faschistischem Staat in Italien und die Rezeption in deutschen Zentrumskreisen (1922–1933), Frankfurt a. M. 1992; Thomas Schlemmer/Hans Woller, Der italienische Faschismus und die Juden 1922 bis 1945. In: VfZG, 53 (2005), S. 165–201. Klinkhammer, Mussolinis Italien, S. 89; ähnlich schon Gaillard, Attractions, S. 213. Vgl. dazu Gentile, Sacralization; ders., Der Liktorenkult. In: Christof Dipper u. a. (Hg.), Faschismus und Faschismen im Vergleich. Wolfgang Schieder zum 60. Geburtstag, Vierow bei Greifswald 1998, S. 247–261. Vgl. Besier, Kirchen, S. 241 ff.; Esther Gajek, „Feiergestaltung“ – Zur planmäßigen Entwicklung eines „aus nationalsozialistischer Weltanschauung geborenen, neuen arteigenen Brauchtums“ am Amt Rosenberg. In: Stefanie von Schnurbein/Justus H. Ulbricht (Hg.), Völkische Religion und Krisen der Moderne. Entwürfe „arteigener“ Glaubenssysteme seit der Jahrhundertwende, Würzburg 2001, S. 386–408. Vgl. Richard J. Wolff, Between Pope and Duce. Catholic Students in Fascist Italy, New York 1990, S. 148 ff.

104

Gerhard Besier

faktischen Konkurrenzverhältnisses aber auch zu Konflikten zwischen Staat und Kirche – wie 1931 wegen der Katholischen Aktion. Die einseitige Betonung der Konflikte „entstand schon 1944, um das katholische Italien vom Vorwurf der Kollaboration mit dem Faschismus freizusprechen“.144 Warum sich der Vatikan so intensiv auf den Faschismus einließ, erklärt Klinkhammer mit den mittel- bis langfristigen Vorteilen für die Römisch-katholische Kirche. „À la longue bedeutete das ventennio fascista eine Abwehr des Laizismus und eine Rekatholisierung des Landes, die erst in der Exkommunizierung der Kommunisten 1949 und in der Moralisierungskampagne Pius’ XII. der ersten Nachkriegsjahre ihren Höhepunkt fand.“145 Diese Gesichtspunkte galten mehr oder weniger für alle „Neuen Staaten“ katholischer Provenienz.

4.7

„Drittes Reich“

Ernst-Wolfgang Böckenförde hat – bezogen auf den „neuen“ Staat „Drittes Reich“ – bereits Anfang der 60er Jahre über die Ursachen reflektiert, die den kirchlichen Katholizismus gegenüber dem Untergang der Weimarer Republik so gleichgültig erscheinen ließen.146 Er sah sie in der programmatischen Neuscholastik, wonach zwischen den übergeschichtlichen naturrechtlichen Grundsätzen der staatlichen Ordnung einerseits und den vom Naturrecht unabhängigen geschichtlichen Staats- und Verfassungsformen andererseits unterschieden wurde. Historisch zufällige Staatsgebilde verdienten nach dieser Lehre kein höchstes Engagement. Darüber hinaus nennt er als Grund für die „Bejahung und Unterstützung des NS-Regimes“ im Jahr 1933 den „tief verwurzelten Antiliberalismus“ in der katholischen Kirche.147 Das katholische politische Denken habe von „einer prinzipiellen Verneinung von mindestens zweihundert Jahren gewordener Geschichte“ gelebt.148 „Das ist der innere Gedankengang jeder Ideologie.“149 Positiv suchte man die Förderung „einer christlich-autoritären Staatsordnung“150 durch die katholische Kirche. Diese katholische Ideologie 144 Klinkhammer, Mussolinis Italien, S. 87. 145 Ebd., S. 90; zur Nachkriegspolitik des Vatikans vgl. auch Peter Kent, The Lonely Cold War of Pius XII. The Roman Catholic Church and the Division of Europe, 1943–1950, Montreal / London / Ithaca 2002, bes. S. 87 ff., 237 ff. 146 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der deutsche Katholizismus im Jahre 1933. Eine kritische Betrachtung. In: Hochland, 53 (1960–61), S. 215–239; ders., Der deutsche Katholizismus im Jahre 1933. Stellungnahme zu einer Diskussion. In: Hochland, 54 (1961– 62), S. 217–245. 147 Böckenförde, Der deutsche Katholizismus, S. 236. 148 Ebd., S. 237. 149 Ebd. „Man glaubte, die neue politische Ordnung gebe eine bessere Möglichkeit zur Verwirklichung katholischer Ideen und Ziele oder man könne sie doch zumindest in diese Richtung lenken.“ (Böckenförde, Stellungnahme, S. 239). 150 Böckenförde, Der deutsche Katholizismus, S. 223 f.; vgl. auch ders., Das Ethos der modernen Demokratie und die Kirche. In: Hochland, 50 (1957–58), Heft 1, S. 4–19, bes. 18.

„Berufsständische Ordnung“ und autoritäre Diktaturen

105

einer organischen Ständestaatslehre der Romantik verhinderte nicht nur eine wirksame Opposition gegen Hitler. Sie prägte auch das politische Denken und Handeln des katholischen Europa insgesamt.

5.

Katholische Vasallenstaaten des „Dritten Reiches“

5.1

Frankreich151

Die tiefe Ambiguität des Vatikans gegenüber dem „Dritten Reich“ kommt vielleicht nirgendwo besser zum Ausdruck als in der Stellung der Kurie zu VichyFrankreich. Hitler hatte zwar zwei katholische Staaten – Österreich und Polen – zerstört sowie die Römisch-katholische Kirche in Deutschland entpolitisiert und gewaltsam aus der Öffentlichkeit verdrängt. Aber er hatte auch geholfen, die spanische Volksfrontregierung zu beseitigen, und er hatte, wie es schien, dem französischen Liberalismus und Laizismus – dem Herd des verhassten Säkularismus in Europa – den endgültigen Todesstoß versetzt. Nicht wenige hatten Quadragesimo anno als Bekräftigung der Verurteilung der Französischen Revolution und des daraus resultierenden Individualismus und Säkularismus gelesen.152 Die unter Marschall Philippe Pétain (1856–1951) gebildete autoritäre Regierung des „État Français“ – im Unterschied zur „République français“ – war zwar ein von Deutschland abhängiges Satellitenregime, aber sie erhielt breite Unterstützung in der katholischen Bevölkerung, denn Pétains erklärtes Ziel bestand darin, das Land in einer „Révolution nationale“ (gegen die Révolution française von 1789 ff.) zu seinen christlich-moralischen Wurzeln und Werten zurückzuführen.153 In einer Art politischen Messianismus’ wurde Pétain, der „siegreiche Führer von Verdun“, in diesen Kreisen als Werkzeug Gottes zur Rettung Frankreichs verehrt. Das Scheidungsrecht wurde verschärft, die Abtreibung strafrechtlich verfolgt und Maßnahmen gegen Ehebruch sowie andere Phänomene der „moralischen Dekadenz“ unternommen. Ein Gesetz vom 11. Oktober 1940 drängte berufstätige Frauen aus ihren Beschäftigungsverhältnissen. Sie sollten arbeitslosen Männern Platz machen. In Anlehnung an korporatistische Ideale wollte Pétain den „homme nouveau“ in einer harmonischen Gesellschaft mit Familienatmosphäre schaffen. Am 29. Juni 1940 gab Pius XII. in einem Brief an die französischen Bischöfe seiner Überzeugung Ausdruck, dass Frankreichs Erweckung bevorstehe,154 151 S. hierzu auch den Beitrag von Gilbert Merlio in diesem Band, S. 111–132. 152 Vgl. W. D. Halls, Politics, Society and Christianity in Vichy France, Oxford/Providence 1995, S. 242. 153 Zum „assoziativen Korporatismus“ des Vichy-Regimes vgl. Roland Höhne, Das Regime von Vichy. Ein europäischer Sonderfall autoritärer Herrschaft? In: Heiner Timmermann/Wolf Gruner (Hg.), Demokratie und Diktatur in Europa. Geschichte und Wechsel der politischen Systeme im 20. Jahrhundert, Berlin 2001, S. 473–534, hier: 525 f. 154 Vgl. Halls, Politics, S. 226.

106

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der päpstliche Nuntius Valerio Valeri, Doyen des diplomatischen Corps, konnte seine Kollegen davon überzeugen, mit nach Vichy zu kommen.155 Vichys neuer Botschafter beim Vatikan, Léon Bérard, wurde in Rom aufs Freundlichste willkommen geheißen. Die Bischöfe folgten ganz den Vorstellungen des Papstes, verhielten sich unpolitisch und suchten die Sache der Kirche zu stärken.156 Zahlreiche prominente katholische Laien wie Xavier Vallet, Philippe Henriot oder Jacques Chevalier waren von der Aussicht eines anerkannten christlichen Staates auf französischem Boden fasziniert und stellten sich in den Dienst Vichys. Nicht wenige kollaborierten auch mit der deutschen Besatzungsmacht.157 In ihrem Feindbild waren die Dritte Republik, Juden, Kommunisten und Freimaurer fest verankert. Zu den ersten Maßnahmen des Pétain-Regimes gehörte die Subventionierung der katholischen Schulen und Jugendorganisationen sowie die prononcierte Herausstellung der Bedeutung der Römisch-katholischen Kirche für das öffentliche Leben Frankreichs. Umgekehrt pries der Osservatore Romano den Appell Vichys an das zivile und moralische Bewusstsein der Franzosen.158 Durch die Vermittlung des Vatikans blieben die guten Kontakte zwischen Vichy und den USA erhalten, bei dem Besuch Kardinal Suhards Anfang Januar 1943 zeigte sich der Papst beeindruckt über die moralische Regeneration des Landes.159 Bereits im August 1940 gab es erste Entwürfe für ein Konkordat,160 weitere Anläufe folgten. Es steht außer Frage, dass das Vichy-Regime ein enges und dauerhaftes Verhältnis zum Vatikan aufbauen wollte. Es musste aber vorsichtig vorgehen, wie der Versuch vom Januar 1941 gezeigt hatte, den Religionsunterricht an staatlichen Schulen wieder einzuführen. Auf diese Initiative hin gab es massive Proteste in der Bevölkerung.161 Vor dem Hintergrund des Abschlusses einer convenio mit Franco 1941/42162 suchte die Assemblée de Cardinaux Archeveques auch die französischen Konkordatspläne voranzutreiben, aber Valerio Valeri wandte ein, dass das Vichy-Regime noch nicht ausreichend konsolidiert sei.163 Dessen ungeachtet arbeitete die Vichy-Regierung noch Anfang Mai 1943 weiter an Richtlinien für die Vertragsverhandlungen zwischen Staat und Kirche.164 Wegen seiner engen Kooperation mit dem Pétain-Regime musste der vatikanische Nuntius 1944 seinen Posten verlassen; Botschafter Bérard zeigte dem Vatikan am 24. August 1944 an, dass seine Mission beendet sei und die diplomatischen Beziehungen zwischen Frankreich und 155 Vgl. James F. McMillan, France. In: Buchanan/Conway, Political Catholicism, S. 54 f. 156 Vgl. Jean-Pierre Azéma/François Bédarida (Hg.), Le régime de Vichy et les Français, Paris 1992, S. 444–477, bes. 471–474. 157 Vgl. McMillan, France, S. 56. 158 Vgl. Paul Duclos, Le Vatican et la seconde guerre mondiale. Actions doctrinale et diplomatique en faveur de la paix, Paris 1955, S. 153. 159 Vgl. Halls, Politics, S. 228. 160 Vgl. ebd., S. 230. 161 Vgl. ebd., S. 231. 162 Vgl. Callahan, Catholic Church in Spain, S. 387, 409. 163 Vgl. Halls, Politics, S. 231. 164 Vgl. ebd., S. 233.

„Berufsständische Ordnung“ und autoritäre Diktaturen

107

dem Vatikan nunmehr in den Händen Guérins lägen. Zwei Jahre zuvor hatte Bérard deutlich gemacht, dass der neue „État Français“ auf katholischen Grundlagen ruhen sollte. „Unsere Vertreter werden in der Lage sein, im Namen eines erneuerten Staates zu agieren, eines Staates, der durch seine Handlungen seine Absicht bewiesen hat, geistlichen Werten, der religiösen Haltung und dem katholischen Einfluss den gebührenden Anteil bei der unternommenen Aufgabe der Erneuerung zukommen zu lassen.“165

5.2

Slowakei

Ein weiteres Beispiel für die Entwicklung eines autoritären Systems unter dem Einfluss einheimischer katholischer Prägungen einerseits und der dominanten Diktaturen in Italien und Deutschland andererseits ist der Vasallenstaat Slowakische Republik. Die Slowakische Volkspartei (HSL’S) unter der Führung des charismatischen Priesters Andrej Hlinka (1864–1938) hatte bereits zu Beginn der 20er Jahre mit der Parole „Ein Gott, ein Volk, eine Partei, ein Führer“ für die Bildung eines korporatistischen autoritären Ständestaates katholischer Prägung geworben.166 Bei den letzten Kommunalwahlen im Jahr 1938 erhielt sie jedoch lediglich 26,93 Prozent der Stimmen. Erst die Schwäche der Tschechoslowakischen Republik nach dem Münchner Abkommen bot Hlinka die Möglichkeit zur Proklamation der slowakischen Autonomie am 7. Oktober 1938.167 Zu den Funktionären der Partei gehörten von der obersten Ebene bis in die örtlichen Gremien hinein traditionell viele katholische Geistliche. Daher kann es nicht verwundern, dass auch der stellvertretende Vorsitzende der HSL’S und Regierungschef der neu gebildeten autonomen Regierung, Jozef Tiso (1887– 1947), ein Priester war. Er kam aus Hlinkas politischer Schule und meinte gleichsam als politischer Hirte die slowakische Herde führen zu müssen. Insonderheit wollte er das Slowakische Volk vor Kapitalismus, Liberalismus und Sozialismus bewahren und die parlamentarische Demokratie zugunsten einer „klerikalfaschistischen“ Ordnung abbauen. Seine ideologische Orientierung folgte der katholischen Soziallehre und den päpstlichen Enzykliken. Als Gegenbild fungierte die laizistische Tschechoslowakei. Tiso verband den slowakischen Nationalismus mit dem Katholizismus. „Der Slowake und der Katholik waren für ihn eins, alles andere waren fremdartige, wenn auch unter Zwang geduldete

165 Zit. nach ebd., S. 232. 166 Vgl. L’ubomir Lipták, Das politische System der slowakischen Republik 1939–1945. In: Oberländer (Hg.), Autoritäre Regime, S. 299–333. 167 Vgl. Eduard Nižňanskský, Die Machtübernahme von Hlinkas Slowakischer Volkspartei in der Slowakei im Jahre 1938/39 mit einem Vergleich zur nationalsozialistischen Machtergreifung 1933/34 in Deutschland. In: Monika Glettler/L’ubomir Lipták/Alena Míšková (Hg.), Geteilt, besetzt, beherrscht. Die Tschechoslowakei 1938–1945: Reichsgau Sudetenland, Protektorat Böhmen und Mähren, Slowakei, Düsseldorf 2004, S. 249–287.

108

Gerhard Besier

Elemente.“168 Tiso zeigte auch keine Scheu, kirchliche Feierlichkeiten, Wallfahrten oder Priesterkonvente politischen Zwecken dienstbar zu machen. Einwände des Vatikans gegen diese politische Priesterherrschaft waren so verschleiert formuliert, dass die Bevölkerung im Gegenteil annehmen musste, das Regime werde durch die katholische Kirche unterstützt. In wenigen Monaten sorgte die Tiso-Regierung für die Auflösung der bürgerlichen Parteien sowie Tausender unbequemer Vereine und Organisationen. Schließlich fielen dem Ständemodell sogar die „vereinten“ christlichen Gewerkschaften zum Opfer. Mithin konnte man das politische System in der autonomen Slowakei zwischen Oktober 1938 und März 1939 schon nicht mehr als demokratisch bezeichnen. Zum festen Bestandteil des Systems gehörte die Hlinka-Garde (HG), eine paramilitärische Organisation, die den politischen Gegner terrorisierte und beim Zerfall der Tschecho-Slowakei im März 1939 eine Schlüsselrolle spielte. Neben dem „klerikalen“ Flügel gewann in den enddreißiger Jahren der faschistische Flügel unter dem Staatsrechtslehrer Vojtech Tuka (1880–1946), seit 1940 Ministerpräsident und Außenminister, ständig an Boden. Dadurch entstand der Eindruck, dass die Tiso-Richtung in der Partei einen eher „gemäßigten“ Kurs verfolge, zumal sie die von radikaler Seite beabsichtigte „slowakische nationalsozialistische Revolution“ zu verhindern wusste. Insgesamt bekundete jedoch die HSL’S schon in der Zwischenkriegszeit „ihre Sympathien für Mussolini, manche auch für Hitler, Franco, Dollfuß und Schuschnigg“.169 Nach dem 14. März 1939 – dem Gründungsdatum der selbständigen Slowakischen Republik – erließ die Regierung ein Ermächtigungsgesetz, richtete Internierungslager für diejenigen ein, die den „Aufbau des Slowakischen Staates behindern“,170 führte per Verordnung eine Zulassungsbeschränkung von Juden für einige Berufe ein und hob die Religionsfreiheit auf. Die neue Verfassung der Slowakischen Republik orientierte sich an den Verfassungen Portugals, Italiens und Österreichs und maß den Ständen – im Unterschied zum „politischen Parteiwesen“ – eine bedeutende Rolle zu. Diese sollten die Gesetzesvorlagen verhandeln; aus den Ständen sollte der Landtag beschickt werden. Die neue Verfassung blieb ein Kompromiss, den der faschistische Flügel der HSL’S als zu wenig totalitär kritisierte. Am 22. Oktober 1942 wurde ein Gesetz verabschiedet, wonach „kein Jude oder jüdischer Mischling“ Mitglied der HSL’S werden konnte. Seit 1941/42 schickte die Pressburger Regierung dann die slowakischen Juden als Arbeitskräfte nach Deutschland und musste für diese „Aussiedlung“ auch noch bezahlen.171 1942 wurde das „Führerprinzip“ in Partei und Staat konsequent verwirklicht und dadurch „jede Möglichkeit der liberalistisch-de168 169 170 171

So Lipták, Slowakische Republik, S. 318. Ebd., S. 305. Zit. nach ebd., S. 305 f. Vgl. Walter Brandmüller, Holocaust in der Slowakei und katholische Kirche, Neustadt a. d. Aisch 2003; Zlatica Zudová-Lešková, Juden in der Slowakei – ein fester Bestandteil des Anti-NS-Widerstands. In: Frank Boldt (Hg.), Widerstand – Kollaboration – Zusammenarbeit aus europäischer Perspektive in Deutschland und in der Tschechoslowakei von 1938–1968, Cheb 2003, S. 141–162.

„Berufsständische Ordnung“ und autoritäre Diktaturen

109

mokratischen Zersetzung der Volkseinheit durch leeres Politisieren eliminiert“.172 Durch Gesetzesänderung wurde Tiso zum „Führer und Präsidenten“ bestellt, Parteitage fanden nach 1939 nicht mehr statt. Tiso war gleichzeitig oberster Befehlshaber der Hlinka-Garde und der Hlinka-Jugendorganisation. „Die ‚Volksslowakei‘ unterschied sich von Deutschland und Italien durch die bedeutende Rolle der Religion sowohl in der Ideologie als auch in der praktischen Politik [...].“173 1946 wurden Tiso und Tuka vom Nationalgericht in Bratislava zum Tod verurteilt und hingerichtet.

5.3

Kroatien

Als weiteres Beispiel für einen deutschen Satellitenstaat, in dessen Ideologie der römische Katholizismus eine große Rolle spielte, wäre der „Unabhängige Staat Kroatien“ (Nezavisna država Hrvatska, NDH) zu nennen.174 Nach der Eroberung Jugoslawiens im April 1941 beschloss das nationalsozialistische Deutschland, Jugoslawien aufzulösen und auf einem Teilgebiet einen kroatischen Staat herzustellen. Der Führer der kroatischen Bauernpartei, Vladko Maček, dem die Zusammenarbeit mit den Deutschen angetragen wurde, lehnte ab. Dagegen erklärte sich der von Italien geförderte Ustaša-Führer Ante Pavelić, von Beruf Rechtsanwalt, zur Kooperation bereit. Von Seiten des Deutschen Reiches hatte die 1930 gegründete, faschistische Ustaša-Bewegung bis dahin keine Unterstützung erfahren. Am 15. April 1941 erkannten das Deutsche Reich und Italien die wenige Tage zuvor proklamierte NDH an. Von vornherein litt dieser Staat unter seiner beinahe vollständigen Abhängigkeit von den Achsenmächten – ein Umstand, der ihm einen erheblichen Vertrauensverlust bei der Bevölkerung eintrug. Pavelić richtete um seine Person einen Führerkult auf, man schuf ein Einparteiensystem („Kroatische Partei des Rechtes“), schaltete die gesellschaftlichen Institutionen gleich und kontrollierte die Wirtschaft. Die UstašaBewegung förderte einen aggressiven Nationalismus, pflegte eine „Blut und Boden“-Romantik und betonte die überkommene Verbindung von Kroatentum und Katholizismus. Seit jeher war die katholische Kirche in Kroatien als Sprecherin kroatischer nationaler Belange aufgetreten.175 Folgerichtig begrüßte der kroatische Erzbischof Alojzije Stepinac176 die Gründung der NDH, zahlreiche Kleriker unterstützten offen das Ustaša-Regime. Zwar ließ man am Stadtrand von Zagreb eine Moschee einrichten; faktisch aber waren die Muslime Bürger zweiter Klasse. Um sich vom Slawentum abzugrenzen, behaupteten die rassis172 Zit. nach Lipták, Slowakische Republik, S. 309. 173 Zit. nach ebd., S. 323. 174 Vgl. Ludwig Steindorff, Kroatien. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, München 2001, S. 173 ff. 175 Vgl. ders., Konfession und Nation im Raum des ehemaligen Jugoslawien. Ein Überblick vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart. In: KZG, 10 (1997), S. 122–137, hier: 129. 176 Vgl. Stella Alexander, The Triple Myth. A Life of Archbishop Alojzije Stepinac, Boulder 1987.

110

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tischen Ustaša-Ideologen die Abstammung der Kroaten von den Goten. Damit man auch die Serben vereinnahmen konnte, bezeichnete man sie als „Prawoslawen“, also Orthodoxe kroatischer Nationalität. Um der Diskriminierung zu entgehen, traten viele Serben zur Römisch-katholischen Kirche über; es kam auch zu Zwangskonversionen, von denen sich allerdings der katholische Erzbischof Stepinac ebenso distanzierte wie von manchen anderen Gewaltakten. Eine andere Methode zur Nationalisierung der Serben war die Bildung einer „Kroatisch-orthodoxen Kirche“ im Jahr 1943. Auf deutsche Intervention hin musste das kroatische Regime 1942 die Serbenverfolgungen auf seinem Territorium allmählich einstellen. In der Ustaša-Weltanschauung war der Antisemitismus fest verwurzelt. Juden wurden enteignet, diskriminiert und in Lagern gequält und ermordet. Von den 34 000 in Kroatien lebenden Juden kamen 19 000 in kroatischen Lagern, 7 000 in deutschen Lagern ums Leben. Die hohe Gewaltbereitschaft des faschistischen Ustaša-Regimes kam in den Verfolgungen Andersdenkender und „Andersrassiger“ durch wilde Banden und organisierten Terror zum Ausdruck. In diesen Komplex gehört auch die Einrichtung des Konzentrationslagers Jasenovac an der Save östlich von Sisak. Über die Opferzahlen des Schreckensregimes herrscht bis heute Unsicherheit. Man schätzt, dass allein im Konzentrationslager Jasenovac 85 000 Menschen ermordet wurden. Am 17. April 1941 verkündete der „Maßnahmen-Staat“ ein „Gesetz zum Schutz von Volk und Staat“, das so offen gehalten war, dass es der Willkürjustiz Tür und Tor öffnete. Das Staatsbürgerschaftsgesetz vom 30. April 1941 erklärte die arische Rasse zur Voraussetzung für die Staatsbürgerschaft. Gewaltenteilung und repräsentative Körperschaften fehlten. 1942 wurde die Polizei in die Ustaša-Strukturen integriert. Am 7. Mai 1945 floh Pavelić nach Spanien ins Exil. Er starb 1959 in Madrid. Erzbischof Stepinac wurde 1946 zu 16 Jahren Zwangsarbeit verurteilt, 1951 begnadigt und 1953 zum Kardinal ernannt. 1998 wurde der 1960 Verstorbene selig gesprochen.177

177 Vgl. Steindorff, Kroatien, S. 195, 219.

Die Konfrontation der französischen Kultur mit totalitären Ideologien und die Rolle von Laizismus und Religion Gilbert Merlio

1.

Vorbemerkungen

Durch seine Bücher hat der in Frankreich ausgebildete, israelische Historiker Zeev Sternhell1 unter den französischen Historikern eine heftige Polemik ausgelöst. Er stellte die klassische, zunächst in den 60er Jahren erschienene und seitdem immer wieder aufgelegte und überarbeitete Darstellung von René Rémonds „Les droites en France“2 in Frage. In Bezug auf ihren Ursprung und ihre Tradition hatte Rémond drei Richtungen oder drei „Lager“ innerhalb der französischen Rechten unterschieden: die gegenrevolutionären Legitimisten (konterrevolutionär-reaktionär), die Orleandisten (liberal-konservativ) und die Bonapartisten (autoritär-plebiszitär). Für ihn hat es bis 1936 keinen genuin französischen Faschismus gegeben. Die „faschistischen“ Erscheinungen der 20er und 30er Jahre seien entweder nur Abarten des Bonapartismus bzw. Cäsarismus (mit seiner populistisch-plebiszitären Dimension) gewesen oder nachgeahmte, aus dem Ausland importierte Formen. Sternhell glaubte hingegen feststellen zu können, dass dieses Schema spätestens seit dem „Boulangismus“3 nicht mehr zutrifft. Am Ende des 19. Jahrhunderts entsteht ihm zufolge in Frankreich eine „neue Rechte“, deren Merkmale

1

2 3

Zeev Sternhell, Maurice Barrès et la Fascisme français, Paris 1972; ders., La Droite révolutionnaire. Les origines françaises du fascisme 1885–1914, Paris 1978; ders., Ni Droite ni Gauche. L’idéologie fasciste en France, Paris 1983. Die überarbeitete dritte Auflage aus dem Jahre 2000 enthält einen wichtigen Essay, in dem Sternhell auf die Kritik seiner Widersacher antwortet. René Rémond, La Droite en France de la Restauration à la Cinquième République, Paris 1968 (2 Bände). Neue ergänzte und überarbeitete Ausgabe unter dem Titel: Les droites en France, 1982. Nach dem Namen des General Georges Boulanger (1837–1891), 1886 Kriegsminister, nach dem deutsch-französischen Krieg 1870–1871, Wortführer der Revanche und des Chauvinismus, der 1888/89 in der französischen Kammer eine nationalistische Oppositionspartei sammelte, die so genannten „Boulangisten“, um auf eine Diktatur hinzuarbeiten.

112

Gilbert Merlio

Antisemitismus (Drumont) und Populismus (Boulanger) sind. Sie entsteht in einem historischen Kontext, dessen Merkmale die folgenden sind: 1. der endgültige Sieg der Republikaner und der Antiklerikalen über Monarchisten und Klerikale; 2. das nun akut gewordene Problem der öffentlichen Freiheiten bzw. der Partizipation; 3. der Aufstieg der Arbeiterbewegung; 4. die wirtschaftlichen und existentiellen Schwierigkeiten des Kleinbürgertums; 5. die Biologisierung und Nationalisierung des Denkens, die in verschiedenartigen geistigen Strömungen zum Ausdruck kommt: Darwinismus, Irrationalismus, Lebensphilosophie (Bergson), Rassismus (Vacher de Lapouge); 6. das Aufkommen des Massenzeitalters und der Massenöffentlichkeit (Le Bon4). Nach Sternhell gibt es von nun an nur noch zwei rechte Strömungen: die konservative, die sich allmählich der parlamentarischen Republik anpasst, und die rechtsextremistische, revolutionäre Rechte, die im Namen patriotischer und plebejisch-sozialer Werte davon träumt, die parlamentarische Republik zu stürzen. Sie hat ihren Theoretiker (den jungen Maurice Barrès), ihre Kampforganisationen (z. B. den Bund der Patrioten von Paul Déroulède), ihre Gewerkschaften (die „gelben“ Gewerkschaften von Pierre Biétry) sowie ihre Volksredner: Edouard Drumont und Henri Rochefort. Die Positionen dieser neuen Rechten überschneiden sich mit denen einer neuen Ultralinken, die ihren Antikapitalismus, Antiparlamentarismus und Antisemitismus teilt. Wie die neue Rechte gibt sich dieser Anarcho-Syndikalismus revolutionär. Dessen Ideologen sind Georges Sorel und Edouard Berth. Die Zeitschrift des Proud’hon-Kreises, Cahiers, die die beiden herausgeben, verbreitet eine präfaschistische Ideologie, die kriegerisch-heldische, nationalistische Ideale verherrlicht und zum ethisch-politischen Aufstand gegen die bürgerliche Dekadenz aufruft. Zwischen den Linken von rechts und den Rechten von links gab es Begegnungen und gemeinsame Projekte. Der zunächst zum AnarchoSyndikalismus neigende Georges Valois wurde um die Jahrhundertwende zum Wirtschaftsexperten der „Action française“. Später, im Jahre 1927, definierte Georges Valois die große Originalität des Faschismus: „Den Zusammenschluss zwischen Nationalismus und Sozialismus zustande zu bringen, den zwei großen Tendenzen, welche im 19. Jahrhundert der erste antiindividualistische Beitrag der europäischen Nationen gewesen sind.“5 Sternhell zeigt, wie diese Idee einer Synthese zwischen Sozialismus und Nationalismus oder eines „Dritten Weges“ zwischen Kapitalismus und Kommunismus in der Zwischenkriegszeit (1918–1940) viele „nonkonformistische“ 4 5

Gustave Le Bon, La psychologie des foules, Paris 1895. Georges Valois, Le Fascisme, Nouvelle Librairie nationale, 1927, S. 5, zit. nach Winock, Nationalisme, antisémitisme et fascisme en France, Paris 1982, S. 276.

Französische Kultur und totalitäre Ideologien

113

Intellektuelle6 in Frankreich angezogen hat, bis hin zu dem Vertreter des so genannten Personalismus, Emmanuel Mounier, dem Herausgeber der Zeitschrift Esprit, so dass man von einem diffusen, uneingestandenen, ja unbewussten Faschismus reden könnte.7 Nach Sternhell resultiert der „Dritte Weg“ des Faschismus aus einer doppelten Revision: aus der antimaterialistischen Revision des Marxismus durch die Linken sowie aus der Revision des Konservatismus durch die Rechten, die wie die Linken das bürgerliche, materialistisch-hedonistische und dekadente Frankreich anprangerten und sich zu einem „organischen“ (d. h. auch ethnischen: vgl. „le culte de la Terre et des Morts“ von Barrès) Nationalismus bekannten. Wie schon gesagt, wurde Sternhell, der in Frankreich das Heimatland bzw. das „Labor“ des Faschismus erblickt, sehr scharf kritisiert. Nicht nur weil er sich an „heiligen Kühen“ der französischen Intellektuellentradition wie Mounier8 vergriffen hatte. Man warf ihm dreierlei vor. Zunächst, dass er den linken Aspekt des Faschismus zu stark hervorgehoben9 und im Zusammenhang damit die Diskurse allzu sehr – das tatsächliche Engagement der betreffenden Gruppen auf Seiten des Bürgertums und der Besitzenden aber allzu wenig – berücksichtigt habe. Zweitens, parallel dazu, dass er durch seine Betonung der Verbreitung der faschistischen Ideen unter den französischen Intellektuellen den Mangel an tatsächlicher Resonanz der präfaschistischen oder faschistischen Milieus und Gruppen im politischen Leben Frankreichs einfach übersehen habe. Drittens (vgl. Michel Winock10), dass er durch seinen rein ideengeschichtlichen Ansatz die lineare Kohärenz der faschistischen Bewegung in Frankreich bis hin zu deren Indienstnahme durch die Vichy-Regierung beinahe teleologisch überzeichnet habe, bei gleichzeitiger Unterbetonung der infolge der Kriege und Krisen eingetretenen Schwankungen. In seinem Essay von 2000 vergleicht Sternhell die Polemik, die seine Thesen provoziert haben, mit dem deutschen Historikerstreit.11 Sie sei das Werk von Historikern, die die französische Ver-

6

Vgl. Gilbert Merlio (Hg.), Ni gauche, ni droite: les chassés-croisés idéologiques des intellectuels français et allemands dans l’Entre-deux-guerres, Bordeaux 1995. 7 Wie Raoul Girardet spricht Sternhell von einer faschistischen „Imprägnation“. 8 Emmanuel Mounier, Vertreter des so genannten Personalismus, Mitgründer der in Frankreich immer noch ein großes intellektuelles Ansehen genießenden Zeitschrift Esprit. 9 Für den Amerikaner Robert Soucy ist es falsch zu behaupten, der französische Faschismus stehe eher links als rechts, vgl. Robert Soucy, Le fascisme français 1924–1933, Paris 1989, S. 10. 10 Michel Winock, Nationalisme, S. 286: „Tout le paradoxe de l’historien des idées (Sternhell) est qu’il étudie l’idéologie fasciste dans ce pays où précisément elle ne triomphe pas, et donc où elle ne peut être altérée par les compromissions du pouvoir: là, le fascisme est à l’état pur puisqu’il ne gouverne pas. Car aux origines du fascisme n’est pas le verbe mais, comme dit Mussolini, l’action. L’historien a renversé la perspective; c’est son droit. C’est aussi peut-être son illusion.“ 11 Vgl. Sternhell, Ni droite, S. 16.

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gangenheit verdrängen und im Kielwasser von René Rémond nicht akzeptieren würden, dass es einen genuin französischen Faschismus gegeben hat.12 Deshalb spricht er nach Michel Dobry13 von einer „thèse immunitaire“ und wirft somit die Frage auf, mit der wir hier auch zu tun haben, nämlich: Inwieweit war die französische politische Kultur gegen die faschistische bzw. totalitäre Gefahr gefeit? Und präziser: Welche Rolle haben dabei die Religion und der Laizismus gespielt? Um auf diese präzise Frage zu antworten, kann ich unmöglich – sei es nur aus Platzgründen – die Geschichte der faschistischen Gruppen oder Bewegungen aufs Neue nachzeichnen. Das ist zur Genüge geschehen (vgl. bibliographische Hinweise in den Anmerkungen). Ich will mich auch nicht auf Definitionsfragen einlassen. In der französischen Polemik ist sehr oft davon die Rede gewesen: Ab wann, d. h. aufgrund welcher ideologischen Komponenten und politischen Handlungsweisen kann man wirklich von Faschismus sprechen, inwiefern kann man diese Gruppe als faschistisch bezeichnen, jene aber nicht? Bei den meisten französischen Historikern, die sich mit diesen Fragen befasst haben (Milza, Winock), wird oftmals zwischen einer extremen und einer ultrarechten Formation unterschieden. Die extreme Rechte, deren bestes Beispiel die „Action française“ ist, bleibt ihnen zufolge vom Traditionalismus und Katholizismus geprägt und verdient deshalb kaum die Bezeichnung Faschismus. Die Ultrarechte, deren beste Beispiele die „Ligen“ und vor allem die „Parti populaire français“ von Jacques Doriot sind, hat hauptsächlich in den 30er Jahren an Stärke gewonnen (während die „Action française“ zur gleichen Zeit politischen Einfluss einbüßte) und könnte damit als eine französische Form des Faschismus betrachtet werden. Das Ziel dieser nominalistischen Unterscheidungen, die in der einschlägigen Literatur öfters begegnen, besteht nicht nur darin, Konvergenzen und Divergenzen in Theorie und Praxis der Gruppen selbst zu umreißen, sondern auch einen Vergleich mit dem italienischen Faschismus und mit dem Nationalsozialismus zu ermöglichen. Diesen Aspekt möchte ich zunächst zurückstellen. Den Begriff Faschismus gebrauche ich hier in einem sehr weit gefassten, unproblematischen Sinne, wobei ich alle Gruppierungen, Bewegungen und Parteien in Betracht ziehen will, die in der betreffenden Periode nationalistisch, antidemokratisch (antiparlamentarisch) und antisemitisch (xenophob) waren. Die antidemokratische Einstellung impliziert, dass alle diese Gruppen mehr oder weniger dazu bereit waren, gewalttätige revolutionäre Mittel zu benutzen, um die Macht zu erobern und eine Diktatur zu errichten.

12 Es genügt, hier zwei Titel anzuführen: Serge Bernstein, La France des années trente allergique au fascisme? A propos d’un livre de Zéev Sternhell. In: Vingtième siècle, (April 1984); Jacques Juillard, Sur un fascisme imaginaire. In: Annales, 39 (1984) 2. 13 Michel Dobry, Février 1934 et la découverte de l’allergie de la société française à la „Révolution fasciste“. In: Revue française de sociologie, (Juli–Dez. 1989), S. 511–533.

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In der Geschichte jeder faschistischen (oder totalitären) Bewegung sind drei Phasen zu unterscheiden: die Zeit der ideologischen Vorbereitung (des Präfaschismus), die Zeit des Kampfes um die Macht und die Zeit, in der der Faschismus an der Macht ist. Erst in diesem letzten Stadium enthüllt er sein wahres politisches, ideologisches und moralisches Gesicht. Die Regierungszeit ist der Prüfstein des Faschismus. Das Vichy-Regime müsste also als Prüfstein des französischen Faschismus betrachtet werden. Aber dieser Prüfstein ist von besonderer Art. Obwohl durch manche Tendenzen der französischen Gesellschaft und der damaligen politischen Konstellation vorbereitet, ist Vichy ein Ergebnis der Niederlage und der Besetzung und seine Politik ist weitgehend (aber nicht ganz) fremdbestimmt. Darauf will ich selbstverständlich im vierten Teil meines Referats zurückkommen. Fürs erste gilt es auf drei Fragen zu antworten: 1. Hat es einen genuin französischen Faschismus gegeben? 2. Warum ist es ihm nicht gelungen, wie in Italien oder Deutschland vor dem Krieg an die Macht zu kommen? 3. Inwiefern hat die Religion bzw. der Laizismus zum Auf- oder Abstieg des Faschismus in Frankreich beigetragen?

2.

Gab es einen französischen Faschismus?

Die erste Frage ist – soweit man den Begriff Faschismus als Sammelbegriff für alle Formen von moderner Diktatur auffasst – mit „ja“ zu beantworten. Der faschistischen Versuchung sind auch in Frankreich viele Intellektuelle und bestimmte Bevölkerungsgruppen erlegen. Wie in vielen modernen Staaten und aus denselben Gründen, an die ich kurz erinnern möchte: Deklassierung des Mittelstands, Ablehnung von Sozialismus und Kommunismus, Misstrauen gegenüber der liberal-parlamentarischen Demokratie, Abschwächung des Rationalismus sowie Kulturpessimismus und Sorge um die Nation. In der Zwischenkriegszeit manifestierten sich in Frankreich zwei faschistische Wellen: im Jahre 1926 und im Jahre 1934, jedes Mal also im Kontext einer wirtschaftlich-politischen Krise. Dem amerikanischen Forscher Robert Soucy zufolge ist die Bedeutung des Faschismus im Frankreich der Zwischenkriegszeit nicht zu unterschätzen. Im Jahre 1926 gehörten etwa 140.000 Franzosen extrem nationalistischen Verbänden an. Ihre geistigen Mentoren waren Barrès und Mussolini. 1934 verfügten die „faschistischen“ Gruppierungen insgesamt über etwa 370 000 Mitglieder (KPD: 35 000).14 Ende der 30er Jahre erreichte die „Parti social français“ („Les Croix de feu“) des Colonel de la Roque – der freilich zu dieser Zeit seine Lo-

14

Soucy, Le fascisme, S. 8; nach Philippe Machefer, Le parti social français en 1936–1937. In: L’information historique, (März-April 1972), hatte die PSF 1936 600 000 Mitglieder (mehr als die PCF und die SFIO zusammen!).

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yalität zur Republik unterstrich – die gigantische Zahl von 700 000 Anhängern, die die Mitgliederstärke von PCF und SFIO zusammen deutlich überstieg. Robert Soucy verwirft selbstverständlich die „thèse immunitaire“, die von den französischen „historiens du consensus“ (Historikern des Konsenses) vertreten wird. Es stimmt zwar, dass die erste französische, echt faschistische Massenpartei erst im Jahre 1936, mit der Gründung (im Juni) der „Parti populaire français“ (PPF) von Jacques Doriot, einem ehemaligen – pazifistischen – Kommunistenführer, der noch kurz vorher für die Volksfront eingetreten war, entstanden ist. Aber auch ein „historien du consensus“ wie Pierre Milza gibt in seinem Buch über den „Französischen Faschismus“ zu, dass der Geist der 30er Jahre sehr stark von faschistischen bzw. faschistoiden Tendenzen geprägt gewesen war. Das Bewusstsein einer politischen, wirtschaftlichen und sozialen Krise, der die entschlussunfähige liberale parlamentarische Demokratie nicht gewachsen zu sein schien, war sehr verbreitet. Auch faschistische Persönlichkeiten oder Gruppen dachten nicht an eine Verstärkung der Exekutive, an eine Kontrolle der Wirtschaft und an einen ständischen Aufbau der Gesellschaft. Ideologien des „Dritten Weges“ – in seiner theoretischen Opposition gegen Bolschewismus und Kapitalismus bzw. Plutokratie gehört der Faschismus zu ihnen – fanden unter den Intellektuellen und in manchen Teilen des Volkes großen Anklang.

3.

Warum gelangte der französische Faschismus nicht an die Macht?

Obwohl Überschneidungen kaum vermeidbar sind, könnte man zwecks Klassifizierung unterscheiden zwischen konjunkturellen, mit dem Zeitgeschehen („durée brêve“) zusammenhängenden und strukturellen, d. h. in der politischen Kultur („longue durée“) verankerten, Gründen für das Scheitern des Faschismus im Frankreich der 20er und 30er Jahre.

3.1

Konjunkturelle Gründe

Offensichtlich ist das Fehlen einer charismatischen Führerpersönlichkeit, die die diversen Gruppen der sehr zersplitterten extremen Rechten hätte einigen können (was Hitler in den 20er Jahren gelang). Jacques Doriot, eine Führernatur und ein guter Volksredner, hätte diese Persönlichkeit sein können. Seine ausschweifende Lebensweise hat ihn aber schnell diskreditiert. Charles Maurras, die die dominante Figur des französischen Rechtsnationalismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war, faszinierte viele Intellektuelle, konnte aber eben aufgrund seiner hohen Intellektualität und seines etwas nietzscheanischen Aristokratismus unmöglich ein populistischer Diktator werden. Colonel de la Roque, der Führer der paramilitärischen Organisation „Les Croix de feu“ und

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der „Parti social français“, sah sich gerne (und wurde von vielen gesehen) als französischer Mussolini. Er war aber eine allzu gemäßigte und von den geistigen und moralischen Werten der Tradition geprägte Persönlichkeit, um diese Rolle zu spielen. Hatte Pierre Taittinger, der Chef der „Jeunesses patriotes“, das Zeug zum faschistischen Führer? Im Krieg war Kapitän Taittinger ein mutiger Soldat gewesen, der mit dem Orden der Ehrenlegion ausgezeichnet worden war. Er besaß das nötige Charisma und die unentbehrliche Rednergabe. Aber sein Ziel war nicht so sehr die Errichtung einer totalen Diktatur als die Schaffung einer rechten Sammlungsbewegung, welche eine Verstärkung der Exekutive durchgesetzt hätte. Frankreich war von den wirtschaftlichen Krisen weniger betroffen als Italien 1922 oder Deutschland 1932. Ein kommunistischer Aufstand war kaum zu befürchten. Wegen der Struktur und der Stabilität der französischen Wirtschaft (kleine Betriebe; Frankreich ist weitgehend ein wenig urbanisiertes und industrialisiertes Agrarland geblieben) bangte der Mittelstand auch nicht übermäßig um seine Eliminierung durch den Großkapitalismus. Insgesamt blieb das soziale Gefüge stabil, da keine großen Klassengegensätze entstanden. Keine Klasse, weder Großbürgertum noch Mittelstand noch Bauerntum, fühlte sich in der Gesellschaft entfremdet oder ernstlich gefährdet. Infolgedessen war das revolutionäre Potenzial begrenzt. In ihrer großen Mehrheit glaubten die Konservativen, dass die Republik mit rechten Parteien und Parteien der rechten Mitte im Parlament eine genügende Garantie für die Wahrnehmung ihrer Interessen darstellte. Die wirtschaftlichen und sozialen Programme der „rechtsextremistischen“ Gruppen waren insgesamt an der Mitte orientiert, sie boten keine wahre, radikale Alternative zu den anderen Parteien. Das erklärt, warum die faschistischen Bewegungen – auch oder gerade eben die radikalsten – abflauten, sobald eine rechte Regierung wieder an die Macht gelangte. Das „Faisceau“ von Georges Valois überlebte 1926 die Ablösung des „linken Kartells“ durch den „Bloc national“ von Poincaré nicht. Schon die Unfähigkeit des Kartells, seine Reformen in die Praxis umzusetzen, hatte die Angst vor dem Kommunismus gemindert. Dasselbe geschah mit Doriot und seiner PPF, als die Volksfront 1938 zerbröckelte und Daladier zum Regierungschef wurde, zudem sich nun angesichts des aufkommenden Krieges eine Art von Burgfrieden abzeichnete. Frankreichs extreme Rechte wurde damals pazifistisch und bejahte das Münchner Abkommen, war doch Hitler in ihren Augen das sicherste Bollwerk gegen die bolschewistische Gefahr! Obwohl einige faschistische Bünde wie „Les jeunesses patriotes“ oder „Les Croix de feu“ die militärische Verhaltensweise des Faschismus zu übernehmen versuchten (Uniformen, Aufmärsche, Führerkult), war der Militarisierungsgrad dieser Gruppen insgesamt gering. Dies hängt mit der schwachen Militarisierung der französischen Gesellschaft zusammen. Der Großteil der Armee und vor allem die Polizei blieben republiktreu. Die Bevölkerung, die zutiefst vom Ersten Weltkrieg betroffen worden war, war pazifistisch eingestellt und für militaristische Mystik und Kraftmeierei, für heroische Askese oder Aufopferungsgeist we-

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nig empfänglich.15 Frankreichs Bevölkerung war erschöpft, und der Kult der Kraft, des vitalistischen Dynamismus sowie der Mythos der Jugend konnten sich hier nur schwer Gehör verschaffen. Der deutsche und italienische Faschismus sind imperialistisch und eroberungslustig; der französische ist bloß auf Bewahrung bedacht, sozusagen von einer Wagenburgmentalität beseelt. Als Sieger des Krieges hatte Frankreich keine Dolchstoßlegende, brauchte keinen Sündenbock, dürstete nicht nach Revanche. Der Faschismus wird hier nicht von imperialistischen Ambitionen genährt. Auch der Antisemitismus ist deshalb etwas weniger virulent. Anders als in Deutschland konnte der Weltkrieg hier nicht zu einem Radikalisierungs- bzw. Brutalisierungsfaktor werden. Zwar war der soldatische Geist mit seinem Appell an die männliche Solidarität und seiner Verachtung der Politik und des Geldes selbstverständlich bei einigen faschistischen Ligen und Gruppen verbreitet. Aber die Veteranenverbände waren meistens pazifistisch eingestellt und plädierten für Völkerverständigung im Namen humanistischer Werte. Aus patriotischen Gründen litt übrigens auch der französische Faschismus in der öffentlichen Meinung unter seinen oft mit Bewunderung verbundenen Beziehungen zum faschistischen Italien und zu Mussolini. Mit anderen Worten: Die Abwehr des Faschismus in Frankreich verdankt sich auch der Abwehr des ausländischen Faschismus bzw. Nationalsozialismus aus nationalen bzw. patriotischen Gründen.

3.2

Schwerwiegendere, strukturelle Gründe

Als erstes wäre die Stärke des linken demokratischen Lagers zu nennen. Eine paradoxe Stärke, die im Hinblick auf die Resistenz gegen den Faschismus an seiner Schwäche liegt. Im „linken Kartell“ („Cartel des gauches“) erreichten die so genannten Radikalen mit den Sozialisten kein Einverständnis über wirtschaftliche Reformen; das Lager ist gespalten. Ideologisch sind beide Parteien laizistisch (antiklerikal) und freiheitlich gesinnt, auf außenpolitischem Gebiet sind sie eher pazifistisch, aber die Besteuerung des Vermögens oder die Verstärkung der Sozialversicherung stoßen bei den Radikalen auf Ablehnung. Die 1901 gegründete so genannte „Radikale Partei“ war ein großer Stabilitätsfaktor der Republik. Im deutschen Sinne des Wortes war sie keineswegs radikal; als Partei der Mitte war sie liberal, republikanisch, rationalistisch, antiklerikal, fortschrittlich und berief sich gerne auf das Erbe der Französischen Revolution, verhielt sich aber in der Dritten Republik eher girondistisch. Man könnte sie als eine 15 Winock, Nationalisme, zitiert auf S. 245 der neuen Ausgabe 2004 René de la Charrière: „Il n’y a pas de fascisme pacifiste. Ce qui fait le plus défaut au fascisme français est justement ce manque d’agressivité martiale. Dans la France de Giraudoux, qui n’a pas d’ambition territoriale, qui a récupéré au prix le plus fort ses provinces perdues et qui est fière de son Empire colonial, il est entendu pour tout le monde que ‚la Guerre de Troie n’aura pas lieu‘.“

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Mischung aus Honoratioren- und Volkspartei bezeichnen, die in der Provinz (vor allem im Süden) sehr stark verankert ist, und im Hinblick auf die faschistische Versuchung den großen Vorteil hat, die Interessen sowohl des Mittelstands, der Handwerker, der kleinen Eigentümer als auch der Unternehmer und der Freiberufler zu vertreten und so deren Frustrationen aufzufangen. Die „Radikalen“, unter denen eine hohe Zahl an Freimaurern zu finden war, beteiligten sich an den meisten Regierungen der Republik. 1932 schrieb Albert Bayet: „Frankreich ist ohne den Radikalismus nicht zu denken. Er ist in der moralischen Physiognomie unseres Landes das Pendant zu den Wiesen und Weinbergen, die unsere Landschaften kennzeichnen.“16 Auch innerhalb der Rechten und vor allem im Mittelstand haben die liberalen, demokratisch-republikanischen Werte Fuß gefasst. Eine langjährige demokratische politische Kultur hat hier gewirkt. Die konservative Rechte ist stark, aber sie hat sich schon lange mit der Republik abgefunden. In Perioden, in denen sie ihre Interessen gefährdet glaubt, wo sie die Gefahr des Kommunismus wachsen sieht, mag sie durch die Unterstützung von faschistoiden Organisationen für Agitprop sorgen. Sie mag die Republik in einem autoritären Sinne reformieren bzw. verstärken wollen, aber sie will sie keineswegs zugrunde richten. Frankreich besitzt eine lange Tradition der Einheit in der Freiheit, und seine Geschichte hat gezeigt, dass die Demokratie mit nationaler Macht und Größe vereinbar ist. Wenn man von wenigen Ausnahmen wie dem Parfum- und Pressemagnaten François Coty, dem Gründer der „Solidarité française“ (1933–1936), absieht, stehen die französischen Industriellen und Kapitalisten in ihrer überwiegenden Mehrzahl dem extremen Nationalismus und sogar populistischen Abenteuern misstrauisch gegenüber. Was hier überwiegt, ist das Ordnungs- und Traditionsdenken, das nach Pierre Milza den französischen Nationalismus charakterisiert. Er will hauptsächlich bewahren, das Territorium, das Kolonialreich, die katholische Kirche, die Stärke der Armee, all dies aber zu rein defensiven Zwecken.17 Bei ihm ersetzt die Heftigkeit der Rede oft die Gewalttätigkeit des Bürgerkriegs. Zwar gibt es zahlreiche Fälle, in denen rechtsextremistische Gruppen zur Gewalt gegriffen haben, so hat es auch in Straßenkämpfen Tote und Verletzte gegeben. Die weitgehende Ablehnung von Gewalt kann opportunistischen oder taktischen Überlegungen zugeschrieben werden. Wie bei Hitler mag der Legalitätskurs, der hier oft und laut beansprucht wird, manchmal bloß eine Taktik sein. Insgesamt aber erklärt der traditionalistische Charakter des französischen Nationalismus bzw. Faschismus, ungeachtet aller verbalen Verherrlichung der Gewalt und des Heldentums, seine Scheu vor praktischer, illegaler Gewalttätigkeit. Paradigmatisch hierfür ist die Haltung des Colonel La Roque am 6. Februar 1934, dem einzigen Tag, an dem eine bürgerkriegsähnliche Situation in Paris entstand und ein rechtsextremistischer Staatsstreich zu drohen schien: In 16 Zit. nach Jean Touchard, Histoire des idées politiques, Paris 1973, Band 2, S. 673. 17 Pierre Milza, Fascisme français. Passé et présent, Paris 1987, S. 65.

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letzter Minute gab er seinen Truppen den Befehl, das Palais-Bourbon, den Sitz der Nationalversammlung, nicht zu stürmen. In der Nacht zum 7. Februar, während man auf dem Place de la Concorde Tote und Verletzte barg, war Maurras damit beschäftigt, ein Gedicht zu Ehren von Leon Daudets Frau abzufassen! Dieser Mangel an revolutionärer Entschlusskraft bzw. dieser Legalismus der Führer erklärt, warum in der zweiten Hälfte der 30er Jahre angesichts der Volksfront und der angeblichen kommunistischen Gefahr radikalere Gruppen im Sinne eines putschistischen Faschismus aktiv wurden. Berühmt-berüchtigt war die so genannte „Cagoule“ von Eugène Deloncle. Sie blieben jedoch Randerscheinungen des politischen Lebens Frankreichs, wenngleich sie zu „Brutstätten“ der zukünftigen Kollaboration wurden. Wegen mangelnder Radikalität entfernten sich andererseits Intellektuelle wie Robert Brasillach von der „Action française“ und entwickelten sich zu regelrechten faschistischen Ideologen. Der ideologische Faschismus von Intellektuellen wie Robert Brasillach, Lucien Rebatet oder Pierre Drieu la Rochelle war meistens radikaler – im deutschen Sinne des Wortes – als derjenige, der in der alles in allem eher gemäßigten Praxis der politischen Gruppen zum Ausdruck kommt. Seine elitäre Intellektualität – trotz allem laut verkündeten Antiintellektualismus – beraubt ihn aber jeder tiefer gehenden Wirkung auf die Massen. Wie der Antisemitismus blieb er im Wesentlichen ein „Faschismus der Feder“.18

4.

Die Rolle der Religion bzw. des Laizismus in der Förderung oder Abwehr des Faschismus

Die Bewegung, die seit Ende des 19. Jahrhunderts in Frankreich die rechtsextremistische Landschaft beherrschte und somit dauerhaft das Gesicht des französischen Nationalismus prägte, war die „Action française“. Sie war im Kontext der Dreyfus-Affäre entstanden. Der Schriftsteller und Politiker Charles Maurras, ihr Chefideologe, ist das Gegenteil eines panvitalistischen Irrationalisten. Er beruft sich auf Comtes Positivismus, ist Monarchist und, obwohl Atheist, ein eifriger Anhänger der katholischen Kirche, die er als unentbehrlichen Ordnungsfaktor ansieht (während er, wie schon Joseph de Maistre, den Protestantismus als den Vorgänger des anarchischen Liberalismus und somit, ebenso wie das Judentum, als einen Zersetzungsfaktor betrachtet). Er vertritt einen „Katholizismus ohne Christentum“. Er ist Katholik und Monarchist aufgrund seines Nationalismus und nicht umgekehrt. Wegen seines zur Schau gestellten Atheismus wird er übrigens 1926 von der Kirche verurteilt (weshalb sich viele Katholiken von ihm abwenden). Er sehnt sich nach einer Wiederherstellung der Allianz zwischen Thron und Altar. Mit größerer Frömmigkeit verfolgt in der Mitte der 20er Jahre der nationalistische Katholik Pierre Taittinger, Chef der 18 Ich spiele hier an auf das Buch von Pierre-André Taguieff (Hg.), L’antisémitisme de plume, Paris 1999.

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„Jeunesses patriotes“, deren Maxime „Famille, Patrie, Dieu“ lautet, dasselbe Ziel und fordert die Aufhebung der laizistischen Gesetze. Der militante Katholizismus ist ein integrierender Bestandteil des französischen Nationalismus und des französischen Faschismus gewesen. Die Mehrzahl der Mitglieder der faschistischen oder faschistoiden Gruppen waren Katholiken. Das gilt für Gruppen, die sich offiziell zum Katholizismus bekannten, wie die „Croix de feu“ oder die „Parti social français“ des Colonel de la Roque. Viele Katholiken gehörten auch den „linken“ Gruppen an. Auch der Ex-Kommunist Doriot, Chef der „Parti Populaire Français“ (PPF), wurde sich 1938 bewusst, dass es ratsam war, in seinen Reden die geistige Tradition der Kathedralen heraufzubeschwören. 1939 unternahm er sogar eine Wallfahrt nach Lourdes! Mit dem Katholizismus teilt der Faschismus folgende gemeinsame Züge: Antiliberalismus, Antimarxismus und Antisemitismus. Viele französische „Faschisten“ haben sich nachdrücklich zum Katholizismus bekannt, Antoine Rédier, Georges Valois, Pierre Taittinger, Jean Renaud, Marcel Bucard, Robert Brasillach, Pierre Drieu la Rochelle usw. Robert Brasillach deutete den spanischen Bürgerkrieg als einen Konflikt, der den marxistischen Atheismus dem katholischen Faschismus entgegensetzte. Drieu lobte den männlichen Katholizismus des Mittelalters und das kriegerische Christentum der Kreuzzüge.19 Es geht also nicht an, wie manche französischen Historiker es tun, den Katholizismus als eben das Kriterium anzuführen, das die französische Ultrarechte vom Faschismus trennt.20 Wie in anderen Ländern (Italien, Osterreich, Polen, Spanien, Portugal, Rumänien usw.) scheint vielmehr der Katholizismus auch in Frankreich der Nährboden oder zumindest eine treibende Kraft des Faschismus gewesen zu sein. Diese Feststellung darf aber nicht zur der Meinung verleiten, alle Katholiken oder gar die offizielle katholische Kirche, hätten die faschistischen Gruppen und ihre Ideen unterstützt. Der französische Historiker Jean-Marie Mayeur erklärt, dass die unmittelbaren Nachkriegsjahre infolge der „Union sacrée“ und des Sieges der Republik einen zweiten „Ralliement“ der Katholiken zur Republik herbeigeführt haben.21 Der erste „Ralliement“ war Ende des 19. Jahrhunderts erfolgt, als Papst Leo XIII. die französischen Katholiken zur Aussöhnung 19 Robert O. Paxton, Le fascisme en action, Paris 2004, S. 428. 20 Soucy, Le fascisme, S. 430: „Refuser de qualifier de fasciste un mouvement français comme les CF/PSF parce qu’il défendait le catholicisme – dans ce cas-là une forme de catholicisme très prompt à châtier, épris de valeur militaire et qui se consacrait à l’extirpation de la ‚décadence‘ – revient à réduire tout fascisme au paganisme hitlérien et à fermer les yeux sur les milliers d’autres fascismes chrétiens de cette époque.“ 21 Jean-Marie Mayeur, Les catholiques français face au défi de l’extrémisme politique. In: Horst Möller / Manfred Kittel (Hg.), Demokratie in Deutschland und in Frankreich 1918–1933/40. Beiträge zu einem historischen Vergleich, München 2002, S. 71–77, hier: 72. Die Abmilderung des Gegensatzes zwischen Kirche und Republik wurde in einigen symbolischen MaBnahmen deutlich, der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Paris und dem Vatikan, der künftigen Verehrung der soeben heilig gesprochenen Jeanne d’Arc an einem französischen Nationalfeiertag.

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mit der Republik aufrief. Wie Manfred Kittel22 in seinem aufschlussreichen Aufsatz zeigt, gab es seit der Französischen Revolution nicht nur „deux France“: das des republikanischen Laizismus und das des monarchisch-reaktionären Katholizismus. Auch das katholische Lager war geteilt, seitdem sich ein sozialer und demokratischer Katholizismus seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit Persönlichkeiten wie l’Abbé Félicité Lammenais abgezeichnet hatte.23 Der heftige Vorstoß der laizistischen Republik ab 1870 gegen die Positionen der katholischen Kirche erklärt sich als Reaktion nicht nur auf die Kollaboration der Kirche mit Napoleon III., sondern auch auf deren wachsenden Dogmatismus, wie er sich in der Verkündung der päpstlichen Unfehlbarkeit manifestiert hatte. Kittel fasst die Situation des Katholizismus in der Dritten Republik folgendermaßen zusammen: „Die Sympathien der praktizierenden Katholiken verteilten sich während der Dritten Republik von der monarchisch-reaktionären Rechten bis zu den kleinen Gruppen der christlichen Demokratie; dazwischen waren die ‚républicains modérés‘ zu positionieren, eine Strömung, die zwar den extremen Antiklerikalismus und sozialpolitischen Reformeifer der radikalen Republikaner ablehnte, aber dem Staat gegenüber jedoch immer loyal blieb.“24 Darüber hinaus hatte die Praxis eines hundert Jahre lang immer wieder aufflackernden Kirchenkampfs selbst in katholisch-konservativen Kreisen dazu geführt, scharf zwischen geistlicher und weltlicher Sphäre zu trennen. Kandidaten, die sich bei den Wahlen unter die Protektion der Bischöfe und Pfarrer stellten, nahmen sich oftmals alle Wahlchancen. Der zweite „Ralliement“ drückt sich im Wahlverhalten der meisten Katholiken zugunsten gemäßigter Parteien aus. Zwar wünschten die meisten Katholiken von Seiten des Staates eine tolerantere, weniger antiklerikale Politik, eine Lösung der Schul- und Kongregrationsfrage. Wenn die äußeren und inneren Gefahren zu wachsen schienen, glaubte eine Minderheit von Katholiken, von den rechtsextremistischen Bewegungen Rettung erwarten zu könnten. Aber dies ging in der Regel bis zur Verwerfung der Republik. Die Verurteilung der „Action française“ durch den Papst im Jahre 1926 kostete diese einen beträchtlichen Teil ihrer katholischen Anhängerschaft. Die katholische Hierarchie spielte in diesen Jahren ihrerseits eine eher beschwichtigende Rolle, wenn sie auch die traditionellen katholischen Werte von Familie, Moral und ständestaatlicher Organisation der Gesellschaft weiter zu vertreten suchte. Die in einigen symbolischen Akten deutlich gewordene Abnahme des Antiklerikalismus in den 30er 22 Kittel, Die „deux France“ und der deutsche Bikonfessionalismus im Vergleich. In: Möller/Kittel (Hg.), Demokratie, S. 33–55. 23 Kittel erblickt sogar die Vorzeichen dieser „démocratie chrétienne“ in der niederen Geistlichkeit des „Ancien Régime“, S. 38. In den 20er und 30er Jahren wird dieser demokratische und soziale Linkskatholizismus hauptsächlich durch Persönlichkeiten wie Marc Sangnier, dem Gründer des „Sillon“ (1894–1910) und dann der „Jeune République“, vertreten. 24 Ebd.

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Jahren sowie Fortschritte der offiziellen Kirche im Sinne der Menschenrechte und des Antitotalitarismus verminderten noch die Kluft zwischen Kirche und Republik. Deshalb erkühnt sich Jean-Marie Mayeur25 zu dieser vielleicht allzu versöhnlichen Schlussbemerkung: „Man kann die Hypothese aufstellen, dass die Lehre zeitgenössischer Päpste wie Benedikt XV. und Pius XI. über die Rechte der Person und die Ablehnung des Totalitarismus, eine Lehre, die von den Bischöfen, dem Klerus, den katholischen Organisationen weit verbreitet wurde, dazu beigetragen hat, Frankreich vom Faschismus abzuwenden, genauso wie die Stärke der demokratischen Traditionen und das Gewicht des Mittelstands. Zweifelsohne hatten die ‚Radicaux‘, welche am Vorabend des Krieges Pius XI. bei seinem Tode huldigten und den Zusammenschluss der geistigen Kräfte gegen den Totalitarismus herbeiwünschten, die Rolle der katholischen Kirche angesichts der Gefahren, die die französische Demokratie bedrohten, richtig eingeschätzt.“

Die enge Bindung an den Katholizismus war andererseits den faschistischen Gruppen und Bewegungen so förderlich nicht.26 Ich interessiere mich hier nur für die Wirkung der Ideologie auf die Massen, und sehe von dem – wichtigen – Unterschied ab, der oft zwischen katholisch inspirierten, „bloß“ autoritären Diktaturen einerseits, und völkischen oder bolschewistischen totalitären Diktaturen andererseits gemacht wird.27 Seit den Reformen von Jules Ferry, d. h. seit mehreren Generationen, war die Mehrzahl der französischen Kinder in einem republikanischen antiklerikalen Geist erzogen worden. Der katholische Unterricht wurde zurückgedrängt. Man kann die Rolle der laizistischen Volkschullehrer (Péguy nannte sie: die Totenkopfhusaren der Republik!) nicht genug betonen. Im französischen Volk war also ein ausdrückliches Bekenntnis zum Katholizismus für eine faschistische Bewegung nicht unbedingt eine Stütze. Robert Soucy schreibt z. B.: „Obwohl die ‚Action française‘ in der Zwischenkriegszeit eine wichtige Rolle in der rechtsextremistischen Politik gespielt hat, hinderten sie ihr konsequenter Royalismus und ihre Forderung nach einer Allianz zwischen Thron und Altar für die Regierung Frankreichs daran, ein ernsthafter Machtanwärter zu sein. Allein die faschistischen Bewegungen, die unter dem Schild eines auch noch so autoritären Republikanismus firmierten, und die ihren ökumenischen Charakter in den Vordergrund stellten, hatten in Frankreich eine verheißungsvolle Zukunft.“28

25 Mayeur, Les catholiques. In: Möller/Kittel (Hg.), Demokratie, S. 77. 26 Soucy, Le fascisme, S. 312: „Dans un pays où, depuis lontemps, on associait Eglise et politique réationnaire et où l’anticléricalisme avait des implications idéologiques très marquées (Gambetta, un radical, s’était un jour écrié: „Le cléricalisme voilà l’ennemi!“), les mouvements politiques qui s’identifiaient par trop au catholicisme étaient dans une position désavantageuse.“ 27 Zur Begrifflichkeit s. die Zeitschrift des HAIT: Totalitarismus und Demokratie. Zeitschrift für Internationale Diktatur- und Freiheitsforschung 1 (2004) 2, bes. den Aufsatz von Wolfgang Merkel, S. 183–201. 28 Soucy, Le fascisme, S. 15 f.

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Soucy unterstreicht den Unterschied zu Italien, wo die katholische Kirche das Unterrichtswesen dominierte und zu Deutschland, wo Schule und Universität antidemokratische und reaktionäre Ideale vermittelten. Er kommt zu dem Schluss: „Wenn es in Frankreich dem Faschismus nicht gelang, die Massen in seinen Bann zu ziehen, dann deshalb, weil die Volksschullehrer gute Arbeit geleistet hatten.“29 Dass man aber in seinen Schlussfolgerungen vorsichtig sein muss, und dass die Frage, ob der Laizismus ein Hindernis für die Faschisierung Frankreichs gewesen ist, keine einseitige Antwort zulässt, zeigt der Werdegang Marcel Déats. Er kann als ein Produkt dieses Erziehungssystems betrachtet werden, das viele Franzosen gegen die faschistische Versuchung immunisiert hat. Der ehemalige Schüler der Ecole Normale supérieure, stand unter dem Einfluss des „radikalen“ Philosophen Alain und des Neukantianismus, wurde nach dem Ersten Weltkrieg, der auch für ihn ein „inneres Erlebnis“ bedeutete, „Agrégé de philosophie“ (Studienrat für Philosophie), bis er in die Politik einstieg. Er war ein typischer Vertreter der „Republik der Professoren“, die Albert Thibaudet in seinem gleichnamigen Buch aus dem Jahre 1927 beschrieben hatte. Pazifistisch und laizistisch eingestellt, gehörte er dem rechten Flügel der SFIO an und vertrat einen revisionistisch-reformistischen Sozialismus à la Hilferding, was zum Teil seine spätere Entwicklung erklärt. Um der Herausforderung des Faschismus und des Nationalsozialismus entgegenzuwirken, gründete Déat 1933 mit ein paar anderen Dissidenten eine „neosozialistische“, national eingestellte Partei, die „Parti socialiste de France-Union Jean Jaurès“. Déats Konzeptionen konvergieren zu dieser Zeit sehr stark mit denen des Belgiers Henri de Man. Die „Union socialiste républicaine“, die dann 1936 aus der Vereinigung dieser Dissidentenpartei mit anderen unabhängigen sozialistischen Splitterparteien entstand, unterstützte dennoch die Volksfront. Erst nach der Niederlage 1940 begann das Abdriften Déats zum totalitären Faschismus. Er sah die Zeit gekommen, sein Ideal einer zusammengeschweißten nationalen Gemeinschaft jenseits aller parteilichen oder ideologischer Spaltungen zu verwirklichen. Er kritisierte den Traditionalismus, den Klerikalismus, den Militarismus und die Bereitschaft des Vichy-Regimes, mit dem Kapitalismus zu paktieren. Von Anfang an trat er in der Rolle des „Kollaborateurs“ auf und sah in Hitler den Vorkämpfer eines mächtigen, geeinten Europa. Er entwickelte sich immer mehr zum Nachahmer des deutschen Führers. Im Januar 1942 erwähnte er die Möglichkeit, an der Stelle des nur autoritären Vichy-Regimes ein totalitäres Regime einzurichten, das sich stärker an das NS-Modell anlehnen sollte. Die 1941 von ihm neu gegründete Partei, „Rassemblement national populaire“, sollte zur einzigen Partei werden. Bald eignete er sich den rassistischen Diskurs des Nationalsozialismus an und sprach z. B. von der „rationalen und selektiven Züchtung der jungen Franzosen“.30 Der mimetische, kollabora29 Ebd., S. 313. 30 Philippe Burrin, La dérive fasciste. Doriot, Déat, Bergery. 1933–1945, Paris 1986, S. 403.

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tionistische und – zieht man das jähe Ende seines Lebens in Betracht – selbstmörderische Faschismus Déats zeigt kurzum eines: dass der Laizismus keineswegs gegen die totalitäre Versuchung immunisierte. Das gleiche Fazit könnte man aus dem Werdegang des Ex-Kommunisten Doriot und seiner PPF ziehen. In seinem Buch zeigt eben Philippe Burin, dass die „authentischsten“ drei Faschisten der 40er Jahre aus dem antiklerikalen Lager kommen: Gaston Bergery war Mitglied der „Parti radical“, Déat kam von der „Parti socialiste“ und Doriot von der „Parti communiste français“.31 Im Hinblick auf den Faschismus kann die Religion sowohl ein fördernder als auch ein bremsender Faktor gewesen sein. Sie mag z. B. einen Schutzwall, wenn nicht gegen Xenophobie, so doch gegen biologisch rassistische Ansteckung errichtet haben. Kurz vor dem Krieg warnte Kardinal Jean Verdier, Erzbischof von Paris, in seinen Predigten, Briefen und Reden schärfstens vor Antisemitismus und Rassismus. Mit anderen katholischen Intellektuellen wie Jacques Maritain oder François Mauriac unterstützte er nachdrücklich die Demokratie in ihrem Kampf gegen Faschismus und Totalitarismus. Die ideologische Verwurzelung vieler rechtsextremistischer und ultrarechter Gruppierungen im Katholizismus, namentlich in der katholischen Soziallehre des Katholizismus, verlieh dem „französischen Faschismus“ paternalistische Züge, die man bei heidnischeren Diktaturformen vermisst und mit der Sozialpolitik der Republik vereinbar schienen. Umgekehrt war der religiöse Antijudaismus zweifelsohne neben dem xenophoben Nationalismus eine der wichtigen Quellen des Antisemitismus, den das Vichy-Regime gleich zu Beginn an den Tag gelegt hat. Die ersten antisemitischen Maßnahmen wurden schon im Oktober 1940 aus eigener Initiative des Regimes, d. h. ohne jeglichen Druck der Besatzungsmacht getroffen. Freilich war dieser Antisemitismus kein biologischer, sondern ein „lediglich“ nationaler, aus der irrationalen Angst vor Überfremdung resultierender, der die Juden zunächst „nur“ aus dem nationalen Leben ausschalten wollte. Erst im Zuge der Kollaboration ab 1942 hat Vichy an der von den Nazis verfolgten biologischen Judenausrottung mitgewirkt. Dies alles führt uns aber zu unserem fünften Teil.

5.

Vichy

Die Niederlage und die Errichtung des Vichy-Regimes wurden von der katholischen Kirche begrüßt. Kardinal Gerlier aus Lyon sagte damals: „Wenn wir als Sieger davon gekommen wären, wären wir wahrscheinlich in unseren Irrtümern befangen geblieben. Weil Frankreich säkularisiert war, war es in Lebensgefahr.“ Die Mehrheit der Katholiken, auch „linke“, sahen das Ende der laizistischen Republik mit großer Zufriedenheit. Für viele konnte nur eine Rückkehr zu den traditionellen Werten des Katholizismus der Dekadenz ein Ende machen. Bi31

Burrin, La dérive fasciste.

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schof Delay richtete Ende 1940 diese Worte an Pétain: „Durch Ihre Vermittlung, Monsieur le Maréchal, wirkt Gott an der Rettung Frankreichs.“32 Kardinal Baudrillart, Direktor des „Institut catholique de Paris“, billigte die in Montoire besiegelte „Kollaboration“ und riet zum Gehorsam gegen „den Vater und den Chef, der heute Frankreich verkörpert“. Seit langer Zeit war die Eintracht zwischen Staat und Kirche nicht mehr so gut. Vichys Politik gegenüber der Kirche erklärt sich durch eine Reaktion gegen die Dritte Republik, gegen Jules Ferry und Emile Combes (der 1904 das Gesetz über die Trennung von Staat und Kirche durchgesetzt hatte). Die katholischen Schulen wurden wieder subventioniert, der Religionsunterricht im staatlichen Schulwesen – wenn auch als freiwilliges Fach – wieder eingeführt. Geistliche durften wieder als Lehrer arbeiten. Einige Kirchengüter wurden diözesanen Vereinigungen zurückgegeben. Das Regime zog die Kirchenmänner zu Rate und vertrat die katholischen Lehren über Familie, geistige Werte und moralische Dekadenz. Die neue Devise, „Travail, Famille, Patrie“,33 behagte der Kirche ebenso wie die vom Regime angepriesene „Rückkehr zur Erde“.34 Sie bejahte den Kampf gegen Freimaurerei, Kommunismus und Judentum, der sowohl im besetzten als im unbesetzten Frankreich geführt wurde. Zu dieser Zeit wurde Frankreich von einer Welle katholischer Frömmigkeit befallen. Die Kirchen waren voll, die katholischen Schulen und Jugendorganisationen erfreuten sich eines starken Zustroms an neuen Schülern bzw. Mitgliedern. Die katholischen Milieus genossen in der Anfangszeit des Vichy-Regimes sehr großen Einfluss. Besonders im Bereich des Sozialund Bildungswesens besetzten Katholiken die wichtigsten Posten. Sie spielten auch eine wichtige Rolle in der „Légion française des Combattants“, jenem Veteranenverband, den Pétain zu einem Transmissionsriemen seiner Politik machen wollte. Die Trennung von Staat und Kirche wurde dennoch nie ernsthaft in Frage gestellt. Ein einziger Erziehungsminister, der katholische Philosoph Jacques Chevalier, betrieb eine echt klerikale Politik. Schon 1941 pochte sein Nachfolger, der Althistoriker Jérôme Carcopino, wieder auf das Vorrecht des Staates und die Laizität der Schule. Die katholischen Schulen wurden weiter subventioniert, mussten sich aber der staatlichen Kontrolle unterziehen. Die Bischöfe gingen daraufhin ihrerseits etwas auf Distanz zum Staat. Ihre Haltung war fortan die einer „loyalen Unabhängigkeit“ (Cardinal Suhard). Gegenüber Montoire und der Kollaborationspolitik blieb sie dennoch höchst ambivalent. Es fiel den Bischöfen schwer, die Außenpolitik eines Regimes zu desavouieren, von dessen Innenpolitik sie die Rechristianisierung Frankreichs erhofften. In dieser Hin-

32 Zit. nach Paxton, La France de Vichy 1940–1944, Paris 1997, S. 199. 33 So lautete zunächst die Losung der Zeitung Le Flambeau, des Organs der „Parti social français“ von La Roque. 34 Burrin, La France à l’heure allemande 1940–1944, Paris 1995, S. 223: „L’Eglise retrouve dans la nouvelle France les principes qui la définissent: l’autorrité, la hiérarchie, les bergers et le troupeau.“

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sicht schien ihnen der Bolschewismus eine größere Gefahr zu sein als der Nationalsozialismus (dessen Vertreter in Frankreich, wie der Botschafter Abetz, ihre wahren Absichten geschickt zu verbergen wussten). Nie aber wurde ein Konkordat unterzeichnet. Bald schieden die Traditionalisten aus der Vichy-Regierung aus; unter Darlan kamen viele Technokraten ans Ruder. Die katholische Linke, die auf die Überwindung des Klassenkampfes durch „Dritter-WegLösungen“ (z. B. eine mit planwirtschaftlichen Elementen vermischte, korporatistische Ordnung) gehofft hatte, bedauerte den um sich greifenden Etatismus und den unverminderten Einfluss des Hochkapitalismus. Während die ersten antijüdischen Maßnahmen (den Status der Juden betreffend) keine Reaktionen der Hierarchie hervorgerufen hatten,35 löste die Deportation der Juden ab 1942 die offene Opposition von Bischöfen aus (Bischof Théas in Montauban, Kardinal Gerlier in Lyon). Die Zwangsrekrutierung französischer Arbeiter für die Todt-Organisation stieß auf die Missbilligung der Kirche. Man könnte meinen, der französische Katholizismus habe dieselbe Entwicklung durchgemacht, wie das französische Volk überhaupt. Besonders nach 1943 stießen immer mehr Katholiken zur Résistance, unter ihnen auch „autoritäre“ Persönlichkeiten wie La Roque, die zwar die Ziele der „Revolution nationale“ bejahten, aber die Unterjochung Frankreichs nicht akzeptierten. Aber der hohe Klerus kündigte dem „Maréchal“ bis zum Ende des Krieges nicht die Treue, so dass Sternhell die Kirche als den stärksten Pfeiler der „Révolution nationale“ und der Kollaboration betrachten kann.36 Als zusammenfassendes Motto zu ihrem Buch schreibt Michèle Cointet Folgendes: „Die katholische Kirche Frankreichs wurde vom Staat mit der größten Zuvorkommenheit behandelt, sie verlangte diese Hilfe und fasste sie als eine Wiedergutmachung der Ungunst auf, die ihr von Seiten der Republik bedacht worden war. Sie unterstützte das Vichy-Regime bis zum Ende der Besatzungszeit, auch gegen die Résistance und die Unternehmen der Alliierten. Ebenso sehr und vielleicht mehr als die ‚Action française‘ ist der Katholizismus ein Fundament des Paitinismus gewesen. Und doch wurden so viele Geistliche große Widerstandskämpfer. Ist dies eine Paradoxie? Oder ist es so, dass für die Kirche die Politik nur einen zweitrangigen Wert im Vergleich zu weiter gefassten Zielen besaß: die Erhaltung der Institution, die Rückeroberung einer durch die industrielle Revolution pervertierte Welt, der Kampf gegen ideologische Irrtümer, die geistige und apostolische Erneuerung.“37

Vichy wurde anfangs nicht nur von sämtlichen Strömungen und Tendenzen der extremen Rechten, sondern auch von einem Großteil der französischen Eliten (auch der linken!) und des französischen Volkes begrüßt, so dass Stanley Hoff35 An der Basis sind aber diese Maßnahmen auf den Widerstand vieler Katholiken – und Nicht-Katholiken – gestoßen. So weigerte sich der „Inspecteur général“, Gustave Monod, das Berufsverbot für die Juden im Unterrichtswesen anzuwenden, weil es „gegen die tiefsten Traditionen Frankreichs, die katholische und humanistische“ verstieß. (Zit. nach Marc-Olivier Baruch, L’Administration française sous Vichy. L’exemple du Ministère de l’éducation nationale, hg. von J. P. Azéma, Paris 1992, S. 118). 36 Sternhell, Ni droite, S. 69. 37 Michèle Cointet, L’Eglise sous Vichy 1940–1945. La repentance en question, Paris 1998, S. 7.

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mann von einer „pluralistischen Diktatur“ sprechen konnte.38 Die letzten Wahlen zur Nationalversammlung vor 1940 hatten gezeigt, wie begrenzt die Wählerschaft der faschistischen Gruppen war (wenn man die „Parti social français“ von La Roque ausnimmt, die etwa 10 Prozent der Stimmen erhielt, aber sie hatte sich schon weitgehend zum Parlamentarismus bekannt).39 Die Niederlage ersetzte ihnen den Putsch, den sie nicht vermocht hatten durchzuführen. Paradoxerweise erfüllte sie diese fanatischen Nationalisten mit einer gewissen Freude und Genugtuung, denn sie bestätigte ihre Diagnose über Frankreichs Dekadenz! Die Erschütterung der nationalen Identität, die sie bedeutete, gab ihnen die Gelegenheit, ihre Ansichten umzusetzen. Zunächst rekrutierte Vichy seine Funktionseliten hauptsächlich unter den oft katholischen, rechtsnationalistischen und liberalen Konservativen, dann – nach dem Machtantritt von François Darlan im Februar 1941 – unter den Technokraten. Dieser technokratische Modernismus glich Vichy etwas mehr dem Faschismus an. Aber erst in einer zweiten Phase, seitdem der ehemalige Sozialist Pierre Laval an die Macht zurückgekehrt war und die Wehrmacht im November 1942 die so genannten „Freie Zone“ besetzt hatten, gelangten regelrechte Faschisten an die Macht, ohne je die wichtigsten Posten besetzen zu können. Déat wurde erst im März 1944 zum Minister für Arbeit und nationale Solidarität („Ministre du Travail et de la Solidarité nationale“) ernannt und scheiterte in seinem Versuch, die Bildung eines Einparteienstaates durchzusetzen. Übrigens: „Faschistische“ Führer wie Doriot zogen es vor, in der besetzten Zone – in Paris – zu bleiben, wo sie mit Hilfe der Nazis ihre Absichten leichter verwirklichen konnten. Vichy selbst hat sich mit der wachsenden Kollaboration und unter dem Druck der Besatzungsmacht zwar faschisiert, wenn nicht „nazifiziert“. Nicht selten – im Falle der Judenverfolgung oder der Geiselerschießungen – hat Vichy den Nationalsozialisten entgegengearbeitet, um ihrem Eingreifen zuvorzukommen. Manche Historiker wie Pierre Azéma betonen die ehrgeizigen Zielsetzungen der „Révolution nationale“ und schließlich ihre Nähe zum regelrechten „harten“ Faschismus.40 Die Revolution wollte eine neue „organische“ Ordnung schaffen, eine „nationale, autoritäre, hierarchische und soziale“,41 die sich in mehr als einer Hinsicht von der zentralistisch-etatistischen republikanischen Kultur mit ihrem Prinzip der Laizität und dem Primat der natürlichen Rechte des Individuums entfernte. Aber auf dem Weg zum Totalitarismus hat sie gewisse Grenzen nicht überschritten: Nie hat es z. B. eine Staatsjugend (man wollte sich nicht mit der Kirche zerstreiten), einen nationalen Arbeitsdienst (trotz der „Chantiers de la jeunesse“) oder eine Staatspartei (weil Pétain keine politische Partei leiden konnte) gegeben. Deshalb kann Robert O. Paxton, im Gegensatz zu Azéma, die his38 Zit. nach Winock (Hg.), Histoire de l’extrême droite en France, Paris 1994, S. 193; vgl. Michèle Cointet-Labrousse, Vichy et le fascisme, Bruxelles 1987, S. 142–156. 39 Was Sternhell als eine List betrachtet. 40 Jean-Pierre Azéma hat das Kap. „Vichy“ in Winock, Histoire, redigiert (S. 191–214). 41 René Gilloin, ein Jünger von Maurras, zitiert J. P. Azéma. In: Winock, Histoire, S. 197.

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torische Kontinuität unterstreichen: „Frankreich war genug erschüttert, um die Republik zu verwerfen, aber nicht genug erschüttert, um sie durch ein Regime ersetzen zu wollen, die in ihrer Geschichte nicht verwurzelt wäre.“42 Die großen Prinzipien des Erziehungssystems der Dritten Republik wurden beibehalten, sogar die von der Volksfront eingeführte Schulpflicht bis zu einem Alter von 14 Jahren. Die katholische Kirche wurde auch nicht in ihrer alten Pracht und Macht wiederhergestellt. Paxton geht so weit, dass er in der Nationalen Revolution eine „Häresie“ der liberalen und fortschrittlichen Doktrinen der Dritten Republik erblickt.43 Die Ziele blieben dieselben: die Integrität der Nation, die Erziehung des Volkes und nicht zuletzt der allgemeine Wohlstand dank wissenschaftlich-technokratischer Methoden.

6.

Schlussbemerkungen

Ob Frankreich die ursprüngliche Heimat des Faschismus gewesen ist oder ob es im Gegenteil aufgrund seiner Kultur gegen den Faschismus allergisch war, ob und welche rechtsextremistischen Gruppen oder Bewegungen in Frankreich die rote Linie zum regelrechten Faschismus überschritten haben oder ob sie „nur“ bonapartistisch, rechts bzw. neunationalistisch, autoritär, populistisch usw. geblieben sind, so haben wir eigentlich die Frage nicht stellen wollen. Man kann übrigens wetten, dass diese Frage die Historiker noch lange beschäftigen und Anlass zu vielen Publikationen geben wird. Fest steht, dass es im Frankreich der Zwischenkriegszeit Gruppierungen und Bewegungen gegeben hat, die ideologisch gleichzeitig anti-aufklärerisch und antireaktionär, politisch antiliberal, sozial antimarxistisch, wirtschaftlich gleichzeitig korporatistisch und technokratisch eingestellt waren und selbst ihre Nähe zum ausländischen Faschismus (hauptsächlich zum italienischen) proklamiert haben. Fest steht auch, dass es ihnen aus konjunkturellen und strukturellen Gründen, aufgrund ihrer eigenen Schwäche oder wegen der Festigkeit des republikanischen Regimes nicht gelungen ist, ihre Revolution durchzuführen und in der Zwischenkriegszeit an die Macht zu kommen. Mit seinem rein funktionalistischen Ansatz kommt Klaus-Jürgen Müller zu dem Schluss, dass das Erscheinen dieser Gruppen von dem Modernisierungsbedürfnis bestimmter rechtskonservativer Kräfte zeugt, „die glaubten, ihre Interessenwahrung nunmehr nur noch durch die Bildung einer ‚modernen‘ rechten Sammlungsbewegung und damit durch ihre stärkere Integration in das republikanische System realisieren zu können“.44 Wie dem auch sei, ob revolutionär oder integrationslustig, das Scheitern dieser Gruppen beweist die Integrationskraft der „republikanische[n] 42 Paxton, La France, S. 284. 43 Ebd., S. 285. 44 Klaus-Jürgen Müller, ‚Faschismus‘ in Frankreichs Dritter Republik? Zum Problem der Überlebensfähigkeit der französischen Demokratie zwischen den Weltkriegen. In: Möller/Kittel (Hg.), Demokratie, S. 121. Vgl. auch S. 110 über das „Faisceau“, in dem Mül-

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Synthese“, der schon der „Ralliement“ des Konservatismus und des Katholizismus gelungen war. Sternhell sieht in der auch von linken Abgeordneten dem Maréchal Petain gewährten Vollmacht und der anfangs fast allgemeinen Unterstützung, die er in den französischen Eliten und im französischen Volk gefunden hat, den Beweis der Imprägnation der französischen Kultur durch faschistische Mentalitäten und Ideologeme. Die Niederlage sei die Krise, welche, wie anderswo die Wirtschaftskrisen, dem französischen Faschismus die Gelegenheit gab, durchzubrechen und seine wahre Stärke zu enthüllen. Sternhell unterstreicht die Kontinuität, man kann aber auch den Bruch hervorheben. Die Niederlage ist zweifelsohne der Prüfstein für die Schwäche der liberalen Demokratie vor der Herausforderung des äußeren Faschismus bzw. Totalitarismus gewesen. Vichy kann aber schwer als der Prüfstein für die Stärke des Faschismus im Vorkriegsfrankreich betrachtet werden. Was die Religion betrifft, so kann auf Seiten der rechtsextremistischen Gruppen nicht von religiösem Fundamentalismus die Rede sein. Im Gegenteil fiel der oft bloß instrumentelle Charakter auf, den die Religion für die meisten Gruppen annahm. Den Atheisten Maurras fesselte am Katholizismus nicht so sehr der Glaube oder die Theologie, als das römische hierarchische Ordnungsdenken des Katholizismus, das eine wesentliche Stütze der erwünschten Diktatur darstellen sollte. Das Element, das mir trotz aller besonders von Sternhell zu Recht hervorgehobenen Konvergenzen definitiv den französischen „Faschismus“ vom italienischen oder gar vom idealtypischen Faschismus zu trennen scheint, ist sein Traditionalismus, wie er sich nicht nur in der Bezugnahme auf die Monarchie oder die katholische Religion, sondern viel allgemeiner auf die Vergangenheit Frankreichs als Heimatland der „civilisation“ (oder als „älteste Tochter der Kirche“) zeigt.45 Auch der Rechtsextremismus bekannte sich zu dieser Tradition, die in der Pflege der Sprache und der Kontinuität der Kultur ihren symbolhaften Ausdruck fanden. An den republikanischen Gesetzen hatte er solange nichts ausler „eine modernistische Protest- und Alternativbewegung“ sieht, „die auf Veränderung des Systems des ‚Régime des Assemblées‘ abzielte, ohne jedoch das verbindende Band zu den republikanisch-jakobinischen Grundlagen zu durchtrennen.“ 45 S. Andreas Wirsching, Vom Weltkrieg zum Bürgerkrieg. Politischer Extremismus in Deutschland und Frankreich 1918–1933/39. Berlin und Paris im Vergleich, München 1999, S. 350: „Während der Nationalsozialismus auf seine Weise die ideologische Flucht aus der deutschen Geschichte antrat, blieb die extreme Rechte in Frankreich über weite Strecken mit der nationalen politischen Kultur verbunden. [...] Auch die gegenrevolutionäre Tradition konstituierte trotz aller ihrer antiliberalen und antidemokratischen Substanz eine in der Tradition Frankreichs verwurzelte, verbindliche Matrix. [...] Dies galt für die großen Themen wie Monarchie und Religion, aber auch für einige spezifische Elemente des konservativen Antirepublikanismus wie z. B. die Aufnahme des Korporatismus eines Albert de Mun oder eines René de la Tour du Pin sowie der antietatistische Regionalismus eines Charles Maurras. Dies alles ließ modernen totalitären Versuchungen wenig Spielraum und immunisierte somit Teile der extremen Rechten gegen rassistisches oder auch faschistisches Gedankengut.“

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zusetzen, wie sie diese Erbschaft respektierten. Auch die Trikolore gehörte zu ihr.46 Anders als in Deutschland besaß der Erste Weltkrieg – und die „Union sacrée“, die ihn charakterisierte – in Frankreich keinen Spaltungs- und Radikalisierungseffekt, so dass er in dieser Hinsicht einen weiteren Kohäsionsfaktor zugunsten der Republik bildete. Trotz modernistischer bzw. technokratischer Tendenzen, die sich in Gruppen wie „Le Faisceau“ manifestierten und vom Übergang zu einem sozialen und progressiven „Neuen Nationalismus“ zeugen,47 blieb der französische Faschismus insgesamt rückwärts gewandt, aufs Bewahren bedacht. Bei ihm vermisst man den Imperialismus und den profanen Messianismus, den sich andere Faschismen im Namen der Nation oder der Rasse aneigneten.48 Aus diesen Gründen konnte der französische Faschismus keine Utopie, keine säkuläre oder politische Religion erzeugen. Wenn damals in Frankreich von einer zivilen Religion49 die Rede sein konnte, dann im laizistischen republikanischen Lager. Marcel Gauchet hat deren Entstehung im Zuge der Dreyfus-Affäre, bei der der Staat schließlich als der Vertreter der Wahrheit und der Justiz hervorgetreten war, aus dem Kampf gegen die „die Heteronomie“ vertretende Religion erklärt: „Die Demokratie schöpfte aus ihrem Kampf gegen das Sakrale eine Art Ansteckungssakralität, die sie zweifelsohne über die profanen Dinge erhob; auf den ‚Ausgang des Menschen aus seiner Mündigkeit‘ ausgerichtet, war sie von einer Ernsthaftigkeit geprägt, die aus ihr eine Berufung, eine normative Instanz (un ministère), den Gegenstand eines grenzenlosen Aufopferungsgeistes machte. Dabei erhielt sie die Dimensionen eines universellen Projekts, das die ganze Menschheit umfasste und alle Forderungen und Bedürfnisse befriedigen sollte.“50 46 Auf den Programmen der „Parti social français“ des Colonel de la Roque war das Bild einer Marianne mit ihrem „bonnet phrygien“ abgebildet! 47 Ich benutze hier die Kategorien von Stefan Breuer, Ordnungen der Ungleichheit. Die deutsche Rechte im Widerstreit ihrer Ideen 1871–1945, Darmstadt 2001. Der „neue Nationalismus“ ist nach Breuer „progressiv“ und im Gegensatz zum alten Nationalismus „inklusiv“, insofern er die Massen zu integrieren versucht; s. auch Breuer, Nationalismus und Faschismus, Darmstadt 2005, S. 78–81: „Modernisierung des Rechtsnationalismus: Georges Valois“. Breuer teilt übrigens auch die Meinung, wonach der Rechtsnationalismus in Frankreich nichts mit dem eigentlichem Faschismus zu tun hatte und insgesamt eine „Stabilisierungskraft“ darstellte, „die in diesem Fall dem Staat und sogar seiner republikanischdemokratischen Form zugute kam.“ (ebd., S. 94). 48 Wirsching, Vom Weltkrieg, schreibt z. B. auf S. 497: „Im Hauptstrom des französischen Faschismus der dreißiger Jahre würde man vergeblich nach der Zielperspektive eines ‚neuen Menschen‘ suchen, wie man ihn im italienischen Faschismus antrifft, um vom Nationalsozialismus ganz zu schweigen.“ 49 Ich übernehme hier die Unterscheidung, die Emilio Gentile in seinem Buch, Qu’est-ce que le fascisme? Paris 2004, S. 316 in Anlehnung an Jean-Pierre Sironneau trifft. Die „fundamentalistischen“ Formen der politischen Religion seien typisch für die „geschlossene“ Gesellschaft des Faschismus, während die „diskreten Formen“ der zivilen Religion für „offene“ liberale Gesellschaft charakterisch seien. 50 Marcel Gauchet, La religion dans la démocratie. Parcours de la laïcité, Paris 1998, S. 103.

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Der Philosoph Gauchet bestätigt und erklärt auf diese Weise das Wort von Gambetta, die Republik sei „eine moralische Person von unvergleichlicher Größe“.

Religion als Wettbewerb. Zur religiösen Kultur der USA Michael Zöller

Vorbemerkungen Herr Lübbe hat einmal selbstironisch bemerkt, prominent sei, wer nicht vermeiden könne, sich selbst zu zitieren. Wir anderen werden unseres Mangels an Prominenz gewahr, wenn wir nicht umhin können, uns auf Lübbe zu beziehen, und so werde ich mich bei meinen einleitenden Überlegungen ganz parallel zu ihm bewegen. Freilich kann man auch auf unverschuldete Weise zur Selbstwiederholung genötigt sein, nämlich als ein Monopolist wider Willen, der den Marktzutritt der abwesenden Konkurrenten weder verhindern wollte, noch konnte – und in diesem Sinne besteht das einzige mir bekannte Marktversagen in der anhaltenden Nachfrage nach meinen Vorträgen über Religion in Amerika. Sie erkennen an meiner Wortwahl, dass ich die heutige Variation als eine Übung in Politischer Ökonomie betrachte, auch wenn ich im Weiteren eher die Sprache der Historiker benutze. Dabei will ich in drei Schritten vorgehen. Ich beginne mit wenigen Hinweisen darauf, dass die religiöse Kultur der Vereinigten Staaten (von jetzt an werde ich politisch inkorrekt von Amerika sprechen), dass also die amerikanische Kultur einige Theoriebestände in Frage stellt, die als gesunkenes Kulturgut in den allgemeinen Ideenhaushalt eingegangen sind; oder, dass wir umgekehrt an solchen vertrauten Vorstellungen nur deshalb festhalten können, weil wir die auffällige Tatsache einer nicht-säkularisierten Gesellschaft beharrlich ignorieren. Unter Säkularisierung verstehe ich mit David Martin, Howard Becker und Hermann Lübbe den Vorgang, als dessen Ergebnis Religion die Fähigkeit einbüßt, soziale Kontrolle auszuüben. Zweitens werde ich etwas ausführlicher darstellen, wie Amerika nicht etwa nur langsamer als vergleichbare Länder seine religiöse Prägung verloren hat, sondern, im Gegenteil, nach und nach eine immer bestimmendere religiöse Kultur entwickelt hat. Schließen will ich mit einer erklärenden These, die ich zunächst einmal ganz ohne weitere Erläuterung vor Sie hinstelle: Amerikas unterscheidende Verwandtschaft mit Europa ist vor allem das Ergebnis einer ungeplanten Institutionalisierung des religiös-kulturellen Wettbewerbs und diesem verstetigten Wettbewerb ist es zu verdanken, dass die Religion nicht unter die Räder des Zeitgeistes geriet, sondern dass sie umgekehrt sowohl die Rolle

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des Protagonisten jeweiliger kultureller Umbrüche, wie auch diejenige des Kritikers solchen Wandels, übernehmen konnte.

I. Die Intellektuellen auf dem europäischen Kontinent haben diese Besonderheiten zwar gesehen, aber selten verstanden. Sie haben die spezifisch amerikanischen Formen der Religiosität eher kopfschüttelnd beobachtet und ihre Meinung bestätigt gefunden, dass Europa eben doch kulturell überlegen sei. Einer von ihnen schrieb: „Vergleichen wir Nordamerika mit Europa, dann finden wir die Ansicht, jeder könne eine eigene Weltanschauung, also auch eine eigene Religion haben. Daher das Zerfallen in so viele Sekten, die sich bis zum Extrem der Verrücktheit steigern und deren viele einen Gottesdienst haben, der sich in Verzückungen und mitunter in den sinnlichsten Ausgelassenheiten kundgibt. Dieses gänzliche Belieben ist so ausgebildet, dass die verschiedenen Gemeinden sich Geistliche annehmen und ebenso wieder fortschicken, wie es ihnen gefällt; denn die Kirche ist nicht ein an und für sich Bestehendes (wir haben den Autor also identifiziert), die eine substantielle Geistigkeit und äußere Einrichtung hätte, sondern das Religiöse wird nach besonderem Gutdünken zurechtgemacht. In Nordamerika herrscht die ungebändigste Wildheit aller Einbildungen.“1

Amerika und Religion hängen jedenfalls auf das Engste zusammen, denn Amerika ist eine religiös imprägnierte Kultur und hat seine eigenen religiösen Formen hervorgebracht. Die Tatsache hat sich herumgesprochen, doch die Erklärungen laufen meist auf die Aussage hinaus, die Amerikaner seien eben so. Aber – nicht die Amerikaner sind anders, sondern Amerika ist anders. In der historischen Altstadt europäischer Großstädte findet man gewöhnlich eine denkmalgeschützte Hauptkirche, auf deren Turm man steigen kann, um auf die am Stadtrand errichteten Wohnhochhäuser zu blicken. Im Zentrum amerikanischer Großstädte kann man auf die Aussichtsplattform des Hochhauses einer Versicherungsgesellschaft fahren und ringsherum Kirchtürme sehen. Dabei ist meist ein innerer Ring deutlich von einem äußeren zu unterscheiden, was nichts mit Verkehrspolitik zu tun hat. In dem inneren Ring finden sich die Petrifakte der Einwanderung, also die an ihren Kirchen erkennbaren ethnischen Viertel aus dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Zur Orientierung kann die Formel dienen: viel Fassade gleich katholisch und je mehr davon, desto osteuropäischer, also z. B. italienisch, slowakisch, polnisch oder litauisch. Wir sprechen, wie gesagt, von Großstädten. Im Zentrum amerikanischer Kleinstädte herrscht Nüchternheit im ästhetischen Sinne wie auch im Sinne des Alkoholmangels, d. h. Abwesenheit von Katholiken. Die erkennbare Ordnung ist die einer nach außen hin abnehmenden Rangfolge des innerprotestantischen Status, also z. B. Episcopalian, Presbyterian, Methodist, Baptist. 1

Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Frankfurt a. M. 1986, S. 112 f.

Zur religiösen Kultur der USA

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Doch zurück zur Großstadt. Man sieht vom Hochhaus einen zweiten äußeren Ring, in dem so weit das Auge reicht, die Häuser und die Kirchtürme keineswegs seltener, wohl aber niedriger und gleichförmiger werden. Hier, wie in der amerikanischen Gesellschaft überhaupt, hat sich der weiße Mittelstand ausgebreitet wie ein Algenteppich. Daraus folgt zweierlei: Erstens, Religion erweist sich weitgehend als eine Angelegenheit des Mittelstandes und wächst zusammen mit diesem. Zweitens, in schwach strukturierten Gesellschaften, zumal wenn ethnischer und kultureller Pluralismus herrscht, werden die Religionen zu den wichtigsten Vehikeln der sozialen Teilhabe und der sozialen Beglaubigung. Das Stichwort „soziale Beglaubigung“ kann man zunächst im Sinne einer von Max Weber berichteten Anekdote verstehen, nämlich so, dass ein Patient dem Arzt vor Beginn der Untersuchung die Tatsache seiner Mitgliedschaft in einer örtlichen Religionsgemeinschaft als Beleg seiner Zahlungsfähigkeit und Zahlungswilligkeit mitteilte: „I’m a member of the first methodist church“, soll er, laut Weber, erklärt haben. Lange bevor eine amerikanische Kreditkartenfirma mit dem Slogan warb „Zahlen sie mit Ihrem guten Namen“, tat dieser Kleinstadtbewohner eben dies. Dafür aber taugt nicht jede Religion, es muss schon eine jener protestantischen Kirchen sein, bei denen untadelige Lebensführung als Voraussetzung der Mitgliedschaft gilt. Wichtiger als diese Kreditwürdigkeit ist natürlich die soziale Akkreditierung im allgemeinen Sinne. Deshalb war ja auch die Religion – und nur die Religion – von dem Anpassungsdruck ausgenommen, den die amerikanische Kultur ansonsten auf den Neuankömmling ausübte. Religion war die einzige Besonderheit, die er nicht ablegen sollte. Es herrschte starker sozialer Druck gegen ethnische Besonderung und für religiöse Zuordnung. Eine ethnisch definierte jüdische Identität und Solidarität galt als unamerikanisch. Inzwischen aber sehen die Synagogen wie Kirchen aus, und die orthodoxen, konservativen und reformierten Teilgruppen organisieren sich wie protestantische Denominationen. Das hat zu einer innerjüdischen Diskussion um die Frage geführt, ob auf diese Weise amerikanische kulturelle Normen mit einer gewissen Chuzpe dem Überleben des Judentums dienstbar gemacht wurden, oder ob dieses amerikanisiert werde. Nur noch wenige Hinweise, um diesen allgemeinen Überblick abzuschließen: Amerikanische Demoskopen haben, seit es dieses Gewerbe gibt, also seit Ende der 30er Jahre, bestimmte Fragen von Jahr zu Jahr immer wieder gestellt. So auch die, ob man noch der Religionsgemeinschaft angehört, in die man hineingeboren wurde. Ich finde diese Zahlen besonders aufschlussreich, denn sie lassen sich als Auskunft über die Lebenserwartung verschiedener religiöser und weltanschaulicher Positionen in der amerikanischen Kultur lesen. Judentum und Katholizismus zeigen die zu erwartende Stabilität. Bei minimalen Schwankungen geben Juden zu etwa 89 Prozent und Katholiken zu etwa 86 Prozent immer wieder die Auskunft, noch zur Religion der Väter zu gehören (Ich be-

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nutze diese alte Formel, obwohl die Religion der Mütter sich im Zweifelsfall als stärker erweist). Die Zahlen für den Protestantismus überspringe ich. Sie scheinen gerade für die vergangenen Jahre enorme Einbrüche zu dokumentieren, was aber insofern missverständlich ist, als die meisten dieser untreuen Protestanten in der Familie geblieben sind. Sie haben eine protestantische Denomination (und zwar meistens eine der so genannten „liberalen“) verlassen und sich einer anderen (meistens einer konservativeren) angeschlossen. Auf diesen Wanderprotestantismus werde ich noch zurückkommen. Der instabilste Zustand aber, in den amerikanische Eltern ihre Kinder versetzen können, ist offenbar der der Konfessionslosigkeit. Der Anteil der Standhaften schwankt über die Jahre stark, nämlich zwischen 9 Prozent und 20 Prozent – Veränderungen, in denen sozusagen die kleinen Wellen der Entwicklung deutlich werden, doch auch für diese Nachkommen von Freidenkern würde ich mich nicht verbürgen, denn unter ihnen sind besonders viele unverheiratete junge Männer, eine ohnehin gefährdete Spezies. Genug davon. Ich halte vorerst fest: Die amerikanische Kultur begünstigt und prämiert religiöse Zurechnung – und ich behaupte, dies gilt für alle modernen Gesellschaften, sofern sie den Prozess der Individualisierung und Pluralisierung, den damit verbundenen Kulturkampf und die Entstaatlichung der Religion hinter sich gebracht haben. Religion in Amerika zeigt jedenfalls große Stabilität. Sie wird durch die Modernisierung der Gesellschaft nicht in Frage gestellt, sondern gefördert und sie entspricht auch in ihren sozialstatistischen Merkmalen dem Durchschnitt. Wenn es Abweichungen gibt, dann nach oben. Anders als in Europa sind in den Kirchenbänken nicht die älteren weiblichen, ärmeren, in kleineren Gemeinden lebenden Personen mit geringerer Schulbildung überrepräsentiert. Bei den 80 Prozent der Bevölkerung, die unter der amerikanischen Bedingung der Freiwilligkeit dennoch einer Religionsgemeinschaft angehören und von denen sich ziemlich genau je eine Hälfte regelmäßig, eine andere sporadisch beteiligt, unter diesen vier Fünfteln der Amerikaner befinden sich etwas mehr Weiße, etwas mehr College-Absolventen und mehr Bezieher mittlerer und höherer Einkommen. Soweit die Beschreibung der Lage. Doch was davon geht nun auf amerikanische Besonderheiten zurück, die sich anderswo nicht einstellen werden, und was ist Ausdruck allgemeiner Tendenzen, die nur in verschiedenen Gesellschaften unterschiedlich schnell zum Tragen kommen?

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II. Man kann wohl von einer epochalen Tendenz sprechen, wenn alle noch so unterschiedlichen Absichten am Ende Wasser auf ein und dieselbe Mühle sind, und ich mache – wie die Amerikaner sagen würden – eine lange Geschichte sehr kurz, indem ich die religiöse Individualisierung als jenen Großtrend bezeichne, zu dem alles beiträgt. Unter religiöser Individualisierung verstehe ich, dass die Kompetenz zur Beurteilung religiöser Qualifikation auf den Einzelnen übergeht. Das begann bereits mit den Puritanern Neuenglands, als sie versuchten, ein Regime zu errichten, das die Reinheit der Lehre und die Einheit der Gemeinde bewahren sollte. Indem sie aber bürgerliche und staatsbürgerliche Rechte von der Zugehörigkeit zu ihrer Gemeinde der Heiligen abhängig machten, legten sie nicht nur den Grund zu einer politischen Kultur, in der jede politische Absicht in religiöse Terminologie gekleidet werden musste, sondern sie erzeugten auch ein massives Interesse an der Erleichterung des Zutritts zu ihrer Gemeinde, ein Druck, dem sie schließlich nachgeben mussten. Die erste Station auf diesem Weg war der so genannte „Halfway-Covenant“, der wie der Name sagt, den Sündern auf halbem Weg entgegenkam, indem er Taufe und Mitgliedschaft, nicht aber Teilnahme an der Kommunion anbot. Es drohte also eine religiöse Zweiklassengesellschaft, vor allem aber brachte diese Zulassung immer weiterer Gruppen von zweifelhafter Qualifikation andere dazu, sich in neuen, exklusiveren Gemeinden zusammenzuschließen. Aus diesem Wechselspiel zwischen Liberalisierung der etablierten Religion und Revolte gegen diese Liberalisierung entstand also schon so etwas wie eine Pluralisierungsautomatik. Die nachfolgenden Erweckungsbewegungen des 18. und 19. Jahrhunderts setzen dann Glauben und Gewissen gegen Doktrin und Unterweisung; sie verlagern also das Gewicht noch weiter weg von der durch die Gemeinde kontrollierten Lebensführung hin zu der Subjektivität des religiösen Erlebnisses, das sich der Beurteilung durch andere entzieht, weshalb jeder sich darauf berufen kann. So etabliert sich durch diese Demokratisierung der Heilschancen die Gemeinschaft aller protestantischen Amerikaner. Der Status der Qualifiziertheit und Auserwähltheit geht auf alle Protestanten und damit auf alle Amerikaner über – und dabei blieb es fast ein Jahrhundert lang bis zum Schock der Einwanderung, also bis das Problem entstand, wie man aus den Iren Amerikaner und aus den Katholiken Christen macht. Es bildete sich jedenfalls ein innerprotestantischer Pluralismus, der von den kaum strukturierten Formen enthusiastischer Sektenreligiosität bis zu betont liturgischer Kirchlichkeit reicht. Individualisierung schafft die Voraussetzung für Voluntarismus, also für die frei gewählte religiöse Selbstzuordnung, und diese führt wiederum zur organisatorischen Pluralisierung. So entsteht aus der dogmatisch kaum definierten Vielfalt ein Markt religiöser und sozialer Dienstleistungen, der aus der bewussten Absicht zur sozialen Integration gar nicht besser hätte erfunden werden können. In einer inklusiven Kultur, in der es wichtig

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ist, dazuzugehören („sharing and belonging“), in der aber dogmatische Kohärenz wenig bedeutet, in einer solchen Kultur ist es leicht, von einer Religionsgemeinschaft zu einer anderen zu wechseln, wenn man dabei in einem lose definierten Rahmen bleibt; von dieser Möglichkeit, dem so genannten „churchswitching“, haben 35 Prozent derer Gebrauch gemacht, die sich gegenwärtig als Protestanten bezeichnen. Ist die eigene Kirche zu liberal, zu konservativ, zu phantasielos, so kann man umsteigen, statt gleich auszusteigen. Albert Hirschman sprach von „voice and exit“, aber „choice“ ist die produktivere Form von „exit“2. Soweit mein erster Anlauf. Der Rundblick von der Aussichtsplattform des Hochhauses hat eine religionsfreundliche Kultur gezeigt, in der die Religion nicht in Gegensatz zum sozialen Wandel geriet, sondern eher mit der Entwicklung der Gesellschaft wuchs. Doch obwohl dabei von Religion im Allgemeinen, von Religion als solcher die Rede war, barg es doch viele Hinweise darauf, dass nicht alle Religionen zu jeder Zeit gleich gut mit dieser Kultur harmonierten bzw. erst nach und nach integriert wurden, also sowohl begannen, zu dieser Kultur beizutragen, wie auch von ihr geprägt, also amerikanisiert, zu werden. So wäre es verlockend, die Einwanderungswellen des 19. Jahrhunderts, also die Amerikanisierung des Katholizismus, zu schildern, oder die Missionsbemühungen der drei vorausgehenden Jahrhunderte zu betrachten, doch ich streife sie nur, um zu dem entscheidenden protestantischen Jahrhundert zu kommen. Ich überspringe also die spanische Indianermission von der außer Ortsnamen nichts geblieben ist: St. Augustine in Florida oder der Name der ganzen Halbinsel, die erstmals an einem Ostersonntag gesichtet und deshalb unter „pascua florida“ in ein Schiffsbuch eingetragen wurde. Folgenreicher war schon die französische Präsenz am Ohio und im Gebiet der großen Seen. Die Ortsnamen verschwanden meist wieder, aus Fort Duquesne wurde Detroit, doch blieb der Name des ersten Kommandanten, des Monsieur de Cadillac, mit Detroit verbunden. Die französischen Jesuiten, die „Schwarzröcke“ wie die Indianer sagten, hinterließen ihre „Relationes“, die regelmäßigen Berichte an den General in Rom, die wichtigste Quelle für die Frühgeschichte des Mittleren Westens. Pater Marquette wurde der Begründer der amerikanischen Geographie, und es entstanden Schulen. Eine davon heißt heute Marquette-University. Dauerhafte kirchliche Strukturen konnten jedoch auch die Jesuiten nicht schaffen, denn bis zum Siebenjährigen Krieg, den die Amerikaner als den „French and Indian War“ bezeichnen, trugen England und Frankreich ihren Machtkampf auch in Amerika aus, und die Indianer (die keineswegs als edle Wilde friedlich miteinander lebten) führten ihre Stammesfeindschaften als Stellvertreterkriege weiter und suchten dabei den stärkeren Verbündeten und den stärkeren Gott: Die Irokesen hätten wohl auch sonst ihren berüchtigten Vernichtungskrieg gegen die Huron geführt, aber nun konnten sie den Engländern berichten, sie hätten zahllose Papisten getötet. 2

Albert O. Hirschman, Exit, voice and loyalty: responses to decline in firms, organizations and states, Cambridge, Mass. 1970.

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Mit dem Frieden von Paris, der Frankreichs Abzug aus der „Neuen Welt“ (und den Anfang der französischen Probleme mit Amerika) markiert, beginnt das sehr lange protestantische 19. Jahrhundert, das von 1763 bis 1914 reicht. Dabei verfestigen sich zunächst die Strukturen, die sich entlang der Atlantikküste schon herausgebildet hatten. Bis zur amerikanischen Revolution hielt man auch in den 13 Kolonien an der Vorstellung fest, die religiöse Einheit sei die Voraussetzung der politischen. Bis in das 18. Jahrhundert hinein hielt sich ja die Vorstellung, dass Sprache eine Sache der freien Wahl sei, nicht aber Religion – und erst der Nationalismus des 19. Jahrhunderts hat das Verhältnis umgekehrt. Dieses cuius-regio-Prinzip wurde in die Kolonien als das englische System des religiösen Establishments (Amerikaner nennen es das „westphalian principle“) übertragen. „Religious establishment“ hieß, dass je eine Religion (die Congregational Church in New-England, die Church of England in Virginia und weiter südlich) zweifach privilegiert wurde: Nur wer dieser Kirche angehörte, hatte Zugang zu öffentlichen Ämtern; aber auch wer kein solches Amt anstrebte, musste über seine Steuern zum Unterhalt der etablierten Kirche beitragen. Gleichzeitig entwickelte sich aber gerade in Neuengland, wo die so genannten Puritaner für religiöse Einheit sorgen wollten, jener unbeabsichtigte Pluralismus, von dem ich bereits gesprochen habe. Nach der Revolution fielen die regionalen Monopole, auch wenn es in einzelnen Staaten noch lange dauerte. Außerdem veränderten sich die Stärkeverhältnisse. Die Anglikaner, die Church of England und der Hort der Loyalisten, verloren die Masse ihrer Mitglieder. Da half auch die Umbenennung in „Episcopal Church of America“ nichts mehr. Umgekehrt profitierten die Methodisten und vor allem die Baptisten von dem zweifachen Strukturumbruch. Sie galten nicht nur als Befürworter der Revolution, sondern halfen auch bei der Ausbreitung des Landes in den Westen. Dabei hatten sie den Vorteil ihrer demokratisierten, schwach institutionalisierten Struktur, die Platz für Laienprediger ließ und in der Sundayschool schon früh den Frauen eine aktive Rolle einräumte. Damit waren die Voraussetzungen für eine lange kulturelle Vorherrschaft der verschiedenen Spielarten des amerikanischen evangelikalen Protestantismus gegeben, d. h. wir sprechen nicht mehr nur von Religion in Amerika, sondern von amerikanischer Religion, die sich nicht trotz, sondern wegen religiösem Pluralismus und individueller Wahl entwickelte. Dieser evangelikale amerikanische Protestantismus entwickelte nun einen religiösen Stil, der ihn immer deutlicher von anderen pietistischen Bewegungen unterschied, und dabei entfaltete er das ganze politische und kulturelle Potenzial des religiösen Individualismus: Wenn die Kontrolle nach innen verlegt wird, wenn sie nicht mehr von einer kirchlichen Hierarchie oder von einer mindestens ebenso spürbaren Gemeinde ausgeübt wird, sondern vom Gewissen der prinzipiell Gleichqualifizierten, die es in der Hand haben, ihrem Leben eine neue Richtung zu geben, dann wird die antiautoritäre Stossrichtung ebenso erkennbar wie der zunächst nur religiös akzentuierte Populismus. Es handelt sich um die Unabhängigkeitserklärung des gemeinen Mannes. „Revivalism“ – die

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Aufforderung, umzukehren und ein neues Leben zu beginnen – und der Glaube daran, dass es jederzeit möglich sei, den alten Adam und die eigene Geschichte in einem solchen Neubeginn hinter sich zu lassen, das wird nicht nur zum enthusiastischen religiösen Stil, sondern auch zum Leitmotiv der amerikanischen Kultur. So betont dieser evangelikale Protestantismus nach der Revolution, dass Trennung von Staat und Kirche keineswegs die Privatisierung der Religion bedeute, sondern dass die Gesellschaft ebenso wie der Einzelne sich ständig bekehren und regenerieren müsse. Diese Vorstellung von der Gesellschaft als einer christlichen Bewegung, die sich ständig verbessert und weiterentwickelt, blieb gut ein Jahrhundert lang vorherrschend, bis sie durch Darwinismus, Historische Bibelkritik und die kombinierte Wirkung von Einwanderung und Verstädterung erschüttert wurde und schließlich in dem „Scopes Trial“, dem so genannten „Affenprozess“ von Tennessee, eine dramatische kulturelle Niederlage erlebte. Seither bezeichnete man diesen evangelikalen Protestantismus als eine Mehrheitsreligion mit Minderheitsbewusstsein, und bei dieser defensiven Haltung blieb es, bis dieser konservative Protestantismus sich ab den 1970er Jahren religiös, kulturell und politisch erholte und wieder beherrschend wurde. Umgekehrt waren die Katholiken inzwischen zu der großen Minderheit mit Mehrheitsbewusstsein geworden – doch darum geht es jetzt nicht. Ich sprach von der Vorstellung, dass auch die Gesellschaft zu einer Art von kontrollierter Lebensführung und damit zur Umkehr und Erneuerung fähig sei. Es geht also um die so genannten „Awakenings“, die in der Literatur ausgiebig als Kollektivphänomene behandelt wurden, so sehr, dass man sie als Flächenbrände verstand und von „burnt over districts“ sprach. Eine Soziologie, die auf Institutionen achtet, hätte eine ganz andere Interpretationsrichtung anzubieten, nämlich Religion als kultureller Wettbewerb. Es käme also darauf an, die Schübe religiöser Bewegung nicht nur in der durchaus geläufigen Weise als Vorläufer und Wegbereiter kultureller und politischer Umbrüche zu begreifen, sondern sie auch in ihrer Beziehung zueinander zu betrachten – und das möchte ich nun abschließend noch in groben Strichen skizzieren.

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III. Das erste der so genannten „Awakenings“, das Mitte des 18. Jahrhunderts noch innerhalb der alten etablierten Kirchen stattfand, setzte nicht nur jene Individualisierung durch, die erheblich zur Vereinheitlichung des amerikanischen Protestantismus beigetragen hat, sondern es rückte diesen auch in die Nähe der liberalen Naturrechtstheorien des John Locke und des Thomas Paine, indem es deren Aussagen in die religiöse Sprache übersetzte. Offensichtlich ist die Nähe zwischen Thomas Paines Parole, die Amerikaner hätten es in der Hand, die Welt von Neuem zu beginnen und der religiösen Forderung nach Umkehr und Wiedergeburt. Doch auch naturrechtliche Parolen wie Freiheit, Arbeit, Eigentum und Widerstandsrecht fanden in der vorrevolutionären Epoche soweit Eingang in Predigttexte, dass z. B. die englandtreuen Loyalisten den Baptisten vorwarfen, sie hätten John Locke zum fünften Evangelisten gemacht. Nach der Revolution und während der Ausdehnung des Landes nach Westen, also im Gefolge einer zweifachen Auflösung alter Strukturen, kam es zu einem zweiten Umbruch. Zunächst änderten sich die Organisationsformen und die Mehrheitsverhältnisse, wobei der evangelikale Protestantismus zur tonangebenden Hauptrichtung wurde und schließlich fand der Protestantismus seine Einheit nur noch in den politischen Erneuerungsbewegungen. Der an Erweckung und Wiedergeburt orientierte Protestantismus betonte die Autorität der Bibel, statt der Autorität des Amtes: Jeder kann die Bibel ohne die Hilfe von Eliten interpretieren und diese antiautoritäre Aussage bleibt nicht auf die Sphäre der Religion beschränkt. Nathan Hatch hat in einem Buch über die „Demokratisierung des amerikanischen Christentums“ gezeigt, wie der evangelikale Stil politische Formen prägte (Zeltmission und Wahlveranstaltung) und wie er die politischen Themen des 19. Jahrhunderts als religiöse Themen vorwegnahm.3 Der bereits erwähnte Kulturbruch Ende des 19. Jahrhunderts erschütterte diesen Protestantismus in seinem Selbstverständnis. Man kann jedoch auch diesen Umbruch als den Beginn eines dritten „Awakening“ deuten, denn nun führen liberale Theologie und „Social Justice“ innerhalb des Protestantismus zu einer neuen Mehrheit, die dann für etliche Jahrzehnte als die „Mainline“ galt. Weil diese religiöse Umorientierung in die Vorgeschichte des „Progressive Movement“ und der Reformprogramme von „Roosevelts New Deal“ bis zu Kennedy und Johnson gehört, ist es schließlich nicht schwer, ein viertes „Awakening“ wieder als die Korrektur dieser Entwicklung zu verstehen. Tatsächlich erlebt Amerika in Eisenhowers 50er Jahren einen religiösen Boom, der zunächst mit dem Anwachsen des Mittelstandes allen Religionsgemeinschaften zugute kommt. Dann aber zeigt sich, dass der Wohlfahrtsstaat keineswegs die Armut beseitigt hat, weshalb sich der Blick auf kulturelle Faktoren richtet. In einer er3

Nathan O. Hatch, The Democratization of American Christianity, New Haven / London 1989.

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neuten innerprotestantischen Diskussion wird die evangelikale Richtung wieder zur Mehrheit und die vorher so genannte „Mainline“ muss erhebliche Mitgliederverluste hinnehmen. Wiederum nimmt also die religiöse Gesellschaftskritik, diesmal die Kritik am Wohlfahrtssystem, den politischen Stimmungsumschwung vorweg. Dass Armut nicht nur als Mangel an Geld zu verstehen sei, sondern auch als Mangel an geistigen und moralischen Ressourcen – diese Beurteilung hätte man noch in den 70er Jahren als so hinterweltlerisch abgestempelt, wie man es mit den konservativen Protestanten ganz generell tat. Heute ist diese Meinung längst akzeptiert, und so erschien ein Buch des Wirtschaftshistorikers und Nobelpreisträgers, Robert William Fogel mit dem Titel „The Fourth Great Awakening“4. Fogel sagt über das dritte „Awakening“, das in den 1890er Jahren begann, es habe die Umverteilung als die Lösung der Probleme betrachtet, das vierte „Awakening“ dagegen, das durch den neuen christlichen Konservatismus vorbereitet worden sei, betone „Spiritual Resources“, vor allem „Personal Responsibility“. Entscheidend ist dabei der Wettbewerb der Religionsgemeinschaften. Er ist Voraussetzung und Folge ihrer Fähigkeit, Entwicklungen vorauszunehmen und zu verarbeiten. Religion übernimmt dann in aufgeregten Zeiten die Rolle des Vorreiters, in ruhigen Zeiten dagegen die der Stabilisierung im Sinne der individuellen Beglaubigung wie der zivilreligiösen Bestätigung. Beides sind Formen der Funktionalisierung von Religion, die auch von amerikanischen Autoren entsprechend kritisiert wurden, aber beides erklärt auch, weshalb Amerika ein religiöses Land geblieben ist.

4

Robert W. Fogel, The Fourth Great Awakening and the Future of Egalitarianism, Chicago 2000.

Zeitgenössische Perspektive Die Rolle der Religion in den USA und in der EU

Europäische Missverständnisse über die öffentliche Präsenz von Religion in den USA Manfred Brocker Als George W. Bush im Zusammenhang mit den militärischen Maßnahmen gegen den Terrorismus von einer „Mission der Freiheit“ sprach und Staaten wie den Irak, den Iran und Nordkorea auf einer „Achse des Bösen“ verortete, löste er in Europa Unverständnis, ja Ablehnung aus.1 Dass er sich in Fragen der Weltpolitik derart unverhüllt einer Sprache des Glaubens bediente, erweckte in Europa den Eindruck, die USA verstünden ihren Einmarsch in den Irak Anfang 2003 letztlich als einen religiös motivierten Akt. Schnell war man mit dem Vorwurf bei der Hand, der U.S.-Präsident sei ein „christlicher Fundamentalist“ und „Kreuzritter“, der eine „heilsgeschichtliche Botschaft“ verfolge.2 „Bush, das ist der Ayatollah“, ließ sich etwa der Literaturwissenschaftler und Rhetorikprofessor Walter Jens im evangelischen Magazin chrismon vernehmen, „ein Mann, der auf ,christlicher‘ Basis einen heiligen Krieg zu führen sucht; der die Realität hier auf Erden vollkommen mit einer von Gott gegebenen Mission identifiziert.“3 Dieser Fundamentalismus Bushs sei eine „krankhafte Form“ des Glaubens, wie es sie auch im Islam gebe, ergänzte die Theologin Dorothee Sölle: „Sie unterscheidet gut und böse total, statt die Vermischungen, in denen wir leben, einzusehen.“4 Der bekannte Fernsehpfarrer Jürgen Fliege warf Bush in einer eilends auf den Buchmarkt gebrachten Streitschrift vor, den Glauben zu vergiften, indem er die Bibel für „Kriegstreiberei“ missbrauche.5 Und der Kir1

2

3 4 5

Vgl. hierzu auch Manfred Brocker, Zivilreligion – missionarisches Sendungsbewusstsein – christlicher Fundamentalismus? Religiöse Motivlagen in der (Außen-) Politik George W. Bushs. In: Zeitschrift für Politik, 50 (2003) 2, S. 119–143. Der vorliegende Beitrag greift auf Passagen dieses Artikels zurück. Kock: Bush ein Fundamentalist. In: FAZ vom 3. 2. 2003, S. 6; vgl. Hans Küng, „Ich glaube, man muss ihn [Bush] [im] politischen Sinn als Fundamentalisten bezeichnen.“ (Interview mit Küng. In: Der Spiegel 12 vom 17. 3. 2003, S. 67). Von „Messiaswahn“ spricht Hans-Eckehard Bahr, Erbarmen mit Amerika. Deutsche Alternativen, Berlin 2004. Interview mit Walter Jens. In: chrismon. Das evangelische Magazin, 3 (2003), S. 44. Auch Heiner Geißler nannte Bush einen „christlichen Ayatollah“; vgl. Kock: Bush ein Fundamentalist. Dorothee Sölle, Interview mit der Katholischen Nachrichten-Agentur vom 3. 4. 2003. Hier zit. nach Jürgen Fliege, Der falsche Prophet. Wie US-Präsident George W. Bush den Glauben vergiftet, München 2003, S. 68. Fliege, Der falsche Prophet, S. 30.

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chenpräsident der evangelischen Kirche von Hessen und Nassau, Peter Steinacker, sah in Bushs offenkundigem Verständnis der „Johannesapokalypse als geschichtstheologischen Auftrag, in einer weltpolitischen Mission das Böse zu bekämpfen sowie Freiheit und Fortschritt in der Welt zu befördern“, eine gefährliche Haltung, in der er „enthusiastisch unterstützt [werde] vom Fundamentalismus freikirchlicher Gruppen vor allem im Süden der Vereinigten Staaten“.6 Diese „mafiose Verflechtung der religiösen Rechten mit den RepublikanischKonservativen“ machte auch Eugen Drewermann für die aggressive Außenpolitik der Bush-Administration verantwortlich.7 Selbst Mitglieder der rot-grünen Regierungskoalition artikulierten gelegentlich ihre Besorgnis vor einem „zunehmend von christlichen Fundamentalisten beeinflussten Umfeld der Administration in den USA“.8 Aber nicht nur in Deutschland spekulierten Intellektuelle, Kirchenvertreter und Politiker über den „fundamentalistischen“ Glauben und das manichäische Weltbild des amerikanischen Präsidenten. Auch in anderen Teilen Europas waren entsprechende Stimmen zu hören. So konstatierte der außenpolitische Koordinator der Europäischen Union, Javier Solana, in einem Interview mit der „Financial Times“, die zunehmende transatlantische Entfremdung habe ihre Wurzeln in der religiösen Kluft, die den „alten Kontinent“ und die Vereinigten Staaten trenne; im säkularen Europa sei man es nicht gewohnt, die Welt in den Schwarzweißkategorien des religiösen Amerika zu betrachten.9 Und der Direktor der „Foundation for Strategic Research“ in Paris, François Heisbourg, bezweifelte sogar, dass Europa und die Vereinigten Staaten angesichts der jüngst erkennbar gewordenen religiös-politischen Unterschiede noch „Teil derselben Zivilisation“ seien.10 Viele Europäer kamen in den vergangenen zwei Jahren übereinstimmend zu der Überzeugung, dass die (Irak-) Politik George W. Bushs letztlich eine spezifisch religiöse Dimension aufweise und dass diese als christlich-fundamentalistisch zu bezeichnen sei. Im Folgenden soll die Berechtigung dieser Einschätzung überprüft werden – vor dem Hintergrund der für die USA charakteristischen Beziehung zwischen Politik und Religion und der Rolle, die protestantische „Fundamentalisten“ in ihr spielen. Dabei wird zunächst das historisch gewach6

Peter Steinacker, God’s own country. Auch religiöse Differenzen verbreitern die Kluft zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und Europa. In: Frankfurter Rundschau online vom 21.1. 2003. 7 Eugen Drewermann, Vorwort. In: Geiko Müller-Fahrenholz, In göttlicher Mission. Politik im Namen des Herrn – Warum George W. Bush die Welt erlösen will, München 2003, S. 24. 8 Karsten D. Voigt, Deutschland – USA: Religion und Politik in einer sich verändernden Partnerschaft. Vortragsmanuskript für die Tagung „The Strongest is Most Powerful Alone: The US As World Power“, Evangelische Akademie, Loccum, 4.6.–6. 6. 2004, S. 1. Voigt ist Koordinator für die deutsch-amerikanische Zusammenarbeit im Auswärtigen Amt, Berlin. 9 Judy Dempsey, Solana fears widening gulf between EU and US. In: Financial Times vom 7.1. 2003. 10 Katja Gelinsky, Eine Nation unter Gott. Wie seltsam ist das Sendungsbewusstsein von Präsident Bush? In: FAZ vom 15. 7. 2003, S. 35.

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sene Selbstverständnis der USA als „besondere Nation“ („American exceptionalism“) skizziert und die religiös-politischen Grundlagen dieses Selbstverständnisses betrachtet, die mit dem Begriff Zivilreligion umschrieben werden. Die Ausführungen sollen verdeutlichen, dass den zitierten Bewertungen letztlich ein Missverständnis über die öffentliche Präsenz und politische Bedeutung von Religion und ihren verschiedenen Formen in den USA zugrunde liegt.

1.

Erwählungsvorstellungen und Sendungsbewusstsein in den USA

Von den ersten Siedlern des frühen 17. Jahrhunderts, den Puritanern, stammt jene biblisch geprägte Rhetorik, die bis heute für die Charakterisierung des „Mythos Amerika“ Verwendung findet. Vor allem in Zeiten der Krise greift man in den USA bevorzugt auf sie zurück: Amerika wird als Land der Hoffnung und Verheißung beschworen,11 als „God’s own country“, für das sich auch in Zukunft alles zum Guten wenden werde. Solche Erwählungsvorstellungen lassen sich bis in die Anfänge der Kolonialisierung zurückverfolgen – etwa in der Präsenz des „covenant“-Gedanken, demzufolge Gott einen Bund mit den Siedlern, seinem „auserwählten Volk“ in der „Neuen Welt“, geschlossen habe. Anders als bei Mächten, die derartige Ideologien erst in der Spätphase ihrer Entwicklung zur Rechtfertigung imperialer Politik entwickelten, waren sie, wie Knud Krakau festgestellt hat, in Amerika schon „Teil des Geburtserlebnisses“12 : „We were a messianic Nation from our birth“, bemerkten etwa Reinhold Niebuhr und Alan Heimert in einer Studie über die „frühen Visionen“ des Landes und seine spätere Macht.13 Die Kolonisten betrachteten die Übersiedlung nach Amerika nicht als Emigration oder Flucht, sondern als „Pilgerfahrt“ und prophetisches Ereignis: Fromme Christen, von Gott zu einer historischen Mission („special mission“) berufen, zogen aus, die „Stadt auf dem Hügel“, von der im 17. Jahrhundert John Winthrop in Anspielung auf das Matthäus-Evangelium sprach, an den Gestaden der „Neuen Welt“ zu errichten.14 11

Sacvan Bercovitch, The Biblical Basis of the American Myth. In: Giles Gunn (Hg.), The Bible and American Arts and Letters, Philadelphia / Chico, CA 1983, S. 219–229. 12 Knud Krakau, Exzeptionalismus – Verantwortung – Auftrag. Historische Wurzeln und politische Grenzen der demokratischen Mission Amerikas. In: Alois Mosser (Hg.), ‚Gottes auserwählte Völker‘. Erwählungsvorstellungen und kollektive Selbstfindung in der Geschichte, Frankfurt a. M. u. a. 2001, S. 89. 13 Reinhold Niebuhr/Alan Heimert, A Nation So Conceived. Reflections on the History of America from its Early Visions to its Present Power, New York 1963, S. 123; hier zit. nach Krakau, Exzeptionalismus, S. 89. 14 Vgl. Gustav H. Blanke, Das amerikanische Sendungsbewusstsein: Zur Kontinuität rhetorischer Grundmuster im öffentlichen Leben der USA. In: Klaus-M. Kodalle (Hg.), Gott und Politik in USA, Frankfurt a. M. 1988, S. 186 ff.; Berndt Ostendorf, (K)eine säkulare Gesellschaft? Zur anhaltenden Vitalität der amerikanischen Religionen. In: Manfred Brocker (Hg.), „God Bless America.“ Politik und Religion in den USA, Darmstadt 2005, S. 15 ff.

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Diese Rhetorik erfüllte eine doppelte Funktion: Sie sollte den Landraub an den Indianern als bloße Besitznahme versprochenen Landes erscheinen lassen und zugleich bei den Einwanderern die historischen – genealogischen wie nationalen – Bindungen lockern, um eine neue, spezifisch „amerikanische“ Identität herauszubilden; die Siedler waren keine emigrierten Europäer, sondern das „Neue Volk Israel“, Amerika keine europäische Kolonie, sondern das gelobte Land Kanaan. Keiner Aristokratie untertan, unterwarfen sie sich als Freie und Gleiche allein der Autorität Gottes, dessen Gnade sie sich sicher fühlten, weil er ihr Tun sichtbar segnete. Ihr Unternehmen verstanden sie als „errand into the wilderness“ (Samuel Danforth), als die Erfüllung eines Auftrages, das „Neue Jerusalem“ in einem noch „wilden“, unbegrenzten Territorium zu errichten. Dass dieses Unternehmen von Anfang an moralisch und spirituell, nicht aber geographisch gedeutet wurde, erleichterte seine grenzüberschreitende Auslegung: zuerst Amerika – die später so genannten „Vereinigten Staaten“ –, dann die ganze Welt. Aus dem „errand into the wilderness“ wurde im 19. Jahrhundert das „manifest destiny“, die „Schicksalsbestimmung“ Amerikas durch die Vorsehung, „to manifest to mankind the excellence of divine principles; to establish on earth the noblest temple ever dedicated to the worship of the Most High – the Sacred and the True. Its floor shall be a hemisphere [...] For this blessed mission to the nations of the world [...] has America been chosen; and her high example shall smite unto death the tyranny of kings, hierarchs, and oligarchs“, so der Journalist John O’Sullivan 1839.15 Amerika verstand sich nun zunehmend als eine „Nation der Zukunft“, der eine übergeschichtliche „Wahrheit“ anvertraut war: die Ideen von „Freedom“ und „Self-Government“, an deren Umsetzung und Verwirklichung im Selbstverständnis des Landes das Heil der Menschheit hing. Aus dem Auftrag, die Reformation zu vollenden, wurde der Auftrag, die Menschheit zur Freiheit zu führen. Diese säkularisierte „heilsgeschichtliche“ Vorstellung von der „Erlösernation“ („redeemer nation“)16 legitimierte zunächst die Expansion nach Westen, im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert dann den amerikanischen Imperialismus. Präsident McKinley erklärte 1898 nach dem Sieg der USA über Spanien, er habe auf seinen Knien mit Gott gerungen, bis dieser ihm den Auftrag erteilte, die Philippinen zu annektieren.17 Ein methodistischer Geistlicher vor Ort hörte in den amerikanischen Kanonen vor Manila gar „the voice of Almighty God declaring that [the Philippines] shall be free“.18

15 Hier zit. nach Krakau, Exzeptionalismus, S. 105. 16 Ernest Lee Tuveson, Redeemer Nation. The Idea of America’s Millenial Role, Chicago / London 1968. 17 Nach Blanke, Das amerikanische Sendungsbewusstsein, S. 201. 18 Zit. nach Krakau, Critical Reflections upon an Old Theme: The Topoi of Chosen People and Mission in American History. In: Amerikastudien/American Studies, 38 (1993) 3, S. 463.

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Aus der Überzeugung, der Welt ein Vorbild zu sein, ließ sich das Recht, ja die Pflicht ableiten, die Welt entsprechend umzuprägen, sie zu zivilisieren und zu erneuern. Die Kriegserklärung der USA an das Deutsche Kaiserreich im April 1917 rechtfertigte Präsident Woodrow Wilson als „an act of high principle and idealism“ und „a crusade [!] to make the world safe for democracy“.19 Das amerikanische Verständnis von Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie sollte möglichst allen Völkern zuteil werden.20 Die erfolgreiche Realisierung dieser Werte und Ordnungsprinzipien in einem dauerhaft stabilen Modell eines republikanischen Gemeinwesens begründete den Anspruch auf deren universale Geltung. Aus dem ursprünglich religiös-protestantisch geprägten Missionsgedanken erwuchs das demokratische Sendungsbewusstsein der „Neuen Nation“.21

2.

Die amerikanische „Zivilreligion“

Aus dem Gesagten darf allerdings nicht geschlossen werden, in Amerika habe früh eine homogene oder gar monolithische Kultur existiert, die die Einwanderer zu einer Nation zusammenschweißte: Die amerikanische Gesellschaft war im Gegenteil von Beginn an in regionaler, ethnischer, sozialer und religiöser Hinsicht stark fragmentiert, und das Ausmaß der Fragmentierung nahm im Laufe der Jahrhunderte weiter zu. Was diese disparate Gesellschaft zusammenhielt, war zunächst das schmale Band des wirtschaftlichen Austauschs, der freie Warenverkehr, der in der Neuen Welt ohne Beschränkung durch staatliche Monopole oder Zölle, Zünfte oder Gilden erfolgen konnte und zu einem rasanten Anstieg des Volkseinkommens führte. Was die Gesellschaft aber darüber hinaus und vor allem verband, war ein sinnstiftendes Konglomerat von Ideen, Glaubenshaltungen, Einstellungsmustern und Verhaltensweisen, das der französische Amerikareisende Alexis de Tocqueville in seinem Buch „Über die Demokratie in Amerika“ Anfang des 19. Jahrhunderts so eindrucksvoll geschildert hat. Bei allen – auch religiösen – Unterschieden teilte die große Mehrheit der Bürger eine gemeinschaftliche „Glaubenslehre“, die Mitte des 20. Jahrhunderts von einem anderen prominenten europäischen Amerikareisenden, dem schwedischen Sozialwissenschaftler Gunnar Myrdal, als „American Creed“22 bezeichnet worden ist.

19 Woodrow Wilson, Speech for Declaration of War. In: Henry Steele Commager (Hg.), Documents of American History, New York 1948, Band 2, S. 308–312. 20 Barbara Zehnpfennig, Vorbild Amerika? Multi-Kulturalismus, Verfassungspatriotismus und die Einheit der Nation. In: PIN – Politik im Netz, 2 (2001). 21 Vgl. Tony Smith, America’s Mission: The United States and the Worldwide Struggle for Democracy in the Twentieth Century, Princeton 1994; Detlef Junker, Power and Mission. Was Amerika antreibt, 2. Auflage Freiburg i. Brsg. 2003. 22 Gunnar Myrdal, An American Dilemma, New York 1944, S. 3.

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Darunter versteht man jenes Ensemble an Glaubenssätzen23, Symbolen24 und Ritualen,25 das die Bürger an das Gemeinwesen bindet und dieses in seinen Institutionen und Repräsentanten in letzter Instanz als religiös legitimiert erscheinen lässt. Es benennt einerseits öffentlich den Grund, der normativ festzulegen erlaubt, was prinzipiell der menschlichen Dispositionsfreiheit entzogen sein soll, andererseits stellt es die Geschichte und das Schicksal des Landes in einen öffentlich vermittelten Sinnbezug. Diese „Glaubenslehre“ – der amerikanische Religionssoziologe Robert Bellah sprach von „civil religion“26 – befähigt die Bürger, ihre politische Gemeinschaft auf eine bestimmte Weise zu sehen und artikuliert die Vision, die die Nation als integriertes Ganzes zusammenhält.27 Sie ist ein „Ordnungsglaube“, der zu den unterschiedlichen „Heilsglauben“ der verschiedenen Denominationen hinzutritt, mit diesen aber nicht identisch ist.28 Insofern stellt die amerikanische „Zivilreligion“ keinen verwässerten Puritanismus oder Protestantismus dar, sondern repräsentiert einen eigenständigen Wertekonsens, der als „gemeinsamer Nenner“ den Zusammenhalt und die Stabilität der höchst disparaten, stark fragmentierten Gesellschaft verbürgt. Der Gottesbegriff etwa des amerikanischen Staatsmottos, „In God we trust“, oder im Fahneneid, „A nation under God“, ist daher nicht spezifisch protestantisch oder christlich zu verstehen. Die amerikanische „Zivilreligion“ vermeidet vielmehr sorgfältig dogmatische Festlegungen auf die Positionen einer bestimmten Denomination oder Religion, denn sie dient der Identitätsbildung nach innen. Angesichts einer heterogenen, religiös äußerst pluralistischen Gesellschaft kann sie den notwendigen Zusammenhalt nur stiften, wenn sie alle denominationellen Bezüge umgeht. An die besondere Ideen- und Symbolwelt der amerikanischen „Zivilreligion“ knüpfen amerikanische Präsidenten in ihren Reden immer wieder an.29 Schon 23 Etwa die Vorstellung von der „Vorsehung“, die das Schicksal des Landes bestimme, den gottgegebenen naturrechtlichen Prinzipien (das Recht auf Leben, Freiheit, Eigentum), die seiner politischen Ordnung zugrunde lägen etc. 24 Wie die amerikanische Flagge, der ein quasi-sakraler Charakter zugesprochen wird. 25 So etwa die quasi-liturgisch inszenierte Amtseinführung des Präsidenten. 26 Vgl. Robert N. Bellah, Civil Religion in America. In: Daedalus, 96 (1967), S. 1–21; ders., American Civil Religion in the 1970s. In: Russel E. Richey / Donald G. Jones (Hg.), American Civil Religion, New York 1974, S. 255–272; ders., The Broken Covenant. American Civil Religion in Time of Trial, New York 1975. 27 Vgl. Richard Pierard, Civil religion. In: Rüdiger B. Wersich (Hg.), USA-Lexikon. Schlüsselbegriffe zu Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur, Geschichte und zu den deutschamerikanischen Beziehungen, Berlin 1996, S. 158; Pierard spricht von der Zivilreligion als „deistische[r] Religion des Bürgersinns“. 28 Martin E. Marty, A Sort of Republican Banquet. In: Robert W. Lovin (Hg.), Religion and American Public Life. Interpretations and Explorations, New York 1986, S. 146–180. 29 Dante Germino, The Inaugural Addresses of the American Presidents: The Public Philosophy and Rhetoric, Lantham, Md. 1984; Kjell O. U. Lejon, Reagan, Religion and Politics. The Revitalization of „a Nation under God“ during the 80s, Lund 1988; Ulrike Fischer/Hans Vorländer, Zivilreligion und politisches Selbstverständnis. Religiöse Metaphorik in den Antrittsreden der Präsidenten Ford, Carter, Reagan und Bush. In: Paul

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George Washington griff auf sie zurück, als er sich bei seiner Amtseinführung 1789 an den Kongress und das amerikanische Volk wandte: „No People can be bound to acknowledge and adore the invisible hand, which conducts the Affairs of men more than the People of the United States. Every step, by which they have advanced to the character of an independent nation, seems to have been distinguished by some token of providential agency.“30 Derartige „zivilreligiöse Predigten“ hat es von amerikanischen Präsidenten seither immer wieder gegeben. Vor allem Abraham Lincoln und Ronald Reagan waren begnadete „Hohepriester“ des „American Creed“. Erinnert sei etwa an die Schlusssätze der Gettysburg Address von 1863, in der Lincoln über den Gräbern der im Sezessionskrieg Gefallenen die „zivilreligiöse“ Leitidee der Nation formulierte: „[F]rom these honoured dead we take increased devotion to that cause for which they gave the last full measure of devotion – that we here highly resolve that these dead shall not have died in vain, that this nation under God, shall have a new birth of freedom – and that government of the people, by the people, for the people, shall not perish from the earth.“31 Auch Ronald Reagan artikulierte öffentlich die Überzeugung, dass die Vereinigten Staaten ein auserwähltes, von der Vorsehung mit einer speziellen Aufgabe bedachtes Land seien: „We are a nation under God. I’ve always believed that this blessed land was set apart in a special way, that some divine plan placed this great continent between the oceans.“32 Bereits in seiner ersten „Inaugural Address“ hatte er erklärt, Amerika sei „special among the nations of the Earth [...] too great a nation to limit ourselves to small dreams [...] We are a nation under God, and I believe God intended for us to be free [...] together with God’s help we can and will restore the problems which now confront us.“33 Begriffe wie divine plan, Providence und Creator, aber auch almighty God oder heavenly Father gehören zum festen Repertoire der Rhetorik amerikanischer Präsidenten, die eben nicht nur als „Head of State“, „Commander in Chief“ etc., sondern ebenso als „Chief Preacher“ der Nation betrachtet werden, die das gemeinsame Wertefundament der amerikanischen Gesellschaft stärken und in Zeiten der Krise Hoffnung und Zuversicht verbreiten sollen.

Goetsch/Gerd Hurm (Hg.), Die Rhetorik amerikanischer Präsidenten seit F. D. Roosevelt, Tübingen 1993, S. 217–231. 30 George Washington, Letter to Congress, April 30, 1789, First Inaugural Address. In: The Writings of George Washington from the Original Manuscript Sources, 1745–1799. Ed. by John C. Fitzpatrick, Washington, DC 1931–1944, Band 30, 1939, S. 293. 31 Abraham Lincoln, The Collected Works. Ed. by Roy P. Basler, 8 Bände, New Brunswick 1953–1955, Band 7, S. 23. 32 Weekly Compilation of Presidential Documents, Washington, DC 1984, 1–26, S. 100; hier zit. nach Lejon, Reagan, S. 80. 33 Public Papers of the Presidents of the United States: Administration of Ronald Reagan, Washington, DC 1981; hier zit. nach Lejon, Reagan, S. 67 f.

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3.

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Die religiös-politische Rhetorik George W. Bushs

Nicht anders „predigt“ der 43. Präsident der Vereinigten Staaten, George W. Bush, in dessen Reden Versatzstücke der amerikanischen „Zivilreligion“ immer wieder aufscheinen: „The road of Providence is uneven and unpredictable – yet we know where it leads: it leads to freedom.“34 „Liberty is God’s gift to every human being in the world [...] We’re called to extend the promise of this country into the lives of every citizen who lives here.“35 „We [Americans] believe that liberty [...] is both the plan of Heaven for humanity, and the best hope for progress here on Earth.“36 Wenn Bush nach tragischen Ereignissen wie den Anschlägen des 11. September oder dem Absturz der Columbia-Raumfähre versucht, Trost zu spenden, so verbindet sich auch bei ihm eine weltliche und eine religiöse Rhetorik, wobei insgesamt eine aktive, zukunftsorientiert-optimistische Metaphorik dominiert – wie es der amerikanischen „Zivilreligion“ entspricht. Unglücksfälle „prüfen“ letztlich nur die „Entschlossenheit“ und den „Willen“ Amerikas, auf dem ihm gewiesenen Weg des „Fortschritts“ und der „Freiheit“ voranzuschreiten. Sie werden den „Glauben“ stärken und sind allenfalls „Rückschläge“ (setbacks) auf dem Weg zu Wohlstand und „Glück“, der Preis, der für den wissenschaftlich-technischen Triumph, für einen militärischen Sieg oder für „die Freiheit“ zu zahlen ist. Nahezu jede Rede Bushs endet – ebenfalls gemäß der Tradition – mit dem Satz „(May) God bless America“, dem Ausdruck der Hoffnung und Zuversicht, dass Gottes Segen auf Amerika ruht. Insofern knüpft Bush in seinen Reden, die vielen europäischen Beobachtern ungewöhnlich stark „religiös“ durchtränkt erscheinen, nur an rhetorische Traditionen an. Der größte Teil der „religiösen“ Gehalte und Konnotationen seiner gegenwärtigen öffentlichen Ansprachen stellt Vertrautes in mehr oder weniger neuen Kombinationen dar. Das gilt auch für jene Reden, in denen er es als Auftrag Amerikas beschreibt, Freiheit und Demokratie in der Welt zu bewahren: „We’ve defeated freedom’s enemies before, and we will defeat them again“37, und hierbei der Zuversicht Ausdruck verleiht, in dieser Mission von Gott selbst unterstützt zu werden: „We 34 State of the Union Address, 2. 2. 2005; http://www.whitehouse.gov/news/releases/ 2005/02/print/20050202–11.html. 35 President Bush Discusses Faith-Based Initiative in Tennessee. Opryland Hotel, Nashville, Tennessee, 10. 2. 2003; http://www.whitehouse.gov/news/releases/2003/02/2003 0210–1.html. 36 President Bush Discusses Freedom in Iraq and Middle East, 6.11. 2003, at the 20th Anniversary of the National Endowment for Democracy; http://www.whitehouse. gov/news/releases/2003/11/print/20031106–2.htm. Vgl. State of the Union Address, 28.1. 2003: „The liberty we prize is not America’s gift to the world, it is God’s gift to humanity“ (http://www.whitehouse.gov/news/releases/2003/01/print/20030128–19. html); State of the Union Address, 20.1.2004: „I believe that God has planted in every human heart the desire to live in freedom“ (http://www.whitehouse.gov/news/releases/2004/01/print/20040120–7.html). 37 Inaugural Address, 20.1. 2001; http://www.whitehouse.gov/news/print/inaugural-address.html.

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can be certain the author of freedom is not indifferent to the fate of freedom“;38 „the cause we serve is right, because it is the cause of all mankind. The momentum of freedom in our world is unmistakable – and it is not carried forward by our power alone. We can trust in that greater power who guides the unfolding of the years.“39 Ebenso wenig erscheint es in dieser Hinsicht ungewöhnlich, wenn Bush – angesichts des Krieges im Irak – in letzter Zeit häufig davon spricht, dass erst mit der weltweiten Durchsetzung der Freiheit Frieden möglich werde: „the only force powerful enough to stop the rise of tyranny and terror, and replace hatred with hope, is the force of human freedom [...] We are all part of a great venture: To extend the promise of freedom in our country [...] and to spread the peace that freedom brings.“40 In seiner zweiten Antrittsrede im Januar 2005 verdichteten sich diese zivilreligiösen Motive zu einer geschlossenen rhetorischen Einheit: Bush erklärte hier den Kampf für Freiheit und Demokratie zu den höchsten Prioritäten seiner zweiten Amtszeit, „with the ultimate goal of ending tyranny in our world“. Von nun an werde jede Regierung in der Welt danach beurteilt, wie sie ihr eigenes Volk behandele. „All who live in tyranny and hopelessness can know the United States will not ignore your oppression or excuse your oppressors.“ In der mit 21 Minuten vergleichsweise kurzen „Inaugural Address“ gelang es Bush, das Wort Freiheit („free“, „freedom“, „liberty“) mehr als vierzigmal unterzubringen. Der Erhalt der Freiheit, so die Botschaft, ist Amerikas Mission. „We go forward with complete confidence in the eventual triumph of freedom. [...] We have confidence because freedom is the permanent hope of mankind, the hunger in dark places, the longing of the soul. [...] History has an ebb and flow of justice, but history also has a visible direction, set by liberty and the Author of Liberty.“; „The best hope for peace in our world is the expansion of freedom in all the world.“41 Nicht wenige der hier verwendeten Ideen, Bilder und Sentenzen waren dabei von einigen der bedeutendsten und rhetorisch brillantesten „zivilreligiösen Prediger“ der amerikanischen Geschichte entliehen: von Abraham Lincoln, Franklin D. Roosevelt und Ronald Reagan. In Bushs Reden, insbesondere in seiner zweiten „Inaugural Address“, werden folglich zivilreligiöse Traditionsbestände abgerufen, gemeinsame Werte beschworen und – in römisch-republikanischer Weise – die moralischen Überzeugungen der Vorväter („mos maiorum“) ins Feld geführt, um Unterstützung für politische Vorhaben zu mobilisieren.42 In dieser Hinsicht liegt in seinen öffentlichen Ansprachen insoweit kein neuartiges Phänomen vor. 38 President Bush Discusses Freedom in Iraq and Middle East. 39 State of the Union Address, 20.1. 2004. Vgl. David E. Sanger, President Makes a Case for Freedom in the Middle East. In: New York Times on the Web vom 14. 4. 2004. 40 State of the Union Address, 2. 2. 2005. Vgl. President Bush Addresses United Nations General Assembly, 23. 9. 2003: „The peace that comes when all are free“ (http://www. whitehouse.gov/news/releases/2003/09/print/20030923–4.html). 41 Inaugural Address, 20.1. 2005; http://www.whitehouse.gov/news/releases/2005/01/ print/20050120–1.html. 42 Vgl. Bill Keller, Reagan’s Son. In: New York Times Magazine vom 26.1. 2003.

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Gleichwohl sprechen europäische Beobachter davon, dass Bush religiöse Anspielungen und Bibel-Zitate in größerer Zahl verwende als frühere Präsidenten – etwa sein Vater George Herbert Walker Bush oder William Jefferson Clinton. Sie verweisen darauf, dass Bush fast jeden Arbeitstag im Weißen Haus mit einer Bibelstunde beginnt, seine Kabinettssitzungen mit einem Gebet eröffnet und immer wieder Geistliche zu Gesprächen und „Gebetsfrühstücken“ einlädt.43 Gerade in der Zeit nach dem 11. September, als er die Nation aufrichten und auf den Krieg in Afghanistan und später im Irak vorbereiten wollte, habe er zunehmend auf „christliche“ Begriffe und Glaubensvorstellungen in seinen Reden zurückgegriffen. Nicht zufällig habe Bush in seiner Rede zur Lage der Nation vom 28. Januar 2003 zur Rechtfertigung eines Präventivkriegs gegen den Irak den „lebendigen Gott“ beschworen, auf den die Nation stets, so auch in diesen „entscheidenden Tagen“, ihr Vertrauen setze44 und ein evangelikales Kirchenlied zitiert: „there’s power, wonderworking power, in the goodness and idealism and faith of the American people.“45 Ein Jahr zuvor habe Bush in der „Rede zur Lage der Nation“ von einer „Achse des Bösen“ gesprochen,46 und mit dem Wort evil bewusst einen religiös aufgeladenen Begriff verwendet, mit dessen Hilfe sich die Welt in „Gute“ und „Böse“, in „Freunde“ und „Feinde“ unterteilen lasse. Verriet diese Diktion also nicht doch – wie die eingangs zitierten Kritiker behaupten – die christlich-evangelikale und „manichäische“ Denkweise eines verkappten „Fundamentalisten“? Zweifellos spricht Bush seit dem 11. September 2001 öfter und leidenschaftlicher von Gott („loving God“, „Lord Almighty“, „Giver of life“ etc.) als in den Monaten zuvor. Der Schock der terroristischen Anschläge auf New York und Washington hat die amerikanische Nation schwer getroffen und viele Bürger Zuflucht in ihrem Glauben suchen lassen. Dass Letzteres auch für den Präsidenten gilt,47 ist denkbar – aus sozialwissenschaftlicher Perspektive aber nicht zu entscheiden. Dass sich bei Bush allerdings seither eine „christlich-missionarische“ Sicht auf die Politik entwickelt oder verfestigt habe, die seine Innen- und 43 Matthias Rüb, Der fromme Mann im Weißen Haus. In: FAZ vom 29.1. 2003, S. 3; Wolfram Kinzig, Warum er an seine Sendung glaubt. Zur Anatomie einer Berufung: Der Methodist George W. Bush und der Krieg im Irak. In: FAZ vom 14. 7. 2003, S. 38. „Gebetsfrühstücke“ sind im Weißen Haus allerdings schon von Präsident Eisenhower eingeführt worden und zählen seither zur Tradition, der sich auch George Bush sen. und William J. Clinton verpflichtet wussten. 44 Christian Geyer, Zwei Stellvertreter Christi. In: FAZ vom 30.1. 2003, S. 33. 45 State of the Union Address, 28.1. 2003. Im Kirchenlied selbst heißt es: „[There is] power, power, wonder-working power in the blood of the Lamb“; vgl. Alan Cooperman, Openly Religious, to a Point. Bush Leaves the Specifics of His Faith to Speculation. In: Washington Post vom 16. 9. 2004. 46 George W. Bush, State of the Union address, 29.1. 2002: „States like these [North Korea, Iran, Iraq], and their terrorist allies, constitute an axis of evil“; http://www.cbsnews. com/stories/2002/01/29/politics/printable326076.shtml. 47 Zur religiösen Orientierung Bushs vgl. David Aikman, Man of Faith: The Spiritual Journey of George W. Bush, Nashville, Tenn. 2004; Stephen Mansfield, The Faith of George W. Bush, Farmington Hills, Mich. 2004.

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Außenpolitik zunehmend präge, diese Behauptung gilt es im Folgenden zu prüfen. Zwar finden sich in seinen Reden durchaus Sätze mit christlich-evangelikal interpretierbaren Sinngehalten, die über den üblichen „zivilreligiösen“ Gehalt von Präsidentenreden hinausgehen: „It’s so inspirational to see your courage, as well as to see the great works of our Lord in your heart; [...] the power of faith can transform a life.“48 Aber taugen derartige Passagen deshalb schon als Beleg für die These, der Präsident sei dem protestantischen „Fundamentalismus“ zuzurechnen? Prägen die programmatischen Positionen amerikanischer „Fundamentalisten“ tatsächlich die Innen- und Außenpolitik unter George W. Bush?

4.

Die „Christliche Rechte“ in den USA

„Fundamentalisten“ gibt es in den USA seit Beginn des 20. Jahrhunderts. Der Name, der auf eine zwischen 1910 und 1915 erschienene zwölfbändige Schriftenreihe, „The Fundamentals: A Testimony to the Truth“, zurückgeht, steht für die „Rückbesinnung“ vieler konservativer Protestanten auf die „fundamentalen“ Gehalte des christlichen Glaubens, die sie durch theologische („Biblical criticism“, „social gospel“) und naturwissenschaftliche „Neuerungen“ (Darwinismus) bedroht sahen. Die damit vermeintlich verbundenen negativen sozialen und kulturellen Veränderungen bildeten für sie ein starkes Motiv, gegen „Modernismus“ und „Säkularisierung“ vorzugehen. Seit den 1920er Jahren breitete sich der Fundamentalismus vor allem unter Gläubigen des Südens und Mittleren Westens – mit niedrigerem sozioökonomischem Status – aus. Damals entstand das Bild eines fundamentalistisch geprägten „Bible Belt“, das allerdings bis heute – angesichts einer Mehrheit nichtfundamentalistischer Evangelikaler, Methodisten, Baptisten und Lutheraner in diesen Regionen – überzeichnet ist. Der größte Teil der amerikanischen Öffentlichkeit stand den Fundamentalisten von Anfang an ablehnend gegenüber. Deren Anti-Rationalismus („We study only the Bible“) und „fanatische“ Kritik an der modernen Naturwissenschaft galten als Zeichen der Rückständigkeit, der Ignoranz und Intoleranz. Als Reaktion auf die wachsende Kritik zogen sich die Fundamentalisten mehr und mehr in ihre eigenen Gemeinden zurück und pflegten fortan einen weltverachtenden Eskapismus. Viele von ihnen lebten in einer Endzeit-Erwartung, nach der die Wiederkehr Christi unmittelbar bevorstand („Millenarismus“). Um die fundamentalistische Kultur erhalten und abgeschirmt vom „Modernismus“ reproduzieren zu können, gründeten Fundamentalisten eigene Schulen und Colleges und bauten ihre religiösen Organisationen und Einrichtungen aus.49 48 President Bush Discusses Faith-Based Initiative in Tennessee. 49 Vgl. Steve Bruce, The Rise and Fall of the New Christian Right. Conservative Protestant Politics in America, 1978–1988, Oxford 1988, S. 30 f.; zum amerikanischen protestantischen Fundamentalismus allg.: Ernest R. Sandeen, The Roots of Fundamenta-

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Bis in die 1970er Jahre war der amerikanische Fundamentalismus eine rein religiöse, weitgehend unpolitische Bewegung. Er erwartete die Veränderung der als „sündhaft“ definierten gesellschaftlichen Zustände von der bekenntnishaften Bekehrung des Einzelnen zur christlichen Lebensführung und dem Rückzug aus der „sündhaften Welt“ – oder auch der direkten Intervention Christi (Chiliasmus) –, nicht jedoch von kirchlichem Sozialaktivismus, politischer Partizipation oder (wohlfahrts-) staatlicher Intervention. Versuche seiner Politisierung schlugen deshalb immer wieder fehl. Erst in den 1970er Jahren kam es – in Reaktion auf die zunehmenden Protestaktivitäten links-liberaler sozialer Bewegungen wie der Bürgerrechts-, der Frauen- und Homosexuellenbewegung, der Entstehung einer studentisch geprägten „Counter-Culture“ (mit ihrer Ablehnung von protestantischer Leistungsethik und bürgerlicher Sexualmoral), der Liberalisierung des Abtreibungsrechts durch das Oberste Bundesgericht etc. – zu einer partiellen politischen Mobilisierung im Rahmen der so genannten „Christlichen Rechten“. Die Entstehung von politischen Organisationen des evangelikalen, insbesondere fundamentalistischen Protestantismus (wie „Moral Majority“, „Religious Roundtable“, „Christian Voice“ und „Concerned Women for America“) stellte insofern ein neuartiges Phänomen dar.50 Gegründet wurden sie von fundamentalistischen Fernsehpredigern wie Jerry Falwell, James Robison und Timothy LaHaye, die unter ihren Zuschauern und in ihren Gemeinden Mitglieder für ihre Organisationen anwarben. Seit Ende der 80er Jahre betätigten sich dann auch Geistliche anderer konservativer Strömungen des amerikanischen Protestantismus als politische Unternehmer und gründeten Organisationen wie „Christian Coalition“, „Federal Research Council“ und „American Center for Law and Justice“. Auf diese Weise wurden neben „Fundamentalisten“ zunehmend auch „Neo-Evangelikale“, „Pfingstler“ und „Charismatiker“ – hier unter dem Oberbegriff Evangelikale zusammengefasst51 – politisch aktiviert. Letztelism. British and American Millenarianism, 1800–1930, Chicago / London 1970; George M. Marsden, Fundamentalism and American Culture. The Shaping of Twentieth-Century Evangelicalism: 1870–1925, New York / Oxford 1980; James Davison Hunter, American Evangelicalism. Conservative Religion and the Quandary of Modernity. New Brunswick, NJ 1983; Nancy T. Ammerman, Bible Believers. Fundamentalists in the Modern World, New Brunswick, NJ / London 1987; Martin Riesebrodt, Fundamentalismus als patriarchalische Protestbewegung. Amerikanische Protestanten (1910–1928) und iranische Schiiten (1961–1979) im Vergleich, Tübingen 1990; Klaus Kienzler, Der religiöse Fundamentalismus. Christentum, Judentum, Islam, München 1996; Christian Smith, Christian America? What Evangelicals Really Want, Berkeley, CA 2000. 50 Vgl. ManfredBrocker, Protest – Anpassung – Etablierung. Die Christliche Rechte im politischen System der USA, Frankfurt a. M. / New York 2004; Clyde Wilcox/Carin Larson, In den Schützengräben. Amerikanische Evangelikale und der „Kulturkampf“. In: Brocker (Hg.), „God Bless America“, S. 89–108; Clyde Wilcox, Onward Christian Soldiers? The Religious Right in American Politics, 2. Auflage Boulder, Col. 2000; Justin Watson, The Christian Coalition: Dreams of Restoration, Demands for Recognition, New York 1997. 51 Ca. 27 % der amerikanischen Bevölkerung sind dem Evangelikalismus zuzurechnen, etwa ein Viertel davon, d. h. ca. 7 % der Gesamtbevölkerung, sind protestantische „Fundamentalisten“ im engeren Sinne.

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re teilen zwar nicht alle religiösen Glaubensüberzeugungen der protestantischen „Fundamentalisten“, können mithin – bei Verwendung einer strengen Begriffsdefinition – nur als Mitglieder „fundamentalismus-artiger“ Strömungen des amerikanischen Protestantismus bezeichnet werden, unterstützten aber deren politische Ziele.52 Diese Ziele beinhalteten vor allem die Durchsetzung soziomoralischer und religionspolitischer Reformen wie die Wiedereinführung des morgendlichen Schulgebets, die Berücksichtigung der biblischen Schöpfungslehre im Biologieunterricht und das strikte Verbot der Abtreibung. Sie sollten dazu beitragen, die christlich-protestantisch geprägte „Leitkultur“ der USA wieder herzustellen und den seit den 60er Jahren beschleunigten Prozess der gesellschaftlichen Modernisierung und soziokulturellen Liberalisierung aufzuhalten bzw. umzukehren. Umfragen der letzten Jahre zeigen, dass etwas mehr als 15 Prozent aller amerikanischen Wähler die Christliche Rechte unterstützten. Dass ihre Stimmen zumeist an Republikanische Kandidaten gingen,53 begründete den erheblichen Einfluss, den die Christliche Rechte auf die „Grand Old Party“ ausübte. Auch George W. Bush und seinem Wahlkampfberater, Karl Rove, war bewusst, dass die Präsidentschaftswahlen 2000 und 2004 ohne die Mobilisierung des evangelikalen Wählersegments nicht zu gewinnen waren. Entsprechend lancierten sie immer wieder Themen, die in diesem Milieu als wichtig angesehen wurden: das Verbot von (Spät-) Abtreibungen, das verfassungsrechtliche Verbot von „Homo-Ehen“, die Beschränkung der embryonalen Stammzellforschung, die besondere Rolle der Religion im öffentlichen Leben der USA etc.54 Nicht anders diente in den Reden George W. Bushs die Verwendung von rhetorischen Figuren, die bei konservativen Protestanten einen besonders starken Widerhall finden mussten („axis of evil“, „mission“, „nuclear Armageddon“),55 diesem wahlstrategisch motivierten Zweck. Die eingangs zitierten Sätze etwa („It’s so inspirational to see [...] the great works of our Lord in your heart; [...] 52 Zu den theologischen Differenzen innerhalb des amerikanischen „Evangelikalismus“ vgl. Brocker, Protest, Kap. 2. 53 Vgl. John C. Green, The Christian Right and the 1996 Elections: An Overview. In: Mark J. Rozell/Clyde Wilcox (Hg.), God at the Grass Roots: The Christian Right in the 1996 Elections, Lanham, Md. 1997, S. 1–14; ders., The Christian Right and the 1998 Elections: An Overview. In: ders./Rozell/Wilcox (Hg.), Prayers in the Precincts: The Christian Right in the 1998 Elections, Washington, DC, 2000, S. 1–19; ders., Religion and Politics in the 1990s: Confrontations and Coalitions. In: Mark Silk (Hg.), Religion and American Politics: The 2000 Election in Context, Hartford, Ct. 2000, S. 19–40; Wilcox, Whither the Christian Right? The Elections and Beyond. In: ders./Stephen J. Wayne (Hg.), The Election of the Century – and what it tells us about the future of American politics, Armonk, NY / London 2002, S. 116 f.; 2004 Election Marked by Religious Polarization. The Pew Forum on Religion and Public Life, 2005. 54 Adam Nagourney/Elisabeth Bumiller, Bush Takes On Direct Role in Shaping Election Tactics. In: New York Times on the Web vom 29. 8. 2004; Wilcox/Larson, In den Schützengräben, S. 89 f. 55 Vgl. Remarks by President Bush at 2002 Graduation Exercise of the United States Military Academy, West Point / New York. 1. 6. 2002; http://www.mtholyoke.edu/acad/intrel/bush/westpoint.htm.

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the power of faith can transform a life“56) wurden vor den „National Religious Broadcasters“ geäußert, einer Organisation der evangelikalen Rundfunk- und Fernsehschaffenden der USA, die in Bushs Wahlkampfstrategie als Multiplikatoren eine wichtige Rolle spielten. Allerdings bildete die Christliche Rechte nur einen von mehreren wichtigen Wählerblöcken. Um seine Wiederwahl im Jahr 2004 zu sichern, musste Bush auch die übrige Klientel der Republikanischen Partei zufrieden stellen – etwa die Wirtschaftsliberalen, denen eher wirtschafts-, fiskal- und sozialpolitische Reformen am Herzen lagen. Da diese Wählergruppen in soziomoralischen und religionspolitischen Fragen zudem nicht selten moderat bis liberal eingestellt waren, konnte Präsident Bush den Forderungen der Christlichen Rechten nur sehr begrenzt entgegen kommen. Außer einigen kleineren (personal-) politischen Zugeständnissen machte er ihr daher lediglich rhetorische Avancen. So ergriff Bush während seiner ersten Amtszeit bewusst keine konkreten Initiativen, um per Verfassungszusatz Abtreibungen oder Ehen zwischen Homosexuellen zu verbieten – auch wenn er diesen Forderungen der Christlichen Rechten verbal immer wieder entgegen kam. Im Grunde agierte er damit nicht anders als sein Vorbild Ronald Reagan. Dieser hatte in den 80er Jahren nur wenige Reforminitiativen der Christlichen Rechten unterstützt und es stets vermieden, hier kostbares politisches Kapital zu investieren, das ihn Stimmenverluste in der politischen Mitte hätte kosten können. Rein symbolische Zugeständnisse an die Christliche Rechte waren bei ihm an die Stelle wirklicher politischer Förderung getreten. George W. Bush folgte dem Beispiel Ronald Reagans, dem es nicht zuletzt mit dieser Strategie gelungen war, seine Wählerkoalition einschließlich der Evangelikalen zusammenzuhalten und so 1984 im Amt bestätigt zu werden. George W. Bushs Vater verfehlte dagegen 1992 dieses Ziel. Allzu offen hatte er zu erkennen gegeben, dass er für die „Polyester-Fraktion“57 der Republikanischen Partei und ihre biblizistischen Positionen wenig übrig hatte. Seine Haltung wurde ihm als Arroganz ausgelegt und kostete ihn wichtige Stimmen. Diesen Fehler wollte der Sohn vermeiden. Immer wieder betonte Bush jun. in der Öffentlichkeit, in einem der „Bible-Belt“-Staaten aufgewachsen zu sein, obwohl er in Connecticut geboren wurde. Immer wieder wies er auf sein „Erweckungserlebnis“, seine regelmäßigen Besuche einer methodistischen Kirche58 und seine tägliche Bibellektüre hin, um damit bei strenggläubigen Protestanten an Glaubwürdigkeit zu gewinnen; denn ihre Stimmen benötigte er 2004 für seine Wiederwahl.59 56 President Bush Discusses Faith-Based Initiative in Tennessee. 57 Eine Anspielung auf den unterdurchschnittlichen sozioökonomischen Status der evangelikalen Wählergruppen. 58 Der Methodismus ist eine konservative protestantische Strömung des Protestantismus, die allerdings nicht dem Fundamentalismus zuzurechnen ist. 59 Vgl. Laurie Goodstein, Personal and Political, Bush’s Faith Blurs Lines. In: New York Times vom 26.10. 2004, S. A 19.

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Dass Bushs Umgang mit der „fundamentalistischen“ Christlichen Rechten von wahlstrategischen Überlegungen bestimmt war, ließen 2005 gleich die beiden ersten wichtigen Reden seiner zweiten Amtszeit erkennen: In der „Inaugural Address“ wie in der „State of the Union Message“ verzichtete er weitgehend auf politische Offerten oder auch nur rhetorische Avancen gegenüber der Christlichen Rechten. Vielmehr präsentierte er vor allem in der „State of the Union Message“ umfassend seine wirtschafts- und sozialpolitischen Reformpläne – dauerhafte Steuersenkungen, „social security reform“, „ownership society“ – und schlug ansonsten (nur) „zivilreligiöse“ Töne an („freedom“, „democracy“, „peace“). In dem Wissen, zu keiner weiteren Präsidentschaftswahl mehr antreten zu können, zugleich aber für die Umsetzung seiner politischen Pläne die Unterstützung der Demokraten und einer breiteren Öffentlichkeit insgesamt zu benötigen, stellte er seine Rhetorik auf die neuen Gegebenheiten ein. Dass Bushs Umgang mit der Christlichen Rechten wahlstrategisch motiviert war, zeigt zudem der Blick auf seine Außenpolitik. Auf diesem in den USA für den Wahlausgang meist sekundären Politikfeld machte er der Bewegung nicht einmal rhetorisch Zugeständnisse. Während die Christliche Rechte früh „den Islam“ als neuen „Satan“ und „Inbegriff des Bösen“ angeprangert hatte, den die USA bekämpfen müsse, bemühte sich Bush immer wieder – insbesondere während des Afghanistan- und Irak-Feldzugs –, den Eindruck eines „clash of civilizations“, eines religiös motivierten „Kreuzzuges“ gegen den Islam zu vermeiden. Verantwortlich für die Anschläge des 11. September 2001 sei nicht „der Islam“, betonte Bush wiederholt, sondern „Terroristen“, die den Namen dieser Religion missbrauchten. Während führende Vertreter der Christlichen Rechten verkündeten, der Islam sei antisemitisch, zerstörerisch, ja „abgrundtief böse“60, distanzierte sich Bush mehrfach mit deutlichen Worten von diesen pauschalen Verurteilungen – wofür er die scharfe Kritik der Christlichen Rechten in Kauf nahm.61 Bushs eigene Stellungnahmen (und Politik) waren von dem Versuch geprägt, vier unterschiedliche Ziele zu erreichen: 1. seine evangelikal-fundamentalistische Wählerklientel bei aller Moderierung des Tons nicht vor den Kopf zu stoßen; 2. gerade dadurch zugleich zu verhindern, dass es nach den Angriffen auf Afghanistan und den Irak zu einer panislamischen Solidarisierung mit den Taliban und Osama Bin Laden bzw. Saddam Hussein kam; 3. zu versuchen, eine breite Kriegs- bzw. Anti-Terror-Koalition unter Einbeziehung moderater islamischer Staaten (Türkei, Saudi-Arabien, Kuwait; für den Afghanistan-Feldzug auch Pakistan und Usbekistan etc.) zu schmieden; 60 Vgl. Susan Sachs, Baptist Pastor Attacks Islam, Inciting Cries of Intolerance. In: New York Times on the Web, 15. 06. 2002; Martin Kilian, „Eine böse, verdorbene Religion“. In: Die Weltwoche, 7 (2003), (http://www.weltwoche.ch); Verbal Attacks on Muslims by Conservative Christians (http://www.religioustolerance.org/reac_ter18.htm). 61 Vgl. Dana Milbank, Hawks Chide Bush over Islam. In: Washington Post 2.12. 2002; Bush Steps Away From Christian Fundamentalists’ Comments on Islam. In: Ethics Daily.com, 15.11. 2002; http://www.ethicsdaily.com/article_detail.cfm?AID=1812.

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4. dafür zu sorgen, dass trotz kriegerischer Rhetorik die moslemische Minderheit im eigenen Land nicht gefährdet wurde. Nicht wenige der etwa vier Millionen Moslems in den USA waren nach dem 11. September angefeindet oder physisch angegriffen worden, mindestens drei wurden ermordet.62 Konsequent vermied Bush in seinen Ansprachen daher jedes Kulturkampfvokabular, das nur den islamischen Fundamentalisten in die Hände gespielt und im eigenen Land einen „clash within civilizations“ provoziert hätte. Er tat alles, um den Kampf gegen Al-Quaida und die Taliban als „Kampf gegen den internationalen Terrorismus“ darzustellen, der anti-religiös, weil menschenverachtend sei.63 Flankiert wurde seine verbal artikulierte Position von symbolischen Staatsakten: In New York und Washington fanden nach dem 11. September multikonfessionelle Trauerfeiern mit einer ganzen Phalanx nicht-christlicher Geistlicher und Gottesgelehrter statt (u. a. jüdischer, moslemischer und hinduistischer Provenienz), auf denen der Präsident stets mit deutlich „zivilreligiösem“, nicht aber religiös-konfessionellem Zuschnitt „predigte“64 und ausdrücklich alle Amerikaner – „worshipping at churches and synagogues and mosques“65 – in seine „Gebete“ mit einbezog.

5.

Exkurs: „Demokratisches Sendungsbewusstsein“ und die Außenpolitik der USA

Das „demokratische Sendungsbewusstsein“ der USA kann, wie gesagt, von seinen Ursprüngen her zwar auf christliche Impulse zurückgeführt werden, ist für die Gegenwart aber angemessener „zivil-religiös“ zu interpretieren. Keineswegs liegen ihm „fundamentalistische“ Glaubensüberzeugungen oder Evangelisierungsbestrebungen zugrunde. „Zivilreligiöse“ Vorstellungen haben in den USA primär die Funktion der Identitätsstiftung nach innen – was in vielen der oben zitierten Präsidentenreden deutlich zum Ausdruck kommt: „this nation under God, shall have a new birth of freedom“66 (Abraham Lincoln); „We are a nation under God, and I believe God intended for us to be free“67 (Ronald Reagan); „We’re called to ex62 Konrad Ege, Allah wohnt auch in God’s own country bei Afro-Amerikanern und Einwanderern. In: Das Parlament, 3–4, 18./25.01.02, S. 14; Silk, Our Muslim Neighbors. In: Religion in the News, 5/3 (2002), S. 1, 22. 63 George W. Bush, Address to a Joint Session of Congress and the American People. Washington, DC, 20. 9. 2001. Abrufbar unter: http://www.whitehouse.gov/news/releases/2001/09/20010920–8.html. 64 Silk, The Civil Religion Goes to War. In: Religion in the News, 4/3 (2001), S. 1; Hermann Lübbe, Die Gebete des Präsidenten. In: FAZ vom 2.10. 2001, S. 10. 65 President Discusses War on Terrorism; http://www.whitehouse.gov/news/releases / 2001/11/print/20011108–13.html, ein von Bush häufig verwendeter Ausdruck. 66 S. Anm. 31. 67 S. Anm. 33.

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tend the promise of this country into the lives of every citizen who lives here“68 (George W. Bush). Die „special mission“ der USA wird demnach als Auftrag verstanden, das Leben im Land selbst zu verbessern, neue Freiräume zu eröffnen und die demokratisch-republikanische Ordnung zu perfektionieren. Aber zweifellos artikuliert sie sich auch als Aufforderung, Freiheit und Demokratie weltweit durchzusetzen, wobei die USA jene Führungsrolle übernehmen müsse, so etwa Harry Truman 1947, „die der allmächtige Gott ihr zugedacht hat“69. Der „demokratische Missionarismus“ bildet insoweit eine Konstante der amerikanischen Außenpolitik. Aber bei dieser Feststellung darf man nicht stehen bleiben, sondern muss weiter differenzieren. Denn historisch äußert sich dieses „Sendungsbewusstsein“ in dreierlei Form:70 – Erstens im „aktiven Modus“: als „Crusader State“71. Wenn auch höchst selten inspiriert der „zivilreligiös“ bestimmte Sendungsgedanke die amerikanische Außenpolitik gelegentlich direkt; so etwa beim liberalen Internationalismus oder „Idealismus“ eines Woodrow Wilson, der den Kriegseintritt 1917 als „a crusade to make the world safe for democracy“ rechtfertigte72 oder eines Jimmy Carter, der einmal erklärte: „our policy [is] designed to serve mankind.“73 Unter Carter wurde Menschenrechtspolitik tatsächlich – zumindest für kurze Zeit – von einer instrumentellen auf eine selbstständige außenpolitische Zielebene gehoben.74 Wilson und Carter sind Beispiele für die aktivinterventionistische Projektion der eigenen Werte und Ordnungsvorstellungen auf die Welt. Der (phasenweise) globale Interventionismus, der sowohl kriegerische (Wilson 1917) als auch zivile Mittel ergreift (Carter), ist unmittelbar Ausfluss des historisch-kulturell verankerten missionarischen Sendungsbewusstseins der USA für Freiheit und Demokratie. Dabei bewegt sich dieser „Missionarismus“ weitgehend auf einer völkerrechtlichen Ebene, ja tritt für eine Ausweitung der internationalen „rule of law“, der Zuständigkeit Internationaler Organisationen etc. ein. Wilson etwa war der Initiator des Völkerbunds. – Zweitens äußert sich das demokratische Sendungsbewusstsein der USA – und das ist eher die historische Regel – im „passiven Modus“: als „exemplar Nation“, als Vorbild für die Welt. Das Sendungsbewusstsein wendet sich mithin nach innen, als Verpflichtung, den hohen Zielen selbst gerecht zu werden. Es geht darum, die höchsten Werte in Amerika zu verwirklichen und

68 69 70 71

S. Anm. 35. Zit. nach Blanke, Das amerikanische Sendungsbewusstsein, S. 203. Vgl. zum Folgenden Krakau, Exzeptionalismus, S. 96 ff. Vgl. Walter A. McDougall, Promised Land – Crusader State. The American Encounter With the World Since 1776, Boston, New York 1997. 72 S. Wilson, Speech. 73 Zit. nach Krakau, Exzeptionalismus, S. 93. 74 Ebd.

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zu erhalten, in der Verantwortung für die Menschheit, deren Demokratieund Freiheitschancen sich nach diesem Verständnis stellvertretend in Amerika entscheiden. Die Verantwortung in Amerika für die Welt führt außenpolitisch zum Isolationismus: Das Land ist selbst gebunden an universell gültige Prinzipien, will diese aber nicht aktiv-politisch weltweit verbreiten. Das leuchtende Vorbild Amerikas soll und kann für sich selbst wirken, dann jedenfalls, wenn es sich an diesem Vorbild orientiert, die Vervollkommnung der eigenen „rechten Ordnung“ betreibt und nicht von ihr abfällt. Betrachtet man den „aktiven“ und „passiven Modus“ zusammen, so erkennt man unschwer einen Grund, warum die amerikanische Außenpolitik oftmals zwischen Interventionismus und Isolationismus schwankt, instabil und selbst für Verbündete mitunter schwer zu berechnen ist. – Drittens aber – und das gilt es ebenfalls zu berücksichtigen – dient die Rhetorik von „special mission“, „Verantwortung für Freiheit und Demokratie in der Welt“ etc. nicht selten bloß der Legitimationsbeschaffung für die Verfolgung anderer Ziele und Interessen sicherheits- und geopolitischer, strategischer oder ökonomischer Art. Reagans Außenpolitik ist hierfür charakteristisch. Die Verwendung der Rhetorik von „special mission“ etc. hat jedoch ihren Preis. Sie führt schnell zu manichäischen Vereinfachungen: Das Gute, sprich die USA, steht gegen das Böse, den jeweiligen „Feind“, nach dem Motto: „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns.“ Solche Rhetorik verhindert pragmatische Lösungen. Mit dem „Bösen“ kann man keine Kompromisse eingehen, Abkommen oder Verträge schließen. Solche Rhetorik legt insofern oft vorschnell eine militärische Konfliktlösung nahe. Die außenpolitische Manövrierfähigkeit wird damit erheblich beeinträchtigt. Detlef Junker hat dieses Phänomen pointiert als die „manichäische Falle“ der USA bezeichnet.75 Der Rückgriff auf selbst interpretierte universalistische Werte legitimiert in den Augen der Entscheidungsträger bisweilen auch Verstöße gegen das Völkerrecht oder führt zur Nicht-Anerkennung der Zuständigkeit internationaler Organisationen oder Institutionen wie des Internationalen Gerichtshofs – so etwa anlässlich des Konfliktes mit Nicaragua in den 80er Jahren –, obwohl die USA ihn nach 1945 – in einer „idealistischen“ Phase – mit hatten aufbauen helfen.76 Das „demokratische Sendungsbewusstsein“ äußert sich mithin nicht durchgängig interventionistisch, im Gegenteil: Nur selten motiviert es die amerikanische Außenpolitik direkt. Aber oft dient es zur rhetorischen Verkleidung handfester sicherheitspolitischer oder ökonomischer Interessen.

75 Junker, Auf dem Weg zur imperialen Hypermacht? Die manichäische Falle ist besetzt. U.S.-Außenpolitik nach dem 11. September. In: Brocker (Hg.), „God Bless America“, S. 208–223. 76 Krakau, Exzeptionalismus, S. 114.

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6.

163

Die Außenpolitik George W. Bushs und der Irak-Konflikt

Wie ist vor diesem Hintergrund nun die Außenpolitik George W. Bushs zu bewerten?77 Anders als es die eingangs zitierten Kritiker behaupten, ist sie keineswegs christlich-missionarisch motiviert: Bushs Irakpolitik verfährt nicht nach dem Motto: Wenn wir erst die Menschen zum Christentum bekehrt haben, dann kommen Demokratie und Frieden schon von ganz alleine. Diese Überzeugung lässt sich zwar bei manchen Evangelikalen finden, nicht aber in den Reihen der Bush-Administration. Dass Bush die unmittelbar nach Ende der offiziellen Kriegshandlungen im Irak einsetzenden Missionierungsanstrengungen etwa der „Southern Baptist Convention“78 hinnahm, die zweifellos den Aufbau im Land störten, bedeutete keineswegs, dass er sie insgeheim billigte oder gar „Fundamentalisten“ seine Außenpolitik diktierten. Vielmehr geboten es die Trennung von Kirche und Staat in den USA, die solche Eingriffe ohnehin untersagt, und nicht zuletzt seine damalige Wahlkampfstrategie, alles zu unterlassen, was evangelikale Wähler abschrecken könnte, die Evangelisierungsbemühungen nicht zu verhindern. Sieht Bush die USA aber nicht doch auf einem „Kreuzzug“ – wenn nicht für das Christentum, dann zumindest für Freiheit und Demokratie? Welche Rolle spielt also der traditionelle „demokratische Missionarismus“ der USA in der gegenwärtigen Irak- und Nahostpolitik? Neo-Konservative Berater George W. Bushs wie Paul Wolfowitz, Richard Perle, Douglas Feith oder William Kristol verwenden gerne die Begriffe mission, exceptionalism und crusade for freedom and democracy. Aus ihrer Feder stammte der Plan, zunächst den Irak zu demokratisieren, um von dort aus die Demokratisierung des ganzen Nahen und Mittleren Osten zu betreiben. Diese Politikkonzeption erinnert an Woodrow Wilsons „Idealismus“79 und lässt sich insofern der Tradition des „demokratischen Missionarismus“ im „aktiven Modus“ zurechnen – hier allerdings mit einer stark unilateralen, anti-internationalistischen Neigung. Daneben gibt es aber auch eine Reihe einflussreicher Berater, die dem NeoKonservatismus eher skeptisch gegenüberstehen. Diese „Standard-Konservati77 Zur Außenpolitik George W. Bushs vgl. Stephan Bierling, Geschichte der amerikanischen Außenpolitik. Von 1917 bis zur Gegenwart, München 2003, S. 236 ff.; Ivo H. Daalder/James M. Lindsay, America Unbound. The Bush Revolution in Foreign Policy, Washington, DC 2003; Bob Woodward, Plan of Attack, New York 2004; Stefan Halper / Jonathan Clark, America Alone. The Neo-Conservatives and the Global Order, Cambridge 2004; Alexander Moens, The Foreign Policy of George W. Bush: Values, Strategy and Loyalty, Aldershot 2004; Richard A. Melanson, American Foreign Policy Since the Vietnam War: The Search for Consensus from Richard Nixon to George W. Bush, Armonk, NY 2005; Junker, Auf dem Weg. 78 Vgl. Four American Baptist Missionaries Die in Drive-by Shooting in Iraq; Fifth Missionary Critically Wounded. In: Christian Times Today vom 4. 4. 2004 (http://www.christiantimestoday.com/April_04/news_shooting.html). 79 Vgl. Norman Podhoretz, Strange Bedfellows: A Guide to the New Foreign Policy Debates. In: Commentary, Dec. 1999, S. 19–31; Halper/Clark, America Alone, S. 18 f.

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ven“, zu denen Richard Cheney, Donald Rumsfeld und Condoleezza Rice gehören, bemühten für das Eingreifen im Irak eher realpolitische, d. h. sicherheitspolitische und geostrategische Argumente. Immer wieder betonten sie, dass der Irak eine Bedrohung nicht nur für die Stabilität in der Region, sondern auch für die Sicherheit der USA darstellte. Der Irak habe UN-Resolutionen nicht erfüllt; er habe die gegen ihn verhängten Sanktionen umgangen und über Scheinfirmen Material für sein Waffenprogramm beschafft.80 Er sei seiner Verpflichtung, abzurüsten bzw. die Daten über seine biologischen und chemischen Waffenarsenale offen zu legen und die Lagerstätten zu nennen, nicht nachgekommen; er habe stattdessen – wie Satellitenaufnahmen bewiesen – weitere biologische und chemische Waffen in mobilen Labors produziert und darüber hinaus versucht, Nuklearwaffen zu entwickeln. Da der Irak möglicherweise über Verbindungen zum Al Quaida-Terrornetzwerk verfüge, bestünde die Gefahr, dass diese Waffen in den Besitz von Terroristen gelangten. Mochte sich nach dem Abschluss der Kampfhandlungen auch herausstellen, dass diese Gründe überwiegend auf unberechtigten Annahmen beruhten, Anfang 2003 jedenfalls erschienen sie George W. Bush ausreichend, um einen Militärschlag gegen den Irak zu führen und dort – wie zuvor in Afghanistan – einen Regimewechsel zu erzwingen. Hinter der Entscheidung Bushs weitere, „eigentliche“ Faktoren – wie religiöse Motive („protestantischer Fundamentalismus“) – sehen zu wollen, muss als bloße Spekulation zurückgewiesen werden. Bei der Frage nach der Legitimation des Irakkrieges kamen allenfalls „zivil-religiöse“ Motive ins Spiel: Die beharrlich vorgetragene Begründung, man wolle dem unterdrückten irakischen Volk helfen, ein tyrannisches Regime zu beseitigen und ihm „Freiheit“ und „Demokratie“ bringen, zielte dabei vor allem darauf ab, im eigenen Land Unterstützung zu mobilisieren. Denn seit Vietnam ist klar, dass die Vereinigten Staaten ohne öffentliche Zustimmung keine Kriege mehr führen können. Doch die „zivil-religiöse“ Rhetorik darf weder religiös-konfessionell – etwa evangelikal-fundamentalistisch – interpretiert werden, noch vorschnell als Hinweis darauf angesehen werden, dass Bush die Auffassungen seiner neokonservativen Berater teilt, deren „interventionistischer Missionarismus“ einen aktiven „DemokratieExport“ in die Region (Iran, Libanon, Palästina) fordert. Bushs Unterstützung für die Opposition in den genannten Ländern ist bislang und wird wohl weiterhin – den Erwartungen der Neokonservativen zum Trotz – rein rhetorisch bleiben: solange jedenfalls, als nicht sicherheitspolitische, geostrategische oder ökonomische, d. h. „vitale“, Interessen Anderes nahe legen. Aus eben diesem Grund – weil nationale Interessen und die Furcht vor neuen Terroranschlägen die amerikanische (Macht-) Politik unter George W. Bush bestimmen und insofern der Einfluss der Standard-Konservativen überwiegt – entgehen auch jene islamischen Verbündeten der Kritik, die alles andere als freiheitliche Demokra80 Condoleezza Rice, Ein Konsens zum Stillhalten ist für uns nicht akzeptabel. In: FAZ vom 14. 2. 2003, S. 3.

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tien sind und auch keinerlei Schritte in diese Richtung unternehmen. Das gilt für das totalitäre Regime in Saudi-Arabien, dessen Kooperation für die USA von erheblicher strategischer Bedeutung ist, aber auch für die Militärdiktatur in Pakistan und die diktatorische Regierung der zentralasiatischen Republik Usbekistans, die die USA im Krieg in Afghanistan unterstützten.

7.

Fazit

Manchen Beobachtern erscheint der 43. Präsident der USA religiöser als seine Vorgänger zu sein. Das mag für ihn selbst zutreffen, doch seine Politik gibt einen solchen Einfluss persönlicher Religiosität nicht zu erkennen. Bush ist zunächst und vor allem – wie sein Vorbild Ronald Reagan – ein politischer „professional“, der von politischen „professionals“ wie dem Wahlkampfstrategen Karl Rove81 beraten wird: Er sucht die Zustimmung möglichst vieler gesellschaftlicher Gruppen in den USA zu gewinnen, um seine politischen Pläne umsetzen zu können und nach seiner Wiederwahl die Republikanische Mehrheit in beiden Häusern des Kongresses über 2006 hinaus zu erhalten. Dafür braucht er unter anderem (aber keineswegs nur) die Unterstützung des christlich-rechten Flügels der eigenen Partei. Deshalb kommt er dessen innenpolitischen Forderungen (vor allem rhetorisch) entgegen – jedenfalls dort, wo er keinen Schaden für seine längerfristigen Ziele fürchten muss. In der Formulierung der Außenpolitik dagegen spielt die Christliche Rechte keine Rolle. Hier wird das Regierungshandeln primär von standard-konservativen Ministern und Beratern beeinflusst, deren Positionen und Planungen sicherheitspolitische, strategische und ökonomische, nicht jedoch religiöse Motivlagen zu erkennen geben. Anderes lässt sich auch aus den Stellungnahmen und Reden des Präsidenten nicht herauslesen. Bushs „religiöse“ Metaphorik bleibt im Rahmen der amerikanischen „Zivilreligion“, die in Zeiten des Krieges schon immer die Funktion hatte, im eigenen Land Zustimmung und Unterstützung zu mobilisieren – nicht durch nüchterne Argumente und rationales Abwägen des Für und Wider, sondern durch Emotion und den Appell an „höhere Werte“, die die Opfer lohnen. Der „demokratische Missionarismus“ Bushs dient der rhetorischen Überhöhung realpolitischer, insbesondere sicherheitspolitischer Ziele, und soll die Kritik an seiner Irak-Politik, die einen hohen Blutzoll fordert, entkräften. Eine Selbstverpflichtung der amerikanischen Regierung, von nun an weltweit für die Durchsetzung demokratischer Regime einzutreten, lässt sich daraus nicht ablesen – auch wenn manche Sätze Bushs so klingen: „So it is the policy of the United States to seek and support the growth of democratic movements and institutions in every nation and culture, with the ultimate goal of ending tyranny in our world.“ Statt eines konkreten 81 Bush beförderte Rove nach seiner Wiederwahl zum stellvertretenden Stabschef im Weißen Haus.

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Fahrplans für die amerikanische Außenpolitik der nächsten vier Jahre sind sie als Ausdruck einer – die USA zu nichts verpflichtenden – Hoffnung zu verstehen, dass sich Frieden und Freiheit am Ende weltweit durchsetzen mögen; eine Hoffnung, so fährt Bush fort, deren Erfüllung die Anstrengung noch vieler Generationen erfordern werde („the concentrated work of generations“).82 Europäische Besorgnisse, Bush könne der Auffassung sein, das „Reich Gottes sei mit seiner Präsidentschaft angebrochen“83 und er habe aus der Johannesapokalypse den konkreten Auftrag für sich abgeleitet, in einer „weltpolitischen Mission das Böse zu bekämpfen sowie Freiheit und Demokratie weltweit durchzusetzen“,84 sind insofern unbegründet. Sie beruhen eher auf europäischen Missverständnissen im Hinblick auf die komplexen Beziehungen von Politik und Religion und ihrer schillernden Formen in den USA als auf der faktischen Politik eines „christlichen Fundamentalisten“.

82 Inaugural Address, 20.1. 2005. 83 Vgl. Geyer, Zwei Stellvertreter. 84 Vgl. Steinacker, God’s own country.

Die Vielschichtigkeit von Religion und Staat in den Vereinigten Staaten von Amerika: Trennung, Integration, Akkommodation1 Derek H. Davis Das Wechselspiel von Religion und Staat in den Vereinigten Staaten ist, wenn überhaupt etwas darüber ausgesagt werden kann, komplex. Die Gesetzmäßigkeiten, die das amerikanische System der Kirche-Staat-Beziehungen beschreiben – Gesetzmäßigkeiten, die zumeist durch juristische Auslegungen der Religionsklauseln des Ersten Verfassungszusatzes (First Amendment), aber auch durch die umfassenden Traditionen, dass der Oberste Gerichtshof (Supreme Court) es vorzieht, sich nicht mit solchen Fragen zu befassen, vorgegeben sind – werden häufig als inkonsistent und verwirrend kritisiert. Ein feststehender Kritikpunkt ist z. B., dass Schüler an öffentlichen Schulen keine Gebete in ihren Klassenzimmern2 oder während ihrer Football-Spiele3 sprechen können, aber dass der U.S.-Kongress seine eigenen Geistlichen haben darf, um dessen tägliche Gebete zu übernehmen. Ein anderer Kritikpunkt ist, dass die Zehn Gebote nicht in den Klassenräumen öffentlicher Schulen angebracht werden dürfen, wohingegen der Sitzungssaal des Supreme Court in Washington D. C. mit einer Darstellung des die Zehn Gebote haltenden Mose ausgeschmückt ist.4 Und wie verhält es sich damit, dass ordinierte Prediger wie Pat Robertson und Jesse Jackson sich um die Präsidentschaft der Vereinigten Staaten bewerben können, angesichts der durch die Verfassung vorgegebenen Trennung von Kirche und Staat? Vordergründig wirken diese scheinbar widersprüchlichen Regeln und Praktiken ziemlich merkwürdig, nahezu absonderlich. Aber eingebettet in das weitreichende, ausdifferenzierte amerikanische Gefüge, innerhalb dessen Religion und Staat in einer Wechselbeziehung stehen, können diese augenfälligen Gegebenheiten verstanden – ja, sogar gerechtfertigt – werden. An dieser Stelle wird nahegelegt, dass das amerikanische System als ein Gefüge verstanden werden muss, das drei voneinander unterschiedene, aber den1 2 3 4

Aus dem Amerikanischen übersetzt von Hans Jörg Schmidt. Vgl. Engel v. Vitale, 370 U. S. 421 (1962); Abington School District v. Schempp, 374 U.S. 203 (1963). Santa Fe v. Doe, 530 U. S. 27 (2002). Zur Diskussion um die Zehn Gebote im öffentlichen Leben vgl. Derek H. Davis, The Ten Commandments as Public Ritual. In: Journal of Church and State, 44 (spring 2002) 2, S. 221–229.

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noch miteinander verbundene Gesetzmäßigkeiten umfasst: Trennung von Kirche und Staat, Integration von Religion und Politik und Akkommodation der Zivilreligion. Alle Regeln, Gewohnheiten und Praktiken, die das einzigartige Verhältnis von Religion und Staat in Amerika konturieren, können vorrangig, wenn auch nicht immer ausschließlich, einer dieser drei Kategorien zugeordnet werden. Jede Kategorie ist unabdingbar für das gesamtamerikanische öffentliche Selbstverständnis. Jede Kategorie ist Teil eines nuancierten, miteinander verknüpften Systems, das als Ziel die „gute Gesellschaft“ hat. Und, wie in diesem Aufsatz gezeigt werden soll: Ohne eine gewisse Aufgeschlossenheit für diese drei Kategorien, ihre Verzahnung und für die Art und Weise, in der sie zusammenwirken, um demokratische Prinzipien zu befördern, wird man sicherlich durch die scheinbaren Gegensätze im Gesamtsystem in Verwirrung geraten.

1.

Trennung von Kirche und Staat

„Trennung von Kirche und Staat“ ist zum gebräuchlichen Ausdruck geworden, um das Verhältnis zwischen Religion und Staat im amerikanischen System zu umschreiben.5 Allerdings ist die Wendung zu weit gefasst, um das Gesamtsystem angemessen zu beschreiben, denn in vielerlei Hinsicht gibt es dort eindeutig keine „Trennung“. Wie kann einem System, das „In God We Trust“ als sein nationales Motto verkündet, die Namen Gottes als Unterpfand für die Untertanenpflicht anruft, einen nationalen Gebetstag begeht und staatlich finanzierte „Legislativ-Priester“ billigt, abverlangt werden, eine Verpflichtung zur Trennung von Kirche und Staat zu haben? Offensichtlich besagt die amerikanische Tradition der Trennung von Kirche und Staat nicht, dass eine Trennung der Religion von den Staatsbehörden in allen Fällen erforderlich ist. Obgleich der Aus-

5

Das „Trennungs“-Prinzip wird in einer großen Anzahl von Ansätzen erklärt. Diejenigen, die die Trennung alleinig als Schutz vor einer nationalen Kirche erforderlich halten – also weitergehende staatliche Förderung von Religion zulassen – werden oft „Akkomodationisten“ genannt. Diejenigen, die für extensive Verbote staatlicher Unterstützung von Religion eintreten, werden häufig auch als „Separationisten“ bezeichnet. Die besten Verbalisierungen „akkommodationistischer“ Interpretation sind: Chester James Antieu/Arthur L. Downey/Edward C. Roberts, Freedom from Federal Establishment: Formation and Early History of the First Amendment Religions Clauses, Milwaukee 1964; Walter Berns, The First Amendment and the Future of American Democracy, New York 1976; Michael J. Malbin, Religion and Politics: The Intentions of the Authors of the First Amendment, Washington, DC 1978; Robert L. Cord, Separation of Church and State: Historical Fact and Current Fiction, New York 1982. Die besten Darstellungen mit „separationistischem“ Einschlag sind: Leo Pfeffer, Church, State and Freedom, 2. Auflage Boston 1967; Leonard Levy, The Establishment Clause: Religion and the First Amendment, New York 1986; Anson Phelps Stokes, Church and State in the United States: Historical Development and Contemporary Problems of Religious Freedom under the Constitution, 3 Bände, New York 1950 sowie Isaac Kramnick und R. Laurence Moore, The Godless Constitution: The Case against Religious Correctness, New York 1996.

Vielschichtigkeit von Religion und Staat in den USA

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druck zu grobmaschig ist, um das gesamte System zu umschließen, beschreibt er – dessen ungeachtet – einen wichtigen Teil des Systems angemessen. Eine bessere Art, über „Trennung“ zu reflektieren, ist es, von einem Begriff zu reden, der eine institutionelle Trennung von Kirche und Staat beschreibt. Mit anderen Worten: Die Verfassung fordert, dass die Institutionen von Kirche und Staat in der amerikanischen Gesellschaft nicht miteinander verbunden sind, voneinander abhängen oder funktional aufeinander bezogen sind. Der Zweck dieser Forderung ist es, gegenseitige Unabhängigkeit und Autonomie für die Institutionen zu erreichen. Dies basiert auf der Überzeugung, sie funktionierten am besten, wenn keine von beiden Autorität über die andere ausübe. Betroffen sind die institutionellen Einrichtungen, d. h. Kirchen, Moscheen, Synagogen und alle anderen Einrichtungen organisierter Religionsausübung und die institutionellen Körperschaften staatlicher Autorität, aber auch kleine lokale Körperschaften wie z. B. Schulbezirke, Polizeistationen, Stadträte, öffentliche Versorgungsbetriebe, kommunale Gerichte, Landkreiskommissionen und viele dergleichen mehr. Konsequenterweise erhalten Kirchen und andere Kultstätten keine direkte staatliche Unterstützung. Auch sind sie nicht verpflichtet, Steuern zu zahlen. Regierungsbeamte berufen keine Geistlichen; umgekehrt ernennen religiöse Körperschaften keine Regierungsbeamten. Regierungsbehörden, sogar Gerichten, ist es nicht gestattet, sich mit Kirchenstreitigkeiten, die Lehrfragen einschließen, zu befassen. Und religiöse Körperschaften – im Gegensatz zur katholischen Kirche im Mittelalter – verfügen nicht über die Amtsgewalt, Gesetze oder Inhalte öffentlicher Politik zu diktieren. Die institutionelle Trennung von Kirche und Staat wird am häufigsten und am kontroversesten anlässlich gerichtlicher Entscheidungen wahrgenommen, die religiöse Aktivitäten in öffentlichen Schulen einschränken. Gerichtsentscheidungen, die die Möglichkeiten von Schulen begrenzen, Gebete und Schriftlesungen abzuhalten, die Zehn Gebote und andere religiöse Texte anzuschlagen oder eine bestimmte religiöse Weltsicht zu verbreiten, intendieren, die geheiligte Sphäre der Religion vor staatlicher Einmischung zu schützen. Es ist wichtig, daran zu erinnern, dass es im Kontext öffentlicher Schulen die Regeln und Praktiken institutionalisierter Religion sind, die davor geschützt sind, angenommen oder abgelehnt zu werden. Unterrichtseinheiten, die vergleichende Religionslehre erteilen, historische oder literarische Aspekte von Religion vermitteln oder die anthropologischen Dimensionen von Religion betrachten, sind erlaubt – ja, werden sogar gefördert. Wie Richter Tom Clark im Fall „Abington gegen Schempp“ (1963) befand: „Irgendjemandes Bildung ist nicht vollständig ohne das vergleichende Studium der Religionen oder der Geschichte der Religionen und ihrer Beziehung zum Fortschritt der Zivilisation [...] Das Studium der Bibel oder der Religion [verletzt nicht] das First Amendment, wenn es objektiv als Teil eines säkularen Erziehungsprogramms präsentiert wird.“6

6

Abington v. Schempp, S. 225.

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Ebenso sind Gerichtsurteile, die der Fähigkeit einer Regierung, privaten Religionsunterricht zu unterstützen, Restriktionen auferlegen, das Ergebnis der institutionellen Trennung von Kirche und Staat. Im Allgemeinen haben Gerichte festgelegt, dass diese Programme, die von Körperschaften institutionalisierter Religion ausgeübt werden, dazu neigen, Religion in einer sektiererischen Weise zu befördern, und dadurch die „Establishment Clause“ verletzen. Aber die Finanzierung „säkularer“ Komponenten privater Religionsschulen ist gestattet. Konsequenterweise haben die Gerichte den Staatsbehörden z. B. erlaubt, folgende Anschaffungen zugunsten privater Religionsschulen zu tätigen: Lehrbücher,7 Computer,8 Zubehör für diagnostische Untersuchungen9 u. a. Diese Hilfsprogramme sind keine Unterstützung der Religion. Programme, die Vorteile verschaffen, die für die Unterstützung oder Förderung von Religion benutzt werden könnten – wie etwa Stipendien für Lehrkräfte10 und zeitlich unbegrenzte Subventionen, welche dazu verwendet werden könnten, religiöse Texte zu kaufen, religiöse Statuen zu errichten11 oder Ausflüge zu finanzieren, bei denen religiöse Unterweisung stattfinden könnte12 – sind für nicht verfassungskonform befunden worden. Die institutionelle Trennung von Kirche und Staat berührt ebenso andere Bereiche der Interaktionszusammenhänge von Religion und Staatsbehörden. Die Regierung hat in den letzten Jahren ein Bündel von Maßnahmen verabschiedet, die beabsichtigen, Kirchen und andere religiöse Institutionen regierungsamtlich zu finanzieren, die sich bereit finden, soziale Hilfsprogramme zu unterhalten – Suppenküchen, Drogen- und Alkohol-Entzugsprogramme, Kleiderkammern, Obdachlosenheime, Jugendkriminalitätsprävention und dergleichen. Theoretisch verfolgen diese Programme säkulare Ziele, folglich passieren sie die Prüfung auf Verfassungskonformität. Aber sie stellen eine kühne Herausforderung für die vorherrschende Verfassungsdoktrin dar, die vorgibt, Kirchen, Tempel, Moscheen und andere Kultstätten seien „durchgängig sektiererisch“. Dies bedeutet, dass deren Mission und Absicht so von Religion durchdrungen sei, dass es praktisch unmöglich sei, „säkulare“ Aspekte ihrer Tätigkeit herauszufinden. Diese Gesetzgebung wird als „Charitable Choice“ tituliert, da Programmempfänger entweder einen staatlich finanzierten religiösen oder einen säkularen Anbieter auswählen können. Sie ist eine Herausforderung für die traditionellerweise „separationistische“ gerichtliche Interpretation der Establishment Clause. Befürworter des Charitable Choice-Verfahrens machen die alte Furcht geltend, Religion müsste ohne staatliche Unterstützung dahindarben, potentielle Hilfeempfänger würden übersehen und die Gesellschaft sei dem moralischen Verfall anheim gestellt. Die Widersacher dieser Position argumentie7 8 9 10 11 12

Board of Education v. Allen, 392 U.S. 236 (1968). Mitchell v. Helms, 530 U. S. 793 (2000). Levitt v. Pearl, 413 U. S. 472 (1973). Lemon v. Kurtzman, 403 U. S. 602 (1971). Pearl v. Nyquist, 413 U. S. 756 (1973). Wolman v. Walters, 433 U. S. 229 (1977).

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ren, Religion gedeihe am besten, wenn sie sich auf private und nicht auf öffentliche Ressourcen stütze. Außerdem würde sich Sittlichkeit am besten in einem Klima selbstgewählter Freiwilligkeit entwickeln, und nicht etwa durch staatlich gestützte Anreize.13 Die institutionelle Trennung von Kirche und Staat ist ein neuartiges Experiment in der Menschheitsgeschichte. Im Verlauf der Geschichte haben die meisten Gesellschaften mit der Annahme gearbeitet, dass eine Regierung ein moralisch handelnder Akteur sein solle. Sie müsse wesentlich zur Vervollkommnung des menschlichen Wesens beitragen. Im Altertum war es für Regierungen üblich, religiöse Verehrung und Unterweisung im Sinne der Einprägung von Sittlichkeit in das Leben der Bürger zu finanzieren – ja, sogar für sich einzufordern. Die amerikanischen Gründerväter waren davon überzeugt, dass ein erfolgreicher „Nation-Building“-Prozess ohne eine moralische Bürgerschaft unmöglich sein würde. Aber sie glaubten, dass moralische Übung, sofern sie religiös fundiert ist, vorrangig von der Glaubensgemeinschaft, nicht von der Regierung, ausgehen müsse.14 Die Establishment Clause war der Versuch der Gründerväter, die zwangausübende Rolle der Regierung in Hinblick auf die religiöse Ausrichtung der Bevölkerung zu beenden. Die „Free Exercise Clause“ reflektiert das Ziel der Gründer, die Religion in die Hände der Bürger zu geben, um diese zu befähigen, ihre eigenen religiösen Überzeugungen auszuformen. Dies war ein kühnes Experiment, aber eines, das noch heute im Zentrum des öffentlichen Selbstverständnisses der Amerikaner steht. Wie es Richter Rutledge vom Supreme Court einmal formulierte: „Wir haben die gesamte Daseinsberechtigung unseres Landes auf der Überzeugung aufgebaut, dass eine komplette Trennung von Staat und Religion das beste für den Staat und für die Religion ist.“15 Richter Rutledge wusste besser als jeder andere, dass vollständige Trennung von Kirche und Staat unmöglich ist. Seine Worte sind eine eindrückliche Erinnerung daran, wie entscheidend das Prinzip der Trennung für den American Way of Life ist.

2.

Integration von Religion und Politik

Die Trennung von Kirche und Staat ist in der Tat wichtig für den American Way of Life, aber – wie bereits angemerkt – beschreibt sie nicht alle Aspekte des Wechselspiels von Religion und Staat. Dies konnte bereits daran erkannt werden, dass das amerikanische System die Teilnahme religiöser Stimmen am politischen Diskurs anregt. Wäre das System eines der totalen Trennung, würde es nicht die aktive Einbindung von religiösen Personen, Glaubensgemeinschaf13 Vgl. allgemein über die Gesetzgebung zu „Charitable Choice“: Davis/Barry Hankins (Hg.), Welfare Reform and Faith-based Organizations, Waco, TX 1999. 14 Vgl. Kap. 10, „Virtue and the Continental Congress“. In: Davis, Religion and the Continental Congress, 1774–1789: Contributions to Original Intent, New York 2000. 15 Everson v. Board of Education, 330 U. S. 1 (1947), S. 59.

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ten und religiösen Organisationen ermöglichen, welche kräftig in den öffentlichen Diskurs eingreifen und versuchen, die verantwortlichen Stellen von den Vorteilen einer Rahmengesetzgebung und öffentlichen Politikinhalten zu überzeugen, die ihre ausgesprochen religiösen Ansichten widerspiegeln. Das Recht der Kirchen und anderer religiöser Körperschaften, sich in der Politikberatung zu engagieren und politische Erklärungen abzugeben, ist niemals in der Geschichte der amerikanischen Nation ernsthaft in Frage gestellt worden. In den Jahren vor der Amerikanischen Revolution nahmen z. B. die Kirchen eine führende Rolle in der politischen Debatte um die Frage ein, ob die Kolonien mit ihrem Vaterland in den Krieg ziehen sollten. Im 19. Jahrhundert waren die Hauptgründe für politisches Handeln der Kirchen und anderer religiöser Gruppierungen die Frage der Sklaverei, der Alkoholabstinenz und der nicht-konfessionellen Erziehung. Im 20. Jahrhundert wuchs das Engagement religiöser Körperschaften in der Politik und deckte eine große Bandbreite von Themen inklusive Ökonomie und sozialer Gerechtigkeit, Krieg und Frieden, Abtreibung, Bürgerrechte und Welthunger ab. Heute haben praktisch alle bedeutenderen Religionsgemeinschaften Amerikas und alle religiösen Zusammenschlüsse Büros für Öffentlichkeitsarbeit in Washington D. C., um ihre Lobby-Bemühungen zu bündeln.16 Diese Gruppen ziehen zum größten Teil nicht in Betracht, dass ihre Büros bestehen, um ihre Eigeninteressen zu verfolgen, sondern sehen diese als ein probates Mittel an, durch welches sie in öffentlichen Angelegenheiten Zeugnis ablegen können, das auf ihrem eigenen Verständnis ihrer Mission in der Welt basiert. Setzt man das durch Zeit geadelte Recht religiöser Körperschaften, aktiv am politischen Prozess teilnehmen zu können, voraus, ist es kaum verwunderlich, dass der U.S. Supreme Court dieses grundlegende Recht nicht ernstlich angefochten hat. Das Recht wurde vom Gerichtshof im Fall „Walz gegen Tax Commission“ (1970) bisher am stärksten bekräftigt: „Anhänger spezieller Glaubensrichtungen und individueller Kirchen nehmen häufig kontroverse Positionen in Hinblick auf öffentliche Streitfragen ein, eingeschlossen [...] nachdrücklicher Verteidigung gesetzes- und verfassungsgemäßer Positionen. Selbstverständlich haben Kirchen genauso gut wie säkulare Körperschaften und private Bürger dieses Recht.“17 Ebenso bestätigte der Supreme Court dieses Recht in der Streitsache „McDaniel gegen Paty“ (1978). Es handelte sich um einen Fall, der die einzigen noch verbliebenen staatlichen Rechtsvorschriften verwarf, die es Geistlichen untersagten, öffentliche Ämter aufzusuchen. Der Supreme Court hob die 16 Vgl. die angeführten Abhandlungen über religiöses Lobbyistentum: Ronald J. Hrebenar /Ruth K. Scott, Interest Group Politics in America, Englewood Cliffs, NJ 1982; Jeffrey M. Berry, The Interest Group Society, Glenview, IL 1989; Allen D. Hertzke, Representing God in Washington: The Role of Religious Lobbies in the American Polity, Knoxville, TN 1988; Jeffrey M. Berry, The New Liberalism: The Rising Power of Citizens Groups, Washington, DC 1999; Daniel J. B. Hofrenning. In Washington, but not of it: The Prophetic Politics of Religious Lobbyists, Philadelphia, PA 1995; Luke Eugene Ebersole, Church Lobbying in the Nation’s Capital, New York 1951. 17 Walz v. Tax Commission, 397 U. S. 664 (1970).

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Bedeutung und den geschützten Status religiöser Ideen in der öffentlichen Auseinandersetzung hervor: „[R]eligiöse Vorstellungen, nicht weniger als alle anderen auch, können der Gegenstand einer Debatte sein, die unaufgefordert, aufrichtig und weitreichend ist [...] Die öffentliche Diskussion religiöser Vorstellungen, wie jede andere auch, kann Emotionen erregen, kann aufwiegeln, kann religiöse Spaltung und Uneinigkeit anfachen, aber beraubt sie nicht ihres konstitutionellen Schutzes.“18 Entscheidungen des Supreme Courts wie diese sollten einen jedoch nicht dazu verleiten, anzunehmen, dass organisierte Religion in Amerika ein absolutes Recht genießt, frei von staatlichen Einmischungen an der Entstehung öffentlicher Politik teilzunehmen. Diese Gruppen sind der Bedrohung ausgesetzt, ihre Steuerbefreiung z. B. wegen „substantieller“ politischer Ausgaben19 oder wegen der Unterstützung politischer Kandidaten („Lobbying“)20 zu verlieren. Dessen ungeachtet genießen sie grundsätzlich dieselben Rechte, am politischen Prozess teilzunehmen, wie säkulare Gruppen. Die Prinzipien der Demokratie sind hier ausschlaggebend. Jede Person oder Gruppe innerhalb der amerikanischen Gesellschaft – gleichgültig, ob religiös oder säkular –, die wünscht, zur demokratischen Regierungsweise beizutragen, hat das Recht, dies zu tun. Sie ist sogar explizit dazu aufgefordert, selbst wenn eine derartige Mitwirkung eine rein formale Verletzung des Prinzips der Trennung von Kirche und Staat darstellt. Totale Trennung würde bedeuten, die Aktivitäten der Christlichen Koalition und ungefähr 125 anderer religiöser Interessenvertretungen zu verbieten, deren alleiniger Existenzgrund es ist, den Gesetzgebungsprozess und die öffentlichen Politikinhalte in Übereinstimmung mit ihrer jeweiligen religiös inspirierten Sichtweise zu beeinflussen. Obwohl viele dieser Interessengruppen – bedauerlicherweise – versuchen, eher Diktate verlautbaren zu lassen als Rat anzubieten, eher Befehle als stichhaltige Argumente zu geben, hat eine große 18 McDaniel v. Paty, 435 U. S. 618 (1978), S. 640. 19 Obwohl es keine klare Regel zur Definition von „substantiell“ gibt, legt ein Fall nahe, es sei ein „sicherer Anhaltspunkt“, wenn die Lobbyismus-Ausgaben einer Organisation 5% nicht überstiegen. Seasongood v. Commissioner, 227 F.2d 907 (6th Cir. 1955), in einem anderen Fall entschied ein Gericht, dass eine Kirche, die ungefähr 22% ihrer Einnahmen innerhalb eines Gesundheitsplans für medizinische Rechnungen ihrer Mitglieder ausgibt, sich einer „substantiell nicht steuerbefreiungswürdigen Tätigkeit“ befleißigt. Bethel Conservative Mennonite Church v. Commissioner 80 T.C. 352 (1983), rev’d., 746 F.2d 388 (7th Cir. 1984). Ein anderer Gerichtshof hat entschieden, einen genauen Prozentsatz festzulegen, sei unangemessen. Haswell v. United States, 500 F.2d 1133 (Ct. Cl. 1974), cert. denied, 419 U. S. 1107 (1975). Noch immer würden, in Übereinstimmung zu einer weiteren Quelle, weniger als 20% der Ausgaben für „insubstantiell“ erachtet werden. Vgl. Lynn R. Buzzard/Sherra Robinson, I.R.S. Political Activity Restrictions on Churches and Charitable Ministries, Diamond Bar, CA 1990 (Christian Ministries Management Association), S. 53–59. 20 „Lobbying“ wird definiert in: Internal Revenue Code Section 4911 (d) (1). Verschiedene Regulierungen, Regeln und Gerichtsentscheidungen über die Bedeutung von „Lobbying“ werden instruktiv erläutert in: Buzzard/Robinson, I.R.S., S. 42–52.

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Mehrheit von ihnen gelernt, ihre Sichtweisen mit etwas mehr Bescheidenheit vorzutragen. Sie hat eingesehen, dass Amerika eine durch viele Meinungen gekennzeichnete Demokratie ist, nicht eine durch wenige konturierte Theokratie. Obwohl religiöse Argumente einen fest verankerten Platz im amerikanischen politischen Diskurs haben, entsteht Gesetzgebung, die eine religiöse Vorstellung bevorzugt, im Allgemeinen nicht infolge der Anforderungen des Supreme Court, die als „Lemon-Test“ bezeichnet werden. In der Logik des Lemon-Tests spiegelt Regierungstätigkeit eine säkulare Absicht wider, hat nicht den primären Effekt der Bevorzugung oder Beeinträchtigung von Religion und ruft keine weitreichenden Verstickungen zwischen Religion und Regierung hervor.21 In Kategorien der politischen Theorie reflektiert der Lemon-Test das Verständnis des Gerichts, dass die amerikanische Nation im Wesentlichen eher ein liberaler denn ein religiöser Staat ist. In Anschluss an die meisten gelehrten Darstellungen zum liberalen Staat bringt diese Kennzeichnung Erfordernisse mit sich, die zusätzlich zu den Anforderungen des Lemon-Tests bestehen. Am bedeutendsten ist: Der öffentliche Diskurs einer liberalen Demokratie muss für alle Teilnehmer verständlich sein. Da religiöse Sprache für viele Bürger unverständlich geworden ist, sollte sie in eine für jeden verständliche säkulare Sprache übersetzt werden. Eine religiöse Motivation mag sicherlich unter der Oberfläche bestimmter Gesetze verborgen sein, aber die Gesetzgebung selbst muss in der Hauptsache in säkularer Sprache abgefasst sein. In den meisten Darstellungen ist diese Erfordernis logisches Antezedenz des Lemon-Tests. Dies erfordert, dass das Endprodukt des öffentlichen Diskurses – die Gesetzgebung – eine säkulare Orientierung trägt. Das Werk von John Rawls ist bekanntlich von zentraler Bedeutung für die gesamte Tradition liberalen politischen Denkens. In „A Theory of Justice“ sieht er die Grundvoraussetzung für das Bestehen des liberalen Staats – wie auch oben genannt – in der Unterstützung seitens einer säkularen Basis.22 Seine Arbeiten sind von großem Einfluss in den Vereinigten Staaten und genießen weitverbreitete Anerkennung von Politiktheoretikern, wenngleich in unterschiedlichen Intensitätsgraden.23 In den letzten Jahren ist die liberale Politische Theorie von einer Menge kommunitaristischer Denker herausgefordert worden, die im Wesentlichen beklagen, dass die Rawlssche liberale Theorie unnötigerweise die brauchbaren Beiträge zum Allgemeinwohl, die gerade religiöse Sichtweisen beisteuern können, unterminiert. Unter den Kritikern befand sich Stephen Carter, der in „The Culture of Disbelief“ dafür eintritt, dass religiöse Argumente und

21 Lemon v. Kurtzman, 403 U. S. 602 (1971). 22 John Rawls, A Theory of Justice, Cambridge, MA 1971. 23 Vgl. z. B. Bruce Ackerman, Social Justice in the Liberal State, New Haven, CT 1980; Thomas Nagel, Moral Conflict and Political Legitimacy. In: Philosophy and Public Affairs, 16 (Summer 1987), S. 232; Kent Greenawalt, Religious Convictions and Political Choice, New York 1988.

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eine auf religiösen Überzeugungen basierende Gesetzgebung in einem liberaldemokratischen Rahmen ermuntert werden sollten.24 Die Sicht des Autors ist mit Carter, dass religiöse Argumente im öffentlichen Diskurs generell erlaubt sein sollten. Der gesunde Menschenverstand mag vorgeben, dass bei vielen Gelegenheiten derjenige, der ein religiöses Argument vorträgt, das Argument in säkulare Sprache übersetzt, um es einsichtiger und überzeugender für andere zu machen, aber dies sollte in der Entscheidung desjenigen liegen, der das Argument vorträgt. Trotzdem wird hier mit Rawls angeregt, dass, wenn die öffentliche Debatte zu einem bestimmten Thema abgeschlossen ist und die Gesetzgebung vor der Implementierung steht, die implementierte Gesetzgebung – wie es vom Lemon-Test gefordert wird – im Wesentlichen säkulare Ziele und Wirkungen widerspiegeln sollte. Dies entspricht dem relativen „free for all“, das die amerikanische liberale Demokratie konstituiert. Inhalt dieses Prinzips ist es, dass jeder erdenkliche Standpunkt (gleich ob religiös oder säkular) zunächst in Erwägung gezogen wird. Das gewichtigste Beweismittel ist – wie es am offensichtlichsten durch die bewusste Weglassung von Gottes Namen im Verfassungsdokument angezeigt wird –, dass die Gründerväter intendierten, einen Staat ins Leben zu rufen, der heutzutage im Allgemeinen als ein liberaler Staat bezeichnet werden könnte. Die Entscheidung, mit der traditionellen politischen Theorie zu brechen, die die menschliche Regierung unter der göttlichen Autorität anordnete, war das Ergebnis ihrer Einsicht, dass das Vermögen, eine neue Regierungsform zu entwerfen, sich nicht unmittelbar aus dem Himmel herleiten lässt, sondern dem amerikanischen Volk zukommt. Die Gründerväter schufen eine Regierungsform, die „of the people, by the people, and for the people“ sein sollte. Dies war in keiner Weise eine Absage an ihre (zumeist christlichen) Überzeugungen, aber die neue Zentralregierung sollte eine sein, in der die Menschen die verantwortlichen Parteien bilden, nicht Gott. Das Ergebnis öffentlichen Diskurses sollte Menschengesetz sein, nicht heiliges Gesetz. Dies ist schon immer das Kernstück eines liberalen Staates gewesen. Im modernen Gesetzgebungsprozess können sich Politiker, wie auch schon die Gründerväter, persönlich vor Gott verantwortlich fühlen. Aber, ob sie das tun oder nicht: Sie sind de facto dem Volk verantwortlich. Seitdem die Menschen unterschiedliche Glaubensrichtungen haben, sollte das Produkt der öffentlichen Debatte – die Gesetzgebung – religiös neutral (säkular) sein, um das Gemeinwohl widerzuspiegeln, und nicht ausschließlich das Wohl derjenigen, die in der Debatte die Oberhand behielten. Diese Art von Verpflichtung ist es, die dem „dreigezackten“ Lemon-Test und der amerikanischen Tradition des politischen Diskurses innewohnt. Das amerikanische Festhalten an der Integration von Religion und Politik bedeutet auch, dass potentielle Wahlkandidaten und Beamte frei sind, über ih24 Stephen L. Carter, The Culture of Disbelief: How American Law and Politics Trivialize American Devotion, New York 1994.

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re religiösen Ansichten zu sprechen. Sie mögen es für klug erachten, zeitweilig von zuviel „Gottes-Rede“ Abstand zu halten, aber die Free Exercise Clause gibt ihnen die Freiheit, offen über Glaubensangelegenheiten zu sprechen –selbst für die meisten Fälle, in denen sie in ihrem offiziellen Zusammenhang tätig sind. Es ist unwahrscheinlich, dass ein Präsidentschaftskandidat in Amerika gewählt werden könnte, ohne ein freimütiges Gespräch über seine religiösen Ansichten geführt zu haben. Amerika ist mannigfaltig in seinem religiösen Erscheinungsbild, aber es ist unverkennbar eine der religiösesten Nationen auf dem Erdball. Und das amerikanische Volk verlangt im Allgemeinen danach, die religiösen Einstellungen seines Repräsentanten zu kennen. Die Verfassung untersagt die Durchführung formaler Religionstests für den Eintritt in den öffentlichen Dienst (und die meisten Staaten sind dieser Forderung nachgekommen), doch ist dies zu unterscheiden von der inoffiziellen Erwartung, dass ein Beamter wenigstens einige religiöse Bindungen aufweist. Diese Erwartungshaltung ist das Ergebnis einer religiösen Kultur, eines Zusammenschlusses von Bürgern, die „ein religiöses Volk sind, dessen Institutionen ein übergeordnetes Wesen zur Voraussetzung haben“. Das war die Sichtweise des Supreme Court-Richters William O. Douglas im Jahr 1954,25 aber sie bleibt auch ein halbes Jahrhundert später wahr.

3.

Akkommodation der Zivilreligion

Wenn im amerikanischen System bereits die Establishment Clause die Sanktionierung und Integration von Religion und Politik locker handhabt, dann trifft das gleichermaßen für die Akkomodation verschiedener Ausdrucksformen von Zivilreligion zu. In Übereinstimmung mit Robert N. Bellah – der berühmteste Gelehrte im Bereich amerikanische Zivilreligion – handelt es sich bei Zivilreligion um öffentliche Rituale, die die Anknüpfung der politischen Ordnung an die göttliche Realität zum Ausdruck bringen.26 In den meisten Darstellungen ist Zivilreligion eine Form von Religion, die dem nationalen Zusammenleben einen geheiligten Sinn verleiht. Sie ist eine Art theologisches Bindemittel, das die Nation durch die Verknüpfung des Politischen mit dem Transzendenten zusammenhält. Zivilreligion ist für Amerikaner eine Möglichkeit, die Souveränität Gottes über ihre Nation anzuerkennen, ohne darüber in theologische Meinungsverschiedenheiten zu verfallen. Viele Amerikaner unterstützen die Trennung von Kirche und Staat, aber das beraubt sie nicht ihrer Überzeugung, dass die Nation – als eine zivile Entität – dennoch in irgendeiner Weise Gott verpflichtet ist. Für sie macht nationale Souveränität wenig Sinn, wenn sie nicht in dem Rahmen eines von Gott gelenkten 25 Zorach v. Clauson, 343 U. S. 306 (1952), S. 313. 26 Vgl. Robert N. Bellah, The Broken Covenant: American Civil Religion in Time of Trial, 2. Auflage Chicago, IL 1975, bes. Teil 3.

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Universums verortet ist. Folgerichtig glauben sie, dass der Staatskörper eine religiöse Dimension haben sollte. Anders formuliert: Religion ist nicht ausschließlich Privatsache, sie ist ebenso unausweichlich öffentlich. Bellah räumt dies ein, wenn er argumentiert, die Trennung von Kirche und Staat spreche dem politischen Bereich eine religiöse Dimension nicht ab.27 Die bekanntesten Symbole der amerikanischen Zivilreligion sind: das nationale Motto „In God We Trust“, das auch auf der US-Währung erscheint; die Anrufung von Gottes Namen im Fahneneid, der täglich von Schülern in unzähligen öffentlichen Schulen der gesamten Nation gesprochen wird; die Feier eines nationalen Gebetstages; die Anstellung von staatlich finanzierten Geistlichen im U.S. Congress und in den einzelstaatlichen gesetzgebenden Körperschaften; und die häufige Anspielung auf Gott und Amerikas religiöses Schicksal in politischen Reden – besonders in denjenigen des Präsidenten. (Jeder Präsident hat in seiner Antrittsrede bisher Gott erwähnt.) Diese Ausdrücke von Zivilreligion werden nicht alleinig vom Staat unterstützt oder alleinig durch die religiöse Gemeinschaft. Vielmehr werden sie von beiden gefördert und stehen im Dienst, eine unverkennbar religiöse Qualität in die nationale Zivilordnung einzufügen. Zivilreligion ist eine soziologische Gegebenheit jeder Gesellschaft. Sie manifestiert sich in verschiedenen Kontexten in unterschiedlicher Weise. Der französische Soziologe Emile Durkheim (1858–1917) lag möglicherweise richtig damit zu behaupten, jede Gesellschaft sei in ihren Grundfesten religiös und der Souverän müsse verantwortlich handeln, um dies zu respektieren und anzuerkennen, damit die Gesellschaft sich nicht selbst beeinträchtige und in Vergessenheit gerate.28 Für die meisten Amerikaner passt sich natürlich eine Nation, die Schritte dahingehend unternimmt, die Souveränität Gottes, wenn auch bloß in genereller, symbolischer Weise, anzuerkennen, nicht ausschließlich den Wünschen der Bürgerschaft an, indem sie ein soziologisches Bedürfnis erfüllt, sondern handelt, um die göttliche Realität zu bekräftigen. Auf jeden Fall kann von der Akkommodation der Zivilreligion behauptet werden, dass sie die Nation davon abhält, zu weit in die Richtung einer säkularisierten Kultur abzudriften. Der U.S. Supreme Court erkennt gelegentlich die Beweiskraft von Zivilreligion im amerikanischen Leben an. Legislativ-Gebete,29 legislative und militärische Kaplansämter,30 Weihnachts31 - und Chanukka-Darstellungen32 sowie Abschlussfeier-Gebete in öffentlichen Schulen33 als Formen von Zivilreligion wurden alle als Verletzungen des „Trennungs“-Gebots der Establishment Clause abgelehnt. Das Gericht neigt dazu, diejenigen zivilreligiösen Traditionen zu billigen, die allgemein und langandauernd sind sowie schwerlich Personen in jun27 28 29 30 31 32 33

Bellah, Civil Religion, S. 169 f. Emile Durkheim, The Elementary Forms of the Religious Life, New York 1965. Marsh v. Chambers, 463 U. S. 783 (1983). Abington v. Schempp, 374 U. S. 203 (1963), S. 296 f. Lynch v. Donnelly, 465 U. S. 668 (1984) (Brennan, abweichendes Votum). Allegheny v. Pittsburgh ACLU, 492 U. S. 573 (1989). Lee v. Weisman, 505 U. S. 577 (1992).

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gem Alter beeinflussen können. So hat der Supreme Court im Fall der Legislativ-Gebete entschieden, die Praxis sei verfassungskonform, da sie eine lange und ununterbrochene Tradition im politischen Leben Amerikas habe.34 Im Kontext der öffentlichen Schulen setzt man die Beeinflussbarkeit junger Menschen jedoch voraus. Gleichartige Gebete sind dort als Verletzung der institutionellen Trennung von Kirche und Staat verboten. Dieselbe Regel, wird sie vice versa auf die jeweiligen Kontexte von legislativen Räumlichkeiten und Klassenzimmern angewandt, kann auf das Anbringen der Zehn Gebote35 und anderer heiliger Texte übertragen werden. Legislativ- und Militärkaplansämter sind ebenfalls anerkannt, da sie über eine langjährige Traditionen verfügen, obgleich es zweifelhaft ist, dass Gerichte das Konzept von Geistlichen an öffentlichen Schulen – wegen der Beeinflussbarkeit und des Potentials für Indoktrination der Schüler, denen die Geistlichen dienen würden –, billigen würden. Hinweise auf religiöse Feiertage, wurde entschieden, verletzen nicht die Establishment Clause, wenn ihre religiöse Botschaft durch säkulare Symbole, die sich im unmittelbaren Umfeld befinden, gemildert wird.36 Gebete, die ein Geistlicher anlässlich einer Abschlussfeier an einer öffentlichen Schule anbietet, werden als die Establishment Clause verletzend erachtet, da sie eine unangemessene Unterstützung der Religion durch die Staatsbehörden bedeuten.37 Die einzelstaatlichen Gerichte sind mit ihren Versuchen gescheitert, die Verfassungskonformität solcher Fälle mit öffentlichem Beglaubigungscharakter zu beurteilen. Die Schwierigkeit in der Bewertung derartiger Fälle ist, dass die moderne Religion typischerweise nicht sektiererisch, symbolisch, ohne theologischen Inhalt, kurzum Zivilreligion ist. Die Gerichte sind bisher in ihren Bemühungen, Zivilreligion von traditioneller Religion zu unterscheiden, nicht besonders geistreich gewesen. Gelegentlich hat der Supreme Court ein vages Konzept, „ceremonial deism“, verwendet, um über einige Praktiken der Zivilreligion zu richten.38 Aber in den meisten Fällen, scheint das Gericht völlig in Unkenntnis der großen Menge wissenschaftlicher Literatur zu sein, die in den letzten Jahrzehnten erschienen ist und Analysen bereitstellt, in denen Zivilreligion als charakteristische Form von Religion angesehen wird.39 Der Gerichts34 Marsh v. Chambers, 463 U. S. 783 (1983). 35 Stone v. Graham, 449 U. S. 39 (1980). 36 Lynch v. Donnelly, 465 U. S. 668 (1984). Hiernach ist eine Weihnachtskrippe, bezahlt aus öffentlichen Mitteln, verfassungskonform, wenn sie von Santa Claus, Rentier, Elfen und ähnlichem säkularen Weihnachtsschmuck umgeben wird; County of Allegheny v. A.C.L.U., 109 S.Ct. 1086 (1989): Eine jüdische Menorah, die, aus öffentlichem Vermögen finanziert, aufgestellt wurde, ist verfassungskonform, wenn sie neben einem Weihnachtsbaum und einem Zeichen, das die Freiheit verehrt, platziert wird. 37 Lee v. Weisman, 505 U. S. 577 (1992). 38 Vgl. z. B. Lynch v. Donnelly, 465 U. S. 668 (1984), S. 716 (Brennan, abweichendes Votum); County of Allegheny v. A.C.L.U., 492 U. S. 573 (1989). 39 Wesentliche Beiträge sind: Will Herberg, Protestant, Catholic, Jew: An Essay in American Religious Sociology, durchges. Auflage Garden City, NY: Anchor Books, 1960; Sidney Mead, The Nation with the Soul of a Church, New York 1975; Russell E. Richey/ Donald G. Jones (Hg.), American Civil Religion, New York 1974.

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hof hat „ceremonial deism“ nie definiert. Die Wendung scheint nicht mehr zu sein als ein Behelf für die Rechtsprechung des Gerichts, um zu zeigen, dass eine Praxis verfassungsgemäß sein sollte, weil sie nicht wirklich religiös ist – entweder, da sie ihre kulturelle Bedeutung, die sie einst hatte, verloren hat, oder, da sie einzig dazu benutzt wurde, eine öffentliche Gelegenheit feierlich zu begehen. Die wachsende Aufmerksamkeit, die manche Gerichte dem Konzept der Zivilreligion entgegengebracht haben, hat Gesetzeskommentatoren zu dem Vorschlag veranlasst, Zivilreligion solle in der Rechtsprechung wahrgenommen werden. Zudem solle anerkannt werden, dass Zivilreligion eine vermittelnde Wirkung hat – dass sie also der vielgesuchte Kompromiss ist, um die Debatte zwischen denjenigen, die glauben, eine strenge Befolgung der Trennung von Kirche und Staat sei das beste für Amerika, und denjenigen, die glauben, mehr Religion solle in den öffentlichen Bereich eingebracht werden, in ruhigeres Fahrwasser zu führen.40 Es stimmt, dass die Gerichte damit begonnen haben, die Möglichkeit in Erwägung zu ziehen, einen speziellen Test zu gestalten, der verschiedene Ausdrucksformen von Zivilreligion als verfassungskonform sanktionieren könnte. In einem Fall aus dem Jahr 1987, „Stein gegen Community Schools“,41 beschied ein einzelstaatlicher Berufungsgerichtshof die Verfassungskonformität von Gebeten, die in High-School-Abschlussfeiern integriert sind. Die Beschwerdeführer, Eltern von Schülern zweier High-Schools in Michigan, argumentierten, die Gebete hätten „das Bild eines Gottes oder übergeordneten Wesens hervorgerufen“ und dadurch die im First Amendment verbürgten Werte „Gewissenfreiheit, staatliche Neutralität und Nichteinmischung in religiöse Angelegenheiten“ verletzt.42 Die Teilnahme an den Abschlussfeierlichkeiten war freigestellt, und das Fernbleiben beeinträchtigte das Erlangen eines Zeugnisses nicht. In der einen Schule hielt ein Schüler das Gebet ab, in der anderen ein ortsansässiger Geistlicher. Das Gericht entschied, dass die Religionsklauseln zusammengenommen „gleiche Gewissensfreiheit“ garantieren und „einen neutralen Staat begründen, der dazu angehalten ist, umfassende Gewissensfreiheit zu fördern, die vereinbar ist mit einer ähnlichen oder vergleichbaren Freiheit für die Anderen.“43 Indem er Abschlussfeier-Gebete in Analogie zu Legislativ-Gebeten setzte, befand der Gerichtshof, dass „Marsh gegen Chambers“ (Autorisierung von LegislativGebeten) den Fall bestimmt, worin einige Übereinstimmungen mit den religiösen Traditionen der Nation festgestellt worden waren. Bei der Untersuchung 40 Vgl. den einschlägigsten Artikel, der die Sichtweise vertritt, Zivilreligion sollte dem Anhang der Establishment Clause hinzugefügt werden: Yehudah Mirsky, Civil Religion and the Establishment Clause. In: Yale Law Journal, 95 (1986), S. 1237; vgl. die übereinstimmende Ansicht von Michael M. Maddigan, The Establishment Clause, Civil Religion, and the Public Church. In: California Law Review, 81 (1993), S. 293. 41 822 F.2d 1406 (6th Cir. 1987). 42 Ebd., S. 1408. 43 Ebd.

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der Natur der Abschlussfeier-Gebete versuchte das Gericht, diese in ein umfassendes System von „Zivilreligion“ einzuordnen: „Solange die Anrufung oder Segnung anlässlich dieser öffentlichen Gelegenheit nicht über ‚die amerikanische Zivilreligion’ hinausgeht, solange sie die Substanz des Prinzips der Gleichheit der Freiheit des Gewissens bewahrt, tritt keine Verletzung der Establishment Clause im Sinne der Beweisführung Marsh auf.“44 In der generellen Anerkennung von Abschlussfeier-Gebeten, hebt das Gericht hervor, dass – anders als bei Gebeten in Klassenzimmern – diese eine geringe Gefahr von religiöser Nötigung oder Indoktrination darstellen. Das Gericht befand die Gebete jedoch für inakzeptabel, weil sie so explizit christlich waren, dass sie eine staatliche Unterstützung des Christentums nahegelegt hätten. Folglich blieb es den Gebeten versagt, sich als erlaubte Anrufungen und Segnungen in einer speziellen Kategorie von „amerikanischer Zivilreligion“ zu qualifizieren. Im Jahr 1992, im Fall „Lee gegen Weisman“,45 beriet der U. S. Supreme Court einen vergleichbaren Fall, in dem Abschlussfeier-Gebete eine Rolle spielten. Dort hatte der Schulleiter einer Mittelschule einen jüdischen Rabbi dazu eingeladen, die Anrufung und Segnung während der Schulabschlussfeier zu übernehmen. Der Rabbi rezitierte keine sektiererischen Gebete. Er folgte der Anweisung der Schule, dass Gebete „Zusammengehörigkeit auf einfühlsame Weise“ vermitteln sollten. Der Kläger, der Vater eines 14-jährigen Schülers der Bildungseinrichtung, beschwerte sich, dass die Gebete eine unerlaubte staatliche Förderung von Religion seien, was im Gegensatz zu dem Verbot in der Establishment Clause stünde. Das Gericht legte fest, dass die Gebete die Prägung des Schulsystems von Providence durchbrächen und deswegen ungesetzliche Beförderungen von Religion seien. Der Gerichtshof befand, dass selbst für diejenigen Schüler, die sich gegen die religiöse Zeremonie wehrten, die Anwesenheit in einem „unparteiischen und tatsächlichen Sinn“ obligatorisch gewesen sei, selbst dann, wenn die Anwesenheit nicht als Bedingung für den Erhalt eines Abschlusszeugnisses erforderlich gewesen wäre. Das Gericht folgerte, dies konstituiere einen indirekten Zwang, der ebenso real sein könne wie jeder Ausführungszwang, an dieser staatlich finanzierten religiösen Aktivität teilzunehmen. Die äußeren Gegebenheiten im Abschlussfeier-Fall unterschieden sich von der eines StaatslegislaturFalls, also wie z. B. im Fall Marsh. In letzterem sagte das Gericht, Erwachsenen sei es freigestellt, mit nur geringfügigem Kommentar und nahezu jeder Begründung zu kommen und zu gehen, wohingegen im erstgenannten die Kinder dazu gezwungen seien, das einzigartige, mithin wichtigste Ereignis des Schuljahres in seiner Gesamtheit zu besuchen.

44 Ebd., S. 1409. 45 Lee v. Weisman, 505 U. S. 577 (1992).

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Von besonderem Interesse ist die Aufmerksamkeit, die Richter Anthony Kennedy, der Autor der Urteilsbegründung der Mehrheit, der kurzen Diskussion von Zivilreligion schenkte, die im Fall Stein offengelegt wurde: „Wir sind aufgefordert, die Existenz einer nicht sektiererischen Gebetspraxis zur Kenntnis zu nehmen, im Rahmen dessen, was als jüdisch-christliche Tradition bekannt ist. Ein Gebet, das akzeptabler ist als eines, das z. B. explizit Bezug nimmt auf den Gott Israels oder Jesus Christus oder einen Schutzheiligen. Es mag einige Unterstützung im Sinne einer empirischen Beobachtung für die Stellungnahme des Berufungsgerichts des 6. Gerichtsbezirks geben, das von Richter Campbells abweichender Meinung im hiesigen Berufungsverfahren aufgegriffen wurde, nämlich in dem Sinn, dass sich in diesem Land eine bürgerliche Religion herausgebildet hat, eine, die toleriert ist, wenn keine sektiererischen Einflüsse ausgeübt werden [...] Wenn eine allgemeine Grundlage definiert werden kann, die es einstmals in Widerstreit stehenden Glaubensüberzeugungen erlaubt, die nunmehr geteilten Überzeugungen auszudrücken, dass es eine Ethik und Moralität gibt, die die menschliche Findungsgabe transzendiert, sollte der Gemeinsinn und die Zweckdienlichkeit aller anständigen Gesellschaften es gebieten, diese zu unterstützen. Wenn aber schon das First Amendment es den Staatsbehörden nicht gestattet, Gebete zu stiften, welche diese Ziele erstreben, erlaubt es ebenso wenig dem Staat, diese Zielsetzung für sich zu übernehmen.“46

Kennedys Argument ist hier, dass Zivilreligion, was auch immer ihre Verdienste sind und wie auch immer sie den gesellschaftlichen Konsensus repräsentieren mag, trotzdem Religion ist, und dass, wenn sie durch den Staat verbreitet wird, dies die Establishment Clause verletzt. Während Kennedys Begründung keine ausgedehnte Einführung in die Natur der Zivilreligion war, gibt seine Erkenntnis, dass Zivilreligion eine bestimmte Form von Religion ist, die sich von glaubensbekenntnisgebundenen Religionen abhebt, wenigstens Gerichtsbeobachtern einen Eindruck wie der Gerichtshof möglicherweise zukünftige Versuche entscheiden wird, die einen speziellen Status für die Zivilreligion in Anbetracht der Establishment Clause zu erreichen suchen. Als Zufügung zu Kennedys Behauptung, dass Zivilreligion nur eine andere Form von Religion und daher im Angesicht der Establishment Clause verdächtig sei, gibt es andere aussagekräftige Gründe, Zivilreligion nicht als einen Test, mit dem man die Verfassungskonformität von durch Zeit geadelten religiösen Praktiken messen kann, in einen Schrein einzuschließen. Erstens würde sich eine unmögliche Definitionsarbeit daraus ergeben. Der Zivilreligion einen bevorzugten Status aufgrund der Establishment Clause einzuräumen, würde erfordern, dass ihre Konturen abschließend definiert wären. Als eine Religion ohne formales Reservoir an theologischen Lehrsätzen, ohne Priesterschaft, Geschichte, Mission oder konfessionelle Anhänger würde Zivilreligion nicht den Inhalt besitzen, den sie als das komparative Paradigma haben müsste, um die Angemessenheit von religiösen Symbolen und Praktiken im öffentlichen Leben einzuschätzen.47 46 Ebd., S. 2652. 47 Arlin M. Adams/Charles J. Emmerich, A Nation Dedicated to Religious Liberty: The Constitutional Heritage of the Religion Clauses, Philadelphia, PA 1990, S. 87.

182

Derek Davis

Ein zweites Problem, sofern die amerikanische Zivilreligion zu konstitutionellem Status erhoben werden sollte, ist das Risiko, das sich durch das Emporkommen der Zivilreligion als einer Bedrohung des authentischen religiösen Glaubens auftut. Zivilreligion tendiert dazu, die politische Ordnung zu sakralisieren, und, wie Senator Mark Hatfield einmal sagte, für diejenigen mit herkömmlichen Glauben grenzt sie an Idolatrie und „versäumt es, von Reue, Erlösung und Gottes Richtschnur der Gerechtigkeit zu sprechen“.48 Schließlich gibt die konstitutionelle Verankerung einer Zivilreligion der Regierung ein durch die Gerichte geschaffenes Werkzeug an die Hand, ihre eigene Politik zu rechtfertigen und zu stärken. Als der Standard würde Zivilreligion einen bevorzugten Status genießen, der als Vorwand dienen könnte, traditionelle religiöse Fürsprache von der öffentlichen Arena fernzuhalten.49 Zusammenfassend kann man sagen: Zivilreligion ist für weite Strecken der amerikanischen Geschichte eine treibende kulturelle Kraft gewesen und wird es auch weiterhin bleiben. Sie kommt in unseren Tagen zum Ausdruck in Gebeten beim Amtsantritt der Präsidenten; in der Anrufung, die jedes Mal verwendet wird, wenn der Supreme Court eine Beweisführung hört („God save this honorable court“); in feierlichen Ansprachen zu Thanksgiving und am Nationalen Gebetstag; in den Worten „under God“ im Fahneneid; in der Fügung „In God We Trust“ auf Zahlungsmitteln; in Bibelzitaten, die sich an öffentlichen Gebäuden befinden („Moses the Lawgiver“ lautet der Schriftzug über der Richtbank des Supreme Court) und sogar in der rituellen Segnung „God Bless America“, die häufig von Präsidenten verwendet wird. All diese zivilreligiösen Traditionen verletzen die Trennung von Kirche und Staat im Sinne einer strikten Vorstellung. Dennoch bilden sie eine reichhaltige Tradition von Praktiken, die kulturell und gerichtlich akkommodiert sind. Zweifellos erregen sie bei vielen Anstoß, aber sie sind größtenteils generelle Praktiken, die nicht auf dieselbe Art zwingend sind wie z. B. laut hörbar ausgesprochene Schulgebete in öffentlichen Schulen. Tatsächlich werden diese Praktiken von den meisten Amerikanern angenommen und mitgetragen. Sie fügen sich in ein einzigartiges, nuanciertes und manchmal auch widersprüchliches Gemenge von Konzepten, Prinzipien, Gewohnheiten, Überzeugungen und Symbolen ein, das die amerikanische Tradition von Religion und Staat umschließt.50

48 Mark Hatfield, Between a Rock and a Hard Place, Waco, TX 1976, S. 92. 49 Adams/Emmerich, Nation, S. 87. 50 Diese Position stimmt mit der Doktrin des Supreme Court von der „benevolent neutrality“ überein. Erstmals wurde dies in Walz v. Tax Commission, 397 U. S. 664 (1970) zum Ausdruck gebracht. „Wohlwollende Neutralität“ berücksichtigt angemessen die institutionelle Differenz zwischen Religion und Regierung, die von den Gestaltern intendiert wurde, während sie zugleich einige amtliche Ausdrücke von Religion im öffentlichen Leben erlaubt.

Vielschichtigkeit von Religion und Staat in den USA

4.

183

Schluss

Gleichwohl widersprüchlich in vielerlei Hinsicht, verbinden sich die Prinzipien der Trennung von Kirche und Staat, der Integration von Religion und Politik und der Akkommodation der Zivilreligion, um einzigartige aber wesentliche Beiträge für das amerikanische öffentliche Selbstverständnis bereitzustellen. Die Rolle der Religion im öffentlichen Leben Amerikas ist seit der Gründung der Vereinigten Staaten umstritten und wird voraussichtlich weit in die Zukunft hinein umstritten bleiben. Aber vielleicht nimmt die in diesem Essay beschriebene Trias „Trennung – Integration – Akkommodation“ der Diskussion einige Schärfe, denn sie beinhaltet Elemente sowohl konservativen als auch liberalen Gedankengutes, konkurrierender philosophischer und theologischer Überzeugungen, in der Tat auch Schlüsselargumente, die sowohl von „Separationisten“ als auch von „Akkommodationisten“ vorgebracht werden. Das Endergebnis kann mit einem durchmengten Salat verglichen werden: eine Mixtur von Dingen, die vielleicht nicht so angenehm schmecken, wenn sie für sich alleine genossen werden, die jedoch in ihrer Kombination ziemlich schmackhaft sind. Genau in dieser Art sollte eine Demokratie arbeiten – unterschiedliche Elemente treffen aufeinander, um etwas zu produzieren, was hoffentlich jedermann dient, etwas, das wir übereingekommen sind, Gemeinwohl zu nennen – wahrlich das, auf das wir als „Gute Gesellschaft“ verweisen können.

Kirche und Religiosität in Polen vor und nach der politischen Wende Jerzy Tutaj

Der breit gefächerte Titel dieses Vortrags erlaubt in der gebotenen Kürze der Zeit nur eine knappe Schilderung der wichtigsten Probleme und eine stichwortartige Darstellung der hieraus zu ziehenden Schlussfolgerungen. Nach 1989 wurde das Thema Kirche und Religiosität um ein weites Spektrum an Untersuchungen auf mehreren Ebenen und auch um interessante Hyothesen erweitert.1 Aus diesem Grund versteht sich der Vortrag vorrangig als spezifische Übersicht über die Stellungnahmen und Untersuchungsergebnisse zahlreicher polnischer Forscher, u. a. auch derer des Autors selbst. Die moderne pluralistische Gesellschaft durchlebt gegenwärtig einen Prozess ständiger Transformation, der geprägt ist von ununterbrochenen Änderungen. Diese Entwicklung mit ihrer variablen Dynamik zielt nicht auf ein Ende, sondern vielmehr auf Anpassung und kontinuierliche Lernprozesse. Die Zukunft, wie Janusz Mariański betont, ist keine bloße Fortsetzung der Gegenwart.2 Bei der Entscheidungsfindung stützt sich das moderne Individuum immer seltener auf althergebrachte Traditionen, sondern es gestaltet sein Leben selbstständig. In eine derartige Wirklichkeit sind die Kirche wie auch die gesamte Gesellschaft Polens nach 1989 eingetreten. Die Systemtransformation in Polen, die als beschleunigte Modernisierung gesehen werden kann, geht dabei einher mit folgenden sich überschneidenden Prozessen: Pluralisierung, funktionelle Differenzierung und Individualisierung. Die Transformation ist eine Über1

2

Vgl. Jan Żaryń, Kościól a władza w Polsce, Warszawa 1997; Micha Staszewski / Jerzy Tutaj, Kościół katolicki o konstytyucji, Warszawa 1991; Hanna Konopka, Religia w szkołach Polski Ludowej, Białystok 1997; Tadeusz Wyrwa, Kościół i państwo w pierwszym dziesięcioleciu PRL, Paryż 1987; Andrzej Paczkowski, Aparat bezpieczeństwa w latach 1944–1956, Warszawa 1994; Andrzej Micewski, Kardynał Wyszyński, prymas i mąż stanu, Paris 1982; Henryk Dominiczak, Organy bezpieczeństwa PRL w walce z Kościółem katolickim 1944–1990, Warszawa 2000; Michał Pietrzak, Prawo wyznaniowe, Warszawa 1993; Irena Borowik, Procesy instytucjonalizacji i prywatyzacji religii w powojennej Polsce, Kraków 1997; Janusz Mariański, Religia i Kościół, Kraków 1997; Władysław Piwowarski, Religijność Polaków, Lublin 1999; Elżbieta Firlit, Parafia rzymskokatolicka w Polsce w okresie transformacji, Warszawa 1998; Witold Zdanowicz, Kościół katolicki w Polsce 1945-1982, Poznań 1983. Janusz Mariański, Religia i kościół tradycją i ponowoczesnością, Kraków 1997, S. 61 f.

186

Jerzy Tutaj

gangszeit, in der die durch die totalitäre Vergangenheit belasteten Kirchen vor verschiedenen Herausforderungen und Chancen stehen. Wie Irena Borowik hervorhebt, sind diese Herausforderungen und Chancen häufig widersprüchlich, wie auch mögliche Verluste und Gewinne, die aus dem Verhältnis von Religion und Gesellschaft, Staat und Kirchen stammen, in Widerspruch zu einander stehen.3 Deswegen sind zunächst schwierige Situationen und eine über mehrere Dekaden andauernde „gegenseitige Annäherung“ zu erwarten. Die Beobachtung Westeuropas macht deutlich, dass auch dort, trotz der Einprägung verschiedener Prozesse in Institutionen als auch im gesellschaftlichen Bewusstsein, der Lernprozess fortdauert. Auf Grund der von mir vorgenommenen empirischen Untersuchungen und zur Verfügung stehenden Analysen stelle ich fest, dass der Marxismus die Religiosität in Polen begünstigte und stärkte – jedoch nur deren formelle, z. T. auch als oberflächlich eingestufte Form. Die Zeit der Freiheit dagegen verursacht eine systematische Abnahme an Religiosität – auch dies lediglich im formellen Sinne. Dagegen kann eine Zunahme der individuellen Religiosität festgestellt werden. Die Geschichte des Verhältnisses zwischen der Volksrepublik Polen und der römisch-katholischen Kirche bildet eines der interessantesten und gleichzeitig wesentlichsten Fragmente der politischen Geschichte dieses Teils Europas. Nach den Verträgen von Jalta und Potsdam hat Polen seine Rahmenbedingungen bezüglich der Kirche oder, allgemeiner ausgedrückt, der Religion radikal geändert. Erstens hat sich nach 1945 die Konfessionsstruktur der polnischen Bürger verändert: Der Anteil der Katholiken in Polen ist von 65 Prozent vor 1939 auf über 90 Prozent nach 1945 gestiegen. Wenn man also das Verhältnis von Kirche und Staat im Zeitraum der VR Polen darstellt, ist es schwierig, sie nicht auf das Verhältnis von römisch-katholischer Kirche und Staat zu beziehen. Die nationale und religiöse Vereinheitlichung Polens und die Verschiebung der Grenzen nach Westen bildete und bildet nach Meinung vieler – im Gegensatz zur Aufzwängung des totalitären Systems – eine positive Folge des Zweiten Weltkrieges. Die zweite grundlegende Änderung bestand in der Einstellung des Staates zur Rolle der Religion, die sich von der in der Zwischenkriegszeit vertretenen Auffassung völlig unterschied. Während des gesamten Zeitraums des Bestehens der VR Polen war zu bemerken, dass die atheistische Politik des kommunistischen Staates im Konflikt mit der Gesellschaft der gläubigen Menschen stand.4 Die kommunistische Macht hat die Kirche sehr schnell zum wichtigsten Feind des Aufbauprozesses des sozialistischen Staates, der Prägung der jungen Generation und der Formung eines neuen Denkens erklärt. Infolgedessen entstanden sehr bald nachfolgende Institutionen: das Amt für Glaubensfragen, die Gesellschaft für Laienbildung und die Gesellschaft zur För3 4

Irena Borowik, Religia i polityka w Środkowowschodniej Europie. In: Przegląd Religioznawczy, Jahrbuch 1999, Nr. 2/192, S. 443. Vgl. Antoni Dudek / Ryszard Gryzy, Komuniści i Kościół w Polsce, Kraków 2003, S. 443.

Kirche und Religiosität in Polen

187

derung der Laienkultur. Darüber hinaus wurden im Innenministerium Geheimakten über Priester angelegt (TEOK – Teczka Osobowa Księży). Der sozialistische Staat setzte sich folgende Maßnahmen zum Ziel: Zunächst sollte die Religion als Sicherung mit psychologischer Funktion in die Privatsphäre des Einzelnen verdrängt werden. In der nächsten Etappe war die Ersetzung der Religion durch die marxistisch-leninistische Ideologie vorgesehen. Es ist jedoch festzustellen, dass die römisch-katholische Kirche – abgesehen vom Zeitraum 1945 bis 1955 – ihre Unabhängigkeit vom politischen System, das von der PPR (Polnische Arbeiterpartei) und später von der PZPR (Polnische Vereinigte Arbeiterpartei) dominiert wurde, aufrechtzuerhalten vermochte. Die Nähe zur römisch-katholischen Kirche wird oftmals als das Hauptmerkmal eingestuft, das, neben der Aufrechterhaltung des landwirtschaftlichen Privatbesitzes, die VR Polen von anderen Ländern des sowjetischen Blocks unterschied.5 Die Geschichte des Verhältnisses zwischen der Regierung der VR Polen und der römisch-katholischen Kirche bildet einen wichtigen Ausschnitt aus der politischen Geschichte der VR Polen. Das Aufeinandertreffen der organisatorisch starken und über einen beträchtlichen gesellschaftlichen Rückhalt verfügenden Kirche mit dem sich auf die marxistisch-leninistische Ideologie stützenden Staat musste zum Konflikt führen, dessen Verlauf gleichzeitig zu der Entstehung der demokratischen Opposition und zu den politischen Änderungen in Polen beigetragen hat. Nach dem in Polen seit 1945 geltenden Recht galt die Trennung von Staat und Kirche, die nicht einmal von den Würdenträgern der Partei ausdrücklich festgestellt wurde. Diese Trennung besaß einen einseitigen Charakter. Die Kirche war nicht berechtigt, am Gesellschaftsleben des Staates teilzunehmen, wogegen sich die staatliche Macht während des Bestehens der VR Polen ununterbrochen in die inneren Angelegenheiten der Kirche einmischen konnte. Der kirchliche Anpassungsprozess an die neuen Bedingungen begann, als der Primas Polens, Kardinal August Hlond, im Juli 1945 mit besonderen Vollmachten des Apostolischen Stuhls eintraf. Diese ermöglichten das Treffen von Entscheidungen bezüglich organisatorischer und persönlicher Angelegenheiten in Polen ohne eine vorherige Absprache mit Rom. Dies bestimmte die Position des Primas und stärkte demzufolge auch die Autorität der Kirche. Zudem muss darauf hingewiesen werden, dass die Stellung des Erzbischofs Sapieha wie auch das „Helden-Image“ der Priester während der Hitlerherrschaft und der sowjetischen Okkupationszeit die große Autorität der Kirche in den ersten Nachkriegsjahren förderten. Das bestimmende Element im Verhältnis zwischen Staat und Kirche im Zeitraum des Bestehens der VR Polen war das neue Konfessionsgesetz. Michał Pietrzak bezeichnet das konfessionelle Gesetz als einen Normenkomplex, der durch den Staat veröffentlicht und anerkannt wurde, die Situation des Individuums in Hinblick auf seine Konfession bestimmte, das Verhältnis des Staates 5

Ebd., S. 5.

188

Jerzy Tutaj

zu Konfessionsvereinen regelte und ihre verschiedenen Tätigkeitserscheinungen reglementierte.6 Das konfessionelle Gesetz kann auch als eine Vorschriftensammlung aus dem Bereich der Staatsverwaltung verstanden werden, die sich direkt oder indirekt auf die Konfession bezieht.7 In der VR Polen galt, wie Ewa Waszkiewicz unterstreicht, das Prinzip des Primats von Staat und staatlichem Gesetz über alle vorhandenen gesellschaftlichen Institutionen. Der Staat regelte die Gesamtheit des gesellschaftlichen Lebens seiner Bürger. Ein überaus wichtiger Faktor, der sich auf das konfessionelle Gesetz auswirkte, war die Übernahme der materialistischen Weltanschauung durch die polnische Staatsmacht. Dies sollte einen entscheidenden Einfluss auf die Konflikte der Bürger mit der Religion und dem Glauben haben. Aus diesem Grund trat in Bezug auf die konfessionellen Verhältnisse, die durch das Konfessionsgesetz geregelt waren, eine äußerst starke Politisierung ein.8 Die Ideologie der Partei, welche über ein Machtmonopol verfügte, berief sich nur auf zwei Behauptungen ihres Theoretikers W. I. Lenin, der predigte, dass Religion in Hinblick auf den Staat zwar Privatsache sei, jedoch nicht in Hinblick auf die Partei: „Der Staat sollte mit der Religion nichts zu tun haben, die religiösen Vereine sollen mit der staatlichen Macht nicht verbunden sein.“ Nach Lenin war Religion für die Partei keine reine Privatsache mehr, sondern die Partei sollte gegen die religiöse Weltanschauung kämpfen und auf die Gläubigen einwirken, um sie im Geist des dialektischen Materialismus zu erziehen.9 Der erste Teil der Behauptung Lenins wurde am häufigsten in der Außenpolitik und zu Propagandazwecken ausgenutzt. Der zweite Teil wurde dagegen für die Innenpolitik des Staates instrumentalisiert. Die Errichtung einer neuen Ordnung, die auf dem sowjetischen Muster beruhte, verlangte eine vollständige Änderung des bisherigen Rechts. Insofern ist die Feststellung zu bestätigen, wonach „die polnische Gesetzgebung der ersten Jahre auf die Ausdehnung der Kontrolle über das ganze gesellschaftliche Leben, also auch über das religiöse Leben, zielte.“10 Am 12. September 1945 wurde der Regierungsbeschluss gefasst, der das Konkordat kündigte.11 Einen Tag später, am 13. September 1945, veröffentlichte das Bildungsministerium ein Rundschreiben, das Eltern dazu berechtigte, Erklärungen darüber einzureichen, „dass sie nicht wünschen, dass ihre Kinder am Religionsunterricht teilnehmen, 6

Vgl. Michał Pietrzak, Konfessionelles Gesetz, Warschau 1993, S. 10; ähnliche Definition formulieren Jerzy Godlewski und Krzysztof Jabłoński: dies., Gesetz und Religion, Warschau 1988, S. 77. 7 Vgl. H. Jesse, Vademecum des Klerus und Orden der römisch-katholischen Kirche in Polen im Bereich des Staatsrechtes, Warszawa 1975, S. 147; Henryk Misztal. In: Polnisches Konfessionsgesetz, Lublin 1996, S. 37. 8 Vgl. Ewa Waszkiewicz, Kongregation des mosaischen Bekenntnis in Niederschlesien vor dem Hintergrund der Konfessionspolitik der PRL in den Jahren 1945–1968, Breslau 1999, S. 65. 9 Ebd., S. 69. 10 Andrzej Paczkowski, Ein halbes Jahrhundert der Geschichte Polens, Warschau 1995, S. 150 zit. nach: Ewa Waszkiewicz, Kongregation, S. 72. 11 Vgl. Eleonora Syzdek, Volksstaat und die katholische Kirche, Warschau 1965, S. 30.

Kirche und Religiosität in Polen

189

weil das ihren religiösen Ansichten nicht entspricht.“12 Dasselbe Phänomen kann auch in anderen Staaten beobachtet werden, doch in Polen besaß dieser Eingriff die Dimension der Ersetzung der katholischen durch die marxistischleninistische Erziehung und wurde daher als Kampfansage betrachtet. Das Dekret des Ministerrates vom 25. September 1945 berief Laienstandesämter und setzte die Registrierung der Laienbevölkerung durch. Die Säkularisierung des Eherechtes wurde mit der Übernahme der Standesamtbücher durch den Staat verbunden. Die 1952 angenommene Verfassung gewährleistete zwar die Gewissens- und Konfessionsfreiheit (Art. 70 Abs. 1), in einem anderen Artikel ist jedoch zu lesen: „Der Missbrauch der Gewissens- und Konfessionsfreiheit für Ziele, die die Interessen der VR Polen verletzen, ist strafbar“ (Art. 3). Die Mehrheit der in der Verfassung gebrauchten Formulierungen war sehr allgemein, was der Regierung die Einführung neuer, detaillierter Formulierungen ermöglichte.13 Die Verweltlichung des Staates war keinesfalls gleichbedeutend mit einer weltanschaulichen Neutralität. Die Regierung strebte die Indoktrination der Gesellschaft an und versuchte, den Katholizismus abzuschaffen.14 Da die Mittel, derer sich der Staat im Kampf gegen die Kirche bediente, quantitativen und qualitativen Änderungen unterlagen, änderten sich auch die Reaktionen der Geistlichen. Man muss betonen, dass die Initiative in den wechselseitigen Beziehungen vom Staat ausging. Die Staatsbeamten schätzten mittels eines eigenartigen Klassifizierungssystems ständig die Stimmung unter den Geistlichen ein. Diese Klassifizierung basierte auf periodischen Gesprächen mit Priestern, Agenturmeldungen und der Analyse von Predigtinhalten.15 Beinahe über den gesamten Zeitraum von 1945–1989 wurden die Geistlichen in drei Gruppen eingeteilt: – diejenigen, die dem Staat gegenüber eine feindliche Haltung offen vertraten (10 bis 15 Prozent des Klerus) – diejenigen, die Gleichgültigkeit und Neutralität erkennen ließen (80 bis 85 Prozent) – diejenigen, die sich weitgehend neutral zeigten und in Zukunft gewonnen werden könnten (5 Prozent) „Die Pfarrei ist die erste Frontlinie des Kampfes gegen den Klerus“, so lautete der Titel eines Vortrags, den der Direktor der IV. Abteilung des Innenministeriums, Oberst Stanisław Morawski, während der Ministerberatung im August 1963 hielt. Wie Antoni Dudek und Ryszard Gryz herausarbeiteten, spiegelte dieser Vortrag die Realitäten der Funktionsweise der Grundzelle der Kirchenorganisation sehr gelungen wider.16 Neben den Streitigkeiten, die zwischen der Zentralmacht und vor allem dem Episkopat in über 20 000 polnischen Pfar12 13 14 15 16

Vgl. Ewa Waszkiewicz, Kongregation, S. 73. Ebd., S. 75. Vgl. Antoni Dudek, Der Staat und die Kirche in Polen 1945–1970, Krakau 1995, S. 5. Vgl. ders. / Ryszard Gryz, Komuniści i Kościół, S. 444. Ebd., S. 445.

190

Jerzy Tutaj

reien über 40 Jahre hinweg ausgefochten wurden, kam es auch zu täglichen Kämpfen, während derer die Pfarrer sich mit den örtlichen Behörden stritten. Oft verständigten sich die Vertreter der Macht, vor allem auf dem Lande und in kleineren Städten, mit dem örtlichen Priester. Wie Dudek und Gryz nachweisen, ist dieser Umstand deutlich aus zahlreichen Dokumenten der PVAP zu ersehen, in denen ununterbrochen über „den ungehörigen Kontakt“ geklagt wird, den staatliche Bedienstete und Parteifunktionäre auf Gemeinde- oder Kreisebene mit den Priestern unterhielten. Ein Beispiel dafür sind Begräbnisse, Taufen und Prozessionen, die unter Beteiligung der Vertreter des örtlichen Machtapparats durchgeführt wurden.17 Schwer zu leugnen wäre daher auch jenes Dreieck, das die kommunistische Regierung, Kirche und Gesellschaft bildeten und welches zu keiner Zeit ein gleichschenkliges Dreieck war. Wie die Autoren von „Kommunisten und Kirche“ betonen, änderte sich die Länge der Dreiecksseiten – im Verlauf der Jahre wurden sie mal länger und dann wieder kürzer. Die Entfernung, die die Kirchenhierarchie von der Gesellschaft trennte, war jedoch nie größer als die Entfernung, die zwischen der Gesellschaft und der kommunistischen Regierung bestand.18 Seit der Entstehung der VR Polen beobachtete die Kirche die Schritte der Staatsbehörden mit großer Aufmerksamkeit. Sie verhielt sich nie gleichgültig gegenüber Tätigkeiten, die als eine Verletzung der Rechte des Individuums erschienen oder eine Gefährdung der Identität des Volkes erkennen ließen. Die Kirche trat unnachgiebig und konsequent für die Gesellschaft ein, deren Wurzeln tief in der tausendjährigen katholischen Tradition verankert waren. Sie verfolgte ständig eine moralische Erneuerung, verlangte gesellschaftliche Gerechtigkeit und einen Rechtsstaat. Sie schlug konkrete Programme zur Lösung der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Probleme vor, sowie Projekte, die den Umweltschutz betrafen. Ihre Forderungen äußerte die Kirche in zahlreichen Memoranda und in Schreiben, die sie an die wichtigsten Behörden richtete, in Gesprächen mit Staatsvertretern und in Hirtenbriefen an die Bevölkerung. Die staatlichen Behörden waren von der Akzeptanz dieser Forderungen und Stellungnahmen weit entfernt. Sie waren sich im Gegenteil darüber im Klaren, dass die Kirche, die sich einer großen Unterstützung in der Gesellschaft erfreute, eine Bedrohung für das von ihnen beanspruchte Machtmonopol darstellte. Folglich war es das Hauptziel der Staatspolitik gegenüber dieser Institution, einen Bruch zwischen ihr und der Nation herbeizuführen. Man bemühte sich, die Bereiche zu treffen, in denen die Basis der Kirche entstanden war. Getragen von dieser Absicht, schafften die Behörden den Religionsunterricht an Grundschulen ab, schlossen die von Orden geführten Schulen und Internate und versuchten, die staatliche Überwachung der Priesterseminare auszudehnen. Des Weiteren verweigerten sie die Gefängnisseelsorge, beseitigten „illoyale“ Pfarrer aus deren Pfarreien, verhinderten die Besetzung bestimmter Pfarrstellen, erschwerten dem Klerus den Zutritt zu Sozialversicherungen, enteigneten Kirchenim17 Ebd., S. 445. 18 Vgl. ebd., S. 449.

Kirche und Religiosität in Polen

191

mobilien und verschlechterten die Lebensbedingungen der Kirche durch erhöhte Steuern. In Bezug auf die Herleitung von Religion wurde festgestellt, dass Religiosität von Beginn an mit der menschlichen Natur verbunden war.19 Es ist anzunehmen, dass Religiosität eine Erlebensform des Individuums darstellt, in der das eigene Dasein mit einer bestimmten Transzendenz (Gott, Werte und Religionswahrheiten) verbunden ist. Dies drückt sich in einem konkreten Maß als eine bewusst eingenommene Haltung gegenüber allen Religionselementen aus. Die individuelle Religiosität kann als eine persönliche, subjektive und positive Stellungnahme des Menschen gegenüber der Religion verstanden werden.20 Wie gestaltete sich die so verstandene Religiosität in Polen vor und nach der politischen Wende 1989? Zur Beantwortung dieser Frage sollen im Folgenden Untersuchungsergebnisse vorgestellt werden, die in Polen nach einem angenommenen Parametersystem der Religiosität durchgeführt wurden, das von Charles Y. Glock entwickelt und von Władysław Piwowarski durch nachfolgenden Index erweitert wurde: – Globales Verhältnis zum Glauben (Selbstaussagen über Religionspraxis, Motivation für Religiosität und Wandel von Religiosität) – Religiöses Wissen (Kenntnis der Dogmen und Glaubenswahrheiten, d. h. allgemeines Religionswissen) – Religiöse Ideologie (Glaube an ein übernatürliches Wesen) – Religiöse Erfahrung (emotionale Bezogenheit und Empfinden der Nähe der Gottheit) – Religiöse Praxis (Gebet, Teilnahme an Zeremonien) – Religiöse Gemeinschaft (Gefühl der Zugehörigkeit zur Kirche bzw. zu einer bestimmten Pfarrei) – Religiöse Moral (ethische Beurteilung der Verhaltensnormen) Ernst zu nehmen ist jedoch der Einwand, dass sich das Religionsniveau nur auf die Dekade vor und nach der politischen Wende bezieht, weil die damals verwendeten Parameter gleich waren. Generell kann beobachtet werden, dass sich während des Bestehens der VR Polen wesentlich mehr Polen zur römischkatholischen Kirche bekannten als nach 1989 (der Unterschied beträgt ca. 10–15 Prozent). In der Zeit der VR Polen verzeichnete man einen hohen Index dominicantes und einen verhältnismäßig niedrigen Index communicantes. Es wurde also eine schwache Verbindung zwischen der Teilnahme an der Sonntagsmesse und der Teilnahme an der heiligen Kommunion festgestellt. Im Jahre 1980 betrug der Anteil der Kommunikanten 7,8 Prozent, 1995 dagegen 15,4 Prozent. Dieser Zustand ist mit der niedrigen Zahl der Katholiken verbun19 Vgl. Henri Bergson, Dwa żródła moralności i religii, Kraków 1993; Erich Fromm, Szkice z psychologii religii, Warszawa 1966. 20 Vgl. Władysław Chaim, Psychologiczne korelaty religijności niespójnej, Lublin 1990; Edward Ciupek, Religijnośç młodego Polaka, Warszawa 1984; Władysław Piwowarski, Socjologia religii, Lublin 1996.

192

Jerzy Tutaj

den, aber vor allem mit einer tieferen Teilnahme an der Eucharistie als vor 1989.21 Die Auswertung der Ergebnisse zeigt, dass das Bild der Religiosität besonders nach der Wende keineswegs eindeutig ist. Viele Angaben scheinen zu bestätigen, dass der Katholizismus in Polen eine deklarierte, durch formelle Kategorien bestimmte Weltanschauung ist, die keine Widerspiegelung im Alltagsleben findet und keinen Einfluss auf die Lebensart hat.22 Die Forscher weisen außerdem darauf hin, dass die das ganze Volk betreffende Religiosität insgesamt stabil ist und ein hohes Niveau aufweist. Dagegen sei die Religiosität des Alltags variabel, weniger stabil und bewege sich überdies auf einem erheblich niedrigeren Niveau.23 Tabelle 1: Selbstaussagen zur Religiosität24 Bezeichnen Sie sich als eine sehr gläubige oder nicht-gläubige Person?

1988 %

1995 %

2003 %

sehr gläubig

20

18

16

gläubig

81

79

78

nicht-gläubig

3

4

3

keine Angaben

1

1

1

Tabelle 2: Verhältnis zur konkreten Religion, Konfession25 Mit welcher Religion, Kirche, Konfession fühlen Sie sich verbunden?

1988 %

1995 %

2003 %

katholische

97,0

93,0

89,0

christliche

1,0

2,0

2,5

Zeugen Jehovas

0,5

0,8

1,0

orthodoxe

0,1

0,7

0,4

griechisch-katholische

0,1

0,2

0,1

protestantische

0,2

0,8

1,0

21 Vgl. ders., Religijność miejska w rejonie uprzemysłowionym, Warszawa 1997; Lucjan Adamczuk (Hg.): Religijność Polaków, Warszawa 1993; Witold Zdanowicz, Kościół i religijność Polaków 1945–1999, Warszawa 2000. 22 Vgl. Włodzimierz Pawluczuk, Wiara a życie codzienne, Kraków 1990; Zbigniew Nosowski, Polska teologia polityczna, Więź, 5/1991. 23 Vgl. Mariański, Religia i Kościół. 24 Diese Zusammenstellung beruht auf den Ergebnissen einer Bevölkerungsumfrage in Polen (1996), den Untersuchungen von W. Piwowarski sowie eigenen Erhebungen (1998 und 2003). 25 Quelle: ebd.

193

Kirche und Religiosität in Polen

Tabelle 3: Häufigkeit des Gebetes26 Wie oft beten Sie?

1988 %

1995 %

2003 %

nie

6

5

4

2–3 mal im Jahr

1

2

2

mehrmals im Jahr

6

5

5

2–3 mal im Monat

3

4

5

fast jede Woche

7

8

8

jede Woche

7

8

8

2–3 mal die Woche

11

9

9

einmal pro Tag oder öfter

44

42

43

5

5

5

1988 %

1995 %

2003 %

... ein Leben nach dem Tod?

60

62

65

... den Teufel?

31

32

35

... den Himmel?

64

65

67

... die Hölle?

43

43

44

... Wunder?

43

44

44

schwer zu sagen

Tabelle 4: Akzeptanz religiöser Überzeugungen27 Glauben Sie an ...

Zur Vervollständigung des Bildes hinsichtlich der (individuellen) Religiosität der Polen wird an dieser Stelle zusätzlich auf Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage aus dem Jahr 1997 zurückgegriffen, wonach sich 73 Prozent der Befragten für religiös hielten. 91 Prozent glaubten an die Existenz Gottes und 67 Prozent gaben an, die Nähe Gottes zu fühlen. Nur 3,5 Prozent der Befragten verneinten die Existenz Gottes. Für 58 Prozent der Befragten gibt Gott den Lebenssinn. An ein Leben nach dem Tod glaubten 72 Prozent der Polen. Fast drei Viertel glaubten an den Himmel, aber nur ein Viertel an die Hölle. Der Überzeugung, dass das ewige Heil in jeder Kirche erreicht werden kann, war fast die Hälfte der Befragten. Fast jede zweite Person gab an, einmal pro Woche an der heiligen Messe teilzunehmen. Ein Viertel der Polen unternahm bereits in der Kindheit eine erste Pilgerfahrt, wobei jeder zehnte Befragte auch innerhalb der letzten zehn Jahre als Pilger aktiv war. Fragen zum Betverhalten ergaben, dass 26 Da nicht alle Elemente berücksichtigt wurden, beträgt die Endsumme nicht hundert; Quelle: ebd. 27 Quelle: ebd.

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Jerzy Tutaj

47 Prozent in ihrer Kindheit täglich beteten, als Erwachsene nur noch 6 Prozent. Das Jahr 1989 bildet in der Geschichte der VR Polen eine Wende im Verhältnis zwischen dem Staat und der katholischen Kirche. Zwei bedeutende Ereignisse fanden damals statt: Am 17. Mai 1989 verabschiedete das polnische Parlament ein Gesetz, das der Kirche den Status einer juristischen Person zusprach. Dies bereitete die Grundlage für eine vollständige Normalisierung der Verhältnisse zwischen Staat und Kirche. Zwei Monate später, am 17. Juli, verkündeten Berichte die Erneuerung der diplomatischen Verhältnisse zwischen dem Apostolischen Stuhl und der polnischen Regierung auf der Ebene der päpstlichen Nuntiatur und der Botschaft. Auf diese Weise wurden die Erwartungen der Kirche erfüllt, die seit Anfang 1945 den Gegenstand ständiger Konflikte mit staatlichen Behörden gebildet hatten. Ende 1989 ging somit eine Epoche zu Ende, die durch schwere Vorwürfe und Ansprüche auf beiden Seiten belastet war. Man darf selbstverständlich nicht vergessen, dass die römisch-katholische Kirche über die gesamte Zeit des Bestehens der VR Polen hinweg – insbesondere in den 70er und 80er Jahren – ein Hort der demokratischen Opposition war. Allerdings unterstützte die Kirche Tätigkeiten, die gegen den Staat gerichtet waren, niemals unmittelbar. Ein Beispiel hierfür stellt ihr Verhältnis zur Gewerkschaft „Solidarność“ (Solidarität) dar. In der Zeit der Wende, als die staatlichen Behörden die Macht teilten, spielte die Kirche eine bedeutende Rolle, indem sie häufig wichtige Prozesse initiierte. Der Untergang des Kommunismus bedeutete die Rückkehr Polens zur westlichen Zivilisation. Vom Standpunkt der Kirche aus war, wie Jarosław Gowin betont, die Konfrontation mit den Erscheinungen und Prozessen der Modernität der wichtigste Aspekt dieser Rückkehr. Freie Marktwirtschaft, Demokratie und anthropozentrischer Rationalismus – die Pfeiler der Modernität – werden nicht nur von den Katholiken als eine gefährliche Bedrohung für die Religion angesehen. So formulierte auch Max Weber die These, dass die Religion infolge des Sieges der Modernität durch den Rationalismus verdrängt werde. Die Behauptung, die Kirche sei der modernen Ordnung von Anfang an mit Misstrauen begegnet und habe deren Ersetzung durch Konfessionsstaaten angestrebt, stimmt nicht mit der Realität überein. Die Durchsetzung der Demokratie wurde von Kirchenleuten mit Begeisterung aufgenommen, und fundamentalistische Tendenzen, die zweifelsohne fortwährend im polnischen Katholizismus vorhanden waren, vermochten niemals, ihren Einfluss über eine kleine Minderheit hinaus auszuweiten. Von Anfang an konnte man dagegen ein fehlendes Verständnis für die Mechanismen des demokratischen Rechtsstaates und eine fehlende Beachtung der öffentlichen Meinung feststellen. In den Zeiten, in denen der Glaube der Gegenstand der individuellen Wahl ist, wächst die Bedeutung der meinungsbildenden Kreise. Einer der größten Verluste für die polnische Kirche stellt die Unterbrechung des Dialogs mit der liberalen Laienintelligenz in der letzten Dekade dar. Diese sollten von den Katholiken – so Erzbischof Józef Życiński – als „Wanderer auf dem gemeinsamen Pfad“ behan-

Kirche und Religiosität in Polen

195

delt werden. Schließlich darf die Kirche nicht jede Kritik als eine gegen sie gerichtete feindliche Handlung betrachten, die im Zusammenhang damit zur Entschuldigung der eigenen Schwächen genutzt wird. Zu erneuten Spannungen zwischen Kirche und Staat bzw. zwischen Staat und Demokratie führt heute der für Kirchenleute charakteristische Mangel an Verständnis dafür, was Demokratie bedeutet. Außerdem sorgen Meinungsverschiedenheiten darüber, wo die Grenzen des Staates liegen und worauf das Verhältnis zwischen Recht und ethischen Normen beruht, für Konflikte. Gleichermaßen charakteristisch ist für einen großen Teil der Laienintelligenz ein Mangel an Wissen darüber, über welche öffentlichen Pflichten die Kirche verfügt und worauf deren prophetische Mission gegenüber dem Staat beruht. Diese Spannung muss jedoch nicht destruktiv sein, schwächend auf die Demokratie wirken oder zur Integritätsprobe für die Kirche werden. Die Suche nach Möglichkeiten für die schöpferische Ausnutzung dieser Spannung scheint eine gemeinsame Aufgabe der Bürger zu sein, die sich unabhängig von weltanschaulichen Unterschieden gestaltet. Wenngleich das Beschreiten des neuen Weges bereits 15 Jahre zurückliegt, stehen wir trotzdem noch an dessen Anfang. Eine Bilanzierung der ersten Freiheitsdekade kann nur unter Schwierigkeiten angestellt werden. Für die Kirche war es eine Epoche euphorischer Hoffnungen und schmerzhafter Enttäuschungen, eine Epoche großer Vorhaben und anstrengender Mühen, eine Epoche der Irrtümer, der Suche und des mühsamen Erlernens der schwierigen Kunst der Freiheit. Die polnische Kirche kann trotz ihres Volkscharakters zur Kirche des inneren Dialogs und eines vorausschauenden Pluralismus werden. Die Geschichte der Freiheit in Polen hat gerade erst begonnen. Trotz der Ängste hat sich die Freiheit nicht als Feind der Religion erwiesen, und die Religion hat die Freiheit nicht bedroht. Im Gegenteil, ich wage zu behaupten, dass trotz aller Krisen und Konflikte die Freiheit und die Kirche langsam lernen, zu Verbündeten zu werden, obwohl sie ohne Zweifel erst am Anfang stehen.

Das Religionsrecht zwischen der Sicherung freiheitlicher Vielfalt und der Abwehr fundamentalistischer Bedrohungen Hans Michael Heinig

1.

Religiöse Pluralität und religionsverfassungsrechtlicher Pluralismus

1.1

Religiöse Vielfalt als Realdatum in Deutschland

Die durch die Reformation entstandene religiöse Vielfalt führte bekanntlich überhaupt erst zur Geburtsstunde des neuzeitlichen Religionsrechts in Deutschland. Im Gefolge der konfessionellen Bürgerkriege etablierte der Westfälische Friede mannigfache Rechtsinstrumente zur Aufarbeitung der staatsrechtlichen Folgeprobleme, die die religiöse Spaltung Deutschlands mit sich brachte.1 Reale religiöse Pluralität ist in Deutschland insoweit keine neue Erscheinung, und manche religionsrechtliche Lektion aus damaliger Zeit hat nichts an Bedeutung und Aktualität verloren. Man könnte deshalb sagen, dass religiöse Vielfalt und das Religionsrecht seit jeher funktional aufeinander verwiesen sind. Inzwischen aber wird religiöse Pluralisierung in neuer Qualität wahrgenommen. Hierzu trägt maßgeblich bei, dass die numerisch signifikante Vielfalt religiöser Erscheinungen nicht mehr auf einen im weitesten Sinne gefassten binnenchristlichen Bereich begrenzt ist. Religiöse Pluralität hat sich durch Migrationsbewegungen, Religionsimport aus Fernost und neue Religionsdesigns auf ein breites Spektrum religiöser Überzeugungen und Aktivitäten ausgeweitet. Auch hat die religionsfeindliche Politik der DDR massiv traditionelle religiöse Bindungen zerstört und die Menschen in eine Art religiöse Unbehaustheit geführt, ohne dass man von einem Verschwinden der Religion sprechen könnte. Treffender scheint vielmehr die Rede vom Strukturwandel der Religion in der Spätmoderne.2

1

2

Vgl. Martin Heckel, Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht (ZevKR), 12 (1966/67), S. 1 ff.; Christoph Link, Staat und Kirchen von der Reformation bis zur Gegenwart (1978). In: ders., Staat und Kirche in der neueren deutschen Geschichte, Frankfurt a. M. 2000, S. 49 ff. Volkhard Krech, Religionssoziologie, Bielefeld 1999, S. 61 ff.

198 1.2

Hans Michael Heinig

Die Pluralismuskonzeption des Grundgesetzes

Mit dieser realen Pluralität korreliert ein normativer Pluralismus im Verfassungsrecht.3 Der freiheitliche Verfassungsstaat westlicher Prägung stützt sich in seinen theoretischen Begründungsdiskursen auf die bewusst schwache Figur gegenseitiger Anerkennung als Freie und Gleiche, die ohne weitere religiös-weltanschauliche Prämissen auskommt. Das Verfassungsrecht verwehrt staatlichen Akteuren den Rekurs auf die Wahrheitssemantik4 in den großen Menschheitsfragen und sichert so die Freiheit der Menschen in ihrer realen kulturellen und religiös-weltanschaulichen Vielfältigkeit.5 Dieser normative religiös-weltanschauliche Pluralismus spiegelt sich in Deutschland u. a. im verfassungsdogmatischen Begriff des religiös-weltanschaulich neutralen Staates wider.6 Aber auch die Verfassungsgarantien für Ehe und Familie sowie die Meinungs-, Presse-, Kunst- und Wissenschaftsfreiheit sind Fundamente einer Lesart des Grundgesetzes, die die Gewährleistung einer formalen, offenen Freiheit der Bürger betont und der der Vorbehalt eines inhaltlich „richtigen“ Gebrauchs von Freiheit fremd ist.7 Die verfassungsrechtlichen Gewährleistungen gleicher Freiheit aller Bürger sind – in der Terminologie liberaler politischer Philosophie – unabhängig von deren jeweiligen „Konzepten des Guten“;8 sie statuieren für den Kontext des 3 4 5 6

7 8

Vgl. zum folgenden Abschnitt Heinig, Öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaften, Berlin 2003, S. 34 ff. Vgl. auch Peter Häberle, Wahrheitsprobleme im Verfassungsstaat, Baden-Baden 1995. Häberle, Verfassungsinterpretation als öffentlicher Prozess (1978). In: ders., Verfassung als öffentlicher Prozess, 3. Auflage Berlin 1998, S. 121, insb. 137 ff. m.w.N. Vgl. etwa Klaus Schlaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Problem, Tübingen 1972; Stefan Huster, Die religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates. In: Winfried Brugger/ders., Der Streit um das Kreuz in der Schule, Baden-Baden 1998, S. 69 ff.; Brugger, Zum Verhältnis von Neutralitätsliberalismus und liberalem Kommunitarismus. In: ebd., S. 109 ff.; Martin Morlok. In: Horst Dreier (Hg.), GG, 1. Auflage, Art. 140 Rdnr. 33; Huster, Die ethische Neutralität des Staates, Tübingen 2002 m. w. N. Grundlegend Wolfram Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, Berlin 1987; speziell zum Staatskirchenrecht insoweit ebenso Stefan Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung, Berlin 1997, S. 122. Nach J. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit (1971), 7. Auflage Frankfurt a. M. 1993, S. 486 ff.; ders., Der Vorrang des Rechten und die Ideen des Guten. In: ders., Die Idee des politischen Liberalismus, Frankfurt a. M. 1994, S. 364 ff.; ders., Politischer Liberalismus, Frankfurt a. M. 1998, S. 266 ff. Die realen Generierungs- und Regenerierungskontexte einer solchen politischen Philosophie sind durchaus voraussetzungsvoll und speisen sich auch aus bestimmten Vorstellungen des guten Lebens, worauf kommunitaristische Theoretiker immer wieder aufmerksam machen; dies heißt jedoch nicht, dass sich das normativ gefasste Vorrangverhältnis in Frage gestellt sieht; vgl. insg. zu dieser Spannung etwa Charles Taylor, Aneinander vorbei: Die Debatte zwischen Liberalen und Kommunitaristen. In: Axel Honneth (Hg.), Kommunitarismus, 2. Auflage Frankfurt a. M. 1994, S. 103 ff.; zuletzt ders., Wieviel Gemeinschaft braucht die Demokratie? Frankfurt a. M. 2002; vgl. ferner zu dieser Debatte m.w.N. die Beiträge in dem von Honneth hg. Band, ferner Micha Brumlik/Hauke Brunkhorst (Hg.), Gemeinschaft und Gerechtigkeit, Frankfurt a. M. 1993; Bert van den Brink/Willem van Reijen (Hg.), Bürgergesellschaft, Recht und Demokratie, Frankfurt a. M. 1995; Joachim von Soosten,

Das Religionsrecht

199

Verfassungsrechts den „Vorrang der Demokratie vor der Philosophie“.9 Zur Klarstellung sollte betont werden, dass die Pluralismuskonzeption des Grundgesetzes sich von einem so genannten Laissez-faire-Pluralismus absetzt.10 Dies gilt auch für das Religionsverfassungsrecht. Es herrscht kein „anything goes“. Vielmehr ruht das Grundgesetz, wie die Möglichkeit des Parteien- und Verbändeverbots (Art. 9 Abs. 3 und Art. 21 Abs. 2 GG), die Möglichkeit der Verwirkung von Grundrechten (Art. 18 GG), überhaupt der verfassungsrechtliche Topos der freiheitlich-demokratischen Grundordnung veranschaulichen,11 auf einem reziproken Pluralismus der gleichen Berechtigung. Dieser setzt die Anerkennung der Erfassung des Anderen von selbst in Anspruch genommenen pluralitätssichernden Rechten für diese Inanspruchnahme voraus, kommt darüber hinaus aber religiös-weltanschaulich ohne weitere Konditionen aus.12 Der dem Pluralismus inhärente Relativismus wird so verfassungsrechtlich immunisiert gegen Prozesse der Selbstrelativierung, ohne dass die religiös-weltanschauliche Blindheit des Staates und der staatlich gewährten Freiheits-, Gleichheitsund Teilhaberechte dadurch in Frage gestellt würden.13

1.3

Zwischen Kulturvorbehalt und Laizismus: offen-plurale Neutralität in rebus religionis

Diese Pluralismuskonzeption hat Konsequenzen für die Stellung der Religion im verfassungsrechtlichen Gefüge. Wenn der Idee der Verfassung im materiellen Sinne die Verbürgung gleicher Freiheits- und Teilhaberechte inhärent ist,14 führt dies zu einem verfassungstheoretischen Regelvorrang für eine Konzeption offen-pluraler Neutralität des Staates in Religionsdingen. Zeitschrift für evangelische Ethik (ZEE), 36 (1992), S. 61 ff.; aus verfassungstheoretischer Perspektive zum Gesamtkomplex auch Brugger, Archiv des öffentlichen Rechts (AöR), 123 (1998), S. 337 ff. einerseits, Ulrich R. Haltern, Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft (KritV), (2000), S. 153 ff. andererseits. 9 Richard Rorty, Der Vorrang der Demokratie vor der Philosophie. In: ders., Solidarität oder Objektivität, Stuttgart 1988, S. 82 ff.; ferner ders., Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt a. M. 1992, S. 96 und öfter. 10 Zur Problematik Brugger, Liberalismus, Pluralismus, Kommunitarismus, Baden-Baden 1999, S. 197 ff. 11 BVerfGE 2, 1 ff., 39, 334 ff.; Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Heidelberg 1995, S. 296 ff. m.w.N.; zuletzt Markus Thiel (Hg.), Wehrhafte Demokratie, Tübingen 2003; Hans-Jürgen Papier/Wolfgang Durner, AöR, 128 (2003), S. 340 ff. 12 Vgl. auch Görg Haverkates Ansatz einer Verfassung als Gegenseitigkeitsordnung, Haverkate, Verfassungslehre, München1992, speziell zum Religionsrecht S. 195 ff. 13 Dies stellt keine Paradoxie im engen Sinne dar, wie man am Beispiel einer sprachphilosophischen Analyse des Art. 79 III GG sehen kann, vgl. Klaus F. Röhl, Allgemeine Rechtslehre, Köln u. a. 1994, S. 100 ff.; gekürzt nun 2. Auflage 2001, S. 90 ff. 14 Ganz im Sinne der kantischen Einordnung gleicher Freiheit als einzigem „angeborenen“ Recht, vgl. Immanuel Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre (1870), hg. von Bernd Ludwig, Hamburg 1986, S. 47.

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Hans Michael Heinig

Gerade die Unbedingtheit der verfassungsrechtlich garantierten Rechte gegenüber der Frage ihres religiös-weltanschaulich „richtigen“ Gebrauchs stellt sicher, dass die Verfassung selbst und die Entscheidungen, die im Rahmen der durch das Grundgesetz festgeschriebenen Verfahren getroffenen wurden, akzeptiert und legitimiert sind. Ohne das Postulat religiöser Farbenblindheit würde das Religionsverfassungsrecht wesentliche Funktionen heutiger Verfassungsstaatlichkeit, insbesondere die rechtliche, politische und kulturelle Integration der Bürgerinnen und Bürger, unterlaufen. Die verfassungsrechtlich sanktionierte Präponderanz einer bestimmten Religion, etwa in Form einer Staatskirche oder eines christlichen Kulturvorbehalts der Verfassung,15 ebenso aber eine verfassungsrechtlich festgeschriebene islamische Vorherrschaft, exkludiert die der Minderheitenreligionen angehörigen Bevölkerungsgruppen. Damit wären die an die Verfassung geknüpften (rechtlichen, politischen und kulturellen) Integrationseffekte in Frage gestellt.16 Auch die verfassungsrechtliche Gewährleistung gleicher bürgerlicher Freiheit und der mit der Religionsfreiheit verfassungsrechtlich intendierte Schutz personaler Identität als selbstbestimmten Prozess kultureller Selbst- und Weltdeutung streiten gegen die verfassungsrechtliche Bevorzugung einer bestimmten Religion. Deshalb kann zwar die kulturelle Bedingtheit des Grundgesetzes von den hiesigen geistesgeschichtlichen Traditionsbeständen, unter denen das christliche Weltbild einen vornehmen Platz einnimmt, nicht ernsthaft bestritten werden. Doch geht damit keine normative Radizierung des deutschen Staatskirchenrechts in der „abendländisch-christlichen Kontextualität“17 einher. Eine besondere normative Präferenz des Grundgesetzes für das Christentum kann nicht angenommen werden. Ein solches Postulat unterschätzte die im Grundgesetz normativ festgeschriebene wie funktional erforderliche Offenheit der verfassten Gesellschaft.18 Offen-plurale Neutralität führt zugleich aber zu Skepsis gegenüber Forderungen, Religion aus dem staatlichen Bereich des öffentlichen Lebens zu verdrängen. Denn eine radikal laizistische Religionsverfassungstheorie muss sich

15 In durchaus unterschiedlicher Provenienz bei Alfred Albrecht, Kirche & Recht (KuR), (1995), S. 25 ff. = 210, 1 ff.; Christian Hillgruber, Juristenzeitung (JZ), (1999), S. 538, hier: 547; Josef Isensee, Essener Gespräche, 19 (1985), S. 143 f.; Walter Hamel, Glaubens- und Gewissensfreiheit. In: Karl August. Bettermann u. a. (Hg.), Die Grundrechte IV/1, Berlin 1960, S. 37, hier: 77 ff.; Wolfgang Loschelder, Essener Gespräche, 20 (1986), S. 149, hier: 155 f.; Ethel Behrendt, Gott im Grundgesetz, München 1980, S. 94 ff., 278 ff. 16 Skeptisch gegenüber verfassungsrechtlich fassbaren Integrationsidealen Haltern, Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, 45 (1997), S. 31 ff. 17 Alexander Hollerbach, Religion und Kirche im freiheitlichen Verfassungsstaat, Berlin 1998, S. 9. 18 S. grundlegend Häberle, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten (1975/ 1978). In: ders., Verfassung, S. 155 ff. m.w.N.; auch Morlok, Verfassungstheorie, S. 105 ff.; ders., Selbstverständnis als Rechtskriterium, Tübingen 1993, S. 301 ff.; Höfling, Grundrechtsinterpretation, S. 77 ff.

Das Religionsrecht

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ihrerseits auf ihre exkludierenden Effekte und ihre Pluralismuskompatibilität befragen lassen.19 Der Staat ist in den Worten des Bundesverfassungsgerichts aus Gründen der Parität und der religiös-weltanschaulichen Neutralität „Heimstatt aller Bürger“.20 Dies kann er grundsätzlich nur sein, wenn Religion und Religionsgesellschaften nicht aus dem staatlich verfassten Bereich des öffentlichen Lebens verdrängt werden, liefe eine solche Exklusion doch auf die Bevorzugung einer areligiösen oder religionsindifferenten Weltanschauung hinaus. Der neutrale Staat hat deshalb in der Regel offen zu sein für die Religionen der Bürger, ohne dabei selbst religiös zu werden. Ausnahmen von dieser Regel mögen unter besonderen Bedingungen, etwa dem unversöhnlichen Aufeinanderprallen gegensätzlicher Religionskulturen, geboten sein; die Begründunglast liegt jedenfalls bei den Befürwortern einer Eliminierung der Religion aus dem „espace public“. Insoweit scheint das grundgesetzliche System der auf dem Status von religiöser Freiheit und Gleichheit fußenden pluralistischen und offenen Zugewandtheit von Staat und organisierter Religion durchaus die kohärenteste Form der Trennung beider Sphären zu begründen und die rechtliche wie kulturelle Integration aller Bevölkerungsgruppen unabhängig von ihrer religiösweltanschaulichen Orientierung bestmöglich zu garantieren.

2.

Religion als Ambivalenzphänomen

2.1

Das Böckenförde-Diktum als Hintergrundannahme des klassischen Staatskirchenrechts in Deutschland

Religiöser Pluralismus bedeutet mehr als die bloß numerische Zunahme religiöser Gruppierungen, mehr als eine folkloristisch anmutende Vielfalt des „Mulitkulti“ – denn auch die gesellschaftlichen Folgewirkungen von Religion verändern sich und damit die kulturellen Sedimentierungen des Religionsrechts. Das Staatskirchenrecht als wissenschaftliche Disziplin und Rechtspraxis ruhte in der alten Bundesrepublik wesentlich auf der unhinterfragten Hintergrundannahme, Religion sei in besonderer Weise integrationsmächtig. Als Beleg für die Prominenz dieser These mag die Karriere eines inzwischen kanonisierten Diktums Ernst-Wolfgang Böckenfördes dienen: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Und 19 Vgl. etwa Jean-Paul Willaime, Gott in der Grundrechtscharta. In: Christoph Quarch/ Klaus Hänsch/Heinig (Hg.), Protestantismus in Europa, Frankfurt a. M. 2002, S. 19 ff.; ders., in diesem Band. Diese Wirkungen reflektiert auch die Debatte über die laïcité ouverte, hierzu Alois Müller, Laizität und Zivilreligion in Frankreich. In: Rolf Schieder (Hg.), Religionspolitik und Zivilreligion, Baden-Baden 2001, S. 142 ff.; C. Walter, Staatskirchenrecht oder Religionsverfassungsrecht. In: Rainer Grote/Thilo Marauhn (Hg.), Religionsfreiheit zwischen individueller Selbstbestimmung, Minderheitenschutz und Staatskirchenrecht, Berlin / New York 2001, S. 215, 219 ff.; ders., Religionsverfassungsrecht, Habil. Heidelberg 2003. 20 BVerfGE 19, 206 (216).

202

Hans Michael Heinig

etwas später im Text heißt es: „So wäre denn noch einmal – mit Hegel – zu fragen, ob nicht auch der säkularisierte weltliche Staat letztlich aus jenen inneren Antrieben und Bindungskräften leben muss, die der religiöse Glaube seiner Bürger vermittelt.“21 Dieses Bonmot wurde in unzähligen staats(kirchen)rechtlichen Publikationen als Chiffre für die sozialproduktiven Leistungen von Religion herangezogen. Dabei wurde Böckenförde immer wieder auch gegen dessen Intention übersetzt: Aus den im Plural gefassten Voraussetzungen, zu denen die Religion gehört, wird die Religion als die eine Quelle moralischer Homogenität schlechthin, auf die der Staat notwendig verwiesen ist. Und in einem zweiten Schritt wird dann aus Religion die christliche Kirche, ohne deren Wirken kein freiheitlicher Verfassungsstaat existieren könne. Deshalb müsse man ihr möglichst kommode Bedingungen garantieren. So kam man zu einer Interpretation des geltenden Religions(verfassungs)rechts, die nolens volens die Pluralitätsproblematik weitgehend unbearbeitet lässt oder marginalisiert und auch den Christenmenschen theoretisch kaum zu befriedigen vermag.22 Denn in der religiös-weltanschaulich ausdifferenzierten Gesellschaft kann die Frage nach den vorstaatlichen Bedingungen des Staates und nach der Legitimität des geltenden Religionsverfassungsrechts wohl kaum hinreichend und abschließend mit der Betonung der integrativen Funktion von Religion, also mit der Gemeinwohlrelevanz, beantwortet werden.23

2.2

Die sozialkonstruktive und -destruktive Seite der Religion

Der Ansatz verstellt u. a. den Blick auf das desintegrative Konfliktpotenzial der jeweils – aus rechtlicher Perspektive legitimerweise – durch unbedingte Wahrheitsansprüche gekennzeichneten unterschiedlichen Religionen.24 Zugleich unterschätzt er die selbststabilisierenden Integrationseffekte des freiheitlich-

21 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation. In: ders., Recht, Staat, Freiheit, Frankfurt a. M. 1991, S. 92, 112 f.; oder reformuliert: „Damit bestätigt sich die These, dass der heutige Staat als freiheitlicher und säkularer Staat, eben als civil society, von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann“; ders., Stellung und Bedeutung der Religion in einer „Civil Society“ (1989). In: ders., Staat, Nation, Europa, Frankfurt a. M. 1999, S. 256, 267. Die Formulierung überrascht insoweit, als der Staat nach den geläufigen Zivilgesellschaftskonzepten gerade nicht die civil society darstellt. Zum Begriff der Zivilgesellschaft etwa Taylor, Die Beschwörung der Civil Society. In: ders., Wie viel Gemeinschaft, S. 64 ff.; von Soosten, ZEE, 37 (1993), S. 137 ff.; aus rechtlicher Sicht Günter Frankenberg, Die Verfassung der Republik, Frankfurt a. M. 1997 m.w.N. 22 Skeptisch demgegenüber bereits Ernst Gottfried Mahrenholz, Die Kirchen in der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland, 2. Auflage Hannover 1972, pass., insb. S. 42. 23 Stefan Grotefeld, Politische Integration und rechtliche Anerkennung. In: Schweizerisches Jahrbuch für Kirchenrecht, 4 (2000), S. 107 ff., insb. 110 ff. 24 Krech, Religionssoziologie, S. 27.

Das Religionsrecht

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demokratischen Willensbildungsprozesses der sich als frei und gleich Anerkennenden. Religion erweist sich aus religionstheoretischer Perspektive bei näherem Hinsehen immer als soziales Ambivalenzphänomen.25 Einerseits unterstellt man Religion gerade in ihrer organisierten Form mit guten Gründen eine multiple integrative Leistungsfähigkeit und die unmittelbare oder mittelbare Bedienung zahlreicher Gemeinwohlbelange. Man verspricht sich von ihr einen Gewinn an sozialer und moralischer Stabilität. Die Gemeinwohlrelevanz ist insbesondere anerkannt im Bereich der kirchlichen Wohlfahrtspflege. Aber auch weit darüber hinaus wirkt Religion sozialstabilisierend über den Aufbau von Solidarnetzen, über die Bereitstellung von Mustern der Bewältigung von Ungewissheiten menschlichen Lebens (Kontingenz), über die Befriedigung religiöser Bedürfnisse (anthropologischer Faktor), über die Stiftung personaler Identität. Andererseits birgt Religion aber immer auch die Potenz zum Konflikt in sich, die gerade im Ringen um „die letzten Fragen“ zur Verhärtung, zur Verweigerung diskursiver Verflüssigung, zur sozialen und personalen Destruktivität durch „religiösen Eifer“ neigt. Eine Religionsverfassungstheorie kann diese zentrifugalen Kräfte der Religion nicht ignorieren und sich nicht auf die Beschwörung der sozialproduktiven Dimension von Religion beschränken. Zugleich kann aus empirischen wie normativen Gründen nicht per se eine bestimmte positive Religion der einen oder anderen Seite zugeordnet werden. Zwar lässt sich gesellschaftlich – also erst mal nicht staatlich – fragen, welche Art von Religion einer Gesellschaft gut tut. Etwa lässt sich beobachten, dass Theologie, also die in das religiöse kommunikative System eingebaute wissenschaftliche Reflexion von Religion, pazifizierende und rationalisierende Wirkungen für die gesamte religiöse Praxis entfaltet. Es gibt unterschiedliche Formen religiöser Identitätsbildung, die sich mehr oder weniger auf das freiheitliche Ethos der Moderne verrechnen lassen. Doch sind diese Formen in ihrer Varianz in allen Religionen vertreten. Deshalb verbieten sich einfache Lösungen nach dem Motto: „Christentum hui, Islam pfui.“

2.3

Konsequenzen aus dem Ambivalenzcharakter der Religion für das Recht

Der Ambivalenzcharakter der Religion verlangt komplexere Konsequenzen für das Religionsrecht. Einerseits bedarf es weiterhin einer angemessenen verfassungstheoretischen Perspektive auf die sozialproduktiven Potenziale der Religion. Diese könnte in einem Verständnis von Kirchen und Religionsgesellschaf-

25 Diesen Ambivalenzcharakter der Religion betont nun auch Jürgen Habermas, Glaube und Wissen. In: Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2001, S. 37 ff.

204

Hans Michael Heinig

ten als intermediäre Institutionen der Zivilgesellschaft liegen.26 Als solche fungieren sie nicht staatsanalog, sondern als besondere, nämlich religionsbezogene Form eines Zusammenschlusses von Bürgern und nehmen als solche an den Selbstverständigungsprozessen der Gesellschaft – auch im Gegenüber zum Staat – teil. Grundrechtlichen Freiheitsschutz erfährt der religiöse Lebensbereich dann zuvörderst um seiner selbst willen (wie alle anderen Lebensbereiche auch) und allenfalls mittelbar wegen seiner gesellschaftlichen Leistungen, die durch die Freiheitlichkeit stimuliert werden; die besondere staatskirchenrechtliche Förderung (Religionsunterricht, Körperschaftsstatus) steht dann im Lichte einer Grundrechtsförderung und -effektivierung, nicht aber der Privilegierung Altetablierter und Diskriminierung Andersdenkender.27 Andererseits aber hat sich das Religionsrecht in seinem Grundgefüge verstärkt auch als Gefahrenabwehrrecht zu begreifen, als Teil des Ordnungsrechts und nicht nur als traditionelle Säule der Kulturstaatlichkeit. Das Recht muss Instrumente vorhalten, die das destruktive Potenzial der Religion eindämmen können, ohne dass die offen-plurale Neutralität des Staates Schaden nimmt. Gefordert ist insoweit freilich weniger rechtpolitischer Aktivismus als ein veränderter disziplinärer Eigensinn.

3.

Das Grundrecht auf Religionsfreiheit und religiöser Pluralismus

Vor dem Hintergrund der skizzierten Rahmenbedingungen – Strukturwandel und Ambivalenzcharakter der Religion – hat sich das Verfassungsrecht also der Herausforderung zu stellen, die Traditionen des deutschen Staatskirchenrechts fortzuschreiben und zugleich den durch die veränderten empirischen Umstände indizierten Transformationsbedarf zu bedienen. Doch was heißt das konkret? Exemplarisch soll zur Beantwortung dieser Frage im Folgenden das Grundrecht auf Religionsfreiheit, wie es sich nach dem Grundgesetz darstellt, näher beleuchtet werden.28 Hier lassen die zu Beginn der 90er Jahre verstärkt einsetzenden rechtswissenschaftlichen Reaktionen auf die neue religionssoziologische Lage zwei Beobachtungen zu:29 Zum einen besteht die Tendenz, den Schutzbereich des 26 Vgl. Heinig, ZEE, 43 (1999), S. 294, hier: 307, im Anschluss an Wolfgang Huber, Kirche in der Zeitenwende, Gütersloh 1999, S. 267 ff.; als solche werden sie nun besonders herausgestrichen im Weißbuch Europäisches Regieren der Europäischen Kommission, KOM (2001) 428 endg. vom 25. 7. 2001, S. 18. Vgl. auch zur zivilgesellschaftlichen Dimension von Religionsgemeinschaften Rüdiger Noll, Ökumenische Rundschau, 44 (1995), S. 27 ff.; skeptischer Fritz Erich Anhelm, Zeitzeichen (2001), S. 48 ff. 27 Vgl. Heinig, Öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaften, pass. 28 Zu den Folgewirkungen auf das institutionelle Arrangement etwa Walter, Religionsverfassungsrecht, Habil. Heidelberg, 2003; Michael Droege, Staatsleistungen an Religionsgemeinschaften im säkularen Kultur- und Sozialstaat, Berlin 2004; Heinig, Öffentlichrechtliche Religionsgesellschaften. 29 Der folgende Abschnitt folgt weitgehend Heinig/Morlok, JZ, (2003), S. 777 ff. sowie Heinig, Öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaften, S. 117 ff.

Das Religionsrecht

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Grundrechts, also die Umschreibung des freiheitlich geschützten Lebensbereichs – entgegen der Auslegungstradition des Bundesverfassungsgerichts –, sehr eng zu interpretieren. Insbesondere sei, so die neue Interpretationslinie, zwischen den einzelnen im Verfassungstext benannten Erscheinungen der Religionsfreiheit, der Glaubens-, der Bekenntnis- und der Religionsausübungsfreiheit, trennscharf zu unterscheiden.30 Mit dem Begriff des Glaubens sei nur der innere Vorgang der Glaubensbildung verbunden. Bekenntnis sei ganz wörtlich als Artikulation der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Glauben zu verstehen. Religionsausübung sei ausschließlich religiöser Kultus. Religiös motivierte, aber nach außen „neutral“ wirkende Handlungen werden in dieser Perspektive nicht mehr von der Religionsfreiheit geschützt. Zum anderen wird die Einschränkbarkeit des Grundrechts betont und erleichtert.31 Insbesondere solle das Diskriminierungsverbot des Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 Abs. 1 WRV zugleich als Gesetzesvorbehalt fungieren. Ein Gesetzesvorbehalt bedeutet, das Freiheitsrecht pauschal unter den Vorbehalt gesetzlicher Beschränkungen zu stellen. Art. 136 Abs. 1 WRV lautet: „Die bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten werden durch die Ausübung der Religionsfreiheit weder bedingt noch beschränkt.“ Um zu einer gesetzlichen Einschränkbarkeit zu kommen, liest ein Teil der Literatur und in einem Fall auch das Bundesverwaltungsgericht32 die Norm nun wie folgt: Die gesetzlich fixierten staatsbürgerlichen Pflichten werden durch die Ausübung der Religionsfreiheit nicht beschränkt – gelten also ungeachtet der Religionsfreiheit. Gegenüber beiden Ansätzen ist Widerspruch anzumelden. Ungeachtet des Strukturwandels der Religion, ihres Ambivalenzcharakters und gerade wegen ihrer Diversität ist an einem extensiven Verständnis der Religionsfreiheit festzuhalten. Es ist ein Irrtum, zu meinen, ein weites 30 Mehr oder weniger ausgeprägt Muckel, Religiöse Freiheit, S. 125 ff.; ders., In: Karl Heinrich Friauf/Wolfram Höfling, GG, Art. 4 Rn. 3 ff.; Johannes Hellermann, Multikulturalität und Grundrechte. In: Christoph Grabenwarter u. a. (Hg.), Allgemeinheit der Grundrechte und Vielfalt der Gesellschaft, Stuttgart 1994, S. 129, 134 ff.; ders., Die sogenannte negative Seite der Freiheitsrechte, Berlin 1993, S. 138 ff.; Dirk Ehlers, ZevKR, 44 (1999), S. 533 (535 ff.); Josef Isensee/Matthias Jestaedt u. a. (Hg.), Dem Staate, was dem Staate – der Kirche, was der Kirche ist. Festschrift Joseph Listl, Berlin 1999, S. 259 ff.; Norbert Janz/Sonja Rademacher, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht (NVwZ), (1999), S. 706, 708 ff.; Ute Mager. In: Ingo von Münch/Philip Kunig, GG, Band 1, 5. Auflage München 2000, Art. 4 Rn. 33, 55; Joachim Bohnert u. a. (Hg.), Verfassung – Philosophie – Kirche. Festschrift Alexander Hollerbach, Berlin 2001, S. 150, 155 ff.; Huster, Die ethische Neutralität, S. 376 ff.; Karl-Hermann Kästner, JZ, (1998), S. 974 ff. jeweils m.w.N. 31 So Christian Starck. In: Hermann von Mangoldt/Friedrich Klein/Christian Starck, GG, 4. Auflage München 1999, Art. 4 Rn. 46 ff.; Hans D. Jarass/Bodo Pieroth, GG, Art. 4 Rn. 31; Reinhold Zippelius. In: BK, Art. 4 Rn. 89; Wolfgang Bock, AöR, 123 (1998), S. 444, 462 ff.; Kästner, JZ, (1998), S. 974, 982; Hermann Weber, ZevKR, 45 (2000), S. 109, 120 f.; Heckel, Festschrift 50 Jahre BVerfG, Band 2, 2001, S. 374, 408; Bohnert u. a. (Hg.), Festschrift Hollerbach, S. 150, 165 ff.; Michael Sachs, Grundrechte, München 2000, Band 4, Rn. 22; Muckel. In: Friauf/Höfling, GG, Art. 4 Rn. 47 f.; Mager. In: von Münch /Kunig, GG, Band 1, Art. 4 Rn. 48. 32 BVerwGE 112, 227 ff.

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Verständnis der Religionsfreiheit könne man sich nur unter den Bedingungen religiöser Homogenität leisten.33 Vielmehr erweist sich die Valabilität des Grundrechts erst, wenn es unter den Bedingungen religiöser Vielfalt den religiös-weltanschaulichen Dissens in seiner Berechtigung lebenspraktisch zu schützen gilt.

3.1

Schutzbereichsprägung durch Selbstverständnis

Vor dem Hintergrund der skizzierten offen-pluralen Neutralität des Religionsverfassungsrechts ist eine Interpretation der Religionsfreiheit geboten, die sich größtmöglich „impliziter“ religiöser Aufladungen enthält, also eine „säkulare“ Bestimmung des Normgehaltes. Doch gerade diese gestaltet sich ausgesprochen schwierig. Wie soll etwa religiös „neutral“ bestimmt werden, ob Scientology bloß eine Science-fiction-Erzählung vermarktet oder eine religiöse Lehre vertritt? Der jeweilige religiöse Hintergrund des Norminterpreten spielt für die Beantwortung solcher Fragen notwendig eine bedeutende Rolle. Gestalt, Inhalte und damit auch die gegenständliche Erstreckung von Religion können deshalb aus rechtlicher Sicht nicht strikt objektiv bestimmt werden. Nur aus dem Sinnhorizont des Gläubigen kann der Inhalt des Glaubens angemessen begriffen werden. Nur wenn das Grundrecht inhaltlich von seinem Berechtigten her definiert wird, genießt dieser nicht nur irgendwelche, sondern „belangvolle Freiheit“. Die Prägung durch das Selbstverständnis des Grundrechtsträgers ist dem sachlichen Gehalt der Religionsfreiheit somit inhärent.34 Versuche, Religion „objektiv“ zu bestimmen, stehen wegen der notwendigen Bekenntnisprägung jeder Spielart eines Religionsbegriffs in einem gewissen Widerspruch zum intendierten Freiheitsraum wie auch zur religiös-weltanschaulichen Neutralität. Auch überindividuelle Autoritäten wie das Lehramt einer Religionsgesellschaft können hinsichtlich der Religionsfreiheit des einzelnen (anders als bei korporativen Gewährleistungen) nicht maßgeblich sein. Dabei ist selbstredend dem Missbrauch der Religionsfreiheit vorzubauen. Dies erfolgt

33 So aber etwa Wolfgang Hoffmann-Riem, Enge oder weite Gewährleistungsgehalte der Grundrechte? In: Michael Bäuerle u. a. (Hg.), Haben wir wirklich Recht? Baden-Baden 2004, S. 53, 63. 34 Morlok, Selbstverständnis, S. 78 ff. und S. 393 ff., Heinig, Öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaften, S. 52 ff.; für religiöse Organisationen BVerfGE 24, 236 (247 f.), st. Rspr.; vgl. auch. Axel Isak, Das Selbstverständnis der Kirchen und Religionsgemeinschaften und seine Bedeutung für die Auslegung staatlichen Rechts, Berlin 1994, S. 124, 259 ff.; zur Thematik ferner Muckel, Religiöse Freiheit, S. 9 ff. und pass.; Kästner, AöR, 123 (1998), S. 408, 409 ff.; Bernd Jeand’Heur/Stefan Korioth, Grundzüge des Staatskirchenrechts, Stuttgart 2000, S. 75 ff.; Martin Borowski, Der Grundrechtsschutz des religiösen Selbstverständnisses. In: Andreas Haratsch u. a. (Hg.), Religion und Weltanschauung des säkularen Staates, Stuttgart u. a. 2001, S. 49 ff.; Für die Gegenmeinung einer objektivierenden Betrachtung Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte? Heidelberg 1980, bes. S. 29 ff.

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zunächst durch die Anforderung an den Grundrechtsträger, sein religiöses Selbstverständnis zu plausibilisieren. Hierbei bieten äußerliche Merkmale einen Indikator, insbesondere eine gewisse Umfänglichkeit des Sinnsystems und der Umstand, dass das Sinnsystem von mehreren geteilt wird, dass es zu einer Kommunikation über diese Sinngehalte und zu gemeinsamen Praktiken (Ritualen) unter diesen Vorstellungen kommt. Nicht jede Selbstberühmung als Religion oder Weltanschauung muss vom Recht akzeptiert werden. Zugleich hat es sich aber einer objektiven Definition der religionsschützenden Tatbestandsmerkmale zu enthalten. Weiterhin ist ungeachtet der Selbstverständnisprägung des Gewährleistungsbereichs von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG der Schutz der Rechtspositionen Dritter sicherzustellen. Diese notwendige Verteidigung anderer Rechtspositionen erfolgt angemessen über die so genannte Schrankenziehung. Was meint das? Kein Grundrecht gilt unbegrenzt – es findet seine Grenzen jedenfalls in den Grundrechten Dritter und in sonstigen höherrangigen Verfassungsgütern. Dies ist die logische Konsequenz aus dem kantischen Pathos gleicher Freiheit. Entsprechend sieht die Grundrechtsdogmatik eine dreistufige Prüfung vor, wenn es um die Frage geht, ob ein Grundrecht verletzt wurde: Ist der Schutzbereich eines Grundrechts überhaupt berührt? Wurde in den Schutzbereich durch den Staat eingegriffen? Ist ein solcher Eingriff verfassungsrechtlich gerechtfertigt? Der Schutzbereich ist dabei unabhängig davon zu bestimmen, welche Auswirkungen religiös motiviertes Handeln auf Rechte Dritter oder Gemeinschaftsgüter hat. Er ist zu unterscheiden vom „effektiven Garantiebereich“ eines Grundrechts, der „Nettofreiheit“. Insoweit geht es bei der Frage einer angemessenen Dogmatik der Religionsfreiheit vor allem um die Verteilung von Argumentationslasten. Scheidet man ein bestimmtes, vom Grundrechtsträger plausibel als religiös bestimmtes Verhalten bereits aus dem Schutzbereich des Grundrechts aus, droht eine pluralitätsmissachtende Verkürzung des gebotenen Schutzes und eine bestimmte weltanschauliche Schlagseite der Grundrechtsinterpretation. Auch käme es nicht mehr zu einer verfassungsrechtlichen Feinsteuerung wie sie etwa auf der Ebene der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung mit dem Übermaßverbot bereit steht. Aus der Prägung des Schutzbereichs der Religionsfreiheit durch das Selbstverständnis der Grundrechtsträger folgt zugleich, das Merkmal der Religionsausübung in Art. 4 Abs. 266 weit zu verstehen: Was ihm Religionsausübung ist, kann nur der Grundrechtsträger selbst entscheiden. Art. 4 Abs. 1 und 2 GG gewährleistet somit nicht nur, eine Überzeugung zu haben und sich zu ihr zu bekennen, sondern alle Handlungen, die von der eigenen religiösen Überzeugung getragen werden. Man könnte von einer religiösen Handlungsfreiheit sprechen. Weil die grundrechtliche Freiheit der Religionsausübung sich in vielen Fällen erst in der Lebensführung entsprechend den eigenen Vorstellungen verwirklicht, umfasst Art. 4 Abs. 2 GG „auch das Recht des Einzelnen, sein gesamtes Verhalten an den Lehren seines Glaubens auszurichten und seiner inneren Glaubensüberzeugung gemäß zu leben“ – wie es in der Rechtsprechung des

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Bundesverfassungsgerichts heißt.35 Dagegen vermögen die erwähnten Versuche, durch die Eingrenzung von bestimmten Handlungsbereichen Restriktionen des Schutzbereichs zu erreichen, nicht zu überzeugen. Vor allem kann die freie Religionsausübung nicht auf rein kultische Handlungen begrenzt werden. Hier ist zu vermeiden, die verfassungsrechtliche Dogmatik am Muster eines bestimmten Typus von Religion zu entwickeln. Religion kennt vielfältige Manifestationsformen. Beschränkungen auf einen bestimmten Kern- oder Kultbereich lassen sich religiös-weltanschaulich neutral nicht begründen und widersprechen damit dem Sinngehalt der Religionsfreiheit. Zudem zielen die meisten Religionen darauf, die religiösen Überzeugungen auch jenseits eines Kultes praktisch werden zu lassen, und werden gerade hierin durch Art. 4 Abs. 1 und 2 GG geschützt. In den Worten Martin Heckels: „Bei allen großen Religionen gehören Glauben und Werke untrennbar zusammen.“36 Die Relevanz des Selbstverständnisses bei der Bestimmung der Tatbestandsmerkmale Glaube und Religionsausübung führt schließlich auch dazu, dass Art. 4 Abs. 1 und 2 GG als einheitliches Grundrecht auf Religionsfreiheit zu verstehen ist, bei dem sich die Modalitäten des Glaubens, des Bekenntnisses und der Religionsausübung nicht parzellenscharf scheiden lassen. Die Gewährleistungsbereiche der Glaubens-, Bekenntnis- und Religionsausübungsfreiheit weisen zahlreiche Überlappungen und Verstrebungen auf, die eine trennscharfe Scheidung der einzelnen Schutzbereiche in Frage stellen. Die Aufführung mehrerer Ausformungen der Religionsfreiheit in Art. 4 Abs. 1 und 2 GG markiert einen für den grundrechtlich geschützten Gesamtkomplex Religion notwendigen und als solchen geschützten Zusammenhang, der sich nur künstlich, häufig sogar nur sinn- und zweckwidrig aufspalten ließe. Diese traditionelle Auslegung des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG bewährt sich auch unter Bedingungen forcierten religiösen Wandels. Die Berücksichtigung des Selbstverständnisses der Grundrechtsträger sichert die gebotene Offenheit der verfassungsrechtlichen Gewährleistung der Religionsfreiheit für neuere religiöse Emanationen und hält diese Freiheit effektiv.

3.2

Art. 136 Abs. 1 WRV als verfassungsrechtliche Rechtfertigung eines Eingriffs in die Religionsfreiheit?

Wenn demnach auf der Ebene des Schutzbereiches gegenüber dem bisherigen Verständnis des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG keine Restriktionen angezeigt sind, so stellt sich die Frage, ob nicht wenigstens Eingriffe in die Religionsfreiheit unter ermäßigten Bedingungen möglich sein müssen: Hierauf zielt der oben skizzierte Vorschlag, Art. 136 Abs. 1 WRV als Gesetzesvorbehalt zu lesen. Eine solche Vorgehensweise scheint zunächst plausibel: Während unter Bedingungen relativer religiöser Homogenität in einem religiös-weltanschaulich neutralen Staat 35 BVerfGE 35, 98 (106). 36 Heckel, ZevKR, 44 (1999), S. 340, 354 f.

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209

nur verhältnismäßig wenige Eingriffe in die Religionsfreiheit zu besorgen sind, weil das Parlament als repräsentativer Gesetzgeber besondere religiöse Interessen tendenziell antizipiert, steigt der staatliche Regulierungsbedarf mit der Vielfalt religiöser Gruppierungen in einer Gesellschaft zwangsläufig. Zumindest bei einer weiten Interpretation der Religionsausübungsfreiheit als eine Art religionsspezifischer Handlungsfreiheit sind vielfältigste Beeinträchtigungen durch „allgemeine“ Gesetze, die gar nicht auf die Lenkung des typischen religiösen Handelns zielen (so genannte neutrale Gesetze), in einer pluralen Gesellschaft unvermeidlich: Der turbantragende Sikh lehnt die Helmpflicht beim Motorradfahren ab, muslimische Eltern widersprechen der Teilnahme ihrer Tochter am von der Schulpflicht mitumfassten koedukativen Schwimmunterricht, der Schlachtritus eines Metzgers verstößt gegen Tierschutzbestimmungen. Führt nun die Religionsfreiheit notwendig zum Dispens vom allgemeinen Gesetz, von der Straßenverkehrsordnung, vom Strafrecht, von der Steuerpflicht? Natürlich nicht. Selbstredend werden im Ergebnis weder religiös motivierte Witwen- und Hexenverbrennungen noch ein Dschihad, ein angeblich heiliger Krieg gegen „Ungläubige“ zu akzeptieren sein. Eingriffe in die Religions- und Gewissensfreiheit von Individuen können durch so genannte „immanente Schranken“ gerechtfertigt werden, also dadurch, dass gleichrangige Verfassungsgüter mit der Ausübung der Religions- und Gewissensfreiheit konfligieren und unter dem Gesichtspunkt der Einheit der Verfassung ein Ausgleich hergestellt werden muss. Verfassungstheoretisch wurde dieses Modell oben als reziproker Pluralismus eingeführt. Die Religionsfreiheit ist einschränkbar, wenn ihre unbegrenzte Ausübung andere Verfassungspositionen, insbesondere die Grundrechte anderer, beeinträchtigt. Auf dieser Ebene kann übrigens dem Selbstverständnis desjenigen, dessen Grundrecht eingeschränkt wird, keine dominante Bedeutung zuerkannt werden, da das kollidierende Recht gerade nicht zu seiner Disposition gestellt ist.37 Ein Gesetzesvorbehalt durch kreative Neuinterpretation der Verfassung ist dagegen aus dogmatischen wie aus der Sachmaterie selbst folgenden Gründen abzulehnen.38 Art. 4 Abs. 1 und 2 GG enthält ausweislich des Wortlautes keinen Gesetzesvorbehalt. Der Verfassungsgeber des Grundgesetzes wollte das Grundrecht auf Religionsfreiheit, anders als in der Weimarer Reichsverfassung, gerade nicht mit einem Vorbehalt versehen. Im Laufe der Beratungen wurde der zunächst vorgesehene Gesetzesvorbehalt der Glaubens- und Gewissensfreiheit bewusst gestrichen. Gerade vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Religionspolitik wollte man der Gefahr begegnen, die effektive Garantie der Religionsfreiheit durch einschränkende „allgemeine“ Gesetze zu unterlaufen. Die öffentliche Sicherheit und Ordnung sah man – völlig zu Recht – auch ohne Gesetzesvorbehalt als gewährleistet an. Ein Gesetzesvorbehalt ist auch in der 37 Morlok, Selbstverständnis, S. 423 ff. 38 Vgl. m.w.N. Heinig, Öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaften, S. 130 ff.

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Sache nicht erforderlich, um den Herausforderungen des religiösen Pluralismus zu begegnen. In allen einschlägigen Konstellationen kommt man über die dogmatische Figur des kollidierenden Verfassungsrechts zu befriedigenden Ergebnissen. Rechte Dritter und andere mit Verfassungsrang ausgestattete Rechtsgüter müssen nicht per se gegenüber der Religionsfreiheit zurücktreten. Soweit freilich solche kollidierende Rechte nicht auszumachen sind, hat das mit dem Eingriff verfolgte religionspolitische Regelungsanliegen zuzutreten. Dies ist der konstitutiven Bedeutung der Religionsfreiheit für eine demokratische Gesellschaft durchaus angemessen. Gerade weil es bei der Religion um letzte Fragen geht, die für die Identität der Menschen von höchster Bedeutung sind, bedarf ihre freie Ausübung begrenzende Anliegen einer gesellschaftlichen Mindestrelevanz, die sich im Verfassungsrang ausdrückt.

4.

Religionsrecht als Gefahrenabwehrrecht

Das hier präferierte verfassungsdogmatische Modell bewährt sich auch vor dem Hintergrund des eingangs skizzierten Ambivalenzcharakters der Religion. Die Religionsfreiheit steht einer effektiven Gefahrenabwehr, insbesondere der Absicherung eines reziproken Pluralismus gleicher Berechtigung oder dogmatisch ausgedrückt der freiheitlich-demokratischen Verfassungsordnung und der Grundrechte, nicht im Wege. Sie sichert jedoch zugleich die Freiheitlichkeit des religionsrechtlichen Gesamtssystems und baut Diskriminierungen vor. Insbesondere zwingt sie, genau hinzusehen und den Einzelfall mit seinen Spezifika zu würdigen.

4.1

Religiöse Farbenblindheit und Kenntnisnahme tatsächlichen Verhaltens

Dreh- und Angelpunkt für das Religionsrecht als Gefahrenabwehrrecht ist dabei die Annahme, dass auch der religiös-weltanschaulich neutrale Staat von Verfassungs wegen nicht gehindert ist, sich mit dem gesellschaftlichen Wirken einer Religionsgemeinschaft zu beschäftigen. Der Staat ist zwar religiös farbenblind, aber sehstark, soweit es um die lebensweltlichen Wirkungen der Religion geht. In den Worten des Bundesverfassungsgerichts: „Auch der neutrale Staat ist nicht gehindert, das tatsächliche Verhalten einer religiösen oder weltanschaulichen Gruppierung oder das ihrer Mitglieder nach weltlichen Kriterien zu beurteilen, selbst wenn dieses Verhalten letztlich religiös motiviert ist.“39 Diesem Ansatz ist zuzustimmen, soweit die Grenzen der Religionsfreiheit bestimmt werden.40 Denn auf dieser Ebene kann der religiös-neutrale Staat von Verfassungs 39 BVerfGE 102, 370 (394); 105, 279 (294). 40 Verfehlt insoweit BVerfGE 105, 279 (294), als bereits die Eröffnung des Schutzbereichs abgelehnt wird.

Das Religionsrecht

211

wegen nicht gehindert sein, die lebensweltlichen Effekte religiös motivierter Handlungen zur Kenntnis zu nehmen und in Abgleich zu bringen mit Rechten Dritter und sonstigen mit Verfassungsrang ausgestatteten Rechten. Dies ist notwendiger Ausfluss des verfassungstheoretischen Modells gleicher Freiheit. Zugleich aber ist hinreichend Sorge zu tragen, dass der Staat sich auch bei der Bewertung religiösen Verhaltens mit weltlichen Kriterien nicht mit einer bestimmten Religion identifiziert oder eine bestimmte Religion unbotmäßig diskriminiert. Ihm ist deshalb eine gewisse Zurückhaltung auferlegt. Eine staatliche Beurteilung des Verhaltens religiöser Organisationen kommt nur in Betracht, soweit sie für die Gefahrenabwehr unabdingbar ist. Allgemeine religionspolitische Ziele oder weltanschauliche Überzeugungen einzelner Organwalter können die Inanspruchnahme staatlicher Autorität dagegen nicht rechtfertigen. Auch auf den ersten Blick krude wirkende Organisationen und ausdrucksstarke religiöse Überzeugungen sind in der freiheitlichen Gesellschaft zu ertragen, soweit sie sich an das allgemeine Schädigungsverbot (neminem laedere) halten. Insbesondere darf staatlicher Religionspolitik von Verfassungs wegen nicht die weltanschauliche Annahme zugrunde liegen, andere Religionsformen als das postaufgeklärte volkskirchliche Christentum seien per se zu bekämpfen oder Religion sei überhaupt eine menschliche Devianz, die im Zuge der fortschreitenden Aufklärung zu überwinden sei. Zugleich ist aber auch festzuhalten, dass die Thematisierung des Verhaltens von religiösen Gruppierungen durch staatliche Organe nicht unbedingt zu deren Lasten gehen muss. Dies zeigt sich insbesondere am Beispiel der so genannten Sektenpolitik in den 90er Jahren.41 Die Enquetekommission „Sogenannte Sekten und Psychogruppen“ des Deutschen Bundestages hat latente Sorgen und Beunruhigung in der Bevölkerung im Hinblick auf das Wirken von so genannten Sekten aufgenommen, rational bearbeitet, Vorwürfe öffentlich aufgeklärt, bestätigt oder widerlegt und in erheblichem Maße zur Versachlichung der Debatte beigetragen.42 Ähnliche Wirkungen kann eine durch Gerichte kontrollierte Beobachtung von Gruppierungen durch den Verfassungsschutz haben. Problematisch ist deshalb weniger das Ob der Thematisierung des Wirkens religiöser Gruppierungen durch den Staat als vielmehr das Wie.

4.2

Verweigerung des Körperschaftsstatus

Dass der Staat das nach außen in Erscheinung tretende Verhalten einer religiösen Gruppierung staatlich beobachten und bewerten könne, hat das Bundesverfassungsgericht in dieser Form in der Entscheidung zu den Zeugen Jehovas erstmals formuliert.43 In der Sache ging es um die Verleihung der öffentlich41 Vgl. hierzu auch Hermann Weber, in diesem Band. 42 BT-Dr. 13/1095; der Zwischenbericht ist veröffentlicht als BT-Dr. 13/8170. 43 BVerfGE 102, 370 (394).

212

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rechtlichen Rechtsform für diese Gruppierung.44 Die Entscheidung stellt eine der ersten Judikate aus Karlsruhe dar, die den Paradigmenwechsel im Religionsverfassungsrecht hin zum Gefahrenabwehrrecht vollziehen. Das Bundesverfassungsgericht meinte, dass ein Anspruch auf Verleihung des Körperschaftsstatus nach Art. 140 GG iVm. Art. 137 Abs. 5 s. 2 WRV nur bestünde, wenn über die in der Verfassung benannten Voraussetzungen hinaus weitere Bedingungen erfüllt seien. Insbesondere habe die Organisation rechtstreu zu sein. Auch dürfe ihr künftiges Verhalten nicht die in Art. 79 Abs. 3 GG umschriebenen fundamentalen Verfassungsprinzipien, die dem staatlichen Schutz anvertrauten Grundrechte Dritter sowie die Grundprinzipien des freiheitlichen Religionsund Staatskirchenrechts gefährden.45 Bei der insoweit erforderlichen Prüfung sei es dem religiös-weltanschaulich neutralen Staat verwehrt, Glaube und Lehre einer Religionsgemeinschaft zu bewerten. Im Bereich genuin religiöser Fragen dürfe der Staat nichts regeln und bestimmen. Doch könne er das tatsächliche Verhalten bewerten, auch wenn dieses religiös motiviert sei. Bei der Bewertung des Verhaltens gelte es aber Maß zu halten und die Bedeutung der Religionsfreiheit hinreichend zu beachten. So stelle nicht jeder einzelne Verstoß gegen Recht und Gesetz die Gewähr rechtstreuen Verhaltens in Frage. Zudem erhöben viele Religionen einen Gewissensvorbehalt bei der Rechtsbefolgung, auch wenn sie die Autorität staatlicher Gesetze grundsätzlich anerkennen.46 Das Bundesverfassungsgericht versucht hier exemplarisch und im Ergebnis47 befriedigend, das Religionsrecht zwischen der religiöse Vielfalt sichernden Religionsfreiheit und Gleichbehandlung einerseits und der Gefahrenabwehr andererseits so auszutarieren, dass die involvierten Verfassungsgüter jeweils nicht zu kurz kommen.

44 Vgl. vorher bereits BVerwGE 105, 117 ff.; OVG Berlin, NVwZ, (1996), S. 478 ff.; VG Berlin, NVwZ, (1994), S. 609 ff.; aus der Fülle der Literatur zum Fragenkreis etwa Weber, Religion – Staat – Gesellschaft, 2 (2001), S. 47 ff.; Stefan Magen, NVwZ, (2001), S. 888 f.; Elke Dorothea Bohl, Der öffentlich-rechtliche Körperschaftsstatus der Religionsgemeinschaften, Baden-Baden 2001; Jeand’Heur / Korioth, S. 221 ff.; Huster, Juristische Schulung (JuS), (1989), S. 117 ff.; umfassend Heinig, Öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaften, S. 256 ff. m.w.N. 45 Das vom Bundesverwaltungsgericht entwickelte Kriterium der „Staatsloyalität“ verwarf das Bundesverfassungsgericht dagegen. 46 BVerfGE 102, 370, 391 f.: „Derartige Vorbehalte sind Ausdruck der für Religionen nicht untypischen Unbedingtheit ihrer Glaubenssätze.“ 47 Eine Kritik an der dogmatischen Grundlegung findet sich in Heinig, Öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaften, S. 327 ff.; in anderer Weise skeptisch gegenüber der Urteilsbegründung Muckel, Jura (2001), S. 456 ff.; Axel von Campenhausen, ZevKR, 46 (2001), S. 165 ff.; Hillgruber, NVwZ, (2001), S. 1347 ff.

Das Religionsrecht

4.3

213

Beobachtung durch den Verfassungsschutz und Verbot von Religionsgesellschaften

Die Möglichkeit der Kenntnisnahme des tatsächlichen Verhaltens religiöser Gruppierungen durch den Staat hat insbesondere Folgerungen für die Beobachtung durch den Verfassungsschutz und das Verbot von religiösen Organisationen. Jeweils ist auf der Grundlage empirischer Daten zu prüfen, ob entsprechendes staatliches Handeln, Beobachtung oder Verbot, indiziert ist. Erstens: Für eine Beobachtung durch den Verfassungsschutz sind nach den einschlägigen Bestimmungen Bestrebungen gegen den Bestand und die Sicherheit des Bundes oder eines Landes sowie gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung erforderlich. Interessant ist nun, dass solche Bestrebungen in den Verfassungsschutzgesetzen der Länder und des Bundes als „politisch bestimmte Verhaltensweisen“ definiert werden (z. B. § 5 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 LVSG B.-W.). Dies wirft das Problem auf, ob Religionsgemeinschaften politisch bestimmte Verhaltensweisen im Rechtssinne an den Tag legen, obwohl sie selbst ihr Verhalten als religiös bestimmt begreifen. So jedenfalls argumentierte Scientology in einer Klage vor dem Verwaltungsgericht Berlin gegen die Beobachtung durch den Verfassungsschutz.48 Das Gericht schloss sich dieser Argumentation – zu Recht – nicht an:49 So wie wirtschaftliche und politische Betätigungen dem religiösen Charakter einer Organisation nicht entgegenstehen, solange das religiöse Selbstverständnis nicht bloße Fassade ist,50 so gilt auch umgekehrt, dass die religiöse Motivation politischer und wirtschaftlicher Aktivitäten nicht eine entsprechende Charakterisierung hindert. Deshalb findet auf unternehmerische Handlungen von Religionsgemeinschaften das allgemeine Wirtschaftsrecht Anwendung – und auf politische Handlungen das hierfür einschlägige Recht, u. a. das Verfassungsschutzrecht. Ob das Verhalten einer religiösen Gruppierung in diesem Sinne als politisch bestimmt zu begreifen ist, bemisst sich nicht nach ihrem Selbstverständnis, sondern nach „objektiven Kriterien“, dem äußeren Verhalten, da es insoweit, anders als bei der Bestimmung des Schutzbereichs der Religionsfreiheit, nicht darum geht, ob ein Verhalten überhaupt religionsfreiheitlich geschützt ist, sondern um die Grenzen des Freiheitsschutzes. Diese kann unter dem Postulat reziproker Freiheit gleicher Berechtigung aber nicht der einzelne Grundrechtsträger bestimmen. Die Erhebung von Daten mit nachrichtendienstlichen Mitteln findet ihre Grenzen generell insbesondere im Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Sie darf nur erfolgen, wenn sie erforderlich ist. Dies gilt auch, wenn eine Religionsgemeinschaft beobachtet wird. Im konkreten Fall konnte das Berliner Landesamt für Verfassungsschutz die Erforderlichkeit nicht darlegen, da man sich trotz mehrjähriger Beobachtung außer Stande sah weitere Anhaltspunkte für verfassungswidrige Bestrebungen über den 48 VG Berlin, NVwZ, (2002), S. 1018 ff. 49 Ähnlich VG Saarbrücken, Urteil vom 29. 3. 2001, Az. 6 K 149/00 – juris. 50 Heinig, Öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaften, S. 67 f. m.w.N.

214

Hans Michael Heinig

Anfangsverdacht hinaus vorzubringen.51 Auch hier sehen wir wieder die Austarierung zwischen religiöser Freiheit, Diskriminierungsschutz und Gefahrenabwehr anhand des für das öffentliche Recht typischen Maßstabs der Verhältnismäßigkeit. Zweitens: Von jeher war unbestritten, dass das Grundgesetz einem Verbot religiöser Organisationen nicht entgegensteht. Uneinigkeit herrscht hier vor allem über die dogmatische Konstruktion dieses Ergebnisses. Sie blieb lange Zeit eine akademische Frage,52 denn das Vereinsgesetz nahm Religionsgemeinschaften von seinem Anwendungsbereich aus und damit fehlte es an einer einfachgesetzlichen Grundlage für ein Verbot religiöser Gemeinschaften. Unmittelbar nach den Geschehnissen vom 11. September 2001 wurde das so genannte Religionsprivileg im Vereinsgesetz gestrichen. Diese Lösung wirft im Detail mehr Fragen als Antworten auf, etwa nach den Kompetenzen des Gesetzgebers und den genauen Verbotsvoraussetzungen.53 Ungeachtet dieser rechtstechnischen Probleme wurden inzwischen Verbote in der Verwaltungspraxis exekutiert. Als erste religiöse Organisation verbot der Bundesinnenminister den Kalifatstaat des Metin Kaplan. Bundesverwaltungsgericht54 und Bundesverfassungsgericht55 billigten die Entscheidung. Beide Gerichte unterstrichen, dass eine lediglich kritische Haltung gegenüber dem Staat für sich nicht verbotserheblich ist. Vielmehr müssten die grundlegenden Verfassungsprinzipien des Grundgesetzes aktiv-kämpferisch untergraben werden und hiergegen kein anderes 51

52 53

54 55

VG Berlin, NVwZ, (2001), S. 1018 (1021 f.); zu einem anderen Ergebnis kam für den konkreten Fall das VG Saarbrücken, Urteil vom 29. 3. 2001, Az. 6 K 149/00 – juris: Kurzfristig könne bei solchen Beobachtungen nicht mit Ergebnissen gerechnet werden. „Angesichts der weiteren Voraussetzungen des konkreten Einsatzes nachrichtendienstlicher Mittel und der dabei zu beachtenden Sorgfaltspflicht im Interesse des Ermittlungszwecks und des eingesetzten Personals steht ein Zeitraum von drei Jahren ohne konkrete durch entsprechende Ermittlungsmaßnahmen gewonnene Erkenntnisse in dieser bestimmten Richtung der Annahme nicht entgegen, dass durch den Einsatz nachrichtendienstlicher Methoden nach wie vor der gewünschte Erfolg der Beobachtung näherrückt.“ Vgl. zur Diskussion etwa Pieroth/Thorsten Kingreen, NVwZ, (2001), S. 841 ff.; Sebastian Veelken, Das Verbot von Weltanschauungs- und Religionsgemeinschaften, Diss. jur. Münster 1999. Vgl. Gernot Schiller, ZevKR, 48 (2003), S. 257 ff.; Kathrin Groh, KritV (2002), S. 39 ff.; Lothar Michael, JZ, (2002), S. 482 ff.; Ralf Poscher, KritV (2002), S. 298 ff. Handwerklich ist die Novellierung missglückt, weil der Gesetzgeber fälschlicherweise davon ausging, die Schranke des Art. 9 Abs. 2 GG finde auch auf Religionsgemeinschaften Anwendung. Tatsächlich ist die religiöse Vereinigungsfreiheit jedoch nicht durch die allgemeine Bestimmung des Art. 9 Abs. 1 GG geschützt, sondern speziell in Art. 4 Abs. 1 und 2 GG, Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 2 WRV. Die Schranke für das allgemeine Grundrecht kann nun aber nicht auf die besondere Regelung übertragen werden; nur kollidierendes Verfassungsrecht rechtfertigt ein Verbot von Religionsgemeinschaften. Diese verfassungsdogmatische Ausgangslage hat zur Folge, dass das auf Art. 9 Abs. 2 GG zugeschnittene Regelungsgefüge des Vereinsgesetzes für inländische Vereine (§ 3 VereinsG) bei Religionsgesellschaften nicht recht passt. BVerwG, NVwZ, (2003), S. 986 ff. BVerfG, NJW, (2004), S. 47 ff.

Das Religionsrecht

215

gleichgeeignetes Mittel zur Verfügung stehen. Das Verbot muss sich somit als ultima ratio darstellen.

4.4

Warnungen vor religiösen Gruppierungen

Das klassische Instrument zur Gefahrenabwehr ist die Anordnung einer Rechtsfolge in einem Einzelfall, der Verwaltungsakt. Doch der moderne Staat hat sich längst über Befehl und Zwang hinausgehender Mittel bedient. Ein zentraler Baustein der Gefahrenabwehr ist die Herstellung von Öffentlichkeit. Gefahrenabwehr erfolgt hier informell, insbesondere durch Warnungen. Diese erzeugen öffentliche Aufmerksamkeit und zielen auf Verhaltensänderungen der Bürger, ohne dass diese Adressaten staatlicher Rechtsakte werden. Soweit vor religiösen Organisationen gewarnt wird, stellt sich die Frage, ob der religiös-weltanschaulich neutrale Staat dies darf und welche Grenzen bestehen. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Osho-Entscheidung hierzu Stellung bezogen.56 Ausgangspunkt ist auch hier der oben zitierte Grundsatz, dass dem Staat nicht per se die Befassung mit tatsächlichem Verhalten von Religionsgemeinschaften verwehrt ist. In Anknüpfung an das Verhalten sei dem Staat auch eine kritische Auseinandersetzung zuzugestehen. Doch sei hierbei eine besondere Zurückhaltung gefordert. Nicht hinzunehmen seien diffamierende, diskriminierende und verfälschende Darstellungen einer religiösen Gemeinschaft. Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts musste es sich die Osho-Bewegung deshalb zwar gefallen lassen, als „Jugendreligion“, „Jugendsekte“ und „Psychosekte“ bezeichnet zu werden. Nicht mehr mit dem Neutralitätsgebot konform sei dagegen der Vorwurf, Mitglieder der Bewegung würden unter Ausschluss der Öffentlichkeit manipuliert und die Organisation sei „destruktiv“ und „pseudoreligiös“. Ob die konkrete Subsumtion des Gerichts überzeugt, sei hier nur als Frage aufgeworfen;57 gegen die gewählten Maßstäbe ist wohl kaum zu erinnern.

5.

Schluss

Die bisherigen Ausführungen haben (hoffentlich) gezeigt, dass der Balanceakt des Religionsrechts auf dem zwischen der Sicherung freiheitlicher Vielfalt und der Abwehr fundamentalistischer Bedrohungen gespannten Hochseil nicht mit einem Absturz enden muss. Eine angemessene Dogmatik kann der Rechtspraxis manche Hilfestellung bieten. Drei Elemente scheinen dabei wesentlich:

56 BVerfGE 105, 280 ff.; vgl. hierzu Dietrich Murswiek, NVwZ, (2003), S. 1 ff.; Peter Michael Huber, JZ, (2003), S. 290 ff.; Markus Winkler, Juristische Arbeitsblätter (2003), S. 113 ff.; Herbert Bethge, Jura (2003), S. 327 ff. 57 Kritisch Hans-Jürgen Kremer, JuS, (2003), S. 747 (748); Wolfgang Kahl, Der Staat, 43 (2004), S. 167 (191) m.w.N.

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Hans Michael Heinig

1. Die Frage, ob ein bestimmtes Verhalten überhaupt freiheitlich geschützt ist, bestimmt sich nach dem Selbstverständnis der religiösen Akteure. Was ihm Religion ist, definiert der Grundrechtsträger bei Auferlegung einer Plausibilitätsobliegenheit selbst. 2. Die Festlegung der Grenzen der Religionsfreiheit entzieht sich dagegen der Definitionsmacht des religiösen Akteurs. Sie steht aber auch nicht im willkürlichen Belieben des Gesetzgebers. Vielmehr sind Rechtsgüter und Zielsetzungen erforderlich, die sich in der Güterabwägung als gegenüber der Religionsfreiheit höherwertig erweisen. Insbesondere an Grundrechte Dritter ist zu denken. Dies ist notwendiger Ausfluss der verfassungstheoretischen Konzeption eines reziproken Pluralismus gleicher Berechtigung. 3. Der religiös-weltanschaulich neutrale Staat ist nicht gehindert, das tatsächliche Wirken religiöser Akteure zur Kenntnis zu nehmen und hieraus im Rahmen der ihm obliegenden Gefahrenabwehr Folgerungen zu ziehen. Bei diesen Folgerungen wird der Staat freiheitsrechtlich insbesondere durch das Übermaßverbot gebändigt.

Religiöse Pluralität in multikulturellen Gesellschaften Markus Vinzent

I. Kürzlich hat Manfred Erhardt, Generalsekretär des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft, Jürgen Habermas, den Friedenspreisträger des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels des Jahres 2001, kritisiert. Habermas hatte in seiner Festrede mit Bezug auf Gentechnologie und die gerade zuvor geschehenen Ereignisse des 11. September angemerkt, dass wir uns „auf Prämissen eines Verfassungsstaates einlassen (müssen), der sich aus einer profanen Moral begründet.“ Mehr noch, der „liberale Staat (mute) nur den Gläubigen unter seinen Bürgern zu, ihre Identität gleichsam in öffentliche und private Anteile aufzuspalten. Sie sind es, die ihre religiösen Überzeugungen in eine säkulare Sprache übersetzen müssen, bevor ihre Argumente Aussicht haben, die Zustimmung von Mehrheiten zu finden.“ Diese Neubestimmung der gegenwärtigen westlichen Geisteslage, in welcher die Gläubigen allein, und nicht die säkulare Gesellschaft, rechenschaftspflichtig sind, bedeutet eine kopernikanische Wende im Selbstverständnis Europas, die von den meisten Menschen, insbesondere den politischen und religiösen Funktionsträgern, noch nicht nachvollzogen ist. Ich nenne als Hinweise, ohne weitere Einzelbelege aufzuführen, lediglich die gegenwärtige Diskussion über den EU-Beitritt der Türkei. Selbst Größen unserer Gesellschaft wie Altbundeskanzler Helmut Schmidt vertreten seit längerem hartnäckig die Meinung, wie die Überschrift eines seiner Zeit-Artikel es ausdrückt: „Nein, sie (= Türken) passen nicht dazu.“1 Von Bedeutung sind für Schmidt „eine Reihe kultureller Unterschiede“.2 Die liegen zum einen in einem laizistischen Staat, der vom Militär dominiert wird, tiefer und wesentlicher aber ist die eigentliche kulturelle Prägung des Landes durch den Islam. Schmidt führt im selben Artikel aus: „Im Islam fehlen die für die europäische Kultur entscheidenden Entwicklungen der Renaissance, der Aufklärung und der Trennung zwischen geistlicher und politischer Autorität. Der Islam hat auch deshalb – trotz 500 Jahren osmanischer Expansion – in Europa nicht Fuß fassen können; Albanien, Bosnien und das Kosovo sind Ausnahmen geblieben, dazu die Stadt Istanbul. [...] Integration, 1 2

Helmut Schmidt, Nein, sie (= Türken) passen nicht dazu. In: Die Zeit vom 12.12. 2002. Ebd.

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gar Assimilation ist bisher nirgendwo durchgreifend geglückt.“3 Nicht anders im Ergebnis denkt Kardinal Joseph Ratzinger, der in einem Interview kürzlich davor gewarnt hat, die Türkei an die EU zu binden. „Das Land stehe in permanentem Kontrast zu Europa.“4 Wenn Habermas jedoch das Säkulare als die nicht sich selbst zu erklärende Grundlage der Gesellschaft nimmt, und – darum das Beispiel der laizistischen Türkei – jegliche religiöse Kultur sich zunächst zu begründen und in seiner Relevanz zu verdeutlichen hat, muss das religiös-kulturelle Element als Definitionsmoment irgendwelcher gesellschaftlicher Entitäten ausgeschlossen werden. Zu Recht, wie ich meine, da ansonsten nur schwer erklärbar wäre, warum ethnisch-rassistische Differenzierungen als gefährliche Fehlentscheidungen sich in die deutsche Geschichte eingeschrieben haben, religiös-kulturelle Demarkationen aber die Grenzen Europas bestimmen können. In konsequenter Anwendung der durch die EU auf den Weg gebrachten und in Deutschland leider immer noch nicht umgesetzten Antidiskriminierungsgesetze, darf nicht nur für das innenrechtliche Verhältnis der EU, sondern muss auch für die Wesensdefinition von „Europa“ die Richtlinie des Jahres 2000 gelten, dass ein „Gleichbehandlungsgrundsatz“ besteht „ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft“, zumal diese Richtlinie eingangs mit Blick auf den „Prozess des immer engeren Zusammenwachsens der Völker Europas“ formuliert worden ist.5 Noch präziser gilt dies nach einer weiteren Richtlinie aus dem Jahr 2000 auch für den Bereich „der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung“.6 Gleichwohl hält der eingangs erwähnte Generalsekretär des Stifterverbandes, Erhardt, die These, dass Traditionen sich nur noch nach einer Übersetzung in das Säkulare behaupten können, für selbstmörderisch: „Wenn unsere moderne Gesellschaft [...] eigens ‚Übersetzer‘ aus dem Sakralen ins Säkulare braucht, kann mit dem Bildungskanon [...] etwas nicht mehr stimmen.“7 Gewiss trifft Erhardts Kritik einen wesentlichen Punkt, der überdeutlich geworden ist während einer Untersuchung, die ich Ihnen weiter unten noch näher vorstellen möchte: Die unsere Kultur untermauernden sakralen Traditionen stellen – auch in Europa – so sehr deren Fundament dar, dass alleine schon die Notwendigkeit einer Übersetzung den fundamentalen Abriss von Traditionen, und die Unkenntnis und das Unverständnis unserer Gegenwart über unsere eigene Vergangenheit und damit über unsere eigene Identität, sei es eine deutsche, eine europäische oder eine global-menschliche betrifft. Gerade Erhardts 3 4 5 6 7

Ebd. http://www.welt.de/data/2004/09/16/333042.html (27. 9. 2004) http://europa.eu.int/infonet/library/m/200043ce/de.htm (27. 9. 2004); vgl. zum Ganzen: Markus Vinzent, Interkulturelles Diversity- und Inclusiveness-Management. In: Personalführung, (2003) 10, S. 30–36. http://www.lsvd.de/antidiskriminierung/2000-78-EG.html (27. 9. 2004). Manfred Erhardt, Geist gegen Geld? Die Universität zwischen Ökonomisierung und Bildungsauftrag. In: Forschung & Lehre, (2004) 4, S. 186 f., hier: 187.

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Kritik zeigt aber in ihrer Verkürzung und Verzerrung bereits die verbreitete Unkenntnis, die den historischen Traditionsbruch der Gegenwart kennzeichnet: Nach Erhardt speist sich die „abendländische Kultur“ „aus den profanen Quellen der griechisch-römischen Überlieferung und der Aufklärung“ einerseits, und „aus der sakralen Wurzel der jüdisch-christlichen Religion“ andererseits. Zu dieser Bestimmung unserer so genannten abendländischen Kultur gibt es einiges anzumerken, was ich zunächst systematisch vortrage und dann, genährt aus der darzustellenden Studie, bildungspädagogisch erweitere. 1. Zunächst zu den Begriffen Abendland und Europa:8 „Das Wort Abendland entstand [...] [erst mit Renaissance, Humanismus und Reformation und dem Erwachen einer abendländischen Anknüpfung an die Ideale des Orients] – als Entsprechung zu Morgenland in Martin Luthers Übersetzung von Mt 2,1 [dem Anfang der Geschichte von den Weisen aus dem Morgenland] – bald nach Erscheinen des Lutherschen ‚Neuen Testaments Deutsch‘ von 1522.9 Es ist uns [...] erstmals bezeugt in der ‚Chronica‘ des Straßburger Reformators Caspar Hedio, in der es heißt: ‚Als Theodosius gestorben ist, sint ym seine sun im keiserthumb nachkummen / Arcadius in Orient / Honorius in Abentlendern.‘“10 Gemeint sind mit letzteren die Länder der westlichen Hälfte des Imperium Romanum nach der mit dem Tode Kaiser Theodosius’ I. (395) in Kraft getretenen Reichsteilung. Die Grenze zwischen West- und Ostrom verlief – nach einigem Schwanken – am Ende ungefähr entlang der Sprachgrenze zwischen griechisch- und lateinischsprachiger Reichsbevölkerung, d. h. nach heutigen Verhältnissen auf dem Balkan entlang der Grenze zwischen Kroatien und Serbien/Montenegro auf der einen sowie (auf der gegenüberliegenden Mittelmeerküste) mitten durch Libyen hindurch auf der anderen Seite. So gesehen zählten zum Abendland die nordafrikanischen Küstenregionen im Bereich des heutigen Libyen, Tunesien, Algerien, Marokko, ferner Westeuropa (mit Ausnahme Irlands und des nördlichen Schottland, die nie zum Imperium Romanum gehörten) bis hin zur Rhein-DonauGrenze und endlich der Balkan südlich der Donau bis zur Drina. Dieser Bereich, der im Verlauf des 5. Jahrhundert (im Gefolge der Germanen- und Hunneninvasion) Schritt für Schritt den Zusammenbruch der Römerherrschaft erlebt hatte, stand im Blick, als Oswald Spengler in seinem 1918 (passend zum Kriegsende) erschienenen Hauptwerk der Generation zwischen den beiden Weltkriegen ihr Stichwort lieferte, übrigens nicht nur in Deutschland. Dieser Bereich stand ebenfalls im Blick, als nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg besonders katholische Theologen und Publizisten das „christ8

Vgl. weitere Argumente in Vinzent, Europäische kulturelle Identität heute und ihre universitäre Vermittlung. In: Religion – Staat – Gesellschaft, (2002) 2, S. 89–101, hier: 95–97. 9 Vgl. Hermann Paul, Deutsches Wörterbuch, 6. Auflage Tübingen 1992, S. 4. 10 „Chronica der Alten Christlichen kirchen auß Eusebio / Ruffino / Sozomeno / Theodoreto .... / durch D. Caspar Hedio verdeutscht“, Straßburg 1530, CCXLII.

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liche Abendland“ beschworen und zum Leitwort einer weltanschaulich durch den Antibolschewismus bestimmten Europapolitik machten.11 Mehr noch als das als Pendant zum Orient verstandene Abendland umfasste Europa seit den griechischen Anfängen weit mehr als nur den westlichen Zipfel des euroasiatischen Kontinents. Immer hatte man das nördliche Afrika und die türkische West- und Südküste hinzugedacht. Mit Blick auf die in diesen Landstrichen entstandenen Religionen und Kulturen wird man folglich nicht ausschließlich – wie Erhardt dies tut – von griechisch-römischer Tradition und jüdisch-christlicher Religion sprechen. Kultur und Religionen waren zutiefst geprägt von nomadisch-afro-asiatischen Stammeskulturen, von persischem, zoroastrischen, indischen Elementen, von hethitischen, mongolischen, slawischen, türkischen Kulturen usw. Insbesondere die Auslassung des Islam als eine der prägendsten Gestaltungskräfte des gesamten europäischen Raumes in der Darstellung von Erhardt spricht Bände und spiegelt wider, was unsere Untersuchung zu förderst gefunden hat: Die Kultur des Islam gehört – wenig gefolgt vom Judentum – zu den nach wie vor „fremden“ oder „ausländischen“ Elementen, wenn man überhaupt im Geschichts- und Sprachunterricht darauf zu sprechen kommt. Lediglich etwas besser steht es diesbezüglich im Religionsunterricht, der noch die deutlichste Bearbeitung und zumindest gelegentliche Integration des Islam als Bestandteil europäischer bzw. abendländischer Kultur aufweist. 2. Die Differenzierung Erhardts zwischen einer „profanen“ griechisch-römischen Überlieferung, die er mit der Aufklärung verbindet, und der „sakralen Wurzel der jüdisch-christlichen Religion“ verdeutlicht zweierlei, was auch unsere Studie belegt: Mit der Einheit „Jüdisch-christlicher Religion“ wird der Islam ausgespart, das Judentum wird unter die christliche Religion subsumiert bzw. von dieser aus betrachtet, sei es zeitlich, inhaltlich oder perspektivisch. Da aber der Religionsbegriff im Judentum sich wesentlich anders definiert als dies im Christentum der Fall ist, geht unter, dass beide Religionen nicht ohne die Jahrhunderte der fruchtbaren und furchtbaren Interaktionen mit dem Islam und anderen Religionen und Kulturen verstanden werden können. Die Nebeneinanderstellung der Einheiten „Judentum“ und „Christentum“ oder wie bei Erhardt deren Ineinssetzung mit jüdisch-christlicher Religion, ohne nochmals die Unvergleichbarkeit der beiden „Religionen“ herauszustellen, dominiert das Judentum aus christlicher Perspektive.

11

Adolf Martin Ritter, Integration nach Europa in kirchengeschichtlicher Perspektive. In: ders., Vom Glauben der Christen und seiner Bewährung in Denken und Handeln. Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte, Mandelbachtal / Cambridge 2003, S. 6–16, hier: 6 f.

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Auch das Bild der Profanität des Griechisch-Römischen in der Absetzung vom Sakral-Jüdisch-Christlichen ist eine Chimäre. Profanität wie Säkularisierung sind Phänomene der westlichen Neuzeit und haben vermutlich keinerlei historische Vorgänger, lassen also gar keine historischen Vergleiche zu, während die religiös-sakrale Welt des Griechisch-Römischen gerade aufgrund der engen Verbindung, die das Judentum und aus diesem heraus das Christentum und der Islam, mit der griechisch-römisch sakralen Welt eingegangen waren, zutiefst auf alle drei monotheistischen Religionen und ihre Kulturen gewirkt. Habermas scheint mir hierzu in seiner Dankesrede für den Friedenspreis das Rechte zu treffen, wenn er davon spricht, dass „die Grenze zwischen säkularen und religiösen Gründen [...] ohnehin fließend [sei und deshalb] [...] die Festlegung der umstrittenen Grenze als eine kooperative Aufgabe verstanden werden [muss], die von beiden Seiten fordert, auch die Perspektive der jeweils anderen einzunehmen.“ Wie lassen sich nun die verschiedenen Religionskulturen, die Europa seit Anfang an geschaffen und geprägt haben – und hier stehen Judentum, Christentum und Islam für mich nur partes pro toto für all die anderen Einflüsse –, wie lassen sich die verschiedenen Religionskulturen gewiss je verschieden, in unterschiedlicher Intensität, zu unterschiedlichen Zeiten, in verschiedenen Bereichen in einem weiter wachsenden säkularen, demokratischen Europa friedlich fruchtbar machen? Obwohl Habermas davon ausgeht, dass die Majorität Europas inzwischen säkularen Geistes ist, hat er erstaunlicherweise in seinem Beitrag lediglich das religiöse Bewusstsein angesprochen. Damit hat er eine Richtung eingeschlagen, die von seiner Grundannahme einer post-religiösen Gesellschaft zum Entstehen einer post-säkularen Gesellschaft führt, ein erster Schritt, dem Bassam Tibi zufolge inzwischen mindestens zwei weitere gefolgt sind, in welchen Habermas im Jahr 2002 den Iran mit seiner Gottesherrschaft legitimierte und in seiner Toleranz-Rede im selben Jahr anlässlich des Leibniz-Tages in Berlin „religious tolerance to the extent of almost accepting anything coming from pre-modern cultures and from their unreformed religions“ akzeptierte.12 Bereits in seiner Friedenspreisrede hat Habermas nur die halbe Antwort gegeben, wenn er sagt: „Das religiöse Bewusstsein muss erstens die Begegnung mit anderen Konfessionen und anderen Religionen kognitiv verarbeiten. Es muss sich zweitens auf die Autorität von Wissenschaften einstellen, die das gesellschaftliche Monopol an Weltwissen innehaben. Schließlich muss es sich auf Prämissen eines Verfassungsstaates einlassen, der sich aus einer profanen Moral begründet. Ohne diesen Reflexionsschub entfalten die Monotheismen in rücksichtslos modernisierten Gesellschaften ein destruktives Potenzial.“ Wie muss sich die säkulare Gesellschaft verhalten?13 Habermas’ Hinweis darauf, 12 Bassam Tibi, Habermas and the Return of the Sacred. Is it a Religious Renaissance? In: Religion – Staat – Gesellschaft, (2002) 2, S. 265–296, hier: 267. 13 Ich gehe hier erst gar nicht auf die von Tibi (Tibi, Habermas) zu Recht kritisierte Toleranzhaltung gegenüber fundamentalistischen politischen Religionen ein.

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dass „säkulare Sprachen, die das, was einmal gemeint war, bloß eliminieren, [...] Irritationen [hinterlassen und] [...] eine Säkularisierung, die nicht vernichtet, sich im Modus der Übersetzung [vollzieht]“14, reicht nicht. Denn dass die säkulare Gesellschaft, für die unsere Bildungsinstitute heute mehrheitlich erziehen, lediglich tradieren statt zu eliminieren, was einmal war, reicht so wenig wie das Übersetzen von Altem in Neues. Wie jeder gute Übersetzer weiß, kann auch die beste Übersetzung, selbst dann, wenn sie den Glanz, die Stimmung und die Genialität des Originals weithin wiederzugeben scheint, allenfalls kongenial zum Ursprünglichen sein. Was mir in Habermas’ Bestimmung fehlt, ist nicht nur die zwingende Forderung, dass sich alle Ideologien, ob religiöse, weltanschauliche oder politische, auf eine interkulturelle Auseinandersetzung einlassen müssen, aus der heraus ethische Minimalkonsense an die Stelle von Moralkodizes mit universalistischen Ansprüchen treten, existierende Heterogenitäten der Kulturen und Zivilisationen geschätzt, gewahrt und gefördert werden,15 und darüber hinaus erkannt wird, dass all diese überkommenen Traditionen nur in interdependenter, kreativer Weiterentwicklung einen originalen Umgang mit der eigenen Vergangenheit darstellen. Gerade in letzterem sehe ich die wesentliche Bildungsaufgabe der Zukunft. Der säkulare Geist nicht nur des Westens – und nicht minder auch der religiöse – steht vor der gewaltigen Aufgabe, dass ein kulturell pluralistisches Europa, um nicht zu sagen, eine kulturell pluralistische Welt, in ebenso kreativer Weise nur erstehen kann, wie in der Antike mal um mal Bewegungen nach Bewegungen entstanden sind, die auf jeweils gemeinsamen Nährböden das Vergangene neu erschaffen haben. Insofern ist der Islam eine Relektüre von Christentum, Judentum und antiker Umwelt, wie das Christentum eine solche von Judentum und Antike. Mehr noch, der Islam wie das Christentum und Judentum von heute sind vielfältige Relektüren ihrer eigenen Geschichten in Auseinandersetzung und Beeinflussung mit derjenigen ihrer Umwelt. Auch wenn wir differenzieren können und müssen zwischen den verschiedenen Interpretationen und Kulturen, nur die lebendige Fortschreibung und damit die ständige Neuentwicklung derselben wird auch Europa zu mehr als einem sterilen antiquarischen Säkularismus führen. Lassen Sie mich im zweiten Teil auf eine Studie zu sprechen kommen, die ich im Rahmen eines gemeinsamen Projektes zusammen mit der HerbertQuandt-Stiftung der ALTANA AG und des Departments of Theology der University of Birmingham, UK, in den vergangenen drei Jahren durchführen konnte.

14

Auszüge der Rede finden sich auf: http://www.information-philosophie.de/philosophie/habermas2001.html; die gesamte Rede in: http://www.glasnost.de/docs01/ 011014habermas.html, vom 24. 4. 2004. 15 Vgl. zu diesen beiden Mindestanforderungen an alle Ideologien Tibi, Habermas, S. 291 f.

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II. Der Titel der Untersuchung lautet: „Europäische Identität und kultureller Pluralismus.“ Wir untersuchten in acht europäischen Ländern Curricula, Schulbücher und Schulunterricht mit Blick auf die vermittelten kulturellen Anteile von Judentum, Christentum und Islam.16 Kurz zu den Rahmenbedingungen: Ausgangspunkt war die aus Sondierungsstudien und Sichtung von vor allem deutschem Material hervorgegangene Vermutung, dass sowohl Curricula wie Textbücher hinter den veränderten kulturellen, politischen und sozialen Wirklichkeiten Europas „hinterherhängen“17 und nach wie vor dem seit langem existierenden westlichen Kulturkanon mit seiner dominierenden westlich-christlichen Weltsicht verpflichtet sind. Allerdings mussten wir feststellen, dass es nicht einmal mehr dieser westlich-christliche Kanon ist, den wir vorfanden, sondern ein post-christlicher Bezugsrahmen, für den auch das gelebte Christentum weithin einer inzwischen fremden Vergangenheit angehört. Welche Auswirkung ein solcher Rahmen hat, bewusst oder unbewusst, soll hier nur an einem drastischen Beispiel dokumentiert werden: In dem ursprünglich vom Fischer Taschenbuch Verlag herausgegebenen und in überarbeiteter Neuausgabe 1999 zum wiederholten Male erschienenen, von Friedrich Schultes herausgegebenen „Abiturwissen Geschichte“18 findet sich nur ein einziger Eintrag zum Thema „Islam“ und dieser lautet: „Islamischer Imperialismus“. Im entsprechenden Abschnitt wird auf den „sogenannte(n) arabische(n) Sozialismus“ hingewiesen, der „verstärkt [werde] durch eine Bewegung in der muslimischen Welt, die unter dem Namen Re-Islamisierung eine fundamentalistisch verstandene Rückkehr zu den Grundwerten des Islams“ anstrebe.19 Schon vor unserer Untersuchung hatte sich uns die Frage gestellt, ob ein solches Beispiel lediglich die Ausnahme darstellt, oder welche Sicht europäischer Identität in Curricula, Schulbücher und im Unterricht in Europa vermittelt würde? Um uns nicht auf Religionsinhalte zu konzentrieren, sondern gerade die oft darauf aufbauenden kulturellen Elemente fassen zu können, wählten wir die Fachgebiete Geschichte, Sprache und Literatur sowie Religionsunterricht bzw. -kunde aus. Um einen hinreichenden Überblick über Europa zu erhalten, wählten wir zunächst neun europäische Länder aus, in denen wir die Erhebung durchführen wollten, und aus denen wir – mit etwas unterschiedlichem Zuschnitt – Ergebnisse aus acht Ländern erhielten und auswerten konnten: England, Frankreich, Finnland, Griechenland, Deutschland, Italien, Spanien und Schweden. 16 Vgl. Lisa Kaul-Seidman / Jorgen S. Nielsen / Markus Vinzent, European Identity and Cultural Pluralism: Judaism, Christianity and Islam in European Curricula. Recommendations (Herbert-Quandt-Stiftung), Bad Homburg von der Höhe 2003. 17 Markus Vinzent, Re-shaping European Identity. Jewish and Islamic Culture in German Education, unveröffentlichtes Manuskript, 2000. 18 Abiturwissen Geschichte, hg. von Friedrich Schultes, überarbeitete Neuausgabe Augsburg 1999 (1. Auflage Frankfurt a. M. 1973). 19 Ebd., S. 340.

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Leider gelang es uns nicht, für die Niederlande die Untersuchung zum Erfolg zu führen; in Frankreich konnten wir nur mit sehr wenigen Schulen in direkten Kontakt treten, die Daten gehen dort zum größten Teil auf eine Analyse der Lehrbücher und Curricula zurück. In Griechenland war es nicht die Zurückhaltung der Schulen, sondern das „caveat“ der Regierung, die gerade dabei ist, eine für Griechenland revolutionäre, auf Offenheit und Toleranz hin angelegte inhaltliche Neuausrichtung der Textbücher und Curricula einzuführen, mit der Sorge, dass diese bei der Bevölkerung und dem Lehrkörper kaum angenommen werden und mit unserer Untersuchung nicht Unruhe in den sensiblen Prozess bringen wollte. Unsere Ergebnisse basieren für Griechenland folglich auf einer Analyse der Lehrbücher und Curricula durch Experten. Vielleicht noch ein Wort zum technischen Vorgehen, das zugleich auch das Thema Repräsentativität der Ergebnisse anschneidet. Ausgangspunkt für uns war der Wunsch, nicht mehr als grobe Trends in den acht Ländern zu eruieren. Wir hatten für alle Länder so genannte Landeskoordinatoren gesucht, die wir mit der Auswahl der Schulen und den Kontakt zu diesen betraut hatten. Vorgabe für die Auswahl war, dass insgesamt jeweils zwanzig Schulen pro Land auszuwählen waren, von denen zehn dem Primarbereich und zehn dem Sekundarbereich zuzuordnen sind. Zudem sollten 50 Prozent der Schulen jeweils in ländlichem und städtischem Gebiet liegen und verschiedene Regionen eines Landes repräsentieren. In Deutschland etwa wurden Schulen untersucht aus Nordrhein-Westfalen (Essen und Hattingen), Thüringen (Gera und Rudolstadt), Schleswig-Holstein (Flensburg, Lübeck, Büchen und Schwarzenbek), Bayern (Regensburg, Nürnberg und Roth) und Brandenburg (Potsdam und Ludwigsfelde). Da wir jeweils drei Fächer untersuchten und bei jedem der Fächer Fragebögen an Lehrer und Schüler richteten, zudem die entsprechenden Curricula und die verwendeten Textbücher untersuchten, ergab sich insgesamt eine Rücklaufdatenmenge von ca. 20 Schulen x 3 Fächer x 2 Fragebögen + 2 Elementen, macht ca. 240 Dateneinheiten pro Land. Gleichwohl rechneten wir bei der zufälligen Auswahl der Schulen keineswegs mit einer statistischen Repräsentativität der Ergebnisse. Hier haben uns die Ergebnisse, entgegen der statistischen Zurückhaltung, eines Besseren belehrt. Waren nach Eingang von fünf Schuldaten eines Landes die Ergebnisse auch noch recht disparat, konnten wir bereits nach zehn den groben Trend feststellen. Nach fünfzehn Schulrückläufen hatte sich dann eine statistische Abweichung ergeben, die nur noch so gering war, dass wir die ausstehenden fünf Dateneinheiten fast voraussagen konnten. Im Unterschied zur vorsichtigen Ausgangsannahme, haben die Ergebnisse folglich erstaunlich verlässliche Werte erbracht. Gleichwohl blieben wir in unserer publizierten Studie auf der Seite der Mutter der Porzellankiste, also bei Trendbestimmungen. Wie sehen diese Trends nun aus? Ich nenne die drei wichtigsten: 1. Zunächst bestätigten sich die Grundannahmen in einer Weise, die das drastische Beispiel „Abiturwissen Geschichte“ eher zur Regel als zur Ausnahme werden ließ. Die untersuchten Länder in Europa zeigen eine erstaunliche Ig-

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noranz oder geringe Reflexionsstufe, was die inzwischen demographisch wie geographisch veränderte Kultursituation Europas betrifft. Die westlich-postchristliche Kultur gilt mehr oder minder bewusst als selbstverständliche Koordinate der Bildungsziele wie auch eines Großteils der Umsetzung in Unterrichtsmittel und im Unterricht selbst. Wenn in geringem Maß auch auf jüdische und islamische oder muslimische Kulturelemente eingegangen wird, geschieht dies nicht selten unter Rubriken wie ausländische, fremde oder andere Kulturen, und umgekehrt begegnet unter der Überschrift „Erkenne Dich selbst“ oder „Finde Dich selbst“ die Beschreibung eines post-christlichen Weltbilds. Gelebtes Christentum bleibt weitgehend außen vor. 2. Gegenüber dieser die Problemanzeige verstärkenden, überdeutlichen Ergebnisse gewinnen die doch auch zahlreichen Beispiele guter Praxis in Curricula, Schulbüchern und Unterricht desto größere Bedeutung. Wir konnten weitgehend aus ihnen herausgearbeitet im letzten Teil der vorgelegten Studie immerhin viele Seiten mit Anregungen zusammentragen, die den künftigen Unterricht beflügeln können. 3. Allerdings wurden nicht nur Grundannahmen bestätigt. Eine der auffallendsten Korrekturen bestand in der Umkehrung des von uns vermuteten NordSüd-Gefälles. Da wir aus der Kenntnis vor allem der englischen Situation und, in geringerem Maße, der deutschen davon ausgingen, dass mit zunehmendem Direktkontakt der verschiedenen Kulturen und hin zu den Südgrenzen Europas ein Bewusstsein von Multikulturalität abnehmen würde, wurden wir eines Besseren belehrt. Lassen Sie mich die Länder in einer Art „Rating“ aufzählen, beginnend mit dem Land, in welchem der Unterricht zwar immer noch deutlich westlich-post-christlich dominiert ist, jedoch am stärksten von Toleranz und Multikulturalität – unter Einbeziehung jüdischer und islamischer Kultur – geprägt ist, hinführend zu den beiden Ländern, in denen noch am wenigsten das Bewusstsein herrscht, dass Europa mehr ist als eine Fortentwicklung des christlichen Rom und Konstantinopel: 1. Italien 2. Vereinigtes Königreich 3. Spanien20 4. Schweden 5. Deutschland 6. Finnland 7./8. Griechenland/Frankreich

20 Auch wenn man inhaltlich evtl. Spanien vor England den Vorzug geben kann, ist die Prominenz des multikulturellen Unterrichts im Vereinigten Königreich auffallend.

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Es war für uns auffallend, dass in der Gruppe der ersten vier sich gleich zwei südeuropäische Länder finden, Italien und Spanien. Deutschland steht in etwa dort, wo man es nach der PISA-Studie erwartet hätte, die Gruppe der letzten vier anführend. Was mögen die Gründe für dieses Ranking sein? Klar scheint uns, dass Länder, in denen Juden und Muslime eine lange Zeit einen wesentlichen Kulturanteil hatten und z. T. noch haben – von Griechenland und Frankreich einmal abgesehen – sich offensichtlich ihrer eigenen Historie und Gegenwart offensiver stellen. Dass Griechenland gerade erst im Umbruch ist, hat vielfache politische Gründe und hängt deutlich an der noch starken Dominanz der orthodoxen Kirche, in der es zwar wichtige ökumenische und interreligiöse Stimmen gibt, die jedoch aufs Ganze gesehen noch nicht die Bevölkerungsbreite vertreten. In Frankreich begegnet uns ein besonderes Phänomen, das bereits eine wichtige Begründung für das gute Abschneiden von Italien und Spanien liefert und ein Stück Ironie der Geschichte spiegelt. Der laizistische Staat Frankreich hatte in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts den Religionsunterricht aus den staatlichen Schulen verbannt und herausgestellt, dass „religiöse Unterweisung zur Domäne der Familie und Kirche, der Ethikunterricht hingegen zur Schule gehört“,21 was zur Folge hatte, dass auch in den privaten und sogar kirchlichen Schulen der Religionsunterricht abgeschafft werden musste, da diese Schulen alle dem verbindlichen staatlichen Curriculum folgen. Nun ist es aber, nach den Ergebnissen unserer Untersuchung, von den drei analysierten Fächern gerade der Religionsunterricht, der in allen Ländern Europas – wo vorhanden – die deutlichsten Signale der Toleranz und das Bewusstsein für Multikulturalität aussendet. Oder mehr noch, in den Fächern Geschichte und Sprache/Literatur wird häufig an den Religionsunterricht ausgelagert, was an Multikulturalität gelehrt werden könnte. Dass in Frankreich der Religionsunterricht ausfällt, hat zur Folge, dass dort weniger als in anderen Ländern innerhalb der Primar- und Sekundarbildung auf islamische und jüdische Kulturbereiche eingegangen und so ein Klima toleranten Umgangs durch die Bildung vorbereitet wird. Die Revolution frisst ihre eigene Kinder. Das „Phänomen Deutschland“ ist etwas anders gelagert. Die größten Widerstände in Deutschland bilden die fehlende multikulturelle Hochschulausbildung von künftigem Lehrpersonal in Geschichte, Sprache / Literatur und Religion und das preußische und napoleonische Beamtenbewusstsein. Das deutsche Hochschulwesen ist nach wie vor stark disziplinenorientiert und, was für die Kulturausbildung besonders hinderlich ist, es gibt kaum Gelegenheiten, bei denen Lehramtskandidaten Judaistik, Islam und gegebenenfalls andere Religionskulturen studieren können. An keiner deutschen Fachhochschule und nur an wenigen Universitäten gibt es darüber hinaus Kulturwissenschaften; und religionsübergreifende Theologie- und Kulturfakultäten, wie etwa meine eigene in Birmingham, fehlen weithin in Europa und speziell in Deutschland, wo es le21 Lettre de Jules Ferry aux instituteurs, 1883.

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diglich entweder protestantische oder katholische theologische Fakultäten gibt. Die autoritätsgeleitete Mentalität in Deutschland, die während unserer Untersuchung deutlich zutage trat, führt überdies dazu, dass sie die naturgemäß immer etwas veralteten Curricula – und seien sie auch in den vergangenen 20 Jahren überarbeitet worden – als bindend betrachtet, die dortigen Vorgaben in Schulbücher überträgt, die auch in den aktuellsten Ausgaben nur wenig über die Curricula hinausgehen, und schließlich den Unterricht ängstlich bestimmt. Es waren schier unüberwindbare juristische Schwellen, die wir zu überwinden hatten, um über kultusministerielle Genehmigungen Lehrer und Schüler die Mitarbeit ermöglichen zu lassen, wie auch die Skepsis vor allem des Lehrpersonals, dass im Unterricht Themen wie Dialog, Trialog oder Multikulturalität bewegt und damit politisch etwas vorweggenommen werden sollte, bevor es die Politik selbst beschlossen und verordnet hatte. Hiergegen spürte man in Ländern wie Italien, Großbritannien und Spanien, dass man wesentlich kreativer mit etwaig einschränkenden, eben überkommenen curricularen Vorgaben umgeht und die Gegenwartssituation in den Blick nimmt. Die Untersuchung belegt und erklärt, dass wir im Bildungswesen kaum über den Horizont eines 85-jährigen Altbundeskanzlers hinaus gelangen, wenn wir nicht gründlich reformieren. Hierzu kann der Bologna-Prozess ein Ansatz sein, vor allem dann, wenn wir noch weiter begründen und untermauern, dass eine säkulare Gesellschaft wesentlich multikulturell geprägt ist und sein wird, und Multikulturalität kein Gegensatz zu den Religionen in ihr darstellt, jedenfalls zu solchen Religionen, die keinen universalistischen politischen Anspruch erheben. Allerdings, und hier würde ich Habermas Recht geben und ihn entgegen seiner eigenen Weiterentwicklung fortschreiben, bleiben Religionen gleich welcher Art per se gegenüber der säkularen Gesellschaft rechtfertigungspflichtig und dürfen, auch wenn sie nur partikulär oder sogar tolerant ausgerichtet sind, nicht diese bestimmen, sondern müssen sich umgekehrt in ihr – und zwar in einem multikulturellen Umfeld – bewegen. Dies wird ihnen vermutlich auf Dauer in einer demokratisch säkularen Gesellschaft, die in meinen Augen erklärtes Ziel ist, nur dann gelingen, wenn die Religionen die geschichtliche Realität ihrer Weiterentwicklung, ihres Verschwindens und ihrer Transformation gewärtig sind.

Islamischer Konservatismus der AKP als Tarnung für den politischen Islam? Die Türkei zwischen Europa und dem Islamismus Bassam Tibi Pluralismus und Fundamentalismus verhalten sich zueinander wie Feuer und Wasser; sie vertragen sich eindeutig nicht. Der Islamismus des politischen Islam ist eine der vielen Spielarten des religiösen Fundamentalismus.1 Im Gegensatz dazu gewährt der Pluralismus2 Vielfalt. Doch ist kulturelle Vielfalt nicht mit Werte-Relativismus zu verwechseln oder gleichzusetzen. Pluralismus setzt parallel zur Zulassung der Vielfalt einen Konsens über Kernwerte und Grundregeln voraus, wohingegen multikulturelle Kulturrelativisten unter Vielfalt „anything goes“, also Wertebeliebigkeit verstehen. Die Grundannahme dieses Papers lautet, dass der religiöse Fundamentalismus in Konflikt zu beiden Auffassungen steht, weil er Vielfalt generell ausschließt und auf einem religiösen Neoabsolutismus fußt. Die Religionsfreiheit gehört zu den primären Errungenschaften der kulturellen Moderne Europas.3 Diese Thematik betrifft die Öffnung Europas zu anderen Kulturen im Rahmen der Erweiterung der Europäischen Union, die sich als Wertegemeinschaft begreift. Welche Grenzen besitzt der Pluralismus bei der Aufnahme von Ländern, die keine westlich-europäische Kultur haben?4

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Diese Erkenntnis gehört zu den Forschungsergebnissen des Fundamentalismus-Projekts der American Academy of Arts and Sciences (1989–1993). Das Endprodukt, hg. von Martin Marty und Scott Appleby, wurde 1990–1995 in 5 Bänden veröffentlicht. Ich war Mitglied des Projektes und bin Mitautor von Band 2, Fundamentalism and Society, Chicago 1993. Eine Zusammenfassung der Ergebnisse dieses Projekts ist enthalten in Bassam Tibi, Fundamentalismus im Islam, 3. erw. Ausgabe Darmstadt 2002, S. 14–20. Vgl. John Kekes, The Morality of Pluralism, Princeton, NJ 1993. Hierzu grundlegend: Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt a. M. 1985. Es ist bedauerlich, dass Habermas sich im fortgeschrittenen Alter von dieser Position abwendet. Hierzu vgl. Tibi, Habermas and the Return of the Sacred. In: Religion-Staat-Gesellschaft, 3 (2002) 2, S. 265–296. Vgl. hierzu die Amsterdamer Debatte vom Mai 1994, bes. zwischen Gellner und Geertz, enthalten in: Erasmus Foundation (Hg.), The Limits of Pluralism. Neo-Absolutisms and Relativism, Amsterdam 1994 (auch mit Beiträgen von Shlomo Avineri und Tibi). Diese Debatte wird aufgenommen und weitergedacht in Tibi, Europa ohne Identität? München 1998, Neuausgabe mit dem neuen Untertitel „Leitkultur oder Wertebeliebigkeit“ 2002. Zur Amsterdamer Debatte: S. 156–160.

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Bassam Tibi

Die EU-Erweiterung scheint nicht nur die Grenzen der westeuropäischen Zivilisation innerhalb Europas zu betreffen. Zusätzlich zu den Aufnahmeländern im slawischen Osteuropa, das zu einer anderen Zivilisation gehört, kommt nun sogar ein primär in Asien liegendes und außerdem islamisches Land, nämlich die Türkei, hinzu. In diesem Kontext stellt sich die ebenfalls zum Erweiterungsprojekt gehörende Frage, ob die Formen der Koexistenz im kulturellen Dissens, in ihrer Anwendung auf die Türkei, also jenes islamischen und nahöstlich-vorderasiatischen Landes, das der EU beitreten möchte, in Einklang mit den Werten Pluralismus und Freiheit der Religion, die zur zivilisatorischen Identität Europas gehören (vgl. Anm. 4), unbeschädigt bleiben. Der Begründer der modernen Türkei, Kemal Atatürk, pflegte die Vision der Europäisierung seines Landes, die allerdings nur teilweise gelungen ist und heute von türkischen Islamisten in Frage gestellt wird. Doch muss positiv angeführt werden, dass die Türkei unter den 57 Mitgliedern der OIC das einzige Land ist, das einen relativ bemerkenswerten Europäisierungshintergrund5 vorweist, der allerdings durch den auch dort auftretenden zeitgenössischen Islamismus6 gefährdet ist. Denn auf der Agenda des politischen Islam steht die „Entwestlichung“ als Programm, auch wenn dies in der Türkei nicht explizit, sondern zweideutig zum Ausdruck gebracht wird. Die heute in der Türkei regierende AKP-Partei verwendete die Tarnung „islamischer Konservatismus“, um ein Verbot durch das Verfassungsgericht – so wie bei allen ihren vier Vorgängern – zu vermeiden. Das Thema lautet daher: Die Türkei zwischen Europa und dem Islamismus, d. h. zwischen der Werteorientierung von zivilgesellschaftlichem Pluralismus der Religionsfreiheit versus illiberalem Islamismus. Die AKP verleugnet ihre islamistische Herkunft und Wurzel. Ich frage: Wie glaubwürdig ist es, wenn die AKP sich als islamisch-konservativ präsentiert? Die anstehende Abhandlung enthält im Titel diese Frage mit der Annahme, dass die Selbstdarstellung als islamischer Konservatismus nur eine Tarnung des Islamismus ist, der im Kontrast zur Religionsfreiheit und zum Pluralismus steht.

1.

Einführung

Die anstehende Thematik von Religion und Pluralismus ist aus der Perspektive der EU-Erweiterung nicht nur zentral, sondern auch schicksalhaft für Europa. Der Sachkenner staunt über den ausgesprochen niedrigen Informationsgrad parallel zu dem hohen Grad an Diffamierung und Polemik in der europäischen, vor allem deutschen Debatte über diesen Gegenstand, sei es unter Journalisten oder unter Politikern. In dieser Situation besteht ein Bedarf an Information und 5 6

Grundlegend zum historischen Hintergrund: Bernard Lewis, The Emergence of Modern Turkey, Neuausgabe Oxford 1979, darin zur kemalistischen Republik: S. 239 ff., 294 ff. Vgl. Marvine Howe, Turkey. A Nation Divided Over Islam’s Revival, Boulder, Col. 2000, bes. Kap. 15, S. 179–194.

Die Türkei zwischen Europa und dem Islamismus

231

Aufklärung, wozu die vorliegende Abhandlung beitragen will. Vorab möchte ich unvoreingenommen nicht nur Ignoranz über diese Thematik feststellen, sondern jene systematisch betriebene politische Zensur und Selbstzensur über diesen Gegenstand beanstanden. Vor der Empfehlung zu Aufnahmeverhandlungen durch die EU-Kommission berichtete der FAZ-Korrespondent aus Brüssel, dass in der EU-Türkei-Beitritts-Debatte „die großen Fragen entweder gar nicht, oder nur hinter vorgehaltener Hand angesprochen werden.“ Bereits zuvor bemängelte der FAZ-Leitartikler Nikolas Busse, dass die beiden enthusiastischen Befürworter des Beitritts, Bundeskanzler Schröder und sein Außenminister Joschka Fischer, statt Argumente vorzutragen, die Skeptiker und Kritiker in die Nähe von Fremden- und Islamfeindlichkeit bringen.7 Dabei wird beiden – nicht nur von Fachleuten der internationalen Politik und der sozialwissenschaftlichen Islam-Forschung – sondern auch von prominenten Leitartiklern – etwa Wolfgang Münchau – „Unfähigkeit zum strategischen Denken“ bescheinigt; denn beide – er nennt sie „eitle Amateure“ – haben sich als „unfähig erwiesen wie noch keine deutsche Regierung zuvor“.8 In einem bemerkenswerten Zeit-Essay vom 25. November 2004 hat der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt sehr diskret darauf angespielt, dass heutige EU-Politiker keine staatsmännischen Perspektiven haben, und klar artikuliert, dass „in früheren Zeiten Regierungschefs der Europäischen Gemeinschaft tatsächlich weltpolitische Interessen Europas wahren“ konnten. Heute tun sie es nicht. In diesem Beitrag geht es um Religion und Pluralismus, nicht um Außenpolitik. Doch im Zeitalter des politischen Islam und seiner weltpolitischen Ansprüche (man denke an den 11. September 2001) ist Religion in politisierter Gestalt ein Gegenstand der internationalen Politik geworden.9 Der politisierte Islam agiert als internationalistischer Islamismus und wirft somit Fragen nach den Grenzen der Freiheit der Religion auf. Denn Islamisten beleben die islamische

7 8

9

Vgl. Horst Bacias Bericht aus Brüssel, Bolkensteins Rede, Fischlers Brief. In: FAZ vom 11. 9. 2004, S. 6; Leitartikel von Nikolas Busse, Das türkische Geschäft. In: FAZ vom 9. 8. 2004. Vgl. Wolfgang Münchau, Eitle Amateure. In: Financial Times Deutschland vom 28. 9. 2004, S. 30. Schröder ist sowohl zynisch als auch berechnend und es kommt ihm bei seiner Entscheidung lediglich auf das Wahlverhalten der eingebürgerten Türken (ca. eine halbe Million) an; Fischer dagegen ist so illusionär, dass er an eine – mit Hilfe der Türkei (sic!) zu verwirklichende – europäische Weltmacht als Gegengewicht zu den USA glaubt. Diese Erscheinung war bereits vor dem 11. September 2001 sichtbar und auch Gegenstand der Forschung, so in einem Projekt der London School of Economics. Die Ergebnisse sind im Themenheft „Religion and International Relations“ der Fachzeitschrift Millennium, 29 (2000) 2 erschienen. Darin Tibi, The Post-Bipolar Order in Crisis: The Challenge of Political Islam, S. 843–859; vgl. außerdem den allgemeinen Überblick von Nazih Ayubi, Political Islam, London 1991 sowie die Analyse von Tibi, The Challenge of Fundamentalism. Political Islam and the New World Disorder, Berkeley 1998 (aktualisierte Neuausgabe 2002), deutsche Übersetzung: Die neue Weltunordnung, Berlin 1999.

232

Bassam Tibi

Einordnung von Nicht-Muslimen als „Ungläubige“ oder als „Dhimmis“10 aufs Neue; sie verbinden diese Weltanschauung mit Rechts- und Ordnungsvorstellungen, die totalitär, d. h. in starkem Kontrast zum politischen, religiösen und kulturellen Pluralismus stehen.11 Die Religion wird auch in einem anderen Zusammenhang bezüglich unseres engen thematischen Schwerpunkts – der Türkei – berührt, nämlich, wenn die Vorbehalte gegen den Türkei-Beitritt von dem AKP-Vorsitzenden Erdogan mit dem herabsetzenden Vorwurf „Europa ist ein Christen-Club“ inkriminiert werden. Kein europäischer Politiker kommt hierbei auf die Idee, dass mit dieser Polemik das zum Ausdruck kommt, was Ursula Spuler-Stegemann „Feindbild Christentum im Islam“12 genannt hat: Bei diesen Polemiken werden zudem die säkularen Errungenschaften Europas bestritten, indem die EU als Christenverein verfemt wird. Die Islamisten, die gegen die Europäer die Keule vom „Christen-Club“ verwenden, kennen nicht nur keine Religionsfreiheit, sondern verstehen unter Toleranz lediglich die Duldung von „Dhimmitum“ (vgl. Anm. 10). Der Ausgangspunkt hierbei ist die Hypothese, dass sich die Türkei seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts in einem inneren Konflikt in Bezug auf die eigene Identität befindet. Dabei steht die Spannung zwischen der Zugehörigkeit zu einem säkularen Europa und dem neuen Identitätsmuster des aufblühenden Islamismus im Mittelpunkt. Zu dieser Hypothese gehört auch die auf Beobachtungen vor Ort basierende Annahme, dass die heutige Türkei unter der politischen Herrschaft der Islamisten, die das Land seit dem Wahlsieg vom November 2002 regieren, schleichend aber beständig desäkularisiert wird. Es wird weiterhin bestritten, dass die AKP („Partei der Gerechtigkeit und Entwicklung“), wie ihre Führer Tayyip R. Erdogan und Abdullah Gül (beide waren prominente Führungspersönlichkeiten vorheriger islamistischer Parteien, zuletzt der verbotenen „Fazilet-Partisi“) behaupten, lediglich islamisch-konservativ sei. Ich behaupte, dass die AKP islamistisch verwurzelt ist, d. h. sie hat den politischen Islam – ihre Herkunft – nicht völlig aufgegeben. Unter De-Säkularisierung verstehe ich die schleichende Islamisierung des Landes, zu der die Neurekrutierung von islamistischen – u. a. in den Imam-Hatip-Schulen erzogenen – Gegeneliten13 gehört. Diese lösen die bisherigen säkular und europäisch orientier10 Im orthodoxen Islam werden Nicht-Muslime in zwei Kategorien unterteilt: In Kuffar/ Ungläubige, die zu töten sind, und in Dhimmi/geschützte Minderheiten (alleine Monotheisten, d. h. Christen und Juden), die jedoch als Gläubige zweiter Klasse eingestuft werden. Im Islam wird die Duldung von Juden und Christen als Dhimmis als Zeichen der Toleranz gedeutet, wenngleich dies nach heutigem Verständnis in krassem Widerspruch zu religiösem Pluralismus (Gleichheit aller Religionen) steht; vgl. dazu die ausgezeichnete Arbeit von Bat Ye’or, Islam and Dhimmitude, Cranbury, NJ 2002. 11 Hierzu Tibi, Der neue Totalitarismus. Heiliger Krieg und westliche Sicherheit, Darmstadt 2004. 12 Vgl. Ursula Spuler-Stegemann (Hg.), Feindbild Christentum im Islam, Freiburg i. Brsg. 2004. 13 Zur Problematik westlich-orientierter Eliten und islamistischer Gegeneliten im Wettbewerb um die Macht vgl. Tibi, The Fundamentalist Challenge to Secular Order in the Middle East. In: Fletcher Forum for World Affairs, 23 (1999) 1, S. 191–210 (hervorge-

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ten Eliten sukzessive ab. Das beste Beispiel hierfür ist Premierminister Erdogan selbst, der als erster Imam-Hatip-Absolvent das früher ausschließlich für Kemalisten mit säkularer Bildung und Orientierung vorbehaltene Amt des Ministerpräsidenten bekleiden kann. Zu der erläuterten Arbeitshypothese dieser Untersuchung kommen noch die folgenden: Erstens: Unabhängig von dem Wunsch der Türkei, ein EU-Mitglied zu werden bzw. von den diesbezüglichen Vorbehalten, ist Europa allein deshalb schon kein „Christen-Club“, weil es bereits im Übergang vom karolingisch geprägten christlichen Abendland zur westlichen Zivilisation im Rahmen der Renaissance eine andere zivilisatorische Identität bekommen hat. Vielleicht weil diese historischen Kenntnisse fehlen, hat bisher kein europäischer Politiker mit diesem Hinweis auf Erdogans – bis zur Langeweile wiederholten – Vorwurf des Christen-Clubs reagiert. Seit der Renaissance hat das okzidentale Europa eine westlich-säkulare Identität, obwohl die Mehrheit seiner Bewohner aus Christen besteht. Der Zivilisationshistoriker Leslie Lipson beschreibt diesen Sachverhalt wie folgt: „The difference [...] before and after Renaissance [...] can be summarized in one sentence [...] The main source of Europe’s inspiration shifted from Christianity back to Greece, from Jerusalem to Athens.“14 Aus dieser Fachaussage eines prominenten Zivilisationshistorikers geht hervor, dass die Athen-Orientierung des Hellenismus und nicht das Christentum mit seinem Blick auf Jerusalem die europäische Identität seit der Renaissance und Aufklärung prägt. Es gehört zur islamistischen Propaganda, das Gegenteil zu behaupten, um Europäer als die neuen Kreuzzügler zu verfemen, ohne selbst jemals dem Djihad abgeschworen zu haben. Zweitens: Wenn es zutrifft, dass die EU sich als eine säkulare Wertegemeinschaft definiert, deren europäische Identität durch die säkularen Werte Demokratie, Laizität, Zivilgesellschaft, individuelle Menschenrechte und Pluralismus sowie durch eine gemeinsame Geschichte bestimmt ist, dann ist Europa inklusiv. Dies bedeutet, dass ein Individuum (z. B. ein islamischer Migrant wie meine Person) oder ein Land (z. B. die Türkei) dieser Wertegemeinschaft auf der Basis der Europäisierung15 beitreten kann. Die Einbeziehung des Islam in Eugangen aus einem Forschungsprojekt unter Leitung von Prof. Samuel P. Huntington an der Harvard Academy for Area and International Studies). 14 Leslie Lipson, The Ethical Crises of Civilization, London 1993, S. 62–64. Die im Text angeführte Entwicklung Europas zu einer säkularen westlichen Zivilisation wird mit Belegen in Tibi, Kreuzzug und Djihad. Der Islam und die christliche Welt, München 1999 (Neuausgabe 2002), Kap. 5 nachgezeichnet. Der Historiker H. A. Winkler hat im Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung unter dem Titel „Europas Leichtsinn“ vom 12.12. 2004 (S. 9) Erdogans Polemik vom „Christen-Club“ als „abträglich gemeine Äußerung [...] und herabsetzend“ zu Recht kritisiert und bedauert, dass sie sogar „von europäischen Politikern wiederholt wird“. 15 Das hier verwendete Konzept der Europäisierung wurde 2004 im Rahmen des Cornell University-Projekts „Transnational Religion and Accession“ in Bezug auf die EU-Erweiterung, wenngleich mit anderen Akzenten, von mir entwickelt. Mein Europäisierungsverständnis weicht von dem des Projektleiters Prof. Peter Katzenstein und von jenem

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Bassam Tibi

ropa kann nur durch die Erfüllung des Kriteriums der Europäisierung zu einem Euro-Islam16 erfolgen. Orthodoxer Islam steht im Konflikt mit europäischen Werten, vor allem des Pluralismus und der Religionsfreiheit; deshalb erfordert eine Europäisierung des Islam erhebliche Religionsreformen, die ihn erst in Einklang mit folgenden europäischen Grundwerten bringen: Zunächst sind 1.) Pluralismus und 2.) die Trennung zwischen Religion und Politik (laïcité) die Basis für jede normative Begründung der Religionsfreiheit. Dann bilden 3.) Demokratie und 4.) Zivilgesellschaft sowie 5.) individuelle Menschenrechte die unverzichtbaren Grundlagen für die institutionelle Sicherung eben dieser Freiheit. Jegliches Gerede über Religionsfreiheit ohne die Erfüllung dieser Grundvoraussetzungen bleibt nicht nur ohne Basis, sondern ist auch gefährlich für die Zukunft Europas, dessen Identität durch eine Verwandlung in ein „Euroarabia durch Islamisierung“ im Namen der Religionsfreiheit verloren gehen könnte. Das ist keine Panikmacherei, weil dies eines der Szenarien für die Zukunft Europas ist. Es liegt an den Europäern und Muslimen, ob es Ende dieses Jahrhunderts Realität wird. Was haben diese beiden Prämissen mit dem Beitritt der Türkei zur EU zu tun? In einem Streitgespräch über die anstehende Thematik in der Zeitschrift Focus17 (zwischen dem prominenten Türken Faruk Şen und dem bekannten Historiker H. A. Winkler) wurde von türkischer Seite erneut der Vorwurf erhoben, Europa wolle die Türkei „wegen der kulturellen Unterschiede und wegen des Islam nicht haben“, und wie stets, wenn das Beitrittsvorhaben abgelehnt wird, folgte der Vorwurf, die EU erweise sich als „eine christlichabendländische Gesellschaft, zu der der Islam nicht gehöre.“ Darauf hat Winkler geantwortet: „Die politische Kultur der Türkei hat noch einen ganz großen Verwestlichungsbedarf [...] Die Türkei kann EU-Mitglied werden [...], wenn sie eine westliche Gesellschaft und eine pluralistische Demokratie westlichen Musters geworden ist [...] Die Türkei als eine islamisch geprägte, aber pluralistische Zivilgesellschaft wäre in der EU willkommen. Der Weg dorthin ist aber sehr viel länger.“ Nun zitiere ich Winkler, wissend, dass er ein Historiker ist, der weder Islamnoch Türkei-Experte ist. Dennoch sind seine Ansichten über eine reformerische Liberalisierung des Islam sowie die Europäisierung als Voraussetzungen für eiTim Byrnes ab. Meine Position wurde bereits in einer Istanbuler Zeitschrift veröffentlicht: Tibi, Euro-Islam. The Quest of Islamic Migrants and of Turkey to Become European in a Secular Europe. In: Turkish Policy Quarterly, 3 (2004) 1, S. 13–28. 16 Ich habe das Konzept des Euro-Islam zwischen 1982–1992 entwickelt und erstmals in Paris vorgestellt: Tibi, Euro-Islam und Ghetto-Islam. In FAZ vom 7.12.1992, S. 14. Das entsprechende Paper erschien später in: Robert Bistolfi/Francois Zabbal (Hg.), Islams d’Europe, Paris 1995, S. 230–234. Zur Geschichte und zum Inhalt des Konzepts: Tibi, Im Schatten Allahs, völlig neu geschriebene und erweiterte Neuausgabe München 2003, Kap. 12. Im Themenheft „Islam in Europa“ des Londoner Magazins TIME vom 24.12. 2001 wurde anerkannt: „Tibi coined the term Euro-Islam“, S. 49. 17 Die Zitate von Faruk Şen und H. A. Winkler sind ihrem Streitgespräch „Ein Beitritt überfordert Europa“. In: Focus, (2004) 40 vom 27. 9. 2004, S. 226–232, entnommen.

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nen EU-Beitritt der Türkei sachlich richtig. Als Islam- und Türkei-Experte18 weiß ich, dass es falsch ist, so wie der geschätzte Faruk Şen es leider tut, zu behaupten, dass „der Säkularisierungsprozess in der Türkei [...] sehr wohl vollendet (und) der Islam vollständig liberalisiert worden ist.“19 Es ist legitim, die Interessen der Türkei zu verteidigen, nicht aber, dabei die historischen Fakten über Bord zu werfen. Die Hypothese der vorliegenden Studie, nämlich, dass sich die Türkei im Konflikt zwischen Europa und dem Islamismus befindet, gründet auf der aus der Forschung stammenden Erkenntnis, dass die dortige, vom Kemalismus nach der Abschaffung des Kalifats 1924 eingeleitete Säkularisierung auf einer „Revolution von oben“ basierte; sie ist eben nicht nur „unvollendet“, sondern sogar leider gescheitert. Die von Marvine Howe untersuchte Erscheinung des politischen Islam in der Türkei (vgl. Anm. 6) beweist dies. Säkularisierung ist ein Prozess. Dagegen ist der Säkularismus20 eine Ideologie. Heute findet in der Türkei – wie generell in der Welt des Islam – ein Prozess der De-Säkularisierung21 statt. Die Untersuchung des Wandels der Türkei als einer von einem kemalistischen Modell bestimmten Republik zu einem Land, das heute von einer islamistischen Partei unter dem Deckmantel des islamischen Konservatismus regiert wird, kann helfen, die anstehenden Fragen fundiert und ohne Polemik zu beantworten. Der Ausgangspunkt hierbei ist der verordnete Säkularismus, der im Rahmen der Auflösung der islamischen Ordnung eine säkulare Republik legitimierte. Heute findet eine Politisierung des Islam im Kontext einer Krise des Kemalismus statt. Die angeführte Hypothese über die Türkei als ein Land in der Spannung zwischen Islamismus und säkularer Republik steht diesbezüglich im Mittelpunkt. Die Träger der Entsäkularisierung sind die Kräfte des politischen Islam, die heute an der Macht sind. Das angesprochene Phänomen ist keine türkische, sondern eine gesamtislamische Erscheinung, die heute die Türkei trotz der vermuteten Immunität des säkularen kemalistischen Staates erreicht hat. Die Säkularität der Türkei ist brüchig geworden. Diese Brüchigkeit hängt auch damit zusammen, dass die Säkularisierung niemals die Kultur und Gesellschaft des Landes durchdrungen hat. Die Türkei hat einen säkularen Staat, aber keine Zivilgesellschaft. 18 Vgl. Tibi, Aufbruch am Bosporus. Die Türkei zwischen Europa und dem Islamismus, München 1998. Die türkische Ausgabe dieses Buches erschien 2000 in Istanbul unter dem Titel Bogaz’in Iki Yakasi. Vgl. ferner ders., Mit dem Kopftuch nach Europa? Die Türkei und die EU, Darmstadt 2005. 19 Faruk Şen (Anm. 17). Dagegen spricht die Analyse von Ellen K. Trimberger, Revolution from Above, Military Bureaucrats and Development in Japan, Turkey, Egypt, and Peru, New Brunswick, NJ 1978, bes. S. 112. Hier wird auf Forschungsbasis das genaue Gegenteil zu Şens Position vertreten. 20 Vgl. Niyazi Berkes, The Development of Secularism in Turkey, New York 1998 (Neuausgabe). Zur Deutung der „Revolution von oben“ vgl. Trimberger, Revolution. Zur Wiederkehr des Islam als Islamismus in der Türkei vgl. Howe, Turkey. 21 Hierzu: Tibi, Secularization and De-Secularization in Islam. In: Religion-Staat-Gesellschaft, 1 (2000) 1, S. 95–117.

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Im Rahmen der versuchten Europäisierung hat der Republikgründer Atatürk die bisherige zivilisatorische osmanische Identität des Landes und dessen islamisch-imperiale Vergangenheit quasi gelöscht. Die Islamisten versuchen heute diesen Prozess umzukehren und zwar nicht nur in der Türkei selbst, sondern auch in der Moscheevereinskultur der türkischen Diaspora in Europa. Dies verdeutlicht die Benennung vieler Moscheen nach den großen osmanischen Eroberern („Fatih“). Dies ist als Trend sehr ernst zu nehmen. Man darf sich nicht täuschen lassen wenn die neuen Islamisten unter dem Banner ihrer neuen Partei vehement für den Anschluss an Europa eintreten. Es stellt sich vielmehr die Frage, ob der real bestehende Konflikt zwischen türkischen Islamisten und Säkularisten somit überwunden ist. Ist es wahr, dass die neuen Islamisten islamischkonservativ, also auch säkular orientiert sind – etwa vergleichbar mit der christlichen Gesinnung der Unionsparteien? Die angeführten Fragen werden im Folgenden anhand der Entwicklung der Islamistenparteien seit der Gründung der Türkei näher erörtert. Der zeithistorische Prozess der Entwicklung vom säkularen Kemalismus als kulturelle Europa-Orientierung eines islamischen Landes zum heutigen, vielformigen politischen Islam bildet den Rahmen für die Analyse. Verbal bekennen sich die neuen türkischen Islamisten der AKP auch öffentlich zur Trennung von Religion und Politik. Mit diesen Lippenbekenntnissen geben sie den bisherigen ideologischen Abstand zum Kemalismus und zu seiner Laizität auf. Ich halte fest: Wenn diese verbalen Äußerungen und Zusicherungen zuträfen, dann wäre die AKP keine Islamistenpartei mehr, also tatsächlich nur „islamisch-konservativ“. Denn schon bei der Definition steht jeder Islamismus im Gegensatz zu jeglicher säkularen Orientierung. Islamismus bedeutet den Ruf nach einer islamischen, von der Schari’a geleiteten Ordnung. Entsprechend heißt den Islamismus aufzugeben, auch die Forderung nach einer islamischen Ordnung fallen zu lassen. In diesem Fall können wir nicht mehr von einem politischen Islam sprechen. Doch dieser besteht in der Türkei in Bezug auf die AKP fort. Die Unfähigkeit der Kemalisten, die Wahlen vom November 2002 sowie zuvor vom September 1995 zu gewinnen und eine dauerhafte stabile Regierung zu bilden, hat sie zerrüttet und die Islamisierung der türkischen Politik gefördert. Dies ist eine der Grundannahmen der vorliegenden Abhandlung. Der Prozess der Politisierung des Islam ist viel älter als Erdogan und seine AKP-Partei. Im Westen wollen viele Politiker die türkischen Realitäten nicht erkennen. So nimmt man die Selbstdarstellung der Islamisten als demokratischmuslimische Konservative für bare Münze und schenkt ihnen Glauben, ohne diesen Anspruch zu prüfen. Die EU hat den säkularen Kemalisten vier Jahrzehnte lang die kalte Schulter gezeigt, öffnet aber heute den Islamisten der AKP das Tor zu Europa. Liegt dies an einer Kurzsichtigkeit europäischer Politiker, die Helmut Schmidt in seinem bereits zitierten Zeit-Artikel beklagte, oder ist dies dem Zustand „Europa ohne Identität?“ (vgl. Anm. 4) anzulasten? Europa ist angesichts islamischer Zuwanderung von der Politisierung des Islam zu einem Islamismus jedenfalls direkt betroffen.

Die Türkei zwischen Europa und dem Islamismus

2.

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Vom Kemalismus zum Islamismus: Die Wende in der Türkei

Die Politisierung der Religion, die in der Türkei stattfindet, ist eine weltpolitische Erscheinung – sie wird „religiöser Fundamentalismus“22 genannt –, die global zu beobachten ist. Die „Macht der Religionen“23 in der Weltpolitik ist heute in der postbipolaren Zeit eine unübersehbare Erscheinung geworden. In der Welt des Islam ist dieser Prozess sowohl religiös als auch kulturell binnendifferenziert. Wir müssen sowohl zwischen den friedlichen, also in den Institutionen arbeitenden Islamisten und den islamischen Djihadisten als auch zwischen wahhabitischen Sunniten und Khomeini-Schiiten unterscheiden. Die institutionellen, also friedlichen Islamisten der Türkei bekennen sich zur Demokratie und haben auf dieser Basis die Wahl vom November 2002 gewonnen und hierbei institutionell die Macht friedlich erobert. Beim Vergleich beispielsweise mit dem politischen Hinduismus muss hervorgehoben werden, dass der Islamismus eine politische Religion mit universellen Ansprüchen ist. Zwar strebten auch die alten Osmanen mit ihren „Gaza“ (Eroberungen) eine islamische Weltordnung an, doch ist der Universalismus des religiösen Fundamentalismus im Islam ein modernes Phänomen unserer Zeitgeschichte; seine Forderungen beruhen nicht nur auf einer Neubelebung der alten universellen Ansprüche, sie stehen auch – wenngleich ungewollt – im Kontext der Moderne. Die Türkei hat eine große osmanische Vergangenheit, auf die sich die bisherigen Islamisten unter Necmettin Erbakan und seiner Refah-Partei beriefen. Auf diese Tradition berufen sich die neuen Islamisten – zumindest öffentlich – nicht mehr, weil sie eine Europa-Orientierung vorgeben. Die anstehenden Zusammenhänge lassen sich anhand der türkischen Entwicklung vom Kemalismus zum Islamismus illustrieren. Die neuen Islamisten der AKP haben die islamistische sowie neo-osmanische Rhetorik deshalb aufgegeben, weil sie erkannt haben, dass sie mit einer Europa-Orientierung ihre Ziele besser als mit dem fundamentalistisch geprägten Neo-Osmanismus ihres Ziehvaters Erbakan verfolgen können.24 Bedeutet dies, dass die Gefahr eines Fundamentalismus in der Türkei, die zur endgültigen Ablösung des Kemalismus führen könnte, nicht mehr besteht? Eine Antwort auf diese Frage kann nur eine Analyse der Politisierung des Islam in der Türkei bieten.25 In diesen Rahmen gehören auch die Netzwerke in der Dreiecksbeziehung zwischen der Türkei, Europa und der türkisch-islamischen Diaspora im Westen. In der Diaspora kann man diese Politisierung am Besten verfolgen. Bis heute sprechen die meisten in Europa lebenden Auslandstürken vom Leben in „gur22 Mehr zur Vision der Islamisten von einer islamischen Weltordnung in: Tibi, Fundamentalismus im Islam, Kap. 2, bes. S. 26–35. 23 Vgl. hierzu die ausgezeichnete Studie von Wilfried Röhrich, Die Macht der Religionen. Glaubenskonflikte in der Weltpolitik, München 2004. 24 Zum Neo-Osmanismus Erbakans vgl. Tibi, Aufbruch, Einleitung, Kap. 1 und 2. 25 Vgl. die Beiträge in Richard Tapper (Hg.), Islam in Modern Turkey, London 1994 (Neuausgabe); sowie Howe, Turkey.

238

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bet“ (der Fremde), wodurch ihre fehlende Integration zum Ausdruck kommt. Dies ist jedoch nicht nur ihnen, sondern auch der deutschen Gesellschaft anzulasten, die nicht integrationsfähig ist.26 Allerdings ist die Integration dieser Zuwanderer ein Bestandteil der europäischen Integration der Türkei und lässt sich davon nicht trennen. Integration heißt Europäisierung. Wenn dies in der Türkei jedoch nicht länger das Ziel der türkischen Islamisten ist, obwohl sie eine volle EU-Mitgliedschaft anstreben, dann stellen sich viele Fragen, die den EUBeitritt der Türkei in den Kontext der Integrationsverweigerung in der europäischen Diaspora platzieren. Es gibt Europäer, die sich dessen bewusst sind, jedoch glauben, dass mit der Aufnahme der Türkei unter der AKP-Islamistenregierung der allmähliche Niedergang des laizistischen Kemalismus aufgehalten werden könnte. Hierbei wird die fortschreitende Entkemalisierung und somit Entsäkularisierung der Türkei völlig übersehen. Um die Wende vom Kemalismus zum Islamismus zu verstehen, ist es erforderlich zu erklären, was unter der kemalistischen Revolution geschehen ist. Ich erinnere an meine Ausführung, dass Säkularisierung – anders als Säkularismus – keine Ideologie, sondern ein sozialer und politischer Prozess ist, der innerhalb der Gesellschaft stattfindet und auch eine kulturelle Dimension besitzt, die die Deutung der Religion betrifft. Der Kemalismus war ein Säkularismus, der eine Säkularisierung von oben herbeiführen wollte. Im Wesentlichen bezieht sich Säkularisierung als Prozess auf eine Binnendifferenzierung innerhalb der Gesellschaft, bei der die Religion zu einem Teilsystem wird.27 Hierbei gibt die Religion ihre integralen Ansprüche auf. Kulturell kann dieser Prozess nur erfolgreich sein, wenn er von Religionsreformen begleitet wird, die helfen, eine Trennung zwischen Religion und Politik zu verarbeiten, diese zu legitimieren und auch zu verinnerlichen. Nichts dergleichen fand in der Türkei unter dem Kemalismus statt. Der türkische Staat ist säkular, nicht aber die Gesellschaftsstrukturen des Landes. Die Trennung von Religion und Politik wurde per Dekret (ganz im alt-osmanischen Geist) verordnet. Kopftuch und Fes wurden auf diese Weise verboten. Ähnlich artikuliert sich heute die unter dem AKP-Regime verlaufende Entsäkularisierung: Männer, vor allem Klerikale, veranlassen ihre Frauen dazu, demonstrativ das Kopftuch als Opposition zum laizistischen Kemalismus zu tragen. Das Kopftuch wird auf diese Weise zum Symbol einer kulturell-religiösen Provokation. In diesem Rahmen ändert sich die Türkei nicht nur politisch, sondern auch in ihrer äußerlichen Erscheinung: Bereits die ersten sinnlichen Wahrnehmungen bei einem Gang durch die großen türkischen Städte werden dies einem Reisenden überdeutlich machen. In meinem frühe26 Mehr dazu in: Tibi, Islamische Zuwanderung. Die gescheiterte Integration, München 2002. 27 Vgl. Tibi, Secularization, sowie ders., Islam and Secularization. Religion and the Functional Differentiation of the Social System. In: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, LXVI (1980) 2, S. 207–222 und das Schlusskapitel in: ders., Die Krise des modernen Islam, Frankfurt a. M. 1991 (Neuausgabe), S. 172–201; beide Arbeiten sind in Anlehnung an die Religionssoziologie Niklas Luhmanns entstanden. S. hierzu Niklas Luhmann, Funktion der Religion, Frankfurt a. M. 1977, bes. Kap 4, S. 225–271.

Die Türkei zwischen Europa und dem Islamismus

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ren Türkei-Buch (vgl. Anm. 18 und auch Anm. 29) habe ich eine Analyse der Kopftuch-Problematik vorgelegt und belasse es deshalb bei diesem Hinweis. Fest steht, dass eine „post-kemalistische“ Entwicklung in der Türkei unübersehbar begonnen hat.28 Dort prallen zwei Anschauungen von zwei unterschiedlichen Welten aufeinander: Der türkische Islamismus und der säkulare Kemalismus. Man darf sich von dem beiderseitigen Bekenntnis zu Europa nicht täuschen lassen. An einem Symbol wird die „Kopftuchgesinnung“ der AKP, die mit dem europäischen Wert der Gleichheit von Mann und Frau unvereinbar ist, demonstriert. Daran sieht man, wie sehr sich die Türkei von heute verändert hat. Noch vor zwei Jahrzehnten hat sich das Erscheinungsbild der dort lebenden Menschen anders dargestellt. Die Veränderung hängt auch mit der durch Landflucht veränderten Zusammensetzung der urbanen Bevölkerung der Türkei zusammen. Inzwischen lebt mehr als die Hälfte der heute etwa 70 Millionen Türken in den Städten, die zudem durch die Landflucht stark „verslumt“ worden sind. In den großen türkischen Städten, so auch in Ankara und Istanbul, gehören die im Türkischen als „Gecekondu“ (über Nacht ohne Baugenehmigung errichtete Elendshütten) bezeichneten Slums inzwischen zum äußeren Stadtbild. Die Islamisten mobilisieren diese ursprünglich ruralen und nun formal zur städtischen Bevölkerung gehörenden Türken für ihre Politik der Islamisierung. Diese neuen Stadtbewohner sind ihren kulturellen Einstellungen nach weder Kemalisten noch urban. Deswegen wird der Wahlsieg der AKP als Sieg Anatoliens gegen Istanbul gedeutet (vgl. Anm. 28). „Anatolien“ äußert sich in der neuen islamistischen Bekleidung der türkischen Frauen (Kopftuch und zusätzlich ein langer Mantel) die man bei den Ehefrauen des Ministerpräsidenten Erdogan und seines Außenministers Gül wahrnehmen kann. Der noch amtierende kemalistische Staatspräsident Ahmet Sezer weigert sich, diese Frauen zu Staatsempfängen einzuladen. Sezer wird bald von der – durch die EU gestärkten – AKP durch einen Islamisten im Amt ersetzt werden. Die türkische Kollegin B. Toprak machte bei einem Treffen bei der Turkish Democracy Foundation in Istanbul folgende persönliche und ironische Bemerkung über die neue „Frauenuniform“: „Das ist doch keine türkische Tracht; der ‚Hidjab‘ [osmanischer Schleier] war im Gegensatz hierzu ästhetisch.“ Die türkische Soziologin Nilüfer Göle schreibt in ihrem Buch über die „Schleier-Problematik“, dass das zeitgenössische, noch relativ junge Phänomen der islamistischen Verschleierung der türkischen Frauen „eher ein Ausdruck des Konflikts mit der Moderne als einer Loyalität gegenüber der Religion des Islam“29 sei. Diese Aussage bestätigt die Annahme, dass das veränderte äußere Bild des öffentlichen Lebens den Wandel, vom Kemalismus zum Islamismus, in der Tür-

28 Vgl. Heinz Kramer, A Changing Turkey, Washington, DC 2000, bes. Kap. 5; s. hierzu auch das Schwerpunktheft der Zeitschrift Wirtschaftswoche (51/2002) mit dem Titel „Üropa“. In dem der Sieg Anatoliens über Istanbul problematisiert wird. 29 Nilüfer Göle, The Forbidden Modern. Civilization and Veiling, Ann Arbor, Mich. 1996, S. 4.

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kei anzeigt. Genau gesehen lässt sich festhalten, dass die „Kopftuch-Uniform“ als neue Kleidung den Konflikt zwischen einer laizistischen Türkei und dem politischen Islam zum Ausdruck bringt; sie wirkt symbolisch als „Emblem des Islamismus“, den die AKP vertritt. Über die Türkei hinaus ist dieser Konflikt auch ein solcher zwischen der islamischen und der westlichen Zivilisation. Es gilt als politisch inkorrekt, diese Realität zu erkennen und über sie zu sprechen. Bei solchen Denkverboten verleugnet Europa seine Identität30 und öffnet der Islamisierung Tür und Tor. Wie bereits angeführt, korrespondiert die Wende im Prozess der Entwicklung vom Kemalismus zum Islamismus auf allgemeiner Ebene mit dem Konflikt zwischen kemalistischen Eliten und von islamistischen Gegeneliten, beide stehen im Wettbewerb miteinander. Bisher war die Europa-Orientierung ein exklusives Merkmal der kemalistischen Elite. Dadurch, dass die neuen Islamisten, die seit November 2002 das Land regieren, ihr Land scheinbar mit Erfolg in die EU bringen wollen, werden die Linien zwischen beiden verwischt. Zum Hintergrund gehört die Bestrebung der Kemalisten, die Türkei von ihrer Zugehörigkeit zur islamischen Zivilisation im Rahmen eines Prozesses der Europäisierung abzulösen. Im Ergebnis lebt die Türkei heute „zwischen zwei Welten“,31 sowohl international als auch inner-gesellschaftlich. Bei den hier erörterten inneren Veränderungen in der Türkei ist Europa stärker als die USA betroffen. Aus der US-Perspektive ist die Zugehörigkeit der Türkei zum Westen allein eine geostrategische Angelegenheit der Weltpolitik. Dies hat auch Helmut Schmidt in seinem zitierten Zeit-Essay bemerkt. US-Strategen benötigen die Türkei für ihre Politik im Nahen Osten, dem Balkan und im von Turkvölkern bewohnten Zentralasien. Dadurch hat das Land für die USA ein erhebliches geopolitisches Gewicht. Den Preis dafür sollen die Europäer zahlen. Bereits im Jahre 1984 hat der bekannte Princeton-Gelehrte für Internationale Beziehungen, Carl Brown, noch vor Huntington argumentiert, dass der Nahe Osten einen Kernstaat benötige, der diesen quasi subsystemisch ordnen und die islamische Zivilisation nach außen anführen könne. Diese Stellung der Türkei für die islamische Zivilisation machte Brown in der folgenden Einschätzung deutlich: „Der geeignetste Kandidat für die Führung wäre die Türkei. Denn der Kemalismus hat die Türkei immun gegenüber Wind aus dem Osten gemacht.“32 Amerikanische Experten gehen von einer säkularen Türkei aus. Inzwischen hat der Wind des politischen Islam jedoch auch die Türkei erreicht und er bläst dermaßen stark, dass die vermutete Immunität der Türkei ihm nicht standhaft genug sein konnte. Dieser „Wind aus dem Osten“ wurde von US-Strategen, die

30 Vgl. Tibi, Europa ohne Identität? 31 Vgl. das Kap. „Between Two Worlds“. In: Howe, Turkey, S. 1–10. 32 L. Carl Brown, International Politics and the Middle East, Princeton, NJ 1984, S. 176. Zur Deutung des Nahen Ostens als einem Subsystem vgl. Tibi, Conflict and War in the Middle East, New York 1998 (new edition), Kap. 2.

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den Faktor „Islam“ in Bezug auf die Türkei falsch eingeschätzt33 haben, nicht angemessen berücksichtigt. Derselbe Fehler wurde im Irak-Krieg gemacht (vgl. Anm. 42), wo das Land nach der Befreiung von der Saddam-Despotie zu einem Tummelplatz der Djihad-Islamisten geworden ist. Dies ist sicherlich nicht die Neuordnung des Nahen Ostens, die die Bush-Administration verwirklichen wollte! Jenseits des seit der Irak-Krise entfachten transatlantischen Konflikts und der damit verbundenen Polemiken ist hervorzuheben, dass Richtungskämpfe in der Türkei für Europa weit mehr als eine geostrategische Angelegenheit sind. Europa beherbergt eine vier Millionen umfassende türkische Diaspora und ist direkt davon betroffen, welche zivilisatorische Identität des Landes die Türkei hat. Aus dieser Perspektive schrieb Helmut Schmidt in seinem bereits zitierten Zeit-Essay „Bitte keinen Größenwahn. Ein Beitritt der Türkei würde die Europäische Union überfordern“: „Sicher ist das Andauern der gefährlichen Konflikte im Mittleren Osten, besonders mit dem islamischen Fundamentalismus. Sicher ist ebenso das Andauern der Gefahr eines allgemeinen Clash of Civilizations zwischen dem Islam und dem Westen. [...] Die Auswanderung von weiteren zehn Millionen Türken nach Deutschland habe ich aus guten Gründen abgelehnt.“ Zu den guten Gründen gehört die Gefährdung der Religionsfreiheit und des Pluralismus durch den politischen Islam, der auch mit der islamischen Zuwanderung unkontrolliert nach Europa kommt. Bei dem oft polemisch geführten Gerede über die benötigten Brücken zur islamischen Zivilisation wird nicht berücksichtigt, dass spätestens seit der Wahl vom November 2002 der Islamismus eine politische Kraft in der Türkei geworden ist, welche die Wende vom Kemalismus zum Islamismus zum Ausdruck bringt. Die „Moderne“ war der Rahmen bezüglich der nationalen Identität der Türkei, die es nun neu zu durchdenken gilt.34 Verarbeiten die Islamisten die Moderne? Und wenn ja, wie? Bringen sie Islam und Demokratie über taktische Erwägungen hinaus in Einklang? Ein Islam-Experte der CIA, Graham Fuller, beantwortet diese Frage positiv.35 Islamophile Islam-Experten, die den Islamismus als Ausdruck einer „islamistischen Version der Demokratie“36 deuten, argumentieren ebenfalls in diese Richtung. Wenn aber eine neue islamistische Partei in der Türkei behauptet, „nur“ konservativ und ebenso demokratisch wie die christdemokratischen Parteien Europas zu sein, ist die Frage zu stellen, ob der 33 Vgl. Andrew Mango, Turkey. The Challenge of a New Role, Washington, DC / London 1994 (Washington Papers 163), bes. Kap. 5; sowie das Türkei-Kapitel in: Scott Hibbard und David Little, Islamic Activism and US Foreign Policy, Washington, DC 1997, S. 79–94. 34 Vgl. hierzu die Beiträge in: Sibel Bazdogan/Resat Kasaba (Hg.), Rethinking Modernity and National Identity in Turkey, Seattle 1997. 35 Graham Fuller, The Future of Political Islam, New York 2004; vgl. auch das frühere Buch von Graham Fuller und Ian O. Lesser, Turkey’s New Geopolitics. From the Balkan to Western China, Boulder, Col. 1993; sowie Andrew Mango, Turkey. 36 Vgl. John Voll/John Esposito, Islam and Democracy, New York 1996 und dazu kritisch meine Rezension in: Journal of Religion, 78 (1998), S. 667–669.

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politische Islam dort zu einem Träger des demokratischen Establishments geworden ist. Ich habe große Zweifel! Die Anwendung des Konservatismus-Begriffs auf den Islam als Religion ist neu. Der Konservatismus gehört nicht zum islamischen Vokabular. Dieser Begriff wurde in Unkenntnis der lokalen Realitäten von der westlichen Presse erstmals in Bezug auf den Iran in irritierender und falscher Weise verwendet. Von einer Unterscheidung zwischen „Konservativen“ und Reformern war die Rede. Auch im Iran waren „die Konservativen“ in Wirklichkeit Fundamentalisten. Der politische Islam ist ebenso wie der islamische Salafismus keine Spielart des Konservatismus. Mit absoluter Sicherheit ist der Fundamentalismus als politische Ideologie (vgl. Anm. 1) nicht deckungsgleich mit Konservatismus. Institutionelle Islamisten, also Politiker wie Erdogan, Gül und ihr Ziehvater Erbakan konnten auf parlamentarischem Weg, also friedlich, zur Macht gelangen. Dies unterscheidet sie von den Djihadisten, die sich zur Gewalt bekennen. Deshalb ist die Gleichsetzung von fundamentalistischem Islamismus mit Terrorismus oder Extremismus ebenso falsch wie die positive Einschätzung der Islamisten, die sich durch Beteiligung an demokratischen Wahlen als „konservative“ Demokraten präsentieren. Im Gegensatz zu den europäischen christdemokratischen Parteien haben die Islamisten religiös-politische Ordnungsvorstellungen, die nicht wie jene der Christdemokraten säkularer Natur sind. Daraus folgt, dass der Vergleich der AKP Erdogans mit den christdemokratischen Parteien Westeuropas nicht nur unhaltbar, sondern schlichtweg falsch ist. Schließlich strebt keine christdemokratische Partei in Europa eine christliche Ordnung an. Die Analyse der Wende vom Kemalismus zum Islamismus übersieht die kemalistische Fehlpolitik der säkularen Parteien nicht. Diese Parteien sind durch ihre Korruption dermaßen in Misskredit geraten, dass es viele Protestwähler gegeben hat, die die Islamisten aus Trotz wählten. Mit diesem Hinweis will ich jedoch nicht bestreiten, dass ein erheblicher Teil der türkischen Wählerschaft islamistisch gesinnt ist und den Wandel vom Kemalismus zum Islamismus innerhalb der Bevölkerung selbst zum Ausdruck bringt. Experten und Beobachter vor Ort bestätigen, dass die populistische Politik der Islamisten bei der Bevölkerung großen Anklang findet. Bei meinem jüngsten Aufenthalt in Ankara (Oktober 2004) verrieten mir meine kemalistisch bzw. säkular orientierten türkischen Gesprächspartner, dass die Werte-Orientierung des Landes sowie seine Identität durch die AKP-Regierung bereits in einem Zeitraum von zwei Jahren (2002–2004) erheblich verändert worden sind. Der EU-Kommissar Günter Verheugen hat freimütig in einem Zeit-Artikel eingeräumt, dass die Befürwortung des EU-Beitritts der Türkei vorrangig sicherheitspolitisch motiviert ist. Türkische Politiker machen den Europäern dadurch Angst, dass die Türkei bei einer Abweisung durch Europa eine türkische Größe analog zur arabischen Welt37 bilden könne. Bereits Erbakan hat von einer sich formierenden türkischen Welt gesprochen, die sich vom Balkan bis zur 37 Vgl. Tibi, Das arabische Staatensystem, Mannheim 1996.

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nordwestchinesischen, von den Türken Ostturkestan genannten Provinz Xinjiang (von ca. 10 Millionen türkischen Muslimen bewohnt), erstreckt. Diese Welt umfasst ca. 150 Millionen Angehörige der Turkvölker, die laut UNESCO die fünfthäufigste Sprache der Welt sprechen. Als die türkischen Islamisten unter Ministerpräsidenten Erbakan regierten, vertraten sie als „Neuen Osmanen“ die weltpolitische Perspektive des Pantürkismus38 als Alternative zur EuropaBindung. Das ist eine Bedrohung für Europa, die heutige EU-Politiker durch eine Aufnahme der Türkei abwenden wollen. Unter Erdogan ist die Sicht der Islamisten radikal umgekehrt worden. Natürlich sind die neuen Islamisten auch türkische Nationalisten, aber für sie ist der Pantürkismus lediglich eine Orientierung an der Vergangenheit und somit nicht länger eine Option für die Zukunft. Die gemäßigten Islamisten präsentieren sich als Demokraten. Ich bestreite jedoch, dass Islamismus und Demokratie vereinbar sind.39 Allerdings räume ich ein, dass der Islam durch Reformen mit der Demokratie in Einklang gebracht werden kann,40 dies gilt allerdings nicht für den Islamismus. Das was der IslamReformer Mohammed Arkoun mit dem Titel seines 1994 erschienenen Buches „Rethinking Islam“ als Forderung stellte, vermisse ich bei der AKP. Ein Bekenntnis zur Demokratie, das nicht von einem „Rethinking of Islam“ sowie den entsprechenden religiösen Reformen begleitet wird, bleibt somit eine bloße Zusicherung, der man Glauben schenken kann oder eben nicht. Es geht bei unserem Thema nicht nur um die Demokratisierung des Islam, sondern vornehmlich um Weltpolitik. Zbigniew Brzezinski verdeutlicht dies mit der weltpolitischen Vorstellung eines „Grand Chessboard“, als das er Eurasien ansieht. Bei diesem Spiel sind die USA der einzige „Global Player“. Die Türkei nimmt als eurasische Figur eine US-konforme Schlüsselrolle im westlichen Bündnis ein. Brzezinski führt aus: „Um einen stabilen und unabhängigen Südkaukasus und ein ebensolches Zentralasien zu fördern, muss Amerika sich davor hüten, die Türkei [von Europa] zu entfremden [...] Eine Türkei, die sich ausgestoßen fühlt von Europa, dem es sich doch anschließen will, wird zu einer islamischeren Türkei werden [...] Amerika sollte daher seinen Einfluss in Europa nutzen, um die Zulassung der Türkei zur EU zu fördern und sollte darauf bestehen, die Türkei als einen europäischen Staat zu behandeln – vorausgesetzt, die türkische internationale Politik nimmt keine dramatische Wende in islamistischer Richtung.“41 38 Zum alten Pantürkismus vgl. Jacob M. Landau, Pan-Turkism: From Irredentism to Cooperation, Neuausgabe, Bloomington 1995 (obwohl diese Ausgabe als neu angegeben wird, ist sie leider kaum neu bearbeitet worden). 39 Somit widerspreche ich Voll/Esposito, Islam and Democracy. Beide Amerikaner versuchen – wenn auch kaum überzeugend – zu argumentieren, dass auch Islamisten eine neue, nicht-westliche Form der Demokratie hervorbringen können. Hierzu kritisch meine Rezension in: Journal of Religion, (Chicago) 78 (1998), S. 667–669. 40 Vgl. Anm. 15; sowie Tibi, Democracy and Democratization in Islam. In: Michèle Schmiegelow (Hg.), Democracy in Asia, New York 1997, S. 127–146. 41 Zbigniew Brzezinski, The Grand Chessboard. American Primacy and its Geostrategic Imperatives, New York 1997, S. 203 f.

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Diese geostrategische Lage hat sich durch den Irak-Krieg radikal geändert und eher eine Annäherung zwischen Europa und der von der islamistischen AKP regierten Türkei als eine Bindung an die USA herbeigeführt.42 Aber die USA halten an ihrer Einschätzung bezüglich der Türkei fest, obwohl das von der AKP dominierte türkische Parlament eine Beteiligung am Irak-Krieg verweigerte. Entsprechend hält der US-Druck auf die Europäer an, die Türkei in die EU aufzunehmen und hat zum Ergebnis geführt, dass die EU am 17. Dezember 2004 die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei für Oktober 2005 beschlossen hat. Die amerikanischen „Weltpolitik-Schachspieler“ und europäische Politiker (wie Schröder), die sich ihnen beugen, interessiert wenig, dass in der Türkei ein Prozess der Entwestlichung im Rahmen des Übergangs vom Kemalismus zum Islamismus stattfindet. Im Zuge der kemalistischen Revolution wurde eine Säkularität der Türkei angestrebt, die jedoch oberflächlich geblieben ist. Bei der Debatte über den EU-Beitritt der Türkei wird diese Realität schlichtweg übergangen. Entsprechend werden die Gefahren für Religionsfreiheit und Pluralismus, die die Außenpolitik wenig berühren, übersehen.

3.

Die Europäisierung der Türkei ohne Religionsreform

Jenseits des Geredes vom „Kampf der Kulturen“ weiß jeder Historiker, dass die osmanisch-europäische Geschichte eindeutig von der Bedrohung durch die Djihad-Eroberungen geprägt war.43 Nach zahlreichen Niederlagen seit dem Scheitern der Belagerung von Wien 1683 hat sich das Osmanische Reich im Verlaufe des 19. Jahrhunderts durch europäische Reformen modernisiert, dies macht aber noch keine Zugehörigkeit zur europäischen Geschichte aus.44 Das Potenzial der Europäisierung der Türkei – und nicht die geostrategische Bedeutung des Landes für den Westen – sollte aus europäischer Perspektive als argumentative Grundlage bei der Debatte über den Beitritt dieses Landes zur EU dienen. Im 19. Jahrhundert45 und unter dem Kemalismus im 20. Jahrhundert hat eine oberflächliche Europäisierung der Türkei stattgefunden. Wie im vorangegangenen Teil der vorliegenden Analyse gezeigt worden ist, wird heute durch

42 Zum weltpolitischen Kontext des Irak-Krieges vgl. Tibi, Der neue Totalitarismus, Kap. 5. 43 Hierzu Andrew Wheatcroft, The Ottomans. Dissolving Images, 2. Auflage London 1995; vgl. außerdem Kap. 4 über die osmanischen Djihad-Eroberungen in Europa in Tibi, Kreuzzug. 44 Vgl. Erik J. Zürcher, Turkey. A Modern History, London 1993 (Neudruck 1997), S. 11–94, bes. Teil 1 und 2 zu osmanischer Modernisierung und zu den Versuchen der kemalistischen Europäisierung, die nicht deckungsgleich sind; vgl. ferner zur kemalistischen Modernisierung A. L. Macfie, Atatürk, London 1994. 45 Vgl. Fatma Müge Gocek, The Rise of the Bourgeoisie. Demise of the Empire. Ottoman Westernization and Social Change, New York 1996. Die Fakten stimmen, nicht aber die Deutung, dass eine „Verwestlichung“ unter den Osmanen stattgefunden habe.

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eine zunehmende Islamisierung von Gesellschaft und Politik versucht, diese Errungenschaften der kemalistischen Europäisierung – beispielsweise unter Bezugnahme auf das Symbol des Kopftuches – rückgängig zu machen. Dies müsste zu einer Zurückhaltung bei der Aufnahme der Türkei in die EU veranlassen, wenn europäische Politiker Wert auf die zivilisatorische Identität Europas legen würden. Wie verhält sich Europa in dieser Situation? Wird der Prozess der Entwestlichung von europäischen Politikern wahrgenommen? Die einfachen Zeitungsleser nehmen diese Entwicklung zur Kenntnis, nicht aber die europäischen Politiker. Dies spiegeln die Umfragewerte in allen westeuropäischen Ländern wider, die eine ablehnende Haltung der Bevölkerung zur Aufnahme der Türkei zum Ausdruck bringen, die man nicht simplifizierend mit „rechtsradikal“ oder primitiv mit „Feindbild Islam“ zurückweisen darf. Die kritische Analyse beinhaltet neben dem Aufzeigen der Bedrohungen die Einsicht, welch hohe Bedeutung die Türkei für Europa hat. Wenn sie sich durch Europäisierung in Richtung Westen bewegen und als Mittler durch politische Bindung zur Welt des Islam wirken würde, könnte sie partnerschaftlich für Europa zu einem positiven Faktor werden. Nun geht es beim EU-Beitritt der Türkei nicht allein um außenpolitische Visionen à la Fischer, sondern um die messbaren Wahrscheinlichkeiten und um die Fähigkeit, diese zu verwirklichen. Deshalb stellt sich die Frage, ob die Türkei in der Lage sein wird, einen Grad der Europäisierung zu entwickeln, der sie europa-kompatibel macht. Das ist eine andere Perspektive als die von der Türkei als Kern der islamischen Zivilisation. Ich habe bereits auf die Ängste hingewiesen, die unter der Hand geschürt werden: Bei einer Nichtaufnahme in die EU könnten pantürkische Machtphantasien sowie islamische Potenziale als Gegengewicht zu Europa mobilisiert werden. Es gehört zu diesem Denken, wenn der bisherige EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen in einem Zeit-Artikel vom 7. Oktober 2004 schreibt, die EU-Aufnahme der Türkei sei „primär sicherheitspolitisch“ motiviert. Es handelt sich hierbei also nicht nur um türkisches Denken. Das Kriterium der Europäisierung bleibt hierbei auf der Strecke. Der Historiker H. A. Winkler beklagte sich in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 12. Dezember 2004 im bereits zitierten Interview, dass es bei der EU-Erweiterung „nie einen europaweiten Diskurs über die Frage der Grenzen und der Identität Europas gegeben“ habe. Im selben Interview unterstrich der Sozialdemokrat Winkler, dass der Vorschlag der „privilegierten Partnerschaft“ von ihm bereits 2002 gemacht wurde und nicht von der CDU stamme. Angela Merkel und ihre Berater haben diesen Vorschlag später von ihm übernommen. Unter den europäischen Befürwortern eines baldigen EU-Beitrittes hört man das Argument, dass dies die Demokratie in der Türkei als Vorbild für die Welt des Islam verstärke. In der Türkei selbst tobt ein Konflikt zwischen der islamistischen und kemalistischen Orientierung. Der Beitritt der Türkei in die EU unter einer Regierung der Islamisten wird diesen Konflikt keinesfalls neutralisieren. Im Prinzip und in den türkischen Realitäten geht es um Europäisierung versus Entwestlichung. Jene Politiker des Westens, die selbst eine von Islamis-

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ten regierte Türkei einbinden wollen, meinen (z. B. der Amerikaner Fuller), dass eine formal säkular bleibende Türkei in Versöhnung mit dem Islamismus eine prowestliche Funktion gleichermaßen in der Welt des Islam und in der großen pantürkischen Welt zwischen Xinjiang und dem Balkan übernehmen könnte (vgl. Anm. 35 und 77). Nach dieser Auffassung könnte die Türkei beweisen, dass Islamisten in die Demokratie eingebunden werden können. Es gibt auch westliche Politiker, die die Rolle der AKP bei den interzivilisatorischen Beziehungen loben und eine ähnlich positive Einschätzung vertreten. Ihnen wirft H. A. Winkler im zitierten Interview „einen Mangel an Geschichtsbewusstsein“ vor; er hat Recht. Indes setzen die türkischen Islamisten ihre Politik der „Entwestlichung der Türkei“ fort. Europa, das mit der Führung der türkischen Islamisten im Dialog steht, wird von eben diesen Politikern missbraucht. Die türkischen Islamisten wagen keine Konfrontation mit den Militärs, hoffen aber auf Europas Hilfe bei der Kaltstellung des von den Militärs dominierten Sicherheitsrates. Mir liegt es fern, die türkischen Islamisten zu inkriminieren oder gar die „kemalistischen Generäle“ gegen sie zu verteidigen. Ich trete für „Inklusivismus“, also für die Einbeziehung auch der Islamisten in die Institutionen ein. Dies ist aber nicht damit gleichzusetzen, dass Europa ein von einer islamistischen Partei regiertes Land – gewissermaßen als trojanisches Pferd – in die EU aufnimmt. Gegen 2020, wenn die Türkei volles EU-Mitglied wird, wird sie mit 90 Millionen Einwohnern das bevölkerungsreichste Land (mit entsprechendem politischen Gewicht) in der Union sein. Außerdem wird dieses Land von der Bestrebung der Islamisten nach einer Entwestlichung geleitet. Ich wiederhole meine Beobachtung: Die Vertreter des türkischen AKP-Islamismus, obwohl gemäßigt, haben sich von den Inhalten der islamistischen Ideologie zu keinem Zeitpunkt in überzeugender Weise frei gemacht. Inwieweit das nicht näher substantiierte Bekenntnis zur Demokratie auf Täuschung beruht, bleibt offen. Wie bereits angemerkt, halte ich Islamismus und Demokratie für unvereinbar. Demokratie lässt sich hingegen erst dann auf eine islamische Weise interpretieren, wenn zuvor Religionsreformen durchgeführt werden. Dieses neue Denken hat innerhalb der AKP niemals stattgefunden. Der Fehler des Kemalismus, ohne Religionsreform zu säkularisieren, wird von der AKP auf eine andere Weise wiederholt: Demokratie ohne Religionsreform. Bei der Entwicklung der Türkei vom säkularen Kemalismus zum Islamismus gehören die Schwächen des ideologischen Säkularismus – d. h. eine ohne gesellschaftliche Säkularisierung erfolgte Modernisierung – zu den Ursachen dieser beschriebenen Wende. Die Kemalisten wollten europäisieren und säkularisieren ohne kulturelle und religiöse Reformen durchzuführen. Die Politisierung des Islam in der Türkei, aus der der türkische Islamismus hervorgetreten ist, stellt die Antwort der türkischen Gesellschaft auf die gescheiterte Politik des säkularen Staates dar, der durch seine etatistische Orientierung wenig Wert auf die Perspektive einer Zivilgesellschaft legte. Der türkische Historiker Serif Mardin behauptet gar: „civil society is a Western dream [...] it does not translate in-

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to Islamic terms.“46 Damit sollte die gescheiterte Europäisierung erklärt werden. Anders als Mardin denke ich allerdings schon, dass eine Zivilgesellschaft in die Welt des Islam eingeführt werden kann; zu ihrem Erfolg wird aber eine kulturelle Untermauerung47 durch Religionsreformen benötigt.

4.

Der Islamismus in der Türkei: Weder Pluralismus noch Religionsfreiheit

Die heute in der Türkei regierende AKP-Partei steht in zeithistorischer, personeller und geistiger Kontinuität zu allen bisherigen als islamistisch eingeordneten Parteien dieses Landes: „Selamet“, „Refah“ und „Fazilet“. Diese traten weder für Pluralismus noch für Religionsfreiheit ein. Bei der Kritik ist die Unterscheidung zwischen Islam und Islamismus sowie die Unterstreichung bedeutend, dass der Islam – im Unterschied zum Islamismus – weder eine politische Religion noch ein Regierungssystem ist. Die Debatte hierüber und die Belege hierzu sind an anderer Stelle vorgelegt worden.48 Hier reicht es, an zwei Merkmalen aufzuzeigen, was Islamismus ist, nämlich: 1. Gleichermaßen eine spezifisch politisch-soziale und kulturelle Erscheinung, die eine türkische Spielart hat, und 2. ein Bestandteil des allgemeinen, also internationalen Phänomens der islamischen „Revolte gegen den Westen“ (H. Bull). Somit gehört der Islamismus zum globalen Phänomen des religiösen Fundamentalismus. Auch in der Türkei ist der Islamismus gegen westliche Werte gerichtet und sowohl politisch als auch geistig vorhanden. Als liberaler Muslim und Begründer des Euro-Islam behaupte ich: Der Islamismus ist die Antithese zu Europa. Die Politisierung der Religion des Islam nimmt im türkischen Kontext vorwiegend die Gestalt einer Entwicklung zunächst vom europäisch orientierten Kemalismus hin zum pantürkischen Islamismus an. Dann folgt die Europa-Orientierung Erdogans. Durch seinen relativ friedlichen Charakter sowie seine Einbindung in die Institutionen unterscheidet sich der politische Islam in der Türkei von anderen, oft gewaltbereiten, also djihadistischen Formen, die vorwiegend im Untergrund als illegale Bewegungen agieren. Diese gibt es aber auch in der Türkei, jedoch nicht als Hauptströmung, wie etwa in Algerien oder in Afghanistan. Es ist wichtig, die historischen, sozio-kulturellen und politischen 46 Serif Mardin, Civil Society in Islam. In: John Hall (Hg.), Civil Society, Cambridge 1995, S. 278–300. 47 Für eine andere Deutung als die Mardins vgl. Tibi, The Cultural Underpinnning of Civil Society in Islamic Civilization. In: Elisabeth Özdalaga/Sune Persson (Hg.), Civil Society, Democracy and the Muslim World, Istanbul 1997, S. 23–32. 48 Vgl. Tibi, Ist der Islam eine politische Religion? Über den Unterschied zwischen Islam und Islamismus in Bezug auf den Westen. In: Religion - Staat - Gesellschaft, 5 (2004) 1, S. 77–112.

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Hintergründe der Politisierung des Islam in der Türkei zu beleuchten, weil uns dies helfen kann, das spezifisch Türkische an dieser Spielart des Islamismus zu erkennen. Erst auf der Basis der Ergebnisse dieser Analyse kann die Kompatibilität des türkischen Islam mit Europa bejaht oder verneint werden. Es ist falsch, generalisierend von Islam zu reden, wie einige deutsche Politiker ohne Geschichtskenntnisse dies tun. In der Türkei hat der Prozess der schleichenden Entwestlichung parallel zu dem Phänomen der Politisierung des Islam in den 70er Jahren begonnen. NichtExperten oder einige, die sich für Experten halten, sprechen fälschlicherweise von Re-Islamisierung. Dieser Begriff ist schon deshalb falsch, weil die Vorsilbe „Re“ die Bedeutung „wieder“ hat, womit die Behauptung einer Wieder-Islamisierung aufgestellt wird. Durch diesen Sprachgebrauch wird unterstellt, dass die Re-Islamisierung nach einer vorausgegangenen Ent-Islamisierung der islamischen Welt erfolgte. Das entspricht weder im Falle der Türkei noch anderswo den Tatsachen. Der Islam als Glaube und als kulturelles System ist niemals verschwunden. Selbst unter Atatürk hat es keine Ent-Islamisierung gegeben. Nach der Auflösung der islamischen Ordnung des Osmanischen Reiches (Abschaffung des Kalifates 1924) wurde der Islam lediglich entpolitisiert, d. h. als politische Legitimität der Herrschaft aufgegeben. In diesem Sinne hat der Islam als ein kulturelles System und als Glaube nie aufgehört zu existieren. In der Türkei hat der Islam stets das Leben der Menschen als Alltagskultur bestimmt; er blieb, sieht man von der verwestlichten Elite der Kemalisten ab, fortwährend die religiös-kulturelle Quelle der Identität der Mehrheit der Türken. Inhaltlich ist es daher falsch, den Aufstieg des politischen Islam als eine „Re-Islamisierung“ zu deuten. In einem früheren Buch habe ich systematisch aufgezeigt, wie falsch der im deutschen Sprachraum weit verbreitete Begriff der Re-Islamisierung ist und vor seiner Verwendung gewarnt.49 Dieses Buch von mir wird in einer Bonner islamkundlichen Dissertation mit der Behauptung zitiert, ich hätte zur Einbürgerung des Begriffes Re-Islamisierung in Deutschland beigetragen. Dies zeigt, wie es um die Lesekultur in bestimmten Kreisen der deutschen Universität bestellt ist. Kurzum: Beim Aufstieg des Islamismus geht es um die Politisierung des Islam, nicht um seine Wiedereinführung nach einer fälschlich vermuteten Abschaffung. Die Türkei macht hierbei keine Ausnahme. Eine „ReIslamisierung“ kann es nicht geben, weil eine „Ent-Islamisierung“ niemals stattgefunden hat. Die Europäisierung der Türkei war das Leitmotiv Kemal Atatürks, der für sein Land eine europäische Identität anstrebte. Im vorangegangenen Abschnitt habe ich kritisch seine Fehler angesprochen, insbesondere, dass die Modernisierung nicht mit den erforderlichen Religionsreformen begleitet wurde. Das ist der Gegenstand der Kritik, nicht aber das Modernisierungsprojekt selbst. Der 49 Vgl. Tibi, Der Islam und das Problem der kulturellen Bewältigung sozialen Wandels, Frankfurt a. M. 1985 (Neudruck 2001), Kap. 8, bes. S. 158 f. Die britisch-amerikanische Ausgabe erschien unter dem Titel: Islam and the Cultural Accommodation of Social Change, Boulder, Col., Oxford 1990 (nochmals 1991).

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größte Mangel bestand also im Fehlen von Religionsreformen, die Säkularisierung kulturell hätten untermauern können. In Reaktion hierauf entsteht in einer Zeit der Krise der Islamismus und entfaltetet alternative Identitäten. Der Islam scheint hier die erfolgversprechendste Option zu sein, die sich anbietet. Die Politisierung des Islam parallel zur Rückbesinnung auf die osmanische Größe war bisher der Hintergrund der Entstehung des türkischen Islamismus. Wie bereits angeführt, ist diese Spielart des politischen Islam gemäßigt und sie unterscheidet sich erheblich von ähnlichen und vergleichbaren Erscheinungen in den benachbarten nahöstlichen und auch in anderen islamischen Ländern. Unter Erbakan war die politische Wiedergeburt des Islam in der Türkei mit der Sehnsucht nach einer Rückkehr zum Glanz der ruhmreichen osmanischen Vergangenheit verbunden. Diese osmanische Nostalgie nenne ich in einem früheren Türkei-Buch, von dem eine türkische Ausgabe in Istanbul erschien, Neo-Osmanismus.50 Unter den heutigen Erdogan-Islamisten ist diese Vision von den „Neuen Osmanen“ äußerlich aufgegeben worden, wenngleich für sie die türkisch-osmanische Geschichte51 nach wie vor Symbolreservoir bietet. Der Spiegel hat im Dezember 2004 zu Recht aufgezeigt, wie Erdogan gegenüber seinem Volk und seinen europäischen EU-Verhandlungspartnern in der symbolischen Pose eines osmanischen Sultans auftritt. Im Jahre 1970 gründete Necmettin Erbakan erstmals die Partei „Milli Nizam Partisi“ (Nationale Ordnungspartei) bzw. die „Selamet“-Partei; beide wurden schnell verboten. Darauf folgten die Gründungen der bereits angeführten Parteien „Refah“ und „Fazilet“. Diese sind sowohl geistig als auch historisch die Vorgängerinnen der heutigen AKP-Partei. Damit stelle ich eine bestehende Kontinuität fest, in welche die heutigen Islamisten Erdogan und Gül eingebettet sind; sie haben aus der Erfahrung des „verbannten“ Erbakan sowie aus der Geschichte von Parteiverboten gelernt und Konsequenzen gezogen. In diesem Rahmen entdeckte Erdogan Europa und die Menschenrechte zum Schutz des Islamismus. Diese kam ihm bei einer orientalischen „Khalwa“ (Zurückgezogenheit) zum Denken – während eines mehrmonatigen Gefängnisaufenthaltes. Er erkannte, dass die Europa-Orientierung eine Begrenzung des Einflusses des Militärs52 im Sicherheitsrat ermöglicht. Das Spiel von Gründung, Verbot, und Neugründung von Parteien wurde somit nicht länger benötigt. Schließlich wurde 2001 die AKP gegründet, die die Wahl vom November 2002 gewinnen sollte. Der politische Islam ist mit Demokratie nicht vereinbar. Die türkischen Islamisten halten zwar die demokratischen Regeln ein, aber ihnen fehlt die politische Kultur der Demokratie,53 die mit einem religiösen Fundamentalismus un50 S. Tibi, Aufbruch am Bosporus. 51 Vgl. die ausgezeichnete neue Deutung von Cemal Kafadar, Between Two Worlds. The Construction of the Ottoman State, Berkeley 1995. 52 Zur Bedeutung des türkischen Militärs in der kemalistischen Türkei vgl. Feroz Ahmed, The Making of Modern Turkey, London 1993, Kap. 7 ff. 53 Über die angesprochene Unvereinbarkeit vgl. meinen Fundamentalismus-Artikel in: Encyclopedia of Democracy, 4 Bände, Washington, DC 1995, hierzu Band 2, S. 507–510.

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vereinbar ist. Erdogan konnte bisher mit seinem Spiel mit Europa erfolgreich sein. Er leistet es sich „penetranten Druck“ auszuüben (so Elmar Brok, Vorstandsmitglied der EVP im Europäischen Parlament), Europa in „abträglichen Äußerungen herabsetzend“ (H. A. Winkler), als „Christen-Club“ zu schmähen, ohne dass man ihn in die Grenzen weist. Eckhard Lohse hat in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 12. Dezember 2004 europäische Politiker unter der Überschrift „Penetranter Druck“ zitiert, die erkennen, dass „in der Türkei bestimmte AKP-Politiker muslimische Lebensformen durchsetzen nach dem Motto: Mit Europa zurück in die alte Welt“. Weder Gerhard Schröder noch sein Außenminister verstehen dies, weil beiden das Wissen hierzu fehlt.

5.

Die Türkei: Ein säkularer Staat ohne säkularisierte Zivilgesellschaft

Positiv betrachtet muss man die heutige Türkei – neben Indonesien – unter den 57 Mitgliedern der OIC (Organization of the Islamic Conference) als den modernsten und formal säkular-demokratischsten Staat in der Welt des Islam würdigen. Doch man muss kritisch hinzufügen, dass diesem Staat das zivilgesellschaftliche Substrat für die entsprechende politische Ordnung fehlt. Diese Spannung ist auch die Quelle der Krise des Kemalismus, aus der der politische Islam in der Türkei hervorgetreten ist. Das osmanische Erbe belastet das Land trotz der kemalistischen Revolution, die bemüht war, die osmanische Vergangenheit auszulöschen. Die heute nicht zu übersehende Revitalisierung der osmanischen Zeit erfolgt u. a. durch die Verwendung osmanischer Symbolik bezüglich der türkischen Eroberungen in Europa. Dies trägt nicht gerade zu einer positiven Antwort auf die Frage bei, ob die Türkei zu Europa gehört, sondern schürt – ganz im Gegenteil – berechtigte Ängste. Um die Implikationen der Verbindung von Islamismus und Osmanismus zu illustrieren, möchte ich mit Bedauern anführen, dass die türkisch-islamische Gemeinde von Pforzheim – wie viele andere in der europäischen Diaspora – den Namen al-Fateh für ihre große Moschee ausgewählt hat. Dieser Name bedeutet „der Eroberer“ und steht somit nicht für Versöhnung und friedliches Zusammenleben, sondern als Symbol für gewaltsame islamische Djihad-Eroberung!54 Hätte diese Gemeinde stattdessen den Namen des großen Aufklärers im Islam, des türkisch-islamischen Philosophen al-Farabi55 (870–950) gewählt, dann wäre ihre Entscheidung mit Dialogbereitschaft und nicht mit einer Rückbesinnung auf die Osmanen verZum neuesten Stand und zum Stellenwert dieser Problematik vgl. ferner Tibi, Kap. 13: Fundamentalism. In: Encyclopedia of Government and Politics, London 2004 (new edition), 2 Bände, hier: Band 1, S. 184–204. 54 Zu Sultan Mehmet Fateh und seiner Eroberung Konstantinopels vgl. Steven Runciman, The Fall of Constantinople 1453, Cambridge 1990 (Neuausgabe, zuerst 1965). 55 Zu al-Farabi vgl. Kap. 4 in: Tibi, Der wahre Imam. Der Islam von Mohammed bis zur Gegenwart, München 1996 (neu 2002).

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bunden. Die neo-osmanische Nostalgie der Eroberer wird zu Recht mit den Bedrohungen des Osmanischen Reiches assoziiert. Dieses war kein europäisches Imperium und auch kein Vorbild für die euro-türkischen Beziehungen. Das osmanische Djihad-Projekt gehört in die Geschichte von Kreuzzug und Djihad. In meiner Geschichte dieser gegenseitigen Eroberungen empfehle ich den Muslimen das Djihad-Projekt zugunsten eines „interzivilisatorischen Dialogs“ ein für alle Mal zu begraben.56 Hat die kemalistische Türkei diese Aufgabe erfüllt? Die osmanische Geschichte vom Aufstieg bis zum Niedergang des Osmanischen Reiches bildet die Vorgeschichte des Kemalismus. Die Krise des Reiches hat sehr früh, bereits mit der Niederlage der Türken vor Wien im Jahre 1683 begonnen. Darauf folgten weitere militärische Niederlagen. Somit geriet das osmanische Djihad-Welteroberungsprojekt in eine Krise, die Anlass dafür bot, Anleihen beim Westen zu machen, die gleichwohl keine wirkliche Europäisierung darstellten.57 Die erniedrigenden Verträge von Carlowitz (1699) und Passarowitz (1718) folgten den Niederlagen und zwangen die türkischen Sultan-Kalifen zu erkennen, dass etwas in der Geschichte an den Türken vorbeigegangen war. Aus diesem Grunde entsandten sie die ersten islamischen Diplomaten faktisch als „Spione“ nach Europa, z. B. nach Paris, um das Geheimnis der militärischen Überlegenheit der Europäer zu erkunden. Die Gesandten kehrten mit der einfachen Botschaft zurück: Die Industrialisierung der Kriegsführung auf der Basis der modernen Wissenschaft und Technologie sei das Geheimnis der Überlegenheit der Christen.58 Daraufhin starteten die osmanischen Herrscher ihre institutionell-militärischen Reformen. Die osmanischen Reformen des 19. Jahrhunderts waren deshalb keine Europäisierung, weil sie primär militärische Anleihen bei Europa zum Inhalt hatten und parallel von einer Ablehnung europäischen Denkens begleitet wurden. Man wollte das Modell der europäischen Armee59 nur einführen, um die eigene militärische Schwäche auszugleichen. Dies war jedoch mit einer zunehmenden Unterhöhlung der islamischen Legitimität des Reiches verbunden. Der Kemalismus war die logische Folge dieser langen Entwicklung und wäre ohne sie undenkbar. Auch die Modernisierung der Türkei durch die kemalistische Revolution konzentrierte sich auf die Übernahme von moderner Technologie, aber anders als die osmanischen Sultane wollte Atatürk die Errungenschaften der 56 Vgl. Tibi, Kreuzzug, S. 258. Nur bei einer geschichtlichen Aufarbeitung kann der westlich-islamische Dialog für einen Brückenschlag zwischen den Zivilisationen gedeihen. Zu dieser Aufarbeitung gehört das historische Erbe von Djihad und Kreuzzügen, das eine Belastung darstellt und keinen geeigneten Rahmen für eine Annäherung bietet. 57 Mit dieser Aussage widerspreche ich Fatma Müge Göcek sowie ihrem Buch, East Encounters West. France and the Ottoman Empire in the Eighteenth Century, New York 1987. 58 Vgl. Kap. 9: The Industrialization of War. In: Anthony Giddens, Nation-State and Violence, Berkeley 1987, S. 222 ff.; Tibi, Islamischer Fundamentalismus, moderne Wissenschaft und Technologie, 2. Auflage Frankfurt a. M. 1993 (zuerst 1992), bes. Kap. 2 und 3. 59 Vgl. zur Einführung der „europäischen Armee“ ins Osmanische Reich Kap. 3 in: David Ralston, Importing the European Army. The introduction of European Military Techniques and Institutions into the Extra-European World 1600–1914, Chicago 1990.

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Moderne vollständig übernehmen.60 Somit war die positive Einstellung gegenüber Wissenschaft und Technologie bei Atatürk mit einer kulturellen Öffnung gegenüber Europa verbunden. Da jedoch der Kemalismus eine Revolution von oben war, blieb die Wirkung auf den Staat begrenzt und die positiven Errungenschaften erreichten die türkische Gesellschaft in nur geringem Ausmaß. Was heute in der Türkei geschieht, ist die Neubelebung der Tradition des islamischen Traumes von der halben Moderne.61 Die heutigen Islamisten haben diese Illusion mit den reformerischen osmanischen Sultanen im 19. Jahrhundert gemeinsam, die die europäische Militärtechnologie übernehmen wollten, aber die dazugehörige kulturelle Moderne ablehnten. Die Auswirkungen der technischen Innovationen auf Staat und Gesellschaft als Nebeneffekte wurden damals ignoriert. In dieser Tradition wollen die heutigen Islamisten eine Modernisierung ohne Europäisierung. Das ist auch der Geist, der heute in der Türkei regierenden AKP. Bei aller Kritik an Kemal Pascha, dem „Vater der Türken“ – Atatürk – muss man würdigen, dass der Kemalismus die Identität der Türkei durch den Versuch der Europäisierung radikal zum Positiven veränderte. Der im Vergleich zu anderen islamischen Ländern hohe Entwicklungsstandard der Türkei ist insbesondere dem kemalistischen Modernisierungsprojekt zu verdanken. Die versuchte Europäisierung der Türkei als Anschluss des Landes an Europa hat viele Früchte gezeitigt, ist als Projekt aber nicht vollständig gelungen. Wäre diese Entwicklung anders verlaufen, hätten wir heute eine wahrhaft westliche Orientierung der türkischen Bevölkerung und somit weder die Präsenz der AKP noch diejenige eines politischen Islam? Die Krise des Landes ist eben der Gegenstand meiner zentralen Hypothese, nämlich dass der Übergang vom Kemalismus zum Islamismus im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts aus der Legitimitätskrise der kemalistischen Modernisierung und der säkularen Republik hervorgetreten ist. Diese Hypothese wird dadurch verifiziert, dass die Islamisten, nicht die Kemalisten, die heutige Türkei bestimmen, wie in den vorangegangenen Teilen dieser Abhandlung gezeigt worden ist. Die türkischen Islamisten behaupten, dass sie sich gewandelt hätten und präsentieren sich im Mantel einer Europa-Orientierung. Ob dies nun lediglich „Iham“ (sunnitische Spielart der „Taqiyya“ als Verstellung zwecks Täuschung) gegenüber den Ungläubigen ist, lasse ich offen. Die Botschaft höre ich, allein, mir fehlt der Glaube. Diese Auffassung möchte ich nicht in meinem Herzen unterdrücken. Für eine Gewissheit, ob die AKP säkular ist oder nicht, benötigt man eine Klärung seitens des Erdogan-Teams selbst, die aber ausbleibt, weil die anstehenden Fragen nicht nur nicht gestellt, sondern auch tabuisiert werden. Eine Dis60 Vgl. Macfie, Atatürk; Lewis, The Emergence, bes. S. 263 ff., 276ff., 409 ff; s. auch den Aufsatz der türkischen Soziologin Nilüfer Göle, Turkey: The Making of Elites and Counter Elites. In: The Middle East Journal, 51 (1997) 1, S. 46–58. 61 Zur halben Moderne vgl. die Einleitung in: Tibi, Islamischer Fundamentalismus, S. 12–27.

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kussion darüber findet schlicht nicht statt. Es lässt sich aber festhalten, dass der Islam parallel zum öffentlichen Lippenbekenntnis zum Kemalismus von den Islamisten unentwegt politisiert und die säkulare Ordnung der türkischen Politik unterhöhlt wird. Unter Erbakan wurde der Abschied vom Kemalismus parallel zur Neubelebung des Osmanismus relativ offen betrieben. Das Ergebnis ist bekannt: die vom Sicherheitsrat erzwungene Absetzung. Dies will Erdogans AKP nicht riskieren, daher der Deckmantel der Europa-Orientierung. Im Gegensatz zu den arabischen Fundamentalisten sind die türkischen Islamisten Realpolitiker, die in den Institutionen arbeiten, anstatt sich in der Rhetorik des Djihad zu verlieren. Zusammenfassend stelle ich fest, dass der Kemalismus auf den Trümmern des Osmanischen Reiches versucht hat, die Türkei zu säkularisieren und zu europäisieren; er hat hierbei große Leistungen erbracht, aber das Großprojekt ist gescheitert. Die Türkei hat heute einen formal säkularen Staat, aber keiner säkulare Zivilgesellschaft. Deshalb steht der türkische Staat auf schwachen Füßen. Das ist der Hintergrund der Krise des Kemalismus, aus der die Islamisten hervorgetreten sind, die eine Desäkularisierung auf der Basis einer weiteren Politisierung des Islam betreiben und erstaunlicherweise Anerkennung bei EU-Politikern finden. Eines ihrer Instrumente ist das Schulsystem, das sie seit den 70er Jahren stetig, und zwar mit bemerkenswerten Erfolgen, erobern. Das im türkischen Parlament im Mai 2004 verabschiedete Bildungsgesetz sieht eine Höherstellung der Imam-Hatip-Schulen vor und stellt unter Beweis, dass die Islamisten dieselben geblieben sind, auch wenn sie in neuer Kleidung auftreten, die nicht länger an die osmanische Zeit erinnert. Der Geist des Islamismus ist nach wie vor präsent. Nur dank der Verweigerung der Unterschrift durch den kemalistischen Staatspräsidenten Ahmed Sezer ist das soeben angeführte Bildungsgesetz, welches das von der AKP mit einer Zweidrittelmehrheit dominierte Parlament verabschiedete, auf Eis gelegt worden. Es wird aber nach der Wahl des kommenden Präsidenten unterzeichnet werden, der aus den Reihen der AKP stammen wird. Es steht fest: Dank der Unterstützung der AKP durch die EU wird der nächste Staatspräsident der Türkei ein Islamist sein und durch den Sieg vom 17. Dezember 2004 in Brüssel wird die AKP auch eine zweite Amtsperiode gewinnen. Kann die EU somit garantieren, dass mit der Türkei zwischen 2015 und 2020 ein Land als Vollmitglied aufgenommen werden wird, in dem Pluralismus und Religionsfreiheit unbeschädigt bestehen?

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6.

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Die Türkei zwischen kemalistischer Säkularisierung von oben und islamistischer Desäkularisierung von unten

Die Türkei hat in der Welt des Islam durch ihren Säkularismus eine Sonderstellung. Es wurde bereits auf den Unterschied zwischen Säkularisierung als einem Prozess und Säkularismus als einer Ideologie hingewiesen. Von sowohl islamischer als auch von europäisch-kulturrelativistischer Seite hören wir Vorbehalte gegen eine Säkularisierung als westliche Erscheinung. Ist Säkularisierung auf den Islam anwendbar?62 In der islamischen Geschichte63 haben sich die Herrscher als Kalifen (Nachfolger) Mohammeds und somit religiös legitimiert. Die Geschichte der islamischen Welt seit dem 19. Jahrhundert bildet den Ausgangspunkt dafür, dass Erneuerungen durchgeführt wurden, die eine Unterhöhlung der bestehenden traditionellen islamischen Institutionen bedingten. So hat eine oberflächliche Modernisierung der islamischern Gesellschaften stattgefunden, die auf Importen aus dem Westen basierte. In diesem Sinne haben die Reformen als Beiprodukt wohl Säkularisierungseffekte gehabt, aber keinen gesellschaftlich umfassenden Prozess der Säkularisierung herbeigeführt. Die Abschaffung des Kalifats 1924 durch den Kemalismus war der Höhepunkt dieser Entwicklung. Islamische Säkularisten – gleich ob Türken oder Araber – waren verwestlichte, in der Regel liberale Intellektuelle wie u.a Ziya Gökalp in der Türkei und Taha Hussein in Ägypten. Sie hatten sich in Gesellschaften ohne säkulare Strukturen und Institutionen einer europäischen Ideologie des Säkularismus verschrieben. In dieser Tradition stand auch Kemal Atatürk und in diesem Kontext ist sein Erbe zu bewerten. In einer Revolution von oben hat er in einer islamischen Gesellschaft, in der die strukturellen Voraussetzungen sowie die Rahmenbedingungen für eine erfolgreiche Säkularisierung als gesellschaftlicher Prozess fehlten, eine geistige säkulare Orientierung der Eliten verordnet. Diese Orientierung existiert ohne Entsprechung in der politischen Kultur und den Gesellschaftsstrukturen der Türkei. Das ist genau das Problem des säkularistischen Kemalismus. Hierbei ist die Tatsache zentral, dass eine Säkularisierung ohne Religionsreformen angestrebt wurde. Nur solche kulturellen Reformen können jedoch für die Trennung von Religion und Politik Legitimität begründen und diese kulturell untermauern. Der Kemalismus aber hat solche Reformen nicht erbracht. Die Religion aus dem öffentlichen Leben zu entfernen kommt eher einem Verbot als einer Säkularisierung gleich. In solchen Fällen flüchtet die Religion in den Untergrund, wofür in der Türkei die „Tarikat“ (Sufi-Bruderschaften) den Entfaltungsrahmen boten. Auch die Islamisten von heute, die sich verbal zur Säkularität und zur Orientierung an Europa bekennen, haben nichts unternommen, um diese Positionen religiös-kulturell überzeugend zu begründen; ihr Bekenntnis zum Kemalismus als Staatsideologie ist taktisch bedingt und somit nicht glaubwürdig. 62 Zur islamischen Säkularisierungsdebatte vgl. die Angaben in Anm. 21 und 27. 63 Vgl. Tibi, Einladung in die islamische Geschichte, Darmstadt 2001.

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Die vorangegangene Analyse hat gezeigt, dass der Kemalismus als Ideologie der an die Macht gelangten modernen Eliten, die sich den Säkularismus zu eigen gemacht hatten, durch von oben erfolgte Verordnungen die Trennung zwischen Religion und Politik zu realisieren versuchte. Auf diese Weise lässt sich kein gesellschaftlicher Prozess der Säkularisierung erfolgreich durchsetzen, der die säkulare Orientierung institutionell verankert, da der hierfür erforderliche soziale, kulturelle und politische Wandel fehlt. Dennoch lässt sich nicht bestreiten, dass es unter kemalistischer Herrschaft partiell eine gesellschaftliche Säkularisierung als Beiprodukt der beschriebenen Entwicklung gegeben hat. Den Verlauf des unter dem Kemalismus in der türkischen Gesellschaft ohne kulturelle Reformen durchgeführten Modernisierungsprozesses beschreibt die amerikanische Sozialwissenschaftlerin Ellen Kay Trimberger mit dem Begriff der „kemalistischen Revolution von oben“. Die entsprechenden Ausführungen sind es Wert – in einer sonst unüblichen Weise – in voller Länge zitiert zu werden: Der Kemalismus ist nach Trimberger eine Ideologie des säkularen türkischen Nationalismus, deren „Betonung auf Republikanismus, Säkularismus, Etatismus und Populismus liegt. Er versuchte, ein gemeinsames nationales Bewusstsein zu schaffen, das mit traditionellen Werten – vor allem dem Islam als Basis politischer Identität und Legitimität – brach. Doch die universellen Werte des türkischen Nationalismus fanden bei den Bauern keinen Anklang [...]. Die türkische Revolution versuchte nicht, die Bauern zu verändern oder sie in die neue politische Ordnung zu integrieren [...]. Vielmehr implizierte das republikanische Programm, dass die Bauern ‚rückständig‘ waren und nur durch eine Transformation des Landrechtes geändert werden könnten: Integration von oben durch die Auferlegung von Verordnungen. [...] Indem er diesen bürokratischen Stil fortfuhr, war der Kemalismus, ungeachtet seiner populistischen Themen, ausgesprochen unrevolutionär. [...] Der Kemalismus versuchte nicht einmal, die jahrhundertealte Abneigung, die Dorfbewohner gegenüber dem Zentralstaat und seinen Repräsentanten hegten, zu durchbrechen [...] Tatsächlich war einer der wesentlichen Effekte des kemalistischen Programms die Schaffung von zwei Nationen: die eine rural, traditionalistisch und unterentwickelt, die andere urban, modernistisch und entwickelt. Die Bauern nicht zu mobilisieren stärkte das traditionelle Band.“64

Aus dieser Beschreibung geht eine real existierende Unterteilung der Türkei in zwei verschiedene Gesellschaftsmuster hervor. Diese Tatsache spiegelt sich auch in der türkischen Migration in den Westen wieder. Moderne, städtische Türken mit hoher Berufsqualifikation wandern in die USA aus, wohingegen ostanatolische Türken mit niedrigem Bildungsstandard (oftmals Analphabeten) nach Deutschland und in andere Teile Europas kommen. Die unterschiedlichen Integrationsmöglichkeiten haben somit nichts mit den „Türken“ im Allgemeinen, sondern mit der Zweiteilung in eine säkular-europäisierte und in eine islamisch-traditionelle Türkei zu tun. Auf die Türkei selbst bezogen lässt sich der Aufstieg des Islamismus mit Hilfe der Analyse Trimbergers als Fehlen einer substantiellen Säkularisierung erklären. Hinzu kommt die rapide jedoch sehr unebene Verstädterung der Türkei in den vergangenen Jahrzehnten. 64 Trimberger, Revolution, S. 112.

256

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In der Sozialwissenschaft verbindet man Urbanisierung in der Regel mit Modernisierung. In der Türkei wachsen die Städte durch „Gecekondu“ genannte Slums, in denen in die Stadt gezogene Bauern unter Beibehaltung ihres ländlichen Lebensstils ärmlichst dahinvegetieren. Somit findet praktisch eine Ruralisierung der türkischen Städte statt. Die „Gecekondu“-Slums bilden auch das demographische Reservoir für die Migration nach Europa. Zieht man die ZweiNationen-These Trimbergers heran, wird verständlich, dass die Islamisten gerade diese städtische, aber nicht urban gewordene Bevölkerung für sich gewinnen und politisch mobilisieren können. Wenn diese als Migranten nach Europa kommen, werden sie in die dortigen Gesellschaften nicht integriert und bilden IslamGhettos, die man heute „Parallelgesellschaften“ nennt.65 Religionsfreiheit und Pluralismus haben in einer solchen gesellschaftlichen Umwelt keine Chance. Trotz aller Unzulänglichkeiten – dies sei wiederholt – ist die heutige Türkei neben Indonesien der einzige Staat in der Welt des Islam, der als säkular bezeichnet werden kann. Durch die angeführte Revolution von oben ist dieser säkulare Staat entstanden, aber die türkische Gesellschaft ist dies weitgehend nicht, eben weil eine Säkularisierung unter dem großen Revolutionär Kemal Atatürk nur begrenzt stattgefunden hat. Die Abschaffung des Kalifats im Jahr 1924 war in diesem Kontext eine entscheidende Wende. Zwischen 1925 und 1928 verbot Atatürk die islamische Erziehung durch Schließung der Qur’anSchulen, schaffte die Schari’a (türkisch: „Seriat“) und somit die religiösen Gerichte ab, löste die frommen Stiftungen „Waqf“ (türkisch: „Evkaf“) auf und verbot schließlich alle religiösen Orden der Derwische. Dies waren zwar wichtige politische Maßnahmen der Europäisierung, die zur Trennung von Religion und Politik führten, aber ihnen fehlte die Dimension kultureller Säkularisierung, die nicht aus einer „Revolution von oben“ hervortreten kann. Nicht die Abschaffung der Religion, sondern ihre liberale Deutung als Ethik ebnet den Weg zur Trennung zwischen Religion und Politik. Und am wichtigsten: Säkularisierung bedarf soziokultureller Veränderungen, die zum Wandel des traditionellen islamischen Weltbildes und seiner Anschauungen beitragen. Diese fehlten der kemalistischen Revolution fast völlig. In einer Zwei-NationenGesellschaft, von der ein Teil religiös bestimmt wird, kann nicht erfolgreich säkularisiert werden; stattdessen entstehen neue Konfliktpotenziale, zu denen der politische Islam gehört. Während die Kemalisten von oben säkularisierten, haben die Islamisten zunächst von unten desäkularisiert, bis ihnen die demokratische Eroberung der Macht im November 2002 gelang.

65 Zu Parallelgesellschaften vgl. Tibi, Islamische Zuwanderung, hier: Kap. 3 und 4.

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7.

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Rückschau und Konklusionen

Unter Kemal Atatürk wurde die Infrastruktur für die Ausbildung der islamischen Eliten, der „Ulema“, beinahe vernichtet. Dennoch fand keine „Ent-Islamisierung“ der Türkei statt, und dementsprechend erfolgte auch keine „Re-Islamisierung“ (vgl. Anm. 49). Nach seiner Entfernung aus der Öffentlichkeit, lebte der Islam in der Türkei bis heute als unreformierter Volksislam fort diente und als zentrale Quelle der soziokulturellen Identität der Türken. Auf der Basis dieser Fakten schlussfolgere ich, dass eine Säkularisierung zur Trennung von Religion und Politik kulturell durch Religionsreformen untermauert werden muss. Diese Leistung fehlt in der Türkei. Ein Religionsverbot, verbunden mit einer dekretmäßigen Entfernung der Religion aus dem öffentlichen Leben, kann Religionsreformen nicht ersetzen. Dieser Hintergrund erklärt, wie leicht es für die Islamisten ist, den „von oben“ eingeführten Säkularismus „von unten“ zu bekämpfen. Auf dieser Basis ist ein Wandel vom Kemalismus zum Islamismus vollzogen worden. Dies ist folgenreich für den Pluralismus und für die Religionsfreiheit, die es in der Türkei nicht gibt. Zu der Säkularisierung von oben gehörten im Jahre 1925 die Gründung des dem Ministerpräsidenten untergeordneten „Amts für religiöse Fragen“ (Türkisch: Diyanet Isher Başkanlig, bekannt als Directorate of Religious Affairs / ORA). Dieses als „Diyanet-Behörde“ bekannte Amt hatte die Aufgabe, den Islam aus den bestehenden Institutionen zu verdrängen und diesen eine weltliche Orientierung zu geben. Dieser von oben verordnete geistige Säkularismus, der nicht durch eine strukturelle und kulturelle Säkularisierung untermauert war, konnte sich nur oberflächlich auswirken. Unterhalb der Oberfläche des säkularistischen Staates lebte die islamische, quasi-traditionelle Identität der Türkei fort. Hierbei erwiesen sich die religiösen Sufi-Orden, die „Tarikat“, als äußerst tatkräftig. Besonders hervorzuheben ist der Orden der „Nakschibendi“ (türkisch: „Naksibendi“), dessen Funktionen mit denen der Freimaurerlogen im Westen vergleichbar sind. Jedoch ist der „Naksibendi Tarikat“66 durch seine weniger elitäre, sondern vielmehr populistische Ausrichtung (Volksislam) auf der gesellschaftlichen Ebene in der Türkei weit wirksamer. Es ist keineswegs zu gewagt, zu behaupten, dass in der säkularen Türkei der Nakschibendi-Orden in der Gesellschaft weit mächtiger ist als viele kemalistische Parteien. Dies wurde nicht zuletzt in der Novemberwahl 2002 überdeutlich. Mit anderen Worten: In der Türkei gibt es einen säkularen Staat und eine volksislamische Gesellschaft. Schon vor ihrem Wahlsieg ist es den Islamisten gelungen, nicht nur die Tarikat-Orden zu unterwandern, sondern auch die Diyanet-Behörde weit66 Hierzu der Historiker Serif Mardin, The Nakshibendi Order of Turkey. In: Marty Martin/Scott Appleby (Hg.), Fundamentalism and the State, Chicago 1993, S. 204–232 (vgl. Angaben in Anm. 1 zum „Fundamentalism Project“ der American Academy of Arts and Sciences, an dem auch ich in den Jahren 1989–1993 mitgewirkt habe). Vgl. ferner Serif Mardin, The Nakshibendi Order in Turkish History. In: Tapper (Hg.), Islam, S. 121–142.

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gehend zu erobern. Heute steht die Diyanet-Behörde, die Imame nach Deutschland entsendet, völlig unter AKP-Kontrolle. Bei einer Zusammenfassung der vorgelegten Analyse lässt sich festhalten, dass es trotz der bisherigen Errungenschaften des Kemalismus nicht gelungen ist, die Türkei kulturell und strukturell zu säkularisieren bzw. kulturell weitgehend zu europäisieren. Denn die gesellschaftlichen Voraussetzungen für die strukturell und kulturell untermauerte Trennung von Religion und Politik fehlen bis heute. Der Islam blieb ein wichtiger Faktor in der politischen Entwicklung der Türkei.67 Die kemalistischen Verordnungen einer „Revolution from Above“ haben den Islam zwar aus den Institutionen des Staates verdrängt, aber unterhalb dieser Institutionen gedeihte dieser weiter. In diesem Kontext waren und sind die Tarikat als Heimat des verdrängten Islam anzusehen. Der britische Türkeiexperte Richard Tapper schreibt in seinem autoritativen Buch über den Islam in der Türkei, dass Kemal Atatürk „sich nicht damit zufrieden geben wollte, Islam und Politik zu trennen. Er wollte mehr: die Machtbasis des Islam beseitigen und diesen dem Staat unterordnen.“68 Als Ersatz für die islamische Legitimität wollte Kemal Atatürk, der von der Comte’schen, den Türken fremden Denkweise des französischen Positivismus beeinflusst war, eine „religion civil“ einführen. Eine solche eben sollte der Kemalismus sein. Tapper führt aus: „Hierbei sollte der kemalistische republikanische Nationalismus die dominante Ideologie sein. Aber dieser konnte nicht den Appeal des Islam auf vielen Ebenen ersetzen. Deshalb war der Kemalismus keine Alternative zum Islam, der ja eine Identität bietet und Ordnungsprinzipien für das Leben vorschreibt.“69 Der Offizier Kemal Pascha war also mit dem Positivismus des französischen Soziologen Auguste Comte vertraut – wie zuvor die Jungtürken hatte er diese Denkrichtung über das Werk des türkisch-kurdischen Soziologen Ziya M. Gökalp (1875–1924) rezipiert –, besaß allerdings nur wenig Kenntnis von religiösen Themen. Die dem Comte’schen Positivismus – und dessen Auffassung, dass die Religion im modernen Zeitalter absterbe – anhängenden Kemalisten schienen in den Anfängen nicht zu wissen, dass es in ihrem Land zwei Formen der Aufrechterhaltung und Pflege islamischer Identität gab, nämlich die Schari’a und die Sufi-Tarikat. Es war leicht, die Schari’a als Rechtsislam zu verbieten und sie durch die Verbannung ihrer Institutionen aus dem öffentlichen Leben zu beseitigen; dies gelang aber nicht mit dem Tarikat-Orden des Sufi-Islam. Der zitierte Türkeiexperte Tapper schreibt kurz und bündig: „Die Tarikat sind niemals gestorben, sie gingen in den Untergrund.“70 Ich habe zwar eingeräumt, dass der Volksislam der Tarikat kein Ausdruck des religiösen Fundamentalismus im Islam ist, in der heutigen Türkei bedienen sich die Islamisten aber bei ihrer „De-Säkularisierung von unten“ der Einrichtungen der Tarikat, um ihre Strategie der Politisierung des Islam voranzutreiben. Die heute in der Türkei 67 68 69 70

S. Binnaz Toprak, Islam and Political Development in Turkey, Leiden 1981. Tapper (Hg.), Islam, hier die Einleitung, S. 5. Ebd., S. 7. Ebd., S. 10.

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regierende AKP hat die Tarikat völlig unterwandert und erreichte es somit, die ohnehin schon mangelhafte Säkularisierung des Landes noch weiter zu verwässern. Dennoch behält die Türkei ihren säkularen Staat. Aber dort tobt der innertürkische Kampf um die Bestimmung der Identität des Landes. In diesem Kampf gehört die heute regierende AKP nicht zu den Verfechtern europäischer Werte; ihre Europa-Orientierung ist lediglich eine taktisch bedingte außenpolitische Tarnung, die weder kulturell noch zivilisatorisch begründet ist. Parallel dazu wird die bisherige Politisierung des Islam vor allem in der Bildungspolitik und in der Einflussnahme auf das „Amt für religiöse Angelegenheiten“ fortgetrieben. Der in Ankara lehrende türkische Politikwissenschaftler Sencer Ayata hat dies so beschrieben: „Die Schulen sind sehr wichtig für die islamistische Bewegung, weil sie den Rahmen für die Kaderbildung bieten [...] Noch signifikanter ist der Versuch der religiösen Funktionäre, den Aufgabenbereich des ‚Amts für religiöse Angelegenheiten‘ (DRA) neu zu definieren.“71 War dieses Amt unter Atatürk und seinen Nachfolgern ein Instrument zur Verdrängung des Islam aus den Institutionen in der Türkei, so ist es heute unter der AKP ein Vehikel zur Politisierung des Islam. Aus meiner eigenen Forschung in der Türkei weiß ich, dass das Kultusministerium und das DRA bereits lange vor dem AKP-Wahlsieg in November 2002 weitgehend von Islamisten-Kadern infiltriert waren. Abschließend möchte ich nun die Gretchen-Frage nicht übergehen: Gehört die Türkei zu Europa? Meine Antwort lautet: Ein islamisches Land, dessen soziale Strukturen von der Wahrung der individuellen Menschenrechte, Pluralismus und einer funktionierenden Zivilgesellschaft geprägt sind, kann Mitglied der Europäischen Union werden. Dies gilt auch für eine laizistisch sowie rechtstaatlich-demokratisch regierte Türkei, die bei der Erfüllung dieser Bedingungen, die eine Europäisierung bedeuten, der europäischen Staatengemeinschaft beitreten kann. Wenn die Islamisten ebenfalls für diese Aufnahme eintreten, dann geschieht dies, um die Kemalisten zu schwächen, nicht um die Türkei zu europäisieren. In der deutschen Diskussion über die Europa-Zugehörigkeit wird die Frage immer falsch gestellt, nämlich ob ein islamisches Land generell EU-Mitglied werden kann. Diese falsche Fragestellung verdreht jede Perspektive. Säkulare Demokratie ist die Substanz der europäischen Wertegemeinschaft. Ein Islamismus, der als religiöser Konservatismus verschleiert wird, erfüllt dieses Kriterium nicht.72 Ein Aufenthalt in Ankara im Oktober 2004 zu einem Projekt über „Stability in the Middle East“ hat meine Überzeugung bestärkt, wie wichtig die Tür71

Sencer Ayata, Patronage, Party and State: The Politization of Islam in Turkey. In: Middle East Journal, 50 (1996) 1, S. 40–56, hier: 48; vgl. Sencer Ayatas Artikel über die Sufi-Orden in der von Tapper (Hg.), Islam, S. 223–253; sowie ebd. den Aufsatz seiner Frau Ayse Gunes-Ayata, Pluralism versus Authoritarianism, S. 254–279. 72 Meine Interpretation über die Unvereinbarkeit von Fundamentalismus und Demokratie ist dadurch autoritativ geworden, dass sie in die von der Congressional Quarterly Press, Washington, DC veröffentlichten und von M. S. Lipset herausgegebenen vierbändigen Encyclopedia of Democracy übernommen wurde (Anm. 53).

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kei geopolitisch für Europa ist. Meine liberal-säkularen türkischen Partner teilten jedoch die Wertschätzung, die der AKP und Erdogan in der westlichen Presse73 zukommt, nicht. Die Türkei braucht eine stärker säkular ausgerichtete Demokratie und keine islamistische Version der AKP. Deren gemäßigter Islamismus stellt nicht die benötigte Alternative zum Djihad dar. Auch muss eine europäische Türkei den Völkermord an den Armeniern historisch verarbeiten, anstatt diesen fortwährend zu verdrängen.74 Es ist richtig, dass das Verhältnis von Islam und Politik neu definiert werden muss,75 dies bedeutet gleichwohl nicht, dass die AKP ein demokratisches Modell des politischen Islam bietet. Eine Harmonisierung des Islam-Verständnisses mit einem kulturell-religiösem Pluralismus – welcher der islamischen Dhimmi-Doktrin diametral gegenübersteht (vgl. Anm. 10) – und die Einführung der Religionsfreiheit in das islamische Denken machen Religionsreformen zwingend erforderlich.76 Solange die AKP diese Hausaufgabe nicht erfüllt hat, kann eine von ihr regierte Türkei nicht zur europäischen Wertegemeinschaft gehören.77

73 Vgl. das Türkei-Schwerpunktheft von Newsweek vom 11.10. 2004 unter dem Titel „Knock, Knock. How a Conservative Muslim Brought Turkey to Europe’s Door“ und A. Purvis’ TIME-Artikel „At the Gates of the Union: Turkey“ vom 11.10. 2004, S. 32–33. 74 Vgl. dazu die Arbeit des in Hannover promovierten Türken Taner Akcam, From Empire to Republic. Turkish Nationalism and the Armenian Genocide, London 2004. 75 Vgl. das Türkei-Kapitel in Noah Feldman, After Jihad. America and the Struggle for Islamic Democracy, New York 2004 (Neuausgabe), S. 101–112. 76 Vgl. die wichtige Arbeit von Beverly Milton-Edwards, Islam and Politics in the Contemporary World, Cambridge 2004; Tibi, Islam Between Culture and Politics, New York 2001. 77 Daher stimme ich mit der positiven Beitrittsempfehlung des sonst sehr gut informierten Islam-Experten der CIA, Graham Fuller, in seinem Newsweek-Artikel „And now the Turkish Model“, S. 44–45 (Anm. 73), nicht überein. Dies gilt auch für sein Buch, The Future of Political Islam, New York 2004. Dieses Einstellung verkörpert eine Appeasement-Politik gegenüber dem politischen Islam, wie manche Grüne und Sozialdemokraten sie auch in Deutschland betreiben. Vgl. Tibi, Islamic Civilization and the Quest for Democratic Pluralism. In: Karlina Helmonita u. a. (Hg.), Dialogue in the World Disorder, Jakarta 2004, S. 159–202. Dieser Band umfasst die an der islamischen Universität von Jakarta vorgetragenen Papers des westlich-islamischen Dialogs. Eine Synthese von Islam und Demokratie vermisse ich in der Türkei; vgl. hierzu auch die Arbeit der beiden Istanbuler Korrespondenten Nicole und Hugh Pope, Turkey Unveiled, New York 1997.

Religiöse Begründungen des Terrors durch radikale Islamisten Tilman Seidensticker Der Veranstalter der Tagung hat mir ursprünglich den Arbeitstitel „Wie stichhaltig sind religiöse Begründungen des Terrors durch Islamisten?“ vorgeschlagen. Ich habe diese Formulierung aus Gründen abgeändert, die ich gleich erläutern werde. Die Frage nach der Stichhaltigkeit soll aber eingangs noch einmal in Erinnerung gebracht werden; sie impliziert wohl, dass diese Begründungen möglicherweise nicht besonders plausibel sind, dass aber mit einem gewissen Rest an Stichhaltigkeit zu rechnen ist. Für einen solchen Eindruck gibt es nun auch auf der Hand liegende Gründe. Umso wichtiger ist es, begrifflich möglichst genau zu unterscheiden, von wem denn die entsprechenden Argumentationen vorgetragen werden. Aus diesem Grunde habe ich den Islamisten im Titel das Adjektiv radikal vorangestellt. Der Terminus Islamisten hat sich inzwischen in Deutschland flächendeckend gegenüber dem älteren Begriff islamische Fundamentalisten durchgesetzt. Das ist von wissenschaftlicher Seite her schon seit langem angemahnt worden; dabei hat man sich vor allem auf die Geschichte des Fundamentalismus-Begriffes berufen. Mir scheint gegenüber diesen terminologiegeschichtlichen Motiven vor allem ein praktisches Argument von Bedeutung: Mit dem Wort Islamisten wird ein wesentlich weiteres Spektrum von Gruppierungen und Strömungen abgedeckt, die für die Diskussion wichtig sind. Deshalb muss aber, wenn es um Begründungsversuche für terroristische Aktivitäten geht, gesagt werden, dass diese aus dem radikalen Lager kommen, das im großen und in sich höchst differenzierten Feld des Islamismus eine Randerscheinung ist. Der Grund dafür, dass die Stichhaltigkeit der Argumentationsweisen nicht im Zentrum eines islamwissenschaftlichen Beitrags stehen kann, liegt darin, dass der Islamwissenschaftler als Historiker, der er ist, zum vorgegebenen Problemfeld in einer 1. deskriptiven und 2. die beschriebenen Phänomene erklärenden Rolle steht. Im Rahmen dieses Selbstverständnisses sind einer Bewertung von Begründungen auf innere Stringenz hin enge Grenzen gesetzt, weil wir es eigentlich immer mit nur mehr oder weniger plausiblen Interpretationen der Tradition zu tun haben, uns aber keine objektive Messlatte zur Verfügung steht. Ich möchte dies an einem Beispiel verdeutlichen, nämlich der Ableitung der Polygamie aus dem Koran. In Sure 4, die die Überschrift „Die Frauen“ trägt, heißt

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es im 3. Vers: „Und wenn ihr fürchtet, die Sachen der Waisen nicht recht zu tun, dann heiratet, was euch an Frauen gut ansteht, zwei, drei oder vier.“ Diese Koranstelle hat über mehr als zwölf Jahrhunderte hinweg als die textliche Grundlage für die Bestimmung sämtlicher islamischer Rechtsschulen gedient, dass ein Mann bis zu vier freie Frauen gleichzeitig haben kann. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts geriet diese Selbstverständlichkeit durch die Begegnung mit dem westlichen Monogamie-Ideal ins Wanken, obwohl die Polygamie noch bis heute in den meisten arabischen Ländern erlaubt ist. Eines der ersten Länder, die sie abgeschafft haben, war Tunesien. Als Begründung wurde darauf verwiesen, dass die eben zitierte Koranstelle doch folgendermaßen weiterginge: „Wenn ihr aber fürchtet, nicht gerecht zu handeln, dann eine, oder was ihr (an Sklavinnen) besitzt.“ Und dann hieße es ja in Vers 129 derselben Sure: „Und ihr werdet die Frauen nicht gerecht behandeln können, ihr mögt noch so sehr darauf aus sein.“ Nehme man diese beiden Passagen zusammen, so ergebe sich vielmehr ein regelrechtes Verbot der Polygamie. Diese Argumentation geht schon auf MuÎammad ‘Abduh zurück, der sie um das Jahr 1900 vorgetragen hat. Der Außenstehende kann eigentlich nur verblüfft feststellen, dass ihm beide Standpunkte gleichermaßen schlüssig erscheinen. Und mit dem ÊihÁd-Konzept, das letztlich den Rahmen für die Gewaltanwendung im Namen des Islams abgibt, verhält es sich nun ganz ähnlich. Allerdings kann die Islamwissenschaft, wenn sie auch nicht zu objektiven Bewertungen der Stichhaltigkeit in der Lage ist, doch versuchen zu erklären, innerhalb welchen Rahmens die Begründungen sich bewegen müssen und warum eine bestimmte Interpretation zu einer bestimmten Zeit auf große Akzeptanz stößt. Bevor ich auf Theorie und Praxis, Geschichte und Gegenwart des ÊihÁd zu sprechen komme, möchte ich noch erklären, was der ÊihÁd mit Terror zu tun hat, wo doch die klassische Lehre vom ÊihÁd ein Kriegsrecht ist, das die Tötung von Nicht-Kombattanten im Prinzip unterbinden will. Die Entwicklung nahm bei einer weitgehenden Orientierung an den klassischen Normen ihren Ausgang. Die ersten Selbstmordattentate, die als „islamisch“ deklariert wurden, waren die Angriffe der proiranischen Hizballah, die ab 1983 im Libanon durchgeführt wurden. In jenem Jahr hatte die Präsenz von amerikanischen und französischen Soldaten in Beirut zu mehreren verheerenden Attacken gegen Einrichtungen dieser beiden Länder geführt. Am 18. April 1983 gab es bei einem Anschlag mit einem mit Sprengstoff beladenen Lastwagen auf die amerikanische Botschaft 80 Tote, am 23. Oktober desselben Jahres forderte ein identischer Angriff auf amerikanische und französische Militäreinrichtungen 330 Tote. Auch die Israelis wurden Opfer dieser Taktik; am 4. November 1983 verursachte ein Anschlag, wieder mit einem dynamitgefüllten Lieferwagen, auf das israelische Hauptquartier rund 80 Tote. Diesen blutigen Anschlägen ist gemeinsam, dass sie sich ausschließlich gegen militärische Ziele ausländischer Mächte richteten. Wohl weil das relativ neue Mittel Erfolg hatte – Amerikaner, Franzosen und schließlich auch Israelis haben sich zurückgezogen –, griff es dann von der schiitischen Hizballah auf die sunnitischen Palästinenser in Israel über,

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wobei hier nun zunehmend auch Zivilisten betroffen waren. Als Begründung wurde vorgebracht, dass in Israel jeder, aber auch jeder dort lebende Jude als Eindringling und Besetzer anzusehen sei und von daher auch die Folgen tragen müsse. In der so genannten Fetwa-Erklärung Bin Ladens von 1998 wurde ausdrücklich zur Tötung von jüdischen und dann auch von amerikanischen Zivilisten aufgerufen. Im Falle der amerikanischen Nicht-Kombattanten lautete seine Begründung, diese seien als Steuerzahler für die Finanzierung des USMilitärapparates sowie als Wähler auch für die US-Außenpolitik verantwortlich. Daneben wurde noch das Argument der Vergeltung vorgebracht; die USA seien für vieltausendfachen Tod von Zivilisten verantwortlich, vor allem in Palästina und im Irak – gemeint waren in Bezug auf den Irak die Verluste an Menschenleben, die die Sanktionen gefordert hatten. Bevor ich mich dem ÊihÁd-Konzept zuwenden kann, muss noch ein Wort zu einem Konflikt gesagt werden, der sich zwischen dem Ideal des „Heiligen Kampfes“ und der eindeutigen Ablehnung des Selbstmordes in den normativen Texten wie auch im islamischen Kulturkreis in Vergangenheit und Gegenwart auftut. Zum einen scheint das Streben nach dem Heldentod in der frühen islamischen Zeit so ins Kraut geschossen zu sein, dass man es einzudämmen suchte. Beispielsweise wird dem Propheten Muhammad die Feststellung zugeschrieben, dass ein Mann, der sich am Jüngsten Tag als Märtyrer bezeichnet, der aber in Wahrheit aus Ruhmsucht gekämpft hat, in die Hölle komme. Eine andere Prophetentradition berichtet, dass der Prophet beim Feldzug gegen die Oase Khaibar einen Mann beobachtete, der außerordentlich tapfer auf der Seite der Muslime kämpfte. Zum großen Erstaunen seiner Gefährten soll Muhammad gesagt haben: „Wer einen künftigen Bewohner der Hölle sehen will, sollte sich diesen Mann anschauen.“ Einer von ihnen folgte dem Mann und beobachtete, wie dieser schließlich so schwer verwundet wurde, dass er sich in sein eigenes Schwert stürzte, um sein Leiden abzukürzen. Ins Lager zurückgekehrt, lief der Mann zum Propheten und berichtete, dass dieser mit seiner Einschätzung recht gehabt habe.1 Mit der hierin ausgedrückten Bewertung des Selbstmordes müssen sich natürlich die heutigen Gelehrten oder Halb-Gelehrten auseinandersetzen, die die häufigen Anschläge mit Sprenggürteln und Bomben verteidigen. Wer mit solchem Zubehör gegen den Feind vorgeht, kann so gut wie sicher sein, dass er sein Leben lässt, während früher, vor der Erfindung des Sprengstoffes, auch in sehr ungünstigen militärischen Lagen eine Aussicht bestand, mit dem Leben davonzukommen. Die argumentative Strategie läuft meistens darauf hinaus, dass dieser grundsätzliche Unterschied einfach ignoriert oder hinweggedeutelt wird. Auch wird als Voraussetzung für einen religiös einwandfreien derartigen Anschlag gefordert, dass der erwünschte Effekt nicht auch mit anderen Mitteln erzielt werden kann. Dieses Argument, das die Zweckmäßigkeit in den 1

Die Tradition ist angeführt nach Thomas Scheffler, Ein Tod, der zum Leben führt. Selbstmordattentate im Spiegel islamischer Rechtfertigungstexte. In: Ines Kappert / Benigna Gerisch / Georg Fiedler (Hg.), Ein Denken, das zum Sterben führt. Selbsttötung – das Tabu und seine Brüche, Göttingen 2004, S. 137–157, hier: 142 f.

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Vordergrund stellt, ist insofern wichtig, als sich die meisten radikal-islamistischen Gruppen im Allgemeinen höchst asymmetrischen Macht- oder Kräfteverhältnissen gegenübersehen, so dass eine Kosten-Nutzen-Analyse von daher meistens zugunsten des Selbstmordattentates ausfällt. Terroristische Anschläge sind nicht notwendigerweise mit dem Verlust des Lebens auf Seiten der Attentäter verbunden; die Anschläge in Madrid am 11. März 2004 haben gezeigt, dass radikal-islamistische Gruppen Anschläge aus der Distanz vorziehen, wenn dies machbar erscheint. Als sie wenige Zeit später in einer Wohnung von der spanischen Polizei gestellt wurden, zogen sie den eigenen Tod der Verhaftung vor; die Bilder vom explodierenden Wohnblock sind noch heute gegenwärtig. Wie der Prophet über dieses „Sich-Davon-Machen“ gedacht haben könnte, hat die eben angeführte Tradition gezeigt. Ein weiteres Problem stellt die Tötung von „Glaubensbrüdern“ dar, also die in Kauf genommene oder regelrecht geplante Tötung von Muslimen. Sie ist in der gesamten Theorie vom ÊihÁd gar nicht vorgesehen. Führt man sich vor Augen, dass sehr viel Blut in der islamischen Geschichte bei innerislamischen Kriegen vergossen wurde, so wird schon hier deutlich, dass die ganze Theorie vom ÊihÁd eine gewisse Realitätsferne hat. Natürlich hat es aber immer Versuche gegeben, ganze Feldzüge sowie auch die Tötung einzelner Muslime religiös zu begründen oder zu rechtfertigen. Auf kollektiver Ebene ist dies zum ersten Mal und dann aber geradezu exemplarisch durch die ËÁriÊiten geschehen. Diese politisch-religiöse Untergruppe hat sich nach der Schlacht von ÑiffÐn im Jahr 657 n. Chr. von ‘AlÐ losgesagt, dem Cousin und Schwiegersohn des Propheten MuÎammad, der nach dem Tod des dritten Kalifen ‘U×mÁn das Kalifat beanspruchte. Sie hielten nach dessen Abbruch des Kampfes weder die Umayyaden, also die zumeist spät bekehrten Mekkaner hinter Mu‘Áwiya, noch ‘AlÐ für kalifatswürdig, sondern meinten, dass dieses Amt dem „Frömmsten“ gebühre, nicht dem de facto Mächtigsten und auch nicht einem Verwandten des Propheten. Ihre Konsequenz war, alle nicht-ÌÁriÊitischen Muslime als Ungläubige zu betrachten und zu bekämpfen. Wir wissen heute, dass diese radikale Auffassung über die politische Herrschaft und über die Grenzziehung zwischen Glauben und Unglauben darauf zurückzuführen ist, dass sie sich bei der Herausbildung des frühislamischen Dotationssystems (des dÐwÁn) zu kurz gekommen sahen. Radikale islamische Theologie ist hier offenbar eine Folge enttäuschter politischer Ansprüche, womit ich nicht bestreiten möchte, dass die ËÁriÊiten subjektiv tief gläubig gewesen sein mögen. Die ÌÁriÊitische Exkommunizierung aller anderen Muslime lautet auf Arabisch takfÐr, wörtlich: zum Ungläubigen (kÁfir) erklären. Dieses Konzept zieht sich, mit einigen Latenzzeiten, durch die ganze islamische Geschichte hindurch. Im 11. Jahrhundert hat der Jurist und Theologie al-ÇazÁlÐ diejenigen Philosophen für ungläubig erklärt, die nicht an die leibliche Auferstehung und die Erschaffenheit der Welt glauben, und hat hinzugefügt, dass diese Pseudo-Muslime an sich die Todesstrafe verdient hätten. Praktische Folgen scheint dies nicht gehabt zu haben, und in mancher Hinsicht kann man al-ÇazÁlÐ wenigstens bescheinigen, dass die beiden Punkte Auferstehung und

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Gottes Rolle als Schöpfer der Welt zu den zentralen Botschaften des Korans gehören. Im frühen 14. Jahrhundert hat der Îanbalitische Theologe Ibn Taimiyya die Mongolen, die damals das syrisch-ägyptische Reich der Mamluken bedrohten, zu Ungläubigen erklärt, obwohl sie nominell Muslime waren. Er begründete dies damit, dass nach seinen eigenen im mongolischen Heerlager gemachten Beobachtungen die Pflichten und Verbote des Islams nicht beachtet würden. Damit hat er den Mamluken die Grundlage für einen ÊihÁd gegen die asiatischen Eindringlinge gegeben. In jüngeren Zeiten ist vor allem Sayyid QuÔb als Protagonist von geradezu massenhafter Exkommunizierung zu nennen. Dieser Mann, von Hause aus Lehrer, hat sich unter der scharfen Verfolgung der Muslimbrüder im Ägypten der frühen Nasserzeit zunehmend radikalisiert. Seine Diagnose lautete am Ende, dass sich die islamische und speziell die arabische Welt weithin in einem Zustand befände, die dem vorislamischen Heidentum, der ÊÁhiliyya, gleichzusetzen sei; es würden Personen, Ideen oder materielle Werte verehrt, nicht aber Gott, dem allein die Verehrung der Menschen gebühre. Die Konsequenz aus dieser Diagnose lautet für QuÔb, dass auch Gesellschaften mit vorwiegend muslimischer Bevölkerung nicht als Teil einer wirklich islamischen Welt anzusehen seien. Für ihn scheint als Folgerung die gewaltsame Beseitigung von muslimischen Regenten noch nicht im Vordergrund gestanden zu haben; vielmehr baut er strategisch auf eine Art von Zellenbildung wahrer Muslime, eine Art von hiÊra im eigenen Land, zu Glaubensverwandten hin. Trotzdem erschien seine ÊÁhiliyya-Diagnose dem Nasser-Regime so subversiv, dass er 1966 hingerichtet wurde. Seine Bedeutung für die weltanschauliche Befindlichkeit der Muslime in der Gegenwart kann schlecht überschätzt werden. Die takfÐrEinschätzung bildet ohne Zweifel die ideologische Grundlage für die Ermordung des ägyptischen Staatspräsidenten Sadat im Jahr 1981. Die Tötung eines Staatsmannes ist allerdings eher als politisches Attentat einzustufen denn als Terroranschlag. Wie auch im Falle der Tötung von nichtmuslimischen Zivilisten hat seit den 80er Jahren bei der Tötung von Muslimen durch Muslime eine beispiellose Verrohung eingesetzt. Die Anfänge liegen im algerischen Bürgerkrieg, der den nicht umgesetzten Wahlen von Anfang 1991 folgte und in dem inzwischen über 100 000 Menschenleben zu beklagen sind. Von Seiten der islamistischen Guerilla hat man sich meines Wissens um eine Rechtfertigung der regelrechten Abschlachtung von muslimischen Mitbürgern gar nicht lange bemüht. Unter den vielen Faktoren, die bei der algerischen Entwicklung eine Rolle gespielt haben, ist nicht zuletzt die massive Präsenz von so genannten „algerischen Afghanen“ zu nennen, von Männern also, die sich vorher als MuÊÁhidÐn im Kampf gegen die sowjetischen Besatzer in Afghanistan ihren Lebensunterhalt verdient hatten und nach dem Abzug der Sowjets wieder nach Nordafrika zurückgekehrt waren. Ich fasse das bisher Gesagte noch einmal kurz zusammen: Zivilisten dürfen dem klassischen islamischen Kriegsrecht zufolge nicht getötet werden; um dies dennoch zu rechtfertigen, müssen Hilfskonstruktionen ersonnnen werden. Entweder werden sie irgendwie Kombattanten gleichgesetzt, oder man spricht von

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bedauerlichem, aber unvermeidlichem Kollateralschaden. Selbstmord ist an sich nach islamischer Tradition strikt untersagt; wiederum muss eine Hilfskonstruktion herhalten, der zufolge der sichere und selbst herbeigeführte Tod dem nur wahrscheinlichen Tod in einer Schlacht gegen eine Übermacht gleichzusetzen ist. Muslime dürfen andere Muslime nicht töten; um dies dennoch im Namen der Religion tun zu dürfen, wird das Totschlagargument der Exkommunizierung, des takfÐr, bemüht. Dies hat zwar eine Tradition, die bis in die ersten Jahrzehnte der islamischen Geschichte, zu den ËÁriÊiten, zurückreicht, aber mit der kollektiven „Verheidung“ im Fahrwasser von Sayyid QuÔb haben wir es doch mit einem recht rezenten Phänomen zu tun. Nach diesen Präliminarien aber nun zum zentralen Konzept des ÊihÁd. Es gibt verschiedene Wege, sich ihm zu nähern; man kann bei den frühesten historischen Ereignissen und Konzepten beginnen und dann bis zur Gegenwart fortschreiten, man kann die jeweilige Theorie mit der Praxis vergleichen, und man kann die eher defensive Interpretation der gemäßigt offensiven und radikal-offensiven gegenüberstellen. Ich möchte den letztgenannten Weg wählen und dabei mit der offensiven Variante beginnen. Dafür kann ich beim uns nun schon bekannten Sayyid QuÔb beginnen; genau gesagt mit seinem Büchlein „Ma‘Álim fÐ Ô-ÔarÐq“ („Wegzeichen“) und der überarbeiteten Spätfassung seines umfangreichen Korankommentars. Zunächst einmal kann auf das Positivum hingewiesen werden, dass QuÔb für die Kriegsführung ethische Regulative auf der Basis von Prophetentraditionen nennt, z. B. das Verbot, Kinder, Alte und Frauen zu töten, zu verstümmeln, zu plündern oder Menschen zu verbrennen. Gerichtet ist der ÊihÁd gegen jede nicht echt islamische Ordnung, wobei das Ziel allerdings nicht eine Zwangsbekehrung der Angehörigen von anderen monotheistischen Schriftreligionen ist, sondern nur die Errichtung allgemeiner islamischer Suprematie. Das sieht er mit tiefer Überzeugung und ohne jeden Zynismus als eine Art von Befreiungsoperation an: „Es ist kein ÊihÁd, um das Königreich eines Dieners von Gott zu errichten, sondern ein ÊihÁd, um Gottes Königreich auf Erden zu errichten! Daher muss er auf der ganzen Erde einsetzen, um alle Menschen zu befreien. Dabei wird zwischen dem, was innerhalb der Grenzen des Islam liegt, und dem, was außerhalb davon liegt, kein Unterschied gemacht. Denn alles ist die Erde, die der Mensch bewohnt und auf der es überall Götzen gibt, die Gottes Diener [anderen] Dienern von Gott unterwerfen.“2

Die Rolle des Retters der Menschheit hat Konsequenzen, wie ein anderes Zitat aus QuÔbs Korankommentar zeigt: „Es ist das Recht der Menschheit, dass sie der Aufruf zu diesem umfassenden göttlichen Weg erreicht und ihr dabei kein Hindernis im Wege steht. Nachdem der Aufruf zum Islam die Leute erreicht hat, ist es ebenfalls das Recht der Menschheit, dass ihnen die Freiheit gelassen wird, diese Religion anzunehmen, und ihr dies weder durch ein Hindernis noch durch eine Macht versperrt wird. Es ist die Pflicht der muslimischen Gemeinschaft, sie mit Gewalt vor jenen zu verteidigen, die sich ihr mit Schaden entge2

Sabine Damir - Geilsdorf, Herrschaft und Gesellschaft. Der islamistische Wegbereiter Sayyid QuÔb und seine Rezeption, Würzburg 2003, S. 185.

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genstellen. [Dies muss sie tun,] um die Glaubensfreiheit zu garantieren, die Sicherheit der Menschen zu gewährleisten, die Gott recht leitet, und um im Leben Gottes Weg festzusetzen und die Menschheit vor der Entbehrung dieses allgemeinen Wohl zu bewahren. Aus diesen drei Rechten entsteht noch eine andere Pflicht für die Gemeinschaft der Muslime: jede Macht zu zerstören, die sich dem Aufruf zum Islam in den Weg stellt, seine freie Übermittlung an die Leute behindert, die freie Annahme des Glaubens bedroht oder die Leute von ihm abfallen lässt. Und es entsteht die Pflicht, dass die muslimische Gemeinschaft so lange ÊihÁd betreibt, bis jegliche Verführung von Gottesgläubigen keiner Macht der Erde mehr möglich ist und die ganze Ordnung Gottes Ordnung ist.“3

Hier sind wir an einem entscheidenden Punkt angekommen, nämlich der alten Frage, ob der ÊihÁd Pflichtcharakter hat. Im eben vorgetragenen Zitat wird für Pflicht das arabische wÁÊib gebraucht, das sowohl obligatorische kultisch-rechtliche Handlungen bezeichnet als auch alltagssprachlich einfach „Pflicht“ bedeutet; damit liegt hier noch ein Rest von Ambivalenz vor. In seiner kleinen Schrift „Wegzeichen“, die im Gegensatz zum Korankommentar vor dem Druck keiner Zensur ausgesetzt war, gebraucht er dann das Wort farÃ, das unzweideutig die religiöse Pflicht bezeichnet. Es gehe darum, die ÊÁhiliyya zu „zermalmen“, so dass ein Muslim es sich nicht aussuchen könne, ob er in die Schlacht ziehe oder nicht.4 Was den Zeitpunkt des ÊihÁd betrifft, so wurde eben schon gesagt, dass QuÔb von mehreren Phasen bei der Formierung der wirklich islamischen Gesellschaft ausgeht – in weitestgehender Analogie übrigens zu seinem Bild von der Entstehung der islamischen Urgemeinde in Mekka und Medina, und die Stunde des offensiven ÊihÁd schlägt ihm zufolge erst, wenn die letzte Stufe erreicht ist, in der eine hinreichende Fähigkeit zu seiner Durchführung besteht. Natürlich hat QuÔb Vorläufer gehabt, in Ägypten vor allem Íasan al-BannÁ, 1949 ermordeter Begründer der Muslimbruderschaft, der auch schon mehrere Stufen zu einer wahrhaft islamischen Gesellschaft annahm und eine recht offensive ÊihÁd-Lehre vertrat. Ich habe QuÔb und nicht al-BannÁ so ausführlich zitiert, weil sich die heutigen Islamisten vor allem auf ihn beziehen und weil al-BannÁ den ÊihÁd im Wesentlichen als Instrument zur Befreiung von Kolonialund Mandatsherren betrachtete, wie dies sich auch einfach aus der wesentlich früheren Zeit seiner politischen Wirksamkeit ergab – die Muslimbruderschaft hat er im Jahre 1928 gegründet. Was ist nun eigentlich neu an QuÔbs ÊihÁd-Konzept? Das Ziel der Herstellung einer allgemeinen islamischen Suprematie jedenfalls nicht; und dass eine Gemeinschaft erst einmal ein Mindestmaß an Stärke haben muss, bevor sie in die Offensive geht, ist eigentlich auch eher selbstverständlich. Es ist eigentlich nur die Einstufung des ÊihÁd als gegenwärtige Individualpflicht. Die klassische Lehre der sunnitischen Juristen spricht von einer „farà al-kifÁya“, der so genannten „Pflicht für eine hinreichende Anzahl (von Kämpfern)“. Dieser Pflicht war eigentlich schon Genüge getan, wenn irgendwo in der großen islamischen Welt ein Kontingent an Glaubenskämpfern aktiv war; wir haben es also mit ei3 4

Ebd., S. 185 f. Vgl. ebd., S. 190.

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nem sehr elastischen Konzept zu tun. In der Tat hat es lange Perioden gegeben, in denen muslimische Herrscher keinerlei Anstalten zum ÊihÁd machten, sondern sich vielmehr als Förderer von kulturellem und wirtschaftlichem Austausch betätigten. Nur für den Fall der Bedrohung des islamischen Territoriums und der freien Ausübung des Glaubens wurde die „Pflicht der hinreichenden Anzahl“ zu einer Individualpflicht. Letztlich entspricht QuÔbs Konzept der klassischen Lehre völlig; der Unterschied besteht nur darin, dass er wegen des seiner Auffassung nach verheerenden Zustandes des Islams in den nominell islamischen Ländern die Bedrohung des islamischen Territoriums und der Glaubensfreiheit zu seiner Lebenszeit als gegeben ansah. Der Unterschied besteht also letztlich nur in der abweichenden, wesentlich kritischeren Beurteilung der Gegenwart auch der islamischen Welt als weithin „heidnisch“. Dieser Befund eines gegenwärtigen Heidentums auch in der Welt des Islams wirkt, wie gesagt, bis zur Stunde nach. Aus dem geistigen Umfeld der Männer, die im Oktober 1981 Sadat umbrachten, ist eine Schrift bekannt geworden, die auf 54 Seiten die Pflichtgemäßheit dieser Tat nachzuweisen sucht. Sämtliche möglichen Argumente, die Sache des Islams auf andere Weise zu befördern und die betreffenden Koranstellen und Prophetentraditionen anders auszulegen, werden geduldig, aber unbeirrbar abgehandelt. Die dem Pamphlet zufolge einzig sinnvolle und gebotene Handlungsweise ist in seinem Titel benannt: Das Dokument heißt „al-FarÐÃa al-ÈÁ’iba“, auf Deutsch „Die verborgene religiöse Pflicht“. Mit dieser Pflicht ist natürlich die des ÊihÁd gemeint, so wie ihn die Mörder Sadats verstanden haben. Da für uns die Schlüssigkeit extremistischer Positionen ein wichtiges Thema ist, seien einige Sätze des niederländischen Islamwissenschaftlers Johannes Jansen zitiert, der diesem Text eine ausführliche Studie gewidmet hat. Er hat seine Informationen nicht oder nicht nur am Schreibtisch in Leiden gewonnen, sondern war in den frühen 80er Jahren auch lange in Ägypten. In seinem Vorwort schreibt er: „No one reading the text of ‚The Neglected Duty‘ can fail to be impressed by its coherence and the force of its logic.“ Etwas später kommt er darauf zu sprechen, dass der Text des Pamphletes im Dezember 1981, also zwei Monate nach dem Attentat, in der Kairiner Zeitung al-AÎrÁr publiziert wurde, und erwähnt, dass die Herausgeber es nicht unterlassen hätten, ihre Leser auf die Gefährlichkeit der ausgebreiteten Argumentation hinzuweisen. Jansen schließt, zweifellos zu Recht, dass die Herausgeber wohl Grund zu der Annahme hatten, dass der Inhalt des Schriftstückes wenigstens theoretisch doch auf einige Sympathien bei den Lesern des Blattes stoßen könnte. Und in seiner Zusammenfassung sagt er: „When even a non-Muslim reader of the FarÐÃah has every now and then the impression that everything he ever read from the Qur’Án, the Tradition, and the books of fiqh suddenly falls into place, how much more will the text of the FarÐÃah evoke this feeling with Muslim readers?“5 5

Johannes J. G. Jansen, The Neglected Duty. The Creed of Sadat’s Assassins and Islamic Resurgence in the Middle East, New York / London 1986, S. XVII, 2 und 152.

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Als ein letztes Beispiel für die in gedruckter Form greifbare Verteidigung einer extrem offensiven ÊihÁd-Auslegung sei aus noch jüngerer Zeit das 1997 in Amman erschienene Werk des ansonsten unbekannten ‘Abdalmalik al-BarrÁk angeführt, dessen Titel lautet: „Widerlegungen des Geschwätzes und der Irrlehren über den ÊihÁd. Wissenschaftliche Studie, viele Fragen des ÊihÁd behandelnd, in Form der Replik auf das Buch des Dr. al-BÙÔÐ ‚Der ÊihÁd im Islam‘“. Das Titelblatt wird von zwei gekrümmten Schwertern verziert, wie wir sie ähnlich von der saudi-arabischen Staatsflagge oder dem Emblem der Muslimbruderschaft kennen – letzteres kommt wohl in diesem Fall eher als Vorbild in Betracht. Derjenige, der hier so heftig angegangen wird, ist seinerseits selbst ein streitbarer Mann, wenn er auch in Fragen des ÊihÁd einer eher defensiven Deutung anhängt. Es ist MuÎammad Sa‘Ðd RamaÃÁn al-BÙÔÐ, der durch die Doppelrolle als religiöser Führer und als Rechts- und Religionsgelehrter eine fast singuläre Position im zeitgenössischen Syrien innehat. Die Koranstellen und Prophetenworte, die er in seiner ÊihÁd-Monographie anführt, sind weitgehend dieselben wie die im Buch seines Kritikers. Angesichts dieser Lage drängt sich die Frage auf, wieso die beiden dann zu so grundverschiedenen Ergebnissen kommen können. Die Ursachen für den Dissens liegen in den verwendeten hermeneutischen Methoden sowie in den divergierenden Grundauffassungen über die frühislamische Geschichte. Beim ersteren Punkt, der Hermeneutik, bestehen beispielsweise Unterschiede darüber, wie die Chronologie von unterschiedlichen koranischen Aussagen zu einem bestimmten Thema angesetzt wird; da im Allgemeinen die späteste Regelung als die endgültige angesehen wird, kann die zeitliche Einordnung der verschiedenen Offenbarungen von einiger praktischer Tragweite sein. Ferner herrscht hinsichtlich der Prophetentradition, die die koranischen Bestimmungen in vieler Hinsicht ergänzt, keine letzte Einigkeit über ihre Verbindlichkeit und ihre Echtheit. Um nur ein Beispiel zu nennen: Wenn man heute einen Anhänger des sunnitischen Mainstream-Islam nach dem ÊihÁd fragt, wird man oft hören, dass der militärische ÊihÁd doch ohnehin nur eine untergeordnete Rolle spiele; schon der Prophet hätte den Kampf gegen die eigene Lasterhaftigkeit und Schwäche als den „größeren ÊihÁd“ bezeichnet und damit die eigentlichen Prioritäten klargestellt. Die Anhänger des offensiven ÊihÁd entgegnen hierauf, dass diese Tradition unecht sei, und können sich dazu auch auf eine entsprechende Einschätzung des Îanbalitischen Juristen Ibn Qayyim al-Éauziyya aus dem 14. Jahrhundert berufen. Wenn man sich dann für den Koran, der in der Hierarchie der Rechtsquellen ganz oben steht, einmal einigen kann, was denn wann offenbart worden ist und was es denn dem Wortsinn nach etwa heißt, tun sich stark voneinander abweichende Grundannahmen über die Verbindlichkeit des Korans auf. Am einen Ende der Skala haben wir es mit den Literalisten zu tun, die die koranischen Vorschriften etwa auch über die Bestrafung von Diebstahl im Buchstabensinne exekutiert wissen möchten. In den letzten Jahrzehnten haben sich aber am anderen Ende der Skala Stimmen gemeldet, die überhaupt nur den mekkanischen Suren bindende Kraft zu-

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gestehen wollen, und diese Teile des Korans beschäftigen sich eher allgemein mit Gottes Schöpfertum, dem Jüngsten Gericht und der Verpflichtung des Menschen zu Dankbarkeit als mit Anweisungen zu konkreten Verhaltensweisen im Alltag. Dieser Ansatz ist wesentlich vom sudanesischen Gelehrten MaÎmÙd MuÎammad ÓÁhÁ propagiert worden, der wegen seines Widerstandes gegen die Einführung der Scharia im Sudan durch an-NumairÐ als Apostat angeklagt und 1985 hingerichtet wurde. ÓÁhÁs Schüler ‘AbdallÁh an-Na‘Ðm vertritt die Ansichten seines Lehrers aus dem Exil an der Emory University in Atlanta und baut sie aus. Ähnlich ist der koranhermeneutische Ansatz des ägyptischen Juristen MuÎammad Sa‘Ðd al-‘AšmÁwÐ; auch seine Strategie läuft auf eine Historisierung vermeintlich überzeitlicher Vorschriften hinaus. Beispielsweise sagt er zum Koranvers 5/51, der da lautet: „Ihr Gläubigen! Nehmt euch nicht die Juden und Christen zu Freunden!“, dass dies in einer aktuellen Situation des Streites mit dem jüdischen Stamm der BanÙ QuraiÛa in Medina offenbart worden sei und somit keine allgemeine Anleitung zur Gestaltung „ökumenischer“ Beziehungen sei. Neben diesen Unterschieden in der Hermeneutik spielt im Fall des ÊihÁd noch eine ganz wesentliche Rolle, dass die frühislamische Geschichte unter der Führung des Propheten den Charakter eines Vexierbildes hat, wenn es um die Frage „offensiv oder defensiv?“ geht. Das Bild der heutigen extremen Islamisten besagt klipp und klar, dass die frühislamische Expansion alles andere als ein nur reaktiv-defensives Unternehmen gewesen sei. Dagegen wird der Anhänger des modernen „Mainstream-Islams“ antworten, dass die Angriffe auf die Mekkaner nur eine Reaktion auf die Enteignung der Häuser der nach Medina Emigrierten, auf Vertreibung und Beschränkung der Glaubensfreiheit gewesen sei. Die moderne Geschichtswissenschaft wird aus verschiedenen Gründen hier keine eindeutige und endgültige Klärung herbeiführen können. Die zuletzt genannten Islam-Interpreten, die ja für weitgehend säkularisierte Positionen stehen, haben einen schweren Stand. Hinter ihnen steht eine Minderheit von stärker westlich beeinflussten Muslimen, die ebenso wie ihre Sprecher unter innergesellschaftlichem Druck stehen und durch die weltpolitische Entwicklung zusätzlich entmutigt werden. Ich habe etwas zugespitzt gesagt, dass sowohl die defensiven als auch die radikal-offensiven bis terroristischen ÊihÁd-Konzepte durchaus mit einer inneren Schlüssigkeit aus Koran und Prophetentradition abgeleitet zu sein scheinen. Es bleibt aber die Frage, warum ein gewisser Anteil von Muslimen die Neigung hat, sich auf die radikaleren Positionen einzulassen, und sei es nur theoretisch. Die Faktoren, die hier wirksam werden, sind zahlreich; ich möchte mich auf zwei Punkte beschränken, die ich für besonders wichtig halte. Zum einen spielt eine betrüblich bis schockierend negative Einschätzung der religiösen, politischen und kulturellen Lage in den islamischen Ländern und der Lage der islamischen Welt im Verhältnis zur übrigen eine große Rolle. Die Muslime sehen sich dabei vielfach als Opfer mehr oder weniger systematisch betriebener antiislamischer Politik. Die Geschlossenheit dieses Weltbildes und

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seine fast flächendeckende Verbreitung gehören zu den eindringlichsten Erfahrungen, die ich bei der Begegnung mit Muslimen aus und in den verschiedensten Ländern gemacht habe. Darüber, ob diese Sicht angemessen ist, lässt sich trefflich streiten; einige Punkte sind nicht leicht nachzuvollziehen, andere nur schwer zu widerlegen. Wichtiger als die Frage nach der Angemessenheit der Sichtweise ist die Tatsache, dass diese religiös imprägnierte Weltanschauung derartigen Widerhall findet. Auch dafür lassen sich Gründe benennen. Zum ersten entlastet es den Einzelnen ebenso wie größere Gruppen natürlich, wenn für Missstände externe Faktoren oder Akteure verantwortlich gemacht werden können. Sodann wird die Zuweisung von Schuld nach außen von den Regimes dankbar aufgegriffen, um die Schwäche ihrer Legitimität zu überdecken. Und außer den Potentaten haben auch andere Gruppen aus dem Establishment an der Verstärkung der Opfertheorie mitgewirkt. Etwas überspitzt kann man sagen, das die Rolle des Opfers zu einem Teil des Gegenwartsislams geworden ist. Der zweite Komplex, der eine wesentliche Rolle spielt, ist der Umstand, dass in der islamischen Welt bestimmte negative historische Erfahrungen mit der Verquickung von Religion und weltlicher Machtausübung noch nicht gemacht worden sind. In Europa reichen antiklerikale Strömungen bis ins 11. Jahrhundert zurück; in der islamischen Welt hat sich ein Klerus im Sinne einer hierarchischen Organisation außerhalb des zwölferschiitischen Islams kaum herausgebildet, und die Religionsgelehrten konnten deshalb und weil sie materiell durch die so genannten „Frommen Stiftungen“ und durch direkte Zuwendungen aus der Bevölkerung abgesichert waren, der Korrumpierung durch die weltliche Macht eher als im christlichen Abendland entgehen. Vielmehr haben sie sich oft als Anwälte der kleinen Leute und der lokalen Bevölkerung gegenüber den oft landfremden Machthabern erwiesen. Das erste Land, das in den letzten 25 Jahren in dieser Hinsicht negative Erfahrungen machen musste, ist Iran. Nach allem, was man von dort hört, wird die Vermischung von religiöser und politischer Sphäre inzwischen weithin abgelehnt, und unlängst forderte gar Husain Khomeini, Enkel des iranischen Revolutionsführers, dass diese beiden Sphären strikt getrennt werden müssten.6

6

Weiterführende Literatur: Zum Thema der Tötung von Zivilisten s. Scheffler, Ein Tod, der zum Leben führt, S. 150–152; zur Tradition des ÊihÁd innerhalb der islamischen Welt s. Werner Schwartz, ÉihÁd unter Muslimen, Wiesbaden 1980; zu Sayyid QuÔb und seiner ÊÁhiliyya-Diagnose s. Sabine Damir - Geilsdorf, Herrschaft und Gesellschaft; zur klassischen und modernen Konzeption vom ÊihÁd s. Rudolph Peters, Islam and Colonialism. The Doctrine of Jihad in Modern History, Den Haag 1979; zur tatsächlichen oder vermeintlichen Rolle des Opfers einer antiislamischen Aggression s. Bassam Tibi, Die Verschwörung. Das Trauma arabischer Politik, Hamburg 1993; Daniel Pipes, The Hidden Hand. Middle East Fears of Conspiracy, Basingstoke 1996; Stefan Wild, Die arabische Rezeption der „Protokolle der Weisen von Zion“. In: Rainer Brunner u. a. (Hg.), Islamstudien ohne Ende. Festschrift Werner Ende, Würzburg 2002, S. 517–528.

Systematische Perspektive Zur Vieldeutigkeit von Freiheit, Pluralismus und Fundamentalismus

Fundamentalismus, religiöser Pluralismus und die Aufklärung Hermann Lübbe

1.

Aufklärung kantisch

Modernisierungsabhängig steigt der Bedarf an Klassikern. Je höher die Menge der Innovationen pro Zeiteinheit ansteigt, die wir, individuell und kollektiv, zu verarbeiten haben, umso wichtiger wird zugleich die Verfügbarkeit überlieferter kultureller Bestände, die alt, aber unbeschadet ihres Alters nicht veraltet sind und so orientierungspraktisch stabilisierend wirken. Entsprechend empfahl Heinrich Scholz, in aufbruchsbewegter Zeit, die Vergegenwärtigung dessen, „was nicht durch ein Barometer registriert werden kann, das andauernd auf veränderlich steht“.1 Gesprächsweise verwies Scholz dazu gelegentlich auf Platon einerseits, und auf Kant andererseits, und gern nimmt man die Fülle der Feiern zu Ehren Kants zur Kenntnis, die Universitäten und Volkshochschulen, Akademien und Bürgervereine im Erinnerungsjahr 2004 auszurichten für verpflichtend hielten. Die Zahl der Veranstaltungen dürfte fast an die Menge der analogen Gelegenheiten im Adorno-Jahr 2003 heranreichen, und die die beiden Erinnerungsjahre verbindende Hauptparole ist „Aufklärung“. Klassiker-Œuvres sind im Regelfall sehr umfangreich. Das bedeutet: Ihre aktuelle Rezeption erfolgt stets überwiegend eklektisch. Im Falle Kants ist es ein einziger kleiner Essay, der 2004 mit großem Abstand vor allen anderen Kantischen Texten genannt und zitiert wurde – zur deutschen kulturellen und politischen Selbstverpflichtung auf das Aufklärungserbe passend, Kants „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ aus dem Jahr 1784. Madame de Staël hatte gefunden, dass in Frankreich „sich niemand die Mühe“ machen würde, Kants „von Schwierigkeiten strotzende“ Hauptwerke zu studieren. Aber Kant ist eben auch als Publikumsschriftsteller erfolgreich gewesen. Madame de Staël hat das anerkannt und gerühmt, Kants Stil sei „beinahe immer vollkommen klar, nachdrücklich und einfach“, sobald er „seinem wissenschaftlichen Sprachgebrauch“ entsage.2 Die neue Popularität der kleinen Kantischen Aufklärungs1 2

Heinrich Scholz, Metaphysik als strenge Wissenschaft, Köln 1941, S. 185. Anne Germaine de Staël, Über Deutschland. Vollständige und neu durchgesehene Fassung der deutschen Erstausgabe von 1814 in der Gemeinschaftsübersetzung von Friedrich Buchholz, Samuel Heinrich Catel und Julius Eduard Hitzig, hg. und mit einem

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schrift vergegenwärtigt somit in erfreulicher Weise, dass die klassische deutsche Philosophie eben auch ihre popularphilosophische Seite hatte. Nach ihrem Inhalt ist die neue Popularität des Kantischen Aufklärungsessays eher überraschend. Aktuell ist sie nicht, wie man rasch erkennt, sobald man den Text nicht nur feiert, sondern auch liest und über die bekannten obligaten Zitate hinaus auch noch einige wenige weitere Sätze zur Kenntnis nimmt. „Aufklärung“, so weiß inzwischen jeder aufgeweckte höhere Schüler aufzusagen, sei „der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“.3 „Selbstverschuldet“ nennt dann Kant diejenige Unmündigkeit, die nicht auf einem abänderungsunfähigen „Mangel des Verstandes“ beruhe, vielmehr auf „Faulheit und Feigheit“, die es anderen leicht mache, sich zu unseren „Vormündern aufzuwerfen“. Diese Ermunterung zum Mut im Geltendmachen intellektueller Autonomie gegenüber den Hütern von Denkgeboten mit ihrer angemassten politischen Autorität hat man also neuerlich auch im Kant-Jahr 2004 einleuchtend gefunden, und in Deutschland zumal. Wer möchte sich denn nicht im Rückblick auf die Katastrophe totalitärer Herrschaft wünschen, die Zahl der mutig den Lenkern der totalitären Weltverbesserungsprojekte Widersprechenden sei grösser, ja bis zu erfolgreichem Widerstand groß genug gewesen? Und nachdem wir stattdessen die Erbschaft der Katastrophe haben antreten müssen, scheint Kants Aufklärungsprogramm umso unwidersprechlicher zu den Fälligkeiten politischer Sicherung unserer Freiheiten für die Zukunft zu gehören. Gegen diese gute Meinung bei der Inanspruchnahme Kants für eine aufgeklärtere Zukunft ist selbstverständlich nichts einzuwenden, wohl aber bleibt hinzuzufügen, dass diejenige politische Widerstandskraft, die aus intellektueller Emanzipation resultiert, nach aller historisch verfügbaren Erfahrung eher als ein schwaches Antidot im Konflikt mit den Geltungsansprüchen moderner politischer Machtmonopole einzuschätzen ist. Dafür schärft man den Blick im Rückblick auf die geradezu rührende politische Harmlosigkeit der Männer und Mächte, gegen die Kant in seinem Aufklärungsessay zu mutiger Betätigung des eigenen Verstandes aufrief. Vom „Arzt“ ist da die Rede, „der für mich die Diät beurteilt usw.“ und so mich verführt, ohne kritische Rückfrage und „faul“ bis hin zur Widerspruchsunfähigkeit in seine Autorität zu vertrauen. Den „Seelsorger“ erwähnt Kant überdies, „der für mich Gewissen hat“ und auch über „ein Buch“ verfügt, „das für mich Verstand hat“, wobei man an die Bibel, den Katechismus oder auch an die unterrichtspolizeilichen Instruktionen für den Religionsunterricht denken mag.4 – Wir tun, wie man erkennt, mit der Lektüre des Kantischen Aufklärungsessays einen Blick in die Welt des Spätabsolutismus,

3 4

Nachwort versehen von Monika Bosse. Mit einem Register, Anmerkungen und einer Bilddokumentation, Frankfurt a. M. 1985, S. 553. Immanuel Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: Immanuel Kants Werke, hg. von Ernst Cassirer, Band 4, Berlin 1922, S. 167–176, hier: 169. Ebd.

Fundamentalismus, religiöser Pluralismus und Aufklärung

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und die Aufklärungsgeschichte, die diese Welt in der Tat noch vor sich hatte und für die Kant wirkungsreiche Anstösse gab, mag man sich exemplarisch am langen und zähen Widerstand der preußischen Volksschullehrerschaft und ihrer politischen Repräsentanz gegen die geistliche Schulaufsicht vergegenwärtigen. Für diesen Widerstand gab es tatsächlich bis in das letzte Jahrzehnt der kaiserlichen Zeit hinein Anlass.5 Zusammenfassend gesagt heißt das: Der „Mut“, zu dem Kant seine Leser ermunterte, war z. B. der in der Tat nötige und schließlich auch erfolgreiche Mut des Dorfschulmeisters vor dem Herrn Superintendenten.6 Ersichtlich bedarf es, zur Ausbildung von individueller und kollektiver Resistenz gegen die totalitäre Versuchung, Kräfte, die stärker als jene Kräfte sind, die uns aus intellektueller Emanzipation zuwachsen können, und das aus wenigstens zwei Gründen. Erstens sind die modernen Hochideologien, über die sich die totalitären Regime legitimieren und deren Projekte sie exekutieren, ihrerseits Intellektuellenkonstrukte. Sie repräsentieren gerade nicht jene traditonal vermittelten erkenntnismoralischen Geltungsansprüche, im Blick auf die Kant den „Verstand“ ermuntern wollte, sich mutig als ihren aufgeklärten Bekenner zu betätigen. Die neuen und radikalen Verbindlichkeitsansprüche moderner Hochideologien resultieren vielmehr aus der Gewissheit von Intellektuellen, endlich die Politik aus ihrer Bindung an erblindete Traditionen und damit zugleich aus der Macht kontingenter Herrschaftsinteressen befreit und auf den endlich erkannten Sinn der Geschichte verpflichtet zu haben.7 Traditionsfromme Autoritätsgläubigkeit emanzipationsscheuer Voraufgeklärter war es doch nicht, die das bolschewistisch gewordene Moskau mit dem Heilsspruch „Ubi Lenin, ibi Jerusalem“ intellektuell einsegnen ließ,8 oder auch dazu veranlasste, Hitlers ersten Massenmord, vollstreckt an höheren SA-Führern und etlichen sonstwie missliebig gewordenen Personen, öffentlich mit dem Satz „Der Führer schützt das Recht“ zu kommentieren.9 Man sieht: Mit einem Aufklärungsbedarf, der auch auf die modernen „politischen Religionen“10 sich sinnvoll be5

Vgl. dazu Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Band 4: Struktur und Krisen des Kaiserreichs, Stuttgart / Berlin / Köln / Mainz 1969, § 58; Die Kämpfe um die Volksschulverfassung 1890–1914, S. 887–906. 6 Wie sich solcher Mut betätigte und wie er sich im Kontext politischer Aktivitäten Rückhalt verschaffte, lässt sich exemplarisch in der Autobiographie eines Volksschullehrers, der politische Karriere gemacht hat, nachlesen. Vgl. Jann Berghaus erzählt. Lebenserinnerungen von Jann Berghaus, hg. von Siever Johanna Meyer-Abich, Aurich 1967, S. 182: „Dass ich eine angemessene Schülerzahl, gesundheitlich einwandfreie Klassen, Fachaufsicht unter Beseitigung der geistlichen Schulaufsicht, eine angemessene Besoldung zur Beseitigung des Lehrermangels forderte, ist wohl selbstverständlich.“ 7 So die Quintessenz der Theorie philosophisch induzierter politischer Unfreiheit nach Karl R. Popper, Das Elend des Historizismus, 2. Auflage Tübingen 1969. 8 So tat es Ernst Bloch. 9 So Carl Schmitt, vgl. Bernd Rüthers, Carl Schmitt im Dritten Reich, München 1989, S. 53–58: „Carl Schmitt zum 30. Juni 1934.“ 10 Zum großen Thema „Politische Religionen“ vgl. Hans Maier (Hg.), ,Totalitarismus‘ und ,Politische Religionen‘. Konzepte des Diktaturvergleichs, Paderborn / München / Wien / Zürich 1996; zur Kritik am Konzept der politischen Religionen vgl. Lübbe: Die Religi-

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ziehen ließe, hat es der Kantische Aufklärungs-Essay schlechterdings nicht zu tun. Zweitens ist der Kantische Aufklärungs-Essay auch deswegen auf das 20. Jahrhundert und damit auf unsere eigenen politischen Erfahrungen kaum beziehbar, weil Kant, indem er zur Förderung der Aufklärung zur moralischen Tugend des Mutes ermunterte, die Moral selber als Quelle der Massenzustimmung zu totalitärer Gewaltherrschaft zu erkennen und zu thematisieren ersichtlich noch gar keinen Anlass fand. „Faulheit und Feigheit“ – das sind gewiss Faktoren gemeiner Unmoral, wie sie stets der Erhaltung der Macht falscher Autoritäten zugute kommen. Indessen: Zumeist existieren doch Menschen ungern unter dem Niveau gemeinhin anerkannter moralischer Ansprüche, denen sie entsprechen sollten. Aber dem Dilemma, dass bequeme Anpassung an die Autorität eines „Seelsorgers“ oder auch eines modernen ideologischen Führers einen vor sich selbst schließlich moralisch disqualifizieren müsste, lässt sich entkommen, und das überdies mit großen subjektiven Gewissheitsgewinnen. Man bekehrt sich und folgt der Autorität, bei der man zuvor nur bequemlichkeitshalber mitlief, aus Antrieben der Erweckung, die einem zuteil geworden ist. Aus „Faulheit und Feigheit“ wird so durch neue Glaubensgewissheit Idealismus. Das ist einer der Mechanismen, die aus Mitläuferschaften Gefolgschaften macht.11 Kants Aufklärungs-Essay ist natürlich ein Text aus der Zeit vor der Französischen Revolution. Das neue Phänomen des revolutionären Terrors hat dann auch bei Kant selbst noch die vorrevolutionäre Aufklärungsnaivität gebrochen, und diesem Bruch haben wir den schönen Kantischen Begriff der moralischen Trauer zu verdanken. Gegenstand dieser Trauer sind nicht einfachhin die bekannten Übel, die Menschen, indem sie ihren Vorteil auf Kosten ihrer Mitmenschen suchen, einander bereiten, vielmehr jene Untaten, zu denen Menschen gerade in „Verfolgung“ ihrer „für wichtig und groß gehaltenen“ Zwecke, als Aufgeklärte eben, sich verpflichtet wissen.12

on und die Legitimität der Neuzeit. Modernisierungsphilosophie bei Eric Voegelin, bei Hans Blumenberg und in der Ritter-Schule. In: ders., Modernisierungsgewinner. Religion, Geschichtssinn, Direkte Demokratie und Moral, München 2004, S. 58–79, 77 f. 11 Zur moralistischen Komponente in der Transformation von Mitläuferschaft in Gefolgschaft vgl. Lübbe, Politischer Moralismus. Der Triumph der Gesinnung über die Urteilskraft, 2. Auflage Berlin 1989, S. 30 ff. 12 Kant, Kritik der Urteilskraft. Werke, Band 5, S. 348.

Fundamentalismus, religiöser Pluralismus und Aufklärung

2.

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Interessentenaufklärung

In der Zusammenfassung bedeutet das: Die Dominanz des Aufklärungs-Essays in der Rezeption des Kantischen Werkes gedenkjahreshalber hat die öffentliche Aufmerksamkeit auf Fälligkeiten der Aufklärung fixiert, deren aktuelle politische Bedeutung eher marginal ist. Sie hat damit zugleich von Aufklärungsprozessen abgelenkt, die politisch fortdauernd wirksam sind, und das sogar in weltpolitischen Dimensionen. Es handelt sich um die Geburt aufgeklärter politischer Lebensordnung, statt aus dem intellektuellen Willen zu seelsorgerlich ungebundener Freiheit des Verstandesgebrauchs, aus dem Willen fundamentalistisch gebundener Frommer zu politisch uneingeschränkt freier Führung ihres Lebens gemäß den Maßgaben ihrer Frömmigkeit. Dass der Glaubensfundamentalismus, statt Gegenstand intellektueller Zersetzung aufklärungshalber zu sein, seinerseits zu einer Kraft der Findung und Selbstbehauptung aufgeklärter, nämlich politisch freier Lebensverhältnisse werden kann – das mag uns unter den Herausforderungen des aktuellen, religiös-fundamentalistisch motivierten Terrors befremdlich vorkommen. Nichtsdestoweniger handelt es sich bei dem skizzierten Zusammenhang von freier politischer Lebensordnung einerseits, und religiöser Selbstbindung strenger Observanz andererseits nicht um eine Fiktion, vielmehr um eine manifeste historisch-politische Realität, die noch fortwirkt, ja neu sich belebt hat und bis in die internationale Politik hinein Wirkung entfaltet. Das sei hier exemplarisch vorgeführt und zwar aus Abkürzungsgründen durch Erzählung einer marginalen, aber realen und zugleich hoch signifikanten Geschichte. Die Geschichte beginnt in Preußen, gewinnt hier prekäre Züge und endet in den USA glückhaft.13 Also: Friedrich Wilhelm III., König von Preußen und Kirchenherr, verfügte 1817 die Vereinigung der Lutheraner und Reformierten zur Kirche der Union mit ihrer harmonisierten Gottesdienstagende. Das hört sich modern an: Alte Glaubensgegensätze, die erwiesenermaßen bis tief in politische Lebenszusammenhänge hinein Unfrieden gestiftet hatten, als Vergangenheitsrelikte gegenstandslos machen, Gemeinsamkeiten herausarbeiten und Theologengezänk in Konsens verwandeln. Eben dieser Sicht der Dinge widersetzten sich aber kleine Gruppen bekenntniseifriger Lutheraner in Niederschlesien und in der Provinz Sachsen strikt. Wo die Bibel und damit ihr Autor das letzte Wort hat, gelte dieses Wort eben, wie schon beim gescheiterten Religionsgespräch zu Marburg 1529, auch heute noch. Nicht „Faulheit und Feigheit“, vielmehr der Eifer des Glaubens ließ an etlichen Plätzen Pfarrer wie ihre Gemeinden sich dem königlichen Unionsbefehl widersetzen. Schließlich fanden sich, etwa 1834 in Hönigern unterhalb Breslaus, die Oberbehörden veranlasst, 13 Ausführlicher habe ich diese Geschichte in meiner Abhandlung „Aufklärung als sozialer Prozess. Religiöser Fundamentalismus und Demokratie“ ausgebreitet. In: Lübbe, Modernisierungsgewinner. Religion, Geschichtssinn, Direkte Demokratie und Moral, München 2004, S. 15–45.

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den starrköpfigen Alt-Lutheranern die von ihnen besetzte Kirche mit Militärgewalt zu entreißen. Der unionswillige Pfarrer wurde aus seinem geistlichen Staatskirchenamt entlassen. Zuflucht fanden die Bedrängten und Verfolgten in der „Neuen Welt“.14 Einfachhin modern wird man die Altlutheraner nicht nennen wollen. Von Aufklärungsresistenz im Kantischen Sinn, nämlich von „Mangel an Mut“ in bequemer Anpassung an den „Seelsorger“, kann aber auch nicht die Rede sein. Weit über alles hinaus, was Kant aufklärungshalber für denkbar gehalten hätte, erhoben doch im erwähnten Fall gläubige Untertanen ihren Widerspruch, statt gegen ihren „Seelsorger“, im Einvernehmen mit diesem sogar gegen den König. Und sie ließen sich ihren Mut auch etwas kosten, die Heimat sogar, und sie wurden wie zahllose glaubensverfolgte Europäer vor ihnen zu Auswanderern. Es hat seine Evidenz, dass die widersetzlichen schlesischen Altlutheraner keine Kantianer waren. Aufklärungseifer im Sinne des im Kant-Jahr 2004 zu kanonischer Geltung erhobenen Kantischen Aufklärungs-Essays zeigten sie nicht. Sie waren so unaufgeklärt wie Teilen der europäischen Intelligenz heute die USA erscheinen, und die Frage ist, wieso sich denn hier, wie behauptet, just aus dem fundamentalistischen Eifer von Alt-Frommen ein Beitrag zur Festigung moderner aufgeklärter politischer Lebensverhältnisse ereignet haben soll. Nun: In der „Neuen Welt“ angekommen, wo seit dem Inkrafttreten des ersten Zusatzartikels zur amerikanischen Verfassung, also seit 1791, ein Staatskirchenverbot galt und mit ihm zugleich die uneingeschränkte Freiheit der Religion konstituiert war, fanden die widersetzlichen preußischen Frommen, was sie brauchten: eine öffentliche Ordnung, in der es jene Obrigkeit nicht mehr gab, die über die Autorität und das Recht verfügt hätte, den Bürgern in Angelegenheit ihres Gebetsbuchs oder ihrer Gottesdienstagende hineinzureden. Auch der Gefahr, ihren angeblich altväterlich beschränkten Glauben zugunsten eines revolutionär exekutierten Kults der universellen Vernunft aufgeben zu sollen, unterlagen sie, anders als gute 40 Jahre zuvor in Europa die Untertanen der Jakobinischen Emanzipationsdiktatur, schlechterdings nicht. Sie existierten nun, in die USA gelangt, frei, auch religionsfrei, und der Lebenssinn dieser Freiheit war von einer weiterer Aufklärung nicht bedürftigen pragmatischen Evidenz. Entsprechend wurden aus befreiten Gläubigen alsbald Patrioten des Landes, in welchem die Freiheit, statt sich im Kampf gegen die Geltungsansprüche des Glaubens zu konstituieren, ihnen diente. Die Menschenrechte gewannen politische Lebenskraft nicht als Ideal herkunftsemanzipierter Freigeister, vielmehr aus den trivialen, nämlich elementaren Lebensinteressen der Frommen.15 14

Zur verfassungsgeschichtlichen und näherhin religionsrechtlichen Seite der Sache vgl. Kap. „Die schlesischen Altlutheraner“ bei Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Band 2: Der Kampf um Einheit und Freiheit 1830–1850. 2., verbesserte Auflage Stuttgart, Berlin/Köln / Mainz 1968, S. 272–275. 15 Zur Verfassungsgeschichte der USA in ihrem religionsgeschichtlichen Kontext vgl. Wolfgang Vögele, Menschenwürde zwischen Recht und Theologie. Begründung von Men-

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Selbstverständlich: Allein schon aus Gründen ihrer minimalen Quantität blieb die Rolle der Altlutheraner in den USA marginal. Aber ihre Geschichte ist ja hier auch nur aus Gründen ihrer Signifikanz, ihrer Deutlichkeit für das gemeine politische Interesse an einer freien, aufgeklärten Rechtsordnung erwähnt worden, das just im Willen intellektuell emanzipationsresistenter Bürger sich zum Ausdruck bringt. Man kann die skizzierten Zusammenhänge auch unter Verwendung des Begriffs der Säkularisation beschreiben. Selbstverständlich hat dann das amerikanische Religionsrecht als Recht einer uneingeschränkt säkularisierten Staatsordnung zu gelten. Wer dem Glauben, den der Gläubige als wahren Glauben bekennt, seinen Rechtsvorrang entzieht, mindert eben damit in wohlbestimmter Hinsicht den öffentlichen Rang dieses Glaubens und unterwirft ihn der Geltung eines vollsäkularisierten Rechts uneingeschränkter Gleichstellung aller Bekenntnisansprüche. Eben aus diesem Grund hatte Pius XII noch im Jahre 1953 dem Rechtsinstitut der Religionsfreiheit die kirchliche Anerkennung verweigert16 und auf Toleranz als auf das gebotene Medium zur Moderation von Glaubenskonflikten verwiesen. Das war europäisch gedacht. Indessen: „American culture is characterised by the coexistence of the secular and the religious“ – so hat es David D. Hall17 gesagt, und nicht zuletzt den amerikanischen Katholiken ist das zugute gekommen.18 Sie konnten sich so zur stärksten in der Vielzahl amerikanischer Religionsgemeinschaften entwickeln, was ihnen unter einem nicht-katholischen amerikanischen Staatskirchentum, das ja historisch gleichfalls seine Parteigänger gehabt hatte, schwerlich möglich gewesen wäre. Das brachte zur Evidenz, dass das zentrale Institut säkularer politischer Ordnung, die Religionsfreiheit eben, statt Gegenstand einer idealen Verpflichtung aus irritierender, aber leider unaufhaltsamer Modernität zu sein, ein Institut der Förderung der Interessen der Kirche selber ist. Die förmliche Anerkennung dieses Instituts durch das zweite Vatikanische Konzil war die Konsequenz dieser Einsicht.19 Entsprechend nimmt man inzwischen gern auch im Rückblick auf die europäische Säkularisationsgeschichte zur Kenntnis, dass der Entzug politischer Herrschaftsrechte die Kirche nicht beraubt, vielmehr entlastet hat und schenrechten in der Perspektive öffentlicher Theologie, Gütersloh 2000, S. 60–194: „Die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika.“ 16 Arthur Fridolin Utz / Joseph Fulko Groner (Hg.), Aufbau und Entfaltung des gesellschaftlichen Lebens. Soziale Summe Pius’ XII., 2. Auflage Freiburg (Schweiz) 1954, Nr. 3978 (S. 2049). 17 David D. Hall, Religion and Secularization in America. A Cultural Approach. In: Hartmut Lehmann (Hg.), Säkularisierung, Dechristianisierung, Rechristianisierung im neuzeitlichen Europa. Bilanz und Perspektive der Forschung, Göttingen 1997, S. 118–130, 118. 18 Michael Zöller, Washington und Rom. Der Katholizismus in der amerikanischen Kultur, Berlin 1995. 19 Zweites Vatikanisches Ökumenisches Konzil. Erklärung über die Religionsfreiheit. Authentischer Text der Acta apostolica sedis. Deutsche Übersetzung im Auftrag der Deutschen Bischöfe. Mit einer Einleitung von Prof. Dr. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Münster (Westfalen) 1968.

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damit die Entfaltung religiösen Lebens, wie sie für das 19. Jahrhundert charakteristisch ist, begünstigt.20 Wo die Freiheiten des säkularen öffentlichen Rechts einschließlich der Freiheit der Religion, statt herrschender Religion abgerungen zu sein, ihre öffentliche Anerkennung und Geltung nicht zuletzt den religiösen Interessen selber verdanken, gibt es auch für den Rückzug des religiösen Lebens aus dem öffentlichen, ja aus dem politischen Leben, gar kein Motiv. Das bedeutet: Die Repräsentanten des politischen Lebens, zumal wenn sie ihr Amt nicht zuletzt dem hohen Anteil der Frommen unter ihren Wählern zu verdanken haben, sehen gar keinen Anlass, ihre eigene Prägung durch eine gute Religion vor der Öffentlichkeit zu verstecken. Dass die Religion zum privaten und öffentlichen Leben des Landes gehöre, wird somit von den Repräsentanten des Landes mitrepräsentiert, und eben das erklärt, wieso der amerikanische Präsident öffentlich beten kann, ja dass solche Gebete bei den in der Politik stets naheliegenden Anlässen dazu sogar erwartet werden. Der Präsident gibt eben beim Einzug ins Weiße Haus seine Religion nicht an der Pforte als öffentlich irrelevante Privatsache ab, um sie am Ende der Wahlperiode abzuholen und im Privatleben sich ihr wieder uneingeschränkter zuzuwenden. Er repräsentiert doch sein Land in jeder Hinsicht, und es erschiene lebensfremd, wenn just dabei die Religion unsichtbar bliebe. Wieso also sind demgegenüber die Präsidenten in Europa gehalten, ihre Religion, statt sie frei zu bekunden, diskret zurückzustellen? Eine Antwort unter vielen, die zu einer vollständigen historischen Erklärung der in Kontinentaleuropa vergleichsweise reduzierten politisch-öffentlichen Präsenz der Religion gehören würden, könnte lauten: Zum historischen Hintergrund der meisten europäischen Staaten gehören Traditionen von Staatskirchentümern, deren religionskonfliktträchtige bürgerliche Verbindlichkeit schließlich in friedenssichernder Absicht zugunsten friedensverbürgender allgemeiner Freiheit der Religion bis hin zur Abschaffung der Staatskirchen aufgegeben werden musste. Zur konsequenten institutionellen Trennung von Staat und Kirchen kam es im so genannten Laizismus, was die Staatsrepräsentanz zwang, religionskulturell purgiert aufzutreten. In den Ländern mit Staatskirchenrechtssystemen entwickelten sich dagegen Formen religionsfreundlich privilegierter, öffentlich-rechtlicher Verselbständigung ehemaliger Staatskirchen. Der Effekt ist, dass die Staatsrepräsentanz zur Bekundung ihrer Glaubens- und Bekenntnisneutralität sich zivilreligiöser Aktivitäten auch hier zu enthalten hat. Allfällige öffentliche Gebete, die man bei Staatstraueranlässen doch für sachangemessen hält, blei20 Vgl. dazu Margaret Lavinia Anderson: Die Grenzen der Säkularisierung. Zur Frage des katholischen Aufschwungs im Deutschland des 19. Jahrhunderts. In: Hartmut Lehmann (Hg.), Säkularisierung, Dechristianisierung, Rechristianisierung im neuzeitlichen Europa. Bilanz und Perspektiven der Forschung, Göttingen 1997, S. 194–222, ferner Lübbe, Säkularisation. Modernisierung und Zukunft der Religion. In: Vom Krummstab zum Adler. Säkularisation in Westfalen 1803–2003, hg. vom Direktor des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe, Münster 2003, S. 17–38.

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ben entsprechend respektvoll exklusiv Sache der Zuständigkeit hinzugebetener Bischöfe oder sonstiger Kirchenrepräsentanten. Dass tatsächlich unter dem Druck der Lebenswirklichkeit auch der laizistische Staat immer wieder einmal nicht umhin kommt, die religiöse Verfassung der von ihm mitrepräsentierten öffentlichen Kultur zu bekunden, darf man dabei nicht übersehen. Längst ist der Laizismus nicht mehr, wofür man ihn zumal in den nicht-laizistischen Ländern zu halten pflegt – weder in Frankreich21 noch in der Türkei.22 Unbeschadet der zuletzt angedeuteten religionskulturellen Angleichungsvorgänge, die sich modernisierungsabhängig zwischen den Ländern diesseits und jenseits des Atlantik vollziehen mögen, bleiben die Differenzen zwischen den herkunftsgeprägten religionsrechtlichen und religionskulturellen Lebensverhältnissen beträchtlich, und sie sind fortdauernd politisch folgenreich. Diese Folgen haben sogar weltpolitische Dimensionen. Der jüngste Balkankrieg lehrt es. Die Probleme, die sich auch für den Balkan aus dem Zerfall des real existent gewesenen Sozialismus ergeben mussten, gehörten um die Wende der 80er zu den 90er Jahren zunächst „weder in Bonn noch in Brüssel, weder in Paris noch in London, weder in Moskau noch in Washington“ zu den vorrangigen Herausforderungen internationaler Politik.23 Das sollte sich unter der drohenden Auflösung der jugoslawischen Föderation ändern. Deutschland und Österreich anerkannten alsbald die Souveränität der Separationsstaaten Slowenien und Kroatien. In Frankreich, auch in Großbritannien, hielt man das für einen Fehler und tadelte es – teils in politischer Nachwirkung des Prinzips der Unteilbarkeit der Nation und ihrer Souveränität, teils aus pragmatischer Besorgnis neuer politischer Ungleichgewichte, wie sie mit Separationsvorgängen verbunden sein können. Überdies gab es auch noch das historisch begründete Interesse, die europäische Ordnung, die man am Ende des Ersten Weltkriegs in den Pariser Vorortverträgen für sinnvoll gehalten und fixiert hatte, möglichst nicht desavouiert zu finden. Eben das hat dann auch die serbische Regierung annehmen lassen, man werde sie in ihrem Versuch nicht hindern, aus dem alten Jugoslawien ein um Slowenien und einem Kroatien-Rest verkleinertes Groß-Serbien zu machen. Es war die Brutalität, mit der dieser Versuch exekutiert wurde, die dann die Staatengemeinschaft einschließlich der alteuropäischen West-Allierten auf die Unaufhaltsamkeit separatistischer Verselbständigungen sich einstellen ließ – so schließlich im Bosnien-Konflikt. Und beim Entschluss zur Aufbietung der militärischen Gewalt, die Serbien zwang, sich seinerseits damit abzufinden, haben 21 Vgl. dazu Alois Müller, Laizität und Zivilreligion in Frankreich. Zur Debatte über die „laïcité ouverte“. In: Rolf Schieder (Hg.), Religionspolitik und Zivilreligion, Baden-Baden 2001, S. 142–171. 22 Vgl. dazu Andrew Davison, Secularism and Revivalism in Turkey. Hermeneutic Reconsideration, New Haven / London 1998. 23 Arnold Suppan, Am Balkan nichts Neues? Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. In: Nation und Nationalismus in Europa. Kulturelle Konstruktion von Identitäten. Festschrift Urs Altermatt, hg. von Catherine Bosshart Pfluger/Joseph Jung/Franziska Metzger, Frauenfeld / Stuttgart / Wien 2002, S. 451–462, hier: 452.

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in der Tat auch religionspolitische Aspekte eine Rolle gespielt. Die USA erwiesen sich als das Land der größeren Empfindlichkeit für die weltpolitischen Dimensionen der Sache. Man erinnere sich an die symbolisch gemeinte Zertrümmerung der Gazi-Husrev-Beg-Moschee in Sarajevo durch die serbische Artillerie. Inzwischen ist diese Moschee „mit Unterstützung Saudi-Arabiens wieder aufgebaut worden“.24 Das ist seinerseits ein hoch symbolischer Vorgang. Er belegt das Interesse, mit der die islamische Welt auf die Auseinandersetzungen im balkanischen Europa aufmerksam war. Man erinnere sich auch an den Besuch der beiden Damen Çiller und Bhutto, also der Mitte der 90er Jahre amtierenden Ministerpräsidentinnen der beiden größten und zugleich militärstärksten islamischen Länder diesseits Indonesiens in Sarajevo. Die Frage war, ob Europa und darüber hinaus der Westen die Liquidation der letzten religionskulturellen Reste des Osmanischen Reiches westlich der heutigen Türkei hinnehmen werde. Die nahostpolitischen Folgen der Glaubwürdigkeitsverluste, die mit einer Duldung der Säuberung Bosniens von Relikten selbstbestimmungsfähiger islamischer Kultur zwangsläufig verbunden gewesen wären, hätten natürlich in erster Linie die USA als die im Nahen Osten sicherheitspolitisch einzig uneingeschränkt handlungsfähige Macht belastet. Entsprechend starteten Ende August und Anfang September 1995 vom Flugzeugträger „Theodore Roosevelt“ gemäß NATO-Beschluss Kampfbomber der USA und erzwangen für Sarajevo durch Liquidation der um diese Stadt herum postierten Artillerie den Frieden. Der Vorgang wiederholte sich dann in analoger Weise später noch einmal, als Serbien im Vertrauen auf westeuropäisches Interesse an seiner Unteilbarkeit vermeinte, sich auf das ultimative Verlangen der Rambouillet-Konferenz vom Februar 1999, den muslimischen Einwohnern des Kosovo endlich Selbstbestimmungsrechte zu gewähren, nicht einlassen zu müssen. Es war dann die NATO, die mit ihren primär von den Amerikanern gestellten militärischen Mitteln das Ende des serbischen Versuchs erzwang, im Kosovo die religionskulturellen Langfristwirkungen der Schlacht auf dem Amselfeld zu revidieren. In der politischen Quintessenz bedeutet das: Kompetenter als die Führungsmächte der heute in der Europäischen Union sicherheitspolitisch schwach miteinander kooperierenden Länder Alt-Europas erwies sich in der Handhabung der jüngsten Balkankrise die USA. Dabei beruhte diese größere Kompetenz nicht allein auf der Verfügung über ausreichende militärische Mittel, vielmehr zugleich auf der erfahrungsgesättigten Einsicht in eine modernitätsspezifische Friedensbedingung. Es handelt sich um die Erfahrung, dass im Konfliktfall die politische Gewährleistung von Selbstbestimmungsrechten wichtiger als der separationsvorbeugende Schutz bedrohter staatlicher Einheit ist, und das insbesondere dann, wenn der fragliche Selbstbestimmungswille vom Interesse an der Erhaltung und Verlebendigung einer bedrohten religionskulturellen Identität mitgeprägt ist.

24 Vgl. ebd., S. 451.

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In der Orientierung an diesem Grundsatz war die Politik der USA in der Balkankrise zukunftsfähiger als die politischen Optionen, von denen sich maßgebende Länder in der Europäischen Union zunächst leiten ließen. Entsprechend gilt heute im Rückblick diese Phase der Bemühungen der Union, sich außenund sicherheitspolitisch als handlungsfähig zu erweisen, auch gemeinhin nicht als rühmlich. Indessen: Für den zweiten Irak-Krieg gilt etwas anderes. In Teilen der Weltöffentlichkeit und zumal in der Mehrzahl der kontinentaleuropäischen Länder hat sich die Meinung verfestigt, dass die völkerrechtliche Legitimität dieses Krieges zweifelhaft sei, und wer als Laie dazu besonnene Experten befragt, gewinnt kein anderes Bild.25 Dabei darf man sicher sein, dass der völkerrechtliche Aspekt der Sache sich nicht einmal in den Vordergrund drängen würde, wenn die Liquidation des Saddam-Regimes rasch zu einem durchschlagenden Erfolg im Kampf gegen den Groß-Terror geführt hätte. Eben davon kann aber bislang keine Rede sein. Wenn das so bliebe, so könnte das im politischen Aspekt der Sache heißen, dass die amerikanische Entscheidung für den Krieg – um es auch hier in Aufnahme eines Zynismus von Talleyrand zu sagen – schlimmer als ein Rechtsverstoß war, nämlich ein Fehler. Dabei hätte man freilich zugleich zu berücksichtigen, dass mit der globalisierungsabhängig wachsenden Bedeutung des Völkerrechts auch die politischen Schadensfolgen von Verstößen wider es wachsen. Aber was ist die richtige politische Antwort auf die neuen Herausforderungen des seinerseits global gewordenen Groß-Terrors? Ersichtlich genügt es zur Beantwortung dieser Frage nicht zu sagen, dass es sich in jedem Fall um eine in ihrer völkerrechtlichen Legitimität unzweifelhafte Politik handeln müsse. Die internationale Politik ist auf der Suche nach einer Strategie, die nach Kriterien der Zweckrationalität antiterroristisch erfolgreich sein könnte, und dazu gehört selbstverständlich auch der religionspolitische Aspekt der Sache. Immerhin war es ein „Krieg gegen den Großen Satan“, der mit dem Angriff auf die USA im September 2001 eröffnet sein sollte, und die Dimensionen des Eröffnungsschlages erreichten die der Katastrophe von Pearl Harbor im Dezember 1941. Mit einiger Verblüffung nimmt man entsprechend zur Kenntnis, dass prominente europäische Groß-Intellektuelle und auch sonstige Repräsentanten des öffentlichen Lebens die amerikanische Reaktion auf diese Herausforderung nun ihrerseits als voraufgeklärtes Gotteskriegertum qualifizierten. Moderat ist noch die Feststellung Hans Küngs, man müsse den Präsidenten Bush „als Fundamentalisten“ bezeichnen. Gemäß Walter Jens hat man sich in der Klage über die Politik der Ayatollahs bislang wohl in der Adresse geirrt: „Bush – das ist der Ayatollah. Ein Mann, der auf ,christlicher‘ Basis einen heiligen Krieg zu führen versucht.“ Der prominente und verdiente deutsche Kirchenmann Manfred 25 Vgl. Daniel Thürer, Testfall Irak. Ist das Völkerrecht wirklich am Ende? In: Neue Zürcher Zeitung. Internationale Ausgabe. Nr. 32 vom 8./9. 2. 2003, ferner: Dieter Blumenwitz, Die völkerrechtlichen Aspekte des Irak-Konflikts. In: Zeitschrift für Politik, 50 (2003) 3, S. 301–334.

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Kock bekundete „furchtbare Angst“ – das aber nicht über den nahgerückten Groß-Terror der islamistischen Gotteskrieger, vielmehr über den „religiösen Fundamentalisten“ im amerikanischen Präsidentenamt, der glaube, eine religiöse Mission erfüllen zu müssen. Auch der bekannte Politiker aus der deutschen Christlich-Demokratischen Union, Heiner Geißler, hält zur Charakteristik von George W. Bush den Neologismus „christlicher Ajatollah“, der einen „Kreuzzug“ plane, für angemessen. Ein evangelischer Kirchenpräsident beklagt die amerikanische Absicht, „das Böse zu bekämpfen“,26 und ein bekannter Theologe identifiziert als geistigen Hintergrund der amerikanischen Politik, „nebst Cäsaropapismus“, „Freund-Feind-Denken“.27 Dem Mangel an Verständnis dessen, worum es sich im Extrem- und Ernstfall bei der Politik handelt, mag man auf sich beruhen lassen. Immerhin waren doch die Amerikaner Objekt eines Angriffs gewesen, der sie über 3 000 Tote gekostet hatte. Das Subjekt eines solchen Angriffs pflegt man doch, auch nach alt-europäischer Überlieferung, einen „Feind“ zu nennen, und die neuerdings verbreitete Art, das für eine Manifestation bedauerlichen „Freund-Feind-Denkens“ zu halten, dürfte exklusiv deutsch sein. Nicht hier liegt das tatsächlich bislang ungelöste Problem, vielmehr in Mängeln der für strategische und taktische Zwecke ausreichenden Identifizierung und Charakteristik des Feindes. Gravierender noch und bis in die religiösen Dimensionen menschlicher Lebensverfassung reichend ist die in den zitierten USkritischen Stimmen sich bekundende Weigerung, die Unterscheidung von Gut und Böse überhaupt politisch für relevant zu halten. Da hatten doch nun die Amerikaner ihren mitentscheidenden Beitrag zum Sieg der Alliierten im Zweiten Weltkrieg geleistet, der vom Regime der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei ausgelöst worden war, sie hatten sich überdies als schließlich siegreiche Schutzmacht der freien Länder im Kalten Krieg gegen den bolschewistischen Internationalsozialismus bewährt: Wie hätte das alles ohne einige Sicherheit im Urteil über die weltpolitische Verteilung von gut und böse möglich sein können? Gewiss: In der jetzt fälligen Abwehr des weltweit terroristisch aktiv gewordenen islamistischen Extremismus sind die Fronten, an denen der Abwehrkampf mit guten Erfolgsaussichten geführt werden könnte, weniger leicht als in vergangenen Kriegen zu identifizieren. Aber schließlich ist doch schon jedes Geiselbefreiungsunternehmen, jede Entschärfung rechtzeitig entdeckter Sprengsätze, ja die schlichte Bewachung bedrohter UNO-Quartiere und humanitärer Einrichtungen eine Sache auf Leben und Tod, und es bleibt eine befremdliche Vorstellung anzunehmen, man könne im politischen Lebenszusam-

26 Diese und weitere verwandte Stimmen zitiert und belegt Manfred Brocker, Zivilreligion – missionarisches Sendungsbewusstsein – christlicher Fundamentalismus? Religiöse Motivlagen in der (Außen-) Politik George W. Bushs. In: Zeitschrift für Politik, 50 (2003) 2, S. 119–143, 119 f. 27 Hans-Eckehard Bahr, Der Kampf für das Gute. Religiöse Motive amerikanischer Machtpolitik. In: zur debatte. Themen der Katholischen Akademie in Bayern, 4 (2003), S. 28 f.

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menhang Bürgern, Soldaten nämlich, ohne einige Gewissheit über die hier jeweils gegebenen Grenzverläufe zwischen gut und böse ihre gefährlichen Einsätze zumuten. „Einige Gewissheit“ – das schließt verbliebene Ungewissheiten ein, und allein deswegen schon bleibt es rational, bei solchen Einsätzen überdies noch Gebetshilfe in Anspruch zu nehmen.

3.

Wissenschaftliche Weltanschauung als Religionsersatz. Ein Rückblick

Altaufgeklärte mögen sich skeptisch fragen, ob nicht unbeschadet der erwiesenermaßen produktiven Rolle, die die an kognitiver Aufklärung im zitierten kantischen Sinne gänzlich desinteressierten Frommen in der amerikanischen Freiheitsgeschichte gespielt haben, langfristig gesehen dennoch intellektuelle Emanzipation zu den Erhaltungsbedingungen jeder modernen Kultur gehört. Immerhin haben es in den USA über 70 Nobelpreisträger im Kontext des so genannten Kreationismus-Streits, der immerhin vor Staatsgerichtshöfen ausgetragen wurde, für erforderlich gehalten, vor fundamentalistischen Einschränkungen der Unterrichtsfreiheit zu warnen. Auch zur Beantwortung dieser Frage möchte ich eine Geschichte erzählen, nämlich die Geschichte vom fortschreitenden kulturellen Bedeutungsverlust der in Deutschland vor einhundert Jahren einmal so genannten „wissenschaftlichen Weltanschauung“, die sich als aufgeklärtes Antidot gegen rezente und kulturkonservativ gehegte religiöse Weltbilder verstand. Es ist übrigens in diesem Zusammenhang, dass das von Kant erfundene Wort Weltanschauung zu einer Kulturkampfparole avancierte, was wiederum rechtsgeschichtlich zur Folge hatte, dass nicht nur „die Freiheit des religiösen [...] Bekenntnisses“ in unserer Verfassung festgeschrieben wurde, vielmehr die des „weltanschaulichen Bekenntnisses“ gleichfalls. Also: In Jena lehrte Ernst Haeckel, Ehrenpräsident des 1906 gegründeten Deutschen Monistenbundes, in welchem sich zu repräsentativen Anteilen die naturwissenschaftlich-medizinische Intelligenz in kulturkämpferischer Absicht versammelte und organisierte. „Weltanschauung und Weltgestaltung“ – so lautete der Untertitel des Vereinsorgans „Das Monistische Jahrhundert“,28 und wichtigster Vereinszweck war, das deutsche Bildungssystem für eine vorbehaltlose Rezeption des modernen naturwissenschaftlichen Wissens zu öffnen. Aus heutiger Perspektive gesehen ist das, wie noch zu zeigen sein wird, ein harmloser Zweck. Damals wirkte er frontenbildend. Die Gegenfront weltanschaulicher Rückständigkeit – so sah man das damals – versuchte demgegenüber die Kirchen zu halten und mit ihnen partiell auch der Staat als Veranstalter des öffentlichen Unterrichts von der Religionslehre bis zur Realienkunde. 28 Vgl. Das Monistische Jahrhundert. Weltanschauung und Weltgestaltung. Leipzig 1912/13 (1). Programmatisch äußern sich hier Wilhelm Oswald und Willy Bloßfeld, Zur Einführung, ebd., S. 1 ff.

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Das ist vereinfachend gesagt, aber eben diese Vereinfachung macht die ersatzkirchlichen Formen plausibel, unter denen die Partei der weltanschaulichen Neuerer hervortrat. Als „Glaubensbekenntnis eines Naturforschers“ präsentierte Ernst Haeckel die Essenz des monistischen Weltbildes.29 Analog hatte zuvor schon der alt gewordene Hegelianer David Friedrich Strauß30 sein überaus wirksam gewordenes Spätwerk „Der alte und der neue Glaube“ betitelt. Dieses Buch stellte sich in seiner Einleitung als „Bekenntnis“ vor und charakterisierte „die moderne Weltanschauung“ als „das mühsam errungene Ergebnis fortgesetzter Natur- und Geschichtsforschung im Gegensatz gegen die christlich-kirchliche“ Lehre von der Welt, in der wir leben. Wilhelm Oswald, immerhin ein Nobelpreisträger, hielt „Monistische Sonntagspredigten“ in ersatzkirchlicher Absicht konsequenterweise zur Hauptgottesdienstzeit.31 Oswald projektierte sogar „ein monistisches Kloster“ und sah sich auch in der Lage, auf die große Frage, „Wie kam das Böse in die Welt?“, endlich eine wissenschaftlich aufgeklärte Antwort zu geben.32 Ernst Haeckel löste in einem der erfolgreichsten Bücher der deutschen Wissenschaftsgeschichte „Die Welträtsel“33, rief hier „monistische Kirchen“ aus, die bestellt sein sollten, „monistische Religion zu lehren.34 Exemplarisch mochte das heißen, die paläontologisch erschlossenen Relikte unserer naturgeschichtlichen Herkunft als „Schöpfungsurkunden“ zu lesen.35 Es erübrigt sich, diese historisch sehr breit gelagerten Fakten ersatzkirchlicher naturwissenschaftlicher Weltanschauungsbildung hier umfänglicher zu schildern.36 Das alles ist nahezu gänzlich vergangen, und es ist schwer, sich mit ironischen Kommentaren zurückzuhalten. Aber es empfiehlt sich, diese Zurückhaltung zu üben. Die monistische Ersatz-Großkirche gibt es nicht mehr, gewiss. Aber einen kirchenoffiziellen Anti-Darwinismus z. B., oder analoge Verketzerungen der kognitiven Gehalte modernen naturwissenschaftlichen Wissens gibt es auch nicht mehr. Während noch auf den frühen Katholikentagen im späten 19. Jahrhundert, auf dem Frankfurter Tag z. B., der Darwinismus als glaubensapologetische Herausforderung ersten Ranges traktiert wurde, vermochte Ende der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts Joseph Ratzinger einen Widerspruch

29 Ernst Haeckel, Der Monismus als Band zwischen Religion und Wissenschaft (1892). In: ders., Gemeinverständliche Werke, hg. von Heinrich Schmidt, Band 5: Vorträge und Abhandlungen, Leipzig / Berlin 1924, S. 407–444, hier: 441. 30 David Friedrich Strauß, Der alte und der neue Glaube. Ein Bekenntnis (1872), Leipzig 1923. 31 Wilhelm Oswald, Monistische Sonntagspredigten, Leipzig 1911 ff. 32 Die Zitate repräsentieren Titel exemplarischer Sonntagspredigten. 33 Haeckel, Die Welträtsel. Gemeinverständliche Studien über monistische Philosophie, 341.–360. Tausend, Leipzig 1918. 34 Ebd., S. 215 ff. 35 Haeckel, Der Monismus, S. 241. 36 Zum größeren Kontext der insoweit skizzierten Geschichte vgl. Kap. „Weltverbesserung aus ,wissenschaftlicher Weltanschauung‘“. In: Lübbe, Politische Philosophie in Deutschland. Studien zu ihrer Geschichte, Basel / Stuttgart 1963, S. 127–172.

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zwischen Schöpfungsglauben und Evolutionstheorie nicht mehr zu erkennen.37 Undenkbar, dass heute noch in irgendeinem Parlament hochentwickelter freier Länder Empörung über Mediziner oder Naturwissenschaftler laut werden könnte, die sich öffentlich mit den jeweils jüngsten kosmologischen oder evolutionstheoretischen Hypothesen hervortun. Just solche Empörung aber hatte noch zu Beginn der 80er Jahre des 19. Jahrhunderts über zwei Tage hin die Debatten unter lebhafter Beteiligung von Stoecker und Windthorst im Preußischen Abgeordnetenhaus bestimmt.38 In der wissenschaftskulturhistorischen Quintessenz bedeutet das: Die kognitiven Gehalte modernen naturwissenschaftlichen Wissens sind überwiegend glaubensindifferent geworden. Man kann das auch so ausdrücken: Je mehr sich die Wissenschaften in die Dimensionen des sehr Großen, des sehr Kleinen und des sehr Komplizierten hineinarbeiten, je weniger also das so gewonnene Wissen sich unmittelbar noch auf lebensweltliches Wissen zurückbeziehen ließe, umso weniger lässt sich zugleich sagen, welchen Unterschied es denn eigentlich ausmacht, ob noch die kosmologischen oder evolutionstheoretischen Hypothesen von gestern gelten oder ob bereits bessere Argumente von heute für jüngere Hypothesen sprechen. Wohlgemerkt: Praktisch, nämlich von der Technik bis zur Medizin, mögen die einschlägigen Fortschritte erheblich und entsprechend in ihrer moralischen, gar juridischen Normierungsbedürftigkeit sehr umstritten sein. Weltanschaulich, auch religiös irrelevant sind hingegen die puren kognitiven Gehalte modernen naturwissenschaftlichen Wissens geworden. Eben das bedeutet: Das Zeitalter der von den modernen Wissenschaften ausgelösten weltanschaulichen Kulturkämpfe liegt hinter uns, und wo uns solche Kämpfe gleichwohl noch begegnen, nehmen wir sie als Marginalien oder als Relikte wahr – so z. B. den schon erwähnten Kreationismus-Streit, der in den USA immerhin Höchstgerichte beschäftigt hat,39 oder auch den Biblizismus fundamentalistischer Sekten, die heute nicht mehr nach Wahrheit oder Irrtum ihrer weltanschaulichen Annahmen beurteilt zu werden pflegen, vielmehr nach ihren förderlichen oder auch weniger förderlichen, gar destruktiven Wirkungen auf die psychisch-personale Verfassung ihrer Gläubigen.40 Der erwähnte, für die Weltanschauungskämpfe im späten 19. Jahrhundert in Deutschland bedeutsame Platz Jena war übrigens, komplementär zur monis-

37 Joseph Ratzinger, Schöpfungsglaube und Evolutionstheorie. In: Hans Jürgen Schultz (Hg.), Was ist das eigentlich: Gott? München 1969, S. 232–245. 38 Vgl. dazu meine Schilderung und Analyse dieses Vorgangs in der Abhandlung „Wissenschaft und Weltanschauung. Ideenpolitische Fronten im Streit um Emil Du Bois-Reymond“. In: Lübbe, Die Aufdringlichkeit der Geschichte. Herausforderungen der Moderne vom Historismus bis zum Nationalsozialismus, Graz / Wien / Köln 1989, S. 257–274. 39 Marcel C. La Follette (Hg.), Creationism, Science, and the Law. The Arkansas Case, Cambridge, Mass. / London 1983. 40 Zum Streit, der sich bis in die politischen Lebenszusammenhänge auch daran entzünden kann, vgl. Gerhard Besier/Erwin K. Scheuch (Hg.), Die neuen Inquisitoren. Religionsfreiheit und Glaubensneid, Teil I und II. Zürich / Osnabrück 1999.

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tisch verweltanschaulichten Naturwissenschaft, wie sie prototypisch Ernst Haeckel repräsentierte, gleichzeitig auch Hauptwirkungsort des einzigen Nobelpreisträgers unter den deutschen Philosophen, nämlich Rudolf Euckens41, der mit seinem Lebenswerk die „idealistisch“ verweltanschaulichten Geisteswissenschaften repräsentierte.42 Auch in diesem Falle einer philosophisch induzierten Weltanschauung kam es zu einer weit über die Grenzen der akademischen Welt hinausreichenden Kultursektenbildung, nämlich des „Eucken-Bundes“, der 1920 gegründet wurde. Auch dieser Bund erfüllte ersatzkirchliche Funktionen – das freilich, anders als der antiklerikal inspirierte Monisten-Bund, in durchaus religions- und kirchenfreundlicher Absicht.43 So oder so: Im Rückblick gewinnen diese Kulturkampfbünde in weltanschaulicher Absicht die Anmutungsqualität einer ephemeren Episode deutscher Kulturgeschichte, von der nur noch Relikte erhalten sind. Auf solche Relikte bezieht sich immerhin, über den schon erwähnten Art. 4 unseres Grundgesetzes hinaus der Art. 140 des Grundgesetzes, für die Bundesrepublik Deutschland, der, in Fortgeltung des Art. 137 der Weimarer Verfassung in seinem Abs. 7 staatskirchenrechtlich „Vereinigungen“, „die sich die gemeinschaftliche Pflege einer Weltanschauung zur Aufgabe machen“, den „Religionsgesellschaften“ und damit den Kirchen gleichstellt. Man darf vermuten, dass, wenn es bei der Grundgesetzgebung des Jahres 1949, statt zu einer Übernahme der staatskirchenrechtlichen Bestimmungen aus der Weimarer Verfassung, zu einer Neufassung dieser Bestimmungen gekommen wäre, das Wort Weltanschauung kaum noch ins Grundgesetz gelangt wäre. Im Übrigen schadet es natürlich nicht, dass hier wie auf ein Relikt der Zwischenkriegszeit auf kulturelle Entitäten, die Weltanschauung genannt werden, Bezug genommen wird. Man weiß ja, was gemeint ist – die Gemeinschaft der Zeugen Jehovas z. B., die freilich um ihren staatskirchenrechtlich privilegierten Status mit ungewissen Aussichten auf Erfolg noch kämpfen muss. Das leichte Befremden, das wir verspüren, künftig vielleicht auch einmal den Inhalt des Bekenntnisses der Scientologen-Bewegung juridisch als Weltanschauung anerkennen zu müssen, ist nichts als die Wirkung einer semantischen Erinnerung an die Emphase, mit der im Zeitalter ihrer kulturkämpferischen Auseinandersetzungen die exemplarisch genannten Bewegungen als Weltanschauungen auftraten. Sogar die vertraute Lehrstuhlkennzeichnung „Christliche Weltanschauung, Religions- und Kulturtheorie“, die sich mit dem zumeist so genannten Guardini-Lehrstuhl verbindet, dürfte unbeschadet ihrer von Missverständnissen kaum bedrohten Deutlichkeit

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Vgl. dazu meinen Eucken-Artikel bei Martin Tielke (Hg.), Biographisches Lexikon für Ostfriesland, Aurich 1993, S. 134–137, ferner auch: Lübbe, Politische Philosophie in Deutschland. Studien zu ihrer Geschichte, Basel / Stuttgart 1963, S. 178 ff. 42 Vgl. dazu Rudolf Eucken, Der Kampf um einen geistigen Lebensinhalt. Neue Grundlegung einer Weltanschauung, Leipzig 1896. 43 Zum Verhältnis Rudolf Euckens zum Christentum vgl. Rudolf Eucken, Können wir noch Christen sein? Leipzig 1911.

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eher Reliktcharakter haben; d. h.: Als aktuelle Neu-Kennzeichnung wäre eine solche Lehrstuhlbenennung heute unwahrscheinlich. Kurz: Mit dem Ende des Zeitalters der Weltanschauungskämpfe inaktiviert und historisiert sich zugleich der Begriff der Weltanschauung. Erinnert man sich freilich an das jüngst abgelaufene Jahrhundert als an die Epoche der großen totalitären Bewegungen und Systeme, dann muss uns das Zeitalter der Weltanschauungen zugleich als weltgeschichtliche Epoche singulärer weltrevolutionärer Gewalt erscheinen. Der am Exempel des Monistenbundes charakterisierte Status der Weltanschauungen als Anti-Religionen wurde zuerst, freilich mit anderen Inhalten, im bolschewistischen Falle herrschaftsprägend.44 Bereits Karl Marx hatte ja programmiert, die Religionsfreiheit sei durch die Befreiung „von der Religion“ zu überbieten und die Judenemanzipation durch die „Emanzipation der Menschheit vom Judentum“.45 Erst durch die revolutionäre Selbsterhebung zu vollständigem sozialen und politischen Selbstbesitz würden sich dereinst auch die Deutschen zu „Menschen“ erheben,46 und das im Medium einer Philosophie der Selbstergreifung des Menschen kraft Einsicht in die ihm zugefallene Rolle des Geschichtssinnvollenders. Der aus den Traditionen der bürgerlichen Ideologie übernommene Begriff der Weltanschauung wird bis in den späten Marxismus-Leninismus hinein als Äquivalent des Begriffs der Philosophie übernommen und anerkannt.47 Die Quintessenz der fraglichen Weltanschauung ist dabei das Bild der Geschichte, dem sich die eigene, nämlich klassenspezifische Position im Geschichtslauf entnehmen lässt und damit zugleich die Einsicht, wieso man kraft dieser Position allen anderen Klassen gegenüber moralisch und politisch privilegiert ist. Karl Popper hat bekanntlich diese historisch-politische Selbstprivilegierung des organisierten Proletariats kraft des richtigen Geschichtsbildes Historizismus genannt.48 Die Funktion der politischen Selbstprivilegierung dieses historizistischen Typus erfüllt selbstverständlich auch die rassentheoretische Geschichtstheorie als integraler Teil der nationalsozialistischen Weltanschauung. Der Vorzugsrasse, die im Rassenkampf schließlich triumphieren wird, selber anzugehören – das ist gemäß der Figur historizistischer Selbstprivilegierung auch hier die Geschichtsbildbedingung der eigenen höheren Einsicht in diese Zusammenhänge. Entsprechend war sich, unter ausdrücklicher Berufung auf die Weltanschauungsphilosophie Paul de Lagardes, bereits Alfred Rosenberg sicher, 44 Vgl. Lübbe, Politik und Religion nach der Aufklärung. In: ders., Politik nach der Aufklärung. Philosophische Aufsätze, München 2001, S. 39–74. 45 Karl Marx, Zur Judenfrage. In: Marx /Friedrich Engels, Werke, Band 1, Berlin 1977, S. 347–377, hier: 373. 46 Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. In: Marx/Engels, Werke, Band 1, S. 378–391. 47 Vgl. dazu den Artikel „Weltanschauung“ in: Georg Klaus/Manfred Buhr (Hg.), Philosophisches Wörterbuch, 10., neu bearb. und erw. Auflage, Band 2, Leipzig 1974, S. 1287–1289, S. 1288: „Die Hauptfrage der Weltanschauung ist identisch mit der Grundfrage der Philosophie.“ 48 Popper, Das Elend.

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dass die in der neuen nationalsozialistischen Bewegung sich manifestierende Weltanschauung des nordischen Menschen sich als überlegen erweisen werde: „Katholizismus, Protestantismus, Judentum, Naturalismus“ müssten vor ihr „das Feld räumen“.49 Hitler höchstselbst fand schließlich, religionskulturell sei den Deutschen „eine einheitliche und wirksame weltanschauungsmäßige Überzeugung“ überwiegend „längst verloren gegangen“. Demgegenüber sei der Nationalsozialismus die Weltanschauung der nationalen Wiedergeburt.50 – Speziell im Nationalsozialismus ist auch die theoretisch den Weltanschauungen zugeschriebene Ausdrucksfunktion unübersehbar. In Weltanschauungen offenbaren sich bis in ihre maßgebenden kognitiven Gehalte hinein die Subjektivitäten ihrer kollektiven Subjekte. Sie manifestieren das Schöpfertum ihrer Schöpfer und so auch in der Rassentheorie die Schöpferkraft derjenigen Rasse, die sich kraft dieser Theorie als die rassenkampfgeschichtlich privilegierte Klasse erkennt und ergreift. Nur wer der Richtige ist, vermag auch die Welt richtig anzuschauen, und indem er sie richtig anschaut, gewinnt er sich in dieser Richtigkeit. Selbstverständlich darf man aus diesem ideologiehistorischen Rückblick auf die Präsenz des älteren Weltanschauungsbegriffs im Kontext der totalitären Ideologien nicht die Konsequenz ziehen, damit sei eo ipso der Weltanschauungsbegriff überholt, ja disqualifiziert. Die Konsequenz könnte ja auch sein, dass man den Untergang der totalitären Ideologien als Triumph jener Weltanschauungen zu beschreiben habe, die sich in der politischen und ideellen Konkurrenz mit den Weltanschauungen der totalitären Façon eben als die wirklichkeitsangemesseneren erwiesen haben. Aber es widerspräche den manifesten nach-totalitären kulturellen, politischen und auch sprachlichen Fakten, den Untergang der totalitären weltanschaulichen Ideologien und Systeme so zu beschreiben. Angemessener ist es zu sagen: Nicht die wirklichkeitsadäquateren Weltanschauungen haben kulturell und politisch triumphiert, vielmehr ist der Aberglaube gescheitert, es sei nötig und möglich, das individuelle und kollektive Leben auf eine verbindliche „Gesamtauffassung von Natur, Gesellschaft und Mensch, einschließlich von Regeln für das Verhalten des Menschen in der gesellschaftlichen Praxis“51 zu gründen, und es könnten Instanzen der Weltanschauungskontrolle dauerhaft effektiv sein, die eine solche „Gesamtauffassung“ hüten, fortbilden und lehren. Gewiss: Nichts steht im Prinzip entgegen, Bücher zu verfassen, in denen wir alles, was wir enzyklopädisch über die Welt, in der wir leben, wissen, populär abgefasst niederschreiben – vom Urknall über die Bildung unseres Planetensystems und die Geschichte des Lebens auf unserer Erde einschließlich der Lebens- und Kulturgeschichte des Menschen bis hin zum gegenwärtig erreichten 49 Alfred Rosenberg, Der Mythus des 20. Jahrhunderts. Eine Wertung der seelisch-geistigen Gestaltenkämpfe unserer Zeit, 71.–74. Auflage München 1935, S. 458. 50 Adolf Hitler, Mein Kampf, 2 Bände in einem Band, ungekürzte Ausgabe. 160.–161. Auflage München 1935, S. 409 ff.: „Weltanschauung und Partei“. 51 Cf. Artikel „Weltanschauung“ in: Klaus/Buhr (Hg.), Philosophisches Wörterbuch.

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Stand der Dinge mit einem Vorblick auf den Wärmetod oder was sonst sich gegenwärtig als das Ende aller Dinge hienieden vermuten lässt. Bücher dieses Charakters gibt es heute dutzendfach. Als geschickter Universallexikonnutzer könnte jeder sich selbst solche Weltbilder basteln, und rudimentär bleiben sie uns als Inhalt unserer Gymnasialbildung aus der Erinnerung abrufbar. Indessen: Was wir so wissen oder wissen könnten, wäre doch in der Konsequenz einer wie nie zuvor dynamisierten Forschungspraxis ständig fortzuschreiben, überdies bliebe es uns unbeschadet aller nützlichen Popularisierungsbemühungen zu wachsenden Anteilen aktiv unverständlich, d. h. die forschungspraktischen Generierungsbedingungen solchen Wissens blieben uns überwiegend unzugänglich. Die Auswirkungen der wissenschaftlich-technischen Evolution auf unsere Lebenslage sind von der sozialen Sicherheit über die durchschnittliche Lebenserwartung bis hin zum generativen Verhalten gewaltig. Umso mehr gewinnen zugleich diejenigen Lebensprobleme an Aufdringlichkeit, für die der Unterschied der Geschichtszeiten, in die unsere Lebenszeit jeweils fällt, gar keinen Unterschied macht.52 Und nun vergegenwärtige man sich den Sinn der Unternehmung, an die Stelle der Bibel, die in etlichen evangelischen Kirchen der Jugendliche zum Dauergebrauch mit der Konfirmation in die Hand bekam, bei der Jugendweihe dem jungen Pionier ein Buch mit dem Titel „Weltall, Erde, Mensch“ zu überreichen, in welchem vom Zeitalter der Saurier bis zur Großen Oktoberrevolution der Gesamtinhalt der historisch-materialistischen Weltanschauung dargestellt war. Aus dem vermeintlichen Sinn solcher weltanschaulich-ideologischen Orientierungsstiftung ist Unsinn geworden.53 Als Relikt des Weltanschauungsaberglaubens, der wissenschaftlichen Theoriehypothesen allein schon kraft ihrer kognitiven Gehalte existentielle Bedeutsamkeit zuschreiben möchte, begegneten uns freilich kürzlich noch die Insinuationen eines prominenten Feuilletons, über die Genom-Analyse würden wir nun endlich zu kompetenten Lesern des Buchs des Lebens. Was uns statt dessen tatsächlich beschäftigt, sind die normativen Folgen des forschungsabhängigen Könnerschaftszuwachses. Die Erwägung hingegen, dass das Genom statt vermuteter einhunderttausend Gene wahrscheinlich nur die Hälfte davon und damit nicht einmal um das Doppelte mehr als die Zahl der Gene der uns parasitär heimsuchenden Würmer aufweisen dürfte, könne uns kränken, hat nicht einmal einen feuilletonistischen Wert, sondern repräsentiert Nonsens.

52 Zur wachsenden Auffälligkeit und Bedeutsamkeit alterungsresistenter Erfahrungen und Lebenstatbestände vgl. Lübbe, Im Zug der Zeit. Verkürzter Aufenthalt in der Gegenwart, Berlin, Heidelberg, 2. Auflage New York 1994, bes. S. 91 ff. 53 Dieser Unsinn manifestiert sich heute eindrucksvoll in dem zitierten Titel Gisela Buschendorf/Horst Wolfgramm/Irmgard Radant (Red.), Weltall, Erde, Mensch. Ein Sammelwerk zur Entwicklungsgeschichte von Natur und Gesellschaft, Leipzig 1954 – nicht in dem hier übernommenen naturwissenschaftlichen Wissen, vielmehr im Anspruch, damit „gegen Aberglauben, Mystizismus, Idealismus und alle anderen unwissenschaftlichen Anschauungen“ zu kämpfen (S. 2 f.).

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Man kann das auch so ausdrücken: In den Konsequenzen der wissenschaftlich-technischen Zivilisation hat der Kampf der Weltanschauungen nicht etwa, wie noch vor wenigen Jahrzehnten vermutet wurde, an Schärfe gewonnen – er ist zusammengebrochen. Aufklärung als Kampfbewegung um das richtige Weltbild ist erloschen. Es hat keinen Sinn mehr zu sagen, aufgeklärt sei, wer kognitiv „up-to-date“ ist. Kraft der Partialität, in der das für Spezialisten jeweils möglich ist, wird damit die Aufgeklärtheit, die noch das zitierte Jugendweihebuch als Besitz des richtigen Weltbildes definierte, eine mentale, ja existentielle Prädisposition, in der es uns, weil ja die Wirklichkeit ohnehin ist, wie sie ist, in kognitiver Hinsicht gleichgültig wird, ob sie denn nun so oder anders sei. Kurz: Aufgeklärtheit ist heute nicht mehr Inhaberschaft des richtigen Welt- oder Geschichtsbilds, vielmehr uneingeschränkte Wirklichkeitsfähigkeit. In der Konsequenz dessen verarmen heute z. B. die schon erwähnten, früher einmal weltanschaulich so inhaltsreich gewesenen Parteiprogramme. Ansprüche auf Inhaberschaft maßgebender Welt- und Geschichtsbilder werden nicht mehr erhoben oder sie bleiben kulturell und politisch marginalisiert. Die Wirklichkeitsorientierung pragmatisiert sich, und das bedeutet: Nach Maßgaben gemeiner, „Common-Sense“-fähiger Lebenszwecke nehmen wir für die kognitiven Voraussetzungen unseres Handelns verfügbares, rasch sich entwickelndes Expertenwissen in Anspruch, und nicht dieses Expertenwissen stiftet die Legitimitäten, sondern Gemeinsinn der Wähler und Stimmbürger, der, was unsere kognitiven und technischen Könnerschaften uns bringen, in letzter Instanz nach seinem Alltagsnutzen beurteilt. Es ist hier nicht zu begründen, aber es sei doch gesagt, dass die Prädisposition zu diesem uns modernitätsabhängig abverlangten Pragmatismus, d. h. die Prädisposition zu uneingeschränkter Wirklichkeitsfähigkeit, aus religiöser Kultur erwächst. Für die Religion ihrerseits bedeutet das: Eine Instanz der Kanonisierung richtiger Weltbilder ist die Religion im Kontext der modernen Kultur nicht mehr. Das jedenfalls ist die Quintessenz, auf die sich die Ansprache des Papstes an die Adresse der 1980 im Kölner Dom präsenten Wissenschaftler bringen ließe.54 Aber braucht man nicht doch ein Weltbild und in seinem Kontext ein Menschenbild, um den Menschen als Subjekt fundamentaler Rechte zu erkennen und anzuerkennen? Ist es nicht die Sorge um die Verlässlichkeit der Geltung dieser Rechte, die uns nach einem „Menschenbild“ als letztinstanzlichen Geltungsgrund der Menschenrechte fortdauernd suchen lässt? Die Intention dieser Frage ist gut. Die effektive Geltung von Menschenrechten ist ja nicht eo ipso schon dadurch gesichert, dass diese Rechte in Verfassungen und Deklarationen von förmlicher Geltung seit mehr als 200 Jahren positiviert sind. In der Tat: Die Geschichte der totalitären Weltanschauungen beweist es. Aber just diese Ge54 Papst Johannes Paul II., Ansprache an Wissenschaftler und Studenten im Kölner Dom am 15.11.1980. In: Predigten und Ansprachen von Papst Johannes Paul II. bei seinem Pastoralbesuch in Deutschland sowie Begrüßungsworte und Reden, die an den Heiligen Vater gerichtet wurden. 15.–19.11.1980. Offizielle Ausgabe, Bonn 1980, S. 26–34.

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schichte erweist doch zugleich in unüberbietbarer Weise die unabweisbare Nötigkeit fundamentaler Lebens- und Freiheitsrechte aus den Folgen ihrer Preisgabe. Es ist nicht erkennbar, wie sich gegenüber dieser massiven Erfahrung die Geltung der Menschenrechte durch Hypostasierung ihres Subjekts zu einem Bild eben dieses Subjekts noch festigen ließe. Im historischen Exempel gesprochen heißt das: Die Freiheit der Religion, ohne die die moderne Welt nicht friedensfähig werden und bleiben könnte, ist doch nicht durch Ableitung aus einem Menschenbild zur Geltung gebracht worden, sondern aus der leidenserprobten und bürgerkriegsbewährten Erfahrung der Unmöglichkeit, ohne sie auszukommen. Der Mensch, der über solche historisch-politischen Erfahrungen als Inhaber fundamentaler Rechte verfassungsrechtspolitisch explizit anerkennungsfähig wurde, ist keineswegs erst in Orientierung an einem höheren Bild seiner selbst sichtbar geworden. Der fragliche Mensch ist vielmehr der Mensch, wie er geht und steht – der Mensch also gerade nicht nach Maßen seiner Verwirklichung dessen, was er sein sollte, vielmehr der Mensch in seiner stets unverwechselbaren, nämlich vollendet „Common-Sense“-fähigen Identität als Angehöriger unserer biotischen Spezies homo sapiens. Die großen politischen Weltanschauungen haben demgegenüber tatsächlich den Menschen am hohen ideologischen Bild seiner selbst gemessen und ihn zum Unmenschen erklärt, wenn er diesem Bild nicht entsprach. Für die Feststellung dessen braucht man Experten – Schädelindexmesser oder auch ideologische Überprüfer adäquater Grade weltanschaulicher Bewusstseinserwecktheit. Die Frage jedoch, ob jemand im gewöhnlichsten aller Verständnisse dieser Frage ein Mensch sei, nämlich Geschöpf Gottes kraft blosser Zugehörigkeit zum Menschengeschlecht – zur Beantwortung dieser Frage benötigt man keine Experten. Die gesuchte Antwort hat jeweils den Charakter vollendeter Trivialität. Einzig in Anerkennung dieser Trivialität können wir unserer Menschenrechtssubjektivität wirklich sicher sein, und auch in diesem Falle erweist sich die Fundamentalität des Trivialen.

Monotheistische Offenbarungsreligionen als Quelle von Intoleranz und Gewalt? Bemerkungen zur Assmann-Debatte Herbert Schnädelbach Seit mehreren Jahren ist der Monotheismus ins Gerede gekommen. Publikationen des prominenten Ägyptologen Jan Assmann1 nähren den Verdacht, der Glaube an einen einzigen Gott, der Juden, Christen und Muslime verbindet, habe sich als innerreligiöse Quelle von Intoleranz und Gewalt erwiesen – im Gegensatz zu polytheistischen Religionsformen, die sich dazu nicht geeignet hätten. Die Formel, „Monotheismus und Gewalt“, ist aber viel zu einfach, denn es gibt auch gewaltfreie monotheistische Denk- und Glaubensformen. Dass das Göttliche nur als Singular denkbar ist, bestimmt die Überzeugungen der Vorsokratiker seit den Anfängen der Philosophie. Aristoteles gibt dem die Gestalt eines rationalen Arguments, das nicht nur die Gotteslehre der Scholastik, sondern auch die rationale Theologie der Neuzeit bestimmt. Die friedfertigste Form des Monotheismus ist wohl der Deismus der Aufklärungsepoche, demzufolge sich der „Werkmeister“ des Universums nach der Schöpfung daraus zurückgezogen hat, um sie sich ganz selbst zu überlassen. Mit einem Gott aber, der ins Tagesgeschäft der Welt nicht mehr eingreift, kann man keine Machtansprüche verbinden. Somit kann es in der Intoleranz-Gewalt-Diskussion nur um eine spezifische Form des Monotheismus gehen – nach Assmann: um die monotheistischen Offenbarungsreligionen. In meinem Beitrag möchte ich zunächst seine Konzeption in Grundlinien in Erinnerung rufen; dabei sollen auch wichtige Kritikpunkte und Klarstellungen angesprochen werden. Dann versuche ich, den Problembestand in einer philosophischen Perspektive zu kommentieren mit dem Ziel, die Intoleranz- und Gewaltquellen des Monotheismus genauer zu identifizieren, als dies bisher in der Debatte der Fall war.

1

Ausgehend von Jan Assmann, Moses der Ägypter, München 1998.

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I. Die gemeinsame Wurzel von Judentum, Christentum und Islam ist die „Mosaische Unterscheidung.“2 Sie betrifft die Differenz „zwischen wahr und falsch in der Religion, zwischen dem wahren Gott und den falschen Göttern, der wahren Lehre und den Irrlehren, zwischen Wissen und Unwissenheit, Glaube und Unglaube.“3 Dieser Monotheismus versteht sich als diese Wahrheit im emphatischen und exklusiven Sinn des Wortes, aber als geoffenbarte Wahrheit, und dies unterscheidet ihn vom impliziten Monotheismus traditioneller Religionen, auf den in der Folgediskussion wiederholt hingewiesen wurde. Dass er geoffenbart ist, macht den mosaischen Monotheismus zur „sekundären“ oder „Gegenreligion“,4 der seine Identität im Widerspruch und Widerstand gegen das religiöse Herkommen findet. Verschärft wird dieser Gegensatz durch das Bilderverbot, das die totale Differenz zwischen dem transzendenten Gott und der Immanenz der Welt ausdrückt. Was sich bildlich darstellen lässt und dann angebetet wird, kann nur Götzendienst begründen. Um diese Gefahr zu bannen, empfiehlt sich die völlige Abwendung von den Bildern und die Hinwendung zur Schrift, was auf einen Medienwechsel5 im religiösen Bereich hinausläuft. Bildverstrickung wäre Weltverstrickung, und so erfordert der gegenreligiöse Monotheismus den Abschied von der „Weltbeheimatung“6, für den Abrahams Auszug aus seiner Heimat die Urszene abgibt. Diese religiöse Weltverneinung stiftet den eigentlichen Gegensatz zwischen dem Offenbarungsmonotheismus und dem, was wir mit einem Begriff des 16. Jahrhunderts als Polytheismus bezeichnen.7 In Wahrheit handelt es sich dabei um „Kosmotheismus“8, für den die innere Vielfalt nur ein sekundäres Merkmal ist, denn in seinem Kontext kann das Göttliche, wie es häufig der Fall ist, nicht nur implizit als eines und einziges verstanden werden, sondern auch explizit wie im Amarna-Monotheismus des Echnaton, der ganz im Umkreis des Kosmotheismus verblieb. Die mit dem strikten Gott-Welt-Gegensatz in Wirkung getretenen negativen Potenziale sind nach Assmann die Quellen der „strukturellen Intoleranz“9 und impliziten Gewaltbereitschaft der monotheistischen Offenbarungsreligionen. Denn es bleibt ja nicht bei der Kennzeichnung der kognitiven Differenz zwischen wahr und falsch, sondern das Falsche ist hier mehr als Unwissenheit, Irrtum oder Verblendung, sondern Unglaube, Ungehorsam, Abfall, Sünde, Ver2 3 4 5 6 7 8 9

Vgl. Titel von Assmann, Die Mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus, München 2003. Ebd., S. 12 f. Ebd., S. 11, 14. Ebd., S. 12. Ebd., S. 63. Der Ausdruck wurde 1580 geprägt von Jean Bodin. Vgl. Historisches Wörterbuch der Philosophie [HWB] 7, Sp. 1088. Assmann, Die Mosaische Unterscheidung, S. 62. Ebd., S. 26.

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worfenheit im Lichte des Geoffenbarten. Dies zwingt zur Grenzziehung und Ausgrenzung, d. h. zur Intoleranz. Die Geschichten vom goldenen Kalb und um den Propheten Elia mit ihren Gewaltorgien zeigen paradigmatisch, wie das Judentum dabei zu Werke geht: mit dem Ausstoß der inneren Abweichler und der Stabilisierung der Differenz zur religiösen Außenwelt. Christentum und Islam hingegen mit ihrem jeweiligen Universalitätsanspruch gehen den umgekehrten Weg; für sie ist nicht die Assimilation, sondern das Fortbestehen religiöser Unterschiede der Horror, und so muss, was anders wäre, vernichtet werden – notfalls auch mit Gewalt. Der Kosmotheismus hingegen – so Assmann – kennt Intoleranz nicht und braucht deshalb auch nicht tolerant zu sein. In Wahrheit ist er ein kommunikatives System, in dem die religiösen Unterschiede nicht zur Abgrenzung, sondern vielmehr zu einem In-Beziehung-Setzen des Verschiedenen einladen – z. B. durch Übersetzung der fremden Götternamen in die eigenen und vertrauten; so sind Religionskriege hier prinzipiell ausgeschlossen. Natürlich ist die kosmotheistische Welt kein gewaltfreies Paradies, aber die Gewalt hat hier keine spezifisch religiösen Quellen. Seine These über die Gründe, warum sich die monotheistischen Offenbarungsreligionen durch ihre interne Struktur als Quellen von Intoleranz und Gewaltbereitschaft erwiesen haben, fasst Assmann so zusammen: „Die Mosaische Unterscheidung betrifft, wie gesagt, die Unterscheidung zwischen wahrer und falscher Religion. Meine These ist, dass diese Unterscheidung in der Religionsgeschichte eine revolutionäre Innovation darstellt. Sie war den traditionellen, historisch gewachsenen Religionen bzw. Kulturen fremd. Hier gelten die Leitdifferenzen des Heiligen und des Profanen oder des Reinen und Unreinen. Die Hauptsorge gilt nicht, wie in den sekundären Religionen, der Gefahr, falsche Götter anzubeten, sondern ganz im Gegenteil der Möglichkeit, eine wichtige Gottheit zu vernachlässigen. Fremde Religionen haben grundsätzlich den gleichen Wahrheitswert wie die eigene, und man geht davon aus, dass zwischen den eigenen und den fremden Göttern Beziehungen der Übersetzbarkeit bestehen. Der Übergang von der primären zur sekundären Religionserfahrung ist daher auch gleichbedeutend mit einer neuartigen Konstruktion von Identität und Alterität, die solche Übersetzbarkeit blockiert. An die Stelle dessen, was man eine ‚Hermeneutik der Übersetzung‘ nennen könnte, tritt eine ‚Hermeneutik der Differenz‘, die sich des Eigenen durch eine Vermessung des Abstands zum anderen versichert und nach dem Prinzip ‚omnis determinatio est negatio‘ verfährt.“10

Dagegen wurde zum einen eingewandt, die Mosaische Unterscheidung sei eine Erfindung Assmanns und habe so, wie er sie darstellt, gar nicht stattgefunden. Sie sei eine geschichtsfremde Konstruktion und eine moderne Projektion.11 Andere Stimmen halten dies für eine neue Sündenfall-Geschichte mit dem Tenor, „Die Juden sind an allem schuld“, die geeignet sei, Antisemitismus zu nähren.12 Dann wurde der christliche Universalismus als Gegenmittel gegen Intoleranz und Gewalt gepriesen, wobei freilich dessen internes Gewaltpotenzial aus dem Blickfeld geriet.13 Spätere Beiträge zur Diskussion verwiesen überdies auf den 10 11 12 13

Ebd., S. 38. Ebd., S. 16 f. Ebd., S. 25, 29. Ebd., S. 29 f.

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immanenten Pazifismus von Judentum und Christentum, die sich meist auf René Girards Deutung des Monotheismus als Zähmung der Gewalt beriefen.14 Schließlich wurde Assmann im Ernst unterstellt, er wolle die Mosaische Unterscheidung rückgängig machen – gleichsam als Weg vorwärts in eine bessere Vergangenheit.15 Diese Kritiken gaben Assmann Gelegenheit, den Status seiner Untersuchungen und den Charakter seiner Thesen zu präzisieren: Es geht ihm nicht um Religionsgeschichte, sondern um theologische „Gedächtnisgeschichte“16, d. h. um das alte und neue Fortleben bestimmter „semantischer Potenziale“,17 die als „regulative Idee“18 zwar niemals als einzige Kraft die Wirklichkeit der monotheistischen Offenbarungsreligionen bestimmte, sie aber sehr wohl normativ prägte. Für Assmann handelt es sich dabei um ein „zivilisatorische Errungenschaft ersten Ranges“19, die man selbst dann nicht aufgeben könnte, wenn man dies wollte: In sozialer Hinsicht steht der entstehende Monotheismus für die Auflösung der traditionellen Einheit von „Herrschaft und Heil“, der zufolge der Herrscher zugleich göttliche Funktionen wahrnimmt wie im alten Ägypten. Wenn das Heil ausschließlich zur Sache Gottes geworden ist, emanzipiert sich die Religion von der Politik, wobei freilich der religiöse Primat immer wieder die Wendung zu Theokratie und Priesterherrschaft nahelegte.20 Psychologisch gesehen gehört der Monotheismus in die Vorgeschichte des „inneren Menschen“ und damit des Individuums im uns vertrauten Wortsinn, wobei sich Assmann hier der Deutung Sigmund Freuds in „Der Mann Moses und die monotheistische Religion“ anschließt.21 Gleichwohl fordert er dazu auf, den „Preis des Monotheismus“, d. h. seine strukturellen Gewaltpotenziale im Auge zu behalten und weiter zu bearbeiten,22 und angesichts des modernen Fundamentalismus – nicht nur des islamischen – besteht dazu ja auch Grund genug.

14

15 16 17 18 19 20 21 22

Vgl. z. B. Norbert Lohfink, Gewalt und Monotheismus. Beispiel Altes Testament. In: Hermann Düringer (Hg.), Monotheismus – eine Quelle der Gewalt?, Frankfurt a. M. 2004, S. 60 ff.; Eckhard Nordhofen, Die Zukunft des Monotheismus. In: Merkur, 53 (1999), S. 828–846. Assmann, Die Mosaische Unterscheidung, S. 17 f. Ebd., S. 16. Ebd. Ebd., S. 16, 54. Ebd., S. 25. Ebd., S. 67 ff. Ebd., S. 12, 119 ff. Ebd., S. 164 f.

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II. Dieser knappen Skizze habe ich nichts Kritisches hinzuzufügen, sondern nur eine Nachfrage, die sich auf die von ihm gezogene Parallele zwischen Mose und Parmenides bezieht. Was der Ausdruck „Gegenreligion“ bedeutet, möchte er anhand der Entstehung der Wissenschaft bei den Griechen verdeutlichen: „Wie die monotheistische Religion auf der Mosaischen, so beruht die Wissenschaft auf der ‚Parmenideischen‘ Unterscheidung. Die eine unterscheidet zwischen wahrer und falscher Religion, die andere zwischen wahrem und falschem Wissen. Diese Unterscheidung, die sich in den Sätzen von der Identität, vom Widerspruch und vom ausgeschlossenen Dritten (‚tertium non datur‘) artikuliert, wird gemeinhin mit dem Namen des Parmenides verbunden, der im 6. Jahrhundert lebte. [...] Der neue Wissensbegriff, den die Griechen eingeführt haben, ist genauso revolutionär wie der neue Religionsbegriff, den die Juden eingeführt haben und für den der Name des Mose steht. Beiden Begriffen ist ein neuartige Kraft zur Unterscheidung, Negation und Ausgrenzung eigen.“23

Tatsächlich ist die griechische Wissenschaft „Gegenwissen“24 in demselben Sinne, wie der Offenbarungsmonotheismus „Gegenreligion“ ist, nur lautet die Opposition hier „Logos vs. Mythos“ oder „begründbares Wissen vs. tradierter Weisheit“.25 Dabei ist unbestreitbar, dass auch vom parmenideischen „Gegenwissen“ ein „Denkzwang“ ausgeht, der das wilde Denken diszipliniert und in logisch korrekte Bahnen zwingt.26 Gleichwohl ist Vorsicht geboten, was die Reichweite solcher Analogien betrifft: Kann man die „Denkzwänge“ der Wissenschaft, bei denen es letztlich um den „zwanglosen Zwang des bessern Arguments“ (Habermas) geht, wirklich mit den Sanktionen vergleichen, die strukturell intolerante Religionssysteme notwendig verhängen? Das Irreführende liegt hier in der univoken Verwendung des Wahrheitsbegriffs; sie verdeckt, dass es sich bei ‚wahr/falsch‘ in Religion und in Wissenschaft um sehr Verschiedenes handelt. Das einfache Gegenteil von ‚wahr‘ ist ‚unwahr‘, aber das Unwahre kann falsch, irrig und gelogen sein, je nachdem man auf das Gesagte, den kognitiven Zustand des Sprechers oder die Sprecherabsicht blickt: „2 mal 2 ist 5“ ist falsch; wer das meint, irrt sich; wer das wider besseres Wissen behauptet, ist nicht wahrhaftig, sondern lügt. Die Parmenideische Unterscheidung „Nur Seiendes ist, und Nichtseiendes ist nicht“, aus der die von Assmann genannten logischen Prinzipien ja erst sekundär folgen, hat mit der zwischen „Wahrheit und Lüge“27 nichts zu tun, sondern sie benennt das wahre Seiende als Index des bloß vermeintlich Seienden, und wer sich an dieses Pseudo-Wahre hält, ist im Irrtum. Davor warnt im Lehrgedicht des Parmenides die Göttin: „vor diesem Wege der Forschung, dann auch vor dem [Weg], auf dem nichtswissende Sterbliche herumirren, doppelköpfige. Denn 23 24 25 26 27

Ebd., S. 23 f. Ebd., S. 24. Ebd. Assmann schließt sich hier Werner Jäger an, vgl. ebd., S. 24. Ebd., S. 25.

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Ratlosigkeit lenkt in ihrer Brust ihren aus der Bahn geworfenen Sinn. Sie aber treiben dahin, taub und blind zugleich, blöde, glotzende, urteilslose Haufen [...].“28 Unterstellt man zunächst Wahrhaftigkeit auf allen Seiten, wird deutlich, dass wissenschaftliche und religiöse Falschheit nicht auf derselben Ebene liegen. Wo in Religionen etwas als falsch gebrandmarkt wird, ist mehr gemeint als Unwissenheit oder Irrtum, sondern Falschheit als Gegenteil des Richtigen. Das religiös Falsche, das durch Mose in die Welt kam, ist nicht bloß irreführend oder bedauerlich wie das vermeintliche Wissen, sondern es ist skandalös, empörend, Sünde. Es zwingt zu Ausgrenzung und Verfolgung. Natürlich meinen auch wir manchmal das Richtige, wenn wir von dem Wahren sprechen – etwa von wahrer Freundschaft oder von einem wahren Vergnügen, aber um der Klarheit willen sollten wir in unserem Kontext ‚wahr/falsch‘ für die Wissenschaft und ‚richtig/falsch‘ für die Religion reservieren. Wo Wahrheit im Spiel ist, wird ein kognitiver Geltungsanspruch erhoben; Richtigkeit aber meint mehr: Korrektheit der Lebensführung im Lichte geltender Regeln und Normen – also einen sozialen Geltungsanspruch. Der Unterschied zwischen richtiger und falscher Religion betrifft nicht nur den zwischen zwei Überzeugungen oder Bewusstseinszuständen, sondern zwischen zwei gegensätzlichen Lebensformen, wobei die eine, die richtige, die andere notwendig ausschließt. Die Wissenschaft kennt nur sehr schwache Sanktionen. Die „nichtswissenden Sterblichen“ mag sie als „doppelköpfig“, „blöde“ oder „glotzend“ beschimpfen, aber dabei muss sie bereits fürchten, dass es ihr nicht selbst an den Kragen geht, denn die so Beschimpften haben immerhin die Mehrheit. Eine Religion hingegen, die mit dem Anspruch ausschließlicher Richtigkeit auftritt und sich dabei auch noch durch den einen Gott selbst autorisiert weiß, ist nicht so harmlos. Sie versteht sich nicht bloß als Quelle wahrer Überzeugungen, sondern als normative Instanz, die definiert, was gottgefälliges Leben praktisch bedeutet, und die zudem berechtigt ist, alles andere auszugrenzen und zu verfolgen. Darum sind die monotheistischen „Gegenreligionen“ notwendig Gesetzesreligionen. Ihre Basis sind nicht neue Erkenntnisse, sondern göttliche Gebote, und das gilt trotz des paulinischen Gegensatzes von Gesetz und Evangelium auch für das Christentum, demzufolge das Liebesgebot das Gesetz nicht beseitigt, sondern ganz erfüllt. Gleichwohl kommt die religiöse Richtigkeit nicht völlig ohne Wahrheit aus. Um zu klären, was in diesem Kontext ‚Wahrheit‘ bedeuten könnte, ist zu erinnern an die Unterscheidung zwischen den Seins- und den Urteilswahrheit, die auf Platon zurückgeht. Wahrheit als Eigenschaft des wahren Seienden – nach Heidegger die „Unverborgenheit (alétheia)“29 – existiert oder existiert nicht, gibt es oder gibt es nicht; sie hat kein Gegenteil. Anders ist es mit unseren Urteilen; unwahre, irrige Urteile hingegen existieren sehr wohl. Obwohl Heideg28 Fragm. 5. In: Wilhelm Capelle, Die Vorsokratiker. Die Fragmente und Quellenberichte übersetzt und eingeleitet von W. Capelle, Stuttgart 1968, S. 165. 29 Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit, Halle (Saale) 1927, S. 33 (Originalpaginierung in sämtlichen Neuauflagen).

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ger im Anschluss an Platon zu Unrecht behauptete, die Seinswahrheit sei die Grundlage der Urteilswahrheit,30 empfiehlt es sich, bei den Seinswahrheiten besser von Evidenzen zu sprechen. Damit meinen wir die unbezweifelbare Präsenz von etwas Vermeintem, auf das wir uns zu berufen pflegen, wenn wir ein Urteil darüber als wahr beanspruchen. Meine These ist: Religiöse „Wahrheiten“ sind in Wahrheit Richtigkeiten auf der Basis von Evidenzen. Assmann weist darauf hin, dass in den vormosaischen Religionen nicht eigentlich „geglaubt“ wurde, wenn man unter ‚Glauben‘ ein vollständiges subjektives Überzeugtsein auch ohne zureichende objektive Basis versteht.31 Die Götter waren hier „Sache einer schlichten und natürlichen Evidenz [...], einer Evidenz, wie sie der Monotheismus ins Reich der Idolatrie und der heidnischen Gottesverehrung verwiesen hat.“32 Die Offenbarung bestand demgegenüber nicht in Irrtumsnachweisen oder im „besseren Argument“, sondern in einer ebenso ursprünglichen Gegen-Evidenz: Als Mose den brennenden Busch sah und Gottes Stimme hörte, hatte er gar nicht die Möglichkeit, wahr und falsch gegeneinander abzuwägen; die Gewalt des Präsenten schloss die Möglichkeit, sich bei diesem Erlebnis vielleicht doch geirrt zu haben, einfach aus. Man kann hier von einer Urszene der Offenbarungsreligion sprechen, die die Bibel in vielen Varianten erzählt – bei der Berufung Abrahams, Samuels, der Propheten ebenso wie bei der Bekehrung von Paulus; auch der Islam kennt sie im Zusammenhang der Entstehung des Koran. Es ist wohl nicht zufällig, dass die geoffenbarten Gegenevidenzen akustischer Natur sind, denn sie richten sich ja gegen den Augen-

30 Vgl. Heidegger, Sein, S. 33 f. und die Kritik von Ernst Tugendhat, der zeigte, dass es sich bei der alétheia um eine bloße Wahrheitsbedingung handelt. Dieses Argument hat Heidegger später ausdrücklich akzeptiert; vgl. Tugendhat, Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, 3. Auflage Berlin 1967/1983; ders., Heideggers Idee von Wahrheit (1969). In: Gunnar Skirbekk (Hg.), Wahrheitstheorien, Frankfurt a. M. 1977. 31 Assmann, Die Mosaische Unterscheidung, S. 27. 32 Ebd., S. 27; nach Kant ist Glauben „das Für-wahr-Halten aus einem Grunde, der zwar objektiv unzureichend, aber subjektiv zureichend ist“ (Kant, Logik (Jäsche), Einleitung IX) Er definiert damit in klassischer Weise den neuzeitlichen kognitiven Glaubensbegriff, der schwächer ist als der Wissensbegriff, weil im Wissen der Grund des Für-wahrHaltens auch objektiv zureichend ist; im Englischen entspricht dem „belief“. Das deutsche Wort Glauben fungiert aber auch als Übersetzung von pístis bzw. fides (engl. faith), und bedeutet dann ein nicht bloß kognitives, sondern lebenspraktisches Vertrauen oder Sichverlassen auf das Geglaubte. In diesem Sinn haben die Patristik und die Scholastik den Glauben immer für etwas Höheres als das Wissen gehalten, das korrigierbar und fehlbar ist. David Hume und die deutsche „Glaubensphilosophie“ der Romantiker um J. G. Hamann und J. H. Jacobi versuchten gegen Kant, diesen Glaubensbegriff zu rehabilitieren und ihn auch in säkularer Form als Grundlage unseres gesamten Wissens zu erweisen (vgl. HWB 3, Sp. 627 ff.). Insofern mag es irreführend sein, von Glaubenswahrheiten zu sprechen, weil es sich bei dem so verstandenen Glauben um Evidenzen handelt. Keinesfalls sollte man sie mit den „metaphysischen“ Wahrheiten in eine Reihe stellen (vgl. Assmann, S. 28), denn die Metaphysik verstand sich seit ihren Anfängen immer als wissenschaftliches, d. h. begründbares Wissen; dem modernen Sprachgebrauch von metaphysisch im Sinne von etwas „Höherem“ und Nebulosen sollten wir nicht folgen.

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schein des herkömmlichen Common sense, der Assmann zufolge einer der Weltals Bildverstrickung gewesen war. Die Unterscheidung zwischen Evidenzen und Urteilswahrheiten in ihrer Anwendung auf die Offenbarungsreligionen ist freilich nur ein analytischer Vorschlag, denn auch in ihnen fehlen kognitive Geltungsansprüche nicht völlig. Das Judentum stellt die Thora (Weisung) in den Zusammenhang der geschichtlichen Erfahrungen des eigenen Volkes und beansprucht dafür historische Wahrheit. Dasselbe gilt für das Christentum, demzufolge das Leiden und die Auferstehung Jesu wirklich geschehen sind, oder für den Islam mit seinen Berichten über das Leben Mohammeds. Dass diese Gesetzesreligionen zugleich Geschichtsreligionen sind, berührt aber ihren Kern nicht, denn der besteht im evidenten Gehalt der Offenbarung, und nicht nur in der Behauptung, dass die Offenbarung tatsächlich stattgefunden hat. Und doch bekommen es die Offenbarungsreligionen auch intern mit dem Problem der Urteilswahrheit zu tun, denn die geoffenbarten Evidenzen, auf die sie sich stützen, im Gegensatz zu den Evidenzen des kosmotheistischen Common Sense, sind aus flüchtigem Stoff. Man hat sie, erlebt sie, aber wenn sie vorüber sind, kann man sie nur in sprachlicher Gestalt objektivieren, zumal das Geoffenbarte hier selber sprachlich verfasst ist. Der Gott der Offenbarung befiehlt zudem die Mitteilung an andere, und so kommen Urteile, Sätze, Aussagen, Behauptungen ins Spiel, die sämtlich die Eigenschaft haben, wahr oder falsch sein zu können. Jetzt kann sich der Mitteilende irren; er kann etwas vergessen, missverstanden oder unabsichtlich verfälscht haben, und er bekommt zudem ein Glaubwürdigkeitsproblem, denn die Hörer können seine Wahrhaftigkeit anzweifeln – das Schicksal mancher Propheten. Dieses Problem erbt sich fort, sobald die Offenbarungsreligionen die Gestalt von Schriftreligionen annehmen, denn die Schrift vermittelt keine unmittelbaren Evidenzerfahrungen, sondern verweist nur sekundär auf die, von denen sie im Nachhinein berichtet. So ist es kein Zufall, dass die durch Schrift vermittelten Weltreligionen sämtlich von einer tiefen Sehnsucht nach der simplen Präsenz des Göttlichen bestimmt sind. Die Kabbala suchte sie im verborgenen Sinn der biblischen Schriftzeichen selber. Der christliche Reliquienkult glaubt bis heute, zumindest Überbleibsel und unbezweifelbare Anzeichen dessen unmittelbar vor sich zu haben, von dem die Bibel und die Heiligenlegenden erzählen. Die moderne Variante dieser religiösen Evidenzkultur ist der pietistische und evangelikale Kult der Bekehrungserlebnisse. Ursprünglich gegen die verknöcherte protestantische Orthodoxie gerichtet sollen hier die unpersönlichen Kirchenlehren, die sämtlich im problematischen Raum von Wahrheit und Falschheit stehen, ihre ganz subjektive Beglaubigung finden.

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III. Wenn wir somit die „Wahrheiten“ der monotheistischen Offenbarungsreligionen als Richtigkeiten auf der Grundlage spezifischer Evidenzen verstehen, bleibt der Status von ‚richtig‘ genauer zu bestimmen. Erst dadurch machen wir uns auf die Suche nach den Quellen von Intoleranz und Gewalt, die hier zu vermuten sind. Evidenzen von Richtigem allein machen noch keine Religion. Das mag uns freilich so erscheinen, so lange wir mit dem modernen Sprachgebrauch unter ‚Religion‘ nur etwas ganz Persönliches verstehen: eine private Haltung oder ein individuelles Gestimmtsein auf der Grundlage dessen, was Menschen in ganz subjektiver Perspektive für evident halten – bloße Religiosität also.33 Evidenzen werden erst dann religionsrelevant, wenn ihnen ein Aufforderungsoder Gebotscharakter eigen ist, der befolgt oder nicht befolgt werden kann. Wittgenstein hat uns daran erinnert, dass es im Umkreis reiner Subjektivität kein ‚richtig‘ oder ‚falsch‘ gibt, denn niemand kann rein privat einer Regel folgen, weil er dann nicht wissen kann, ob er ihr tatsächlich folgt, oder ob er nur meint, ihr zu folgen.34 Richtigkeiten brauchen somit einen sozialen Kontext, um nicht nur verstanden, sondern auch befolgt werden zu können. Religionen, die sich als „richtige“ verstehen, existieren zudem notwendig in institutioneller Form, denn nur so bleibt es nicht bei leeren Richtigkeitsansprüchen, mögen die auch im Gehalt des Geoffenbarten noch so nachdrücklich erhoben werden. Für das traditionelle Verständnis ist es ganz selbstverständlich, dass zur Religion nicht nur Religiosität, sondern auch ein praktizierter Kultus, ein Lehrbestand und ein mit Sanktionsgewalt ausgestattetes Personal gehört, das mit realen Folgen über richtig und falsch wacht. Es ist also nicht der normative Gehalt der Richtigkeiten von Religionen allein, der Intoleranz und Gewalt verursacht, sondern er ist nur eine der Bedingungen, zu denen andere hinzutreten müssen, damit es dazu kommt – vor allem bestimmte institutionelle Regelungen sind hier zu nennen, die es überhaupt erst ermöglichen, dass normative Richtigkeitsansprüche gewaltsam durchsetzbar werden. Institutionelle Regelungen sind nur vor dem Hintergrund der Funktionen verständlich, die ihnen in bestimmten Kulturen zugewiesen werden; an dieser Stel-

33 Die Begriffsgeschichte von religio ist die einer fortschreitenden Subjektivierung. Während Cicero diesen Ausdruck für das System der traditionellen Kultvorschriften und die Praxis ihrer gewissenschaften Beachtung reserviert, steht am Ende eines Weges über viele Zwischenstufen Schleiermachers „Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit“ und damit das moderne subjektivistische Religionsverständnis (vgl. HWB 8, Sp. 632). Wenn wir heute von Religion in objektiver Hinsicht sprechen, gebrauchen wir in der Regel den Plural und meinen dann Religionen als kulturelle Großgegenstände – Judentum, Christentum, Islam etc. – über die wir in quasi-ethnologischer Perspektive Feststellungen treffen. Welche von ihnen objektiv ist im Sinne der Verbindlichkeit ihrer Richtigkeiten für uns überlassen wir der persönlichen Entscheidung. Cicero, Thomas oder Luther wäre das nicht in den Sinn gekommen; sie waren keine bloßen Religionswissenschaftler. 34 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 202.

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le betreten wir das weite Welt funktionalistischer Religionstheorien.35 Die Religionssoziologie in der Tradition der Durkheim-Schule verweist vor allem auf die Integrations- und die Interpretationsfunktion der Religion zumindest für traditionale Gesellschaften, und von solchen ist ja hier die Rede.36 Dabei liegt auf der Hand, dass der Monotheismus als Sinndeutungsressource, die ein Weltbild bereitstellt, nicht per se gewalterzeugend ist. Die Theologie des „Gottes der Philosophen“ seit der Antike ist dafür der Beleg. Die kopernikanische Wende, der „Fall Galilei“ und andere Beispiele zeigen freilich, dass Weltbildveränderungen sehr wohl „gewaltrelevant“ werden können, wenn sie nämlich mit den Evidenzen in Konflikt geraten, auf die eine Gesellschaft ihre religiösen Richtigkeiten stützt. Die Sicherung kollektiver Identität – der Juden als auserwähltes Volk, der Christen als „Gemeinschaft der Heiligen“ oder der Muslime als der allen Rechtgläubigen – betrifft ja nicht nur Fragen der Selbstdeutung einer sozialen Gruppe, sondern die Stabilisierung und Konservierung ihrer Lebensformen und normativen Orientierungen. Davon hängen dann auch die Funktionen ab, die die Religion im psychischen Haushalt der Gruppenmitglieder bereitstellt: Entlastung des Individuums bei Problemen der Lebensorientierung, Kontingenzverarbeitung,37 Angstbewältigung38 und manches andere wäre hier zu nennen. Assmann beschreibt eindringlich, was der Offenbarungsmonotheismus psychodynamisch bedeutete: Er wurde als Hass auf das überkommene Vertraute erfahren, der neuen Hass auf sich zog. Der antike Antijudaismus, den vor Konstantin auch die Christen zu spüren bekamen, war vor allem ein Anti-Monotheismus, der für die Lebenswelt das Ende der Kulte und die Schließung der Tempel bedeutete. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass die durch ein solches religiöses Vakuum erzeugten Ängste in Aggressivität umzuschlagen drohten.39

35 Eine reichhaltige Liste von möglichen und wirklichen Funktionen von Religion findet sich bei: Dieter Stoodt, Religiöse Sozialisation und emanzipiertes Ich. In: Karl-Wilhelm Dahm/Niklas Luhmann/ders., Religion – System und Sozialisation, Darmstadt / Neuwied 1972, S. 231. 36 Zu den Problemen der traditionellen Funktionstheorie der Religion, die vor allem durch die Existenz funktionaler Erklärungsalternativen entstehen, vgl. Hermann Lübbe, Religion nach der Aufklärung, Graz / Wien / Köln 1986, S. 219 ff.; Niklas Luhmann, Funktion der Religion, Frankfurt a. M. 1977, S. 9 f. 37 Dies ist nach Hermann Lübbe die Funktion von Religion, für die „nach der Aufklärung“ kein funktionales Äquivalent existiert. In dieser Hinsicht ist die Religion in der Moderne durch nichts zu ersetzen, vgl. Lübbe, Religion, S. 237. 38 Freud vergleicht die Religion mit einer kollektiven Zwangsneurose und sagt dazu: „durch gewaltsame Fixierung eines psychischen Infantilismus und Einbeziehung in einen Massenwahn gelingt es der Religion, vielen Menschen die individuelle Neurose zu ersparen.“ Vgl. Sigmund Freud, Die Zukunft einer Illusion (1927), jetzt in: ders., Werkausgabe in zwei Bänden, hg. von Anna Freud und Ilse Grubrich-Simitis, Frankfurt a. M. 1978, Band 2, S. 382, 357 f. 39 Vgl. dazu die Geschichte von Paulus in Ephesus in Apg. 19, 23. Beim Aufstand des Demetrius gegen die Bedrohung des Dianakults durch die christliche Predigt ging es aber wohl primär um die Profite des Devotionalienhandels.

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Die „Richtigkeiten“ der monotheistischen Gegenreligionen stellen ohne Zweifel kognitive, soziale und psychische Bedingungen von Intoleranz und Gewalt bereit. Sie vermögen in der Tat, dies normativ zu rechtfertigen und dazu zu motivieren. Wirklichkeit im nicht bloß individuellen Maßstab gewinnt dies erst dort, wo der Monotheismus politisch wird, d. h. wo sich seine „Wahrheiten“ mit der Macht verbinden, und dies war im Kontext der Mosaischen Unterscheidung von Anfang an der Fall: „Der Monotheismus ist im Kern politische Theologie.“40 Assmann belegt dies anhand des Vergleichs des Monotheismus des Echnaton, der als ein „Monotheismus der Erkenntnis“41 zu verstehen ist, mit dem des Mose: Nicht Erkenntnis, sondern Bindung ist die Grundlage; nicht eine Erklärung der Welt steht im Vordergrund, denn die ist religiös neutralisiert, sondern ein Bund mit dem einen Gott, der das Heilsversprechen an den Gehorsam eines ganzen Volkes knüpft. Damit war unmittelbar das Ideal der Theokratie verbunden, das Mose in persona verkörperte, und das es dem alten Israel später so schwer machte, Könige zu akzeptieren. Ihm hängen die Islamisten bis heute an, während die Juden es in die Zukunft des Messias projizieren und für die Christen das Königreich Christi „nicht von dieser Welt“ ist. Gleichwohl wirkte das theokratische Muster seit der Konstantinischen Wende auch im Christentum fort als Idee göttlicher Herrschaftslegitimation – bis hin zum Gottesgnadentum der europäischen Monarchen und der Kriminalisierung des Atheismus als Staatsgefährdung bis weit ins 19. Jahrhundert. Politisch ist ferner der Mechanismus der praktisch wirksamen Selbst- und Gegenidentifikation, d. h. die sozial folgenreiche Unterscheidung zwischen „Freund und Feind“.42 Da bleibt es nicht bei der Intoleranz als kollektiver und individueller Haltung, sondern hier geht sie im Konfliktfall in reale Gewalt über. Toleranz wird offenbar überall dort möglich, wo die sozialen, psychischen und politischen Funktionen der strukturell intoleranten monotheistischen Offenbarungsreligionen an Bedeutung verlieren, und dies war in der westlichen Moderne wirklich der Fall. Dies geschah vor allem durch die Wirksamkeit funktionaler Alternativen. So vermochte der entstehende Nationalstaat immer eindeutiger die kollektive und individuelle Identifikation zu ersetzen, die zuvor die Religions- und Konfessionszugehörigkeit bereitstellte. Die religionsneutrale Idee der individuellen Bildung mag man als neuheidnisches Äquivalent der christlichen praxis pietatis ansehen. Legitime Gewalt gründet in modernen Staat nicht mehr in göttlichen Weisungen, sondern sie „geht vom Volke aus“. Der verbreitete Slogan, demzufolge die Religion in der Moderne „Privatsache“ geworden sei, bedeutet in seinem Ursprung zunächst nichts anderes als Religionsfreiheit im Sinne der Freiheit der Religion gegenüber dem Staat als der Machtagentur der Öffentlichkeit; dann sind religiöse Wahrheitsansprüche politisch neutralisiert, die religiösen Institutionen haben nur noch geringe soziale 40 Assmann, Die Mosaische Unterscheidung, S. 66. 41 Ebd., S. 57. 42 Vgl. Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen (1932), Berlin 1963/1979, S. 26.

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Herbert Schnädelbach

Macht und die Teilhabe an den politischen und sozialen Freiheitsrechten hängt nicht mehr von den religiösen Überzeugungen der Individuen ab.43 So wenig es der polytheistische Kosmotheismus verdient, nur gelobt zu werden,44 so wenig leben wir in der Moderne, in der die religiösen Wurzeln von Intoleranz und Gewalt im Prinzip gekappt sind, im Paradies. Diese Mächte haben eben auch andere Wurzeln. Mit Sorge kann einen erfüllen, dass in der modernen Welt diese Wurzeln erneut auszutreiben beginnen – in Gestalt des Fundamentalismus, womit nicht nur der islamische gemeint ist. Erstaunlich ist, wie sich dies mit einem Prozess radikaler Individualisierung des Religiösen verbindet, die weit über die uns vertraute Privatisierung hinausgeht. Die fundamentalistischen Evangelikalen schmähen kirchliche Institutionen als „katholisch“, meiden klare konfessionelle Festlegungen, und ihr wörtliches Bibelverständnis ist durch keinerlei theologische Kritik getrübt. Im Übrigen verstehen sie sich als lauter Einzelkunden am weltweiten Markt der „Religionswirtschaft“, was sie aber nicht daran hindert, in der Form gesinnungsethischer Wählerinitiativen politische Macht auszuüben.45 Die Islamisten hingegen sehen sich als hochmotivierte Einzelkämpfer für die „Sache Gottes“, erkennen dabei in islamischer Tradition keine institutionellen, sondern nur persönliche Autoritäten an – z. B. die Asama bin Ladens und seiner Vasallen –, und sie passen im übrigen ihre Gruppenstrukturen den jeweiligen taktischen Bedürfnissen an. Ob es sich bei diesen Erscheinungen wirklich um die Wiederkehr eines für vergangen Gehaltenen handelt – um erneutes Sprudeln der Intoleranz- und Gewaltquellen der monotheistischen Offenbarungsreligionen – oder nur um ein letztlich ohnmächtiges Nachflackern eines Feuers, das in der Moderne in Wahrheit schon erloschen ist, wird die Zukunft zeigen. Der Fundamentalismus als religiöser Protest gegen die Moderne ist selbst ein modernes Phänomen, gehört ihr an, und das lässt hoffen.

43 Vgl. Lübbe, Religion, S. 75 ff. 44 Vgl. Odo Marquard, Lob des Polytheismus. Über Monomythie und Polymythie. In: ders., Abschied vom Prinzipiellen. Philosophische Studien, Stuttgart 1981, S. 91 ff. 45 Vgl. Richard Ziegert, Wohin entwickelt sich der Protestantismus? In: Pfälzisches Pfarrerblatt, 94 (2004), S. 332 ff.

Neureligiöse Bewegungen und staatliches Handeln Joachim Süss An den Anfang meiner Ausführungen stelle ich drei normative Aussagen: (I) Religiöser Pluralismus ist eine gesellschaftliche Tatsache geworden. (II) Der öffentliche Umgang mit der religiösen Pluralität ist oft nur wenig an den religionshistorischen Fakten orientiert und daher für die gesellschaftliche Bewältigung des religionsgeschichtlichen Wandels eher hinderlich. (III) In Deutschland muss ein gesellschaftlicher Lernprozess initiiert werden, der einen sachgerechten Umgang mit dem Faktum der Religionsvielfalt einübt. Um diese Aussagen zu erhärten, werde ich mich in diesem Beitrag kritisch mit ausgewählten Beispielen staatlichen Handelns auseinander setzen, das auf die religiösen Veränderungen des 20. Jahrhunderts bezogen ist. Diese werden mit den einschlägigen Erkenntnissen der empirischen Religionsgeschichte kontrastiert, um einen Maßstab zur kritischen Einschätzung dieses Engagements zu gewinnen. Abschließend möchte ich die religionsempirischen Erkenntnisse aufzeigen, die der gesellschaftlichen Bewältigung der Pluralisierungsprozesse zugrunde liegen sollten.

1.

Die Pluralisierung der gegenwärtigen Religionskultur

Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges ist die Religionsgeschichte in einem Ausmaß in Bewegung geraten, das seit dem Religionspluralismus der Spätantike seines Gleichen sucht. Es sind zunächst die wirtschaftliche und politische Globalisierung, die der westlichen Welt und, seit dem Ende des Kalten Krieges in wachsendem Ausmaß auch der östlichen, eine nie gekannte Pluralität religiöser und weltanschaulicher Lehren, Praktiken und Gemeinschaften beschert haben. In den USA und Westeuropa schufen vor allem die politisch-kulturellen Umbrüche der 60er Jahre ein Klima, das die Ausbreitung fremder, für hiesige Bedingungen oftmals unkonventioneller Religionen und Weltanschauungen begünstigte und viele jener Menschen zu ihnen führte, die sich den konventionellen religiösen Traditionen des Abendlandes entfremdet hatten. Neben den zahllosen fundamentalistischen Gemeinschaften, die als Abspaltungen aus den großen christlichen Kirchen hervorgegangen waren und die nach wie vor in Afrika, Lateinamerika und Teilen Asiens erfolgreich missionie-

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Joachim Süss

ren, breiteten sich in Westeuropa und den USA wiederum Religionen und religiöse Bewegungen asiatischer Herkunft erfolgreich aus: die verschiedenen Schulen und Richtungen des Buddhismus und jene Strömungen des Hinduismus, die sich wie die modernen Guru-Schulen Indiens der Weltsicht und den modernen Fragestellungen des Westens angenähert hatten.1 Infolge dieser Entwicklung gerieten die Volkskirchen in eine Situation, die für sie neu ist. Für eine wachsende Zahl ungebundener, religiös-suchender Menschen erscheinen sie als Religionen unter Hunderten anderer auf dem „Markt der Sinnangebote“. Die Dynamik der Pluralisierung schreitet auch zu Beginn des dritten Jahrtausends weiter ungebremst voran. Dies lässt sich nicht allein dadurch erklären, dass die Kirchen ihre Bindekraft einbüßen und sich religiöse Alternativen im liberalen gesellschaftlichen Klima der Gegenwart relativ ungehindert ausbreiten können. Der Erfolg außerkirchlicher Lehren und Praktiken ist aber kaum allein auf die Raffinesse von Gurus zurückzuführen, denen das Menschenfischen perfekter gelingt als unseren verbeamteten Kultmanagern. Verantwortlich ist vielmehr eine tiefgreifende Veränderung innerhalb der Struktur der abendländischen Frömmigkeit. Die Erwartungen an die Religion und die Vorstellungen darüber, wie sich ein religiöses System dem Einzelnen gegenüber zu verhalten habe, haben sich im Verlauf des 20. Jahrhunderts mehr und mehr von ihrer christlichen Präfiguration gelöst. Damit hat sich die Idee der Religiosität in den westlichen Gesellschaften tiefgreifend gewandelt. Religiosität gestaltet sich unter den Vorzeichen von Individualisierung und persönlicher Autonomie immer weniger heteronom, auf ein außerhalb des Subjekts liegendes Objekt, Jesus, Gott, die Kirche, etc. bezogen und damit kaum noch als Glaube, dessen Postulaten im Sinne eines credo quia absurdum zu folgen sei. Das moderne Verständnis von Religiosität, das die Pluralisierung der Sinnangebote vorantreibt, setzt eine Kongruenz von persönlichen Lebenserfahrungen, Bedürfnissen und Hoffnungen mit dem jeweiligen „Heilsangebot“ voraus, das diesbezüglich stimmig sein muss.2 Die Heilsverwirklichung hängt nicht mehr an einem einmaligen geschichtlichen Ereignis, sondern muss jeweils neu errungen werden. Dies hat Folgen, nicht nur für die Institution, die dieses Heil bisher als Mittlerin garantierte, sondern auch für die Glaubwürdigkeit ihres Weltverständnisses. Die Ablehnung der Unterwerfung unter eine als absolut begriffene Heilsinstanz richtet sich zugleich gegen eine Kosmologie, die auf einer dualistischen Entgegensetzung von 1

2

Ein religionswissenschaftlicher Überblick über die Entwicklung und ihre religionshistorischen Hintergründe bei Rainer Flasche, Neue Religionen. In: Peter Antes (Hg.), Die Religionen der Gegenwart, Geschichte und Glauben, München 1996, S. 280–298. Dem Marburger Religionshistoriker, dessen Ausführungen ich im Schlussteil dieser Arbeit folgen darf, verdankt die Neureligionenforschung wichtige Impulse, insb. zu den Gesetzmäßigkeiten der Religionsentstehung im 20. Jahrhundert. Ebd., S. 280.

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Welt und Himmel bzw. Mensch und Gott beruht. Für die anthropozentrische Frömmigkeit der Gegenwart ist kein himmlischer Thron, sondern der Mensch das Zentrum.3 Religiöse Vorstellungen und Praktiken werden als Instrumente der persönlichen Heilsrealisation zugeordnet, an die sich viele nur noch auf Zeit binden. Diese Bedeutungsverschiebung steht als Triebkraft hinter der unübersehbaren Vielfalt an Angeboten, die der „spirituelle Supermarkt“ unserer Tage aufweist.4 Sie erklärt den Zustrom, den die introspektiven Meditationsformen des Buddhismus zu verzeichnen haben, die Vorliebe für Zen und die monistischen Traditionen des Hinduismus, dessen westlichen Ablegern vor allem auch deswegen ein hohes Maß an Glaubwürdigkeit zugemessen wird, weil sie wie die zur Zeit hoch im Kurs stehende Advaita-Lehre5 den ontologischen Dualismus des Christentums ablehnen. Individualisierung und Globalisierung formen mithin den Prozess der religiös-weltanschaulichen Pluralisierung und drücken dem religiösen Sektor unübersehbar ihren Stempel auf.6 Diese Entwicklungen haben auch vor den neuen Bundesländern nicht Halt gemacht. Obwohl dort nur noch ein Viertel der Bevölkerung überhaupt religiös gebunden und wie in den Altbundesländern auch, die Tendenz der Kirchenmitgliedschaften rückläufig ist, zeigt sich der qualitative Religionspluralismus in gleicher Weise wie „drüben“. In Städten mit einer differenzierten und vielschichtigen Kultur wie beispielsweise Weimar oder Dresden hat sich eine religiös-spirituelle Szene etabliert, die derjenigen westdeutscher Großstädte in nichts nachsteht, außer in einem: Die Anzahl der Menschen, die sich in solchen Gruppen engagieren, fällt deutlich geringer aus. Zweifellos werden die Volkskirchen innerhalb dieser bunten, vieldimensionalen und in permanentem Wandel begriffenen Religionskultur noch auf lange Sicht die mitgliederstärksten und gesellschaftlich einflussreichsten religiösen Gemeinschaften bleiben. Gemessen daran wirken die konkurrierenden Systeme relativ unbedeutend. Oft verfügen sie nur über wenige Mitglieder, sind nicht fest organisiert und zerfallen wieder, wenn das Charisma des Neubeginns abflaut. Dennoch: An der gegenwärtigen Entwicklung sind nicht die quantitativen Größenverhältnisse oder die relative Flüchtigkeit der Phänomene das eigentlich Bemerkenswerte, sondern es ist eine tiefgreifende qualitative Veränderung, die sich an ihnen zeigt. Wenn nämlich das Christentum „nur“ noch als ein Sinnanbieter unter vielen anderen wahrgenommen wird, dann hat sich nicht unbedingt 3 4 5 6

Joachim Süss, Anthropozentrische Religiosität, Morphologie eines modernen Frömmigkeitstypus. In: Transpersonale Psychologie und Psychotherapie, 2 (1997), S. 3, 71–81. S. auch Peter L. Berger, Der Zwang zur Häresie, Religion in der pluralistischen Gesellschaft, Freiburg 1992, S. 39 ff. Sanskrit, wörtlich: „Nicht-Zweiheit“, beschreibt die Advaita-Lehre die Einheit des Atman, des Selbst des Menschen, mit dem Brahman, dem alles umfassenden Sein des Kosmos. Sebastian Murken, Neue Religiöse Bewegungen. In: Antes (Hg.), Vielfalt der Religionen, Hannover 2002, S. 285–313.

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etwas an seinem gesellschaftlichen Einfluss geändert, für den Einzelnen, der nach religiöser Orientierung und nach Lebensbewältigung sucht, allerdings Grundlegendes. Dieser qualitative Wandel birgt die eigentliche Sprengkraft, die den religionskulturellen Pluralisierungsprozessen des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts innewohnt: Sie bedeuten nämlich nichts Geringeres als eine Infragestellung des Selbstverständnisses unserer Kultur als einer vorwiegend christlich geprägten. Wohin diese Entwicklungen führen können, das lässt sich schon heute am Beispiel der neuen Bundesländer studieren, wo eine agnostisch geprägte Bevölkerungsmehrheit kaum noch etwas von der kulturprägenden Kraft der christlichen Religion weiß.

2.

Reaktionen auf den religionskulturellen Wandel

Vor diesem Hintergrund entfaltet sich seit den frühen 70er Jahren mit wachsender Intensität ein pluralisierungskritischer Diskurs um die neuen religiösen Bewegungen,7 die in der Öffentlichkeit meist mit negativ konnotierten Begriffen wie destruktive Kulte, Sekten, Psychosekten etc. etikettiert und pauschal zu einer Gefahr für den Einzelnen und die Gesellschaft stilisiert werden.8 Demgegenüber kam ein akademischer Diskurs, anders als in Großbritannien und den USA, hierzulande nur zögernd zustande und weist bis heute große Lücken auf.9 Und die Anhänger dieser neuen Richtungen kommen innerhalb dieses Diskurses, wenn überhaupt, dann bestenfalls als Opfer raffgieriger Gurus und gefährlicher Psychopraktiken vor. Die Debatte, in der immerhin so weitreichende Forderungen wie Verbote von Gruppierungen und damit die Beschränkung des Verfassungsrechts auf Religionsfreiheit artikuliert werden, findet oft genug ohne Rückgriff auf wissenschaftlich gesicherte, empirische Daten statt.10 Auch für das Bild der neuen Religiosität, das von manchen Politikern, kirchlichen Weltanschauungsbeauftragten und Medienvertretern gezeichnet wird, gilt also, was die Sozialwissenschaftle7

Zu den religionsgeschichtlichen Hintergründen und der Diskursstruktur des pluralisierungskritischen Diskurses vgl. Süss, Religiöse Pluralisierung seit dem 19. Jahrhundert zwischen Akzeptanz und Sektenfurcht. In: Michael Klöcker/Udo Tworuschka (Hg.), Handbuch der Religionen, Kirchen und andere Glaubensgemeinschaften in Deutschland (HdR), München 2000, I – 5.2. 8 Zu den Stereotypen und Mythen, die dieser Debatte zugrunde liegen, vgl. Heiner Barz, Sektenforschung als Hexenjagd? Skandalisierungsdiskurse am Beispiel „Sinnsuche“ und „Sektengefahr“. In: ders. (Hg.), Pädagogische Dramatisierungsgewinne, Jugendgewalt, Analphabetismus, Sektengefahr, Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt 2000, S. 155–169. 9 Vgl. Süss, Herausforderungen und Perspektiven der Neureligionenforschung, Religion – Staat – Gesellschaft 3 (2002) 2, S. 297–319 10 Über die Anfänge des pluralisierungskritischen Diskurses in Deutschland vgl. Frank Usarski, Die Stigmatisierung neuer spiritueller Bewegungen in der Bundesrepublik Deutschland (Kölner Veröffentlichungen zur Religionsgeschichte 15), Köln u. a. 1988.

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rin Birgit Rommelspacher für den gesellschaftlichen Umgang mit Fremdem insgesamt konstatiert, dass nämlich die Gewissheit des Fremdbildes in einem eigenartigen Kontrast zur Unbekanntheit des Fremden stehe.11 Ohne ausreichende empirische Fundierung seitens der Wissenschaft aber bleibt es bestimmten Interessengruppen überlassen, ihr Verständnis von nichtkonventioneller Religiosität gesellschaftlich durchzusetzen.12 Noch in den 50er und 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts beschäftigte sich lediglich eine kleine Schar evangelischer Theologen der heute in Berlin ansässigen Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW) mit jenen Grüppchen von „Sehern, Grüblern, Enthusiasten“13, die sich an den Rändern der Volkskirche mit charismatischem Impetus gebildet hatten, ohne aber gesellschaftlich in besonderer Weise wahrgenommen zu werden. Dies änderte sich mit dem Einsetzen der Anti-Sekten-Kampagne in den 70er Jahren schlagartig.14 Seit dieser Zeit stieg die Zahl derjenigen deutlich an, die die religionsgeschichtlichen Veränderungen ab der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts vor allem als Bedrohung wahrnehmen wollten. Immer mehr Journalisten, Pfarrer und Privatpersonen spezialisierten sich als so genannte „Sektenexperten“. Mittlerweile sind im Bereich der EKD 27 offizielle Sektenbeauftragte tätig; die EZW unterhält fünf ständige Mitarbeiter. Im Bereich der römisch-katholischen Kirche wirken 28 Sektenbeauftragte neben zwei zentralen Einrichtungen, der Sozialethischen Arbeitsstelle in Hamm und der Zentralstelle Pastoral in Bonn. Damit sind in der Bundesrepublik Deutschland allein im kirchlichen Bereich etwa 60 solcher Sonderbeauftragten tätig.15 Hinzu kommen weitere Experten auf Länderebene, ein eigenes Referat im Bundesfamilienministerium und eine entsprechende Stelle im Bundesverwaltungsamt.16 Länderübergreifende Gremien stellen ein Bund-Länder-Gesprächskreis „Sogenannte Sekten und Psychogruppen“ und eine Interministeriellen Arbeitsgruppe zur Scientology-Organisation dar. Weitere Arbeitsebenen wurden innerhalb einzelner Länder ressortübergreifend geschaffen, der Austausch über Fragen der religiösen Pluralisierung damit weiter institutionalisiert. Daneben existieren ca. 20 größere so genannte Selbsthilfegruppen wie „SINUS“ in Frankfurt, die „Aktion für geistige und psychische Freiheit“ AGPF in Bonn und das „Sekten-Info“ Essen, die zum Teil mit öffentlichen Geldern finan-

11 12 13 14 15 16

Birgit Rommelspacher, Anerkennung und Ausgrenzung, Deutschland als multikulturelle Gesellschaft, Frankfurt a. M. 2002, S. 10. Ebd., S. 12 Kurt Hutten, Seher, Grübler, Enthusiasten, Das Buch der traditionellen Sekten und religiösen Sonderbewegungen, 12. Auflage Stuttgart 1982 (Erstauflage 1954). Frank Usarski, Die Stigmatisierung Neuer Spiritueller Bewegungen in der Bundesrepublik Deutschland, Köln / Wien 1988, S. 159 ff. Gerhard Besier/Erwin K. Scheuch (Hg.), Die neuen Inquisitoren, Religionsfreiheit und Glaubensneid, Teil 1, Zürich u. a. 1999, S. 11 f. Ebd.

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ziell bezuschusst werden.17 Kritiker bemängeln seit langem, dass sich diese Aktivitäten in einem Raum bewegen, der einer wirksamen öffentlichen Kontrolle und fachlicher Evaluation überwiegend entzogen ist.18 Zahlreiche weitere Personen sowie private bzw. halb private Gruppen wirken auf regionaler und kommunaler Ebene, in Behörden, Kirchengemeinden, Universitäten und Fachhochschulen an der Abwehr der vermeintlichen Bedrohung durch die nichtkonventionelle Religiosität.19

3.

Beispiele staatlichen Handelns

3.1

Die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages „Sogenannte Sekten und Psychogruppen“

Der wohl größte Erfolg des pluralisierungskritischen Diskurses war die Einrichtung einer Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages, die sich einzig dem Themenkomplex „Sogenannte Sekten und Psychogruppen“ widmete. Diese Kommission, die gegen die Überzeugung namhafter Abgeordneter eingerichtet wurde, nahm im Jahr 1996 ihre Arbeit auf.20 Ihrem Abschlussbericht21, der 1998 vorgelegt wurde, stimmte die Mehrheit des Deutschen Bundestages zu; Bündnis 90/Die Grünen verabschiedeten ein Sondervotum. Grundlage der Beratungen waren sechs Gutachten, die zur Aufgabe hatten, das Feld der neureligiösen Bewegungen und die Konflikte zwischen ihnen und der Öffentlichkeit fachwissenschaftlich zu untersuchen. Die Sachverständigen gelangten in allen Gutachten zu dem eindeutigen Ergebnis, dass von den Gemeinschaften des religiös-weltanschaulichen Spektrums „im allgemeinen für den Einzelnen und den Staat keine Gefahren ausgehen“.22

17 Ebd., S. 17 f. 18 So die Autorin des Bestsellers „Scientology – Ich klage an“, Renate Hartwig, in einem im Internet publizierten Interview, 1. 4. 2003, Kopie kann vorgelegt werden. Hartwig wandelte sich zwischenzeitlich von einer Kritikerin der „Sekten“ zu einer Kritikerin der Sektenkritik. 19 Die Publikation „Über die Brücke zum Wachturm“, hg. vom Referat Sekten und Psychokulte des Studentenrates der TU Dresden, 2. Auflage 1998, listet allein 76 Sektenberatungsstellen in Deutschland auf. 20 Besier/Scheuch (Hg.), Inquisitoren, S. 10. 21 Deutscher Bundestag, Abschlussbericht der Enquete-Kommission „Sogenannte Sekten und Psychogruppen“, Neue religiöse und ideologische Gemeinschaften in der Bundesrepublik Deutschland, Deutscher Bundestag, Referat Öffentlichkeitsarbeit, Bonn 1998; sowie Deutscher Bundestag, Enquete Kommission „Sogenannte Sekten und Psychogruppen“ (Hg.), Neue religiöse und ideologische Gemeinschaften und Psychogruppen: Forschungsprojekte und Gutachten der Enquete-Kommission, Hamm 1998. 22 Angelika Köster-Lossak, Die Lage religiöser und weltanschaulicher Minderheiten in der Bundesrepublik Deutschland. In: Gewissen und Freiheit, 52 (1999), S. 60–70, hier: 68. Die Autorin war als Mitglied des Deutschen Bundestages Vertreterin von Bündnis/90 – Die Grünen in der Enquete-Kommission „Sogenannte Sekten und Psychogruppen“.

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So konnten Behauptungen widerlegt werden, wonach Mitglieder neureligiöser Gemeinschaften einer „Gehirnwäsche“ ausgesetzt worden seien oder sich ihrer Gruppe nur unter Zwang angeschlossen hätten. Angehörige neureligiöser Gruppen dürften keinesfalls einseitig als Opfer verstanden werden, vielmehr handele es sich um Personen, die sich offenbar gezielt jene Gemeinschaft ausgesucht hätten, die zu ihren Bedürfnissen am besten passt. Die gängige Annahme, dass es Beeinflussungen durch problematische Psychotechniken gebe, wurde von den Sachverständigen unmissverständlich zurückgewiesen. Auch die verbreitete Überzeugung, die Gruppen könnten kaum aus eigener Anstrengung heraus wieder verlassen werden, widerspricht empirischen Befunden, nämlich der in den untersuchten Organisationen beobachteten hohen Fluktuation der Anhänger und der relativ kurzen Mitgliedsdauer.23 Konflikthafte Erfahrungen ließen sich zwar ermitteln, dies gilt auch für einige Fälle von Missbrauch sozialer Kontrolle in eng strukturierten Gemeinschaften; all diese Phänomene gingen jedoch keinesfalls über das Maß hinaus, das sich auch in anderen, hinsichtlich ihrer emotionalen Beziehungen vergleichbaren Institutionen findet.24 „Die Mitgliedschaft in neuen religiösen Bewegungen ist demnach generell nicht schädlich. Die spektakulären Fälle von Selbsttötungen im Ausland und die terroristischen Anschläge von Aum in Japan haben insofern einen Ausnahmecharakter.“25 Dieselben Befunde formulierten die Sachverständigen auch für den gesellschaftlichen und politischen Einfluss religiöser Minderheiten sowie deren wirtschaftliche Interessen. Auch auf diesen Gebieten ließen sich keine von vergleichbaren Kontexten abweichende Besonderheiten feststellen.26 Vor diesem Hintergrund erstaunt, welche gesetzgeberischen Handlungsempfehlungen die Kommission in ihrem Abschlussbericht auflistet: Statt sich auf die Forderung einer verstärkten sozial- und religionswissenschaftlichen Aufarbeitung der religionsgeschichtlichen Veränderungen nach dem Zweiten Weltkrieg zu beschränken, gab die Kommission den Postulaten der Pluralisierungsgegner nach und stellte einen langen Katalog teilweise massiver rechtlicher und sozialer Forderungen auf, darunter eine Änderung des Vereins- und Steuerrechts, die Verschärfung des Wucherparagraphen, die staatliche Förderung privater Informations- und Beratungsstellen, ein Gesetz zur Regelung der gewerblichen Lebensbewältigungshilfe, die Sammlung und Verbreitung entsprechender Daten durch das Bundesverwaltungsamt usw.27 Die empirisch fundierten Ergebnisse der Gutachten wurden bei der Formulierung der Handlungsempfehlungen im Hauptbericht offenbar nicht weiter berücksichtigt; zumal ein Min23 24 25 26

Ebd. Ebd. Ebd. Dorothee Osterhagen, Der Abschlussbericht der Enquete-Kommission „Sog. Sekten und Psychogruppen“ des Deutschen Bundestages. In: Besier/Scheuch (Hg.), Die neuen Inquisitoren, Teil 2, S. 439–449, hier: 439. 27 Deutscher Bundestag, Abschlussbericht, Handlungsempfehlungen, S. 295 ff.

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derheitenvotum auf der Grundlage derselben Daten zu wesentlich moderateren Resultaten gelangte.28

3.2

Die Scientology-Kontroverse

Seit den frühen 90er Jahren begann sich die öffentliche Debatte mehr und mehr auf die Scientology-Kirche zu fokussieren.29 Dies geschah nicht etwa deshalb, weil sich Scientology in auffälliger Weise anders als in den Jahrzehnten vorher verhalten hätte. Vielmehr trat diese neureligiöse Bewegung die Nachfolge anderer Gruppierungen genau in jenem Augenblick an, als diese keinen Stoff für weitere medienträchtige Skandalisierungen mehr boten und die Öffentlichkeit das Interesse an ihnen verlor. Der Neo-Sannyas-Bewegung des indischen Gurus Bhagwan Shree Rajneesh (später Osho), über die noch Kanzler Schmidt geurteilt hatte, sie entwickele sich allmählich zu einer ernsten Bedrohung für die Bundesrepublik Deutschland,30 ließ sich nach dem Tod ihres exzentrischen Stifters keine Schlagzeile mehr abgewinnen. Ähnliches traf auf die „Children of God“ zu, die partout keinen missionarischen Sex mehr praktizieren wollten oder die Ananda Marga, deren Anhängerschaft auf vielleicht noch zwei Dutzend Personen im gesamten Bundesgebiet geschrumpft war. Im Juni 1997 erging ein Beschluss der Innenministerkonferenz, die Scientology-Kirche durch die Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder (außer Schleswig-Holstein) beobachten zu lassen. Vorausgegangen waren massive Vorwürfe, dass diese Gruppierung unter dem Deckmantel einer Religionsgemeinschaft und unter Missachtung der Rechtsordnung verfassungsfeindliche Ziele verfolge, Methoden der Wirtschaftskriminalität anwende und Psychoterror gegen ihre Mitglieder ausübe. Die Vorwürfe ließen sich jedoch durch die Observationen selbst noch durch zahlreiche Gerichtsverfahren erhärten; die Verfassungsschützer kamen statt dessen zu dem Ergebnis, dass es sich bei der gefürchteten Organisation um eine zwar lautstark und mitunter aggressiv gegen ihre medialen und politischen Gegner opponierende Gruppe handelt. Insgesamt sei sie jedoch wenig erfolgreich, was sich an den stagnierenden Mitgliederzahlen ablesen lasse. Diese liegen seit Jahren bundesweit bei maximal etwa 5 000 Personen und keinesfalls bei 30 000 oder sogar 300 000, wie behauptet wurde.31 In vielen Regionen Deutschlands ist die Scientology-Kirche überhaupt nicht vertreten. So müssen alle Bemühungen, nach der Wende in Ostdeutschland Fuß zu fassen, als gescheitert gelten. Auch die Wirtschaftskraft der Gruppe entspreche bestenfalls der eines mittel28 Sondervotum Bündnis/90 – Die Grünen, S. 314 ff. 29 Ein Resümee der Diskussion um diese umstrittene Gruppierung zieht Stefan Braun, Scientology – eine extremistische Religion, Vergleich der Auseinandersetzung mit einer umstrittenen Organisation in Deutschland und den USA, Baden-Baden 2004. 30 Fritz Tanner, Bhagwan, Gauner, Gaukler, Gott? Altstätten / München 1986, S. 26. 31 So bereits 1998. In: Der Spiegel, 39, S. 17.

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ständigen Unternehmens, Anzeichen für eine Unterwanderung staatlicher Institutionen durch Mitglieder der Scientology wurden nicht gefunden. Diese Erkenntnisse führten dazu, dass die Verfassungsschutzbehörden nach und nach ihre Beobachtungen einstellten oder diese nur noch mit geringem Aufwand weiterbetreiben. Infolge dessen hat sich auch die öffentliche Aufregung um die Scientology-Kirche inzwischen deutlich gelegt.

3.3

Kommunale Sektenprävention

Die mittlerweile schon seit einigen Jahren publizierten Ergebnisse der Enquete-Kommission „Sogenannte Sekten und Psychogruppen“ sowie der bekannt gewordenen relativierenden Erkenntnisse über Macht und Einfluss der Scientology-Kirche haben jedoch nicht dazu beitragen können, dass man nun entspannter mit dem Thema „neureligiöse Bewegungen“ umgeht. Statt Beiträge zur gesellschaftlichen Bewältigung der religiösen Pluralisierungsprozesse zu leisten, scheint dieses Thema in vielen öffentlichen Publikationen noch immer vorwiegend unter dem Gesichtspunkt der Gefährdung von Individuum und Gesellschaft gesehen zu werden. Ein Beispiel: Noch im Jahr 2004 brachte die Baden-Württembergische Landeshauptstadt Stuttgart ein Faltblatt heraus, das wie in den Hochzeiten der Anti-Sekten-Kampagne der 70er Jahre pauschal vor „der Sektengefahr“ warnt. Es trägt den Titel „Checkliste für unbekannte Gruppen“ und richtet sich offenkundig an ein jugendliches Publikum. Auf 17 Schaubildern, die in einem ansprechenden Comic-Stil gestaltet worden sind, werden vermeintlich typische Eigenschaften von „Sekten“ sowie die Wirkungen beschrieben, die sie auf Menschen hätten.32 Der Leser erfährt, dass das Weltbild der „Sekte“ verblüffend einfach sei und jedes Problem erkläre. Jede Gruppe habe einen Guru, und dieser sei im Besitz der absoluten Wahrheit, der sich die Kultmitglieder zu unterwerfen hätten. Das neben dieser Aussage abgedruckte Bild zeigt die Karikatur eines Yogi, der mehrere Zentimeter über seinem Meditationskissen schwebt, während sich über seinem Kopf eine Wolke gebildet hat. In deren Zentrum erkennt der Betrachter ein großes Dollar-Symbol. Die Botschaft des Bildes ist klar: In der „Sekte“ geht es gar nicht um Religion – den Gurus geht es nur ums Geld! Weitere Bilder erläutern die inneren Mechanismen der „unbekannten Gruppen“: Die Welt treibe auf eine Katastrophe zu, und nur die Gruppe weiß, wie die Welt gerettet werden könne – die Gruppe verstehe sich nämlich als Elite, 32 Landeshauptstadt Stuttgart, Jugendamt in Verbindung mit der Stabsabteilung Kommunikation (Team Öffentlichkeitsarbeit) und dem Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg (Hg.), Sekten versprechen viel... alles glauben? Information und Beratung mit Checkliste für unbekannte Gruppen, Faltblatt, Stuttgart 2004.

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während der Rest der Menschheit dem sicheren Untergang entgegensieht. Nur der sofortige Abbruch aller alten Beziehungen und der Eintritt in die Gruppe könne den Einzelnen überhaupt noch retten! Der Leser erhält noch weitere „Informationen“, so etwa die, dass das Sexualverhalten von der „Sekte“ exakt vorgeschrieben werde. Und zwar könne entweder die Partnerwahl vorbestimmt sein, man könne zum Gruppensex oder auch zu totaler Enthaltsamkeit gezwungen werden. Dem religionskundlich vorgebildeten Leser müssen angesichts solch realitätsferner Thesen die Haare zu Berge stehen. Denn weder verfügt jede Gruppe über einen Guru, noch verstehen sich alle Gurus als Inhaber absoluter Wahrheiten. Die indische Tradition, in der der Guru beheimatet ist, betrachtet diesen vielmehr als religiösen Lehrer, der Menschen dabei hilft, eine Wahrheit zu suchen, die gemäß der hinduistischen Anthropologie nur im Innern des Einzelnen gefunden werden kann. Außerdem hat man den Eindruck, dass die Autoren des Faltblattes die katholische Kirche nicht kennen: betrachtet man den Zölibat, erscheint die Forderung nach sexueller Enthaltsamkeit keineswegs elitär und sektentypisch, wie die Veröffentlichung insinuiert. Im Übrigen findet sich sexuelle Enthaltsamkeit im weiten Spektrum der neureligiösen Bewegung und der alternativen Spiritualität höchst selten und zwar vorwiegend nur dort, wo eine Gemeinschaft einem traditionellen Askese-Ideal folgt. Dies ist z. B. bei ISKCON der Fall, der HareKrishna-Bewegung, deren maximal noch 50 Mönche in Deutschland damit einem Gebot ihrer Bhakti-Frömmigkeit nachkommen. Die Macher dieses Faltblatts haben nicht nur auf religionswissenschaftlichen Rat verzichtet, scheinbar war ihnen auch nicht mehr klar, vor wem sie eigentlich warnen sollten: offenkundig ist das Reservoir an skandalisierungsfähigen Gemeinschaften im neureligiösen Bereich ausgetrocknet. Deswegen warnt man eben vor „der unbekannten Gruppe“. Ohne Zweifel waren die Herausgeber der Broschüre davon überzeugt, mit ihrer Schrift eine wichtige präventive Aufgabe zu erfüllen. Es geht mir auch nicht darum, ihre positive Motivation zu kritisieren. Allerdings darf man die Frage stellen, ob das Ergebnis ihrer Anstrengungen mit der religionsempirischen Realität noch korrespondiert.

Neureligiöse Bewegungen und staatliches Handeln

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Kritik und höchstrichterliche Rechtsprechung

Das Religionsverständnis, das den zitierten sowie zahlreichen anderen Äußerungen zur neuen Religiosität zugrunde liegt, beruht auf einer Unterscheidung von guter und schlechter Religion: gut ist die etablierte Tradition, schlecht die neue, unkonventionelle und alternative Spiritualität. Aus religionshistorischer Perspektive ist diese Unterscheidung natürlich unsinnig. Die Religionsgeschichte lässt sich nicht in gute und böse Religionen aufteilen. Die Kategorisierung nach guter und schlechter Religion verstellt den Blick auf Problemfelder und Konflikte, die möglicherweise tatsächlich vorhanden sind, weil sie an der Oberfläche bleibt und eine falsche Alternative aufmacht: ganz so, als gäbe es Probleme nur auf der einen Seite, bei den kleinen und neuen Gruppen, dort aber massiv. Zweifelsohne finden sich auch unter den Stiftern und Führern religiöser Sondergemeinschaften „die obskursten Weissager, die abstrusesten Winkelpropheten, neben monomanen Eigenbrödlern sendungsbesessene Fanatiker, aber auch heilige Phantasten neben geld- und geltungsbedürftigen Hochstaplern und Psychopathen.“33 Religionswissenschaftlich betrachtet, sind solche Scharlatane allerdings weder typisch noch repräsentieren sie den gesamten Bereich der neuen Religiosität. So verhindert die leider noch immer gängige Pathologisierung der alternativen Frömmigkeit, was eigentlich dringend ansteht, nämlich die Akzeptanz der Tatsache, dass diese Gesellschaft längst auch in religiöser Hinsicht pluralistisch geworden ist und verweigert damit jenen Menschen den Respekt, die anders glauben. Problematisch ist dabei nicht, dass sich staatliche Repräsentanten kritisch auf die neue Religiosität beziehen. Dieses Recht steht ihnen ausdrücklich zu, wie höchstrichterliche Urteile bestätigen. Von besonderer Bedeutung ist hierbei das im Jahr 2002 ergangene sogenannte „Osho-Urteil“ des Bundesverfassungsgerichts, weil es die kritische Auseinandersetzung des Staates und seiner Organe mit den Trägern des Grundrechts auf Religions- und Weltanschauungsfreiheit gemäß Art 4 GG, also auch mit neuen religiösen Gruppierungen, an das Gebot religiös-weltanschaulicher Neutralität bindet.34 Dem Urteil zufolge sind dem Staat diffamierende, diskriminierende oder verfälschende Darstellungen einer religiösen oder weltanschaulichen Gemeinschaft untersagt.35 Ihm lag eine Klage der Osho-Bewegung zugrunde, die sich gegen abwertende Äußerungen in Veröffentlichungen der Bundesregierung und der Länder zur Wehr setzte. Die Bundesregierung sei, wie es in den Leitsätzen weiter heißt, zur Informationsarbeit berechtigt. Aber diese habe mit Zurückhaltung zu geschehen.36 So leiten die Ausführungen des BverfG die Aufmerksamkeit wieder auf die Er33 Flasche, Das Heilsangebot der Jugendreligionen im Kontext von individueller und kollektiver Heilssehnsucht – eine religionsgeschichtliche Betrachtung. In: Forum Jugendreligionen, 2 (1984), S. 12–41, hier: 37. 34 BverfG, 1 BvR 670/91 vom 26. 6. 2002. 35 Ebd., S. 1 36 Ebd.

320

Joachim Süss

kenntnisse der empirischen Religionsforschung, die unverzichtbar sind, wenn man nicht in das alte Klischee einer pauschalen Sektengefahr abgleiten, sondern ein realitätshaltiges Bild der religiösen Pluralisierungsprozesse entwerfen will.

4.

Religionsempirische Grundlagen für den gesellschaftlichen Pluralisierungsdiskurs

Globalisierung und Individualisierung bilden die Triebkräfte, die zu einer weiteren Pluralisierung der religiösen Landschaft führen werden. Da es nicht mehr darum gehen kann, das Rad der Geschichte zurückzudrehen, bedarf es einer angemessenen Strategie, mit diesem Prozess gesellschaftlich umzugehen. Diese Strategie darf sich aber nicht von Abwehraffekten leiten lassen, sondern muss sich auf ein sachgerechtes Verständnis der Veränderungen stützen, das empirisch untermauert ist. Welche Erkenntnisse die Religionsgeschichte hierfür bereithält, möchte ich abschließend aufzeigen. Überschaut man die Religionsgeschichte, also das Segment der Religionen im Strom der Weltgeschichte, dann erweist sich die Situation, in der sich unsere Gesellschaft heute befindet, als keinesfalls außergewöhnlich. Schon die römische Antike wies einen Pluralismus unterschiedlichster Glaubens- und Weltdeutungssysteme auf, die nebeneinander bestanden und ständig durch religiöse Neuentdeckungen aus den römisch kolonisierten Gebieten ergänzt wurden, die für kurze oder längere Zeit Mode wurden. Griechische Gottheiten standen neben den römischen, vorderasiatische und ägyptische neben gnostischen Mysterienkulten. Vielfach vermischten sich die unterschiedlichen Glaubenssysteme miteinander, brachten neue Triebe hervor und verschwanden gegebenenfalls wieder, wenn sich das Interesse auf andere Götter richtete. Beendet wurde dieser Pluralismus erst, als unter Konstantin das Christentum zur Staatsreligion erhoben wurde. „Religionen lassen sich charakterisieren als Welterklärungs- und Lebensbewältigungssysteme, die in Relation stehen zu einer wie auch immer gearteten Unverfügbarkeit, zu der sich die Menschen (die jeweiligen Gläubigen) in ein Verhältnis gesetzt wissen. Solange solche Systeme als allgemein verbindlich gelten oder auch nur hinreichend sind, Welt zu erklären und leben zu bewältigen, fundieren sie die jeweilige Gesellschaft bzw. religiöse Gemeinschaft und sind die Wahrheitswirklichkeit schlechthin.“37 Religionen sind dynamische Systeme. Dies umso mehr, als ihre Lehren, Rituale und sozialen Erscheinungsformen nicht Selbstzweck sind, sondern auf das Individuum und seine Lebensbewältigung bezogen sind. Religionen haben vor allem zwei Funktionen, eine philosophisch-spekulative und eine psychologisch-lebenspraktische. Indem sie die Welt, die der Mensch vorfindet und in die er sich gestellt sieht, als eine ganzheitliche 37 Flasche, Neue Religionen, S. 280.

Neureligiöse Bewegungen und staatliches Handeln

321

Sphäre deuten, verhelfen sie dem Einzelnen dazu, seinen Ort im Kosmos zu begreifen und damit sein Leben als sinnvoll zu verstehen. Damit stiften sie Sinn und entziehen die Existenz des Einzelnen der Ungewissheit und Zufälligkeit. Konkrete Lebenshilfe leisten sie, indem sie Deutungen, aber auch konkret zu praktizierende Rituale für die Krisen und Übergänge des Daseins anbieten und damit dazu beitragen, dass Geburt, Erwachsenwerden, Hochzeit, aber auch Leiden, Altern, Krankheit und Tod angenommen und bewältigt werden können. Religionen erfüllen diese Funktionen jedoch nur, solange ihr „Sinnangebot“ mit der Welterfahrung der Menschen kongruent ist. Was aber geschieht, wenn die Kongruenz zwischen Welterfahrung durch den Einzelnen und Welterklärung durch eine religiöse Tradition nicht mehr gegeben ist? Dann kann es entweder zu einer systemimmanenten Reformation kommen, die zu einer Anpassung der traditionellen Heilsaussage an die neuen Herausforderungen führt. Oder, wenn das System zu einer solchen Transformation nicht mehr in der Lage ist, kristallisiert sich unter Umständen eine systemtranszendente Lösung heraus: eine Abspaltung bzw. eine religiöse Neubildung. Neue Religionen und neureligiöse Bewegungen entstehen unter dem Druck geänderter sozialer, wirtschaftlicher oder politischer, heute in zunehmendem Maße auch ökologischer Rahmenbedingungen. Ist ein traditionelles System nicht fähig oder in der Lage, die damit verbundenen Unsicherheiten und Infragestellungen partiell oder ganz zu verarbeiten, kann es neue Wirklichkeitserfahrungen nicht mehr integrieren, dann bilden sich alternative Weltdeutungsund Lebensbewältigungssysteme heraus, die die alte Ordnung wiederherstellen, korrigieren oder sogar übertreffen wollen. Sie nehmen jeweils für sich in Anspruch, der überlieferten Welterklärung überlegen zu sein. Die Funktion neuer Religionen in Situationen tiefgreifender Umwälzungen besteht also in der Krisenbewältigung: Indem sie die schmerzlich erfahrenen Brüche der jeweiligen Realität überwinden, schaffen sie neues Heil. Nicht nur die großen Weltreligionen bringen unter dem Druck der Verhältnisse neue Triebe hervor. Auch die neuen Religionen sind dieser Wandlungsdynamik ausgesetzt und verzweigen sich weiter. Aus der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage sind bereits 26 verschiedene und zum Teil konkurrierende Kirchen hervorgegangen. Die Osho-Bewegung hat sich in verschiedene spirituelle Schulen und die neue Satsang-Bewegung ausdifferenziert. Sogar die sonst als konsistent eingeschätzte Scientology hat schon verschiedene Abspaltungen (Freie Zone, Scienterra) hervorgebracht. Betrachtet man die gegenwärtige religiös-weltanschauliche Pluralität vor einem größeren Horizont, eingebettet in den Strom der Religionsgeschichte, dann zeigt sich: Neue Religionen und neureligiöse Bewegungen entstehen nicht willkürlich, sondern entstammen in ihrer überwiegenden Mehrheit einer oder mehreren religionsgeschichtlichen Traditionslinien, aus denen sie hervorgegangen sind. Der amerikanische Religionshistoriker Gordon Melton begreift den religiösspirituellen Pluralismus der Gegenwart deshalb auch als Resultat einer globa-

322

Joachim Süss

len Diffusion der Weltreligionen.38 An diesem Ausbreitungsprozess ist das Christentum ebenso beteiligt wie der Hinduismus, der Buddhismus und der Islam, aber auch vormals ethnische Religionen, die ihre biologisch definierten Grenzen überschritten haben. Die religiösen Neubildungen der Gegenwart sind zu einem bedeutenden Teil Repräsentanten einer der großen so genannten Weltreligionen. Diese vertreten sie in einer der Moderne angepassten, zeitgemäßen Form. Der moderne Religionspluralismus im Westen wurde also zu einem Gutteil durch die globale Ausbreitung der Weltreligionen hervorgerufen, die damit ihrerseits auf die koloniale Expansion Europas und die missionarische Ausbreitung des Christentums reagierten. Eine andere Wurzel der religiösen Pluralisierung stellt die Wiederentdeckung des metaphysisch-okkulten Untergrundes der abendländischen Kultur dar. Auch sie tritt seit dem 19. Jahrhundert wieder machtvoll in Erscheinung. Es handelt sich dabei um jenen Pool religiös-philosophischer Ideen und magischer Praktiken, die außerhalb der institutionalisierten Religionen existieren. In diese Kategorie fallen die Revitalisierungsbemühungen unterschiedlicher Formen des Neuheidentums (Neo-Paganismus), das sich u. a. in der indogermanischkeltisch inspirierten Wicca-Bewegung manifestiert. Auch in Theosophie und Anthroposophie sowie in der amorphen New-Age-Bewegung können Einflüsse des abendländischen Okkultismus und der Esoterik nachgewiesen werden. Zunehmend lassen sich auch Kultbildungen aus säkularen Denktraditionen heraus beobachten. Auf psychologischem Gedankengut basieren die Lehren der früheren Aktionsanalytischen Organisation (AAO) des Österreichischen Künstlers Otto Mühl und des Zentrums für experimentelle Gesellschaftsgestaltung (ZEGG), die häufig als religiöse Gemeinschaften angesehen werden. Andere Neubildungen wurzeln in populären naturwissenschaftlichen Theorien wie der Evolutionslehre. So spielte der Glaube an die bevorstehende Transformation zum kosmischen Überwesen im Gedankengut von Heaven’s Gate und dem kollektiven Suizid dieser Gruppe im Jahr 1997 die Schlüsselrolle. Astrophysik und Kosmologie, gepaart mit Technikbegeisterung, bilden die zentralen Motive der Glaubenswelten vieler UFO-Kulte und der so genannten Trekkies. Die „Conventions“ dieser Star-Trek-Jünger tragen erkennbar kultische Züge. Die Neubildung von Religionen ist der Normalfall der Religionsgeschichte. Wie im Übrigen auch die heute als etabliert geltenden Religionssysteme belegen. Auch sie entstanden einst als „Sekten“ und Abspaltung ihrer Muttertradition. Zieht man die vorliegenden Erkenntnisse der empirischen Religionsforschung in Betracht, dann besteht für die Aufgeregtheiten des pluralisierungskritischen

38 Another Look at New Religions. In: Wade Clark Roof (Hg.), Religion in the Nineties, Newbury Park 1993 (The Annals of The American Academy of Political and Social Sciences 527), S. 97–112, hier: 111 f.; s. auch ders., Modern Alternative Religions in the West. In: John R. Hinnels (Hg.), A Handbook of Living Religions, New York 1984, S. 455–474.

Neureligiöse Bewegungen und staatliches Handeln

323

Diskurses kein Anlass. Öffentlich-rechtliche Weltanschauungsarbeit wird diese Sachverhalte nicht außer Acht lassen können. Denn es kann nicht ihre Aufgabe sein, Alarmismen im Zusammenhang mit Minoritäten zu verstärken oder einen rein auf Prävention bezogenen Diskurs zu vertreten. Es sind zuvorderst die Erkenntnisse und Daten der empirischen Religionsforschung, die zu einer angemessenen Einschätzung dieser Gruppen, Bewegungen und Strömungen verhelfen. Eine angemessene Einschätzung wird Kritikwürdiges nicht aussparen. Sie wird aber darauf verzichten, problematische Sachverhalte pauschal auf alle zu projizieren, und zwar nur deshalb, weil die entsprechenden Gemeinschaften verhältnismäßig klein und neu sind.

Das deutsche „Kooperationsmodell“ von Staat und Amtskirchen in seinen Auswirkungen auf religiöse Pluralität und gelebte Religionsfreiheit Hermann Weber

1.

Einleitung

Das von mir zu behandelnde (nicht von mir formulierte) Thema geht von zwei unausgesprochenen Annahmen aus: Erstens, dass es ein solches Kooperationsmodell (sei es auf der rechtlichen, etwa der Verfassungsebene, sei es auf der Ebene zumindest faktischen Zusammenwirkens) wirklich gibt; und zweitens, dass das Modell (positive oder negative) „Auswirkungen auf religiöse Pluralität und gelebte Religionsfreiheit“ hat. Beiden Fragen soll im Folgenden nachgegangen werden. Das erfordert zunächst einen Blick auf die Grundlinien des deutschen Staatskirchenrechts (oder Religionsverfassungsrechts, auf den Begriffsstreit wird noch einmal zurückzukommen sein) und seine Handhabung in der Praxis (2), bevor die Frage erörtert wird, welche Auswirkungen ein solches Staatskirchenrecht etwa auf Minderheitsreligionen und nicht etablierte Religionsgemeinschaften (und damit auch auf religiöse Pluralität und gelebte Religionsfreiheit) haben kann und hat (3) und wie delegitimierenden Wirkungen, die von solchen Auswirkungen möglicherweise ausgehen können, vorgebeugt werden kann (4). Zwei Aspekte des Themas bleiben dabei ganz oder weithin ausgeklammert: die Überlagerungen auch des deutschen Staatskirchenrechts durch europarechtliche Normierungen (die für die hier zu behandelnden Fragestellungen in Deutschland bis heute allenfalls marginale Auswirkungen haben)1 und die Herausforderungen, denen sowohl das deutsche als auch das europäische Religionsrecht durch zunehmende Fundamentalisierungstendenzen in manchen Religionen und Religionsgemeinschaften ausgesetzt sind (und die Rückwirkungen auch auf Ausgestaltung, Auslegung und Handhabung staatlicher Normierungen haben können, die der Gewährleistungen religiöser Vielfalt dienen), 1

Als allgemeinen Überblick zur Überlagerung des deutschen Staatskirchenrechts durch europarechtliche Normierungen vgl. Hermann Weber, Geltungsbereiche des primären und sekundären Europarechts für die Kirchen. In: Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht (ZevKR), 47 (2002), S. 221–247.

326

Hermann Weber

sind Thema des Vortrags von Herrn Heinig2; sie werden von mir deshalb gar nicht (das Thema Europarecht) oder nur am Rande, soweit für meine Thesen unentbehrlich (das Thema Fundamentalismus), angesprochen.

2.

Deutsches Staatskirchenrecht: Verfassungsrecht und Verfassungspraxis

Schon ein erster Blick in das Grundgesetz macht deutlich, dass jedenfalls der Wortlaut der Verfassung keine Anhaltspunkte für ein „Kooperationsmodell von Staat und Amtskirchen“ liefert: Das Grundgesetz kennt nur – in den durch Art. 140 in das Grundgesetz (GG) inkorporierten Religionsartikeln der Weimarer Reichsverfassung (WRV) – Religionsgesellschaften oder (in der moderneren Terminologie der Regelung über den Religionsunterricht in Art. 7 Abs. 3 GG) Religionsgemeinschaften, aber keine Kirchen; die Religionsfreiheit (und mit ihr die religiöse Vereinigungsfreiheit) ist in Art. 4 Abs. 1, 2 für alle Religionen in gleicher Weise gewährleistet, und nach dem Wortlaut der Verfassung haben auch alle Religionsgesellschaften (bzw. Religionsgemeinschaften) bei Erfüllung bestimmter Mindestvoraussetzungen Zugang zu den institutionellen Stützen der Religionsfreiheit, also etwa einen Anspruch auf Verleihung des Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts und die mit diesem verbundenen Vorrechte (Art. 140 GG i. V. mit Art. 137 Abs. 5 Satz 2 WRV) oder auf Erteilung eines – in Übereinstimmung mit ihren Grundsätzen stehenden – Religionsunterrichts an staatlichen Schulen (Art. 7 Abs. 3 GG). Nur am Rande erwähnt sei, dass Art. 140 GG i. V. mit Art. 137 Abs. 7 WRV „Vereinigungen [...], die sich die gemeinschaftliche Pflege einer Weltanschauung zur Aufgabe machen“ (nach heutiger Terminologie also die Weltanschauungsgemeinschaften) den Religionsgesellschaften gleichstellt. Mit den erwähnten institutionellen Gewährleistungen und mit den ebenfalls erwähnten Mindestvoraussetzungen für die Teilhabe an diesen Gewährleistungen wird nun allerdings deutlich, dass schon das Grundgesetz selbst keineswegs alle Religionen und alle Religionsgemeinschaften (und Weltanschauungsgemeinschaften) unterschiedslos gleichbehandelt: Unterschiedslos gewährleistet ist nur der Grundstatus religiöser Freiheit (Art. 4 Abs. 1, 2 GG), aber auch religionsgemeinschaftlicher Selbstbestimmung (Art. 140 GG i. V. mit Art. 137 Abs. 3 WRV), dagegen verlangt das Grundgesetz keine völlige Gleichbehandlung aller Religionen und Religionsgemeinschaften auch im Übrigen: Das zeigt schon die Aufrechterhaltung des Status der Kirchen und einiger weiterer („altkorporierter“) Religionsgemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts – ein Status, der allerdings nunmehr auf Antrag auch allen anderen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften bei Erfüllung der im Grundgesetz 2

Michael Heinig, Das deutsche Religionsrecht zwischen der Sicherung freiheitlicher Vielfalt und der Abwehr fundamentalistischer Bedrohungen, in diesem Band, S. 197–216.

Das deutsche „Kooperationsmodell“ von Staat und Amtskirchen

327

(Art. 140 GG i. V. mit Art. 137 Abs. 5 WRV) geregelten Voraussetzungen zugänglich ist („neukorporierte Religionsgemeinschaften“). Das Grundgesetz hält also an der traditionellen Unterscheidung zwischen Religionsgemeinschaften des privaten und des öffentlichen Rechts fest. Das mit dem Korporationsstatus (der Eigenschaft einer Religionsgemeinschaft als Körperschaft des öffentlichen Rechts) verbundene „öffentlich-rechtliche Kleid“ verschafft den begünstigten Religionsgemeinschaften nicht nur rein faktisch – so das BVerfG in dem für die Auslegung des Art. 140 GG i. V. mit Art. 137 Abs. 5 WRV heute grundlegenden Urteil zur Verleihung des Körperschaftsstatus an die Zeugen Jehovas – „in der Wahrnehmung der Gesellschaft eine besondere Stellung“3, an den Korporationsstatus knüpfen sich vielmehr auch rechtlich vielfältige Vorteile an, die privatrechtlichen Religionsgemeinschaften nicht in gleicher Weise zu Gebote stehen. Zu erwähnen sind hier nicht nur das im Grundgesetz (Art. 140 GG i. V. mit Art. 137 Abs. 6 WRV) ausdrücklich erwähnte Recht zur Erhebung von Kirchensteuern und weitere, nach herrschender Lehre und nach der Rechtsprechung des BVerfG4 unmittelbar aus der Verfassung abzuleitende Prärogative (etwa öffentlich-rechtliche Organisationsgewalt und Dienstherrenfähigkeit, also die Befugnis, öffentlich-rechtliche Untergliederungen und andere Organisationen mit Rechtsfähigkeit zu bilden, und das Recht, Beamte in öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnissen zu beschäftigen), sondern darüber hinaus nahezu unüberschaubare Begünstigungen des einfachen Rechts (das so genannte „Privilegienbündel“). Genannt seien hier nur Steuervergünstigungen, Kosten- und Gebührenbefreiungen, der strafrechtliche Schutz ihrer Amtsträger, ihrer Amtsbezeichnungen sowie ihrer Amts- und Berufstracht und schließlich eine Vielzahl anderweitiger Rücksichtnahmen auf die Bedürfnisse der öffentlich-rechtlichen Religionsgemeinschaften in den unterschiedlichsten Gesetzen (vom Baurecht über das Rundfunkrecht bis hin zum Beamtenrecht).5 3

4 5

Urteil vom 19.12. 2000. In: Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE) 102, 370 (388) = Neue Juristische Wochenschrift (NJW) (2001), S. 429, hier: 430; zum Urteil vgl. eingehend Hermann Weber, Der Körperschaftsstatus der Religionsgemeinschaften in der Bundesrepublik Deutschland nach dem „Zeugen-Jehovas-Urteil“ des Bundesverfassungsgerichts. In: Religion – Staat – Gesellschaft, 2 (2001), S. 47–77; ebd. S. 62 f. in Anm. 48 und 49 zahlreiche Nachweise zu weiteren Besprechungen des Urteils bzw. des ihm vorangegangenen (vom Bundesverfassungsgericht aufgehobenen Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 26. 6.1996, Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwGE) 105, 117 = NJW 1997, 2396; vgl. seither insb. noch Stefan Magen, Zum Verhältnis von Körperschaftsstatus und Religionsfreiheit. In: Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht, (2001), S. 888–889; Christian Hillgruber, Der Körperschaftsstatus von Religionsgemeinschaften – Objektives Grundverhältnis oder subjektives Grundrecht. In: NVwZ, (2001), S. 1347–1355. Vgl. auch hierzu das Urteil in Sachen „Zeugen Jehovas“, BVerfGE 102, 370 (388 f.) = NJW 2001, 429 (430). Zusammenfassender Überblick über die Begünstigungen der öffentlichrechtlichen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften durch das so genannte „Privilegienbündel“ zuletzt bei Elke Dorothea Bohl, Der öffentlich-rechtliche Körperschafsstatus der Religionsgemeinschaften, Baden-Baden 2001, S. 58 ff.

328

Hermann Weber

In jüngerer Zeit sind allerdings Zweifel daran aufgekommen, ob und in welchem Umfang die Anknüpfung aller dieser Vergünstigungen an den Korporationsstatus (und damit der Ausschluss der privatrechtlichen Religionsgemeinschaften von den Vergünstigungen) im Hinblick auf das aus dem Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1, 3 GG) abzuleitende Gebot der Parität der Religionsgemeinschaften verfassungsrechtlich zulässig ist.6 Einzelheiten können hier nicht dargestellt werden; es mag genügen, auf die Feststellung des BVerfG im „Zeugen-JehovasUrteil“ zu verweisen, nach der es jedenfalls keinen „Automatismus zwischen dem Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts und staatlichen Vergünstigungen“ gibt, „die nicht bereits mit diesem Status selbst gewährleistet sind“7. Festzuhalten ist: Das Grundgesetz selbst schafft mit der Unterscheidung zwischen öffentlich-rechtlichen und privatrechtlichen Religionsgemeinschaften zwei Kategorien von Religionsgemeinschaften, die schon von der Verfassung selbst in einzelner Hinsicht unterschiedlich behandelt werden und auch vom einfachen Gesetzgeber (in einem verfassungsrechtlich freilich noch nicht abschließend geklärten Ausmaß) unterschiedlich behandelt werden dürfen. Eine dritte Kategorie – Großkirchen oder Amtskirchen – gibt es auf der Verfassungsebene jedenfalls nach dem Verfassungswortlaut nicht. Das schließt nun freilich nicht aus, dass den großen Volkskirchen allein kraft ihrer Größe und Verankerung in der Bevölkerung in der Verfassungswirklichkeit schon in der Vergangenheit und auch noch bis heute eine Rolle und Bedeutung zugekommen ist und zukommt, die deutlich über die Rolle und Bedeutung auch der anderen öffentlich-rechtlichen Religionsgemeinschaften (in der Vergangenheit vor allem die jüdischen Religionsgemeinschaften und eine Reihe – so Friedrich Naumann in der Weimarer Nationalversammlung – christlicher Nebenkirchen)8 hinausgegangen ist. Die staatskirchenrechtliche Literatur hat das zum Teil veranlasst, von einer „dreistufigen Parität“ (Großkirchen / kleinere öffentlich-rechtliche Religionsgemeinschaften / privatrechtliche Religionsgemeinschaften) zu sprechen und damit von einer auch rechtlichen Unterscheidung innerhalb der öffentlich-rechtlichen Religionsgemeinschaften auszugehen.9 Soweit damit lediglich zum Ausdruck gebracht werden sollte, dass der Staat bei bestimmten 6

7 8

9

Vgl. insb. Wolfgang Weiß, Gleichheit oder Privilegien?; zur Stellung öffentlichrechtlicher Religionsgemeinschaften. In: Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft (KritV), 83 (2000), S. 104–141; Zweifel auch bei Michael Brenner, Staat und Religion. In: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer (VVDStRL), 59 (2000), S. 264–300, hier: 285 f. BVerfGE 102, 370 (396) = NJW 2001, 429 (433); vgl. dazu zuletzt wieder Stefan Magen, Körperschaftsstatus und Religionsfreiheit, Tübingen 2004, S. 194 f. Verhandlungen der Verfassungsgebenden Nationalversammlung, Band 328, S. 1654: „Wir müssen aber dennoch um der Gleichheit willen dies Recht der öffentlichrechtlichen Körperschaft den kleinen Kirchengemeinschaften, den Nebenkirchen, den Sekten, ebenso aber auch den antikirchlichen Religionsgesellschaften, den Monisten und Unitariern und wie sie heißen mögen, allen gewähren.“ Vgl. dazu die Darstellung bei Axel Frhr. von Campenhausen. In: Hermann v. Mangoldt / Friedrich Klein/Christian Starck, GG. Das Bonner Grundgesetz, Band 3, 4. Auflage München 2001, Art. 140 GG Rdnr. 29 m.w.N.

Das deutsche „Kooperationsmodell“ von Staat und Amtskirchen

329

Regelungen, etwa bei der Bemessung staatlicher Leistungen, auch öffentlichrechtliche Religionsgemeinschaften ihrer Größe und Bedeutung nach unterschiedlich behandeln darf (und unter Umständen in Anwendung des Gleichheitssatzes sogar muss), ist dagegen nichts zu erinnern; kategoriale rechtliche Unterschiede auf der Verfassungsebene zwischen Großkirchen einerseits und sonstigen öffentlich-rechtlichen Religionsgemeinschaften andererseits lassen sich daraus aber nicht herleiten. Bleiben die Verfassungswirklichkeit und rechtliche Regelungen unterhalb der Verfassungsebene:

2.1

Hervorgehobene Stellung der Großkirchen in der Verfassungswirklichkeit

In der Verfassungswirklichkeit spielen – wie schon erwähnt – die großen Volkskirchen, also die evangelische und die katholische Kirche mit ihren Untergliederungen, seit jeher eine besondere Rolle. An einigen Beispielen sei das verdeutlicht: Auf die großen Volkskirchen hören die staatlichen Organe in besonderer Weise; Vertreter dieser Kirchen gehören zahlreichen Beratungsgremien im politischen und gesellschaftlichen Raum an. Nur die Großkirchen treten flächendeckend mit kirchlichen Sendungen im staatlichen (und zum Teil kraft staatlichen Rechts auch im nichtstaatlichen Rundfunk) in Erscheinung. Ihre Feiertage bestimmen als traditionelle Feiertage das Feiertagsrecht. Schließlich erbringen in aller Regel auch nur sie (vor allem durch Diakonie und Caritas) in einem relevanten Umfang den Staat entlastende (und von ihm in vielfältiger Form in das System sozialstaatlicher Bedarfsplanungen einbezogene und weithin auch finanzierte) soziale Leistungen in Kindergärten, Krankenhäusern, Alten- und Pflegeheimen und anderen Sozialeinrichtungen.

2.2

Hervorgehobene Stellung der Großkirchen im Recht unterhalb der Verfassungsebene, insbesondere im Vertragskirchenrecht

Kennzeichnend für die hervorgehobene Stellung der Großkirchen nicht nur in der Verfassungswirklichkeit, sondern darüber hinaus im Recht unterhalb der Verfassungsebene ist aber über diese (nur beispielhaft in einigen Facetten verdeutlichte) Sonderrolle in materieller Hinsicht hinaus formal das im internationalen Vergleich ziemlich singuläre Modell eines paritätischen Vertragskirchenrechts:10 So gut wie ausschließlich mit den beiden Großkirchen (und parallel – 10 Allgemein zum Vertragskirchenrecht in der Bundesrepublik Deutschland vgl. die Darstellungen bei Axel Frhr. von Campenhausen, Staatskirchenrecht, 3. Auflage München 1996, S. 55 ff.; Bernd Jeand’Heur/Stefan Korioth, Grundzüge des Staatskirchenrechts, Stuttgart u. a. 2000, S. 189 ff.; vollständiger Abdruck aller Verträge und kleineren Vereinbarungen nach dem Stand von 1987 bei Joseph Listl (Hg.), Die Konkordate und Kir-

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Hermann Weber

vor allem aus Gründen der deutschen Geschichte – mit den jüdischen Religionsgemeinschaften)11 schließt der Staat (d. h. in der Regel: die Länder, in Einzelfragen aber auch der Bund) Staatskirchenverträge ab. Gelegentliche Ausnahmen – wie der Vertrag des Landes Niedersachsen mit der Freireligiösen Landesgemeinschaft aus dem Jahre 197012 und Einzelvereinbarungen, wie sie einige Länder mit kleineren Kirchen (Altkatholische Kirche, EvangelischMethodistische Kirche, Griechisch-Orthodoxe Kirche und Russisch-Orthodoxe Kirche) über deren Religionsunterricht und seine Finanzierung oder aber über allgemeine Staatszuschüsse13 getroffen haben – bestätigen nur die Regel. Angesichts der Kompetenzverteilung des Grundgesetzes, nach der allein den Ländern die Gesetzgebungskompetenz für die Einzelausgestaltung des Staatskirchenrechts (und damit für die Ausfüllung der bundesverfassungsrechtlichen Rahmenregelungen zum Verhältnis von Staat und Religionsgemeinschaften) zusteht, kann die besondere Bedeutung nicht verwundern, die insoweit den Staatskirchenverträgen der Länder zukommt: Zu nennen sind vor allem die um eine kodifikatorische Regelung der Beziehungen zwischen dem vertragsschließenden Land und seinen jeweiligen Vertragspartnern bemühten Länderverträge, die – nach dem Vorbild vor allem des Loccumer Vertrags des Landes Niedersachsen mit den evangelischen Landeskirchen aus dem Jahre 195514 und (für die neuen Bundesländer) des Wittenberger Vertrags des Landes Sachsen-Anhalt wiederum mit den evangelischen Landeskirchen aus dem Jahre 199315 – heute chenverträge in der Bundesrepublik Deutschland. Textausgabe für Wissenschaft und Praxis, 2 Bände, Berlin (West) 1987. 11 Vgl. dazu zusammenfassend zuletzt Hermann Weber, Staatsleistungen an jüdische Religionsgemeinschaften. In: Lerke Osterloh / Karsten Schmidt / Hermann Weber (Hg.), Staat, Wirtschaft, Finanzverfassung. Festschrift für Peter Selmer, Berlin 2004, S. 259– 283 (mit Auflistung aller Verträge mit den jüdischen Religionsgemeinschaften nach damaligen Stand auf S. 265 f.). 12 Vertrag zwischen dem Lande Niedersachsen und der Freireligiösen Landesgemeinschaft Niedersachen vom 8. 6.1970, GVBl. S. 505 (abgedr. bei J. Listl, Konkordate, Band 2, S. 193). 13 Vgl. den Abdruck solcher Vereinbarungen bei J. Listl, Konkordate, Band 1, S. 616 (Bayern/Altkatholische Kirche), S. 619 (Bayern/Diözese des orthodoxen Bischofs von Berlin und Deutschland); Band 2, S. 199 (Niedersachsen/Evangelisch-Methodistische Kirche in Nordwestdeutschland), S. 393 (Nordrhein-Westfalen / Griechisch-Orthodoxe Metropolie von Deutschland). 14 Vertrag des Landes Niedersachsen mit den Evangelischen Landeskirchen von Niedersachen vom 19. 3.1955 GVBl. S. 159, (abgedruckt bei J. Listl, Band 2, S. 109 ff.); grundlegend dazu Rudolf Smend, Der niedersächsische Kirchenvertrag und das heutige deutsche Staatskirchenrecht. In: Juristenzeitung (JZ), (1956), S. 50–53; Ulrich Scheuner, Die staatskirchenrechtliche Tragweite des niedersächsischen Kirchenvertrages von Kloster Loccum. In: ZevKR, 6 (1956/57), S. 1–37. 15 Vertrag des Landes Sachsen-Anhalt mit den Evangelischen Landeskirchen in SachsenAnhalt (Evangelischer Kirchenvertrag Sachsen-Anhalt) vom 15. 9.1993, Gesetz- und Verordnungsblatt (GVBl.), S. 172; dazu Hermann Weber, Der Wittenberger Vertrag – ein Loccum für die neuen Bundesländer? In: NVwZ, (1994), S. 759–766; Axel Vulpius, Der Evangelische Kirchenvertrag Sachsen-Anhalt aus der Sicht der Verwaltung. In: Landes- und Kommunalverwaltung (LKV), (1994), S. 277–280.

Das deutsche „Kooperationsmodell“ von Staat und Amtskirchen

331

als nahezu flächendeckendes System die Beziehungen zwischen den Ländern und den beiden Großkirchen (und darüber hinaus, wie erwähnt, den jüdischen Religionsgemeinschaften) regeln und damit die staatskirchenrechtliche Landschaft der Bundesrepublik bestimmen.16 In ihnen werden nicht nur die verfassungsrechtlichen Grundsätze etwa über Religionsfreiheit, kirchliches Selbstbestimmungsrecht und das Verhältnis von Staat und Kirche sowie zahlreiche Gewährleistungen des einfachen Rechts zugunsten der Religionsgemeinschaften noch einmal bestätigt und festgeschrieben (und damit im Verhältnis zu dem jeweiligen Vertragspartner auch vertragsrechtlich abgesichert) und – wo nötig – im Detail ausgeformt, sondern darüber hinaus zahlreiche weitere Regelungen (etwa zu den oben genannten, eine Sonderrolle der Großkirchen begründenden Materien, aber auch zum Zusammenwirken von Staat und Kirchen bei den so genannten gemeinsamen Angelegenheiten – Religionsunterricht, theologische Fakultäten, Anstaltsseelsorge, Friedhöfe, Kirchensteuer) getroffen. Hiermit wird der Versuch einer umfassenden Regelung der gegenseitigen Beziehungen und der Stellung des jeweiligen Vertragspartners in der staatlichen Rechtsordnung unternommen. Zum traditionellen Bestand des Vertragskirchenrechts in Deutschland gehören nicht zuletzt auch Bestimmungen über das Zusammenwirken von Staat und Kirche durch regelmäßige Treffen, Anhörung der Kirchen zu sie betreffenden Gesetzgebungsvorhaben und Vertretung kirchlicher Interessen durch Beauftragte am Sitz der jeweiligen Landesregierung sowie die Freundschaftsklauseln, in denen die Vertragspartner sich verpflichten, in Zukunft zwischen ihnen entstehende Meinungsverschiedenheiten über die Auslegung und Anwendung einzelner Vertragsbestimmungen auf freundschaftliche Weise beizulegen. Nicht zuletzt das in diesen Bestimmungen erkennbare Bemühen um ein (über die einmalige Abgrenzung von Zuständigkeiten und Rechtspositionen hinausgehendes) kontinuierliches Zusammenwirken der Vertragspartner auch in der Zukunft rechtfertigt es, nicht nur im Sinne einer rein faktischen Beschreibung der Wirklichkeit, sondern auch eines zwar nicht im Verfassungsrecht, wohl aber im Vertragskirchenrecht rechtlich verankerten Modells von einer 16 Die in der Sammlung von J. Listl noch nicht erfassten Verträge der neuen Bundesländer sind abgedruckt bei Guido Burger (Hg.), Staatskirchenrecht in den neuen Bundesländern, Leipzig 2000; seither hinzugekommen ist als einziger kodifikatorischer Vertrag in den neuen Bundesländern der Vertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Land Brandenburg vom 12.11. 2003, GVBl. 1994, S. 224. In den alten Bundesländern sind in der Sammlung von Listl noch nicht erfasste kodifikatorische Verträge nur (mit beiden großen Kirchen) in Bremen abgeschlossen worden: Vertrag zwischen der Freien Hansestadt Bremen und der Bremischen Evangelischen Kirche, der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers und der Evangelischen-Reformierten Kirche (Synode ev.-ref. Kirchen in Bayern und Nordwestdeutschland) vom 31.10. 2001, Gesetzblatt (GBl.) 2002, S. 15, und Vertrag zwischen der Freien Hansestadt Bremen und dem Heiligen Stuhl vom 21.11. 2003, GBl. 2004, S. 151. Bemühungen um ähnliche Verträge mit beiden großen Kirchen in Berlin und mit der evangelischen Kirche in Hamburg sind bisher ohne abschließendes Ergebnis geblieben.

332

Hermann Weber

Kooperation von Staat und Kirchen oder – mit einem kritischen Zungenschlag – von einem „Kooperationsmodell von Staat und Amtskirchen“ zu sprechen.

3.

Auswirkungen auf Minderheitenreligionen und nicht etablierte Religionsgemeinschaften

Soweit die geschilderte Omnipräsenz der traditionellen Großkirchen in der Verfassungswirklichkeit lediglich Spiegel ihrer faktischen Größe und sozialen Relevanz (und damit ihrer sehr viel stärkeren Verankerung in der Gesellschaft) ist, haben andere, kleinere und weniger bedeutsame Religionsgemeinschaften und Minderheitenreligionen diese Omnipräsenz und die mit ihr verbundenen Nachteile in der öffentlichen Wahrnehmung und im Wettbewerb der Religionen als notwendige Folge der auch den Großkirchen zukommenden Religionsfreiheit hinzunehmen. Darüber hinaus ist auch nichts Grundsätzliches gegenüber einer Kooperation von Staat und (kooperationswilligen) Religionsgemeinschaften einzuwenden, solange diese Kooperation auf freiwilliger Basis erfolgt, die Religionsfreiheit anderer, auch nicht kooperationswilliger Religionsgemeinschaften, unbeeinträchtigt lässt und die Verweigerung der Kooperation durch einzelne Religionsgemeinschaften für diese nicht zu Nachteilen führt, die über die mit der Verweigerung notwendig verbundene Nichtkooperation des Staates mit diesen Religionsgemeinschaften hinausgehen: Eine laizistisch verstandene Trennung von Staat und Kirche, die staatlich-kirchliches Zusammenwirken der hier fraglichen Art grundsätzlich ausschließen könnte, kennt das deutsche Staatskirchenrecht nicht.17 Nicht übersehen werden darf dabei, dass die Kooperation mit dem Staat auch für die begünstigten Religionsgemeinschaften nicht ohne Probleme ist: Die diesen staatlicherseits eingeräumten Vergünstigungen tragen die Gefahr in sich, dass religiöse Bürokratien sich weitgehend auf staatliche Stützen statt auf die eigene religiöse Substanz verlassen. Beim Wegbrechen der Stützen kann das – auch wegen der Vernachlässigung möglicherweise vorhandener eigener Kräfte – zu Verwerfungen führen, wie sie zuletzt in den Auswirkungen des dramati17

Weitergehend Johannes Wasmuth, Verfassungsrechtliche Grenzen der institutionellen Kooperation von Staat und Religionsgesellschaften. In: Carl-Eugen Eberle / Martin Ibler /Dieter Lorenz, Der Wandel des Staates vor den Herausforderungen der Gegenwart. Festschrift für Winfried Brohm, München 2002, S. 607–629, der alle nicht – wie etwa der konfessionelle Religionsunterricht – im Grundgesetz ausdrücklich verankerten institutionellen Verbindungen von Staat und Kirche als verfassungswidrig betrachtet. Von diesem Ausgangspunkt aus sieht Wasmuth (S. 625–627) unter anderem die theologischen Fakultäten an staatlichen Universitäten sowie die Erhebung der Kirchensteuer durch staatliche Behörden als „verfassungsrechtlich nicht vorgesehene“ (und damit auch bei Vorliegen sie absichernder einfachgesetzlicher oder kirchenvertraglicher Regelungen unzulässige) „institutionelle Verbindungen zwischen Staat und Religionsgemeinschaften“ an.

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333

schen Rückgangs der Kirchensteuereinnahmen in einer Reihe katholischer Diözesen erkennbar geworden sind.18 Die Gefahr, die von einem solchen Abhängigwerden von staatlichen Hilfen für die religiöse Substanz ausgehen können, haben freilich die solche Hilfen in Anspruch nehmenden Religionsgemeinschaften vor sich selbst zu verantworten; sie ist kein Argument gegen die Zulässigkeit, sondern allenfalls gegen die Wünschbarkeit eines Modells staatlich-kirchlicher Kooperation aus kirchlicher Sicht, wie es – wie dargestellt – weiten Bereichen des deutschen Rechts jedenfalls unterhalb der Verfassungsebene zugrunde liegt. Die Möglichkeit der Kooperation darf allerdings keine Einbahnstraße zugunsten bestimmter, ohne rechtfertigende Gründe besonders privilegierter Religionsgemeinschaften sein: Zu fragen bleibt deshalb, ob die – in der Vergangenheit und wohl auch in näherer Zukunft angesichts der immer noch bestehenden faktischen Präponderanz der großen Volkskirchen verfassungsrechtlich vielleicht noch zu rechtfertigende – Beschränkung des Modells staatskirchenvertraglich geregelter Kooperation auf die großen Volkskirchen (und darüber hinaus aus besonderen Gründen auf die jüdischen Religionsgemeinschaften) angesichts der sich verstärkenden religiösen Pluralisierung, der laufenden Zunahme des Anteils Konfessionsloser – und damit verbunden der ständigen Abnahme des Anteils Kirchenangehöriger an der Bevölkerung, der in den neuen Bundesländern bereits dazu geführt hat, dass nicht nur eine Religionsgemeinschaft, sondern Religion und Religionsgemeinschaften als solche in eine Minderheitenrolle geraten sind – verfassungspolitisch auf Dauer zu legitimieren sein wird. Seine Ausdehnung auf andere, auch kleinere kooperationswillige Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften, wie sie sich in den erwähnten Teilregelungen mit einigen – um noch einmal Friedrich Naumann zu zitieren – „Nebenkirchen“ und mit der Freireligiösen Gemeinschaft andeutet, könnte geeignet sein, die Legitimationsbasis für das derzeitige Modell zumindest ein wenig zu verbreitern. Ernstlich problematisch wird es, wenn mit der Kooperation (oder als ihr Gegenstück) über die unvermeidlichen Auswirkungen faktischer Ungleichheiten hinaus Beeinträchtigungen der Religionsfreiheit von Minderheitenreligionen verbunden sind oder aber das Modell der Kooperation von Staat und Amtskirchen über ein – folgt man dem bisher Dargelegten – prinzipiell auch anderen Religionsgemeinschaften zur Verfügung stehendes Angebot des Staates hinaus zu einem allgemeinverbindlichen staatskirchenrechtlichen Modell erhoben wird, dessen Einhaltung Voraussetzung für die gleichberechtigte Behandlung eine ähnliche Kooperation ablehnender Religionsgemeinschaft in anderer Beziehung, etwa bei der Gewährung bestimmter Gerechtsame an nicht etablierte Religionsgemeinschaften, sein soll. 18 Vgl. dazu den Artikel „Bistümer in Not. Nach Berlin, Hamburg, Trier nun Aachen“ und den Leitartikel dazu von Daniel Deckers „Gut so“, beide in: FAZ vom 30. 9. 2004; ferner nochmals Daniel Deckers, Gemeinden ohne Seelsorger. In: FAZ vom 6.10. 2004.

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Hermann Weber

An zwei Beispielen – der Sektenpolitik der vergangenen Jahre und der Diskussion um die Voraussetzungen für die Verleihung des Körperschaftsstatus – soll das im Folgenden des Näheren dargelegt werden:

3.1

Staatliche Sektenpolitik in Deutschland

Gewissermaßen Gegenstück der Kooperation zwischen Staat und Amtskirchen ist die staatliche Haltung gegenüber einer Reihe von Minderheitenreligionen in der staatlichen Sektenpolitik, die in den 80er und vor allem den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Ländern Europas (etwa in Frankreich oder in Österreich) etabliert worden ist19 – eine Politik, die in der Bundesrepublik mit der Tätigkeit der EnqueteKommission „Sekten und sogenannte Psychogruppen“ des Deutschen Bundestags in den Jahren 1996 bis 1998 und deren Abschlussbericht20 ihren Höhepunkt gefunden, mit ihr wohl aber auch ihren Zenith überschritten hat: Die betroffenen Religionsgemeinschaften treten hier nicht als bevorzugte Kooperationspartner des Staates, sondern als Objekte vorbeugender polizeilicher Obsorge in Erscheinung. Betroffen sind davon nicht die etablierten kleineren Religionsgemeinschaften des öffentlichen, aber auch des privaten Rechts, insbesondere die mannigfaltigen christlichen Minderheitskirchen (etwa die Altkatholiken, die Mennoniten, andere nicht den Landeskirchen zuzuordnende evangelische Freikirchen und die unterschiedlichen orthodoxen Kirchen); diese „Nebenkirchen“ genießen – wie auch die bereits erwähnte jüdische Religionsgemeinschaft und einige andere nichtchristliche Religionsgemeinschaften, etwa die Bahá’í – einen unangefochtenen Rechtsstatus im Recht der Bundesrepublik; im Grundsatz steht ihnen auch – wie am Beispiel der vertraglichen Vereinbarungen einiger Länder mit einzelnen dieser Religionsgemeinschaften und der Verträge mit den jüdischen Religionsgemeinschaften deutlich wird – das Modell staatlich-religionsgemeinschaftlicher Kooperation offen. Minderheitsreligion in Deutschland ist nach wie vor auch der Islam (mittlerweile freilich schon die drittgrößte Religionsgruppe in Deutschland). Die angemessene Einordnung des Islam in das Staatskirchenrecht der Bundesrepublik verursacht eine ganze Reihe von Sonderproblemen, von denen zumindest einige im Vortrag von Herrn Heinig unter dem Stichwort Fundamentalismus be19 Die folgenden Ausführungen beruhen zu erheblichen Teilen auf dem Abschnitt „Freie Entfaltung auch der Minderheitenreligionen“ meines Aufsatzes: Die aktuelle Diskussion in Deutschland zur Religionsfreiheit. In: Religion – Staat – Gesellschaft, 1 (2000), S. 233–260, hier: 251–256; dort auch umfangreiche Nachweise zu Literatur, Rechtsprechung und politischer Praxis. 20 Endbericht der Enquete-Kommission „Sogenannte Sekten und Psychogruppen“ vom 9. 6.1998, Deutscher Bundestag, Drucksache (BT-Dr.) 13/10950. Vorangegangen war diesem Endbericht bereits der Zwischenbericht der Kommission vom 7. 7.1997, BT-Dr. 13/8170.

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335

handelt werden21; hier müssen sie schon mit Rücksicht auf die knappe Zeit unerörtert bleiben, obwohl im Verhältnis „Staat und Islam“, wenn auch mitunter in Abwandlung, manche der hier zu behandelnden Probleme erneut auftauchen. Ich möchte mich insoweit auf eine Feststellung beschränken: Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass die Religionsfreiheit unter dem Grundgesetz den – in Deutschland wie in ganz Europa – an Zahl und Bedeutung gewinnenden Anhängern des Islam – den Muslimen – ebenso zugute kommt wie den Anhängern aller anderen Religionen. Das bedeutet, dass sich die – für Europa immer noch ungewohnten – Formen islamischer Religiosität unter dem Grundgesetz in gleicher Weise (freilich auch in denselben Schranken) individuell entfalten dürfen wie die Formen traditioneller abendländischer Religiosität. Im wirklich religionsneutralen Staat sollte Religionsfreiheit für den Islam aber darüber hinaus auch bedeuten, dass dort, wo der Staat – etwa beim Religionsunterricht oder speziell in Deutschland bei der Bereitstellung öffentlichrechtlicher Rechtsformen durch die Korporationsqualität – traditionelle Hilfen für die Grundrechtsverwirklichung von Religionsgemeinschaften leistet, die Anforderungen für solche Vergünstigungen (etwa hinsichtlich des Organisationsgrads und der Organisationsform der zu begünstigenden Gemeinschaften) nicht so formuliert werden, dass für islamische Gruppierungen von vornherein unüberschreitbare Hürden für die Inanspruchnahme der Vergünstigungen entstehen.22 Hierauf wird beim nächsten Punkt noch einmal zurückzukommen sein. Zurück zur Sektenpolitik und damit zu den „Sekten und Psychogruppen“: Betreten wird damit das Spannungsfeld zwischen der schon aus der Religionsneutralität des Staates resultierenden Notwendigkeit, die Religionsfreiheit auch der Minderheitsreligionen zu gewährleisten, und der Ordnungsaufgabe des Staates, die diesen verpflichtet, die Rechtsbindungen des staatlichen Rechts nicht zuletzt im Interesse des Schutzes Betroffener auch gegenüber Religionen und Religionsgemeinschaften durchzusetzen, die diese Bindungen nicht von sich aus respektieren und beachten. In diesem Spannungsfeld waren in Deutschland, aber auch anderswo bis in die jüngste Zeit hinein deutliche Tendenzen zu Einschränkungen der Religionsfreiheit der Minderheitsreligionen erkennbar.23 Genannt seien hier aus der Entwicklung in Deutschland die zunehmende Tendenz zu staatlichen Warnungen vor Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften, zur Ernennung staatlicher Sektenbeauftragter, Einrichtung von Doku21 Vgl. oben Anm. 2. 22 In dieser Richtung zum Körperschaftsstatus ausführlich Weber, Muslimische Gemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts unter dem Grundgesetz. In: Janbernd Oebbecke (Hg.), Muslimische Gemeinschaften im deutschen Recht, Frankfurt a. M. u. a. 2003, S. 85–108, hier: 97–108; zum Religionsunterricht zuletzt Thorsten Anger, Islam in der Schule, Berlin 2003, S. 350–398, jeweils m.w.N. 23 Zusammenfassende Kritik an solchen Tendenzen zur Entliberalisierung des Religionsrechts durch die staatliche Sektenpolitik in Deutschland schon bei Hermann Weber, Minderheitsreligionen in der staatlichen Rechtsordnung. In: Gerhard Besier/Erwin K. Scheuch (Hg.), Die neuen Inquisitoren. Religionsfreiheit und Glaubenneid, Band 1, Zürich / Osnabrück 1999, S. 174–210, hier: 517–519.

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mentationsstellen und Einsetzung von Untersuchungsausschüssen und Kommissionen (zuletzt der bereits genannten Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags) und schließlich zur Beschattung solcher Gemeinschaften durch den Verfassungsschutz. Die rechtlichen Grenzen, die solchen Betätigungen des Staates gesetzt sind, sind in der Rechtsprechung auch heute noch weithin ungeklärt. Immerhin hat das BVerfG in seinem mit Spannung erwarteten „Osho“-Beschluss aus dem Jahre 200224 klargestellt, dass die staatlichen Organe, insbesondere die Bundesregierung, im Rahmen ihrer Zuständigkeiten zwar im Grundsatz berechtigt sind, sich mit Zielen und Aktivitäten auch von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften kritisch auseinander zu setzen und vor deren Aktivitäten gegebenenfalls auch zu warnen. Einer solchen Auseinandersetzung und solchen Warnungen sind freilich – so das BVerfG – durch das Grundgesetz klare Grenzen gesetzt: Der Staat muss sich auf die Beurteilung des tatsächlichen Verhaltens der religiösen Gruppierungen und ihrer Mitglieder nach weltlichen Kriterien beschränken; eine „parteiergreifende Einmischung in die Überzeugungen, die Handlungen und in die Darstellung Einzelner oder religiöser und weltanschaulicher Gemeinschaften“ sind ihm versagt.25 Darüber hinaus schützt Art. 4 Abs. 1 GG die Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften und ihre Mitglieder gegenüber diffamierenden, diskriminierenden oder verfälschenden Darstellungen; als diffamierend hat das Gericht die Qualifizierung von Religionsgemeinschaften als „destruktiv“, „pseudoreligiös“ sowie jedenfalls den nicht auf Tatsachen gestützten Vorwurf angesehen, die Religionsgemeinschaft „manipuliere“ ihre Mitglieder26. Für noch zulässig gehalten hat das Gericht dagegen die Bezeichnung solcher Gemeinschaften als Sekte, Psychosekte und Jugendsekte oder Jugendreligion.27 Hier wird man ein gewisses Fragezeichen anbringen dürfen. Insgesamt dürfte es sich bei der angedeuteten Trias von Warnung, Untersuchung (oder Inquisition) und Beschattung gegenüber der hier in Frage stehenden Gruppe von Religionsgemeinschaften jedenfalls verfassungspolitisch um einen die Religionsfreiheit eher gefährdenden Irrweg handeln (was natürlich nicht ausschließt, dass es Aufgabe des Staates bleibt, darüber zu wachen, dass sich auch Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften an das – auch sie bindende – staatliche Recht [das „für alle geltende Gesetz“] halten, und diese Rechtsbindung gegebenenfalls mit allen dafür in der Rechtsordnung vorgesehenen Mitteln durchzusetzen). Über die Durchsetzung dieser Rechtsbindung hinaus wird der Staat die Legitimität des geltenden staatskirchenrechtlichen Systems aber nur bewahren können, wenn er auf Warnung, Inquisition und Beschattung gegenüber Religionsgemeinschaften im Normalfall verzichtet und sich 24 25 26 27

Beschluss vom 26. 2. 2002, BVerfGE 105, 279 = NJW 2002, 2626. BVerfGE 105, 279 (294) = NJW 2002, 2626 (2627). BVerfGE 105, 279 (298) = NJW 2002, 2626 (2628). BVerfGE 105, 279 (295–298) = NJW 2002, 2626 (2617 f.).

Das deutsche „Kooperationsmodell“ von Staat und Amtskirchen

337

stattdessen auf einen vorbehaltlosen Dialog mit allen Religionen (unter Einschluss der Minderheitsreligionen) einlässt. In neuerer Zeit sprechen denn auch deutliche Anzeichen für eine Beruhigung der mitunter eher hysterischen, von einer nicht immer rationalen Sektenfurcht gekennzeichneten Diskussion und für eine nüchternere Sicht der Dinge auch in der Öffentlichkeit. Anzeichen hiefür ist nicht zuletzt das Resümee des Mehrheitsberichts der mehrfach erwähnten Enquete-Kommission des Bundestags aus dem Jahre 1998, nach dem „zum gegenwärtigen Zeitpunkt [...] gesamtgesellschaftlich gesehen die neuen religiösen und ideologischen Gemeinschaften und Psychogruppen keine Gefahr für Staat und Gesellschaft oder für gesellschaftlich relevante Bereiche“28 darstellen; die – im Lichte dieses Ergebnisses zumindest zweifelhaften – Handlungsempfehlungen der Kommission29 sind in der realen Wirklichkeit bisher weithin folgenlos geblieben. Nach wie vor freilich amtieren allerorten staatliche Sektenbeauftragte, deren Tätigkeit und deren nicht immer vorurteilsfreie Berichte sich jedenfalls nicht – wie der (insofern nicht untypische) Bericht der schleswig-holsteinischen Landesregierung „Tätigkeit von Sekten in Schleswig-Holstein“ aus dem Jahre 1997 es versucht30 – mit einer vermeintlichen Aufgabe des Staates zur Distanzierung gegenüber antiaufklärerischen Tendenzen in manchen Religionsgemeinschaften und zur Abwehr einer dort angeblich erkennbaren „Art anachronistische Gegenaufklärung“ begründen lassen. Mit einem solchen Ausgangspunkt wird nicht nur die Aufgabe verfehlt, die staatliche Organe gegenüber Religionsgemeinschaften legitimerweise wahrnehmen können, sondern auch die Religionsfreiheit der Betroffenen verletzt, unter deren Schutz bekanntlich nicht nur aufgeklärte staatsloyale Religionsausübung, sondern auch antiaufklärerische und fundamentalistische Religiosität steht, wenn sie sich nur an die Grenzen des „für alle geltenden Gesetzes“ hält. Nicht nur deshalb sollte das Institut der staatlichen Sektenbeauftragten überprüft und nach Möglichkeit ganz beseitigt werden. Besonders problematisch ist es schließlich, wenn einschlägigen staatlichen Untersuchungsausschüssen und Kommissionen zwar Vertreter der Amtskirchen, nicht aber auch Vertreter der betroffenen Gruppe von Religionsgemein28 Endbericht der Enquete-Kommission, S. 149. 29 Zur Kritik an diesen Empfehlungen vgl. etwa Martin Kriele, Die rechtspolitischen Empfehlungen der Sektenkommission, Zeitschrift für Rechtspolitik (ZRP) (1998), 349–355. 30 Bericht der Landesregierung über die Tätigkeit von Sekten in Schleswig-Holstein, hg. von der Ministerpräsidentin des Landes Schleswig-Holstein, Informations- und Dokumentationsstelle „Sekten und sektenähnliche Vereinigungen“, Kiel 1997 (Stand: 18. 2. 1997). Dass auch die Landesregierung Schleswig-Holstein die Dinge inzwischen nüchterner sieht, wird aus der Pressemitteilung der Regierungspressestelle vom 6. 9. 2001 deutlich, nach der das Kabinett am 4. 9. der Herausnahme der Zuständigkeit für „Sekten und sektenähnliche Vereinigungen“ aus dem Geschäftsbereich der Ministerpräsidentin in den Geschäftsbereich des Ministeriums für Frauen, Jugend und Familie aufgrund der „abnehmenden Bedeutung der Sektenproblematik in Schleswig-Holstein“ zugestimmt hat.

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schaften angehören oder aber wenn Warnungen staatlicher Sektenbeauftragter oder anderer staatlicher Stellen – wie es immer wieder der Fall ist – auf Äußerungen kirchlicher Sektenbeauftragter rekurrieren: Eine solche Zusammenarbeit muss auch dann, wenn die kirchlichen Beauftragten in concreto verantwortungsbewusst arbeiten (und unter Berücksichtigung der Tatsache, dass sie nach einem Urteil des Bundesgerichtshofs aus dem Jahre 2003 auch rechtlich besonderen Sorgfaltspflichten unterliegen)31, den Verdacht der Einflussnahme ihrer Natur nach – anders als der religionsneutrale Staat – eben nicht zur Unparteilichkeit in der Konkurrenz von Religionen und Weltanschauungen verpflichteter Institutionen erwecken. Spätestens die Ereignisse des 11. September 2001 haben nun allerdings deutlich gemacht, dass keine Rechtsordnung, auch nicht die deutsche, vor Gruppierungen geschützt ist, die – wie es die Bundesregierung in ihrem inzwischen vom Bundesverwaltungsgericht und vom Bundesverfassungsgericht bestätigten32 Verbotsbeschluss dem Kölner „Kalifatsstaat“ vorwirft – unter dem Deckmantel religiöser Betätigung strafbare Handlungen begehen oder sich (gegebenenfalls auch mit Gewalt) gegen die verfassungsgemäße Ordnung wenden. Solchen schwarzen Schafen, die mit ihren Aktivitäten das Grundrecht der Religionsfreiheit missbrauchen, unter Anwendung aller zu Gebote stehenden polizeilichen Mittel – bis hin zur Beobachtung durch den Verfassungsschutz (für die erforderlichenfalls noch die Rechtsgrundlagen im einfachen Recht zu präzisieren wären)33, und zu dem (nach Aufhebung des Religionsprivilegs im Vereinsrecht dem Staat auch Religionsgemeinschaften gegenüber zu Gebote stehenden) Mittel des Vereinsverbots34 – das Handwerk zu legen und damit gleichzeitig einer allgemeinen Sektenhysterie vorzubeugen, liegt nicht zuletzt im Interesse aller anderen (auch der von der staatlichen Sektenpolitik als Sekten, Psychosekten oder Jugendreligionen mit Misstrauen betrachteten) Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften. 31

So der Bundesgerichtshof in dem – im Ergebnis sicher richtigen, in der Begründung mit staatshaftungsrechtlichen Vorschriften allerdings nicht unproblematischen – Urteil vom 20. 2. 2003, Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen (BGHZ) 154, 54 = NJW 2003, 1308. 32 Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 27.11. 2002, NVwZ, (2003), S. 986; Bundesverfassungsgericht (2. Kammer des Ersten Senats), Beschluss vom 2.10. 2003, NJW, (2004), S. 47. 33 Zur Überwachung von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften durch den Verfassungsschutz nach derzeit geltendem Recht vgl. Verwaltungsgericht Berlin, Urteil vom 13.12. 2001, NVwZ, (2002), S. 1018 (1019 f.) – Scientology. 34 Erstes Gesetz zur Änderung des Vereinsgesetzes vom 4.12. 2001, Bundesgesetzblatt (BGBl.) I, S. 3319. Zu den insoweit trotz der genannten Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts und des Bundesverfassungsgerichts noch nicht abschließend geklärten grundrechtlichen Problemen vgl. Michael Sachs, Verbot einer Religionsgemeinschaft („Kalifatsstaat“) – BVerwG, NVwZ 2003, S. 986. In: Juristische Schulung (JuS), (2004), S. 12–16, hier: 13–16. und zuletzt ausführlich Henning Radke, Das Verbot von Religionsgemeinschaften nach der Abschaffung des vereinsrechtlichen „Religionsprivilegs“ ZevKR, 50 (2005), S. 95–111, und Kathrin Groh, Selbstschutz der Verfassung

Das deutsche „Kooperationsmodell“ von Staat und Amtskirchen

3.2

339

Voraussetzungen für die Verleihung des Körperschaftsstatus

Als zweites, ganz anders gelagertes Problemfeld sei abschließend noch die Verleihung des Körperschaftsstatus an Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften behandelt, denen dieser Status bisher noch nicht zukommt: Wie bereits erwähnt, bestimmen die Weimarer Reichsverfassung und mit ihr das Grundgesetz, dass die Religionsgesellschaften Körperschaften des öffentlichen Rechts bleiben, „soweit sie solche bisher waren“ (Art. 140 GG i. V. mit Art. 137 Abs. 5 Satz 1 WRV). „Anderen Religionsgesellschaften sind auf ihren Antrag gleiche Rechte zu gewähren, wenn sie durch ihre Verfassung und die Zahl ihrer Mitglieder die Gewähr der Dauer bieten“ (Art. 140 GG i. V. mit Art. 137 Abs. 5 Satz 2 WRV). Den „Religionsgesellschaften werden die Vereinigungen gleichgestellt, die sich die gemeinschaftliche Pflege einer Weltanschauung zur Aufgabe machen“ (Weltanschauungsgemeinschaften, Art. 140 GG i. V. mit Art. 137 Abs. 7 WRV). Nach langen Jahren, in denen solche Verleihungen in der Verwaltungspraxis ziemlich unproblematisch an die unterschiedlichsten Religionsgemeinschaften erfolgt sind, sind die Verleihungsvoraussetzungen seit Beginn der 80er Jahre – wohl als Folge der zunehmenden Bedeutung des Islam und islamischer Gruppierungen in der Rechtswirklichkeit der Bundesrepublik – Gegenstand intensiver Erörterung. Nachdem das Bundesverfassungsgericht die fragwürdige, durch keinerlei ausdrückliche Regelung im Grundgesetz gedeckte Anknüpfung der Verleihung der Rechte einer Körperschaft des öffentlichen Rechts an eine von der Verfassung angeblich vorausgesetzte „Staatsloyalität“ der fraglichen Religionsgemeinschaft durch das Bundesverwaltungsgericht im Falle der Zeugen Jehovas35 eindeutig zurückgewiesen und gleichzeitig klargestellt hat, dass es unter dem Grundgesetz „nicht Ziel einer Verleihung des Körperschaftsstatus“ sein kann, „eine Religionsgemeinschaft durch Privilegien zur Kooperation mit dem Staat anzuhalten“, schien es ausgetragen, dass das Grundgesetz für die Verleihung der Körperschaftsrechte über die ausdrücklich im Grundgesetz genannte Gewähr der Dauer nicht mehr fordert als eine doppelte Gewähr von Rechtstreue: Gewähr der Rechtstreue einmal in dem Sinne, dass die Gemeinschaft das geltende Recht beachten, insbesondere die ihr mit der Korporationsqualität übertragene Hoheitsgewalt nur im Einklang mit den verfassungsrechtlichen Bindungen ausüben wird, Gewähr der Rechtstreue ferner in dem weiteren Sinne von Verfassungstreue dahin, dass das künftige Verhalten der Gemeinschaft „die in Art. 79 Abs. 3 GG umschriebenen fundamentalen Verfassungsprinzipien, die dem staatlichen Schutz anvertrauten Grundrechte Dritter sowie die Grundprinzipien des freiheitlichen Religions- und Staatskirchenrechts des Grundgesetzes nicht beeinträchtigt“36. gegen Religionsgemeinschaften. Vom Religionsprivileg des Vereinsgesetzes zum Vereinigungsverbot, Berlin 2004, passim. 35 BVerwGE 105, 117 = NJW 1997, 2396. 36 BVerfGE 102, 370 (392) = NJW 2001, 429 (431).

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Die Position des BVerfG (und das hinter ihr stehende Verständnis des Körperschaftsstatus als Grundrechtssubventionierung, als eines „Mittel[s] zur Entfaltung der Religionsfreiheit“37) ist in der Literatur, etwa von Christian Hillgruber, schon früh grundsätzlich kritisiert worden38; diese Kritik hat gerade in neuester Zeit namhafte Unterstützer gefunden: Nach Hillgruber werden die öffentlich-rechtlichen Religionsgemeinschaften durch den Körperschaftsstatus „mit dem Staat verbunden zum gemeinsamen Dienst für das Wohl der Allgemeinheit“. Sie sind deshalb zur Kooperation mit dem Staat verpflichtet; als „moralische Instanz“ haben sie mitzuarbeiten an der Grundlegung des freiheitlichen, säkularen Staates durch Schaffung eines ethischen Fundaments, das der Staat selbst seiner Freiheitlichkeit wegen weder selbst erhalten noch gar schaffen kann“. Der Korporationsstatus mutiert so zu einer „im Eigeninteresse des Staates an der Gewinnung eines zuverlässigen Vertragspartners gewährten Vergünstigung“, zum pflichtenbegründenden „status cooperationis“, kraft dessen die begünstigten Religionsgemeinschaften gehalten sind, „‚staatsfrei‘ ihren eigenen, spezifisch religiösen Beitrag zu leisten“ und gerade dadurch das Gemeinwohl zu fördern.39 Folgerichtig werden die Bereitschaft zu einer solchen Kooperation, die Anerkennung der „Wertigkeit dieses Staates und seiner Verfassungsordnung“ und eine „grundsätzlich bejahende Grundhaltung zum Staat“ zur Verleihungsvoraussetzung für die Körperschaftsqualität.40 Auf derselben Linie liegt die – im Frühjahr dieses Jahres bei den Essener Gesprächen vertretene – These Paul Kirchhofs, bei der organisatorischen Förderung von Religionsgemeinschaften könne und müsse der Staat entscheiden, „welche kirchlichen Lehren und Lebensformen seine Kultur tragen und historisch entfaltet haben, welche Lehren für ihn eher schädlich und hinderlich sind“; er werde eine Religionsgemeinschaft deswegen auf ihren Antrag „statusrechtlich“ nur dann „näher an den Staat heranrücken und ihr deshalb den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts gewähren, wenn diese ihren Zielen und Organisationen nach den Wechsel von einer freiheitsberechtigten juristischen Person zu einer öffentlich-rechtlich befugten und gebundenen Körperschaft rechtfertigt“41. Und schließlich ist hier Arnd Uhle zu nennen, wenn er den Zugang zu „institutionellen staatskirchenrechtlichen Vergünstigungen“ (wie der Körperschaftsqualität) davon abhängig machen will, dass die fraglichen Religionsgemeinschaf37 BVerfGE 102. 370 (393) = NJW 2001, 429 (432). 38 Christian Hillgruber, Der Körperschaftsstatus der Religionsgemeinschaften. In: NVwZ, (2001), S. 1347–1355. 39 Hillgruber, Der Körperschaftsstatus, S. 1354 (dort auch alle Zitate). 40 Ebd., S. 1353 (dort auch die Zitate). 41 Paul Kirchhof, Thesen zum Vortrag „Die Freiheit der Religionen und ihr unterschiedlicher Beitrag zu einem freiheitlichen Gemeinwegen“ am 16. 3. 2004 anlässlich der Essener Gespräche. (Noch) unveröffentlichtes Manuskript, Thesen 8 und 9; vgl. zu Kirchhofs Vortrag auch den Bericht von Daniel Deckers, Religionen unter dem Grundgesetz. Zur Freiheit berechtigt, zur Freiheit verpflichtet. In: FAZ vom 22. 3. 2004.

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341

ten bereit und geeignet sind, „im Rahmen ihres Wirkens die abendländische Kulturidentität wirkmächtig zu stützen“ (wobei er als „kulturelle Kompatibilitätsanforderungen“ einer solchen Kulturidentität nicht nur „die für das abendländische Verhältnis von Kirche bzw. Religion und Staat konstitutiven Grundsätze“, sondern etwa auch die Anerkennung der Würde des Menschen, der Freiheits- und Gleichheitsrechte, der kulturell geprägten Geltungsbedingungen einer entsprechend formulierten, freiheitlichen Verfassungsordnung rechnen will)42. Allen diesen Thesen ist gemeinsam, dass sie das oben als Bestandteil deutscher Verfassungswirklichkeit geschilderte Kooperationsmodell zwischen Staat und Amtskirchen letztlich zum verfassungsrechtlich verpflichtenden Modell für das Verhältnis zwischen dem Staat und allen öffentlich-rechtlichen Religionsgemeinschaften erheben und die Akzeptanz dieses Modells durch die den Körperschaftsstatus anstrebenden Religionsgemeinschaften zur Verleihungsvoraussetzung für diesen Status machen (und jedenfalls dann, wenn man diesen Status mit dem Bundesverfassungsgericht als „Mittel zur Entfaltung der Religionsfreiheit“ begreift,43 zur Beeinträchtigung der Religionsfreiheit einer solchen Kooperation kritisch gegenüberstehender Religionsgemeinschaften und damit – nicht anders als die geschilderte Sektenpolitik des Staates – zu Beeinträchtigungen religiöser Pluralität und gelebter Religionsfreiheit führen).

4.

Folgerungen

Ich komme zum Schluss: Das deutsche Staatskirchenrecht mit seinen vielfältigen Prärogativen zugunsten von Kirchen und anderen Religionsgemeinschaften wird sich auf Dauer nur legitimieren lassen, wenn nicht nur die Garantie der Religionsfreiheit, sondern darüber hinaus auch die das deutsche Recht kennzeichnenden institutionellen Begünstigungen von Religionsgemeinschaften (etwa durch Gewährleistung des Religionsunterricht oder Verleihung des Körperschaftsstatus) so interpretiert und angewendet, möglicherweise auch weiterentwickelt werden, dass sie im Grundsatz allen Religionen und Weltanschauungen zugute kommen. Auch das ist letztlich Ausfluss der im Grundgesetz allen Menschen (und allen Religionen und Weltanschauungen) garantierten Religionsfreiheit. Gefordert ist damit auf Dauer die Entwicklung eines nicht wie bisher am Bild der traditionellen Kirchen (unter Einschluss einer Reihe „kleinerer 42 Arnd Uhle, Staat – Kirche – Kultur, Berlin 2004, S. 142 f. m. Anm. 29. 43 Nähere Entfaltung diese Verständnisses in neuester Zeit vor allem bei Hans-Michael Heinig, Öffentlichrechtliche Religionsgesellschaften. Studien zur Rechtsstellung der nach Art. 137 Abs. 5 WRV korporierten Religionsgesellschaften in Deutschland und in der Europäischen Union, Berlin 2003, S. 265–270, und bei Stefan Magen, Körperschaftsstatus und Religionsfreiheit, Tübingen 2004, passim, insb. S. 197–288 und Zusammenfassung S. 296–299; vgl. ferner noch Claus Dieter Claassen, Religionsfreiheit und Staatskirchenrecht in der Grundrechtsordnung, Tübingen 2003, insb. S. 6 ff.

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Nebenkirchen“) orientierten und auf diese zugeschnittenen Staatskirchenrechts, sondern eines Religionsverfassungsrechts, das in der Lage ist, etwa durch Anpassung der Voraussetzungen für Religionsunterricht und Körperschaftsstatus, aber auch durch einen vorurteilslosen Umgang mit – nicht als Sekten zu diskriminierenden – Minderheitsreligionen mehr als bisher zur Integration fremder Weltreligionen wie des Islam oder auch auf den ersten Blick eher krud anmutender Religionsgemeinschaften beizutragen. Paul Kirchhof ist solchen Forderungen in seinem bereits erwähnten Referat auf den Essener Gesprächen im Frühjahr vehement entgegengetreten und hat mit Nachdruck ein Recht des Staates zu wertender Differenzierung zwischen unterschiedlichen religiösen Äußerungen postuliert: Die christlichen Kirchen bilden in dieser Sicht „als Kultur der Gemeinwohlbereitschaft und Bindungsfähigkeit ein Fundament der freiheitlichen Verfassung“ und bedürfen als solche des institutionellen Schutzes durch das Staatskirchenrecht, das „nicht durch ein Religionsverfassungsrecht ersetzt werden“ darf.44 Damit ist der bisher eher terminologische Streit um „Staatskirchenrecht“ oder „Religionsverfassungsrecht“45 endgültig zur inhaltlichen Auseinandersetzung geworden: Das Staatskirchenrecht des Grundgesetzes steht am Scheideweg zwischen einer bewussten Bevorzugung herkömmlicher Religionsformen unter Mutation in ein neues Staatskirchen-Recht einerseits und dem Versuch, auch in Deutschland ungewohnte Religionsformen in die behutsam weiterentwickelten Institutionen eines als Religionsverfassungsrecht erneuerten Staatskirchenrechts einzugliedern und damit dessen Legitimationsbasis zu verbreitern, andererseits.46 Darauf, in welche Richtung die weitere Entwicklung führen wird, darf man gespannt sein.

44 Thesen zum Vortrag, These 5; vgl. auch insoweit den zitierten Tagungsbericht von Daniel Deckers. 45 Vgl. dazu die geradezu enzyklopädische Darstellung der Verwendung beider Begriffe in Deutschland, Österreich und in der Schweiz sowie im fremdsprachigen Ausland bei Arne Kupke, Die Entwicklung des deutschen „Religionsverfassungsrechts“ nach der Wiedervereinigung, insb. in den Neuen Bundesländern, Berlin 2004, S. 21–149. 46 So schon Hermann Weber, Staatskirchenrecht am Scheideweg – Kopftuchstreit ohne Ende, Recht und Politik (RuP), (2004), S. 82–85, hier: 85.

Frankreich: Laizität und Privatisierung der Religion – gesellschaftliche Befriedung oder agnostische Gegenkultur? Jean-Paul Willaime In anderen Ländern von französischer „laïcité“ zu sprechen, stellt ein Übersetzungsproblem dar. Das französische Wort laïcité im Deutschen mit „Laïzismus“ zu übersetzen, birgt beispielsweise schon eine tendenziöse Auslegung von „laïcité“ in sich. Der Laïzismus stellt eine Ideologie mit antireligiöser Konnotation dar, was der „laïcité“ – einer Trennung von Kirche und Staat, die die Freiheit des Glaubens und Nicht-Glaubens schützt und die jede Diskriminierung von Individuen aufgrund ihrer Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zu einer Religion vermeiden möchte – auf institutioneller und juristischer Ebene keine Gerechtigkeit widerfahren lässt. Aber die Umschreibung des französischen Begriffs laïcité mit „Laïzismus“ – mit der negativen Konnotation, die dieser Begriff hat – ist andererseits verständlich. In der Tat bringt die französische „laïcité“, in ihrer Geschichte wie in der Gegenwart, auf verschiedenen Ebenen und mit unterschiedlicher Wirkung ein heftiges Misstrauen gegenüber der Religion mit sich, welches eine gewisse Spannung gegenüber der Religion erzeugt. Dieses Misstrauen und diese Spannung werden, getragen von kritischen Wahrnehmungen der Religion, von Intellektuellen zum Ausdruck gebracht und von militanten Vereinigungen (der antiklerikalen Linken, der Lehrerschaft etc.) oder den Freimaurerströmungen (wie der „Grand Orient de France“) unterstützt. Anders gesagt, die „laïcité“ ist nicht frei von Laïzismus, und in diesem Kräfteverhältnis stehen sich zwei Lager gegenüber: einerseits die Befürworter einer liberalen und die religiösen Gegebenheiten respektierenden „laïcité“, die sich ohne Schwierigkeiten in die juristischen Institutionen der europäischen Demokratien einfügt; anderseits die Befürworter einer aggressiven „laïcité“, die ihr Bestreben, jede öffentliche Sachdienlichkeit des Religiösen zu disqualifizieren und seinen Einfluss maximal zu reduzieren, nicht aufgegeben haben. Die erste Strömung ist eine Art „Verwaltungslaïzität“, sie entspricht größtenteils der tatsächlichen Praxis im Verhältnis von Religionen und Staatsgewalt in Frankreich sowohl auf nationaler als auch auf kommunaler Ebene. Die zweite Variante, die sich mehr im Reden als im Handeln manifestiert, ist wesentlich ideologischer und kommt oft einer polemischen Rhetorik – wie die muslimische Kopftuchaffäre in der Schule – gleich, die die Intellektuellen und die öffentliche Meinung erregt und die zeigt, dass die „laïcité“ eine französische Leidenschaft bleibt. Der

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Prozess, der die französische „laïcité“ zu einer befriedeten und ruhigen Verwaltung der Religionsangelegenheiten im Rahmen der fundamentalen Menschenrechte gebracht hatte, der Prozess, der das Ende des Krieges zwischen katholischem und weltlichem Frankreich markierte, – ist er heute bedroht? Anders gefragt, mit Blick auf die Frage der Sekten und der neureligiösen Bewegungen einerseits und auf den Islam andererseits: Verhelfen wir in Frankreich heute einer aggressiven „laïcité“ zum Wiedererwachen, zur Reaktivierung der laïzistischen Dimensionen des Laïzismus? Meine Antwort bejaht zwar diese Frage, jedoch auf eine sehr gemäßigte und nuancierte Art und Weise. Denn in der Tat entwickelt sich die französische „laïcité“, wie auch immer der üble Beigeschmack der antireligiösen Kritik sei, zu einer liberalen Regulierung der religiösen Mannigfaltigkeit, die sich auf Europa einstellt. Es sei gestattet, vorab den Bericht der „Kommission über die Anwendung des Prinzips der Laizität in der Französischen Republik“1, der dem Präsidenten Jacques Chirac am 11. Dezember 2003 übergeben wurde, und dessen Definition von laïcité zu zitieren: „Der Staat erlegt weder auf, noch zwingt er auf; es gibt weder ein zwingendes Kredo noch ein verbietendes Kredo. Laïcité impliziert die Neutralität des Staates: Er darf keine spirituelle oder religiöse Wahl privilegieren. Auf das Prinzip der Gleichheit gestützt, gesteht der weltliche Staat keinem Kult öffentliche Privilegien zu; Die Beziehungen zwischen Staat und Kult sind juristisch getrennt. Die Kultfreiheit erlaubt allen Religionen den Auftritt in der Öffentlichkeit, die Versamlung und die gemeinsame Verfolgung von spirituellen Zielen. So verstanden, verbietet sie nicht jede antireligiöse Herangehensweise. Der weltliche Staat verteidigt weder ein religiöses Dogma noch fördert er atheistische oder agnostische Überzeugungen. Ebenso müssen sich das Spirituelle und das Religiöse jeden Einfluss auf den Staat verbieten und auf ihre politische Dimensionen verzichten. Die ‚laïcité‘ ist unvereinbar mit jeder Religionskonzeption, die im Namen ihrer Prinzipien das soziale System oder die politische Ordnung bestimmen will. Im weltlichen Rahmen beruht die spirituelle oder religiöse Wahl auf der individuellen Freiheit: Das bedeutet nicht, dass diese Fragen auf die Intimität des Bewusstseins begrenzt, ‚privatisiert‘, sind, und dass jede soziale Dimension oder öffentliche Äußerungsfähigkeit bestritten wird. Die ‚laïcité‘ unterscheidet die freie spirituelle oder religiöse Äußerung in der Öffentlichkeit, welche in der demokratischen Debatte legitim und wesentlich ist, von der Einwirkung auf die Öffentlichkeit, die illegitim ist. Die Vertreter der verschiedenen spirituellen Richtungen sind aus dieser Position heraus berechtigt, in der öffentlichen Debatte zu intervenieren, wie jedes andere Glied der Gesellschaft.“2

Entsprechend dieser Herangehensweise wäre Laizität weder eine agnostische Gegenkultur noch die Schaffung einer totalen Privatisierung der Religion. Sie wäre eine soziale Befriedungsinstitution, die es erlaubt, die religiöse Mannigfaltigkeit der Gesellschaft zu regulieren und zugleich die konfessionelle Neutralität des Staates zu garantieren. In der Realität gestalten sich die Dinge kompli1 2

Bezug nehmend auf den Namen des Kommissionspräsidenten und Ombudsmann, Bernard Stasi, spricht man von der „Stasi-Kommission“. Laïcité et République, Bericht an den Präsidenten der Republik von der Kommission unter dem Vorsitz von Bernard Stasi, Paris 2004, S. 30 f.

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zierter, und der französische Umgang mit dem Religiösen bleibt – angesichts der Bedrohung, die diese Angelegenheiten für die individuellen Freiheiten und die Emanzipation des Geistes darstellen – gekennzeichnet durch ein äußerst lebhaftes Misstrauen der Staatsgewalt gegenüber religiösen Belangen. Der Bericht der Kommission selbst appelliert an die Pflicht des Staates, eine Bildung zu gewährleisten, „die Autonomie und Meinungsfreiheit zum Ausdruck bringt“. Der Staat habe „die individuelle Gewissensfreiheit gegen jeden Bekehrungseifer zu verteidigen“ und zur „kritischen Kenntnis der Religionen“ beizutragen. Es handelt sich hierbei um einen Bericht, der keineswegs frei ist von verzerrten Darstellungen von Religion. Dies beweist auch das nachfolgende Zitat, das Verwunderung darüber auszudrücken scheint, dass eine Religion ein universelles Ziel haben und sich für das Diesseits ebenso wie für das Jenseits interessieren kann: „Wenn eine Religion ein universelles Ziel hat, das das Jenseits wie das Diesseits umfasst, ist es für sie schwierig zu akzeptieren, dass das eine vom anderen getrennt werden muss.“3 Im Folgenden wird sich die Analyse in drei Teilen entwickeln. Der erste Teil soll die historischen Determinationen der Entstehung der „laïcité“ in Frankreich betrachten. Der zweite soll die Reaktivierung bestimmter weltlicher Spannungen in Hinblick auf Religionen aufzeigen. Im Anschluss hieran ist eine grundlegende Tendenz darzustellen, die in Frankreich wie in anderen europäischen Ländern wirkt, nämlich die Entwicklung hin zu einer liberalen Regulierung der religiösen Pluralität.

1.

Die historischen Determinanten der französischen „laïcité“

„Frankreich ist eine unteilbare Republik, weltlich, demokratisch und sozial. Sie sichert die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz ohne Ansehen der Herkunft, Rasse oder Religion. Sie respektiert jeden Glauben“, proklamiert Artikel 2 der – inzwischen fünften – Verfassung der französischen Republik (1958). Es handelt sich um eine weltliche Republik, die nach Artikel 2 des Gesetzes der Trennung von Kirche und Staat vom 9. Dezember 1905 „einen Kult weder anerkennt noch unterstützt“, zugleich aber „Gewissensfreiheit“ wie auch „die freie Kultausübung“ (Art. 1 des Gesetzes von 1905) garantiert. Alle Kulte sind gleich gestellt: Keiner wird „anerkannt“, es gibt weder einen besonderen juristischen Status für die Hauptreligion (den Katholizismus) und noch weniger spezielle Bestimmungen für religiöse Minderheiten. Die Laizität erkennt die interne Organisation jeder Religion an: Der katholischen Kirche, die das Statut der „kultischen Vereinigungen“ von 1905 ablehnte, weil es die hierarchische Strukturierung der Kirche und die Autorität der Bischöfe nicht berücksichtigte, bot man 1923 das Statut der „Diözesanen Vereinigungen“ an, das sie daraufhin annahm. Die Laizität hat sich in Frankreich in einem konfliktreichen Kontext 3

Ebd., S. 37.

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durchgesetzt: Es ist das altbekannte Thema vom „Krieg der zwei Frankreiche“, des weltlichen und des katholischen. Die Laizität „nach französischer Art“ ist nicht verständlich ohne diese Dimension des Kampfes gegen den Klerikalismus, d. h. gegen die Macht der Kirche über die Gesellschaft und die Individuen insbesondere im Bereich der Bildung. Im Falle Frankreichs hat die „Laizisierung“ des Religiösen eine gewisse Sakralisierung der Politik mit sich gebracht, wobei dem Staat mit dem Auftrag der Regeneration und Reformierung der Gesellschaft ein wahrhaft ethischer Auftrag gegeben wurde. Diese Richtung wurde während der französischen Revolution eingeschlagen, als die versteckte Triebkraft darin bestand, „eine neue Religion zu gründen, und zwar eine bürgerliche Theokratie, die zu nichts anderem berufen war, als den traditionellen Glaubensrahmen zu ersetzen.“4 Tocqueville hatte sehr gut erfasst, dass die französische Revolution eine politische Revolution war, die „nach der Art einer religiösen Revolution operierte“ und auch „wie eine religiöse Revolution wirkte“5. In diesem Sinne bemerkte der amerikanische Soziologe Jack A. Goldstone6, als er verschiedene Revolutionen vergleichend untersuchte, dass das, was die französische Revolution unterscheide, ein „kultureller Rahmen“ sei: „Hier erscheint zum ersten Mal der eschatologische Rahmen der christlichen Epoche, der Glaube an die Zerstörung der Vergangenheit und die Hervorbringung eines neuen Tugendzeitalters, ganz säkularisiert und transformiert zu einem Glauben an die Macht des Menschen, mit seinen eigenen Händen eine höhere Welt zu schaffen.“7 Angesichts dessen, dass alle Individuen vor dem Gesetz gleich sind, d. h. im Namen des Prinzips der Nicht-Diskriminierung und des Universalismus des einzelnen Bürgers, wird „der Begriff der Minderheit als Gruppe vom französischen Recht ignoriert“. Man lässt die Angehörigen einer Minderheit zu, aber nicht Minderheiten als solche. Wie es Pierre Birnbaum bezüglich der von der französischen Revolution realisierten Emanzipation der Juden präzisiert, handelt es sich dabei um „einen spezifischen Modus des Eintritts in die Modernität mittels eines befreienden, staatlichen Universalismus, der aber wenig vorteilhaft für den Fortbestand der Partikularismen ist“8. Viel stärker als in anderen Ländern kam es in Frankreich zur Errichtung der Demokratie im Kontext eines republikanischen Systems, welches in frontaler 4 5 6 7 8

Yves Deloye/Olivier Ihl, Deux figures singulières de l’universel: la république et le sacré. In: Marc Sadoun (Hg.), La démocratie en France, Band 1: Idéologies, Paris 2000, S. 142. Alexis de Toqueville, L’Ancien Regime et la Révolution (1856), Paris 1988, S. 106. Jack Goldstone, Révolution dans l’histoire et histoire de la Révolution. In: Revue Française de Sociologie, 30 (1989), 3/4, S. 405. Danièle Lochak, Les minorités et le droit public français: du refus des différence à la gestion des différences. In: Les minorités et leur droit depuis 1789, Études réunies par Alain Fenet et Gerard Soulier, Paris 1989, S. 111. Pierre Birnbaum, Les juifs entre l’appartenance identitaire et l’entrée dans l’espace public: la Révolution française et le choix des autres. In: Revue Française de Sociologie, 30 (1989) 3/4, S. 497–510 (Hervorhebung durch den Verfasser).

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Opposition zur Religion stand. In diesem Fall geriet die Opposition in einen offenen Konflikt mit der katholischen Kirche, die seit 1790 auf der konterrevolutionären Seite stand. Jener Konflikt war bei der Gründung der Republik so schwerwiegend, dass diese oftmals die Form eines der katholischen Kirche entgegengesetzten Machtsystems annahm. Die Republik wurde mit ihrem Klerus, ihrem Katechismus und ihren Riten sogar zu einer regelrechten Gegenkirche: „Die weltliche Religion, wie sie Frankreich hervorgebracht hat, nahm manchmal die Gestalt eines Katholizismus ohne Christentum an“9, bemerkt David Martin. Pierre Bouretz sieht in „der Rivalität in der Anpassung von dogmatischer Einheit, wie sie durch die katholische Kirche gepriesen wird, und der Idee einer Gesamtorganisation der republikanischen Nation, die sie benutzt und gleichzeitig bekämpft“10, einen Schlüssel zum Verständnis der postrevolutionären französischen Geschichte. Von daher sind bestimmte Eigenheiten Frankreichs im Bereich der Beziehungen zwischen Staat, Religionen und Gesellschaft charakteristisch: (1.) Die Konfrontation von Kirche und Staat in Frankreich ist konfliktreicher als anderswo: Seit der französischen Revolution und während des 19. und 20. Jahrhunderts ist die Frage nach der Stellung und der Rolle der Religion in unserem Land zentral gewesen und hat tiefgreifende und dauerhafte Spaltungen hervorgerufen. (2.) Das Problem ist stark ideologisiert, und im Vergleich zu den meisten anderen Ländern Europas haben philosophische und politisch kritische Konzeptionen von Religion (Freidenker, Rationalismus, Marxismus, Freimaurer) in Frankreich größeres Gewicht.11 (3.) Die Oberhoheit des Staates und dessen Herrschaft über die Zivilgesellschaft werden stärker befürwortet, es gibt die Tradition eines emanzipatorischen und aufgeklärten Staates einerseits und eines zentralisierenden und homogenisierenden Staates andererseits. (4.) In Hinblick auf öffentliche Äußerungen zur religiösen Zugehörigkeit fällt eine starke Zurückhaltung auf; Das Religiöse ist in Frankreich stärker privatisiert als im übrigen Europa. Wenngleich man einige dieser Merkmale – in Kombination und mit unterschiedlicher Gewichtung – auch in anderen Ländern Europas wiederfindet, besteht die französische Besonderheit nach der hier vertretenen Meinung in der Bedeutung, die diese in der sozio-historischen Stellung unseres Landes gehabt haben. In Frankreich, mehr als anderswo, ist alles, was die Religion und ihre öffentliche Verwaltung betrifft, ein besonders sensibler Punkt der öffentlichen Meinung, der Demonstrationen auslöst und eine philosophischpolitische und historisch-globale Gestalt annimmt, die ausländische Beobachter oft erstaunt. 9

David Martin, A General Theory of Secularisation, New York, Hagerstown, San Francisco / London 1979, S. 24. 10 Pierre Bouretz, La démocratie française au risque du monde. In: Sadoun (Hg.), La démocratie en France, Band 1: Idéologies, S. 60 f. 11 Das relativ große Gewicht, das die kommunistische Partei in unserem Land gehabt hat, ist im Vergleich mit den meisten Ländern Westeuropas eine Besonderheit. 2002 war es der nicht unwesentliche Einfluss der Linksextremen, besonders der Strömungen der Trotzkisten, der die Beobachter frappierte.

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So war es auch bei den Debatten über die Privatschule zwischen 1950 und 1960, beim Wiederaufleben der Massendemonstrationen zu Gunsten der Privatschule 1984 und 1994 – dann jedoch zu Gunsten der öffentlichen Schule; so war es mit den Debatten über Sekten und den durch sie hervorgerufenen Ängsten. Ähnliches zeichnete sich in den Reaktionen ab, die dadurch ausgelöst wurden, dass einige muslimische Mädchen in öffentlichen Schulen Kopftuch trugen. „In Frankreich“, schreibt der Soziologe François Dubet mit viel Scharfsinn, „nehmen die Debatten über die ‚laïcité‘ rasch religiöse Züge an, man spricht dabei viel leichter von Prinzipien als von der Praxis. Seit die Gesellschaft ihre ‚kulturellen Minderheiten‘ entdeckt oder wiederentdeckt, müssten wir heute deshalb zwischen dem Universellen und dem Einzelnen, zwischen der nationalen Einheit und dem Recht auf Diversität, zwischen der Republik und der Demokratie unterscheiden.“12 Die Religion steht in Frankreich auf der Tagesordnung der öffentlichen Debatte, wenn sie zu Recht oder zu Unrecht für die individuelle Freiheit und für die „laïcité“ der Republik bedrohlich erscheint. In Frankreich wurde diese soziale Darstellung des Religiösen durch die historische Erfahrung genährt, die in unserem Land zur Folge hatte, dass man regelmäßig dazu tendierte, „eher den Menschen aus der Finsternis der Religion herausreißen zu wollen als die Territorien der Kirche und des Staates einfach neu zu ordnen.“13 Pierre Bouretz vergleicht die Vereinigten Staaten und Frankreich und unterstreicht, dass Amerika „eine philosophische und politische Konzeption der ‚laïcité‘ ignoriert, die es in Frankreich scheinbar erforderlich macht, die Freiheit durch die Tilgung religiöser Meinungen zu verwirklichen.“ Der Unterschied zwischen beiden Ländern besteht ihm zufolge darin, dass auf der einen Seite des Atlantiks die Religionsfreiheit an erster Stelle stehe, so dass sich die Trennung daraus ergebe, wohingegen man sich auf der anderen Seite, in der Annahme, man würde gegen eine Massenverdummung kämpfen, gegenüber dem Glauben emanzipiere, nur dass ein wenig Großzügigkeit sogar hinsichtlich „religiöser“ Meinungen dabei sei.14

2.

Die französische „laïcité“ und ihre Spannungen

Frankreich ist nicht das einzige Land in Europa, das sich gegen die Herausforderungen der gegenwärtigen religiösen Entwicklungen wehren muss, die ganz besonders durch das Auftreten religiöser Bewegungen mit sektiererischem Charakter und durch das Vorhandensein einer starken muslimischen Minderheit charakterisiert sind; aber sein Modell der Integration und Assimilation und seine Tradition der öffentlichen Neutralisierung des Religiösen machen deutlich, wie schwierig es für das Land ist, die Staatsangehörigkeit unter den neuen Be12 François Dubet, La laïcité dans le mutations de l’école. In: Michel Wieviorka (Hg.), Une société fragmentée? Le multiculturalisme en débat, Paris 1996, S. 85. 13 Bouretz, La démocratie, S. 31. 14 Ebd., S. 58.

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dingungen einer Demokratie zu überdenken, die mit der Behauptung des Rechts auf eigene Kultur und mit der Neuregelung der Rolle des Nationalstaats im Kontext der Europäisierung und Globalisierung konfrontiert ist. In dem heiklen Bereich des Kampfes gegen sektiererische Abweichungen waren die Fehlentwicklungen und die missbräuchlichen und tendenziösen Vereinfachungen in Frankreich umso stärker, als dieser Typ der religiösen Manifestation wie gerufen kam, um antireligiöse Sensibilitäten zu reaktivieren, die durch die modernen und demokratischen Neugestaltungen des Religiösen aus der Bahn geworfen worden waren. Der Kampf gegen sektiererische Abweichungen ist von Seiten der Staatsgewalt, die der Garant für die Wahrung der Gesetze und der individuellen Freiheit ist, legitim. Aber wenn der Staat die Pflicht hat, die Freiheit der Menschen zu schützen, muss er auch die Religionsfreiheit schützen, was, wie Danièle Hervieu-Léger sehr schön hervorgehoben hat, die Achtung des Rechts auf religiöse Radikalität impliziert: „Ein Individuum muss frei wählen können, arm, sittsam und gehorsam zu leben, sich einen spirituellen Herren zu nehmen oder zur größten Ehre Gottes ins Kloster zu gehen, ohne das Risiko einzugehen, wegen mentaler Schwäche und mangelnder sozialer Anpassungsfähigkeit entmündigt zu werden.“15 Uns hat es wirklich erstaunt, dass sich unter dem Deckmantel des Kampfes gegen sektiererische Abweichungen eine feindselige Haltung gegenüber dem reaktiviert hat, was religiöses Engagement an Mobilisierung und Einbeziehung für die gläubigen Individuen bedeuten konnte. Das in einem parlamentarischen Bericht erfolgte Vermischen einiger weniger Problemgruppen mit einer Mehrheit harmloser Gruppen einerseits16 und andererseits die sehr voreingenommene Sichtweise, die vom Interministeriellen Ausschuss zum Kampf gegen Sekten („Mission Interministerielle de Lutte contre les Sectes“, M.I.L.S.)17 – mehr von okkulten Netzwerken beeinflusst als von der Staatsgewalt kontrolliert – entwickelt wurde, haben zu einer Annäherung an das Religiöse beigetragen, die von dessen äußerst einschränkender Darstellung gekennzeichnet ist. Da sich der Kampf gegen Sekten 15 Danièle Hervieu Leger, La religion en miettes ou la question des sectes, Paris 2001, S. 185. 16 Es handelt sich um einen Bericht der parlamentarischen Kommission über Sekten, veröffentlicht am 10.1.1996. Dieser Bericht enthielt eine Liste von 172 Gruppen, die, sobald sie auf dieser von den Renseignements Generaux aufgestellten Liste erschienen, sowohl von der Staatsgewalt als auch von den Medien als Verdächtige angesehen wurden. 17 Dieser Ausschuss, gegründet im Jahr 1998 und unter Präsidentschaft des ehem. Ministers Alain Vivien, wurde im Jahr 2002 aufgelöst und ersetzt durch einen Ministerausschuss der Wachsamkeit und des Kampfes gegen die sektiererischen Abweichungen (in La Vie, Nr. 2996 vom 30.1. 2003 findet sich eine Darstellung dieses neuen Organismus und ein Interview seines Präsidenten Jean-Louis Langlais). Man wird glücklicherweise das Verschwinden des Begriffes der Sekten bemerken. Von „sektiererischen Abweichungen“ zu sprechen ist eine Art auszudrücken, dass sich solche Abweichungen in allen religiösen Gruppen bilden können und dass es einerseits verdächtige religiöse Gruppen, genannt Sekten, und andererseits untadelige Gruppen, identifiziert als zu den traditionellen Kirchen gehörend, nicht gibt.

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nicht nur darauf beschränkt, die legitime Frage nach der Beachtung der Grundfreiheiten zu stellen, beinhaltet er auch die Möglichkeit, durch die Mobilisierung der Republik gegen verschiedene religiöse und militante Ausdrucksformen, die sogleich als „Gefahr“ wahrgenommen werden, einen „HyperJakobinismus“ hervorzurufen. Das Gesetz „About-Picard“ vom 12. Juni 2001, „gegen die sektiererischen Bewegungen, die die Menschenrechte beeinträchtigen“, ist, obwohl es durch rechtliche und freiheitliche Prinzipien glücklicherweise in seinen Auswirkungen begrenzt und eingeschränkt ist, dennoch ein Strafgesetz, das die Risiken willkürlicher Anwendung in sich birgt. Dies stellte zumindest Patrice Rolland in einer umsichtigen Analyse dieses Gesetzes und der Debatten fest, die dessen Durchsetzung vorangingen.18 Es handelt sich in der Tat um ein Gesetz, das auf die „Sekten“ zielt, aber dennoch zugibt, dass man eine Sekte nicht definieren kann. „Schwächemissbrauch“ wird hier als Delikt eingeführt, wenngleich dieser Umstand kaum objektivierbarer ist als „mentale Manipulation“, eine Wendung, die auf Grund diverser Proteste weggelassen wurde. Dieses Gesetz suchte bezeichnenderweise „die politischen Parteien, Gewerkschaften und professionellen Gruppierungen“ (mündliche Korrektur durch die Berichterstatterin C. Picard) aus seinem Anwendungsfeld zu entfernen, als ob „Schwächemissbrauch“ nur in religiösen Gruppen vorkommen könnte. Dieser Kampf gegen sektiererische Abweichungen hat tatsächlich, umso mehr als es sich um religiöse Untertänigkeiten handelt, die Tendenz der Staatsgewalt reaktiviert, den Nonkonformismus beharrlich zu verfolgen und das Recht der Individuen, ihre Lebens- und Erziehungsart zu wählen, zu beschränken. Deshalb glauben wir, dass man die Analyse der Formen, die der Kampf gegen die Sekten in Frankreich angenommen hat, der Analyse „republikanistischer Abweichungen“ gleichsetzen kann, von der Michel Wieviorka19 spricht. Er stellt fest, dass „die Sichtbarkeit von diversen Partikularismen im öffentlichen Raum und die Befürwortung des Rechts auf Diversität als Angriffe auf die Integrität der Nation und von dort auf die Republik erlebt werden“. Angesichts eines verstärkten religiösen Pluralismus unter dem doppelten Druck der Globalisierung und der Individualisierung, hat der französische Staat die alten Reflexe des starken Misstrauens gegenüber dem Religiösen wiedergefunden, von dem immer befürchtet wird, dass es die Vorrechte des Staates und die ursprüngliche Untertänigkeit, die das Individuum ihm schuldig ist, einschränkt. Kultureller Pluralismus wird nur schwer akzeptiert, besonders wenn dieser oder jener Brauch noch dazu mit einer fremden Kultur verbunden zu sein scheint; auch religiöse Gegebenheiten werden nur schwer akzeptiert, wenn sich diese nicht damit zufrieden geben, auf die Privatsphäre oder den Raum des Kultes 18 Patrice Rolland, La loi du 12 juin 2001 contre les mouvement sectaires portant atteinte aux droits de l’homme. Anatomie d’un débat législatif. In: Archives de Sciences Sociales des Religions, 48 (2003), S. 121. 19 Wieviorka, Dérives républicanistes. In: Le Monde des Débats, Dossier „La République est-elle en danger?“, September 1999, S. 11.

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begrenzt zu bleiben. Im Zusammenhang mit dem Antisektenkampf hat sich die Intoleranz der Staatsgewalt und der Bevölkerung gegenüber den Personen, die die Wahl getroffen haben, im Zeichen eines religiösen Ideals einer anderen Lebensweise nachzugehen und ihre Kinder mit dieser Perspektive zu erziehen, manifestiert. In Frankreich ist die Toleranz gegenüber dem Nonkonformismus noch schwächer ausgeprägt, sobald eine religiöse Dimension präsent ist. Dieses heftige Misstrauen gegen die militanten und das Religiöse einschließenden Formen ist für unser Empfinden eine der Folgen des sehr konfliktreichen Charakters der Beziehungen zwischen Staat und Religionen in unserem Land. Ein anderes Thema, bei dem wir ein Wiederaufleben der weltlichen Spannungen beobachten, ist der Islam. Die Reaktionen sind selbstverständlich verstärkt durch die Anschläge des 11. September, die Situation im Irak, den israelisch-palästinensischen Konflikt und die Unruhen angesichts des Terrorismus – all dies bringt die Staatsgewalt zu einem absichernden Umgang mit dem Islam, der die ruhige Einfügung dieser Religion in das religiöse Umfeld Frankreichs verlangsamt und kompliziert. Dies umso mehr, als die muslimische Bevölkerung zu den benachteiligten und gefährdeteren sozialen Schichten gehört und die Integration dieser Personen weit davon entfernt ist, sich auf eine Frage der Religion zu beschränken. Erinnern wir uns, dass „die Muslime die Mehrheit der Gefängnisinsassen stellen, ihre Rate übersteigt oft 50 Prozent, manchmal 70 oder sogar annähernd 80 Prozent in den Gefängnissen in den Außenbezirken der Städte“20. Sind sie die Ausgeschlossenen der Republik? Das Gefühl, diskriminiert zu werden, ist unter den Muslimen in jedem Fall sehr stark. Die geistreiche und spannende Untersuchung, die Farhad Khosrokhavar unter inhaftierten Muslimen durchgeführt hat, zeigt die Mängel, Schwächen und Lücken bei der Berücksichtigung muslimischer Besonderheiten in der Art, in der die Gefangenen behandelt werden. Sogar in einem Gefängnis, das hauptsächlich von Muslimen bevölkert ist, wird es z. B. spezielle Weihnachtspäckchen geben, aber keine, um den Aïd, das Ende des Ramadan, zu feiern.21 Von den sechsundzwanzig Vorschlägen, die im Bericht der „Kommission über die Anwendung des Prinzips der Laizität in der Französischen Republik“ genannt werden, wurde nur ein einziger, nämlich der bezüglich des Tragens religiöser Zeichen in der Schule, bis zum heutigen Tag beibehalten. Er mündete in das Gesetz vom 15. März 2004 (in Kraft getreten am 1. September 2004) über das Tragen religiöser Zeichen in der Schule: „In den öffentlichen Grundschulen, Sekundarschulen und Gymnasien ist das Tragen von Zeichen oder Kleidungsstücken, durch die Schüler eine religiöse Zugehörigkeit ostentativ bekunden, verboten. Die interne Regelung weist darauf hin, dass der Ausführung einer Disziplinarmaßnahme ein Gespräch mit dem Schüler voranzugehen hat.“ 20 Farhad Khosrokhavar, L’islam dans les prisons, Paris 2004, S. 11. 21 „Der Erhalt eines Päckchens zum Fest des Ende des Ramadan, dem Aïd, ergibt sich nicht von selbst, die Gefängnisverwaltung akzeptiert nur Weihnachten.“ In: Khosrokhavar, L’islam, S. 130.

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Die öffentliche Debatte zu diesem Thema war sehr ausgiebig und lebhaft, und ich werde sie hier nicht zusammenfassen. Ich möchte nur auf den Widerspruch hinweisen, auf den die französische „laïcité“ hinausläuft. Vor dem Hintergrund dieses Berichts und dieses Gesetzes gilt die zentrale und überwiegende Besorgnis der muslimischen Bevölkerung und deren Integration in die französische Gesellschaft. Nach den Vorgaben der „laïcité“ ist es jedoch nicht möglich, für eine bestimmte Religion ein Gesetz zu erlassen. Man verkündet ein Gesetz, das die ostentative Manifestation der religiösen Zugehörigkeit in der Schule betrifft und das Kreuze, Kippa und andere Symbole einschließt. Das Resultat: SikhSchüler, deren Turban bisher kein Problem darstellte, sehen sich jetzt dem Verbot gegenüber, den Turban in der Schule zu tragen. Dieses Gesetz, das alle Religionen betrifft, wurde und wird auch weiterhin in der Öffentlichkeit als „Gesetz über das muslimische Kopftuch in der Schule und in den öffentlichen Einrichtungen“ wahrgenommen. Zu Beginn des Schuljahrs, der durch die Drohungen, die auf zwei französischen Geiseln im Irak lasteten, in einem schwierigen Klima stattfand, rechnete man gewissenhaft die Zahl der jungen Mädchen zusammen, die weiter darauf bestehen, das Kopftuch zu tragen; laut Aussage des Bildungsministers vom 20. September 200422 zählt man „101 problematische Fälle“, worauf auf Gespräche gedrängt wurde. Eine kleine Demonstration hat schon im September in Mantes-la-Jolie (im Département der Yvelines im Großraum Paris) stattgefunden: Die Protestanten gehörten einer Gruppe an, die ihren Kampf als „demokratisch, weltlich und feministisch“ bezeichnet und „eine Schule für alle“ verlangt. Über kurz oder lang wird es zu Schulausschlüssen wie schon in den letzten Jahren kommen. Demzufolge haben manche Muslime und Nichtmuslime das Gefühl, die öffentliche Verwaltung des Religiösen diskriminiere den Islam und stigmatisiere besonders einige seiner Anhängerinnen. In diesem Zusammenhang erinnern einige daran, dass es nicht die Schüler sind, die weltlich sind, sondern die Schule und ihre Angestellten als öffentliche Institution, was einschließt, dass diese öffentliche Institution alle Schüler in ihrer ganzen Vielfalt aufnimmt. Es ist nicht überraschend zu beobachten, dass man, wenn ich das so sagen darf, die Zone des Kopftuchverbots sich Schritt für Schritt vergrößern sieht: Sie dehnt sich nicht nur auf andere öffentliche Institutionen aus, sondern auch in der Schule selbst, wo man gegenwärtig dazu tendiert es abzulehnen, dass muslimische Mütter mit Kopftuch Schüler und deren Lehrer zu Schulausflügen begleiten. Der Soziologe Farhad Khosrokhavar meint hierzu: „Die kämpferische Dimension der laïcité ist gegen ihre Funktion der Integration gerichtet“, „von einer ,Integrations-laïcité‘ geht man über zu einer ,Ausschluss-laïcité‘.“23 Im Namen ihres Ideals der Integration aller Personen, unabhängig von Geschlecht, ethnischer Herkunft und Religion, riskiert die „laïcité“ hierbei, einige muslimische Mädchen von der öffentlichen Schule auszuschließen. Sollte man sie – im Namen der Integration – ausschlie22 Le Monde vom 21. 09. 2004. 23 Khosrokhavar, L’islam, S. 48 f.

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ßen? Im Namen der Emanzipation der Frau riskiert die „laïcité“, junge Musliminnen zu diskriminieren, wogegen muslimische Jungen ruhig in die Schule gehen können, egal ob sie einen Bart tragen oder nicht. Weltliche Spannungen bezüglich des Islam existieren in dem Moment, wo sich ein verstärktes Suchen nach der eigenen Identität zeigt und wo die französische Gesellschaft kulturell und religiös immer vielfältiger wird. Die gesamte republikanische Identität Frankreichs, auf einem abstrakten Universalismus des Bürgers gründend, ist erschüttert. Heute erreicht man die Universalität nicht mehr, indem man Unterschiede verleugnet, sie bekennt sich sogar zu ihren Unterschieden. Besonders in Hinblick auf die Frage der religiösen Identität hat das republikanische Assimilationsmodell Frankreichs Schwierigkeiten, etwas zu dulden bzw. zuzulassen.

3.

Die französische „laïcité“ und ihre liberale Neuausrichtung: Ein „juristisches Prinzip, empirisch ausgelegt“

Pierre Rosanvallon spricht in Bezug auf Frankreich von einem „unsäglichen Reformismus“, wonach man in unserem Land die Politik und die Institutionen modifiziere, allerdings „ohne dass diese Änderungen, und was sie einschließen, öffentlich formuliert werden konnten“; präzisierend fügt er hinzu, dass die Diskrepanz zwischen den Fakten und deren Darstellung weiterhin zunehme.24 Auf die „laïcité“ angewandt ist diese Bemerkung überaus treffend. Der Theorie der „laïcité“, die das Religiöse auf die Privatsphäre begrenzt, steht die Praxis einer „laïcité“ gegenüber, die die öffentlichen Dimensionen des Religiösen immer stärker anerkennt. Einem Diskurs zur nationalen Identität, der die „laïcité“ als eine Besonderheit der Französischen Republik darstellt, steht eine ruhige Europäisierung der „laïcité“ gegenüber, die Frankreich auf seine Besonderheit zurückverweist. Einer ideologischen „laïcité“, die ihre antireligiösen Dimensionen schlecht versteckt, steht eine empirische „laïcité“ gegenüber, die die Religionsfreiheit respektiert und die kulturellen Beiträge der Religionen anzuerkennen weiß. In der Praxis, eine „laïcité“ der Anerkennung und der Intelligenz zu vertreten, ist Frankreich europäischer, als man denkt. Wenn man aber von der Rhetorik jener weltlichen Reden absieht, wenn man den täglichen Praktiken der Beziehungen Staatsgewalt – Religionen, wie sie sich in den französischen Städten und auf der Ebene der Ministerien entfalten, Aufmerksamkeit schenkt, dann erscheint die „laïcité“ in Frankreich in einem anderen Licht: Diese „laïcité“ ist weit davon entfernt, das Religiöse in seine privaten und individuellen Dimensionen einzuschließen oder es in seinen öffentlichen und kollektiven Dimensionen völlig anzuerkennen.

24 Pierre Rosanvallon, La démocratie inachevée: histoire de la souveraineté du peuple en France, Paris 2003, S. 433.

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Am Anfang jedes Jahres empfängt der Präsident der Republik die Vertreter der verschiedenen Religionen zum Neujahrsempfang im Elysée-Palast. Auch ein Beispiel auf lokaler Ebene sei angeführt, das bei weitem nicht einmalig ist. In Grasse (nahe Nizza in den Alpes Maritimes) kommt es öfters vor, dass eine vom Gemeinderat organisierte Zeremonie mit einer feierlichen Messe in der Kathedrale beginnt. Im Anschluss an die Begrüßungsmesse des neuen Erzpriesters lädt das Rathaus gelegentlich auch zu einem Aperitif ein. Heute ergreifen zahlreiche Bürgermeister großer Städte die Initiative, um öffentliche Debatten mit Repräsentanten der verschiedenen religiösen Konfessionen ihrer Stadt zu organisieren. Hierdurch soll den Angehörigen der verschiedenen Religionen in ihren Gemeinden ein Klima des guten Einvernehmens geboten werden. Im Namen der „laïcité“ integriert man die religiösen Gemeinschaften als solche in das lokale soziale Leben. Emile Poulat macht „auf eine wichtige und sehr vernachlässigte Tatsache“ aufmerksam: „Die Trennung ist es, die Kooperation erlaubt und manchmal erzwingt.“25 Dass Kirchen und Staat kooperieren können, ist wohl deshalb möglich, weil sie getrennt sind. Man kennt die Bemühungen der französischen Staatsgewalt, einen Zentralrat der Muslime in Frankreich („Conseil Français du Culte Musulman“) ins Leben zu rufen, dessen repräsentativer Charakter zwar diskutiert wird, der aber überhaupt den Verdienst hat, zu existieren. Aus diesem Anlass wurde im Namen der „laïcité“ mehrfach das angeprangert, was ihnen wie ein illegitimer Eingriff des Staates in die interne Organisation einer Religion erschien. In Frankreich treffen politische Führungspersönlichkeiten jedes Jahr die Repräsentanten der jüdischen Welt im Rahmen eines vom jüdischen Zentralrat Frankreichs („Conseil Représentatif des Institutions Juives de France“) veranstalteten Banketts. Am 12. Februar 2002 empfing Premierminister Lionel Jospin den Präsidenten der Französischen Bischofskonferenz, den Erzbischof von Paris und den apostolischen Nuntius. Beide Parteien waren damit einverstanden, „eine dauerhafte Struktur des Dialogs und der Abstimmung“ einzurichten, nicht nur um die administrativen und juristischen Probleme in den Beziehungen zwischen der katholischen Kirche und dem Staat zu prüfen, sondern auch um die großen Themen der Gesellschaft, wie die Bioethik oder das Familienrecht, in Angriff zu nehmen.26 Diese regelmäßige Abstimmung hat sich unter der Regierung von Jean-Pierre Raffarin fortgesetzt. Die Französische Republik, so laizistisch sie auch ist, kennt natürlich auch die Rolle der Kirchen in den internationale Beziehungen. Die Tatsache, dass die katholische Kirche durch den Heiligen Stuhl diplomatische Beziehungen mit 176 Ländern unterhält oder dass die französischen protestantischen Kirchen enge Beziehungen 25 Emile Poulat, L’esprit d’un réflexion sur notre laïcité publique. In: Jean Baudoin/Philippe Portier (Hg.), La laïcité. Une valeur d’aujourd’hui? Contestations et renégociations du modèle français, Rennes 2001, S. 108. 26 Xavier Ternisien, der diese Fakten in einem „Le Monde“-Artikel erwähnt, geht sogar so weit, von „freundschaftlichem Einvernehmen zwischen katholischer Kirche und Staat“ zu sprechen (Le Monde vom 27. 2. 2002).

Frankreich: Laizität und Privatisierung der Religion

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mit zahlreichen Kirchen anderer Kontinente pflegen (besonders in Afrika und Polynesien), all das weiß der Außenminister in Betracht zu ziehen. In der Innenpolitik lässt man auch nicht außer Acht, wie nützlich religiöse Repräsentanten in einigen schwierigen Vororten sind, um delikate Situationen zu meistern. Ein anderes Beispiel für die Entspannung der Beziehungen zwischen den Kirchen, der Gesellschaft und dem Staat ist die Anerkennung des Beitrags der Religionen im Bereich der Sozialarbeit und der Solidarität. Im Jahr 1995 ersuchte der Staatssekretär, der für schwierige Stadtviertel verantwortlich ist, die Kirchen ausdrücklich um Hilfe, damit sie sich den Regierungsbemühungen auf diesem Gebiet anschließen. Wenn auch zahlreiche weltliche Organisationen in die Sozialarbeit eingreifen, sind die konfessionellen Organisationen und Personen in ihrer die Solidarität stimulierenden Rolle legitimiert; ihre Teilnahme an karitativen Aktionen ist wichtig. Die Religionen werden auch ersucht, Krisensituationen zu steuern: Beispielsweise wurde 1988 eine Delegation zu Verhandlungen nach Neukaledonien entsandt, die sich u. a. aus Vertretern unterschiedlicher religiöser und weltanschaulicher Richtungen (darunter ein Priester, ein Pastor, ein Freimaurer) zusammensetzte, in Verbindung mit einem Aufruf an die Religionsdiener, die Bestattungen von Katastrophenopfern zu zelebrieren. Muslimische Repräsentanten Frankreichs haben in jüngerer Zeit an Verhandlungen zur Befreiung der französischen Geiseln im Irak teilgenommen. Kurzum, in der französischen Praxis der Staat-Kirchen-Beziehungen ist man oft weit davon entfernt, religiöse Gegebenheiten auf eine einfache individuelle und private Wahlmöglichkeit zu reduzieren. Da es nun einmal so ist, kann die Praxis die soziale Bedeutung der religiösen Gegebenheiten nicht ignorieren. Andererseits haben die durch die biologischen und genetischen Forschungen hervorgerufenen Fragen dazu beigetragen, die ethische Frage in den Mittelpunkt der gesellschaftlichen Debatte zurückzubringen und eine Nachfrage nach Ethik entstehen lassen. Die „spirituellen Familien“ sind daher verbunden mit den Überlegungen und Recherchen öffentlicher Instanzen wie des „Comité consultatif d’Ethique pour les Sciences de la Vie et de la Santé“ (gegründet im Jahre 1983) und des „Conseil National sur le Sida“ (gegründet im Jahre 1989). Neben den nicht-religiösen Sichtweisen des Menschen und der Welt sollen auch die Religionen an der Legitimation der Menschenrechte und der Grundrechte der pluralistischen Demokratien teilnehmen (wie sie sich in der Europäischen Menschenrechtskonvention darstellen). Angesichts der Äußerungen von Rassismus und Antisemitismus wohnt man einem Ökumenismus der Menschenrechte bei, der die Empfindsamkeiten von Christen, Juden, Muslimen, Freimaurern und anderer bei der Zelebrierung der Werte von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit verbindet. Als der nationale Bildungsminister Jack Lang am 3. Dezember 2001 Régis Debray die „Religionslehre in der weltlichen Schule“ übertrug, erkannte er an, dass „eine authentisch und eindeutig weltliche Schule“ es jedem Schüler ermöglichen sollte, Zugang „zum Weltverständnis“ zu haben. Dies würde dann auch einschließen, dass Religionen von den Lehrern „als markante und zu einem

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Großteil strukturierende Elemente der Menschheitsgeschichte, mal als Friedens- und Modernitätsfaktoren, mal als Stifter von Zwietracht, mörderischen Konflikten und Rückschritt“27 in Betracht gezogen werden. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, wie Régis Debray treffend bemerkt hat, „von einer ‚laïcité der Nichtzuständigkeit‘ (das Religiöse geht uns nichts an) zu einer ‚laïcité der Intelligenz‘ (es ist unsere Aufgabe, das zu verstehen)“28 überzugehen. Um das zu erreichen, schlägt Debrays Bericht eine Anzahl von Maßnahmen vor, die sowohl die Programme als auch die Aus- und Fortbildung von Lehrern der Sekundarstufe betreffen, insbesondere die Einbeziehung von Religionsfragen und der „laïcité“ in die Lehrpläne der „Instituts Universitaires de Formation des Maîtres“ (I.U.F.M.). Die Maßnahmen zur Weiterbildung von Lehrern für Religionsgeschichte und -soziologie häufen sich in den verschiedenen Akademien, nachdem das „Institut Européen en Sciences des Religions“ im Rahmen der „Ecole Pratique des Hautes Etudes“ gegründet wurde. Das Regime der „laïcité“ grenzt Staat und Religionen demnach doch nicht so stark voneinander ab, wie man denkt. So unterstützt die weltliche Republik die religiösen Gruppen auf verschiedenen Wegen finanziell: nicht nur für die Unterhaltung der religiösen Gebäude, sondern z. B. auch, indem man den Kirchen die Gebühren für das Registrieren von Spenden und Legaten erlässt (Gesetz vom 26. Dezember 1959). Auch das Gesetz über das Mäzenatentum vom 27. Juli 1987, das erlaubt, einige Abzüge in der Steuererklärung geltend zu machen, wenn eine Schenkung an Kirchen erfolgte, beweist den großzügigen Charakter der gegenwärtigen „laïcité“ gegenüber den Religionen; einige haben in diesem Gesetz sogar einen Angriff auf das Prinzip der „laïcité“ im Bereich der Steuern gesehen. Für den Juristen Francis Messner29 haben sich die juristischen Rahmen, in denen sich religiöse Aktivitäten abspielen (die kultischen Vereinigungen von 1905 und für die katholische Kirche die diözesanen Vereinigungen von 1923), viel mehr an die „gemeinnützigen Vereinigungen“ oder die Gewerkschaften angenähert als an einfache Vereinigungen für „die Ausübung des Glaubens“, auf die sie manche gerne reduziert hätten. Eine „wohltemperierte Trennung“, eine „wohlwollende“ oder „positive“ Neutralität, ein „neuer weltlicher Pakt“ – diese Reihe von Ausdrücken spiegelt eine Entwicklung wider, die sich zu einer „laïcité“ ohne Aggressivität in Bezug auf Religion hinbewegt und sogar danach strebt, den Platz und die Rolle der Religion in der Gesellschaft zu verfestigen. Weil die katholische Kirche das republikanische Regime nicht mehr in seinen Grundlagen bedroht, „befindet sich dieses in der Lage, sie zusammen mit den anderen religiösen Kräften im öffentlichen Raum reintegrieren zu kön-

27 Jack Lang, Vorwort. In: Régis Debray, L’enseignement du fait religieux dans l’école laïque, Rapport au ministre de l’Education Nationale, Paris 2002, S. 9 f. 28 Debray, L’enseignement, S. 43. 29 „Laïcité imaginée et laïcité juridique. Les évolutions du régime des cultes en France.“ In: ebd., S. 92.

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nen und ihr sogar, im Gegensatz zu den früheren, trennenden Verfügungen, eine Regulierungsfunktion in der Zivilgesellschaft zu gewähren.“30 Obschon dies Widerstand und Schwierigkeiten entstehen lässt, hat Frankreich ein neues System öffentlichen Handelns in Gang gebracht, in dem die Rolle des zentralen Staates weniger wichtig ist. Inspiriert von Jacques Commailles und Bruno Joberts Analysen der gegenwärtigen Metamorphosen der politischen Regulierung, unterstreicht Philippe Portier, dass in diesem neuen Schema die zentrale Regierung, „des Monopols beraubt [ist], festzulegen, worin das allgemeine Interesse besteht, nur ein Kooperator des Gesetzes ist, in einem Prozess, in dem alle Institutionen der Zivilgesellschaft durch diverse Verträge immer enger verbunden sind.“31 Wenn die Staatsgewalt die sozialen, kulturellen und sportlichen Aktivitäten, die traditionell der privaten Initiative zugeordnet waren, finanziell unterstützt, wenn die akademischen Berufe, die Gewerkschaften sowie die Vereinigungen zur Debatte und zu öffentlichen Subventionen Zugang haben, sieht man nicht, bemerkt Philippe Portier, warum, „die Glaubensgemeinschaften als Bestandteil der Zivilgesellschaft abseits von dieser allgemeinen Tendenz“ stehen sollten. Je mehr der weltliche Staat seine Macht an die Zivilgesellschaft abgibt, desto mehr muss er den Beitrag der religiösen Gruppierungen anerkennen. Wenn er dies tut, wird er de facto noch weltlicher. Trotz der Reaktivierung einer aggressiven „laïcité“, die eine eher negative Neutralität gegenüber dem Religiösen aufzwingen möchte, entwickelt sich in Frankreich eine offenere „laïcité“, die aus einer wohlwollenden Neutralität gegenüber religiösen Angelegenheiten entstanden ist.

4.

Fazit

Man sollte die grundlegenden Prinzipien der „laïcité“ nicht mit dem Begriff als solchem vermengen; die Tatsache, dass dieser Ausdruck nur schwer in die meisten europäischen Sprachen zu übersetzen ist, bedeutet nicht, dass andere Länder die Realitäten, die mit dem Begriff laïcité bezeichnet werden, ignorieren. Die wesentlichen Prinzipien der „laïcité“ werden in Europa umgesetzt, nämlich die doppelte Neutralität (Unabhängigkeit des Staates gegenüber der Religion und Freiheit der religiösen Organisationen gegenüber der Staatsgewalt), die Religions- und Gewissensfreiheit impliziert die Nichtdiskriminierung von Personen bezüglich ihrer Religion (oder Nicht-Religion), das praktische Inkrafttreten dieser Freiheiten und Garantien im Rahmen der öffentlichen Ordnung und der Menschenrechte, so wie sie in demokratischen Gesellschaften konzipiert sind. Micheline Milot, die die „laïcité“ in Quebec untersuchte, besteht mit Recht 30 Philippe Portier, De la séparation à la reconnaissance. L’evolution du régime français de laïcité. In: Jean-Robert Armogathe/Jean-Paul Willaime (Hg.), Les mutations contemporaines du religieux, Turnhout 2003. 31 Ebd.

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darauf, dieses Konzept „aus seinem französischen Kontext der historischen Entstehung“ herauszureißen, um es aus „seinem ideologischen Gebrauch“ zu entfernen und es eher als politisches Konzept zu verstehen“32. Die „laïcité“ betrifft ihr zufolge „die politische Gestaltung und die juristische Übertragung des Platzes der Religion in der Zivilgesellschaft und in den öffentlichen Institutionen“33. Es muss eine politische Gestaltung und eine juristische Übertragung sein, die in Europa wie auf den anderen Kontinenten das Prinzip der gegenseitigen Neutralität der Politik und des Religiösen auf verschiedene Art umsetzen. Wie die anderen Länder Europas ist Frankreich mit sozio-religiösen Entwicklungen konfrontiert, die neue Herausforderungen darstellen und gewisse Neugestaltungen erfordern.

32 Micheline Milot, Laïcité dans le nouveau monde. Le cas du Québec, Turnhout 2002, S. 23. 33 Ebd., S. 34.

Die sich wandelnde Gestalt des religiösen Pluralismus in Amerika1 Charles H. Lippy Wenn es darum geht, die Eigenart des religiösen Lebens in Amerika in ein oder zwei Sätzen einzufangen, bieten sich hierzu meistens zwei Bilder an. Die Vorstellung, dass die Vereinigten Staaten in gewisser Hinsicht eine „christliche Nation“ sind, stellt das erste dieser beiden Bilder dar. Es rückt bei Vorfällen wie etwa der Amtsenthebung Roy Moores, des höchsten Richters des Obersten Gerichtshofs des Bundesstaates Alabama, in den Blickpunkt. Dieser hatte sich geweigert, in einen Bundesgerichtsbeschluss einzuwilligen, der besagte, dass eine Skulptur von beträchtlichen Ausmaßen, die die zehn Gebote darstellt, vom Gebäude des Obersten Gerichtshofs entfernt werden müsse. Moore hatte zuvor Geld gesammelt, damit die Skulptur, die zeichenhaft für den „christlichen Nationalcharakter“ der USA stehen sollte, überhaupt erst errichtet werden konnte. Das zweite Bild scheint dazu in krassem Gegensatz zu stehen. Titel und Untertitel eines Buches von Diana Eck, Professorin für Religionswissenschaft an der Harvard University, verdeutlichen hier den Sachverhalt. Das Buch mit dem Titel „A New Religious America“ wurde von Eck im Jahre 2001 veröffentlicht. Der Untertitel erinnert zunächst an das erste Bild, um sodann dessen Demontage zu betreiben: „How a ‚Christian Country‘ Has Become the World’s Most Religiously Diverse Nation.“2 Eck bezog sich auf das Phänomen des Pluralismus und auf das Empfinden, wonach aus den USA in den letzten Jahrzehnten – auch wenn sie früher einmal eine „christliche“ Nation gewesen sein mögen – etwas ganz anderes geworden ist, nämlich ein Gemeinwesen, in dem der religiöse Pluralismus an höchster Stelle steht. Pluralismus ist ein nuancenreicher Begriff, wenn er zur Beschreibung des religiösen Lebens Amerikas herangezogen wird. Für einige bedeutet er einfach „Mannigfaltigkeit“ und zwar in dem Sinne, dass eine Vielfalt religiöser Optionen zur Verfügung steht, aus der jeder Einzelne eine (oder gar keine) Variante auswählen kann, die am besten seinen Bedürfnissen entspricht. Für andere hingegen umschließt dieser Begriff jene Vielfalt und damit die Vorstellung, dass 1 2

Aus dem Amerikanischen übersetzt von Petra Tallafuss. Diana L. Eck, A New Religious America: How a „Christian Country“ Has Become the World’s Most Religiously Diverse Nation, San Francisco 2001.

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religiöse Wahrheit, wie auch immer man sie definieren mag, in ihrer Gesamtheit niemals gänzlich von einem einzigen Ansatz erfasst werden kann. Dass viele verschiedene Traditionen und Gruppen nebeneinander existieren, erscheint vor diesem Hintergrund als völlig begrüßenswert, denn jede von ihnen kann einen Anspruch auf die Wahrheit erheben, selbst wenn keine deren Gesamtheit besitzen mag. Wieder andere sind der Auffassung, dass Pluralismus in bestimmten Momenten der Religionsgeschichte Amerikas jeweils verschiedene Bedeutungsinhalte zugeordnet wurden. Diese dritte Anschauung soll im Folgenden näher untersucht wurden. Der frühe Gebrauch des Begriffs Pluralismus unterstrich das reiche Spektrum der protestantischen Christenheit, das auf amerikanischem Boden Fuß gefasst hatte und das öffentliche Leben erst lange nachdem nicht-protestantische Gruppen einen sicheren Platz gefunden hatten zu dominieren begann. Doch im 21. Jahrhundert angekommen funktioniert dieser protestantische Fokus nicht mehr. Der gegenwärtige Sprachgebrauch verweist auf eine beträchtliche Anzahl von Gruppen und Traditionen, die keineswegs alle protestantisch, geschweige denn christlich, sind. Gleichzeitig weist Pluralismus aber auch in eine andere Richtung. Diese beschäftigt sich damit, wie religiöse Gemeinschaften, die außerhalb der Sphäre der einflussreichsten Gruppen stehen, mit ihrem „Minderheitenstatus“ umgehen. Entsprechend groß ist die Zahl der Strategien, die diese Gemeinschaften für ihr Überleben auch dann entwickelt haben, wenn einige von ihnen zahlenmäßig nicht gerade unbedeutend geblieben sind. Ein Unterthema dieses Aufsatzes beschäftigt sich mit den weitreichenden Veränderungen, die diese Überlebensstrategien auf die Entwicklung des amerikanischen Lebens hatten. Frühe Strategien konzentrierten sich oftmals auf das „Ein- und Anpassen“, auf die Vermischung mit der größeren religiösen Kultur. Die Tendenz ging dahin, die Gemeinsamkeiten der Religionsgruppen zu betonen, wenngleich ihre Glaubenssysteme – und manchmal auch ihre Glaubenspraktiken – dem aufmerksamen Beobachter recht unterschiedlich erscheinen mussten. Im 21. Jahrhundert ist dieser Ansatz beinahe völlig verschwunden. In jüngster Zeit fühlten sich Religionen immer weniger dazu genötigt, den Stil und die Haltungen der dominierenden religiösen Kultur zu spiegeln. Gruppierungen, die sich früher entweder ruhig am Rand gehalten hätten, um nicht etwa durch das Herausragen aus dem „Mainstream“ Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, oder ihre eigene Gestalt den vorherrschenden Mustern angepasst hätten, gehen heute davon aus, dass ihnen ein Anspruch auf Legitimität, wenn nicht sogar auf Gleichheit im religiösen Gesamtleben der Nation zukommt.

Die sich wandelnde Gestalt des religiösen Pluralismus in Amerika

1.

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Die Wurzeln des Pluralismus: Unfall oder Plan?

Unter den Europäern, die in die Regionen Nordamerikas kamen, die später zu den Vereinigten Staaten werden sollten, war der Pluralismus – mit ein oder zwei Ausnahmen – verhasst. All jene, die sich in den südlicheren Kolonien wie Virginia, North- und South Carolina ansiedelten, gingen so weit, dass sie per Gesetz die Church of England in der Form etablierten, wie diese im Heimatland bestand, wobei sie alle anderen als unwillkommene Andersdenkende gering schätzten. Obgleich die Glorreiche Revolution von 1688 in England selbst einige entsprechende Verschiebungen mit sich brachte, die das Verbannen im Heimatland tolerierter, religiöser Gruppen unter Strafe verboten, so blieben in der „Neuen Welt“ die gesetzlichen Einrichtungen hierfür jedoch bis in die Zeit der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung bestehen.3 In den nördlichen Neuenglandkolonien, wo puritanische Dissidenten die dominierende Gruppe stellten, waren die Neigungen, sich anderen religiösen Daseinsformen gegenüber entgegenkommend zu verhalten, gleichfalls sehr gering. Zwei häufig zitierte Passagen von Nathaniel Ward, einem puritanischen Pastor, der von England nach Ipswich (auch: Aggawam), Massachusetts, kam und unter dem Namen „der einfache Flickschuster von Aggawam“ ein Traktat schrieb, fassen das puritanische Verständnis ihres Alleinanspruchs auf die religiöse Wahrheit zusammen: „Erstens, werden all jene, die missgünstige Berichte von uns Neu-Engländern erstattet oder aufgenommen haben, gut daran tun, ihr Handeln zu überdenken. Uns wurde das Ansehen einer Schar selbstgerechter, verrückter Frömmler zuteil, die in eine abgelegene Wildnis ausgeschwärmt sind, damit wir dort Spielraum für unsere fanatischen Lehren und Praktiken haben: Ich vertraue auf unsere Vergangenheit voller Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit, auf unsere beständige Langmut gegenüber solchen Personen und Vorfällen, und darauf, dass uns unsere Bitten bessere Umstände bringen werden. Ich wage es, das Amt eines Boten Neuenglands auf mich zu nehmen, um der Welt im Namen unserer Kolonie zu verkünden, dass alle Familisten, Antinomier, Anabaptisten und alle anderen Enthusiasten die Freiheit haben sollen, von uns wegzubleiben; je schneller diese eintritt, desto besser. [...] Jede Tolerierung falscher Religionen oder Meinungen enthält so viele Fehler und Sünden, wie von den falschen Religionen und Meinungen toleriert werden, und mit jedem Laut kommen neue hinzu. Der Staat, der in Religionsfragen Gewissensfreiheit schaffen möchte, muss erst in seinen Sittengesetzen Gewissensfreiheit und die Freiheit der öffentlichen Meinungsäußerung garantieren, sonst ist die Fiedel verstimmt und einige ihrer Saiten werden reißen.“4

Aber auch in Neuengland traten infolge der Glorreichen Revolution die gleichen Risse wie in den südlichen Kolonien auf: Jeder Religionsgruppe, die in England von Rechts wegen toleriert wurde, musste schließlich das Recht auf freie Meinungsäußerung zugestanden werden. 3 4

Vgl. Charles H. Lippy / Robert Choquette / Stafford Poole, Christianity Comes to the Americas, 1492–1776, New York 1992, Teil III. Zit. nach dem Auszug in: Perry Miller/Thomas H. Johnson (Hg.), The Puritans: A Sourcebook of Their Writings, 2 Bände, New York 1963, Band 1, S. 227, 230.

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Bis an die Schwelle des Zeitalters der Unabhängigkeit wirkten vier Kräfte zusammen, um alle Anstrengungen zu unterminieren, die das Aufkeimen jeglicher Form von religiösem Pluralismus zum Ziel hatten: die anscheinend endlose Weite des zur Besiedlung vorhandenen Landes; die Betonung der persönlichen religiösen Erfahrung, welche die Erneuerungsbewegungen – bekannt als „Great Awakening“ – begleiteten; sowie das Beispiel des „Heiligen Experiments“ in Pennsylvania, wo unterschiedliche religiöse Gruppen ein enges Zusammenleben ohne Störung der öffentlichen Ordnung bewerkstelligten; und außerdem die im Zusammenhang der Aufklärung und des Zeitalters der Vernunft stehenden intellektuellen Strömungen. Vor vielen Jahren legte der Historiker Sidney Mead nahe, dass zwei Faktoren mehr als alle anderen die religiöse Dynamik der Vereinigten Staaten begründet haben.5 Einer dieser Faktoren stellte der fehlende Geschichtssinn dar, welcher die jahrhundertelange Geschichte des religiösen Lebens in Europa bestimmt hatte. Der andere Faktor war die scheinbar endlose Fülle an Land, die zur Besiedlung zur Verfügung stand. Letzterer ist der bedeutendere Umstand für das Aufkommen von Pluralismus. Einfach ausgedrückt bedeutete dies für Andersdenkende – wie jene von Nathaniel Ward Beschimpften – dass sie, wenn sie darauf bestanden, nach Nordamerika zu kommen, zwar ohne Weiteres von den gesetzlichen Autoritäten aus einer Kolonie verbannt werden konnten, es ihnen dann jedoch freistand, über deren Grenzen hinaus zu ziehen, um dort Siedlungen zu errichten, wo es ihnen möglich war, das religiöse und politische Leben gemäß ihren eigenen Vorstellungen zu gestalten. Ein Beispiel hierzu muss genügen. Als der Staatsgerichtshof von Massachusetts Roger Williams im Jahre 1635 verbannte, war alles, was er daraufhin tat, ein paar Meilen über die Grenze hinaus zu ziehen und dort jene Siedlung zu gründen, die zu Rhode Island werden sollte. Schwierigkeiten traten erst dann auf, als rechtsgültige Grenzen aufeinander stießen oder wenn grenzübergreifende Kooperationen vonnöten waren, wie dies im Zeitalter der Amerikanischen Revolution geschah. Unter solchen Umständen war es schwieriger, einen Ansatz als Wahrheit zu preisen und den anderen als Lüge zu brandmarken. Das Erlangen einer Art von Übereinkommen wurde zur pragmatischen Notwendigkeit. In den 1740er Jahren, zu der Zeit als der Wanderevangelist George Whitefield von Georgia nach Maine gelangt war, und der etablierte Pastor Jonathan Edwards über das dringend erforderliche Wiederaufleben der Religion predigte, trat eine zweite Kraft in Erscheinung. Wenngleich Whitefield und Edwards eiserne Calvinisten im Glauben daran waren, dass Gott allein festgesetzt habe, wem das Heil zuteil werden wird, so machte doch die Langzeitwirkung ihres Drängens nach Erforschung des eigenen Herzens, in dem Anzeichen für Gottes Bestimmung zum ewigen Heil zu suchen waren, das Verständnis von Prädestination immer weniger lebensfähig. Wenn der Beweis für das Werk Gottes in 5

Sidney E. Mead, The Lively Experiment: The Shaping of Christianity in America, New York 1963.

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der eigenen, inneren Erfahrung zu finden ist, wie konnte man sich dann die Gültigkeit der persönlichen Erfahrung gegenseitig streitig machen? Mit anderen Worten: Der Ort der Autorität verlagerte sich von Kirche, Pastor, Theologie und sogar Heiliger Schrift hin zum Individuum selbst. Wenn aber das Individuum die letzte Autorität verkörpert, dann kann man die religiösen Ansichten eines anderen kaum unter dem Vorwand von sich weisen, sie seien weniger wertvoll als die eigenen, schon gar nicht kann man diese als falsch im absoluten Sinne verurteilen. Folglich trieb die evangelikale Erweckungsbewegung die Amerikaner in Richtung Pluralismus, wenn auch ohne dahingehende Absichten. Die dritte Kraft stellte jenes Beispiel dar, das vor allem durch das „Lebendige“ bzw. „Heilige Experiment“ geschaffen wurde, welches William Penn für seine Kolonie und deren erste Siedlung bei Philadelphia erdacht hatte. Penn war Mitglied der „Gesellschaft der Freunde“ oder der Quäker, einer abweichlerischen Gruppe, die selbst Verfolgungen von Seiten religiöser Autoritäten erfahren hatte, und die durch ihre Bekräftigung des „inneren Lichtes“ einer theologischen Basis Nachdruck verlieh, die im Wesentlichen alle auf religiöse Uniformität hinzielenden Anstrengungen widerlegte. Um seiner gesetzlich geschützten Unternehmung Siedler zu sichern, warb Penn auf dem Europäischen Kontinent in großem Stil nach Kolonisten, wobei er allen, die dem Aufruf Folge leisteten, Gewissensfreiheit – in sich eine Art Pluralismus – versprach, solange sie sich nicht daran machten, die öffentliche Ordnung umzustoßen. Das Ergebnis war, dass sich alle möglichen protestantischen Sektierer etc. auf den Weg nach Pennsylvania machten. Im frühen 18. Jahrhundert beherbergte Philadelphia allerdings auch die größte römisch-katholische Bevölkerung aller kolonialen Städte, und außerdem hatten die Presbyterianer der Kolonie dort ihre erste offizielle Vereinigung organisiert. Zur Zeit der Amerikanischen Unabhängigkeit, welche in aller Form in Philadelphia selbst proklamiert wurde, hatte Pennsylvania alle noch vorhandenen Überzeugungen, wonach religiöse Uniformität eine notwendige Voraussetzung für politische Stabilität sei, zerstreut und bereitete den Weg dafür, dass Pluralismus allmählich zur Norm werden konnte. Die letzte Kraft, die den Anstoß zu größerer Toleranz, wenn nicht sogar zur Bekräftigung eines grundlegenden Pluralismus als Basis des Gemeinlebens, gab, ging von denjenigen aus, die das Gedankengut der Aufklärung in sich aufgenommen hatten. Einerseits waren die Rationalisten der Aufklärung skeptisch gegenüber dem Aufstellen von Postulaten, die in einer als absolut betrachteten Offenbarung gründeten, denn diesen mangelte es an rationalen Beweisen. Daraus folgte, dass, insofern religiöse Überzeugungen auf Offenbarung basieren, keiner von ihnen ein absoluter Status zukommen kann. Wenn aber keine Überzeugung absolut ist, dann muss eine so gut wie die andere sein. Andererseits ergab die Diskriminierung von Personen auf der Grundlage religiöser, nicht verifizierbarer Glaubensinhalte ebenfalls wenig Sinn. Damit verdiente also keine religiöse Blickrichtung oder Gruppe den gesetzlichen Status, der diese einer anderen Blickrichtung oder Gruppe überordnen würde; alle sollten vor dem

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Gesetz gleich sein. Dieser Ansatz bildete die Grundfeste des Denkens bedeutender Amerikaner wie Benjamin Franklin, Thomas Jefferson und George Washingston. Jefferson trat vor diesem Hintergrund für eine umfassende Religionsfreiheit ein, wie sie erstmals in dem Statut Virginias zur Religionsfreiheit von 1786 unterbreitet wurde. Keiner aus der Gruppe derjenigen, die Religion von einem rationalen Standpunkt aus als Angelegenheit der persönlichen Wahl oder privaten Beurteilung betrachteten, erachtete Religionsfragen als für die Gesellschaft unbedeutend. Selbst wenn keine Religion eine begünstigte Stellung innehaben sollte, so konnten sie doch alle dem Gemeinwohl dadurch dienen, dass sie jene moralischen Werte weckten, die aus Menschen gute Bürger machten. Entsprechendes beobachtete George Washington in seiner berühmten „farewell address“ am Ende seiner Präsidentschaft: „Unter all den Dispositionen und Gewohnheiten, die zu politischem Wohlstand führen, sind Religion und sittliche Gesinnung unentbehrliche Stützen. Vergeblich würde derjenige die Ehre des Patriotismus einfordern, der daran arbeitet, diese großartigen Pfeiler menschlichen Glücks umzustürzen, diese starken Stützen der Pflichten von Mensch und Bürger.“6 Folglich ließ der Rationalismus wie das Evangelikalentum – obgleich von unterschiedlichen Grundlagen ausgehend – das Individuum zum letzten Richter in Religionsangelegenheiten werden. Wenn sodann jedes Individuum eine gleichberechtigte Autorität darstellte, so musste Pluralismus vorherrschen, denn keiner konnte Anspruch auf Überlegenheit gegenüber dem anderen erheben.

2.

Hegemonialer Protestantismus mit pluralistischen Unterströmungen

Diese vier Faktoren stießen aufeinander, als die „Bill of Rights“ der Verfassung der Vereinigten Staaten beigefügt wurde. Der erste Zusatzartikel enthält die berühmten Worte, „Der Kongress darf kein Gesetz erlassen, das die Einführung einer Staatsreligion zum Gegenstand hat oder die freie Religionsausübung verbietet.“ Dieser Zusatzartikel, der passenderweise Vorkehrung zur Sicherung der „Trennung zwischen Kirche und Staat“ genannt wird, obschon diese Worte in der Verfassung selbst an keiner Stelle erscheinen, stellte alle Religionsgruppen vor dem Gesetz auf die gleiche Stufe. Damit bot er dem Pluralismus einen gesetzlichen Rahmen. Gleichzeitig wurde die gesetzliche Einrichtung von praktischen Überlegungen unterstützt. Erstens gab es zu viele Arten des Protestantismus – vom Puritanismus Neuenglands, dem südlichen Anglikanismus, über den Presbyterianismus bis hin zu ethnischen Ausformungen des Luthertums in den Kolonien der Mitte und einer Unmenge anderer Gruppierungen –, die alle eine Nische in der 6

John C. Fitzpatrick (Hg.), The Writings of George Washington from the Original Manuscript Sources, 1745–1799, 39 Bände, Washington 1931–44, Band 35, S. 229.

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neuen Republik für sich gefunden hatten. Außerdem gab es Katholiken, Juden und eine Vielzahl anderer, die hier und dort über erheblichen Einfluss verfügten. Mit anderen Worten: Keine Religionsgruppe konnte eine Mehrheit der Bevölkerung zu ihrer Anhängerschaft zählen. Deshalb war es den Gesetzgebern – wären sie dazu geneigt gewesen – auch nicht möglich, eine Religionsgruppe als die schlechthinnige Religion des amerikanischen Volkes auszuwählen. Eine zweite Tatsache aus der Praxis, die Raum für beträchtliche Fehlinterpretationen ließ, geht auf den ersten im Jahre 1790 durchgeführten Zensus der Vereinigten Staaten zurück. Diese Volkszählung deckte auf, dass wahrscheinlich nicht mehr als 10 Prozent der amerikanischen Bürger formal einer Religionsgruppe angehörten. Wenngleich sich einige auf diese Zahl mit der Behauptung stürzen mögen, dass Religion nur einen geringen Einfluss ausgeübt habe, so verfehlt diese Schlussfolgerung doch ihr Ziel.7 Mitgliedschaft und Einfluss sind zwei verschiedene Phänomene, wobei Mitgliedschaft zur damaligen Zeit noch strenger ausgelegt wurde als dies in den folgenden Jahrzehnten der Fall sein sollte. Obschon die junge Nation ihr Demokratie-Experiment ohne die gesetzliche Verankerung einer einzigen Religionsgruppe unternahm, herrschte doch bemerkenswerte Einigkeit, wenn es um religiöse Gefühle ging. Einem breit gefächerten evangelikalen Protestantismus, der Anhänger verschiedenster Denominationen umfasste, galt offenkundig die Vorherrschaft und veranlasste – damals wie auch später – viele zu der Behauptung, dass die Vereinigten Staaten in einem allgemeineren Sinne eine „christliche Nation“ seien. Unterschiede zwischen den einzelnen Denominationen verloren zunehmend an Bedeutung, zumal Rivalismus, „frontier camp“-Treffen und Bewegungen hin zu einer sozialen Reform allesamt einer religiösen Lebensart Vorschub leisteten, die die innere Erfahrung über die formale Lehrmeinung setzte. Dies war die Zeit der – wie Nathan Hatch es nannte – „Demokratisierung der amerikanischen Christenheit“ oder zumindest der protestantischen Christenheit der Vereinigten Staaten.8 Als die Nation ihre Grenzlinien weiter nach Westen, in Richtung Pazifik, vorwärts trieb, sah es immer noch so aus, als gäbe es eine unbegrenzte Menge an Land, wo Menschen, die ihre eigenen religiösen Ansichten auszuleben wünschten, mit ihren Anhängern siedeln und ihre eigene Wahrheit verkünden könnten. Das vielleicht augenfälligste Beispiel hierfür bildet die „Church of Jesus Christ of Latterday Saints“ (Kirche Jesu Christi der Heiligen der letzten Tage), gemeinhin bekannt als Mormonen. Ihre Wanderung führte sie vom Entstehungsort im Hinterland New Yorks unter den Augen ihres Gründervaters Joseph Smith in Richtung Westen, durch Ohio und Missouri und schließlich unter der Leitung Brigham Youngs, der nach dem Lynchmord an Smith im 7 8

Das stärkste Argument für einen minimalen religiösen Einfluss findet sich bei Jon Butler, Awash in a Sea of Faith, Christianizing the American People, Cambridge 1990. Nathan O. Hatch, The Democratization of American Christianity, New Haven, CT 1989; vgl. außerdem Robert T. Handy, A Christian America: Protestant Hopes and Historical Realities, neu bearbeitete Auflage New York 1984; Martin E. Marty, Protestantism in the United States, Righteous Empire, 2. Auflage New York 1986.

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Jahre 1844 diesem nachfolgte, ins Utah Territorium. Die brutalen Umstände von Smiths Tod vermitteln auch einen ersten Eindruck von den Strafen, die bei Abweichungen vom evangelikal-protestantischen Bereich in Fragen des Glaubens und der Praxis drohten. Damals blieben andere auf das Aufkommen von Pluralismus hinweisende Unterströmungen oft unbemerkt oder wurden als Kombination aus paganem Volksglauben und überschwänglicher Freisetzung von Entspannung betrachtet. Die „Große Erweckung“ der 1740er Jahre markiert die erste von mehreren Epochen, als Sklavenhalter und andere, die in irgendeiner Weise am Leibeigenentum in den Vereinigten Staaten beteiligt waren, ein Interesse an der Bekehrung in den Reihen der Afroamerikaner entwickelten. Viele derjenigen, die zwangsweise als Sklaven in die Vereinigten Staaten verbracht worden waren, identifizierten sich nach außen hin mit evangelikalen Gruppen wie den Baptisten und Methodisten. Im Rückblick wird jedoch deutlich, dass es sich bei der aufkommenden afroamerikanischen Religion jedoch um ein völlig eigenständiges Phänomen handelte. Im „ring shout“, den Predigten im Ruf- und Antwortstil sowie dem Singen von Spirituals, die zu wesentlichen Bestandteilen der afroamerikanischen Religion wurden, schwang jene ekstatische Erfahrung mit, die sowohl für afrikanische Stammesfeiern als auch für den evangelikalen Protestantismus von großer Bedeutung waren. Wenn auch afrikanische Besessenheit andere Nuancen besaß als die Ekstase in der afroamerikanischen Religion, so war Afrika dennoch der Schlüssel zu deren Erbe.9 Im Gegenzug beeinflusste dieses Erbe jene emotionsgeladene Ekstase, die man mit den „frontier camp“Treffen des 19. Jahrhunderts assoziierte und in der Pfingstbewegung dauerhafte Züge annahm. Letztere durchdrang zu Beginn des 21. Jahrhunderts den gesamten amerikanischen Protestantismus und erhielt durch die religiöse Lebensart von Millionen lateinamerikanischer Einwanderer neue Kraft. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam dann eine Art von Pluralismus auf, die im religiösem Leben Amerikas vorherrschend wurde. Allerdings war dies ein Pluralismus, der auf die große Vielfalt gedeihender protestantischer Gruppen bezogen war, von denen die meisten mit der Betonung der persönlichen religiösen Erfahrung über eine gemeinsame, evangelikale Grundlage verfügten. Andere Gruppen erfreuten sich gesetzlicher Maßnahmen zu ihrer Sicherung, aber nur wenigen widerfuhr von Seiten des hegemonialen evangelikalen Protestantismus mehr als eine widerwillige Akzeptanz. Den Einschätzungen des Historikers William Hutchison zufolge, war der Pluralismus in dieser Epoche eine widerwillige oder „selektive“ Tolerierung von Gruppen und Glaubensstilen, die außerhalb der Sphäre des evangelikalen Protestantismus angesiedelt

9

Nach wie vor die beste Analyse hierzu bietet Albert J. Raboteau, Slave Religion, The „Invisible Institution“ in the Antebellum South, New York 1978; vgl. bes. Kap. 2: „Death of Gods“.

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waren.10 Es handelte sich hierbei keinesfalls um einen Pluralismus, der jede religiöse Option in gleichem Maße einer treuen Ergebenheit für würdig erachtet hätte. Ebenfalls war dies – wie Geschichten über den Anti-Katholizismus und Antisemitismus in der amerikanischen Lebenswelt zeigen – kein Pluralismus, der religiöse Vorurteile gegenüber gering geschätzten Ansätzen ausgeschaltet hätte. In diesem Kontext rückt eine erste von Minderheiten angewandte Überlebensstrategie ins Blickfeld. Für die Trennung von Staat und Kirche war Toleranz vonnöten, aber die Hegemonie des evangelikalen Protestantismus stützte Feindseligkeiten gegenüber den Vertretern anderer Überzeugungen. Wie konnte eine nicht-evangelikale protestantische Gruppe ihr Fortbestehen sichern? Zwei Ansätze bieten sich an, wobei der eine vorsätzlicher, der andere zufälliger Natur ist. Der auf Zufall beruhende Ansatz ist im Kontext der Immigration zu sehen: Gleichmäßiges Wachstum durch Aufbau einer immer größer werdenden numerischen Basis – möglicherweise an ethnische Gemeinschaften gebunden – stellte einen Weg dar, wodurch sich innerhalb der feindlichen Umwelt eine Nische für die Gruppe schaffen ließ. Dieser Ansatz spiegelt sich ohne Weiteres im stetigen Zustrom katholischer Immigranten aus Irland in die Vereinigten Staaten, der zu Beginn der 1830er Jahre einsetzte und in den 1840ern und 1850ern sprunghaft anstieg. Um 1850 galten die Katholiken als die größte religiöse Einzelgruppe in den Vereinigten Staaten, obwohl die Gesamtzahl der Protestanten immer noch wesentlich größer war. Viele Katholiken lebten in ethnischen Vierteln, in denen das Gemeinschaftsleben um eine Kirchengemeinde kreiste, die selbst wiederum ethnisch homogen war. Dieser Ansatz stellte eine wirksame Überlebensstrategie und einen Weg zur Sicherung der weiteren Existenz dar. Darüber hinaus bedienten sich die Katholiken zur Sicherung ihres Überlebens auch einer zweiten Strategie, nämlich der Imitation evangelikal-protestantischer Verhaltensweisen. Da Protestanten im Interesse wachsender Anhängerzahlen und der Einbringung neuen Lebens in die Kongregationen großen Wert auf Erweckungsveranstaltungen legten, entwickelten die Katholiken ihrerseits die so genannte „parish mission“ (Gemeindemission), bei der ein zu Besuch weilender Priester über den Zeitraum von ein bis zwei Wochen besondere Gottesdienste abhielt. Dadurch, dass sie auf Techniken zurückgriffen, die der protestantischen Mehrheit vertraut waren und die von ihr akzeptiert wurden, erschienen die Katholiken weniger andersartig und damit ungefährlicher. Diese zweite Strategie lässt sich auch am Beispiel des Reformjudentums eindringlich illustrieren. Die Reformbewegung verdankte ihren Impetus größtenteils der Zuwanderung deutscher Juden, die von Lockerungen gesetzlicher Benachteiligungen gegenüber Juden profitiert hatten, welche im Zuge der Aufklärung aufgekommen waren. Aufgeschlossen für die zeitgenössische Kultur 10 William R. Hutchison, Religious Pluralism in America, The Contentious History of a Founding Ideal, New Haven, CT 2003, Kap. 1–4.

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und darauf erpicht, Verfolgung und Gegenbeschuldigung zu vermeiden, bewegte sich das Reformjudentum in Richtung Anpassung und Assimilation. Zunächst auf Städte wie Charleston (South Carolina) und Savannah (Georgia, wo Reformjuden eine Synagoge im gotischen Baustil – inklusive Rosettenfenster – errichteten) zentriert, folgten die Reformjuden der Führung von Rabbinern wie Isaac Mayer Wise in ihrem Anliegen, die jüdische Glaubenspraxis auf den neusten Stand zu bringen. Die Reform wollte all das beibehalten, was als grundlegend erachtet wurde, aber alles ablegen, was nebensächlich anmutete oder durch übermäßige Anbindung an die alte Kultur des Nahen Ostens für moderne Juden irrelevant geworden war. Die augenfälligste Veränderung bestand in der Lockerung der Speisevorschriften, als deren Inbegriff ein wohlbekannter Vorfall bei der Eröffnung des „Hebrew Union College“ in Cincinnati – nach wie vor eine Bastion der Reformvermittlung – gelten mag, wo nämlich das Galabankett mit Shrimpcocktail als erstem Gang aufwartete. Andere glaubten, die Ersetzung des Hebräischen durch das Englische würde eine umfassendere Assimilation ermöglichen. Es wurden Sonntagsschulen für jüdische Kinder eingerichtet, die im Großen und Ganzen genauso funktionierten wie ihre evangelikal-protestantischen Gegenstücke. Rabbis begannen, seelsorgerliche Rollenprofile zu übernehmen, die denen der Pfarrer und Priester glichen. In einigen Fällen diskutierten Kongregationen sogar darüber, ob man sich nicht besser am Sonntag an Stelle des Sabbat versammeln sollte. Die Strategie ist offenkundig: Die Nachahmung der Art und Weise des dominierenden evangelikal-protestantischen Glaubens- und Lebensstils sollte die Eingliederung erleichtern, das Potenzial für feindselige Diskriminierung minimieren und das Überleben einer kraftvollen jüdischen Gemeinde in den Vereinigten Staaten sicherstellen.

3.

Auf dem Wege hin zu einem dreigeteilten Pluralismus

Für Anhänger des römisch-katholischen Bekenntnisses als auch für Juden und viele andere Gruppen erwiesen sich vorgegebene Einwanderungsmuster schließlich als am kritischsten. Im Zeitraum zwischen dem Ausgang des amerikanischen Bürgerkrieges und dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges schien es, als würden die Zahlen der in die USA Immigrierenden von Jahr zu Jahr neue Höchstwerte erreichen. Anders als frühere Einwanderungswellen, die in erster Linie vom nördlichen und westlichen Europa ausgingen, brachte dieser Schub Millionen von Menschen aus Zentral-, Süd- und Osteuropa in die Vereinigten Staaten. Waren die früheren Schübe – mit Ausnahme der irischen Einwanderungswelle – vorwiegend dem Protestantismus zugeneigt, so war dieser in überwältigendem Ausmaß römisch-katholisch, jüdisch und östlich-orthodox. Diese Millionen kamen zu einer Zeit an, als die USA eine urbane und industrielle Explosion erlebte. Beispielsweise belegte die Volkszählung von 1920 erstmalig, dass die Mehrzahl der Amerikaner in Städten lebt.

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Wenn evangelikale Protestanten von Pluralismus sprachen, meinten sie damit im Allgemeinen immer noch, dass es eine Vielzahl an gedeihenden protestantischen Gruppen gab. Josiah Strong, der lange Jahre geschäftsführender Sekretär der „Evangelical Alliance“ war, schilderte in seinem in der Mitte der 1880er Jahre erschienen Buch „Our Country“ scharfsinnig die Veränderungen, die im Zuge der rapiden Zunahme der Immigration, der Urbanisierung und der Industrialisierung auf die amerikanische Lebenswelt zukamen. Fernerhin forderte er, Einwanderer – um ihrer Amerikanisierung willen – zum protestantischen Christentum zu konvertieren, wobei er beinahe blind gegenüber der Tatsache zu sein schien, dass Millionen von ihnen bereits Christen waren, wenn auch römisch-katholischer oder östlich-orthodoxer Prägung.11 Doch der erste Zusatzartikel zur Verfassung ließ die Vereinigten Staaten selbst für jene, die Strong zu konvertieren suchte, zu einem sicheren Zufluchtsort werden, so dass ihre Zahl weiterhin wuchs. Vorahnungen vom Aufkommen eines neuen Pluralismus wurden wach als sich die Nation entschloss, das 400. Jubiläum von Christopher Columbus’ Fahrt in die „Neue Welt“, 1892–1893, mit einer Weltausstellung in Chicago feierlich zu begehen. In Zusammenhang mit der Kolumbus-Ausstellung brachte das Weltparlament der Religionen 1893 Vertreter unzähliger Religionen – darunter viele Asiaten – nach Chicago, damit diese unmittelbar von ihren Glaubensüberzeugungen und -praktiken berichteten. Wenngleich die Art und Weise, in der die Versammlungen organisiert waren, die Überlegenheit und (End-) Gültigkeit des Christentums – besonders der protestantischen Christenheit – nahe legten, so geriet das Ereignis doch auch zum Symbol für ein zunehmendes Interesse an bzw. Bewusstsein für religiöse(n) Traditionen außerhalb der Sphäre eines hegemonial-evangelikalen Protestantismus, welcher das öffentliche Leben in Amerika seit der Gründung der Republik dominiert hatte.12 Das Verschwinden allen Argwohns gegenüber nicht-protestantischen, religiösen Ausdrucksformen war nicht im Sinne des Parlaments. Mehr als alle Einzelunternehmungen verhalf wohl die Unterstützung, die man von römisch-katholischer Seite dem amerikanischen Einsatz während des Ersten Weltkrieges angedeihen ließ, zum teilweisen Abbau dieser unverhohlenen Feindseligkeit. Allerdings zeigten die in den 1920er Jahren erfolgreich durchgeführten Änderungen am Einwanderungsgesetz, die die Zahl der Einwanderer aus zutiefst katholischen Gegenden Europas verringern sollten, und die anti-katholischen Verunglimpfungen, die dem Präsidentschaftskandidat Al Smith im Wahlkampf des Jahres 1928 entgegengeschleudert wurden, dass die Vorurteile unterhalb der Oberfläche weiterhin bestanden. Subtile Formen der Diskriminierung, wie 11

Josiah Strong, Our Country: Its Possible Future and Present Crisis [1885], hg. v. Jurgen Herbst, Cambridge 1963. 12 Richard Hughes Seager, The World’s Parliament of Religions, The East/West Encounter, Chicago 1893, Bloomington 1995. Viele der im Parlament vorgebrachten Adressen finden sich im Nachdruck bei Richard Hughes Seager (Hg.), The Dawn of Religious Pluralism: Voices from the World’s Parliament of Religions, 1893, LaSalle, IL 1993.

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etwa Aufnahmequoten renommierter Colleges und Universitäten für jüdische Studenten oder Satzungen, die Juden von der Mitgliedschaft in Country Clubs bzw. vom Immobilienerwerb in bestimmten Wohnvierteln ausschlossen, schürten fortwährend das Feuer des Antisemitismus. Ironischerweise besann sich eine asiatische Gruppe, deren Wurzeln zu Einwanderungsphasen zurückreichten, die noch vor der Einrichtung des Weltparlaments der Religionen lagen, bei Eintritt der Vereinigten Staaten in den Ersten Weltkrieg rasch auf eine noch ältere Überlebensstrategie. Diese Gruppe gab sich in aller Form den Namen „Buddhistische Kirchen von Amerika“; mochte Buddhistisches während des Krieges auch verdächtig sein, eine Kirche mit Kirchenbänken und hymnischen Gesängen war es sicherlich nicht. Gegen Mitte des 20. Jahrhunderts zeigte der Pluralismus aber eine wieder andere Facette. Die Zeiten, in denen Pluralismus vorrangig eine Vielfalt existierender protestantischer Gruppen bei widerwilliger und selektiver Tolerierung anderer Gruppierungen meinte, waren endgültig vorbei. Die Bedeutung von Pluralismus ging immer mehr hin zu einer Bekräftigung des Umstandes, wonach die drei großen Traditionen – römisch-katholisches Christentum, protestantisches Christentum und Judentum – im Empfinden des Volkes in funktioneller Hinsicht als religiöse Identitäten „guter“ amerikanischer Bürger ebenbürtig waren. Hunderte, wenn nicht tausende anderer Gruppen liefen am Rande zur Höchstform auf. Pluralismus hatte, um es mit den Worten von Hutchison auszudrücken, die Bedeutung einer Art von „Inklusion“ angenommen, obschon die Verschiedenheiten im Innern nicht zu übersehen waren.13 Diese Auffassung von Pluralismus erlangte in der aus dem Jahre 1955 stammenden Untersuchung Will Herbergs, „Protestant, Catholic, Jew“, den Status einer „klassischen“ Stellungnahme. In seiner Darstellung, die fünf Jahre vor der Wahl des ersten römisch-katholischen Präsidenten erschienen war, behauptet Herberg – jüdischer Soziologe und Professor an einem methodistischen Seminar –, dass die amerikanische Religion einen dreigeteilten Charakter angenommen habe. Alle drei Traditionen seien akzeptiert, insofern ihre Vermittlungsarbeit moralischer Werte zur Formung guter Bürger beitrage. Herberg kritisierte allerdings auch andere Tendenzen in Amerikas religiösem Leben. Beispielsweise ging er davon aus, die Homogenisierung von Religion bedeute, dass die wahre Religion der meisten Menschen nicht mehr das biblische Erbe spiegle, das Judentum, Katholizismus und Protestantismus stützt, sondern dessen augenfällige Auflösung, die von kapitalistischen Unternehmen betrieben würde. Dies, so Herberg, sei die „Religion des American Way of Life“.14 Gegen Mitte des 20. Jahrhunderts hatte der Pluralismus eine neue Form angenommen. Pluralismus war nun nicht mehr mit einer Vielfalt evangelikal-protestantischer Glau-

13 Hutchison, Religious Pluralism, Kap. 5–7. 14 Will Herberg, Protestant, Catholic, Jew: An Essay in American Religious Sociology, Garden City, NY 1955.

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371

bensformen gleichzusetzen, sondern umfasste mindestens auch den römischkatholischen Glauben und das Judentum als funktional gleichwertige Partner.

4.

Der expansive Charakter des Pluralismus

Nur ein Jahrzehnt nachdem Herbergs tiefgreifende Einschätzung des religiösen Lebens Amerikas erschienen war, verordnete der Kongress der Vereinigten Staaten eine Gesetzgebung, die die Bandbreite des Pluralismus in einer von nur wenigen erwarteten Art und Weise ausdehnte. 1965 warf man im Rahmen einer grundlegenden Überarbeitung des Einwanderungsgesetzes jene Quotenregelungen über Bord, die seit den frühen 1920er Jahren in Kraft gewesen waren. Infolge stieg seither die Zahl der aus Lateinamerika, Asien und dem Nahen Osten in die Vereinigten Staaten Einwandernden stetig an. Wie schon Generationen von Einwanderern vor ihnen, so brachten auch diese Neuankömmlinge ihre eigenen Religionen und Religionsstile mit sich. Wie ihre Vorgänger wandten sich auch diese Einwanderer ihrer Religion in Hoffnung darauf zu, dass diese bei der Bewerkstelligung des Übergangs in eine neue kulturelle Umgebung helfen möge, indem sie sich auf das bezieht, was sich in der Bereitstellung von Sinn und Ordnung lange Zeit bewährt hat. Überall in Städten der Vereinigten Staaten werden in protestantischen und katholischen Gemeinden gleichermaßen Gottesdienste auf Spanisch angeboten. Durch eine Anpassung des Predigtstils sucht man die vonstatten gehende phantastische Verschmelzung von christlichen Traditionsgut mit den Sitten und Gebräuchen Lateinamerikas zu reflektieren. So haben einige lateinamerikanische Einwanderer sogar Schreine errichtet, die nicht nur Verbindungen mit ihrem Heimatland schaffen, sondern auch eine religiöse Feinfühligkeit nähren helfen, die sich in andere Richtungen bewegt als die den Euro-Amerikanern vertrauten Muster.15 In manchen Gegenden nähert sich der Bevölkerungsanteil der Hispano-Amerikaner einer Mehrheit an. Dies deutet darauf hin, dass ein noch vor einem Jahrhundert völlig unbekannter, religiöser und kultureller Pluralismus im Begriff ist, zur Norm zu werden.16 In christlichen Kreisen ging die Einbeziehung des lateinamerikanischen Geschmacks einher mit außergewöhnlichen Gottesdienst-Experimenten, deren Wurzeln teilweise auf das Wiederaufleben der Pfingstbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts, zum Teil aber auch auf Bemühungen um liturgische Erneuerung zurückgehen, die in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–65) die westliche Christenheit bewegten. Bis zu einem gewissen 15 Vgl. z. B. Thomas A. Tweed, Our Lady of the Exile: Diaspora Religion at a Cuban Catholic Shrine in Miami, New York 1997. 16 Diese Stelle und die nachfolgenden Textabschnitte beziehen sich auf meinen Aufsatz „Christian Nation or Pluralistic Culture: Religion in American Life“. In: James A. Banks /Cherry McGee Banks (Hg.), Multicultural Education: Issues and Perspectives, 5. Auflage Hoboken, NJ 2004, S. 110–131.

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Grad gründen diese Experimente ebenso in der Bereitschaft, sich im Interesse religiöser Zwecke Ausdrucksformen anzueignen, die der säkularen Massenkultur entstammen. Folglich rückte eine neue Facette von Pluralismus ins Mittelfeld einer Reihe von Gottesdienststilen auf, die den Gläubigen angeboten werden. Einige Kongregationen gingen sogar dazu über, mehrmals pro Woche Gottesdienste in völlig unterschiedlichen Stilen zu offerieren. Gleichzeitig sind durch Einwanderer aus Asien und dem Nahen Osten die Zahlen der Buddhisten, Hindus und Muslime in den Vereinigten Staaten stark angestiegen. 1970 lebten beispielsweise ca. 200 000 praktizierende Buddhisten in den USA; drei Jahrzehnte später waren es zwei Millionen. 1970 hatten ca. 100 000 Hindus ihren Wohnsitz in den USA; im Jahre 2000 näherte sich ihre Zahl der 950 000-Marke an. Ebenfalls 1970 lebten ca. 800 000 Muslime – ungeachtet derjenigen, die sich als „Nation of Islam“ bezeichnen – in den Vereinigten Staaten; zu Beginn dieses Jahrhunderts waren es mindestens 3 950 000, was einige Analysten zu der Prognose veranlasste, dass die Zahl der Muslime innerhalb von ein bis zwei Jahrzehnten die Zahl der Juden in den USA übertreffen werde.17 Mit Sicherheit sind viele der sich mit diesen Traditionen Identifizierenden Konvertiten. Doch der Großteil besteht aus Immigranten, die ihre Religion einfach mitgenommen haben in das Land, das ihre neue Heimat werden sollte. Das dramatische Ansteigen der Zahlen stellt jedoch nur eine Seite der Wahrheit dar. In gleichem Maße überraschen neue Überlebensstrategien, die andeuten, dass die Einwanderergruppen der jüngsten Zeit die früheren Ansätze der Nachahmung christlich-protestantischer Glaubens- und Lebensart, wodurch Assimilation und Akzeptanz erleichtert werden sollten, aufgegeben haben. Vielmehr sind diese neuen Gruppen unnachgiebig, wenn es darum geht, die Institutionen und Praktiken zu replizieren, die schon in ihren Heimatländern Quelle ihres religiösen Lebens waren. Hutchison wies darauf hin, dass jener neue Pluralismus weit über Tolerierung und sogar über Einbeziehung hinaus reicht. Es handle sich eher um – so Hutchison – einen „symphonischen Pluralismus“, in dem alle Teilnehmer einen Anspruch auf Legitimität und Akzeptanz erheben.18 Folglich tauchten überall in den Vereinigten Staaten in den Stadtbildern Hindu-Tempel auf, von denen manche im traditionellen Tempelbaustil und andere als neuartige räumliche Konstruktionen für andere Zwecke errichtet worden sind. In Nashville (Tennessee) errichtete man z. B. einen anmutigen Hindu-Tempel in entsprechender Bauform, wogegen sich knapp 225 Kilometer entfernt, in Chattanooga (Tennessee), das hinduistische Gemeindeleben in einem Tempel abspielt, der ursprünglich für eine Baptisten-Kongregation des Südens gebaut worden war. Hinzukommt, dass nun auch Moscheen und Buddhistische 17

Weiterführend ist hier die Darstellung von Bruce B. Lawrence, New Faiths, Old Fears: Muslims and Other Asian Immigrants in American Religious Life, New York 2002. 18 Vgl. Hutchison, Religious Pluralism, Kap. 8 und 9.

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Zentren in unmittelbarer Nachbarschaft von christlichen Kirchen und jüdischen Synagogen zu finden sind. Quer durch die Nation versammeln sich die Gläubigen freitags zum gemeinschaftlichen Gebet – ohne je auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, diesen Gebetstag auf einen anderen Wochentag zu verlegen, wie dies von einigen Reformjuden vor eineinhalb Jahrhunderten getan wurde.19 Wenngleich sich die Mehrheit der amerikanischen Muslime zwar keiner bestimmten Moschee zugehörig fühlt, so gibt es in den Vereinigten Staaten mittlerweile doch mehr Muslime als Anhänger der Episkopalkirche, mehr Buddhisten als Kongregationalisten und etwa genauso viele Hindus wie Angehörige der Orthodoxen Kirche Amerikas. Alle Anzeichen lassen erwarten, dass sich diese Gruppen zusammen mit jenen, die der großen Familie der Pfingstbewegung zuzurechnen sind, auch in Zukunft mit einer die Wachstumsrate der Bevölkerung bei weitem übertreffenden Geschwindigkeit vergrößern werden. Dagegen kommen auf die großen protestantischen Denominationen, die sich einst als Leuchtturm des Pluralismus darstellten, nicht nur große Einbußen bei Mitgliederzahlen im absoluten Sinne zu, sondern letztere werden auch das fortschreitende Dahinschwinden des Ganzen begründen. Mindestens drei zusätzliche Kräfte haben in der letzten Jahrhunderthälfte dazu beigetragen, dass der religiöse Pluralismus Amerikas an Bandbreite gewinnt: Die aufbrechende Distanz, die jene, die sich nach wie vor mit einer religiösen Institution identifizieren und solche, die sich lediglich als spirituell interessiert nicht aber als religiös verstehen, von einander trennt; Tendenzen zur Verflechtung von Spiritualität und „gender“- bzw. sexualitätsbezogener Aspekte und drittens, die wachsende Zahl derer, die sich von keiner Kirche im herkömmlichen Sinne geistig „überdacht“ wissen. In den späten 1960er Jahren stellte der Soziologe Thomas Luckmann die Behauptung auf, dass in jeder Gesellschaft, die in Hinblick auf Komplexität, Urbanisierung und Industrialisierung einem Wachstumsprozess durchlebt – wie dies auch in den Vereinigten Staaten vor sich geht –, die Religion immer weniger an entsprechende Institutionen gebunden, dafür aber zunehmend Privatsache sein wird. Wahre Religion, so Luckmann, würde dann „unsichtbar“ werden.20 Mit Hilfe der Medien-Revolution, die es möglich macht, über Radio, Fernsehen und schließlich Internet Zugang zur Religion zu haben, bewirkt diese Privatisierung von Religion, dass immer weniger Menschen am Bau einer auf traditionellen Überzeugungen, Kirchen oder anderen festgefügten religiösen Autoritäten fußenden Sinnwelt beteiligt sein werden. Eher würden sie eigenartige Weltanschauungen kreieren, indem sie, auf eine Menge an Quellen zurückgreifend, hie und da Bruchstücke einer Lehre, Überzeugung oder sogar Morallehre einer bestimmten Religion herausbrechen, sofern diese sich in Einklang mit ihren eigenen persönlichen Erfahrungen bringen lassen. Hier ein hypothetisches Beispiel: Während immer mehr Amerikaner in stiller Kontemp19 Vgl. Jane I. Smith, Islam in America, New York 1999. 20 Thomas Luckmann, The Invisible Religion, New York 1967.

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lation Labyrinthe durchwandern, anschließend in ihre Häuser zurückzukehren, in denen Kristalle und kokelnder Weihrauch die privaten Altäre zieren, wenn sie aus der Bibel und dem „I Ching“ lesen und dabei zu spirituellen Reisen abheben, wird ihre Religion so ins Private gesteigert, dass sie geradezu unsichtbar wird. Es ist, als ob jede(r) eine individuell gefärbte Religion besäße und sich ihren bzw. seinen Gott nach Gutdünken zusammenschneidern könne.21 Sollte dies der Fall sein, dann hätte sich der Pluralismus ins beinah Unendliche ausgedehnt. Für manche Menschen ist diese persönliche Suche gekoppelt an wesentliche „gender“- und sexualitätsbezogene Aspekte. Im Zuge der zweiten Feminismuswelle wuchs die Zahl jener Frauen, die die einmalige Erfahrung des Frauseins als Quelle spiritueller Kraft sehen wollten, egal ob diese Kraft mit religiösen Institutionen in Zusammenhang stand oder nicht. Einige wandten sich vorchristlichen Fruchtbarkeitsriten zu, die für die Postmoderne umgearbeitet wurden. Andere bezogen sich auf das Erbe der Wicca. Wieder andere verbanden Elemente aus beidem mit Dimensionen ererbter religiöser Traditionen, um so eine Sinnwelt zu gestalten, die ihrer Erfahrung des Frauseins Sinn gibt. In den letzten Jahren verfolgten auch einige Männer eine in der speziellen Erfahrung des Mannseins gründende religiöse Suche. So wuchs in den letzten vierzig Jahren auch die Palette an Literatur, die das spirituelle Leben etwa aus schwuler, lesbischer, bisexueller oder transsexueller Sichtweise durchleuchtete. All diese Ansätze teilen die Hinwendung zu persönlichen Erfahrungen als dem Ort, von wo aus die Formung einer „Grundausrüstung“ an Glaubensbekenntnissen und -praktiken vonstatten geht. In diesem Sinne müssen die Faktoren Geschlecht und Sexualität sodann als Ausweitungen jenes Individualismus gesehen werden, der seit dem evangelikalem Wiederaufleben im 18. Jahrhundert und der aufklärerischen Platzierung von religiöser Wahrheit im Bereich des rationalen, privaten Ermessens, unterschiedliche Stränge des religiösen Pluralismus stützte. Allerdings führen Geschlecht und Sexualität den Pluralismus auch in neue Richtungen, denn die Basis der religiösen Gemeinschaft ist hier weniger eine von allen geteilte religiöse Überzeugung als eine gemeinsame Biologie und sexuelle Identität. Jüngsten Studien zufolge stieg zudem binnen der letzten zwei Jahrzehnte der Prozentsatz jener Amerikaner drastisch an, die – trotz der Menge und Vielfalt an verfügbaren Optionen – mit überhaupt keiner religiösen Institution in Verbindung stehen. Eine Untersuchung gibt an, der Bevölkerungsanteil ohne kirchliche Überdachung habe von einem aus fünf Amerikanern im Jahre 1991 bis hin zu mehr als einem aus dreien 2004 zugenommen.22 Allerdings sind diese Zah21 Vgl. Jeremiah Creedon, God with a Million Faces. In: Utne Reader (July-August 1996), S. 42–48; Don Lattin, Following Our Bliss: How the Spiritual Ideals of the Sixties Shape Our Lives Today, San Francisco 2003. 22 Die Angaben 21 % für 1991 und 34 % für 2004 stammen von der Barna Group und sind entnommen aus: „Ratio of ‚Unchurched‘ Up Sharply since 1991“. In: Christian Century, (1 June 2004), S. 15.

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len in gewisser Hinsicht irreführend, da sie auf Selbstauskünften zu Teilnahmehäufigkeit an Gottesdiensten oder Vertiefung in Gebetsübungen wie der Bibellektüre beruhen. Historiker bemerken angesichts solcher Ergebnisse sofort, dass traditionelle Kategorien ohnehin zu keinem Zeitpunkt der amerikanischen Geschichte für die Gesamtheit der religiösen Orientierungen gegolten hätten.23 Die hohen Zahlen derer, die sich keiner Kirche verbunden wissen, bestätigen jedoch die Beobachtung, wonach ein radikaler Individualismus die Grenzen des Pluralismus in solche Weiten getrieben hat, wie sich dies die Väter des „First Amendment“ mit seiner Garantie auf freie Religionsausübung niemals hätten träumen lassen.

5.

Schlussbemerkungen

Pluralismus stellt im religiösen Leben Amerikas kein Novum dar. Doch die Denotationen von Pluralismus und die Art und Weise, in der Individuen wie auch Gemeinschaften auf dessen Vorhandensein reagiert haben, hat sich seit der Ankunft der ersten Europäer in jenen Landstrichen Nordamerikas, aus denen schließlich die Vereinigten Staaten von Amerika werden sollten, fortwährend gewandelt. Es muss außerdem klar sein, dass wir weit davon entfernt sind, das letzte Kapitel in der Geschichte des religiösen Pluralismus Amerikas zu schreiben. Vielmehr ähneln all jene, die sich mit dem amerikanischen religiösen Pluralismus auseinandersetzen, Theaterkritikern, die ein ständig im Wandel begriffenes Ensemble von Darstellern und Figuren kritisch dabei mustern, wie sie spielend ein Drama entfalten, dessen letzte Szene noch nicht geschrieben worden ist.

23 Robert C. Fuller, Spiritual but not Religious: Understanding Unchurched America, New York 2001.

Wie viel Religion verträgt eine offene Gesellschaft? Möglichkeiten und Grenzen religiöser Einflussnahme in demokratischen Verfassungen Jürgen Kühling

1.

Einleitung

Kaiser Konstantin genoss nach römischer Tradition göttliche Verehrung. Vor der Schlacht am Ponte Milvio im Jahre 312. n. Chr. (gegen seinen Konkurrenten Maxentius) erschien ihm am Himmel ein Engel mit einem Kreuz. Dazu in leuchtenden Buchstaben die Verheißung: „In hoc signo vinces.“ Konstantin wurde Christ, gewann die Schlacht und erhob das Christentum zur Staatsreligion. Sein Bündnis mit der christlichen Kirche war zunächst ein Erfolgsrezept. Die neue Staatsreligion trug wesentlich dazu bei, das Römische Reich zusammenzuhalten. Risiken und Nebenwirkungen wurden später sichtbar: Machtkämpfe zwischen Kaisern und Päpsten, Schismen, Religionskriege, Kreuzzüge, Ketzerverfolgungen, Pogrome, Meinungsterror, die Unterdrückung freier Wissenschaft. Die Verhältnisse ändern sich, doch die Geschichte wirkt fort. Die christlichen Kirchen sind trotz sinkender Mitgliederzahlen nach wie vor allgegenwärtig: In den Medien, an den Schulen, sie betreiben Kindergärten, Krankenhäuser, Altenheime. Sie erheben Steuern. Sie üben politischen Einfluss aus. Daneben gewinnen andere Religionen Einfluss. In das vertraute Glockengeläut mischt sich hier und da die Stimme des Muezzin. Wie viel Religion verträgt unsere Gesellschaft?

2.

Nutzen für Staat und Gesellschaft

Bevor ich die Frage nach der Verträglichkeit aufwerfe, muss nach dem Nutzen gefragt werden. Also: Wie viel Religion braucht unsere Gesellschaft? Das Bedürfnis nach Religion scheint dem Menschen ebenso eingepflanzt zu sein wie das Streben nach Wahrheit und Sinn. Wir suchen nach Wegen zu unserem Schöpfer, möchten ihn erkennen und von ihm erkannt werden. Wir wünschen uns Beistand und Trost, Entlastung von Schuld und Weisungen für ein gutes Leben. Antworten finden wir zumeist in der Religion, in die wir hineingeboren

378

Jürgen Kühling

sind. Neben den großen Religionen gibt es ein breites Spektrum von Sekten, Ersatzreligionen, Religionsersatz, Propheten, Wahrsagern und Wundertätern, bei denen wir unser Heil suchen. Ich sage wir, weil ich meine, dass allen Menschen, also auch Gottlosen und Agnostikern ein Körnchen Sehnsucht nach Geborgenheit in einem göttlichen Ratschluss innewohnt. Die in unserer Gesellschaft wirkenden Religionen geben ihren Anhängern diese Geborgenheit. Bei ihnen finden die Gläubigen Antworten auf die Fragen nach Ursprung und Sinn. Die Glaubensgemeinschaften stiften Zusammengehörigkeit und Konsens. Religiöse Feiertage strukturieren den Ablauf der Jahre, religiös inspirierte Kunst ist einer der größten Schätze der Menschheit. In Kirchen, Tempeln und Moscheen, in Bildergalerien und Konzertsälen stehen wir überwältigt von den Wundern, die unsere Religionen im Laufe der Jahrhunderte real vollbracht haben. Ohne die Religionen wären wir um so viel ärmer, wären so viele Menschen um so viel ratloser. Braucht unsere Gesellschaft Religion? Ja, so ist es. Braucht ein freiheitlich verfasster Staat die Religion? Wolfgang Böckenförde hat den Satz geprägt, der Staat könne die Voraussetzungen seiner Existenz nicht selbst schaffen. Schaffen die Religionen, insbesondere die christlichen Kirchen, diese Voraussetzungen? Sicher haben sie einen unschätzbaren Beitrag zur Heranbildung des moralischen Fundaments unserer Lebensweise geleistet, ohne die wir uns ein Funktionieren des Staates nicht vorstellen können. Die christliche Moral hat über die Jahrhunderte hinweg die intakte Familie etabliert, den Schutz des Eigentums verankert, soziale Fürsorge und Verträglichkeit unter Mitbürgern eingefordert und schließlich auch den Respekt vor der Obrigkeit gelehrt. Max Weber hat mit seiner Entdeckung der protestantischen Ethik ein wirksames Fundament unserer Leistungsgesellschaft aufgezeigt.1 Hubert Treiber beschreibt die christlichen Klöster als eine der „Fabriken des modernen Menschen“, die den Bürger hervorgebracht haben, der in geordneten Tagesläufen harte Arbeit vollbringt und damit Güter über den täglichen Bedarf hinaus schafft.2 Die Frage, ob ein freiheitlich verfasster, egalitärer und sozialer Rechtsstaat ohne die viel zitierte christlich-abendländische Grundlage hätte entstehen können, ist schwer zu beantworten. Das gilt, obwohl die Demokratie in der heidnischen – freilich keineswegs areligiösen – Antike ihre Wurzeln hat und obwohl die Beseitigung autokratischer und ständischer Strukturen, die Gewährleistung von Freiheitsrechten, die Emanzipation der Frau durchgängig gegen den Widerstand der Kirchen erkämpft worden sind. Doch das ist Geschichte. Gehört die Religion, gehören die christlichen Kirchen heute noch zu den Grundpfeilern unseres Staates? Würde unser Staat, wie er im Grundgesetz ausgeformt ist, 1 2

Vgl. Max Weber, Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus, Textausgabe, hg. und eingeleitet von Klaus Lichtblau und Johannes Weiß, 3. Auflage Weinheim 2000. Hubert Treiber / Heinz Steinert, Die Fabrikation des zuverlässigen Menschen. Zur „Wahlverwandtschaft“ zwischen Kloster- und Fabrikdisziplin, München 1980.

Wie viel Religion verträgt eine offene Gesellschaft?

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Schaden leiden, wenn die Religion ihren Einfluss auf die Menschen verlöre? Diese aktuelle Frage scheint mir leichter zu beantworten zu sein als die Frage nach den Ursprüngen. Ich sehe, um eine kurze und thesenhafte Antwort zu geben, eine solche Abhängigkeit nicht. Der Einfluss der Kirchen schwindet seit langem unaufhaltsam dahin, ohne dass sich daraus negative Folgen für die Funktionsfähigkeit der Demokratie ergeben hätten. Als Schutz vor faschistischen Diktaturen haben sich die Kirchen nicht sonderlich bewährt, wie die Beispiele der Naziherrschaft und des Franco-Regimes zeigen. Die bürgerliche Moral basiert heute auf säkularen Quellen, auf philosophischen Erkenntnissen, auf Aufklärung und rationalen Ethiken und wird durch eine in den Grundzügen allgemein akzeptierte, weil demokratisch legitimierte Rechtsordnung stabilisiert. Vergleiche zwischen Ländern mit stärkeren und schwächeren religiösen Bindungen der Bevölkerung führen nicht zu Ergebnissen, die die Religion als unentbehrliches Fundament des modernen Staates ausweisen oder auch nur nahe legen. Kurz: Existenz und Gedeihen des freiheitlichen Rechtsstaates basiert nicht auf der Existenz von Kirchen oder anderen Religionsgemeinschaften.

3.

Verträglichkeit von Staat und Religionen

3.1

Maßstab und Problembereiche

Der Maßstab für die Verträglichkeit von Religion und Staat ergibt sich aus der Verfassung. Sie beruht auf einem Menschenbild, das ohne religiöse Wahrheiten auskommt und im Wesentlichen auf den Grundideen der Aufklärung beruht. Die Würde des Menschen ist unantastbar, heißt es in Art. 1 Abs. 1 GG. Es folgen die elementaren Freiheitsrechte, wie sie zuerst in der Bill of Rights der USamerikanischen Verfassung rechtsverbindlich festgelegt worden sind. Dazu gehören das Recht auf Freiheit der Person und freie Entfaltung der Persönlichkeit, die Religions- und Gewissensfreiheit, die Meinungs- und Pressefreiheit, die Versammlungs- und Koalitionsfreiheit, die Berufsfreiheit, der allgemeine Gleichheitsgrundsatz und besondere Benachteiligungsverbote, der Schutz von Ehe und Familie. Ich beschränke mich in meinen folgenden Ausführungen darauf, die Verträglichkeitsfrage anhand des Grundrechtskatalogs zu beantworten. Darin liegt eine gewisse Vereinfachung, weil es auch im staatsrechtlichen Teil der Verfassung Parameter gibt, an denen Wirkungen und Einfluss der Religionsgemeinschaften zu messen sind. So hat etwa das Bundesverfassungsgericht ein Kirchengesetz über die Ausübung des Mandats durch Pfarrer an Art. 48 Abs. 1 GG gemessen, wonach niemand daran gehindert werden darf, das Amt eines Abgeordneten zu übernehmen. Diese Aspekte bleiben hier unbeachtet. Sie scheinen mir auch von sekundärer Bedeutung zu sein. Entscheidend ist vielmehr, wie sich das Wirken und der Einfluss der Religionsgemeinschaften mit den Freiheits-

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Jürgen Kühling

rechten der Bürger vertragen. Dabei gilt es zu beachten, dass das Grundgesetz selbst den Religionsgemeinschaften ein sehr weitgehendes Selbstbestimmungsrecht verleiht und dass sie selbst in ihrem Wirken und in ihrer Organisation durch Art. 4 Abs. 1 GG, die Religionsfreiheit, geschützt sind. Wo liegen heute, nachdem die Zeit der Religionskriege, Kreuzzüge und des christlichen Antisemitismus jedenfalls in Europa überwunden zu sein scheint, die Probleme? Ich nenne ein paar, die wichtigsten, wie ich hoffe: Unsere Kirchen – sind bestrebt, ihre Moral über staatliche Sanktionen für alle verbindlich zu machen, – beanspruchen ein ungerechtfertigtes Maß an Autonomie, – bedienen sich staatlicher Institutionen, um ihren Einfluss zu sichern und auszubauen, – beanspruchen in ungebührlichem Maß finanzielle Unterstützung durch den Staat, – fordern ein Höchstmaß an Religionsfreiheit für sich, tun sich aber schwer mit der Religionsfreiheit der anderen.

3.2

Kirchliche Moral und staatliche Gesetzgebung

Die großen monotheistischen Religionen leiten Forderungen an das Verhalten der Menschen, und ihre Moral, aus göttlicher Offenbarung ab. Christen und Moslems folgern daraus ihre Allgemeingültigkeit. Ich beschränke mich bei der Behandlung dieses Problems auf die christlichen Kirchen, die jedenfalls bei uns bestrebt sind, ihre Wahrheit für alle verbindlich zu machen, ihre Moral mit Hilfe des Staates auch denen aufzuerlegen, die sich ihr nicht durch Glauben verpflichtet fühlen. Es handelt sich dabei, wenn ich recht sehe, um ein Nachhutgefecht um den alten Universalitätsanspruch der Kirche, der eine verbindliche Sinngebung und Orientierung für das ganze Gemeinwesen und den Staat einschloss. Noch im 19. Jahrhundert ist leidenschaftlich um eine entsprechende Rolle der Kirche im Staat gerungen worden, doch schon damals war die Zeit darüber hinweggegangen.3 Ob die Kirche selbst diesen Anspruch noch offiziell aufrechterhält, vermag ich nicht zu sagen. Der Streit um die Verankerung Gottes in der Präambel der Europäischen Verfassung deutet darauf hin, dass die christlichen Kirchen sich im säkularen Staat noch immer nicht eingerichtet haben und die staatliche Ordnung in die göttliche Ordnung eingebettet sehen, für die sie das Deutungsmonopol in Anspruch nehmen. Wir haben die Attacken der christlichen Kirchen gegen alle Liberalisierungsansätze des Schwangerschaftsabbruchs noch in gu3

Vgl. Otto Depenheuer, Auf der Suche nach der verlorenen Einheit. Carl Ernst Jarcke und die religiöse Fundierung von Recht und Staat. In: Stefan Muckel (Hg), Kirche und Religion im sozialen Rechtsstaat, Festschrift für Wolfgang Rüfner, Berlin 2003, S. 111 ff.

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ter Erinnerung, ebenso den innerkirchlichen Kampf um die katholischen Beratungsstellen. Man muss sich vor Augen führen, dass die katholische Kirche in der Abtreibungsfrage strafrechtliche Sanktionen gegen die abtreibende Frau und ihren Arzt verlangt und sich mühsam damit abgefunden hat, dass das Bundesverfassungsgericht nur die Rechtswidrigkeit sämtlicher Abbrüche aus dem Grundgesetz ableitet (BVerfGE 88, 203 ). Strafrecht für die Durchsetzung eines göttlichen Gebots einzufordern, heißt aber nichts anderes als den weltlichen Arm für geistliche Wahrheit zu bemühen, wie das in Ketzerprozessen zu geschehen pflegte. Mit einer Strafdrohung sind gravierende Eingriffe in die Freiheitsrechte verbunden, schon der Verfolgungsdruck zwang viele Frauen zu der oft lebensgefährlichen Inanspruchnahme von Engelmachern und Kurpfuschern. Zur Zeit erleben wir christliche Attacken gegen die staatliche Anerkennung und gesetzliche Regelung homosexueller Partnerschaften und gegen deren Recht auf Adoption von Kindern. Die Kirchen verteidigen dabei die Heiligkeit der heterosexuellen Ehe und die gottgewollte Beschränkung der Sexualität auf diese Form des Zusammenlebens. In den Vereinigten Staaten wird der Kampf gegen AIDS unter kirchlichem Einfluss mit einer Kampagne für sexuelle Abstinenz geführt, die übrigens auch in staatlichen Schulen im Rahmen des Sexualkundeunterrichts gepredigt wird. Niemand kann den christlichen Kirchen ihren Anspruch streitig machen, die ihnen offenbarte Wahrheit als universell gültig zu betrachten und sie allen Menschen mit dem Ziel zu verkünden, ihr Leben danach zu ordnen. Aber eine offene Gesellschaft und ein demokratischer Rechtsstaat kann nicht auf die Durchsetzung dieser Wahrheit verpflichtet werden. Man muss unterscheiden: Ganz unbedenklich und legitim ist es, wenn die Kirchen im öffentlichen Diskurs Abtreibung, außerehelichen Geschlechtsverkehr, Homosexualität und Promiskuität anprangern und verdammen. Nicht akzeptabel ist es hingegen, wenn die Kirchen ihren Einfluss dahin geltend machen oder die ihnen angehörenden Abgeordneten darauf verpflichten, ihre Gebote und Verbote mit Staatsmacht durchzusetzen. Denn das Grundgesetz verpflichtet den Gesetzgeber auf die Wahrung der Freiheitsrechte seiner Bürger. Das bedeutet: Eingriffe in die Freiheit der Person oder in die freie Entfaltung der Persönlichkeit sind nur zulässig, soweit sie zum Schutz entsprechend gewichtiger Gemeingüter geeignet, erforderlich und zumutbar, d. h. maßvoll sind. Göttliche Gebote sind für sich genommen keine solchen Gemeingüter. Das gilt für die Heiligkeit der Ehe ebenso wie für eine christliche Sexualmoral oder für den Embryonenschutz. Das mag frivol klingen, kann aber heute angesichts der vielfältigen, teilweise höchst widersprüchlichen göttlichen Offenbarungen selbst der großen monotheistischen Religionen und des dem Staat auferlegten Neutralitätsgebots doch mit Akzeptanz rechnen. Religionsgemeinschaften, die staatliche Sanktionierung ihrer auf Offenbarung gründenden Gebote fordern, missachten daher die Freiheitsrechte der Bürger. In einem auf die Freiheit des Individuums gegründeten Staat darf niemand im

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Namen göttlicher Gebote in seinen Rechten beschränkt, geschweige denn strafrechtlich verfolgt werden. Wenn die Kirchen, gestützt auf ihr Verständnis von der Heiligkeit der Ehe, die Legalisierung homosexueller Partnerschaften bekämpfen, fordern sie staatliche Beschränkungen des Grundrechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, dem die in säkularem Verfassungsverständnis begründete Regelung dient. Offenbarte Gebote können durchaus mit wichtigen Gemeinschaftsgütern inhaltlich ganz oder teilweise übereinstimmen. Das gilt etwa für den Schutz des Fötus, der nach – fragwürdiger – Auffassung des Bundesverfassungsgericht sogar den absoluten Schutz des Art. 1 Abs. 1 GG genießt, mit der Folge, dass die entgegenstehenden Rechte der betroffenen Frau nicht mehr ins Gewicht fallen (BVerfGE 88, 203 ). Ehe und Familie genießen nach Art. 6 Abs. 1 GG den „besonderen Schutz des Staates“. Soweit diese Übereinstimmung reicht, ist es natürlich legitim, wenn sich Religionsgemeinschaften am Diskurs über einschlägige Gesetze beteiligen. Das gilt umso mehr, als die Übereinstimmungen teilweise – so etwa bei den Institutionen der Ehe und Familie – auf christliche Traditionen oder Einflüsse zurückgehen. Doch stellt sich auch bei derartigen Interventionen die Frage nach der Verträglichkeit. Denn der Standpunkt, den die Religionsgemeinschaften dabei einnehmen – ihre Orientierung und ihr Ziel – ist in ihrem Universalitätsanspruch begründet. Sie bedienen sich des verfassungsrechtlichen Argumentationshaushalts, meinen aber nicht die säkulare Wertordnung des Grundgesetzes, sondern die von ihnen kraft Offenbarung verkündeten Gebote einer göttlicher Ordnung. Das mag spitzfindig erscheinen, doch wird die Relevanz des Einwandes deutlich, wenn man sich vorstellt, islamische Religionsgemeinschaften oder orthodoxe Juden würden sich, geleitet von ihrem Bild von Ehe und Familie, an einer Diskussion um die Verbesserung der Stellung der Frau in der Familie, die Regelung homosexueller Partnerschaften oder des Scheidungsrechts beteiligen, oder eine Wiedereinführung der Strafbarkeit des Ehebruchs fordern. Die mehr oder weniger offene Erhebung des Universalitätsanspruchs fügt sich nicht in einen Staat, der seiner Rechtssetzung eine materielle Bindung an die Grundrechte seiner Bürger auferlegt. Religiös begründete Gebote und Verbote können keinen Strafanspruch des Staates legitimieren, dürfen unser Eheund Familienrecht nicht bestimmen. Den Religionsgemeinschaften ist es dagegen unbenommen, ihre Gläubigen auf die ihnen offenbarte Ordnung zu verpflichten, solange sie keinen psychischen Zwang ausüben. Denn davor muss der Staat in Erfüllung seines in den Grundrechten verankerten Schutzauftrages alle Bürger bewahren. Für eine Gesellschaft der Frommen ist unser Staat offen. Doch die Rechte auch des letzten Ungläubigen sind unantastbares Gut unserer Verfassung.

Wie viel Religion verträgt eine offene Gesellschaft?

3.3

383

Autonomie der Religionsgemeinschaften

Das Grundgesetz garantiert allen Religionsgemeinschaften, ihre eigenen Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes zu ordnen und zu verwalten (Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 3 WeimV). Aus dieser an sich vernünftigen Regelung haben sich die Kirchen unter tätiger Mithilfe des Bundesverfassungsgerichts einen Autonomiebereich erkämpft, der die Grenzen des Verträglichen weit überschreitet. Das gilt vor allem für die Gestaltung des Verhältnisses zwischen ihnen als Arbeitgeber und den Mitarbeitern in den kirchlichen Einrichtungen. Dazu muss ich etwas weiter ausholen. Die verfassungsrechtliche Gewährleistung der Kirchenautonomie ist funktional auf die Inanspruchnahme des Grundrechts der Religionsfreiheit angelegt. Das Selbstverwaltungsrecht der Kirchen steht nicht nur den Kirchen selbst, sondern auch allen ihren Einrichtungen zu, soweit sie nach kirchlichem Selbstverständnis ihrem Zweck oder ihrer Aufgabe entsprechend berufen sind, ein Stück des Auftrages der Kirche wahrzunehmen. Nach dem Selbstverständnis der Kirchen umfasst Religionsausübung auch die Freiheit zur Entfaltung und Wirksamkeit in der Welt. Das karitative Wirken ist als tätige Nächstenliebe eine wesentliche Aufgabe der Christen und wird von ihnen als Grundfunktion verstanden. Inhaltlich können die Kirchen im Rahmen ihres Selbstbestimmungsrechts auch festlegen, in welcher Form die Beschäftigung in ihren Einrichtungen stattfinden soll. Sie können sich dabei der Privatautonomie bedienen und damit – als Folge dieser Rechtswahl – auch das staatliche Arbeitsrecht zur Anwendung bringen. Die Geltung des Arbeitsrechts hebt das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen aber nicht auf. Das „spezifisch Kirchliche, das kirchliche Proprium“ bleibt dem staatlichen Recht auch in diesem Bereich übergeordnet. Die Kirchen können bei der Gestaltung der Arbeitsverhältnisse das Leitbild einer christlichen Dienstgemeinschaft aller ihrer Mitarbeiter zugrunde legen. Dazu gehört auch die Beachtung jedenfalls der tragenden Grundsätze des kirchlichen Glaubens- und Sittenlehre. Die Maßstäbe dafür setzt die Kirche selbst.4 Das Bundesverfassungsgericht hält es für „verfassungsrechtlich geboten“, dass der Staat die kirchlichen Einrichtung vom Betriebsverfassungsrecht ausnimmt. Dahinter steht die Anerkennung der These, dass auch in den kirchlichen Einrichtungen abhängige Arbeit nur im Rahmen einer so genannten Dienstgemeinschaft geleistet wird, bei der es um die Verwirklichung des geistlichen Auftrages in dieser Welt gehe. Die Besonderheit des Dienstes in einem Krankenhaus der Charitas soll darin liegen, dass bei der Behandlung der Kranken das spezifisch Religiöse karitativer Tätigkeit im Blick bleibt, „das die Behandlung der Kranken durchdringt, sich im Geiste des Hauses, in der Rücksicht auf die im Patienten angelegten religiös-sittlichen Verantwortungen und Bedürfnisse, im Angebot sakramentaler Hilfe usw. und damit notwendigerwei4

Vgl. BVerfGE 70, 138 .

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se auch im Organisatorischen niederschlägt.“5 Im Windschatten dieser Entscheidung haben sich sowohl die katholische Kirche als auch die evangelischen Kirchen ein eigenes Mitwirkungsmodell geschneidert, das den Arbeitnehmern deutlich weniger Rechte einräumt als das staatliche Betriebsverfassungsrecht. Andererseits sehen sich die auf ihre geistliche Mission pochenden Einrichtungen nicht gehindert, aus Kostengründen Teilbereiche der Einrichtungen auszugliedern und damit aus der Dienstgemeinschaft zu entlassen. Im Kündigungsschutzrecht wird den Kirchen zugebilligt, sich von Arbeitnehmern zu trennen, die wichtige Glaubenssätze nicht beachten. Dabei bleibt es den Kirchen selbst überlassen, verbindlich zu bestimmen, was die Glaubwürdigkeit der Kirche und ihrer Verkündigung erfordert, was spezifisch kirchliche Aufgaben sind, was Nähe zu ihnen bedeutet, welches die wesentlichen Grundsätze der Glaubens- und Sittenlehre sind und was als Verstoß gegen sie anzusehen ist. Diese Weisung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1977 befolgen die Arbeitsgerichte bis heute so treu und gehorsam, dass die Kirchen keinen Anlass hatten, erneut in einer Kündigungsschutzsache das Bundesverfassungsgericht anzurufen. Zu den von staatlichen Gerichten somit exekutierten Kündigungsgründen gehören u. a. der Kirchenaustritt jedweden Mitarbeiters in kirchlichen Einrichtungen und die standesamtlich geschlossene Ehe eines katholischen Mitarbeiters mit einem kirchlich getrauten geschiedenen Partner, da diese Ehe nach kirchlichem Recht ungültig ist, der Mitarbeiter mithin im Status der Sünde lebt. Ein katholischer Arbeitnehmer, der eine eingetragene gleichgeschlechtliche Partnerschaft eingeht, verletzt ebenfalls eine arbeitsvertraglichen Loyalitätspflicht. Dasselbe gilt für einen Assistenzarzt in einer katholischen Klinik, der sich öffentlich für das geltende Abtreibungsrecht einsetzt.6 Auch in evangelischen Einrichtungen kann die Missachtung der Ehe als der von Gott gestifteten Lebensordnung Konsequenzen für den Bestand des Arbeitsverhältnisses haben.7 Diese Rechtsprechung stehe, so wird argumentiert, nicht im Widerspruch zu Art. 6 Abs. 1 GG, der Ehe und Familie dem besonderen staatlichen Schutz unterstellt. Diese Verfassungsnorm werde nicht beeinträchtigt, weil die kirchliche Sicht der Ehe geeignet sei, den Schutzgedanken des Art. 6 Abs. 1 GG zu bekräftigen; die Unauflöslichkeitsforderung stärke die Institutionalisierung der Ehe.8 Nach dem Selbstverständnis der Kirchen darf in ihren Einrichtungen nicht gestreikt werden. Dies sei, so wird argumentiert, mit dem Prinzip der Dienstgemeinschaft unvereinbar, für die der Grundsatz der Nächstenliebe maßgeblich sei. Ihre Entgeltstruktur legen die Einrichtungen in eigener Regie auf dem so genannten „Dritten Weg“ fest. Bestenfalls bedeutet das, dass aus Arbeitnehmern und Arbeitgebern paritätisch besetzte Gremien die Regelungen treffen. 5 6 7 8

BVerfGE 46, 73 . BVerfGE 70, 138 . Reinhard Richardi, Arbeitsrecht in der Kirche, 3. Auflage München 2000, § 7 Rz 28. Ebd., § 7 Rz 46 unter Hinweis auf BAG AP Nr. 2 zu Art. 140 GG.

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Für den Nichteinigungsfall gibt es eine Zwangsschlichtung oder – so im katholischen Bereich – ein Machtwort des Bischofs. Mit diesem Anspruch haben sich – ebenfalls mit Blick auf die überaus kirchenfreundliche Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – die Kirchen bis heute praktisch ungestört behauptet. Ein Grund dafür ist sicherlich, dass die kirchlichen Lohnsetzungen weitgehend dem BAT entsprachen. Das ändert sich mittlerweile, und hin und wieder wagen die Gewerkschaften den Konflikt. Sie sind aber in den Einrichtungen schlecht vertreten und können schon deswegen kaum wirksamen Druck ausüben. Es gibt in Deutschland deshalb keinen Tarifabschluss für katholische Einrichtungen und auch die Protestanten lassen sich – mit Ausnahme der nordelbischen Kirche – auf Tarifverhandlungen erst gar nicht ein. Eine Autonomie der Religionsgemeinschaften „in den Schranken der für alle geltenden Gesetze“ ist mit unserem freiheitlich verfassten Staat uneingeschränkt vereinbar. Doch übersteigt die Ausweitung, die dieses Recht im Laufe der Entwicklung genommen hat, das Maß des Erträglichen bei weitem. Ein Kardinalfehler des Bundesverfassungsgerichts war die vollständige Erstreckung des Selbstbestimmungsrechts der Religionsgemeinschaften auf ihre Einrichtungen. In diesen Einrichtungen sind über eine Million Arbeitnehmer tätig. Es ist nicht hinzunehmen, dass diese Arbeitsplätze in erster Linie den Glaubensgenossen der Religionsgemeinschaft vorbehalten sind, die die Einrichtung trägt. Die Arbeitnehmer in diesen Einrichtungen werden in den allen Bürgern durch Gesetz zugebilligten Entfaltungsmöglichkeiten – Mitbestimmung, Eheschließung, Partnerschaftsbeziehungen – beschränkt. Die Ausübung der Koalitionsfreiheit wird ihnen im entscheidenden Punkt, dem Arbeitskampf, verwehrt, die in Art. 9 Abs. 3 GG garantierte Tarifautonomie der Tarifvertragsparteien findet dort nicht statt, die Meinungsfreiheit ist eingeschränkt.9 Von der Sache her war und ist die Einbeziehung der Einrichtungen in die Kirchenautonomie unbegründet. Die dort geleistete Arbeit unterscheidet sich nicht von der in staatlichen oder privaten Einrichtungen.

3.4

Verbreitung der Lehre mit staatlicher Hilfe

Die christlichen Kirchen und Religionsgemeinschaften bemühen sich darum, Ungläubige und auch Andersgläubige für das Christentum zu gewinnen und ihre Anhänger im Glauben zu festigen. Sie berufen sich dabei u. a. auf den Taufbefehl, der sie auffordert, hinaus in alle Welt zu gehen und die Heilslehre zu verbreiten. Diese Bemühungen sind als Ausübung der Religionsfreiheit geschützt und in jeder Hinsicht unbedenklich. Die Zeiten, in denen unterdrückte Völker und andersgläubige Minderheiten zur Taufe gezwungen wurden, sind 9

Vgl. Jürgen Kühling, Arbeitskampf in der Diakonie. In: AuR, (2001), S. 241 ff.; dagegen Richardi/Gregor Thüsing, Kein Arbeitskampf in der Diakonie. In: AuR, (2002), S. 94 ff.

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gottlob vorbei. Bedenklich ist aber Art und Ausmaß, in dem die Kirchen staatliche Hilfe dabei in Anspruch nehmen. Nach Art. 7 Abs. 3 GG ist der Religionsunterricht ordentliches Lehrfach an den öffentlichen Schulen. Er ist in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften zu erteilen. Die Erziehungsberechtigten haben aber das Recht, über die Teilnahme ihres Kindes zu bestimmen (Art. 7 Abs. 1 GG). Ob diese Regelung heute noch zeitgemäß ist, will ich hier nicht erörtern. Ich zweifle auch nicht daran, dass sie mit einer offenen Gesellschaft und einem freiheitlichen Staat vereinbar ist. Religionen sind ein prägendes Element unserer Kultur, ein vielleicht notwendiger, jedenfalls bedeutender Integrationsfaktor. Der Staat darf Religionen aktiv fördern. Allerdings muss er dabei Neutralität wahren. Das Bundesverfassungsgericht spricht von einer wohlwollenden Neutralität. Neutralität muss dabei selbstverständlich auch gegenüber den Agnostikern aller Provenienz gewahrt werden. Die Religionsfreiheit gilt für Gläubige und Ungläubige in gleicher Weise. Damit können unsere Kirchen sich aber bis heute nicht abfinden. Im Streit um das Fach LER (Lebensgestaltung Ethik Religionskunde) an den öffentlichen Schulen in Brandenburg haben die Kirchen ihr – für die neuen Bundesländer umstrittenes – Recht auf Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach mit großem Nachdruck eingefordert, obwohl ihre Mitgliederzahl im einstelligen Bereich liegt. Als gegen Ende der 60er Jahre die Teilnahme am Religionsunterricht erheblich abnahm, reagierten die Länder darauf mit der Einrichtung eines Ethikunterrichts als Ersatzunterricht. Die Schüler, die sich vom Religionsunterricht abgemeldet haben, sind zur Teilnahme verpflichtet. Der Ersatzunterricht wurde geflissentlich für Lehrer und Schüler unattraktiv gehalten, die Stunden fanden und finden gewöhnlich am Nachmittag statt. Das durchsichtige Ziel ist, den Schülern die Abmeldung vom Religionsunterricht zu vergällen. Ein kleiner Kulturkampf, in dessen Mittelpunkt diesmal das Bundesverfassungsgericht stand, entspann sich, als das Gericht im Jahre 1995 das bekannte Kruzifixurteil erließ. Danach verstößt die Anbringung eines Kreuzes oder Kruzifixes in den Unterrichtsräumen einer staatlichen Pflichtschule, die keine Bekenntnisschule ist, gegen Art. 4 Abs. 1 GG. Der Ministerpräsident des Freistaates Bayern verdammte in öffentlichen Auftritten zusammen mit kirchlichen Würdenträgern die Entscheidung und brachte schleunigst ein Schulgesetz mit dem Ziel auf den Weg, das Urteil auszumanövrieren. Nach der Neuregelung ist das christliche Symbol jetzt auch in Gymnasien vorgeschrieben, solange kein Erziehungsberechtigter Einwendungen dagegen erhebt. Es bedurfte eines Urteils des Bundesverwaltungsgerichts, um zu erreichen, dass jedenfalls kein besonderer Rechtfertigungszwang für die reklamierenden Eltern besteht, die ihre Kinder mit ihrer Intervention ohnehin häufig Anfeindungen im Schulbereich aussetzen.10

10 BVerwGE 109, 40.

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Im Streit um das muslimische Kopftuch verabschieden sich z. Z. mehrere Bundesländer in geradezu niederschmetternder Weise vom Neutralitätsgebot. Der Streit hatte sich daran entzündet, dass die Kultusministerin ohne gesetzliche Grundlage und ohne erkennbare konkrete Anlässe einer Lehramtsanwärterin die Einstellung verwehrte, weil sie sich aus religiösen Gründen verpflichtet sah, auch während des Unterrichts das Kopftuch zu tragen. Inzwischen hat das Bundesverfassungsgericht diese Entscheidung als verfassungswidrig aufgehoben, es den Ländern aber anheim gegeben, die Frage durch Gesetz zu regeln. Unmissverständliche Vorgabe ist dabei die Wahrung des Neutralitätsgebots: Die Länder können entweder den Lehrer das Tragen jedweder religiösen Symbole verbieten oder allen alles erlauben. Die Länder haben sich sofort an die Arbeit gemacht. Manche halten sich an die Vorgabe aus Karlsruhe und verbieten nun konsequent alle religiösen Symbole. Andere, darunter auch BadenWürttemberg, versuchen in gewundenen Formulierungen das Kopftuch als Zeichen für den politischen Islamismus und ein grundgesetzwidriges Frauenbild zu verbieten, christlich-abendländischen Symbole hingegen zuzulassen. Das Bundesverwaltungsgericht hat diese Regelung inzwischen durchgehen lassen. Aus den Entscheidungsgründen geht jedoch hervor, dass auch die Zugehörigkeit zu einer christlichen Glaubensgemeinschaft im äußeren Erscheinungsbild des Lehrers nicht auffällig bekundet werden darf.11 Es bleibt abzuwarten, ob die Schulbehörden des Landes Baden-Württemberg nun auch die Nonnentracht von Lehrerinnen an öffentlichen Schulen untersagen werden. Eine Äußerung der Kultusministerin, dabei handele es sich um eine Berufstracht, deutet in die gegenteilige Richtung. So unbedenklich es ist, wenn der Staat den Religionsgemeinschaften in seinen öffentlichen Schulen oder in Rundfunkanstalten Gelegenheit zur Verbreitung ihrer Lehre gibt, so zwingend ist diese wohlwollende Grundhaltung an das Gebot der Neutralität gebunden. Im Konkurrenzkampf der beiden großen christlichen Kirchen gibt es da wenig zu beanstanden, sie sind immer noch stark genug, sich ihren Anteil zu sichern. Die freien Weltanschauungsgemeinschaften werden jedoch noch immer stiefmütterlich behandelt. Mit dem Anwachsen des islamischen Bevölkerungsteils gewinnt das Neutralitätsgebot enorm an Bedeutung. Wenn die Hüter unserer Verfassung, d. h. alle staatlichen Stellen, ihnen nicht dieselbe Unterstützung zukommen lassen oder sie sogar – wie etwa im Kopftuchstreit – offen diskriminieren, drohen erhebliche Konflikte. Was folgt daraus für die Frage nach der Verträglichkeit? Einleuchtend und erträglich ist es, wenn Religionsgemeinschaften staatliche Hilfe bei der Verbreitung und Vertiefung ihrer Lehre annehmen, Worte zum Sonntag sprechen, den Religionsunterricht mitgestalten, theologische Lehrstühle besetzen, sich Akademien und Tagungsstätten und Kindergärten mitfinanzieren lassen. Unerträglich sind jedoch ihre Interventionen dagegen, dass Andersgläubigen dieselben Wohltaten zugestanden werden; wenn sie staatliche Hilfe gegen die Abmeldungen 11

BVerwG, Urteil vom 24.06.04 – 2 C 45.03.

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vom Religionsunterricht in Anspruch nehmen; wenn sie in ihren Kindergärten auch die Kinder ungläubiger oder andersgläubiger Eltern zu missionieren versuchen; wenn sie Kruzifixe in den öffentlichen Schulen fordern, Nonnen im vollen Habit dort unterrichten lassen und gleichzeitig einer muslimischen Lehrerin das Tragen eines Kopftuches untersagen lassen wollen, wie das etwa der Präses der EKD, Prof. Huber, jüngst in einer öffentlichen Erklärung getan hat.

3.5

Übermäßige Inanspruchnahme staatlicher Mittel

Die Religionsgemeinschaften werden in erheblichem Umfang vom Staat subventioniert. Bis zu einem gewissen Grade ist eine finanzielle Unterstützung unbedenklich. Sie kann aber das Maß des Erträglichen überschreiten, wenn sie einen im Vergleich zum Steuereinkommen und anderen Staatsausgaben unangemessenen Umfang annimmt. Das wird von Kritikern behauptet. So schreibt etwa Christian Sailer in seinem Aufsatz „Die staatliche Finanzierung der Kirchen und das Grundgesetz“:12 „Es gibt wenig Subventionsverhältnisse, die so schwer durchschaubar sind wie die staatliche Alimentierung der Kirchen. Die Grenzen zwischen echten Verbindlichkeiten und freiwilligen Zuwendungen sind fließend. Wie viel aus welchem Rechtsgrund und wofür bezahlt wird, ergibt sich aus einer Fülle von alten Edikten und Verfassungsurkunden, Kirchenverträgen und Konkordaten, Haushaltsansätzen und politischen Ermessensentscheidungen. Das Grundgesetz gebietet eine Flurbereinigung dieses Wildwuchses – durch die Ablösung altrechtlicher Leistungen für längst abgegoltene Säkularisationsverluste, durch die Anpassung späterer Verpflichtungen an die veränderten gesellschaftlichen Verhältnisse, durch die Verrechtlichung von Ermessenszuwendungen und durch die Stornierung der verfassungswidrigen Teile von Konkordaten und Kirchenverträgen. [...] In Deutschland erscheinen nur mehr 7 Prozent der Bevölkerung zum Sonntagsgottesdienst der so genannten Großkirchen. Formell gehören ihnen noch 66 Prozent der Bürger an, von denen sie rund 17 Milliarden (DM) Kirchensteuer beziehen. Daneben erhalten sie jährlich weitere 11,5 Milliarden Mark aus den Haushalten von Bund, Ländern und Gemeinden. Das kirchliche Grundstücks- und Kapitalvermögen wird auf mehrere hundert Milliarden Mark geschätzt, das Kapital- und Anlagevermögen der katholischen Kirche auf 80–100 Milliarden, mit jährlichen Kapitaleinkünften von rund 5 Milliarden Mark. Für öffentliche Sozialeinrichtungen (Kindergärten, Altenheime, Krankenhäuser) geben sie etwa 5–8 Prozent ihrer Kirchensteuereinnahmen aus. Den Rest bezahlen die privaten Nutzer, der Staat und die Krankenkassen.“

Für die als Körperschaften des öffentlichen Rechts verfassten christlichen Kirchen treiben unsere Finanzämter die Kirchensteuer ein, Angaben eines Kritikers zufolge insgesamt rund 8 Milliarden Euro. Darin liegt keine Inanspruchnahme öffentlicher Mittel, wohl aber die Inanspruchnahme der staatlichen Finanzämter als Einzugsstelle. Auf freiwilliger Basis könnten die Kirchen von ihren Mitgliedern niemals auch nur annähernd so hohe Beiträge erheben.

12 ZRP 2002, S. 80 ff.

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Ist das erträglich? Warum nicht? Jedes Kirchenmitglied kann sich der Steuerpflicht durch eine Austrittserklärung entziehen. Nachdem diese Erklärung inzwischen nicht mehr durch bürokratischen Hürden erschwert ist, kann die Freiwilligkeit der Kirchensteuer nicht mehr ernstlich in Frage stehen. Allerdings ist hier ein Blick zurück auf die dargelegten arbeitsrechtlichen Probleme zu werfen. Die rund 1 200 000 Arbeitnehmer in kirchlichen Einrichtungen setzen ihren Arbeitsplatz aufs Spiel, wenn sie aus ihrer Kirche austreten. Für sie kann daher von einer Freiwilligkeit keine Rede mehr sein. Die bereits geäußerten Bedenken gegen diese Loyalitätspflicht schlagen auch auf die Legitimität der Kirchensteuer durch. Ein weiterer Einwand kann sich aus der Neutralitätspflicht des Staates ergeben, der eine Gleichbehandlung aller Religionsgemeinschaften – also auch gleiche finanzielle Förderung – verlangt. Daran muss sich von Verfassungs wegen das Finanzgebaren des Staates gegenüber den Kirchen messen lassen. Dabei kann man getrost von Altlasten absehen, die als Ausgleichs- und Entschädigungsleistungen für die Enteignung des kirchlichen Grundbesitzes im Jahre 1803 (!) gezahlt werden. Im Übrigen gibt es keinen Grund, weshalb christliche Sekten oder islamische Gemeinschaften nicht – proportional – in demselben Maße subventioniert werden sollten wie die Großkirchen. Dass dies geschieht, steht freilich nicht zu erwarten. Damit wird es auf unabsehbare Zeit dabei bleiben, dass der säkulare Staat seine Neutralitätspflicht gegenüber den Religionsgemeinschaften in eklatanter Weise verletzt. Das ist auf Dauer nicht erträglich. In finanzpolitischer Hinsicht scheint mir das Maß des Erträglichen ohnehin bei weitem überschritten zu sein.

4.

Fazit

Misst man das Wirken der Religionsgemeinschaften, insbesondere der christlichen Großkirchen, am Grundrechtskatalog, dann ergeben sich erhebliche Friktionen und Widersprüche. Die Versuche, Grundsätze der christlichen Morallehre mit strafrechtlichen Mitteln durchzusetzen, sind mit Nachdruck zurückzuweisen. Der Strafanspruch des Staates gehört zu den schwersten Eingriffen in die Freiheitsrechte der Bürger und darf niemals aus metaphysischen Quellen hergeleitet werden, mögen sie noch so tief in der christlich-abendländischen Tradition verankert sein. Nicht hingenommen werden kann auf Dauer auch die Verletzung der Grundrechte von Arbeitnehmern in kirchlichen Einrichtungen. Es kann nicht dabei bleiben, dass der Zugang zu 1 200 000 Arbeitsplätzen vorrangig den Mitgliedern der großen Kirchen eröffnet ist, dass die dort Arbeitenden weitgehenden Beschränkungen ihrer Meinungsfreiheit und der freien Entfaltung ihrer Persönlichkeit unterliegen, dass ihre Koalitionsfreiheit auf null reduziert wird. Besonders schwer wiegen Parteinahmen des Staates für die christlichen Kirchen. Damit werden zugleich Grundrechte der Anders- und Ungläubigen und

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ihrer Religionsgemeinschaften verletzt. Schon jetzt zeichnet sich – in der Kopftuchfrage – ab, dass dadurch der innere Frieden in unserer Gesellschaft gefährdet ist. Schließlich kann es auch aus finanzpolitischen Erwägungen mit der übermäßigen Subventionierung der Kirchen schwerlich so weitergehen. Wie viel Religion verträgt eine offene Gesellschaft? Die mit dieser Frage eingeforderte Grenzziehung kann und will ich nicht vornehmen. Ob das Maß des Erträglichen schon erreicht oder gar überschritten ist, muss ich unbeantwortet lassen. Mit dem nachlassenden Einfluss der Kirchen und dem Rückgang ihrer Mitglieder werden sich die Probleme abschwächen. Ein höheres Maß an staatlicher Neutralität wird sich mit der wachsenden Bedeutung nichtchristlicher Religionsgemeinschaften unausweichlich einstellen. Das Bundesverfassungsgericht hat seine anfänglich übermäßige Kirchenfreundlichkeit längst aufgegeben, wie sich etwa an den Entscheidungen zum Kopftuch13 und zu den Zeugen Jehovas14 ablesen lässt. Ich vertraue darauf, dass unsere offene Gesellschaft, gesichert durch die Freiheitsrechte des Grundgesetzes, die jetzt noch bestehenden Beeinträchtigungen durch das Wirken der Religionsgemeinschaften immer weiter zurückdrängen wird. Alarmrufe sind also nicht angebracht. Es kann nur besser werden.

13 BVerfGE 108, 282. 14 BVerfGE 102, 370.

Muss man Religiosität respektieren? Jan Philipp Reemtsma

„Wo der Mensch sich nicht relativieren oder eingrenzen lässt, dort verfehlt er sich immer am Leben: zuerst Herodes, der die Kinder von Bethlehem umbringen lässt, dann u. a. Hitler und Stalin, die Millionen Menschen vernichten ließen, und heute, in unserer Zeit, werden ungeborene Kinder millionenfach umgebracht.“ So der Kölner Kardinal Joachim Meißner in einer Predigt. Der Satz erregte Aufsehen. Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Paul Spiegel, sprach von einer Beleidigung von Millionen von Holocaust-Opfern und von Frauen, die sich in einer Notlage entscheiden müssten. Der Kardinal sagte daraufhin, er sei missverstanden worden und ließ bei der Drucklegung seiner Predigt den Namen Hitler weg. Es wird unter Ihnen, meine Damen und Herren, wenige geben, die Meißners historische Reihenbildung billigen würden. Aber warum eigentlich? Weil es skandalös ist, die Ermordung von Millionen von Menschen gleichzusetzen mit Abtreibungen? Und damit entweder Frauen, die abgetrieben haben, mit SS-Mördern gleichzusetzen, Ärzte, die in Kliniken Abtreibungen durchführen, auf dieselbe moralische Stufe zu stellen, auf der ein Mengele steht, oder, umgekehrt, das Leid der in Auschwitz Ermordeten auf dieselbe Stufe mit der Tötung eines Embryos zu stellen? Wenn Sie über Meißners Satz empört sind – sind Sie dann über diesen Vergleich empört? Oder sind Sie darüber empört, dass Meißner katholisch ist? Für einen gläubigen Katholiken beginnt das menschliche Leben mit der Empfängnis, d. h. mit der Verbindung von Spermatozoon und Eizelle. Für einen gläubigen Katholiken gibt es hinsichtlich der Verwerflichkeit des Tuns keinen Unterschied zwischen der Tötung eines Embryos, eines Kindes oder eines Erwachsenen. Wo hundertfach, tausendfach, millionenfach abgetrieben wird, wird dieser Auffassung nach Massenmord begangen, und es gibt überhaupt keinen Grund, diesen Massenmord nicht mit irgendeinem anderen Massenmord in der Geschichte zu vergleichen, auch mit dem Holocaust. Wenn man gläubiger Katholik ist. An dem Satz des Kardinals ist gar nichts skandalös. Er hat nur seinen religiösen Überzeugungen Ausdruck verliehen, so, wie es seines Amtes ist. Man kann natürlich seine religiösen Überzeugungen skandalös finden. Aber was dann? Oder: Muss man eine solche Ansicht respektieren, weil sie Ausdruck einer religiösen Überzeugung ist? Das heißt, ändert sich etwas an der Haltung, die man zu einer solchen Meinung einnehmen kann, sollte oder muss, wenn es

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sich bei ihr nicht bloß um eine individuelle Ansicht, sondern um den Ausdruck eines Bekenntnisses handelt? Muss man Religiosität respektieren? Klären wir zunächst den Standpunkt, von dem aus ich spreche, und den ich Sie, meine Damen und Herren, bitte einzunehmen, so lange ich spreche – nicht ihn zu übernehmen, notabene, sondern ihn nur auf Zeit einzunehmen. Wer unter Ihnen von sich sagen würde, dass er oder sie religiös sei, muss dies können, und zwar generell und immer wieder, denn es ist kein ungewöhnlicher Standpunkt, nämlich der eines Bürgers einer säkularen Gesellschaft, und das sind wir alle – auch dann, wenn wir religiöse Überzeugungen haben. Eine säkulare Gesellschaft zeichnet sich dadurch aus, dass Religion zwar im privaten wie im öffentlichen Raum gelebt werden kann, dass der öffentliche Raum aber durch keine Religion bestimmt wird. Auch wo Religion öffentlich stattfindet, ist sie Privatsache. In einer säkularen Gesellschaft findet Religion in der Öffentlichkeit statt, weil sie Privatsache ist, und weil in einer säkularen Gesellschaft – anders als in einer Theokratie – vielerlei private Ansichten bei der Gestaltung des öffentlichen Raumes eine Rolle spielen können. Was verstehe ich unter Religiosität? Ich brauche natürlich einen weiten Begriff, der nicht nur Christen, Juden und Moslems, sondern auch Zeugen Jehovas und Animisten einschließt, oder sagen wir: nicht von vornherein ausschließt. Ich denke, dieser Begriff ist tauglich: Religiosität besteht in der Überzeugung, dass die Welt nicht aus sich heraus verstanden werden kann. Natürlich sind auch Nicht-Religiöse meistens der Ansicht, dass mehr zwischen Himmel und Erde ist, als unsere Schulweisheit sich träumen lässt, aber diese Schulweisheit lässt sich erweitern, auch um das, was sie sich bis vor kurzem noch nicht hat träumen lassen, etwa dass es Vermehrung gibt, die nicht genetisch vonstatten geht, was bis vor der Entdeckung der Prionen pure aristotelische Phantastik war, oder dass es möglicherweise unendlich viele Paralleluniversen gibt, was ein Gedankenspiel in irgendwelchen Science-Fiction-Romanen war (ich erinnere mich an einen Roman von Robert Heinlein, den ich vor nahezu 40 Jahren gelesen habe), und heute von einem renommierten Physiker als einzig mögliche Interpretation der Quantenphysik vertreten wird. Aber das hat mit Religiosität nichts zu tun. Religiös ist auch nicht derjenige, der meint, neben den uns bekannten Naturkräften gäbe es noch andere (etwa die in homöopathischen Arzneien wirksamen, oder diejenigen, die mit Wilhelm Reichs Orgonakkumulatoren eingefangen werden können), und religiös ist auch nicht derjenige, der meint es gebe Geister, Telepathie, Telekinese und was nicht alles. Leute, die so etwas glauben, sagen nur, dass unsere Welt komplexer ist als wir meinen und geben Empfehlungen, in welcher Art wir sie betrachten, und mit welchen Phänomenen wir uns näher beschäftigen sollten. Religiös ist derjenige, der meint, was immer wir auf diesem oder jenem Wege noch über die Welt herausbekommen können: das, was die Welt im Innersten zusammenhält, das Geheimnis der Welt, ihr Sinn – also irgendwie: das Eigentliche wird es nicht sein. Und: auf dieses Eigentliche kommt es an. Denn wer sagt, die Wissenschaften könnten auf alle diese Fragen keine Antwort geben, aber er empfinde das auch keineswegs als

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Mangel, ist deutlich nicht religiös. Religiös ist derjenige, der die Welt aufteilt in das, was unserem Wissenwollen zugänglich und gerade darum nicht das Wesentliche ist, und das andere, Wesentliche, zu dem es einen anderen Zugang geben muss. Ein Religiöser kann darum nicht durch einen Nicht-Religiösen eines diesbezüglichen Irrtums überführt werden: Virchow hat bei seinen Sektionen keine Seele gefunden – gewiss – aber das war, sagt der Religiöse, nicht nur nicht zu erwarten, sondern ganz unmöglich, und keine Raumsonde wird jemals die Nicht-Existenz Gottes und kein chemisches Experiment wird das Nichtvorhandensein des Dao zeigen können. Umgekehrt ist einer, der durch irgendein Ritual seinen Gott zu beweisen unternimmt, nicht religiös. Er kann, wie der verstorbene Papst, der der Ansicht war, die Mutter seines Gottes habe eigenhändig die für ihn bestimmte Kugel des Attentäters abgelenkt, irgendein Ereignis als Beleg für das Vorhandensein transzendenter Mächte und ihre Bereitschaft, sich in den Ablauf von irdischen Ereignissen aktiv einzumischen, nehmen, aber mehr auch nicht. Wer der Überzeugung wäre, durch seine Worte – Gebete, Beschwörungsformeln – seinen Gott auftreten lassen zu können wie Aladin den Lampengeist durch Gesten, der ist nicht religiös, sondern ein Magier. Ein Magier kann auch religiös sein, aber seine religiösen Überzeugungen zeigen sich dort, wo er über das redet, was ihm nicht zur Verfügung steht, und auf andere Weise nicht zur Verfügung steht, als bloß deswegen, weil er diesen speziellen Zweig der Magie noch nicht beherrscht. Religiös ist also nicht derjenige, der meint, mehr und anderes über die Welt zu wissen, als viele andere, sondern derjenige, der der Überzeugung ist, dass in letzter Instanz solches Wissen die Welt in ihrer Gesamtheit – oder in ihrem Kern – oder in ihrem Sinn – nicht erfassen kann. Dass es aber auf dieses Erfassen ankommt und es auch in gewissem Sinne möglich ist. Aber nicht prinzipiell jedem, sondern nur dem, der einen ganz bestimmten Zugang wählt, dessen wesentlicher Bestandteil die Empfindung dieser Zweiteilung ist. In dieser Empfindung treffen sich die Religionen – in der Art und Weise, wie sie mit dieser Empfindung in Ritualen, Überzeugungen, Lehren, Schriften, sozialem Verhalten umgehen, unterscheiden sie sich. Religiosität bedeutet die Überzeugung, über einen privilegierten Zugang zur einer nur in diesem Zugang als einheitlich zu verstehenden Welt – sagen wir: zur Wahrheit – zu verfügen. Dabei spielt es keine Rolle, ob der Religiöse meint, alle Menschen sollten über diesen Zugang verfügen, oder ob er im Gegenteil sein Privileg hütet. Die Öffentlichkeit einer säkularen Gesellschaft ist dadurch gekennzeichnet, dass sie die Vorstellung eines solchen privilegierten Zugangs zur Wahrheit nicht kennt. Die säkulare Gesellschaft ist keine profane Theokratie: die „wissenschaftliche Weltanschauung“ (wenn es denn so was überhaupt gibt, woran ich zweifle) tritt in ihr nicht an die Stelle einer Religion, auch wird der Religiöse auf Grund seiner Ansichten von sich selbst, seiner Idee, einen privilegierten Zugang zur Wahrheit zu haben, nicht für wahnsinnig gehalten oder sonst wie diskriminiert. Aber das erfolgt nicht deshalb, weil Religiosität es sozusagen verdiente, dass man so mit ihr umgeht. Es erfolgt deshalb, weil eine säkulare Ge-

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sellschaft eine säkulare Gesellschaft ist. Sie gäbe sich selbst auf, wenn sie eine besondere nicht-religiöse Weltanschauung auszeichnete und ihr das Deutungsmonopol übertrüge. Dies Deutungsmonopol bekäme durch eine solche Rolle selber religiöse Züge: es würde ein privilegierter Zugang zur Wahrheit behauptet, der seinerseits transzendental abgesichert werden müsste, und eine Einsicht in das „Wesen der Dinge“ behauptete, die mit jeder Idee offener Forschung kollidieren müsste. In einer säkularen Gesellschaft – nur darum geht es – ist der Zugang eines Bürgers zur Öffentlichkeit nur durch seinen Status als Bürger definiert und nicht dadurch, was er denkt. Damit kümmert sich eine säkulare Gesellschaft um genau das nicht, was einem religiösen Menschen – wenn er es ernst meint – das Wichtigste sein muss. Für einen religiösen Menschen ist – eigentlich – eine säkulare Gesellschaft eine Gesellschaft des Irrtums. Diese Ansicht teilt die Geistlichkeit Teherans mit der (orthodoxen) Geistlichkeit Jerusalems und der Geistlichkeit Roms. Diese säkulare Gesellschaft zu bekämpfen ist ein klares Ziel islamistischer Gruppen überall in der Welt, sie in Israel zu bekämpfen Ziel eines Teils des dortigen politischen Spektrums, und sie weltweit zu bekämpfen war das erklärte Ziel des vor kurzem verstorbenen Papstes Johanns Paul II. Ich sage nicht: Sie zu bekämpfen ist das Ziel jedes religiös empfindenden Menschen, und es ist auch nicht Aufgabe eines nicht-religiösen Menschen, wie der Vortragende einer ist, zu definieren, was ernstliche Religiosität sei und was nicht. Festgehalten werden muss aber doch, dass eine gewisse Spannung besteht zwischen einer Gesellschaft, zu deren Öffentlichkeitsverfassung gehört, dass es keinen privilegierten Zugang zur Wahrheit gibt, und Menschen, deren Leben von der Vorstellung erfüllt ist, es gebe dergleichen und sie seien im Besitze dieses Zugangs. Dass solche Leute die säkulare Verfasstheit einer Gesellschaft durchaus schätzen können, ja sich dafür kompromisslos einsetzen, erfolgt aus einer Einsicht, die zu ihrer Religiosität hinzutritt – sie geht nicht aus ihr hervor. Wo nun liegt das Problem des Respekts? Nun, es liegt in dem Umstand begründet, dass es Viele gibt – vor allem Religiöse –, die der Ansicht sind, die säkulare Gesellschaft brauche das religiöse Element, weil nur darin etwas zu finden sei, was jede Gesellschaft dringend nötig habe, die säkulare Gesellschaft aber aus sich heraus nicht produzieren könne. Auf Nachfrage, was das sei, bekommt man zu hören: „Sinn“ oder „verbindliche Werte“ oder „Orientierung“. Ich weise darauf hin, dass hier etwas wiederkehrt, das mit der Grundstruktur von Religiosität zu tun hat – um es mit dem Titel eines James-Bond-Films zu sagen: Die Welt ist nicht genug. Aber wie dem auch sei. Wenn es zuträfe, dass die säkulare Gesellschaft nicht wirklich lebensfähig wäre ohne Religiosität in ihr, folgte daraus, dass der Religiosität tatsächlich – und zunächst einmal ohne Ansehen ihres jeweiligen Aussehens – Respekt entgegengebracht werden müsste, denn man sollte nicht das missachten, worauf man angewiesen ist. Wohlgemerkt: Es geht nicht darum, dass eine säkulare Gesellschaft aus sich heraus keine Antworten auf Fragen wie die nach dem Sinn des Lebens – oder sagen wir es mit Douglas Adams: „life, the universe and everything“ – zu bieten hat – das

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ist selbstverständlich so –, sondern ob dieser Mangel einer ist, der dringend kompensiert werden muss. Man kann sagen, dass, wer einen Gott brauche, eben sehen müsse, wo er einen herbekomme, und das sei ausschließlich seine Sache, oder man kann sagen, dass Menschen nicht gut leben könnten ohne transzendentale Orientierungen, und es eine Gemeinschaftsaufgabe sei, eine Kultur zu pflegen, in der solche Orientierungen – oder gar eine bestimmte Sorte solcher Orientierungen – geboten werden. Nur in letzterem Falle kann man sinnvollerweise davon sprechen, dass Religiosität – anders als zwangsneurotisches Verhalten, das auch erlaubt ist – respektiert werden müsse. Meiner Meinung nach gibt es drei Möglichkeiten, die These vom Sinndefizit säkularer Gesellschaften zu verstehen. Der erste Sinn, den man der These zuweilen gibt, ist der eines Ursprungsproblems. Bestimmte für säkulare Gesellschaften wichtige Begriffe, Normen und Werte seien religiösen Ursprungs – wir zehrten gleichsam von diesem religiösen Grund, auf dem Vorstellungen wie etwa die von der Gleichheit der Menschen (vorher: vor Gott, später: vor dem Gesetz), gewachsen seien. Dieser Gedanke führt nicht weit. Erstens sind Ideen nicht ihren Entstehungskontexten verpflichtet. Im Gegenteil: Wir entkleiden sie ja gerade der Kontexte, denen sie ursprünglich verpflichtet gewesen sind. Die Erinnerung an ihre Entstehung wird ja gerade unternommen, weil ihnen davon nichts mehr anzusehen ist. Zweitens entstehen bestimmte Ideen in unterschiedlichen Kontexten immer wieder und oft sind diese Kontexte auch mit ganz anderen Ideen kompatibel. Auch kann man drittens fragen, ob denn die Idee der bürgerlichen Gleichheit vor dem Gesetz tatsächlich die säkularisierte Version der christlichen Idee der Gleichheit aller Menschen vor Gott ist – wenn sich doch diese Idee so ausgezeichnet mit einer gesellschaftlichen Wirklichkeit vertrug, die durch jene ganz und gar nicht gekennzeichnet war. Der zweite Sinn, den man der These vom Sinndefizit geben kann, ist der, dass in einer säkularen Gesellschaft eben keine verbindlichen Sinnangebote gemacht werden, Menschen aber solche brauchten. Nun ist der erste Teil dieser Interpretation eben die Definition von „säkularer Gesellschaft“ und heißt, kombiniert mit dem zweiten, nichts weiter als: Menschen sind für säkulare Gesellschaften nicht geschaffen. Das ist, wie der historische Erfolg des Modells der säkularen Gesellschaft zeigt, falsch. – Der dritte Sinn der These könnte eine Variante dieser Fassung sein. Er wäre nicht normativ-anthropologisch, sondern empirisch. Viele Menschen haben das Bedürfnis nach vorgegebenen Sinnorientierungen und sind mit der Wirklichkeit einer Gesellschaft, die sagt: „Wenn du derartiges brauchst, haben wir’s im Angebot, such dir’s aus!“, so überfordert wie das Kind im Supermarkt, dem man sagt: „Such’ dir eine Süßigkeit aus!“, aber angesichts des unüberschaubaren Angebots bricht es in Tränen aus. Das ist richtig, aber wo ist das Problem? Es stimmt, dass es viele Menschen gibt, die sich von der Moderne überfordert fühlen, die eine Gesellschaft funktionaler Differenzierung mit Rollenpluralismus, unklarer Wertehierarchie, rollenabhängigen Inklusionsmodi etc. zu sehr anstrengt, und die deshalb danach streben, ihre Weltsicht drastisch zu vereinfachen. Im Extremfall werden sie Mitglied ei-

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ner Bande, die klar zwischen gut und böse unterscheidet, sich zum Guten in der Welt erklärt und dem Rest der Welt den Krieg erklärt – die Banden heißen dann al-Qaida, Rote Armee Fraktion, Manson Family oder Aum. Es geht auch weniger militant bis hinunter zu milderen Formen weltanschaulicher Paranoia à la Michael Moore. Oder sie wenden sich ebenjenen Angeboten kollektiver Sinnstiftung zu, die die traditionellen Religionen oder die modernen Kulte anzubieten haben. Dass Menschen dies tun können und dürfen (insofern sie nicht, wenn sie für den Terrorismus optieren etwa, gegen Gesetze verstoßen), garantiert ihnen gerade die säkulare Öffentlichkeit. Im Gegensatz zu theokratisch verfassten Gesellschaften stellt sie sicher, dass das Angebot an Lebenssinn so vielfältig ist wie die Bedürfnisse danach vielgestaltig. Die Vorstellung, die säkulare Gesellschaft bedürfe der Kompensation ihrer Sinndefizite durch Religiosität, ist einfach eine falsche Beschreibung der Sachlage. Nur in der theokratischen verfassten Gesellschaft wird Sinn verordnet – und nur an dieser Verordnung mangelt es der säkularen Gesellschaft. Aber dieser Mangel ist ihre Würde. Und es ist dieser Mangel, der verbürgt, dass jeder glauben kann, was er will – und, vor allem, dass er auch keinen Glauben heucheln muss, wenn er an gar nichts glaubt. Der Respekt, den die säkulare Gesellschaft dem Religiösen entgegenbringt, ist ebenderselbe, den sie dem Nicht-Religiösen entgegenbringt. Es ist der Respekt vor seinem Privatleben. Er besteht in der berühmten Maxime Friedrichs II. von Preußen, es möge jeder nach seiner eigenen Façon selig werden, oder der von Thomas Jefferson, dass es ihn nichts angehe, ob sein Nachbar an einen, zwei oder gar keinen Gott glaube – das tue ihm nicht weh und mache ihn nicht ärmer. Was in dieser Weise aus der Perspektive dessen, der die säkulare Gesellschaft nicht nur hinnimmt, sondern für ein Ideal hält, als Respekt angesehen wird, ist für den Religiösen eine Demonstration der Unempfindlichkeit dem gegenüber, worauf es eigentlich ankommt. „Du kannst glauben, was du willst“ ist liberal, doch es erscheint ihm als bloße Gleichgültigkeit – und: eine Verkennung. Wer glaubt, glaubt nicht, dass er glaubt, weil er es sich ausgesucht hat, dies und nicht das zu glauben – der Akt der Wahl, als der die Entscheidung für einen Glauben dem Nicht-Religiösen erscheint, wird vom Religiösen als Vernehmen einer Offenbarung, als Erleuchtung, als tiefere Einsicht gedeutet: nicht als etwas Beliebiges, sondern als etwas zutiefst Notwendiges. Der Papst hat es als Kardinal pointiert so formuliert: „Sinn, der selbst gemacht ist, ist im letzten kein Sinn.“1 Benedikt XVI. hat mit großer Verve gegen die theologische Beliebigkeit in der Religion geschrieben. Glaube, wie er ihn versteht, ist nicht etwas aus dem großen Supermarkt der Sinnangebote. Seine Religion hat es mit der Wahrheit zu tun, und die Vorstellung, dass Wahrheit mit der Zeit zu gehen habe, um sich den Vorlieben der Leute anzupassen, hat für ihn etwas zutiefst Absurdes. Und ich muss zugeben: Wenn jemand der Überzeugung ist, eine be1

Joseph Kardinal Ratzinger, Einführung in das Christentum. Vorlesungen über das Apostolische Glaubensbekenntnis, Düsseldorf 2002, S. 47.

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stimmte Sexualethik sei aus Einsicht in den Willen Gottes gewonnen, ist der Hinweis, dass man sich bei ungeschütztem Geschlechtsverkehr mit Aids infizieren kann, für ihn kein Einwand. Benedikt XVI. verlangt mit deutlichen Worten Respekt vor dem Glauben, für den er steht, auch in einer Gesellschaft, die seine Grundüberzeugungen mehrheitlich nicht teilt. Er spricht von der notwendigen „Achtung vor dem, was dem anderen heilig ist“, und nennt sie einen „für alle Kulturen wesentlichen Aspekt“.2 Da sind der Papst, resp. der Kardinal, der er noch war, als er das geschrieben hat, und ich uns einig – wie sagte er zu Jürgen Habermas?: jedenfalls „im Operativen“. Aber es lohnt sich, die Textstelle weiterzulesen: „insbesondere die Achtung vor dem, was im höheren Sinne heilig ist, die Achtung bzw. Ehrfurcht vor Gott, etwas, das man auch bei Menschen findet, die nicht an Gott glauben. In einer Gesellschaft, in der diese Achtung verletzt wird, geht etwas Wesentliches verloren.“3 Dass der Theologe meine Bereitschaft, seine Religiosität zu achten, als Hinweis auf meine Disposition zum Glauben versteht, versteht sich. Auf dieses Verständnis aber gründet er, der Theologe, seine Achtung, die er dem entgegenbringt, was mir in meinem Leben von Bedeutung erscheint, von dem ich allerdings nicht sagen würde, dass es mir „heilig“ sei. Dort, wo ihm dieses nicht von Glauben in unentwickeltem Stand zeugt, sondern nur von (aus seiner Sicht) beliebigen Idiosynkrasien, ist allenfalls Achtung minderen Grades angebracht. Nun steckt darin ein Differenzierungsbemühen, dem man sich kaum verschließen kann: Nicht jeder Unfug, nur weil einer ihn für wichtig hält, kann Achtung verlangen, wenn man unter Achtung mehr versteht, als ihn einfach machen zu lassen, wenn er keinen Schaden damit anrichtet. Reden wir über Respekt. Es ist klar: Weder seine noch meine Bereitschaft zum Respekt ist unbedingt. Da sind wir uns einig. Ich achte Frömmigkeit, Religiosität, Theologie nicht bloß darum, weil sie vorhanden sind. Ich respektiere keine geistigen Gehalte, die für mich bedeutungslos sind oder die ich für Unfug halte – interessanten Unfug vielleicht, aber eben Unfug. Ich respektiere auch nicht, wenn sich jemand ohne Not das Leben schwer macht. Und doch spielen diese Faktoren eine Rolle beim Respekt: ein fremdes Denken (dem eigenen bringt man ja keinen Respekt entgegen) und ein Denken, das Auswirkungen auf die Lebensführung hat, erschwerende. Respekt vor einem gewissen Ernst. Meinerseits ist dieser Respekt von der Ansicht geleitet, dass wir, um Christoph Martin Wieland zu zitieren, „nicht alle durch dasselbe Schlüsselloch in die Welt sehen können“, und das Leben schwer genug ist, als dass man es einfach leicht nehmen könnte. Getragen ist er von der Überzeugung, dass wir auf der Basis solchen wechselseitigen Respekts besser miteinander leben können als ohne ihn. Und damit kommt ein Moment der Reziprozität ins Spiel und wird entscheidend. 2 3

Ders., Warum hasst sich der Westen? In: Cicero. Magazin für politische Kultur, Juni 2004, S. 67. Ebd.

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Tatsächlich kann ich vor Fanatikern keinen Respekt haben. Ich kann sie nicht achten wie eine Art ritterlichen Feind – man schlägt einander vielleicht tot, respektiert einander aber. Das mag in den Haushalt kriegerischer Tugenden gehören, in den ziviler gehört es nicht. Respekt erhält man für Respekt. Und damit wird klar, dass ich den Religiösen nicht für das respektiere, worauf es ihm ankommt. Ich empfinde keine Achtung vor dem, was ihm im höheren Sinne heilig ist, sondern vor ihm, zu dessen Lebensentwurf gehört, Empfindungen des Heiligen zu forcieren. Wenn er das im Rahmen bürgerlicher Dezenz tut. Ich höre von einem, der den Sabbat heiligt, und das macht seinen Weg vom Hotel zum Tagungsort kompliziert. Das ist zu respektieren. Er bedient sich auch nicht zureichend der Unterstützung derjenigen, die den Sabbat nicht heiligen, weil er nicht möchte, dass sie Gebote brechen, obwohl die für sie gar nicht existieren. Mir begegnet einer, der das anerkennenswert findet. Ich finde das albern, aber, wie heißt es doch? Wenn du die Neurose triffst, sag ihr, ich lass’ sie grüßen. Wir tanzen alle mit wunderlichen Gebärden den Todesweg hinab. Und nun kommt dieser fromme Mensch zu spät, und da ein Vortrag von ihm auf dem Programm steht, warten alle lange und geben dann auf. Dann kommt er irgendwann; er hat sich auf dem Stadtplan vertan und der Fußweg war länger als geschätzt. Das geht nicht. Der Mann ist ein Flegel, über anderes reden wir später. Die Einhaltung der Regeln des Zusammenlebens vorausgesetzt, respektiere ich den Sinn, den jeder seinem Tun gibt. Ich respektiere die Art und Weise, in der er selbst seinem Leben Sinn geben will – er allerdings wird diesen Lebenssinn nicht als einen verstehen, den er selbst seinem Leben gegeben hat. Das sehen wir unterschiedlich und wir dürfen vom anderen nicht verlangen, dass er unsere Sicht der Dinge übernimmt. Was ich aber verlangen darf ist, dass der Religiöse sich so verhält, dass als Resultat seines Verhaltens dasselbe herauskommt wie bei meinem. Er wird sich etwas anderes denken dabei, er wird mich innerlich allenfalls darum respektieren, weil er in dem Teil von mir, den er respektiert, etwas zu erkennen meint, wovon ich nichts weiß. Er respektiert es darum, weil er darin das erkennen möchte, worum es ihm geht. Er respektiert mich als potenziellen Träger eines Glaubens, ich respektiere ihn als Mitbürger. Das ist wie Öl und Wasser. In einer säkularen Gesellschaft gibt – tendenziell wenigstens – das Denken, das ich hier „meines“ genannt habe, den Rahmen ab. In ihr kann man den von Benedikt XVI. definierten Respekt der Religiösen so verstehen, als bedeutete er dasselbe. Man sollte das vielleicht um des lieben Friedens willen tun. In weniger säkularen Gesellschaften sieht das anders aus – fabula resp. historia docet. Das sind die Gesellschaften, in denen man nur Platz hat, wenn man zur Familie gehört oder als verlorener Sohn oder verirrtes Schaf. Timeo christianos et reverentiam praestantes. Eine liberale Abtreibungsgesetzgebung gehört nicht notwendigerweise zu einer säkularen Gesellschaft. Zu einer säkularen Gesellschaft gehört, dass der Spielraum der Gesetzgebung nicht durch Verpflichtung auf ein Glaubensbekenntnis eingeschränkt ist. Unsere Gesetzgebung und Rechtsprechung stellt un-

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ter bestimmten Voraussetzungen Abtreibungen straffrei, d. h. erlaubt sie faktisch. Wer einer Religion angehört, zu deren Glaubenssätzen es gehört, dass das menschliche Leben nicht nur mit der so genannten Empfängnis beginnt, sondern ab diesem Zeitpunkt geborenem menschlichem Leben gleichgestellt werden muss, weil es von diesem Zeitpunkt an Träger einer unsterblichen Seele ist, für den ist solche Erlaubnis legalisierter Mord. Wenn Kardinal Meißner solchen legalisierten millionenfachen Mord an ungeborenem Leben mit millionenfachem Mord an geborenem Leben gleichsetzt, folgt er seinen religiösen Überzeugungen. Er sagt nichts anderes als das, was Johannes Paul II in dieser Weise formuliert hat: „Wenn der Mensch allein, ohne Gott, entscheiden kann, was gut und was böse ist, kann er auch verfügen, dass eine Gruppe von Menschen zu vernichten ist. Derartige Entscheidungen wurden z.B, im Dritten Reich gefällt von Menschen, die, nachdem sie auf demokratischen Wegen zur Macht gekommen waren, sich dieser Macht bedienten, um die perversen Programme der nationalsozialistischen Ideologie zu verwirklichen, die sich an rassistischen Vorurteilen orientierten. Vergleichbare Entscheidungen wurden in der Sowjetunion [...] getroffen. [...] Nach dem Sturz der Regime, die auf den Ideologien des Bösen aufgebaut waren, haben in ihren Ländern die eben erwähnten Formen der Vernichtung de facto aufgehört. Was jedoch fortdauert, ist die legale Vernichtung gezeugter, aber noch ungeborener menschlicher Wesen. Und diesmal handelt es sich um eine Vernichtung, die sogar von demokratisch gewählten Parlamenten beschlossen ist, in denen man sich auf den zivilen Fortschritt der Gesellschaften und der gesamten Menschheit beruft [...] Es ist zulässig und sogar geboten, sich zu fragen, ob nicht hier – vielleicht heimtückischer und verhohlener – wieder eine neue Ideologie des Bösen am Werk ist.“4

Ein konsequenter Katholik kann nicht nur, sondern muss so denken. Dass eine solche wertende Gleichsetzung von Holocaust und Abtreibungsgesetzgebung die Überlebenden der deutschen Vernichtungspolitik sowie Frauen, die sich zu einer Abtreibung entschlossen haben, zutiefst zu kränken im Stande ist, ist klar. Aber was ist zu tun? Wenn ich die Religionsfreiheit nicht abschaffen will, muss ich hinnehmen, dass es solche Ansichten gibt. Daraus lässt sich aber schwerlich herleiten, dass ich sie auch zu respektieren habe. Ich respektiere die Freiheit meines Mitmenschen, religiöse Überzeugungen zu haben, die ich zutiefst missbillige. Dass diese Freiheit das Potenzial birgt, Mitbürger zu kränken, muss – bis zu einem gewissen Grade – hingenommen werden. Man muss sich aber klarmachen, was für ein Urteil die zitierte Auffassung über unser Gemeinwesen fällt. Ich unterstelle weder dem verstorbenen Papst, noch dem gegenwärtigen, Benedikt XVI., dem ehemaligen Kardinal Ratzinger, dass einer von ihnen das Parlament der Bundesrepublik Deutschland und die Bundesregierung persönlich mit der nationalsozialistischen Führungsclique gleichsetzt. Aber wie wir gehört haben, sind die einen wie die anderen Agenten einer heimtückischen Ideologie des Bösen, einer, wie es beide Päpste auch genannt haben, „Kultur des Todes“. Der Jargon, in dem der verstorbene Papst 4

Johannes Paul II., Erinnerung und Identität. Gespräche an der Schwelle zwischen den Jahrtausenden, Augsburg 2005, S. 26.

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sein Urteil über die säkulare Gesellschaft abgab, unterscheidet sich in keiner Weise vom fundamentalistischem Jargon anderswo, wo von den USA als dem „großen Satan“ gesprochen wird. An einer anderen Stelle seines Buches spricht Johannes Paul II. von einer „andere(n) Form von Totalitarismus [...], die sich heimtückisch verbirgt unter dem Anschein von Demokratie“,5 und meint damit die westlichen liberalen Demokratien: „Immer neu offenbaren sich die Zeichen einer Gesellschaft, die, wenn nicht programmatisch atheistisch, so doch mit Sicherheit positivistisch und agnostisch ist, da ihr Orientierungsprinzip darin besteht, so zu denken und zu handeln, als gäbe es Gott nicht [...] So zu leben, als ob Gott nicht existierte, bedeutet, außerhalb der Koordinaten von Gut und Böse zu leben [...] Es wird der Anspruch erhoben, dass [...] der Mensch es sei, der zu entscheiden habe, was gut und was böse ist.“6 In der Tat, mit der Regelung, dass kein Priester, kein Papst, kein Imam, kein Rabbi, kein Inquisitor und kein Guru das Recht haben soll, festzulegen, wie die Gesetze aussehen sollen, nach denen eine Gesellschaft lebt, wie die Kunst beschaffen sein soll, an der Menschen Vergnügen haben, wie das Wissen beschaffen sein soll, das an den Schulen gelehrt wird, sagt die säkulare Gesellschaft, dass es ihre Bürger sind, die die Gesetze machen und untereinander sich darüber einigen, welchen Wertorientierungen diese folgen. Das Wort Gott kommt in der Beschreibung dieses Prozesses nicht vor, auch dann nicht, wenn bei Wählern, Parlamentariern und Regierungsmitgliedern religiöse Überzeugungen eine große Rolle bei der Ausübung ihrer Optionen spielen sollten. Johannes Paul II. sah in der Tradition der abendländischen Philosophie seit Descartes ein Denken gegen Gott – und das auch bei Denkern, die sich selbst für „gut christlich“ erklärt hätten. Jedes Denken, das nicht von Gott seinen Ausgangspunkt nehme – von „Gott als (dem) in sich vollkommen sich selbst genügende(n) Sein (Ens subsistens)“7 –, jedes Denken, das den Mensch auf sich selbst stelle, sei „Lästerung gegen den heiligen Geist“ und damit eine Sünde, die „nicht vergeben werden kann“.8 Mit einer Gesellschaft, die aber so verfasst ist, dass sie den Menschen und nicht Gott (würde ein Gläubiger sagen), also den Bürger und nicht den Priester in den Mittelpunkt stellt, kann jemand, der solche Auffassungen hat, nicht in Frieden, sondern immer nur im Zustande eines Waffenstillstands auf Zeit leben. Jede Form von Religiosität steht in Spannung zu den Realien einer säkularen, offenen Gesellschaft – einige Religionen sind unter ihre erklärten Feinde zu rechnen. Nun gibt es einige, die sagen, dass diejenigen, die von sich sagen, sie seien nicht religiös, Leute seien, die nur nicht wahrhaben wollen, dass sie auch religiös seien – nur eben auf andere Weise. Sie glaubten an keinen Gott, aber eben statt dessen an den Menschen oder eben die Segnungen der säkularen Gesellschaft. Das ist bloße Wortspielerei. Wer an etwas nicht glaubt, glaubt nicht die 5 6 7 8

Ebd., S. 68. Ebd., S. 67. Ebd., S. 22. Ebd., S. 21.

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Negation im demselben Sinne wie der Gläubige die Position glaubt. Die Differenz mag in der hübschen Anekdote von der Antwort anklingen, die Bertrand Russel einem besorgten Studenten gab, als der ihn fragte, was er, der notorische Atheist, denn wohl sagen würde, wenn er dereinst wider Erwarten vor Gott stünde. Die Antwort: „You should have given us more evidence.“ Zwar ist etwas wie eine anti-religiöse Dogmatik denkbar, die an transzendentalen Prämissen sich orientiert, die ebenso Glaubenssetzungen sind wie die der Religiösen – wir hatten das Thema schon angesprochen. Aber derjenige, der gegen die Annahme, es gebe einen Gott, nur die skeptische Haltung des „Was eigentlich spricht dafür?“ zu setzen weiß, sowie die aus Lebenserfahrung gewonnene Feststellung, er brauche für seine Lebensführung diese Annahme nicht, kann schwerlich seinerseits als Gläubiger bezeichnet werden. Ebenso wenig wie der, der, mit ähnlich skeptischer Grundhaltung, nicht an die Existenz von Trollen glaubt. Es wäre absurd, ihm eine Art spiegelverkehrten Trollglaubens zu unterstellen. Es liegt hier eine Art seelisches Äquivalent zu einer optischen Täuschung vor. Weil für den Religiösen sein Glauben von so zentraler Bedeutung ist, meint er, das Fehlen solchen Glaubens sei für den Nicht-Religiösen ähnlich existenzerfüllend. Das ist nicht so. Es ist nicht so, dass für den Agnostiker an die Stelle des Abendgebets die stille Genugtuung tritt, gar nichts zu glauben. Er tut es nur nicht. Dennoch ist, zwar nicht mit der Existenz, wohl aber mit der Idee einer säkularen Gesellschaft auch ein existentielles Moment verbunden. Es ist durch die Zeit der Herausbildung der säkularen Gesellschaft und die sie begleitenden intellektuellen und emotionalen Auseinandersetzungen notwendigerweise gegeben. Die säkulare Gesellschaft hat sich in einer Weise herausgebildet, die von denjenigen, die ihre Herausbildung begleitet und diese Entwicklung begrüßt haben, als eine Art „Kampf“ wahrgenommen wurde, und diese Wahrnehmung strahlt aus in die Zeit. Eine historische Soziologie würde den Prozess der Säkularisation natürlich nicht als den am Ende siegreichen Kampf unabhängiger Intellektueller gegen den stumpfsinnigen Klerus beschreiben, aber sie würde auch zugeben, dass dieser Prozess Momente aufwies, die es nicht unwahrscheinlich machten, dass sich eine diesbezügliche Idealisierung des Prozesses und eine Selbstidealisierung bei denjenigen, die sich für seine Protagonisten hielten, herausbildete – und zwar als wichtiges Moment des Prozesses selber. Auf diese Weise wurden Voltaires „Écrasez l’infame!“, sein Titel „l’homme au Calas“, Kants Polemik gegen die geistigen Vormünder und das von ihm zum Wahlspruch der Aufklärung bestimmte Horaz-Zitat vom „sapere aude“, das er mit „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“ übersetzte, so etwas wie Verbal-Ikonen der säkularen Gesellschaft. Nicht ohne Bewegung denkt man an die Unzahl von Schikanen, die Leute über sich haben ergehen lassen müssen, die sich in der Öffentlichkeit ihres eigenen Verstandes bedienten. Und bedenkt man die Situation in den Ländern der Welt, die fern davon sind, die Ideale einer säkularen Gesellschaft zu akzeptieren, dann wird man nicht umhinkönnen, es nicht sonderbar zu finden, wenn diejenigen, die sich in diesen

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Ländern für diese Ideale einsetzen, diesen Einsatz als einen „Kampf“ beschreiben, der durchaus seine Märtyrer produziert. Ich sagte, dass dieses Selbstbild, das bei uns keine aktuelle Bedeutung hat, in die Zeit ausstrahlt. Auf Grund dieses Selbstbildnisses, das ein Teil unserer Identität geworden ist, fühlen wir uns denjenigen gegenüber verbunden, vielleicht verpflichtet, die diesen Kampf noch oder wieder zu kämpfen haben, auf Grund dieses Selbstbildes rufen Initiativen wie der immer mal wieder unternommene Versuch, in Schulen Evolutionstheorie durch Bibellektüre sive „Kreationismus“ zu ersetzen, nicht nur Gegen-Engagement, sondern spezifische Gefühle der Empörung hervor. Das Nämliche gilt für die Restriktionen, denen Mitglieder islamischer Familien durch innerfamiliären Druck ausgesetzt sind – ich spreche nicht von Gewalttaten, die stehen natürlich auch noch auf einem ganz anderen Blatt, sondern von Lebensbeschränkungen, die als freiwillige natürlich zu akzeptieren sind, denen wir aber doch oft misstrauisch gegenüberstehen, weil es nur schwer möglich ist, hier Freiwilligkeit von traditionsgebundener Selbstunterwerfung zu unterscheiden. Hier gerät im Haushalt der Ideale des Vertreters der säkularen Gesellschaft etwas tendenziell in Widerspruch, und es zeigen sich problematische Stellen im Rechtsgefüge des säkularen Staates. Auf der einen Seite bedeutet Säkularität als Möglichkeit, sich nach eigenem gusto mit Sinnangeboten versorgen zu können (nach eigener Façon selig zu werden), auch den Schutz vor religiöser Zwangsvergemeinschaftung. Auf der anderen Seite bedeutet Säkularität eben nicht nur die vielzitierte Gewissensfreiheit, sondern auch Nicht-Einmischung in die Expressionsformen von Religiosität. Letzteres in Form eines Bürgerrechts, ersteres in Form der Überwachung der Einhaltung bestimmter Gesetze. Wir haben nun eine sehr kontrovers geführte Debatte erlebt, in der es um die Grenzen der Expressionsfreiheit von Religiosität ging: die so genannte Kopftuchdebatte. Klar, dass Bürger des säkularen Staates auch in ihrer Kleidung zum Ausdruck bringen können müssen, welchem religiösen Bekenntnis sie angehören, wenn ihnen der Sinn danach steht. Klar, dass bei Bestehen einer Schulpflicht, der säkulare Staat konfessionsfreie Schulen anzubieten hat, und dass zu diesem Angebot die Garantie gehört, dass hier Religion möglicherweise in der einen oder anderen Form als Lehrfach angeboten wird, dass es aber keinerlei religiöse Beeinflussung geben soll. Darum, sagten manche, dürften Lehrerinnen, die sich zum Islam bekennen, kein dieses Bekenntnis offensiv demonstrierendes Kleidungsstück tragen. Ein solches Verbot, so andere, verstoße gegen die Freiheit der Religionsausübung und diskriminiere gläubige Muslime, weil es denen, die sich einer bestimmten Tracht verpflichtet fühlten, bestimmte Berufe versagte. Wie bekannt, hat das Bundesverfassungsgericht diese Frage dem Entscheidungsspielraum der Politik überlassen, und da die Bildungspolitik Ländersache ist, gibt es unterschiedliche Regelungen in den Bundesländern. In dieser Debatte scheint mir eine Dimension des Problems übersehen worden zu sein, und diese Dimension hängt mit dem zusammen, was ich den Stolz der säkularen Gesellschaft nennen möchte. Der besteht in diesem Falle darin,

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sich den Blick auf Kleidung nicht von einem religiösen Bekenntnis vorschreiben zu lassen. Für den Blick des säkularen Staates sollte es sich beim Schleier um ein Modeaccessoire handeln, und Leute können anziehen, was sie wollen. In Grenzen, versteht sich. Es gibt gewisse Anstandsregeln, aber die sind nicht religiös definiert. Diese Anstandsregeln definieren, wie wenig jemand allenfalls anziehen darf, nicht wie viel. Alle Kulturen haben Wert darauf gelegt, den Körper zu entnaturalisieren, und wenn es auch nur durch das Auftragen von Farbe oder durch die Entstellung mit Narbengewebe geschieht. Kulturen unterscheiden sich durch die Art und Weise, wie weit und an welchen Stellen sie den Körper bedecken, Körperformen unsichtbar machen oder betonen, aber sie sind sich alle einig, dass es anständige und unanständige Kleidung gibt. Das aber wechselt von Kultur zu Kultur, von Mode zu Mode. Der säkulare Staat macht Modefragen unabhängig von religiösen Überzeugungen – was Fragen des Anstands angeht. Der aus religiösen Gründen nackt Gehende – sollte es ihn noch geben, in der Antike nannte man ihn Gymnosophisten – wird nicht toleriert. Diejenige, die aus religiösen Gründen ihr Gesicht bedeckt, wird toleriert. Das ist alles. Der säkulare Staat hat sich nicht darum zu kümmern, was eine Kleidung für den oder die Religöse(n) „bedeutet“. Wie will er das auch tun? Es mag sein, dass jemand den Schleier trägt, weil sie offensiv ihre Überzeugung zur Schau stellen und signalisieren will, dass sie sich eine islamisch-fromme Gesellschaft wünscht, in der alle Frauen den Schleier tragen. Es mag sein, dass jemand den Schleier trägt, weil sie einfach den Geboten folgt, die sie für sich als verbindlich bestimmt hat. Wer will das wissen? Der säkulare Staat hat sich darum nicht zu kümmern, er darf es gar nicht wissen wollen. Wohl darf und muss er über die weltanschauliche Neutralität seiner öffentlichen Schulen wachen, aber das tut er, indem er über die gelehrten Inhalte wacht und darüber, wie seine Lehrerinnen und Lehrer sie darbieten. Findet dort religiöse Indoktrination statt, kann er Lehrer entlassen und in hoffnungslosen Fällen Berufsverbote aussprechen. Man hat eingewandt, unser Staat verbiete doch auch das Tragen des Hakenkreuzes. Das aber ist als Symbol einer verbotenen Partei verboten. Wäre das Kopftuch Symbol einer verbotenen Religionsgemeinschaft, wäre gegen sein Verbot nichts einzuwenden. Noch einmal: Wenn eine Lehrerin ihre Stellung dazu missbraucht, religiöse Propaganda zu machen, ist sie zu entlassen. Aber sie muss dazu etwas tun. Zu zeigen, dass sie etwas anderes glaubt als die anderen Lehrer oder die Schüler, reicht nicht. Strengt man ein Disziplinarverfahren gegen die Lehrerin an, kann der Umstand des Kopftuchtragens als Teil eines Befundes gewertet werden. Nicht aber als einziger Befund hinreichen. Ist umgekehrt geboten, wenn man dennoch das Kopftuch verbietet, dann auch die Soutane des Religionsunterricht gebenden Pfarrers zu verbieten oder das Kreuz am Hals des Mathematiklehrers? Ein Fehler wird nicht dadurch besser, wenn man aus Gerechtigkeitsgründen noch einen begeht. Es ist nur so, dass sich eine Gesellschaft, die das Recht zum Tragen von Kopftüchern einschränkt,

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nicht aber das von Kreuzen, sich dem Verdacht aussetzt, es gehe ihr nicht darum, die weltanschauliche Neutralität ihrer Schulen zu wahren, sondern, weil sie eine traditionell christliche ist, Moslems das Leben schwer zu machen. Mein Respekt, den ich einem religiösen Menschen entgegenbringe, gilt ihm, seiner individuellen Entscheidung, zu leben, wie er leben will. Ich übernehme nicht seine Vorstellung von Respekt, die dem gilt, was er für heilig hält. Meine Toleranz gegenüber einer religiös bestimmten Tracht hat nichts damit zu tun, dass ich etwa die Vorstellungen über die Reinheit oder Sündigkeit des menschlichen Körpers, die sie oder er hat, achte, sondern ich respektiere ihren oder seinen Lebensentwurf. Solange sie die Spielregeln der säkularen Gesellschaft respektieren und damit ihre Tochter nicht über das Eltern allgemein zuzubilligende Maß an Intoleranz hinaus schikanieren. Als Mitmenschen haben sie meinen Respekt; als Mitbürger meine Zusage, dass ich mich für ihre Rechte einsetze; als Vorgesetzter haben mich Modefragen, Kopftücher, Kreuze und andere Accessoires nicht zu interessieren, sofern sie nicht, siehe oben, die gerade gültigen Anstandsbräuche verletzen. Kopftücher haben für die Schulbehörde Modefragen zu sein. Symbole werden erst durch Handlungen und geeignete Kontexte zu Symbolen. Darin besteht die Auffassung, die für die Umgangsformen einer säkularen Gesellschaft bestimmend ist: dass der Kontext und die Kommunikation den Sinn stiften. Dass der Sinn von außerhalb kommt und festgelegt ist, ist die Ansicht der Religiösen, nicht unsere. Nur auf diesem Dissens beruht die Möglichkeit, Religionen zu respektieren. Und darum sind Gesetze, die das Tragen von Kopftüchern – für Lehrerinnen in Schulen – verbieten, Gesetze, die gegen die Selbstachtung einer säkularen Gesellschaft verstoßen. Dass der Sinn von außerhalb kommt und festgelegt ist, ist die Ansicht der Religiösen, nicht unsere. Unsere Ansicht nennt der gegenwärtige Papst „Diktatur des Relativismus“, und sagt klipp und klar, dass die Ansicht, Religion sei Privatsache, und ihre mögliche öffentliche Rolle definiere sich aus dem Umstand, dass sie eine Privatsache sei, eine Aggression gegen die Religion sei, und der verstorbene Papst nannte als bekennender Feind einer offenen, säkularen Gesellschaft, diese Ansicht die „Sünde wider den heiligen Geist, die nicht vergeben werden kann“. Darin lag für ihn – eine stimmige theologische Auslegung – der Sinn der Geschichte vom Sündenfall: „Darauf beziehen sich die Worte des Buches Genesis: ‚Ihr werdet wie Gott und erkennt Gut und Böse’, d. h. ihr werdet selbst entscheiden, was gut und was böse ist.“9 Der Stolz einer säkularen Gesellschaft besteht in der Tat darin, in dieser Art von Sünde zu leben, und also ist die christliche (und islamische und jüdische) Entrüstung darüber alles andere als unverständlich. Lehrreich ist die Geschichte vom Rabbi und vom Imam, die der amerikanische Soziologe Juergensmeyer erzählt: Sie sind zwar geschworene Feinde, treffen sich ab er regelmäßig um sich wechselseitig in ih-

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Ebd., S. 20.

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rem gemeinsamen Abscheu gegen die USA und die permissive Gesellschaft von Tel Aviv zu bestärken. Dass der Mensch für sich entscheide, was gut und böse ist, gehört so sehr zu den Idealen – und übrigens auch Selbstidealisierungen – der säkularen Gesellschaft, dass sie ein besonderes Sensorium für spezifische Unfähigkeiten, in dieser Sünde zu leben, entwickelt hat. Die Angebote, die sie macht, um eine gestörte Fähigkeit, für sich zu entscheiden, was gut und was böse ist, zu behandeln, nennt man Psychotherapie. – Ich will das zum Ende dieses Vortrags noch erläutern, muss aber etwas vorschalten, um nicht missverstanden zu werden. Es gibt den Satz, wenn Gott tot sei, sei alles erlaubt. Das gilt für den, der an einen Gott glaubt, der die Moral gemacht hat, tatsächlich. Das gilt für den, der diese Annahme nicht macht, keineswegs. Moralische Normen sind für ihn ebenso verbindlich – oder unverbindlich – wie für einen Religiösen. Er bezieht sich nur auf andere Quellen der Moral. Er stimmt Johannes Paul II. zu, dass (ich hatte es bereits zitiert), „wenn der Mensch allein, ohne Gott, entscheiden kann, was gut und was böse ist, dann kann er auch verfügen, dass eine Gruppe von Menschen zu vernichten ist“, und er ergänzt: Wenn der Mensch sich von religiösen Autoritäten vorschreiben lässt, was gut und was böse ist, kann er auch den Befehl hinnehmen, dass eine Gruppe von Menschen zu vernichten ist. Die Geschichte hat für das eine Beispiele wie für das andere. Und wenn der Religiöse einwendet, letzteres sei nicht wahre Religion, sondern ein Missbrauch der Religion, sagt ihm der Nicht-Religiöse: „Das sagen Sie!“ Der Nicht-Religiöse besteht darauf, dass auch der Religiöse selbst entschieden habe, was gut sei und was böse, indem er sich nämlich entschieden habe, den diesbezüglichen Vorgaben einer bestimmten Religion zu folgen. Dass der Nicht-Religiöse diesen Wahlakt bestreitet (und ihn Bekehrung, Offenbarung, Erleuchtung nennt), kann man hinnehmen, man kann es auch als Symptom für die gelebte Unfähigkeit verstehen, mit einem Leben zurechtzukommen, in dem die Idee der Freiheit eine wesentliche Rolle spielt.10 Darum hat Freud die Religion (Religiosität allgemein, im Blick hatte er natürlich das Christentum) als kollektives Äquivalent zur individuellen Neurose verstanden. Die Religion erspare dem Einzelnen die Ausbildung einer individuellen Neurose durch den Beitritt zu einer kollektiven. Das muss man nicht für richtig halten, nicht einmal als Psychoanalytiker – wenn man auch den jeweiligen individuellen Fall von Religiosität stets auch unter diesem Aspekt betrachten muss. Es gibt ja vielerlei, auch religiöse Psychoanalytiker und es gibt Therapierichtungen, die von Vertretern anderer Richtungen wenigstens als religionsnahe angesehen werden. Es lässt sich aber ein grundsätzlicher Unterschied machen zwischen Religion und Therapie. In einer Therapie – nicht nur der psychoanalytischen – ist jede religiöse Überzeugung eines Patienten in Verbindung mit 10 Freiheit, sagt Kardinal Lehmann, die nur Freiheit sei, sei keine Freiheit. Freiheit vom Glauben ist für den Frommen keine Freiheit, sondern nur Freiheit zum Glauben ist Freiheit.

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dem seelischen Problem zu sehen, das Gegenstand der therapeutischen Bemühung ist. Überall sonst kann jemand sich auf eine religiöse Überzeugung als letzte Instanz berufen, in der Therapie nicht. Das liegt am kommunikativen Charakter religiöser Überzeugungen. Sie beenden die Kommunikation. Man debattiert so lange bis einer sagt „Das glaube ich eben“, und dann ist Schweigen, es sei denn, man redet über etwas anderes. Das therapeutische Gespräch – oder, da ja nicht jede Therapie vornehmlich verbal orientiert ist – die therapeutische Interaktion kann aber durch solche Akte nicht unterbrochen werden. Dadurch unterscheidet sie sich (verabredungsgemäß) von Alltagskommunikation und interaktion. In einer psychoanalytischen Sitzung ist eine religiöse Überzeugung Gegenstand einer Deutung, also nie Abschluss einer Kommunikation, sondern immer Beginn einer weiteren Sequenz, und zwar einer kommunikativen Sequenz, in der die religiöse Überzeugung nie letzte Instanz, nie explanans, sondern immer explanandum ist. Das gilt – mutatis mutandis – für alle therapeutischen Richtungen. Sie sollen, wie auch immer sie meinen, das bewerkstelligen zu können, den Patienten in die Lage versetzen, sein Leben freier von inneren Zwängen, verstandener, ich-gestärkter, kurz: schlechthin freier zu führen als er dies bisher konnte. Das muss nicht notwendigerweise dazu führen, dass jemandem seine Religion abgewöhnt wird, aber in einem Prozess mit solchem Ziel kann Religion in ihrer Funktion für das Leben des Patienten nicht unbesprochen bleiben, und es darf nicht unberücksichtigt bleiben, dass seine Religion nicht in der Lage war, ihm ein Leben so zu ermöglichen, wie er selbst es sich wünschte: Er wäre sonst kein Patient. Ferner kann keine Therapie, welcher theoretischen Richtung auch immer, den Patienten in seinen religiösen Überzeugungen bestärken, und zwar aus demselben Grund: Sie sind Teil seines bisherigen Elends. Dass keine Therapieform dazu da sein kann, dem Patienten religiöse Überzeugungen beizubringen, versteht sich von selbst: sie wäre dann Bekehrung. Am Ende einer Therapie – welcher Art sie auch sei – muss ein Religiöser psychisch in der Lage sein, seine Religion aufzugeben. Ich sage nicht: er muss es tun. Ich sage nur: er muss dazu psychisch in der Lage sein. Wie dies „in der Lage sein“ aussieht, wird man im Vokabular der jeweiligen Therapierichtung formulieren. Was ich damit meine ist, dass im Patienten das areligiöse Gefühl, selber über den Sinn seines Lebens verfügen zu können, und das Bewusstsein der Freiheit, selber darüber zu entscheiden, was gut und was böse ist – welchen Normen er folgen will und welchen nicht – gestärkt wird. Im oben zitierten theologischen Vokabular heißt das, dass die Idee der Psychotherapie darin liegt, den zur Sünde nicht fähigen Menschen sündefähig zu machen. Wir Nicht-Religiösen nennen das: Freiheit. Kann Psychotherapie Religiosität respektieren? Ja, so wie Psychotherapie jede seelische Regung respektieren muss, als Versuch, mit dem eigenen Leben klarzukommen. Nein, weil Psychotherapie dazu da ist, einen Menschen fähig zu machen, in eigener Sache normativ zu entscheiden und sich dieses Umstands auch bewusst zu sein. Das gilt nicht nur für Psychotherapie.

Personenregister Seitenangaben mit Stern beziehen sich auf eine Fußnote.

Abduh, MuÎammad 262 Abetz, Otto 127 Adams, Douglas 394 Adorno, Theodor W. 275 al-AšmãwÐ, MuÎammad Sa‘Ðd 270 al-Bannã, Íasan 267 al-Barrãk, Abdalmalik 269 al-BÙÔÐ, MuÎammad 269 al-Farabi, Abu-Nasr 250 al-¹auziyya, Ibn Qayyim 269 Alain (Chartier, Émile) 124 Alfonso XIII. 99, 100 AlÐ Ibn Abi Talib 264 an-Na‘Ðm, Abdallãh 270 an-NumairÐ 270 Aristoteles 33, 297 Arkoun, Mohammed 243 as-Sadat, Mohammed Anwar 265, 268 Assmann, Jan 297, 299–301, 303, 304, 306 Atatürk, Kemal 230, 236, 248, 251, 252, 254, 256–258 Augustinus, Aurelius 85* Axelrod, Paul 23* Ayata, Sencer 259 Azéma, Pierre 128 Bahr, Hans-Eckehard 286 Barrès, Maurice 112, 113, 115 Baudrillart, Alfred 126 Bayet, Albert 119 Becker, Howard 133 Bednyi, Demian 34 Bellah, Robert N. 150, 176, 177 Bellarmin, Robert 84 Benedikt von Nursia 29* Benedikt XV. 123

Benedikt XVI. (vgl. Ratzinger, Joseph) 396–399 Bentham, Jeremy 21 Bérard, Léon 106, 107 Berdiajew, Nikolai 16*, 38* Bergery, Gaston 125 Bergson, Henri 112 Berlin, Isaiah 17 Berth, Edouard 112 Bhutto, Benazir 284 Biétry, Pierre 112 Bin Laden, Osama 159, 263 Binder, Dieter A. 95 Birnbaum, Pierre 346 Bismarck, Otto von 64 Böckenförde, Ernst-Wolfgang 104, 201, 202, 378 Borowik, Irena 186 Boulanger, Georges 111*, 112 Bouretz, Pierre 347, 348 Brasillach, Robert 120, 121 Brok, Elmar 250 Brzezinski, Zbigniew 243 Bucard, Marcel 121 Bucharin, Nikolai 19, 27, 28, 31 Büttner, Hermann 66 Bull, Hedley 247 Burin, Philippe 125 Bush, George H. 154, 158 Bush, George W. 145, 146, 152–155, 157, 158–161, 163–166, 241, 285, 286 Busse, Nikolas 231 Byrnes, Tim 234* Cadillac, Antoine de la Mothe 138 Carcopino, Jérôme 126 Carlowitz, Hans Carl von 251

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Personenregister

Carter, James E. 161 Carter, Stephen 174, 175 Cerejeira, Manuel Goncalves 89 Charrière, René de la 118* Cheney, Richard 164 Chevalier, Jacques 106, 126 Chirac, Jacques 344 Chrennikow, Tichon N. 45 Cicero, Marcus Tullius 305* Çiller, Tansu 284 Clark, Tom 169 Clinton, William J. 154 Cointet, Michèle 127 Columbus, Christopher 369 Combes, Emile 126 Commailles, Jacques 357 Comte, Auguste 120, 258 Conway, Martin 81 Coty, François 119 Cromwell, Oliver 20* Csernoch, János 97 Daladier, Édouard 117 Danforth, Samuel 148 Darányi, Kálmán 98 Darlan, François 127, 128 Daudet, Leon 120 Déat, Marcel 124, 125, 128 Debray, Régis 356 Delay, Jean 126 Deloncle, Eugène 120 Déroulède, Paul 112 Dobry, Michel 114 Dollfuß, Engelbert 92–95, 101, 108 Doriot, Jacques 114, 116, 117, 121, 125, 128 Dostojewski, Fjodor M. 17 Douglas, William O. 176 Drewermann, Eugen 146 Dreyfus, Alfred 131 Drieu la Rochelle, Pierre 120, 121 Drumont, Edouard 112 Dubet, François 358 Dudek, Antoni 189, 190 Durkheim, Emile 177, 306 Dzierzynski, Feliks E. 19, 29*, 30 35*

Eck, Diana 359 Eckart, Dietrich 51, 53–58, 68, 76, 77 Edel, Alfred 49 Edwards, Jonathan 362 Engels, Friedrich 37* Ennker, Benno 35* Erbakan, Necmettin 237, 242, 243, 249 Erdogan, Tayyip R. 232, 233, 236, 239, 242, 247, 249, 250, 252, 253, 259 Erhardt, Manfred 217–220 Euckens, Rudolf 290 Falwell, Jerry 156 Fateh, Mehmet 250* Feith, Douglas 163 Fernández, Giménez 102 Ferry, Jules 123, 126 Fischer, Joseph 231 Fliege, Jürgen 145 Fogel, Robert William 142 Foresta, Patrizio 83 Franco, Francisco 86, 96, 100, 102, 103, 106, 108 Frank, Semen 18 Franklin, Benjamin 364 Franz von Assisi 59, 85* Freud, Sigmund 300 Friedrich II. 396 Friedrich Wilhelm III. 279 Fuller, Graham 241, 246 Gabor, Andor 45* Galilei, Galileo 306 Gambetta, Léon 132 Gauchet, Marcel 131, 132 Geißler, Heiner 286 Gentile, Emilio 15, 131* Gerlier, Pierre-Marie 125, 127 Gföller, Johannes Maria 84* Girard, René 300 Girardet, Raoul 113* Glock, Charles Y. 191 Goebbels, Joseph 51, 53, 58–64, 68, 76, 77

Personenregister Gökalp, Ziya M. 254, 258 Göle, Nilüfer 239 Gömbös, Gyulu 98, 99 Göring, Hermann 96 Goethe, Johann Wolfgang von 33 Goffman, Erving 21* Goldstone, Jack A. 346 Gomá y Tomás, Isidro 102, 103 Gonzaga, Aloisius von 85 Gowin, Jarosław 194 Gryz, Ryszard 189, 190 Gül, Abdullah 232, 239, 242, 249 Guérin, Hubert 107 Habermas, Jürgen 217, 218, 221, 222, 227, 229, 301, 397 Haeckel, Ernst 287, 288, 290 Hartwig, Renate 314* Hall, David D. 281 Hammer, Wolfgang 70 Hanisch, Ernst 94 Hatfield, Mark 182 Hatch, Nathan 141, 365 Heckel, Martin 208 Hedio, Caspar 219 Heer, Friedrich 70 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 202 Heidegger, Martin 302, 303* Heimert, Alan 147 Heine, Heinrich 77 Heinig, Michael 326, 334 Heinlein, Robert 392 Heisbourg, François 146 Henriot, Philippe 106 Herberg, Will 370, 371 Herodes 391 Hervieu-Léger, Danièle 349 Herwig, Franz 59 Hilferding, Rudolf 124 Hillgruber, Christian 340 Hirschman, Albert 138 Hitler, Adolf 51, 53, 54, 58, 60, 61, 63–66, 69–77, 96, 105, 108, 116, 119, 124, 277, 292, 391 Hlinka, Andrej 107–109 Hlond, August 81*, 187 Hoffmann, Stanley 127

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Horaz 401 Horthy, Miklós 97, 98 Howe, Marvine 235 Huber, Wolfgang 388 Hudal, Alois 93, 95 Huntington, Samuel P. 233* Hussein, Saddam 159, 241, 285 Hussein, Taha 254 Hutchison, William 366 f., 372 Ibn Taimiyya 265 Isutin, Georgiy 18 Jackson, Jesse 167 Jansen, Johannes 268 Jefferson, Thomas 364, 396 Jens, Walter 145, 285 Joberts, Bruno 357 Johannes XXIII. 86 Johannes Paul II. 394, 399, 400, 405 Johnson, Lyndon B. 141 Jospin, Lionel 355 Juergensmeyer, Mark 404 Junker, Detlef 162 Kamprath, Franz 93 Kant, Immanuel 69, 275–280, 287, 303*, 401 Kaplan, Fania 34 Kaplan, Metin 214 Katzenstein, Peter 233* Kennedy, Anthony 181 Kennedy, John F. 141 Khomeini, Husain 271 Khosrokhavar, Farhad 351, 352 Kirchhof, Paul 340, 342 Kittel, Manfred 122 Klinkhammer, Lutz 103, 104 Kock, Manfred 286 Konstantin 320, 377 Kopernikus, Nikolaus 306 Krakau, Knud 147 Kreibich, Karel 36 Kristol, William 163 Krupskaja, Nadeschda K. 37* Küng, Hans 145*, 285 Kun, Bela 57

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Personenregister

La Tour du Pin, René de 130* Lagarde, Paul de 291 Lammenais, l’Abbé Félicité 122 Lang, Jack 355 Langlais, Jean-Louis 349* Lapouge, Vacher de 112 LaHaye, Timothy 156 Lassalle, Friedrich 22* Latsis, Marlyn 28* Laval, Pierre 128 Le Bon, Gustave 112 Lenin, Vladimir I. 15*, 16*, 19, 21, 22, 26*, 27–31, 34–37, 39–41, 43, 61, 63, 188 Leo XIII. 80, 85, 93, 100, 121 Lewin, Moshe 38* Lincoln, Abraham 151, 153, 160 Lipson, Leslie 233 Locke, John 141 Lohse, Eckhard 250 Luckmann, Thomas 373 Lübbe, Hermann 54, 78, 133, 306* Lunatscharski, Anatoli 33, 34 Luther, Martin 55, 219, 305* Maček, Vladko 109 Maderthaner, Wolfgang 94 Maistre, Joseph de 120 Man, Henri de 124 Mardin, Serif 246 Mariański, Janusz 185 Maritain, Jacques 125 Marquette, Pater 138 Martin, David 133, 347 Marx, Karl 22, 23, 33, 36, 37, 291 Mathiez, Albert 26* Mauriac, François 125 Maurras, Charles 116, 120, 130 Maxentius 377 Mayer Wise, Isaac 368 Mayeur, Jean-Marie 123 McKinley, William 148 Mead, Sidney 362 Meißner, Joachim 391, 399 Melton, Gordon 322 Merkel, Angela 245 Milza, Pierre 114, 116, 119 Moeller van den Bruck, Arthur 54

Mohammed 254, 263, 264, 304 Moore, Michael 396 Moore, Roy 359 Morawski, Stanisław 189 Mounier, Emmanuel 113 Müge Göcek, Fatma 251 Mühl, Otto 322 Müller, Klaus-Jürgen 129 Mun, Albert de 130* Mussolini, Benito 86, 87, 90, 91, 92*, 96, 109, 113*, 115, 117, 118 Myrdal, Gunnar 149 Napoleon III. 122 Naschewin, Iwan 62 Nasser, Gamal Abdel 265 Naumann, Friedrich 328, 333 Netschajew, Sergej 18 Niebuhr, Reinhold 147 Oria, Angel Herrera 101 O’Sullivan, John 148 Oswald, Wilhelm 288 Pacelli, Eugenio (vgl. Pius XII.) 87, 93, 94 Paine, Thomas 141 Paulus 59, 67, 84, 303 Pavelić, Ante 109, 110 Paxton, Robert O. 128 Péguy, Charles Pierre 123 Penn, William 363 Perle, Richard 163 Pétain, Philippe 105, 106, 126, 128, 130 Piatakow, Georgi L. 31 Picard, Catherine 350 Pietrzak, Michał 187 Piłsudski, Józef 95–97 Pius XI. (vgl. Ratti, Achille) 80–83, 85, 86, 87*, 91, 100, 101, 123 Pius XII. (vgl. Pacelli, Eugenio) 80, 104–106, 281 Piwowarski, Władysław 191 Platon 275, 302 Plechanow, Georgi V. 23* Popper, Karl 291 Poulat, Emile 354

Personenregister QuÔb, Sayyid 265, 266–268 Radek, Karl 19 Raffarin, Jean-Pierre 354 Rajneesh, Chandra Mohan (Bhagwan) 316 Ramsin, Leonid 45* Ratti, Achille (vgl. Pius XI.) 82, 86, 91 Ratzinger, Joseph (vgl. Benedikt XVI.) 218, 288 Rawls, John 174 Reagan, Ronald 151, 153, 158, 160, 162, 165 Rebatet, Lucien 120 Rédier, Antoine 121 Reich, Wilhelm 392 Rémond, René 111, 114 Renaud, Jean 121 Rice, Condoleezza 164 Robertson, Pat 167 Robespierre, Maximilien 26* Robison, James 156 Robles, Maria Gil 101, 102 Rochefort, Henri 112 Rolland, Patrice 350 Rommelspacher, Birgit 313 Roncalli, Angelo (vgl. Johannes XXIII.) 86 Roosevelt, Franklin D. 141, 153 Roque, Colonel de la 116, 119, 121, 127, 128, 131* Rosanvallon, Pierre 353 Rosenberg, Alfred 51, 53, 55, 66–69, 76, 77, 291 Rove, Karl 157, 165 Rumsfeld, Donald 164 Rutledge, Wiley B. 171 Sailer, Christian 388 Salazar, António de Oliveira 88–90 Sangnier, Marc 122* Sapieha, Adam Stefan 187 Sasulitsch, Vera 23* Scheffler, Johannes 55 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 305*

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Schmidt, Helmut 217, 227, 231, 236, 240, 241, 316 Scholz, Heinrich 275 Schopenhauer, Arthur 74 Schröder, Gerhard 231, 244, 250 Schultes, Friedrich 223 Schuschnigg, Kurt 92, 93, 108 Schuster, Ildefonso 86 Segura, Pedro 100 Seipel, Ignaz 90–92 Şen, Faruk 234, 235 Sezer, Ahmet 239, 253 Sinowjew, Grigorij 19, 34, 36 Sironneau, Jean-Pierre 131* Smith, Al 369 Smith, Joseph 365, 366 Solana, Javier 146 Sorel, Georges 112 Soucy, Robert 113*, 115, 123, 124 Spann, Othmar 92 Spengler, Oswald 219 Spiegel, Paul 391 Spuler-Stegemann, Ursula 232 Staël, Anne Germaine de 275 Stalin, Josif V. 19, 24*, 27*, 30, 35–37, 39–47, 391 Stasi, Bernard 344* Steinacker, Peter 146 Steinberg, Isaak 28* Stepinac, Alojzije 109, 110 Stepun, Fedor 28* Sternhell, Zeev 111–113, 127, 128*, 130 Stoecker, Adolf 289 Strauß, David Friedrich 288 Streicher, Julius 64 Strong, Josiah 369 Stschedrin, Rodion 34 Suhard, Emmanuel-Célestin 106, 126 Szálasi, Ferenc 99 ÓÁhÁ, MaÎmÙd MuÎammad 270 Taittinger, Pierre 117, 120, 121 Talleyrand, Charles Maurice de 285 Tálos, Emmerich 81* Tapper, Richard 258 Théas, Pierre Marie 127

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Personenregister

Theodosius I. 219 Thibaudet, Albert 124 Thomas von Aquin 85, 305* Tibi, Bassam 221 Tiso, Jozef 107–109 Tkatschow, Pjotr 18 Tocqueville, Alexis de 149, 346 Tomás, Gomá y 100 Toprak, Binnaz 239 Treiber, Hubert 378 Trimberger, Ellen K. 255, 256 Trotzki, Leo 24*, 30, 31, 32*, 33, 36, 37, 46 Truman, Harry 161 Tugendhat, Ernst 303* Tuka, Vojtech 108, 109 Uhle, Arnd 340 UÔmÁn 264 Valeri, Valerio 106 Vallet, Xavier 106 Valois, Georges 112, 121 Verdier, Jean 125 Verheugen, Günter 242, 245 Virchow, Rudolf 393

Vivien, Alain 349* Vocelka, Karl 92 Voltaire 401 Ward, Nathaniel 361 Washington, George 151, 364 Wassermann, Jakob 59 Waszkiewicz, Ewa 188 Weber, Max 20*, 38*, 135, 194, 378 Whitefield, George 362 Wieland, Christoph Martin 397 Wieviorka, Michel 350 Williams, Roger 362 Wilson, Woodrow 149, 161, 163 Windthorst, Ludwig 289 Winkler, Heinrich August 234, 245, 246, 250 Winock, Michel 113, 114 Winthrop, John 147 Wolfowitz, Paul 163 Young, Brigham 365 Zamora, Alcalá 102 Życiński, Józef 194

Autorenverzeichnis Claus-Ekkehard Bärsch, Prof. Dr.: Seit 1981 Professor für Politische Wissenschaft an der Gerhard-Mercator-Universität Duisburg. Von 1993 bis 1996 Direktor des Salomon-Ludwig-Steinheim-Instituts für deutsch-jüdische Geschichte in Duisburg. 1996 Gründungsvorsitzender des dortigen Instituts für Religionspolitologie e. V. Gerhard Besier, Prof. Dr. Dr.: Seit April 2003 Direktor des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung e. V. an der TU Dresden. Von 1992 bis 2003 Inhaber des Lehrstuhls für Historische Theologie und Konfessionskunde an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Manfred Brocker, PD Dr. Dr.: Im Wintersemester 2004/05 Inhaber der Otto von Freising-Gastprofessur der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Zuvor Forschungsaufenthalte am Nuffield College der Oxford University sowie am Department of Political Science der Yale University. Lehrstuhlvertretungen an den Universitäten Mannheim und München. Derek H. Davis, Prof. Dr.: Seit 1995 Direktor des J. M. Dawson Institute of Church-State Studies an der Baylor University in Waco (Texas). Hans Michael Heinig, Dr.: Wissenschaftlicher Assistent am Juristischen Seminar der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Jürgen Kühling, Dr.: Rechtsanwalt; Bundesverfassungsrichter a. D. Von 1989 bis 2001 Mitglied des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts, zuvor u. a. für das Niedersächsische Justizministerium und als Richter am Bundesverwaltungsgericht in Berlin tätig. Charles H. Lippy, Prof. Dr.: Professor für Religionswissenschaften und Inhaber des LeRoy A. Martin Lehrstuhls an der University of Tennessee in Chattanooga. Hermann Lübbe, Prof. Dr. Dr. h. c.: Seit 1991 Honorarprofessor der Universität Zürich, an der er seit 1971 Philosophie und Politische Theorie lehrt. Lübbe war u. a. auch Staatssekretär in Nordrhein-Westfalen.

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Autorenverzeichnis

Monika Medick-Krakau, Prof. Dr.: Seit 1995 Professorin für Internationale Politik am Institut für Politikwissenschaft der Technischen Universität Dresden; seit 2001 Prorektorin für Bildung; seit 2004 Wissenschaftliche Direktorin des Zentrums für Internationale Studien (ZIS). Gillbert Merlio, Prof. Dr.: Professor emeritus am Forschungszentrum „Identités, Relations Internationals et Civilisations de l’Europe“ (IRICE) an der Universität Paris-Sorbonne. Jan Philipp Reemtsma, Prof. Dr.: Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Hamburg. Außerdem tätig als Geschäftsführender Vorstand des Hamburger Instituts für Sozialforschung und Vorstand der Arno Schmidt Stiftung. Klaus-Georg Riegel, Prof. Dr.: Professor für Soziologie an der Universität Trier. Herbert Schnädelbach, Prof. Dr.: Seit 2002 Professor emeritus für Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin, war u. a. als Präsident der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie in Deutschland tätig. Tilman Seidensticker, Prof. Dr.: Inhaber der Professur für Islamwissenschaft, Institut für Sprachen und Kulturen des Vorderen Orients, Universität Jena, Leiter der Jenaer Arbeitsstelle des Forschungsprojektes „Katalogisierung der Orientalischen Handschriften in Deutschland“. Joachim Süss, Dr.: Friedrich-Schiller-Universität Jena, Thüringer Institut für Lehrerfortbildung, Lehrplanentwicklung und Medien. Bassam Tibi, Prof. Dr.: Seit 1988 Leiter der Abteilung für Internationale Beziehungen der Universität Göttingen und parallel A. D. White Professor-at-Large, Cornell University (USA). Inhaber von Gastprofessuren u. a. an der Islamischen Universität Jakarta, der Harvard-University und jüngst an der National University of Singapore. Jerzy Tutaj, Dr.: Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hochschule Wałbrzych (Polen). Direktor des Europäischen Zentrums im Schloss Fürstenstein. Markus Vinzent, Prof. Dr.: Inhaber der H. G. Wood Professur am „Center for Intercultural Communication and Human Resource Management“ der University of Birmingham, ist Mitbegründer des online-Netzwerkes für Wissenschaftler und Unternehmen, „Academici“. Hermann Weber, Prof. Dr.: Rechtsanwalt und Honorarprofessor an der Johann Wolfgang Goethe Universität-Frankfurt/Main, spezialisiert auf die Fachgebiete Öffentliches Recht und Steuerrecht.

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Jean-Paul Willaime, Prof. Dr.: Direktor des Instituts für die Geschichte und Soziologie des Protestantismus, Leiter der Forschungsgruppe „Sociologie des Réligions et de la Laïcité“ an der École Pratique des Hautes Études an der Universität Paris-Sorbonne. Michael Zöller, Prof. Dr.: Inhaber des Lehrstuhls für Politische Soziologie an der Universität Bayreuth und Präsident des Council on Public Policy, einer amerikanisch-deutschen Initiative der Politikberatung. Zahlreiche Veröffentlichungen zur politischen Soziologie, zur politischen und religiösen Kultur der USA sowie zur Ideengeschichte.

Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung 24: Michael Richter

26: Stefan Paul Werum

Die Bildung des Freistaates Sachsen

Gewerkschaftlicher Niedergang im sozialistischen Aufbau

Friedliche Revolution, Föderalisierung, deutsche Einheit 1989/90 2004. 1184 Seiten mit 16 Abb., 8 Karten und einem Dokumententeil auf CD, gebunden ISBN 3-525-36900-X

Am 3. Oktober 1990 verschwand die DDR von der politischen Landkarte. An ihre Stelle traten fünf neue Bundesländer, darunter der »Freistaat Sachsen«, um dessen Neubildung es 1990 zu erbitterten Auseinandersetzungen kam. Michael Richters grundlegende Darstellung analysiert die Entstehungsgeschichte dieses neuen Bundeslandes aus historischer Sicht und bietet in einer materialreichen Sammlung einen detaillierten Überblick über die Länderbildungspolitik dieser Zeit.

25: Thomas Widera

Dresden 1945–1948 Politik und Gesellschaft unter sowjetischer Besatzungsherrschaft 2004. 469 Seiten, gebunden ISBN 3-525-36901-8

In dieser Studie werden die Wirkungsmechanismen der Diktaturtransformation vom nationalsozialistischen zum kommunistischen Regime untersucht. Ihr Gegenstand sind Politik und Gesellschaft in der Stadt Dresden in den Jahren 1945 bis 1948. Eine außergewöhnlich dichte Quellenlage ermöglicht erstmalig eine minutiöse Darstellung und Analyse der Ereignisse in den Wochen und Monaten nach Kriegsende.

Der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB) 1945 bis 1953 2005. 861 Seiten mit 63 Tabellen, gebunden ISBN 3-525-36902-6

Die Umwandlung des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB) zur kommunistischen Massenorganisation war ein zentraler Vorgang im programmatischen Übergang zum Sozialismus sowjetischer Prägung in der SBZ/DDR. Diese institutionell-organisatorische Formung von Herrschaft wird in diesem Band gesellschaftsgeschichtlich und organisationssoziologisch rekonstruiert.

27: Frank Hirschinger

»Gestapoagenten, Trotzkisten, Verräter« Kommunistische Parteisäuberungen in Sachsen-Anhalt 1918–1953 2005. 412 Seiten, gebunden ISBN 3-525-36903-4

Hirschingers Studie untersucht anhand zahlreicher, vielfach erstmals veröffentlichter Dokumente das Vorgehen der Säuberungs- und Sicherheitsorgane in Partei und Staat in Sachsen-Anhalt vor und nach 1945.