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German Pages [142] Year 1972
K R I T I S C H E Z U R
S T U D I E N
G E S C H I C H T S W I S S E N S C H A F T
Herausgegeben von Helmut Berding, Jürgen Kocka, Hans-Christoph Sdiröder, Hans-Ulrich Wehler
Band 3 Hans Rosenberg Politische Denkströmungen im deutschen Vormärz
G Ö T T I N G E N • V A N D E N H O E C K & R U P R E C H T • 1972 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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P o l i t i s c h e i m
D e n k s t r ö m u n g e n
d e u t s c h e n
V o r m ä r z
VON HANS ROSENBERG
G Ö T T I N G E N • V A N D E N H O E C K & R U P R E C H T • 1972 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
© Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1972. - Printed in Germany. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf foto- oder akustomechanischem Wege zu vervielfältigen. - Satz und Druck: Guide-Druck, Tübingen. Bindearbeit: Hubert & Co., Göttingen ISBN 3-525-35935-5
© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
INHALT 1. Zur Einführung
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2. Theologischer Rationalismus und vormärzlicher Vulgärliberalismus . .
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3. Geistige und politische Strömungen an der Universität Halle in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts
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4. Zur Geschichte der Hegelauffassung
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5. Arnold Ruge und die „Hallischen Jahrbücher"
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6. Gervinus und die deutsche Republik. Ein Beitrag zur Geistesgeschichte der deutschen Demokratie
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Verzeichnis der ersten Druckorte
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Verzeichnis der Abkürzungen
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Anmerkungen
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Personenregister
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1. ZUR
EINFÜHRUNG
Die nachfolgende Aufsatzsammlung lenkt die Aufmerksamkeit auf den Vormärz, eine Epoche der deutschen Geschichte, die im letzten Jahrzehnt zu einem der Brennpunkte der west- und ostdeutschen Geschichtswissenschaft geworden ist. Der Neubelebung des Interesses am Vormärz liegen vor allem sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Fragestellungen und Themenkreise zugrunde, die sich mit den internationalen Bemühungen der Entwicklungsforschung stark berühren. Bleibt auch auf dem Gebiet der realen deutschen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts noch viel zu tun, so muß man doch für den jüngst erreichten Forschungsstand sehr dankbar sein. Namentlich dank der grundlegenden Arbeiten von Werner Conze, Wolfram Fischer, Carl Jantke, Reinhart Koselleck, Otto Büsch sowie der wichtigen Beiträge von Jürgen Kuczynski, Dietrich Eichholtz, Hans Mottek und seiner Schule erscheinen die wandlungs-, gegensatz- und spannungsreichen Dekaden, die der Revolution und Gegenrevolution von 1848 unmittelbar vorausgingen, in neuer Sicht. Zweifellos erkennt man klarer denn je zuvor, wie damals „der Moderne" die deutschen Tore sich zu öffnen begannen1. Lang vernachlässigte Grundtendenzen dieser Trendperiode sind in das Blickfeld gerückt: die tiefgreifenden Veränderungen in der Struktur des multidimensionalen Systems der rechtlichen, neuständisch-gesellschaftlichen, beruflichen, ökonomischen, staatsbürgerlich-politischen und kulturellen Klassen- und Gruppenschichtung sowie der Wandel in den Methoden und Wesenszügen der Organisation des Wirtschaftslebens, dessen Dynamik sich bereits seit den 1770er Jahren stark beschleunigt hatte. Zu den Kernproblemen der vormärzlichen Entwicklung gehören die Bevölkerungsexplosion, die radikalen Verschiebungen in den gruppenspezifischen Besitz- und Einkommensverhältnissen, Berufs- und Lebenschancen, die Neuformierung der sozialen und ökonomischen Elitegruppen, das lawinenartige Anschwellen der Entwurzelten und Eigentumslosen, die im Massenpauperismus zutage tretende chronische Sozialkrise, die langwährende monetäre Deflation, der materielle Fortschritt und die Steigerung des Sozialprodukts im Übergang zur Wettbewerbswirtschaft und Konkurrenzgesellschaft, zur Revolutionierung der landwirtschaftlichen Erzeugung und zu den technischen, organisatorischen und sozialen Neuerungen der Frühindustrialisierung. So gut wie nichts von diesen zentralen Epochenaspekten und strukturellen Sinn- und funktionellen Wirkungszusammenhängen, die für die Signatur des unter Verwendung konventioneller politischer Periodisierungskategorien üblicherweise als „Vormärz" bezeichneten Zeitalters charakteristisch sind, wird in den hier erneut abgedruck-
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Zur Einführung
ten Studien aufgerollt. Vielmehr richtet sich der Blick auf gewisse ideelle und politisch-geistige Strömungen und Gesinnungsgruppierungen, die in jener Zeit der Erschütterung des traditionellen Gesellschafts- und Wirtschaftsgefüges an Bedeutung gewannen. Aber diese Thematik ist alles andere als neu. Von jeher hat die deutsche Geschichtswissenschaft den intellektuellen und politischen Mächten des Vormärz starke Beachtung geschenkt. Lange genug, so muß man rückblickend feststellen, hat sich das Spektrum der am 19. Jahrhundert interessierten Fachhistorie im wesentlichen auf die politisch-staatliche und die Geistes-, insbesondere die politische Ideengeschichte beschränkt. Auch nach dem Zusammenbruch des Kaiserreiches blieb die im deutschen philosophischen Idealismus tief verankerte Erkenntnis- und Standortsuche der Historiker-„Zunft" auf diesen Betrachtungsrahmen ausgerichtet. Nach der Errichtung der Weimarer Republik konzentrierte sich die Forschung, unter dem Eindruck des Zeiterlebens und des Hineinschlitterns in den Volks- und pluralistischen Parteienstaat, neben der hitzig debattierten Kriegsschuldfrage vor allem auf den für das nationalgeschichtliche Selbstverständnis erneut zentral gewordenen Prozeß der partiellen politischen Modernisierung im 19. Jahrhundert. Nach wie vor lieferte dabei die Bismarcksche Beantwortung der nationalen Einigungsfrage und der politischen Freiheits- und gesellschaftlichen Emanzipationsprobleme den entscheidenden Orientierungspunkt, meist auch den Richtungsweiser für die sozialen Wertvorstellungen, politischen Wunschbilder und die historischen Urteilsmaßstäbe2. Jedoch wurde diese Problematik fortan zunehmend nicht nur „von oben" im Spiegel der „Haupt- und Staatsaktionen", sondern auch „von unten", also nicht bloß vom „palazzo", vielmehr auch von der „piazza" (wennschon meist auf die vornehmeren Wohnviertel beschränkt) gesehen und diskutiert. Diese Horizonterweiterung, die bereits im wilhelminischen Deutschland sich angebahnt hatte, kam in erster Linie in der verstärkten Berücksichtigung der politischen Ideenkreise, Bewegungen und Parteien zum Ausdruck. Bezeichnenderweise wurde dabei der Programmatik und dem Meinungskampf, den ideellen und moralischen Motiven und Begründungen, den führenden Persönlichkeiten und deren Staatsanschauungen, ihrer individuellen Eigenart und dem intellektuellen Niveau ihrer Ideologie sehr viel, dagegen der Analyse der Struktur und Organisation, der Mitgliedschaft und Anhängerschaft, dem politischen Willensbildungsprozeß per se, den sozialökonomischen Zeitumständen, den sehr differenzierten Berufs-, Besitz- und Erwerbsklassenbelangen und den materiellen Interessenorganisationen nur geringe oder überhaupt keine Beachtung geschenkt. So intransigent war noch in jener Zeit, von verschwindend wenigen Ausnahmen abgesehen, der Abscheu vor den Varianten einer materialistischen Geschichtsauffassung, obwohl nationale Heroen wie Friedrich der Große und Bismarck in Wort und Tat gerade für nichtidealistische Interpretationen des Geschichtsprozesses sehr viel Verständnis bekundet hatten, daß die deutschen Berufshistoriker selbst dem Gebrauch sozialökonomischer Begriffe, von präzisen ganz zu schweigen, möglichst aus dem Wege gingen. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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Die hier wiederveröffentlichten Untersuchungen wurden in den Jahren 1927 bis 1929 geschrieben. Sie behandeln etwas abgelegene Spezialthemen. Trotzdem fehlt es nicht, wie mir scheint, an einem einigenden Band. Denn sie befassen sich mit Teilsaspekten eines umfassenderen Problembereichs, nämlich mit dem Strukturwandel des öffentlichen Lebens im Vormärz, insofern derselbe inmitten reformierter obrigkeitsstaatlich-bürokratischer Herrschaftsordnungen mit oder ohne konstitutionelle Verfassungsformen in der Artikulierung und Polarisierung der politischen Grundeinstellungen und Ideologien sowie in der Prägung eines neuartigen öffentlichen Lebensstils seinen Ausdruck fand. Die gesellschaftlichen Träger dieses geistig-politischen Mobilisierungsprozesses waren Studenten und berufstätige Angehörige der beamteten und nichtbeamteten vorindustriellen Bildungsschichten. Die intellektuelle Führungsrolle lag vornehmlich in den Händen von Mitgliedern der geisteswissenschaftlichen und literarischen Leistungselite in den Universitätsstädten, die in jener Zeit als Foren der politischen Bewußtseinsklärung und der Meinungs- und Willensbildung besonders bedeutsam waren, zumal Sprecher des noch schwachen kapitalistischen Industriewirtschaftsbürgertums in der politischen Öffentlichkeit der neuständischen Gesellschaft vor den 1840er Jahren nur ganz vereinzelt hervortraten. Die nachfolgenden Studien gehen auf meine tastenden Anfänge als selbständiger wissenschaftlicher Arbeiter zurück. Nicht zuletzt durch die innere Auseinandersetzung mit dem zeitgeschichtlichen Milieuwandel, der Erschütterung überkommener Werte und der Zerstörung alter Erwartungen, die durch den Ersten Weltkrieg und die Revolution von 1918 ins Rollen gekommen waren, wurden meine historischen Erkenntnisbemühungen in bestimmte Bahnen gelenkt. Als ein individuelle und kollektive Freiheitsgrundrechte und demokratische Strukturen in Staat und Gesellschaft entschieden bejahender junger Staatsbürger konzentrierte sich mein Forschungsinteresse zunächst auf die Exponenten liberaler und demokratischer Denkrichtungen und die damit verbundenen politischen Freiheits- und Mitbestimmungsbestrebungen vor der Revolution von 1848. Im Hinblick auf die Gefährdungen und Vorbelastungen, mit denen die Weimarer Republik zu kämpfen hatte — wie unzählige andere überschätzte ich ihre Lebenskraft während des kurzen, relativ stabilen Intervalls zwischen Inflationsende und Beginn der großen Wirtschaftskrise im Jahre 1929 —, lag mir daran, auf der Suche nach Anknüpfungspunkten und Nahtstellen in der vielfarbigen deutschen Geschichtstradition Einblick in die Frühgeschichte der liberalen und der liberal-demokratischen Opposition zu gewinnen, der seit der mißglückten Generalprobe von 1848 nicht gerade eine gottbegnadete Zukunft in der politischen Kultur- und Machtgeschichte der deutschen Nation beschieden war. Seit der Niederschrift meiner Jugendarbeiten ist nahezu ein halbes Jahrhundert vergangen. Selbstverständlich fehlt es weder an revisionsbedürftigen Urteilen, noch an verschwommenen und primitiven Sozialbegriffen, noch an recht naiven und widerspruchsvollen Vorstellungen darüber, wie Ideen „Geschichte machen" und sich im gesellschaftlichen und politischen Raum bewegen. All das bereitet mir heute Unbehagen. Es wäre ein Leichtes gewesen, zumindest die © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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Zur Einführung
unliebsamsten der zutage tretenden Schwächen der Betrachtungsweise, Methodik und Interpretation zu beseitigen oder zu retuschieren. Wenn ich mich trotzdem zur Wiederveröffentlichung in der ursprünglichen Form entschlossen habe — lediglich der Essay „Zur Geschichte der Hegelauffassung", der an anderer Stelle hatte abgedruckt werden sollen, erscheint hier in leicht veränderter Fassung —, so geschieht es aus einem sachlichen Grunde. Über das rein Personelle hinaus fällt ein Lichtstrahl auf gewisse Unterströmungen und schüchterne Revisionsbestrebungen in der deutschen Geschichtswissenschaft der 1920er Jahre. Und damit wird zugleich das Bleigewicht sakrosankter Traditionen, Wert- und Urteilsmaßstäbe sichtbar, von denen ein junger, zur Fachzunft gehörender Gelehrter bei der damaligen historiographischen Lage, die im Gegensatz zu Literatur und Kunst durch sehr viel Kontinuität und nur wenig Neuerung gekennzeichnet war, sich nur schwer zu distanzieren vermochte8. In meiner wissenschaftlichen Frühzeit, die von der Suche nach „Weltanschauung" überschattet war, fesselten mich vor allem geistesgeschichtliche Probleme. Deshalb wurde ich ein Schüler Friedrich Meineckes, bei dem ich 1927 promovierte. Bereits zu jenem Zeitpunkt stand ich jedoch im Begriff, meinem hochverehrten und geliebten Lehrer, den ich auch als „Vernunftrepublikaner" schätzen gelernt hatte, „untreu" zu werden. Denn ich war an dem Typus individualisierendelitarer ideengeschichtlicher Analyse irre geworden, die seit Wilhelm Diltheys Tagen Meinecke so meisterhaft und verführerisch weiterverfolgt hatte. Es gärte und brodelte in mir, und aus der für mich brennend gewordenen Frage „Kleiner Mann, was nun?" erwuchs vorerst ein andersartiger, nüchternerer, „vulgärerer" geistesgeschichtlicher Ansatz. Methodisch erschien es mir als notwendig, gegenüber individualisierenden Geschichtsauffassungen typologische stärker zu betonen. Letzten Endes liefen meine Überlegungen auf den meine Kräfte übersteigenden Versuch hinaus, kollektive Ideengeschichte, d. h. geistige Gruppengeschichte zu schreiben und sozusagen eine „aristokratische" Betrachtungsweise des Kulturlebens durch eine „demokratische" zu ergänzen. Das war damals kein alltägliches Unterfangen. Mit dieser in mir dämmernden Konzeption verloren für mich die großen schöpferischen Denker und die Originalität, Tiefe oder gar „Schönheit" ihrer Ideen per se zwar nicht an intellektuellem Zauber und Höhenluft-Stimulans. Wohl aber wurde mir die Einschätzung ihrer historischen Bedeutung fragwürdig, insofern dieselbe, unter souveräner Nichtbeachtung der dicht bevölkerten flachen Niederungen, auf die Heraushebung der isolierten Gipfelstellung der großen Denker und auf die Analyse der Selbstentfaltung ihrer Ideen und deren Rezeption in der für die esoterische Bildungselite reservierten Welt der höheren Kultur eingegrenzt wurde. Es war die Situationsbedingtheit und die soziale und politische Funktion der Ideen, ihre Wanderbewegung, intellektuelle Verwässerung und „Ausbeutung" auf recht verschiedenartigen Bildungsebenen und sozialen Schichtungslagen, ihre Wirkungsmacht in der historischen Alltagswelt und insbesondere ihre Rolle im realen gesellschaftlichen und politischen Kräftefeld, die meine Aufmerksamkeit © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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zu erregen begannen. Zwar hatte ich noch keine Ahnung von der „Wissenssoziologie", wie sie Max Scheler und Karl Mannheim in den 1920er Jahren zu entwickeln begannen, und von Max Weber hatte ich leider noch nicht mehr als „Politik als Beruf", „Wissenschaft als Beruf" und seine „Religionssoziologie" gelesen. Dennoch war in mir die nicht gerade tiefsinnige Einsicht erwachsen, daß schriftstellerisch aktive Intellektuelle zweiten und dritten Ranges, die geistiges Gold in Silber und Kupfer zu verwandeln und unter ein breites Publikum zu bringen wußten, historisch nicht weniger beachtenswert als die eminenten Köpfe sind. Kurz, was mir als spezifische Aufgabe, mit dem Blick auf den Vormärz, vor Augen schwebte, und was ich mit unzureichenden Mitteln, auf halbem Wege stehen bleibend, anzustreben begann, war eine Verbindung von Geistesgeschichte, Sozialgeschichte und politischer Gesinnungs- und Parteigeschichte. Die ersten in dieser Richtung von mir unternommenen Experimente sind mit den hier neu aufgelegten Untersuchungen identisch. Diese Studien stehen im Zeichen der damals sich anbahnenden Neuorientierung der historiographischen Grundanschauungen und Betrachtungsweisen. Unter den Fachhistorikern war es nur eine winzige Schar von versprengten Dissidenten, die im Verlaufe der 1920er Jahre ernste Vorbehalte gegen das tradierte nationale Geschichtsbild und die vorherrschende idealistische Geschichtsauffassung anmeldeten. Sie taten es, weil sie die in diesem Bilde dominierenden politischen Wertungen, gesellschaftlichen Ordnungsideale und nationalistischen Sendungsglaubensinhalte anachronistisch und gefährlich fanden. Demgegenüber erschien der großen Mehrheit nach wie vor, vielmehr: mehr denn je das Bismarcksche Reich — ein paar kleine Schönheitsfehler wurden konzediert — in strahlendem Sonnenglanz, geradezu als der ideale Höhepunkt der deutschen Nationalentwicklung. Das politische und gesellschaftliche Denken der in den 1920er Jahren tonangebenden Richtung in der historischen Fachdisziplin — man denke etwa an Georg v. Below, Johannes Haller, Georg Küntzel, Max Lenz, Erich Marcks, Gerhard Ritter, Dietrich Schäfer und Adalbert Wahl — war nationalistisch, konservativ-aristokratisch, patriarchalisch-hierarchischautoritär und restaurativ. Gemäß dieser defensiven und pietätvollen Grundhaltung, die von dem Heimweh nach untergegangener Herrlichkeit und der Liebe zu vorindustriellen Werten und Normen nicht loszukommen vermochte, standen sie demokratischen Grundsätzen, Institutionen und Spielregeln ablehnend oder gar in militanter Feindschaft gegenüber. In der Weimarer Republik fühlten sie sich um so weniger zuhause, als deren politische Führung zum Teil nicht mehr in den Händen von „Standespersonen", sondern von „einfachen Leuten" mit Elementarschulausbildung lag, die den Arbeiterklassen entstammten. Zwar fehlten unter den führenden Historikern keineswegs Persönlichkeiten, die angesichts der Zeitenwende eine tolerantere und mehr bejahende Stellung einnahmen, wie das Meinecke, Walter Goetz und in hohem Alter selbst Max Lehmann taten, bis zu einem gewissen Grade und in mehr schillernder Weise auch Hermann Oncken. Dennoch gilt, daß mit Ausnahme von ein paar Sonderlingen, die als „unsichere Kantonisten" angesehen wurden, die deutschen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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Fachhistoriker sich in altgewohnten Bahnen weiterbewegten und einen bemerkenswerten Korpsgeist bewahrten. Einem jungen Anfänger wie mir, der mit dem Status quo der Universitätshistorie unzufrieden geworden war, gleichzeitig jedoch sich aber auch durch sie eingeschüchtert fühlte, fehlten die Vorbilder und seriösen Leistungsmodelle, nach denen er greifen konnte. Zu jenem Zeitpunkt war lediglich der liberaldemokratische Historiker Johannes Ziekursch — bei ihm habe ich mich 1932 gegen den animosen Widerstand von Ernst Bertram, Martin Spahn und Friedrich von der Leyen habilitiert — richtungweisend hervorgetreten. Ziekursch hatte bereits geraume Zeit vor dem „kopernikanischen Jahr" der modernen Geschichte, wie Hans Herzfeld4 das Jahr 1917 bezeichnet hat, in seinen glänzend informierten Forschungen zur schlesischen Wirtschafts-, Sozial- und Verwaltungsgeschichte die mit dem Mythos des „alten Preußentums" verknüpften Geschichtslegenden unterhöhlt, und in den ersten beiden, 1925 und 1927 veröffentlichten Bänden seiner methodisch noch völlig konventionellen politischen Geschichte des Zweiten Reiches unterzog er das überkommene Bild der jüngeren nationalen Vergangenheit nüchterner Überprüfung und ersetzte es durch ein erheblich weniger romantisches. Abgesehen von Ziekursch erschienen erst gegen Ende der Weimarer Zeit einige größere Werke, die Zeugnis davon ablegten, daß nonkonformistische Denkrichtungen in der deutschen Geschichtswissenschaft an Schöpferkraft gewannen. Arthur Rosenbergs „Entstehung der deutschen Republik" (1928), Franz Schnabels „Deutsche Geschichte" (Bd. I u. II, 1929 u. 1933), Eckart Kehrs „Schlachtflottenbau und Parteipolitik" (1930) und Veit Valentins „Geschichte der deutschen Revolution von 1848—49" (1930 bis 1931) waren Pionierleistungen, die aufgrund der Fragestellung und Lebensnähe, der Originalität und Fruchtbarkeit der Methodik oder durch Vordringen in bisher vernachlässigte Sachbereiche des historischen Erkennens und durch auf breiter Materialbasis unternommene Neuinterpretationen der geschichtlichen Wahrheitssuche neue Ausblicke und Einblicke eröffneten. Auch die großartigen, methodisch wie konzeptionell bahnbrechenden strukturgeschichtlichen Altersaufsätze Otto Hintzes erschienen erst in den Jahren von 1928 bis 1932. Zu meiner Schande muß ich gestehen, daß ich zu jener Zeit achtlos an ihnen vorübergegangen bin. Erst in den dramatischen, aufrüttelnden Krisenjahren von 1929 bis 1932 befestigte sich mein wissenschaftliches Zielbewußtsein und verschoben sich meine Forschungsinteressen. Zur selben Zeit gewann ich auch größere Klarheit über den Standort meines sozialen und politischen Denkens und dessen Konsequenzen für die historische Themenwahl und Urteilsbildung. Das zeigt sich, wie ich glaube, in der zweiten Hälfte meiner 1933 veröffentlichten Kölner Habilitationsschrift über „Rudolf Haym und die Anfänge des Klassischen Liberalismus". Und daß ich in jenen Jahren, so gut ich es aus eigener Kraft vermochte, auch auf den Brückenschlag zwischen Geschichte und den Sozialwissenschaften lossteuerte und ein dementsprechendes Thema für empirische Untersuchungszwecke in den Griff zu bekommen versuchte — diese Emanzipation von dem © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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methodologischen Traditionalismus der deutschen Fachhistorie war in den 1920er Jahren unter den Älteren nur Otto Hintze und unter den Jüngeren nur Eckart Kehr gelungen —, fand seinen greifbaren Niederschlag in meiner noch vor der Emigration abgeschlossenen Monographie über die Konjunkturentwicklung der europäischen und nordamerikanischen Wirtschaft von 1848 bis 1859, ein Buch, das 1934 unter dem irreführenden Titel „Die Weltwirtschaftskrisis von 1857—1859" erschien. Aber nun ein paar abschließende Worte zu den nachfolgenden Essays, die in erster Linie dazu bestimmt waren, zur Erhellung der bis dahin unterschätzten Spätgeschichte der deutschen Aufklärung und zur Klärung der Rolle der Intellektuellen in der Erweckung politischen Bewußtseins im Vormärz einen Beitrag zu liefern. Der Nachdruck liegt auf dem politischen Denken und Wollen liberal, bzw. demokratisch gesinnter Elemente und auf ihrer geistig-kämpferischen Auseinandersetzung mit anders denkenden Angehörigen der kulturellen Führungsgruppen und der politischen Herrschaftsinhaber. Es sind verschiedenartige Personenkreise, ideelle und externe Antriebskräfte, ideologische Standorte und kulturprägende Strömungen, die in Erscheinung treten. Zunächst die homogene geistige und politische Gesinnungsgruppe der dem praktischen Leben zugewandten, didaktisch ausgerichteten theologischen Rationalisten. Sie gehörten zur politisch engagierten beamteten geisteswissenschaftlichen Intelligenz und somit zur Gesellschaftsschicht der arrivierten Gelehrten, die in der noch immer streng hierarchisch abgestuften und mit dem Privilegienwesen verzahnten neuständischen Sozialklassenordnung dank der Aufwertung der höheren Bildung in der gesellschaftlichen Rang- und Prestigehierarchie eine seriöse Notabelnstellung einnahmen. Handelt es sich doch bei den Mitgliedern dieser aus der gleichen Berufsschicht rekrutierten, räumlich weit verstreuten Führungsgruppe nahezu ausschließlich um schriftstellerisch und pädagogisch aktive ordentliche Universitätsprofessoren der Theologie, die in ihrem Berufsbereich sowie in der Öffentlichkeit als Popularisatoren der Moralphilosophie der Spätaufklärung und als Vorkämpfer einer freiheitlichen Staats- und Gesellschaftsordnung hervortraten. Zur Schaffung der bürgerlichen Kultur des Frühliberalismus haben sie einen wichtigen Beitrag geliefert, da sie auf die Ausbildung und Gedankenwelt eines nicht quantifizierbaren Teiles der Geistlichkeit und der Lehrerschaft, indirekt auch auf das soziale und politische Handeln eines breiteren und mehr gemischten Publikums zeitweilig einen richtungweisenden Einfluß auszuüben vermochten, wie das namentlich die sogenannte Lichtfreundebewegung erkennen läßt. Dahinter steht ein umfassenderes historisches Problem: Durch die theologischen Rationalisten, aber nicht weniger durch ihre konservativen und reaktionären Gegenspieler erhielten nach dem Ausgang des 18. Jahrhunderts zum erstenmal in der deutschen Geschichte seit dem Reformationszeitalter der „politische Protestantismus" und die Politisierung der Religion einen frischen Auftrieb. Zugleich wurde damit aber auch die politische Aktivierung und Umfunktionierung der Universitäten vonangetrieben, und zwar nicht nur durch theo© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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logische Lehrstuhlinhaber, sondern auch durch Philosophen, Historiker, Juristen und Philologen, die mit der bloßen Erfüllung der regulären Berufsaufgaben sich nicht mehr zufriedengaben und auf eigene Faust in Rede und Schrift Visionen über die Gestaltung des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens entwickelten, die sie als selbsternannte „Führer der Nation" ihren Hörern und Lesern unterbreiteten. Dieser Wandel ist das Grundthema des zweiten Aufsatzes über die Universität Halle. Leider läßt er eine klar umrissene Problemstellung ebenso wie eine durchgehende Leitidee vermissen, zumal er in der Aneinanderreihung biographischer Charakterskizzen steckengeblieben ist. Die Schwächen der Methodik werden vielleicht teilweise durch die Anschaulichkeit der beschreibenden Darstellungsweise gemildert. Sie vermittelt einen Eindruck von der Atmosphäre und den kleinen Menschlichkeiten des damaligen Universitätslebens, zu dem auch unterhaltsamer, wennschon belangloser „Gelehrtenklatsch" gehörte. Aber das ist nicht das Entscheidende an dieser Früharbeit. Wenn ich es auch nicht mit der wünschenswerten Klarheit und Entschiedenheit formuliert habe, so sollte doch an dem Beispiel dieser als Korporation organisierten, auf einen lokalen institutionellen Rahmen bezogenen, von Kampfgeist und scharfen politischen Meinungsgegensätzen erfüllten Hallenser Gelehrtengruppe gezeigt werden, daß in jener Zeit, einem Zeitalter der Unschuld, die deutschen Universitätsfakultäten aus dem Elfenbeinturm herausdrängten, indem sie Forschung und Lehre mit politischer Ideologieklärung, Abgrenzung der Frontenstellungen im öffentlichen Leben und aktiver Einflußnahme auf die politische Meinungs- und Willensbildung zu verbinden strebten. Eine ernster zu nehmende Variante „kollektiver Geistesgeschichte" wird durch die dritte Abhandlung repräsentiert. Auch in diesem Fall stehen im Mittelpunkt intellektuell produktive, eine Führungsrolle ausübende Mitglieder der Bildungselite, die im Gegensatz zu den theologischen Rationalisten jedoch alles andere als eine homogene geistige Interessen- und gleichgestimmte politische Gesinnungsgruppe bilden. In zeitlicher Folge auftretend und über den Vormärz hinausgreifend, treten sie als Exponenten gegensätzlicher Denkweisen und Träger höchst unterschiedlicher Bestrebungen hervor und zwar in der Perspektive eines ganz bestimmten Teilaspektes: in ihrer Reaktion auf Hegel und seinen Einfluß. Das Gemeinsame, das die hier herausgehobenen Philosophieprofessoren, Historiker, Rechtsgelehrten, freien Schriftsteller, publizistischen Organisatoren und politischen Ideologen zusammenhält und gerade aufgrund der internen Ungleichartigkeit der Antriebe, Anschauungen, Zielsetzungen und Wirksamkeit als eine sinnvolle geistesgeschichtliche Untersuchungseinheit konstituiert, ist ihr Interesse an einer kritischen Auseinandersetzung mit Hegels Denken und den Nachwirkungen seiner Lehre, deren Problematik gegenwärtig erneut zur Diskussion gestellt worden ist5. Auch heute noch erscheint mir der Versuch einer Klärung des kaleidoskopischen Hegelbildes ein heuristisch fruchtbarer Brennpunkt, da er zur Herstellung relevanter Verbindungslinien zu umfassenderen historischen Zusammenhängen anregt und einen Ausblick auf den © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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Pluralismus und die Dynamik der Denkrichtungen und philosophischen Schulen sowie der politischen Strömungen und Ideologien im 19. Jahrhundert eröffnet. Erheblich enger ist der Betrachtungsrahmen, bescheidener aber auch der Untersuchungszweck in den letzten beiden Studien. Hier steht ein auf die Frühgeschichte demokratischen Denkens bezogener Wandlungsprozeß im Vordergrund, und zwar im Spiegel von zwei Einzelpersönlichkeiten, Ruge und Gervinus, die in der traditionellen Geschichtswissenschaft nicht hoch im Kurse standen und, wie mir schien, bis zu einem gewissen Grade der „Aufwertung" bedurften. An Ruge fand ich naturgemäß besonders beachtenswert die Rolle, die er als Herausgeber der „Hallischen Jahrbücher" und damit als idealtypischer Vertreter eines bestimmten, ungewöhnlich substanzarmen Denkstils spielte. Diesen suchte ich herauszuarbeiten, da seine Grundzüge, die Dialektik des Begriffs und das Glasperlenspiel mit der reinen Bewegung des Gedankens, durchaus repräsentativ für die kollektive Mentalität waren, die in den „Jahrbüchern" allmählich die Oberhand gewann. Um Ruge scharten sich die zu philosophisch-politischen Publizisten sich wandelnden radikalen Hallenser und Berliner Junghegelianer, während die intellektuell unvergleichlich bedeutenderen und politisch zahmeren schwäbischen Junghegelianer und erst recht die Universitätsprofessoren in Amt und Würden von weiterer Mitarbeit nichts mehr wissen wollten8. Die auf eine demokratische Zukunft hindrängende, durch Ruge symbolisierte politische Linke der preußischen Junghegelianer besaß keinen festen sozialen Standort. Sie bildete eine hemmungslos polemische Untergruppe des gesellschaftlich frei schwebenden Flügels des vormärzlichen Literatentums. Ihre hisiorisch-politische Funktion und Bedeutung als Oppositionsgruppe sui generis bestand darin, durch das Medium einer programmatischen, als kollektives Organisationszentrum dienenden Zeitschrift das Philosophieren, Jonglieren mit Abstraktionen und Rasseln mit emotional geladenen Schlagworten zum Instrument des politischen Befreiungskampfes und der Erweckung politischer Unzufriedenheit zu machen, zugleich aber auch durch die dabei bekundete Labilität und Intoleranz und durch das Schweben in den Wolken das demokratische Prinzip zu diskreditieren. Auch in der abschließenden Studie über den Geschichtsschreiber, Gelehrtenpolitiker und Bildungsaristokraten Georg Gottfried Gervinus — sie ist auf ein zentrales Weichenstellungsproblem in der deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts ausgerichtet — dominiert noch eine personalistische Darstellungsmethode, für die Meinecke in seinen „Drei Generationen deutscher Gelehrtenpolitik" 7 ein Vorbild geliefert hatte. Entschiedener jedoch als in den vorausgehenden Abhandlungen wird hier, mit dem Blick auf den Entwicklungsgang einer der tapferen „Göttinger Sieben" und in wertender Stellungnahme — das Streben nach historischer Objektivität sollte nicht mit Indifferenz und normativer Standpunktlosigkeit verwechselt werden —, indirekt das Problem der Revision des überkommenen nationalliberal-konservativen, preußisch-kleindeutschen Geschichtsbildes aufgerollt. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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In der politischen Geistesgeschichite der deutschen wissenschaftlichen Elite seiner Zeit nahm Gervinus eine außergewöhnliche Stellung ein. Sie war außergewöhnlich, weil sein ideologischer und politischer Standort ein zunächst typischer, nach 1848 dagegen ein nahezu völlig isolierter und daher exzentrischer war. In seiner politischen Haltung und öffentlichen Wirksamkeit war Gervinus bis zum Sommer 1848 ein tonangebender, geradezu klassischer Vertreter des oppositionellen politischen Professorentums gemäßigt liberaler Richtung. Seine mutigsten Angehörigen holten sich gelegentlich bei der hohen Obrigkeit ein „blaues Auge", ohne es allerdings auf die Emigration ankommen zu lassen, wie das manche radikale junghegelianische Intellektuelle taten, die freilich weniger zu verlieren und in ihrem Heimatlande in Anbetracht der bestehenden Machtverhältnisse und Aussichten auch erheblich weniger zu gewinnen hatten8. Nach 1848 war Gervinus einer der ganz Seltenen unter seinen einstmaligen Berufskollegen und politischen Kampfgenossen, die sich von der Mitte her nach links statt nach rechts entwickelten und aus den im „tollen Jahr" zerstörten Illusionen „unzeitgemäß zeitgemäße" Konsequenzen zogen. Das führte schnell zu seiner geistigen und politischen Vereinsamung. Die Kluft, die sich zwischen seinem historischen, sozialen und politischen Denken und der Anschauungswelt und dem Verhalten seiner Standesgenossen und einstmaligen politischen Freunde auftat und allmählich vertiefte, wurde nur momentan durch die Sympathiekundgebungen überdeckt, die der 1853 gegen ihn angestrengte Prozeß „wegen Aufforderung zum Hochverrat und wegen Gefährdung der öffentlichen Ruhe und Ordnung" auslöste. Den Anlaß zu diesem Strafverfahren lieferte die kurz zuvor von Gervinus veröffentlichte „Einleitung in die Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts", in der er die zentralen säkularen Entwicklungstendenzen der modernen europäischen Geschichte unter besonderer Betonung der überindividuellen Antriebskräfte und der Strukturveränderungen zu bestimmen versucht hatte. Auch international erregte dieser Hochverratsprozeß erhebliches Aufsehen, nicht weil es sich um Herrn Prof. Dr. Gervinus und seine an ein kleines gelehrtes Publikum gerichteten Gedankengänge handelte, sondern weil die Freiheit von Lehre und Forschung, die Freiheit der Meinungsäußerung und das Recht auf Opposition gegen ein illiberales Regime auf dem Spiele standen. Um so nachhaltiger war das Totschweigen, das nach den 1850er Jahren und erst recht nach 1870 über Gervinus verhängt wurde. Im Reichsgründungsjahrzehnt und im neuen deutschen Kaiserreich waren seine Version der Verbindung von Geschichtsschreibung und Politik und sein Dialog mit dem Gestern, Heute und Morgen nicht mehr „salonfähig". Denn sie beruhten auf dem Übergang zu einer kollektivistischen Geschichtsauffassung mit stark deterministischen und teleologischen Zügen, dem grundsätzlichen Bekenntnis zur demokratischen Republik, der Verkündung eines demokratischen Zeitalters für das deutsche Volk, dem Ruf nach Integration der Industriearbeiterschaft in die bürgerliche Gesellschaft und der unzweideutigen Ablehnung der Bismarckschen Reichsgründung und imperialistischer Machtgelüste. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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Namentlich den nachmärzlichen Gervinus der unverdienten Vergessenheit zu entreißen, schien mir in der Weimarer Zeit eine verlockende Aufgabe. Sie ist es auch heute noch und sollte gründlicher und abgewogener in Angriff genommen werden, als ich es damals als unerfahrener, fortschrittsgläubiger, Frühreife mit Unreife verbindender junger Mensch zu tun vermochte9.
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2. THEOLOGISCHER RATIONALISMUS UND VORMÄRZLICHER VULGÄRLIBERALISMUS Leibniz' apologetischer Versuch, die Religion mit der Philosophie zu verknüpfen, die Wahrheiten der überlieferten christlichen Religion als Vernunftwahrheiten und zugleich als sittliche Postulate, die Identität des „wahren", überkonfessionellen, in den Evangelien zum Ausdruck kommenden Christentums mit der „natürlichen", rationalen Religion nachzuweisen, bildet den Ausgangspunkt der deutschen Aufklärungstheologie, deren Weiterentwicklung vor allem durch Christian Wolff und seine Schule bestimmt wird. Daß die Offenbarung zwar über die Vernunft hinausgehen, ihr aber nicht widersprechen und nur so viel enthalten dürfe, wie zur Heilsgewißheit notwendig ist, war für Wolff ein ebenso grundlegender Gedanke wie der, daß der tatsächliche Lehrgehalt der positiven christlichen Religion den Forderungen der Vernunft entspreche. Durch Wolff, einen der großen Schulmeister des deutschen Volkes, wurde die Aufklärungsphilosophie zu einer Angelegenheit des bürgerlichen Mittelstandes, der dereinst diese Philosophie in den Dienst seiner politischen und sozialen Emanzipation stellen sollte. Der Grundstock der Wolffschen Religionslehre, der „natürliche" Glaube an Gott, Freiheit und Unsterblichkeit der Seele blieb ein unverlierbares Gut der deutschen Aufklärungstheologie, die im Gegensatz zum Auslande keinen antireligiösen Charakter angenommen hat. Wohl aber konnte die frei gewordene Vernunft in dem Glauben an ihre Allmacht nicht haltmachen vor den Schranken der positiven Religion. Wohl mußte die Zeit kommen, wo sie der ewigen Kompromisse überdrüssig wurde und den Mut zur Konsequenz faßte. Darin besteht ja vor allem das große historische Verdienst der Aufklärungstheologie und -philosophie, daß sie die christliche Religion auf die Freiheit der moralischen Person gegründet, daß sie zur Begründung einer allgemeinen vergleichenden Religionswissenschaft geführt, daß sie einen allgemeinen Begriff der Religion aufgestellt, daß sie die Bedingtheit der verschiedenen Religionen gegenüber der „Religion an sich" und innerhalb der als absolut konstruierten christlichen Religion die Bedingtheit der verschiedenen Bekenntnisse nachgewiesen hat. Die letzte Folgerung zog erst der vom Strom des modernen Realismus, Historismus und Relativismus ergriffene und mitgerissene Ludwig Feuerbach: Es gibt überhaupt keine absolute Religion 1 ! Im Deutschland des 18. Jahrhunderts schieden sich die Geister vor allem an der Frage nach der Möglichkeit und Gültigkeit einer supranaturalen Offenbarung. Um diese Frage entspann sich ein Kampf, der schließlich zur Zerstörung des Dogmas der Reformation, zur Aufgabe des kirchlichen Lehrsystems und
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des reformatorischen Staatskirchenrechts, zur durchgreifenden Umwandlung des an politische und soziale Verhältnisse eng gebundenen evangelischen Kirchenregimentes und zur Auflösung des Religiösen in eine bloße Tugendlehre geführt hat. Die verschiedensten Richtungen, die alte orthodoxe Theologie, die Wolfische Religionsphilosophie, die konservative und radikale Zweige aus sich hervortrieb — man denke nur an Reimarus —, die durch den englischen Deismus beeinflußte Theologie, die historisch-kritisch verfahrende Religionsbetrachtung und der Pietismus platzten feindlich aufeinander. Man kann sich das theologisch-religiöse Leben in Deutschland um die Mitte des 18. Jahrhunderts kaum reich und zwiespältig genug vorstellen. Vor allem muß an den Pietismus erinnert werden, der für die Neubelebung der Frömmigkeit von so außerordentlicher Bedeutung war. Er stellte die Bibel in den Mittelpunkt des religiösen Lebens und verlegte das Schwergewicht von der Dogmatik hinweg auf ein praktisches, auf humane Menschenliebe gegründetes Christentum. Wenn er auch in seiner gefühlsseligen Weise die neue rationale Wissenschaft bekämpfte und verachtete, so konnte er sich doch in seinen praktisch-humanitären Bestrebungen und in der Nichtachtung der Symbole, aber auch nur darin, mit dem theologischen Rationalismus finden, der in dem unendlich fleißigen und gelehrten Salomo Semler, dem eigentlichen Schöpfer der historisch-kritischen Bibelforschung, seinen hervorragendsten Wegbereiter und Begründer hat. Semler hat die Lehre vom Kanon vernichtet und damit seinem späteren theologischen Gegner Lessing den Weg gebahnt, zugleich aber auch jener vom Geist der populären Aufklärung getragenen Theologenschule, die erst gegen Ende des Jahrhunderts unter der Einwirkung von Kants „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft" (1793) zum Aufbau einer systematischen Theologie gelangt ist. In der Geschichte der Theologie lebt diese Schule fort unter dem Namen des theologischen Rationalismus. Die allgemeine Geistesgeschichte versteht unter dem theologischen Rationalismus etwas Größeres, Gewaltigeres, Universaleres: Die souveräne Reflexion des Verstandes über den Glaubensinbalt. Bereits im Reformationszeitalter beginnt dieser Rationalismus neben der orthodoxen Theologie sich Bahn zu brechen. Erasmus ist als sein Begründer bezeichnet worden; bereits Semler hat in ihm den Vater der neutestamentlichen Kritik gesehen. In mehrhundertjähriger Minierarbeit hat dieser Rationalismus die Voraussetzungen für die Aufklärungstheologie und die historisch-kritische Bibelforschung geschaffen. Der theologische Rationalismus, von dem hier die Rede sein soll, der Rationalismus vulgaris, bildet die letzte und konsequenteste Stufe dieser Theologie. Er wird vor allem repräsentiert durch Roehr, Wegscheider, Tzschirner, Bretschneider, Paulus, Henke, Gabler, Ammon und Dinter. Ihre heftig bekämpften Gegenspieler waren die Supranaturalisten, die an einer übernatürlichen, göttlichen Offenbarung festhielten. Tatsächlich waren die Gegensätze nicht so groß, wie beide Parteien glauben machen möchten. Sie berühren sich aufs engste in den praktischen Auswirkungen und in der verstandesmäßigen Erfassung des Religiösen, die sich sehr wohl, was meist übersehen wird, mit gemütvoller In© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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nerlichkeit und religiöser Demut zu paaren wußte. Wie tatsächlich beide Richtungen ineinander übergingen, beweisen die Unglücksgebilde des rationalen Supranaturalismus und des supranaturalen Rationalismus oder, um einen Namen zu nennen, die Vermittlungstheologie des milden und gütigen Heinrich Gottlieb Tzschirner (1778—1828). Für ihn werden Rationalismus und Supranaturalismus zu einer höheren Einheit, „denn in den wesentlichsten Lehren, in den Lehren, welche als die Grundpfeiler der Tugend und der Seelenruhe zu betrachten sind, in der Lehre, daß der Mensch zur Tugend bestimmt sei, daß ein heiliger Gott über der Welt walte, daß der Mensch nach dem Tode fortlebe, daß die Sünde vergeben werde, und daß Christus die Kirche nach dem Willen und Plane der Vorsehung gegründet habe, stimmen beide Systeme überein"2. Was diese aufklärerische Theologenschule zu Kant hinzog, das war dessen praktische Philosophie, insbesondere dessen rational begründete Moraltheologie. Hatte Kant gesagt: „Alles kommt in der Religion aufs Tun an, und diese Endabsicht, mithin auch ein dieser gemäßer Sinn muß allen biblischen Glaubenslehren untergelegt werden"3; „alles was außer dem guten Lebenswandel der Mensch noch tun zu können vermeint, um Gott wohlgefällig zu werden, ist bloßer Religionswahn und Afterdienst Gottes"4, so war das ganz nach ihrem Herzen gesprochen. Auch der Ansatz von Eudämonismus, der in Kants Lehre vom höchsten Gut lag, die Kritik an der christlichen Dogmatik und die Wundererklärung, soweit sie rationalistisch und nicht mythisch war, fand bei ihnen begeisterte Aufnahme. Aber für Kants religiösen Tiefsinn, für seine Hochachtung vor den Mysterien der christlichen Religion, für seine Erlösungslehre und seine Lehre vom „Radikalbösen" im Menschen fehlte ihnen das Verständnis. Für sie blieben die Auflösung der Religion in Moral und die Postulate der praktischen Vernunft maßgebend, die als göttliche Gebote gedeutet wurden. Nur galt es, ihren Rigorismus zu mildern, sie zu trivialisieren und popularisieren, sie den praktischen Bedürfnissen des alltäglichen Lebens anzupassen, sie auf den Standpunkt der Popularphilosophie und der vulgären Aufklärung zurückzuführen. Denn die Vernunft, die ihnen höchste Autorität war, war nicht die kritisch geprüfte Vernunft im Sinne Kants und erst recht nicht die schöpferische Vernunft der spekulativen Philosophie, sondern die räsonnierende Individualvernunft, deren grundsätzliche Identität in allen Menschen stillschweigend vorausgesetzt, damit dogmatisch fixiert und der Willkür des subjektiven Meinens und Beliebens entrückt wurde5. Es war letzten Endes der aprioristischer Denkmethoden sich bedienende gesunde Menschenverstand, dem es auf „ein Konkordat zwischen Glauben und Wissen" ankam. Aus dem Glauben an die Vernunftmäßigkeit des Christentums, die eine übernatürliche, göttliche Offenbarung ausschließt, erwuchs diesen Männern der Glaube an die Unvergänglichkeit der christlichen Religion, „weil nur allgemeingültigen, religiösen Vernunftwahrheiten ewige Dauer zukommen kann". Die kritische Vernunft kennt, im Rahmen des obersten sittlichen Zweckes, keine Schranken; sie verwirft jeglichen Aber- und Wunderglauben. Die Erklärung aus natürlichen Ursachen wird zum obersten Grundsatz der Bibelexegese. Für © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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die Vernunft ist die Heilige Schrift ein menschliches Buch, in dem das Zeitliche und Örtliche vom Ewigen und Bleibenden, die Form von der Idee zu scheiden und alles das auszumerzen ist, was von den Aposteln und der Kirche hinzugetan worden ist, denn zwischen dem „Christentum Christi" und dem Christentum der Kirche, zwischen dem Geist und dem Buchstaben des Christentums besteht ein gewaltiger Unterschied. Der Rationalismus kennt keine Christplogie, denn Jesus Christus ist „eine rein menschliche Erscheinung", „ein Heros der Menschheit im erhabensten Sinne". Jesu Geheimnis läßt sich mit Hilfe der natürlichen Kausalität ohne weiteres erklären. In ihm gelangt das Vernunftideal zur Erfüllung. Damit ist die Antinomie zwischen Vernunftreligion und positivem Kirchenglauben überwunden. Weil die Religion ein Wissen ist, „nicht Sache des Gefühls, sondern einer aus Erkenntnis hervorgehenden Gesinnung", so muß sie zur „Volksphilosophie" gemacht werden. Die „Aufklärung der Welt" wird zur vornehmsten Aufgabe, denn die Gegenwart erscheint gegenüber der „grauen Vorzeit" als die Zeit des „Lichts"und der „Vollkommenheit"6. Zu diesem saturierten Fortschrittsgefühl, zu diesem pädagogischen Wirkungsdrang, zu dieser rein verstandesmäßigen Auffassung des Religiösen, die das Sinnliche und Mystische, die Phantasie und das rätselhaft Geheimnisvolle in den Bann tut und für die Lehren von Erbsünde, Genugtuung und Rechtfertigung kein Verständnis findet, tritt als Entscheidendes die eudämonistisch-utilitarische Erfassung der Sittlichkeit. Der „letzte Zweck aller Religion" ist „reine Sittlichkeit", die der „Natur und Würde des Menschen" entspricht und durch die der Mensch sich „das Wohlgefallen Gottes" erwirbt und sich „für Zeit und Ewigkeit ein glückliches Los" bereitet. Voraussetzung des Sittlichen ist wiederum das Wissen, die Vernunftautonomie, das Bewußtsein der Freiheit. Auf die moralische Freiheit gründet sich die Lehre von der menschlichen Verantwortlichkeit. „Sittlichkeit ist Kind der Freiheit", liegt in der Überwindung des Sinnlichen, in der Selbstbeherrschung. Echt rationalistisch ist die psychologische Motivierung: „In der Moral aber kann jeder Erfinder sein, der die innere Welt seiner Gefühle und Bestrebungen mit Klarheit anzuschauen und in die verborgenen Verhältnisse des Lebens einzudringen vermag." Die sittliche Autonomie führt zum Einssein von Wissen und Handeln, zur Vernunftherrschaft und damit zur Gesetzesherrschaft. Aber diese Gesetzesherrschaft ist Moralität, nicht Legalität, denn das Übereinstimmen unserer Handlungen mit dem Gesetz fließt „aus sittlichen Beweggründen". Zu diesem Bilde des Menschen und der Weltordnung gelangt der Rationalismus in seiner Auseinandersetzung mit Kant und der Aufklärung. Seine Glaubenslehre läßt sich in dem Satze zusammenfassen: „Über mir ist ein Gott; in mir ein Gesetz; vor mir eine Unsterblichkeit."7 Die historische Bedeutung dieser Lehre beruht nicht auf ihrem gedanklichen Wert, der von epigonenhafter Blässe ist, sondern auf dem geradezu außerordentlichen Einfluß, den sie auf die Durchschnittsbildung der Zeit ausgeübt hat. Sie hat viel dazu beigetragen, das Leben im Sinne der populären Aufklärung zu leiten und zu gestalten und das Berufsleben zu heiligen. Namentlich von Johann Friedrich Roehr, dem „sichtbaren Haupt der Rationalisten"8, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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von Wegscheider, ihrem bedeutendsten Dogmatiker, und von Paulus, ihrem berühmtesten Exegeten, haben Tausende und Abertausende von Predigern, Lehrern und gebildeten Laien den entscheidenden Lebensimpuls empfangen. Lange Zeit hindurch ist der Rationalismus die herrschende Glaubensform gewesen. Auch Gustav Friedrich Dinter (1760—1831) ist von mächtiger Wirkung gewesen. Man darf ihn den Pädagogen des Rationalismus vulgaris nennen. Bis in die vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts beherrschten seine und Diesterwegs Ideen den Geist der preußischen Volksschule. Auch Dinter war kein Mann originalen Geistes. Seine Gedanken, die er mit nie ermüdender Geschwätzigkeit vorzutragen nicht versäumt, sind durchaus eklektischer Natur, eine Mischung von Rationalismus, verwässertem Kantianismus und Philanthropismus. Neben den abgegriffenen Gemeinplätzen, die seine Werke füllen, stehen Sätze, die an die urgesunde, kernige Frische von Justus Mösers „Patriotischen Phantasien" erinnern. Dinters realpraktische Wirkung war ebenso außerordentlich wie seine Arbeitskraft und Betriebsamkeit. Um die Reorganisation des ostpreußischen Schulwesens — er wirkte seit 1816 als Schulrat und Professor in Königsberg — hat er sich große Verdienste erworben, vielleicht größere als der allzu feurige und unstete Pestalozzianer Zeller, auf den Süvern und das Preußische Unterrichtsministerium so große Hoffnungen gesetzt hatten9. Mit Stolz war sich Dinter seiner Leistung und seiner ungewöhnlichen Arbeitskraft bewußt. „Ich lebe wie ein Höllenhund. Ich habe drei Köpfe: Sonntags bin ich Schriftsteller, in den Wochentagen Schulrat, nachmittags Professor. Gegen Abend lese ich mit Gymnasiasten noch lateinische, zuweilen auch griechische Schriftsteller. Meine Reisen sind meine Erholungen, und doch arbeite ich unterwegs soviel wie zu Hause."10 Von der optimistischen Überzeugung, daß die Pädagogik allmächtig sei, daß Tugend, Wissen und Tüchtigkeit erwerbbar, lehrbar und lernbar seien, ist Dinter durchdrungen. „Das Kind ist nichts durch sich selbst, kann nichts durch sich selbst, erlangt nichts durch sich selbst."11 Wie die Philanthropisten, so glaubte auch Dinter an die Identität von intellektueller Kultur und Glück und an die Identität von Tugend und Glückseligkeit. Daher ist „Aufklärung" die Aufgabe der Erziehung und der spezielle Zweck des Unterrichts, „Schärfung des Verstandes überhaupt und die Mitteilung derjenigen Kentnisse, die dem Menschen das Recht- und Gut-Handeln erleichtern, die ihn gesund, brauchbar und zufrieden machen können. Diese Aufklärung kann nie schädlich sein"12, denn sie wirkt gesinnungsbildend und führt zu Tugend und Glückseligkeit, die mit individueller und allgemeiner Nützlichkeit innerlich verbunden sind. Diesen höchsten Zweck der Erziehung wird man nach Dinter am ehesten erreichen, wenn man den gesamten Unterricht, einschließlich des Religionsunterrichtes, mit dem praktischen Leben verwebt, ihn auf moralisierende Gesichtspunkte und auf sinnliche Anschauung gründet. Dinter und seine Genossen kämpften für eine Lebens- und Weltanschauung, die den Keim des Todes in sich trug. Als nach den Stürmen der Französischen Revolution und vollends mit den Befreiungskriegen ein neuer Geist in das reli© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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giöse Leben drang, als Schleiermachers Gefühlstheologie, die an Schelling und Hegel anknüpfende spekulative Theologie und die den alten Pietismus fortsetzenden und im Gegensatz zur Union stehenden orthodox-reaktionären Strömungen, die in den „Muckern" und den „Erweckten", in dem Konventikelwesen, in dem christlich-germanischen Kreis und in Hengstenbergs „Evangelischer Kirchenzeitung" ihre Verkörperung fanden, als alle diese Richtungen immer weiter vordrangen und die führenden Schichten zu erfüllen begannen, da erreichte der theologische Rationalismus erst den Höhepunkt seines Einflusses. Seine Blütezeit fällt in die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts. Aber so seltsam ist ja oft das Spiel der Geschichte, daß eine geistige Richtung erst in dem Augenblick den Gipfel ihrer Wirksamkeit erreicht, wo sie wissenschaftlich bereits als überwunden und erledigt gelten muß. Neue geistige Bewegungen können immer nur von einzelnen oder einem kleinen Kreise bedeutender Individuen als den eigentlichen Wegbereitern der geschichtlichen Ideen ihren Ausgang nehmen. Sobald der Gedankengehalt einer solchen Bewegung zur festen Tradition wird, in den Bereich des Kampfes der Parteiungen, Stände und Klassen rückt, zum Gemeingut der großen Menge wird und damit, nach einem alten soziologischen Gesetze, notwendig der Nivellierung und Verflachung anheimfällt, sobald aus der von einzelnen verkündeten historischen „Idee" eine von den Massen getragene und im Kausalzusammenhang entscheidend wichtige historische „Tendenz" wird, treten aus dem Kreise der reicheren, aristokratischeren Naturen Persönlichkeiten heraus, die über die banal gewordene, innerlich schöpferischer Triebe entbehrende Lebensform hinauszudringen versuchen zu neuen, originalen Ideen, zu einer neuen Gestalt des Lebens. Der Kampf gegen die Aufklärung, den die Stürmer und Dränger begannen, die Romantiker zu einem vorläufigen Abschluß brachten, ist nicht zuletzt aus diesem Gegensatz heraus geboren. Aus der lauteren Tiefe des deutschen Geistes erwachsen, drängen diese ursprünglichen, schöpferischen Kräfte ans Licht. Sie werden zur weltwirkenden Macht, indem sie die Zwangsjacke von sich weifen, die der Zeitgeist ihnen anlegen will; der Zeitgeist, das ist „die zu bestimmten Grundsätzen, Anschauungen und Verstandesgewohnheiten konsolidierte Meinung des Jahrhunderts"13 oder, wie ihn Rohmer definiert hat, „der Wille der Majorität meiner Zeitgenossen"14. Zugleich aber offenbart sich hier, wie auch historische Erscheinungen dem Gesetze der Mode unterworfen sind, deren tieferer Sinn ja darin liegt, „einen Kreis in sich zusammen — und ihn zugleich von anderen abzuschließen"15. In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts stand so der Aristokratie des Geistes eine völlig wesensverschiedene Massenbildung gegenüber, deren wichtigster Zweig durch den sich mit einem vulgären Liberalismus verbindenden und allmählich sich darin auflösenden theologischen Rationalismus gebildet wird. Denn der Vulgärrationalismus war nicht nur eine theologische und pädagogische, nicht nur eine popularphilosophische und belletristische16, er war auch eine politische Bewegung. In all seinen mannigfaltigen Erscheinungsformen ist er ein in den breiten Volksmassen Wurzel schlagender Ausläufer der großen universal© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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historischen Entwicklung zum modernen Geistes-, Staats- und Wirtschaftsleben gewesen. Er war ein Glied jenes unendlich komplizierten Säkularisierungs- und Rationalisierungsprozesses, der zur Entstehung der modernen Kultur geführt hat. Zu den wesentlichen Merkmalen des lediglich als begriffliche Abstraktion vorstellbaren modernen Geistes gehört sein Individualismus und Rationalismus. Als allgemeiner psychologischer Geistestypus und als allgemeines erkenntnistheoretisches Prinzip muß der Rationalismus selbstverständlich von der empirischen, individuell historischen Zeitepoche des Rationalismus, die ihn der Aufklärungsbewegung einordnet, deutlich unterschieden werden. Überhaupt ist ja der Rationalismus einer jener vieldeutigen, vagen, mißlichen und doch unvermeidbaren Allgemeinbegriffe, die man nur gebrauchen sollte, indem man sie näher bestimmt. Es dürfte angebracht sein, an ein Wort von Max Weber zu erinnern: „Der Rationalismus ist ein Begriff, der eine Welt von Gegensätzen in sich schließt."17 Inwieweit der historisch eng begrenzte Rationalismus vulgaris in seiner ursprünglich theologischen Ausprägung die politisch-liberale Gedanken- und Parteibildung des 19. Jahrhunderts in Deutschland fördernd beeinflußt hat, das soll wenigstens andeutend hier aufgezeigt werden. Es ist bekannt, wenn auch im einzelnen bisher durchaus ungenügend erforscht, daß in hohem Grade das moderne Persönlichkeits-, Freiheits-, Gleichheits- und Individualitätsprinzip durch die kirchliche Staatslehre und die christliche Ethik bestimmt und befruchtet worden ist. Wie in dieser Ethik neben dem Persönlichkeitsgedanken der Erlösungsgedanke wirksam war, so ergaben sich auch verschiedene politische Konsequenzen18. Die Betonung des Persönlichkeitsgedankens konnte, indem man den Staat von den Individuen aus ansehen lernte, zu einer rationellen Staats-, Gesellschafts- und Rechtslehre, zu liberaldemokratischen Forderungen führen; der verweltlichte Erlösungsgedanke dagegen zu einer Identifizierung bestehender, autoritativer Machtverhältnisse mit Gottes natürlicher Weltordnung, zu konservativen und aristokratischen Staatsanschauungen. Wenn man von der unendlichen Mannigfaltigkeit der historischen Gestaltungen absieht und darauf verzichtet, das höchst komplizierte Ineinandergreifen von stoisch-christlichem und modern profanem Naturrecht klarzustellen, so kann man diese Zusammenhänge grob verallgemeinernd auf die Formel bringen: der Persönlichkeitsgedanke führt zum Liberalismus, der Erlösungsgedanke zum Autoritarismus und Konservativismus. Zahlreiche historische Formen hat dieser gedankliche Zwiespalt angenommen. In dem Gegensatz des theologischen Rationalismus und der pietistischen Orthodoxie wird eine dieser Gestaltungen empirische Wirklichkeit. Erst im Kampfe dieser beiden Richtungen enthüllen sich unter dem Druck der realen Zeitverhältnisse ihre politischen Konsequenzen. Für die Orthodoxie, für die Anhänger der Lehre vom legitimistischen monarchischen Prinzip, für den mit der Erweckungsbewegung in innigem Zusammenhang stehenden Kreis der feudalständischen Reaktion, der neben den Idealen der Spätromantik zugleich recht robuste Interessen vertrat und erbittert um die Aufrechterhaltung bzw. Erweiterung ihrer Privilegien kämpfte, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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war der theologische Rationalismus ein staatsgefährlicher, atomisierender Individualismus, eine gottlose, die Geister und Völker revolutionierende Bewegung, die im Bunde mit der auf die allgemeine Menschennatur sich berufenden naturrechtlichen Rechtsphilosophie darauf aus war, die Stellung der privilegierten Stände und die göttlich sanktionierte legitimistisch-monarchische Staatsordnung zu erschüttern. Das „Berliner Politische Wochenblatt", das es sich zur Aufgabe gesetzt hatte, „der Revolution in jeder ihrer Gestalten entgegenzutreten und die schlechten politischen Lehren durch die guten zu bekämpfen", empfand instinktiv einen Zusammenhang zwischen Rationalismus, Absolutismus und Liberalismus19. Wie stand es mit der Berechtigung dieser Vorwürfe? Der Drang nach „Uni-Form" ist die gemeinsame seelische Triebkraft, die im Absolutismus wie im Rationalismus wirkt. Der Absolutismus rationalisierte Staat und Wirtschaft, und der Rationalismus verabsolutierte den verselbständigten Verstand und die Rangordnung der sittlichen Werte. Treffend hat man den Rationalismus den „Absolutismus des Begriffs"20 genannt. — Solange der absolutistische Wohlfahrtsstaat mit der ihm eigenen religiösen Indifferenz den theologischen Rationalismus sich ruhig entwickeln und ausbreiten ließ, solange es den Theologen nur darauf ankam, ihr selbstbewußtes Drängen im Reiche des Geistes zur Geltung zu bringen, solange sie in ihrer praktischen Lebensauffassung mit den aufklärerischen und naturrechtlichen Tendenzen des Obrigkeitsstaates übereinstimmten und sich durch die eudämonistische Zweckgebundenheit seiner Tätigkeit in ihren eigenen Rechten nicht verletzt fühlten, hatten sie gegen die bestehende gesellschaftlich-staatliche Ordnung nichts einzuwenden, solange war ein Gegensatz zum Absolutismus durchaus nicht gegeben. Schon Reimarus hatte gesagt: „Wenn sie bloß die Streitfrage über die Wahrheit der Offenbarung erörtern und der vernünftigen Religion das Wort reden, so hindert das der Ruhe des gemeinen Wesens gar nicht, wofern die Theologi nur nicht Lärm blasen und den Pöbel aufhetzen."21 Indem nun aber der absolutistische Staat, insbesondere in Preußen, die Idee des allgemeinen Staatsbürgertums aus sich hervortrieb, förderte er zugleich, obwohl er der Hüter der alten ständischen Gesellschaftsordnung und des monarchischen Herrschaftsgedankens war, das notwendig im Laufe der Entwicklung daraus hervorgehende Verlangen nach allgemeinen staatsbürgerlichen Rechten, nach Geltendmachung der Genossenschaftsidee und nach konstitutioneller Beschränkung der Staatsgewalt. Diese Tatsache erst schuf die Voraussetzung dafür, daß der theologische Rationalismus in einen Gegensatz nicht nur zum polizeistaatlichen Absolutismus alten Stiles, sondern auch zum liberal-bürokratischen Beamtenstaat treten konnte, indem er nun auch die Politik dem räsonnierenden gesunden Menschenverstande unterwarf und das für den Obrigkeitsstaat wesentliche Fehlen öffentlicher Rechte als vernunftwidrig, als dem „Rechte, das mit uns geboren ist", widerstreitend erkannte. Ob es mehr die Konsequenz der Idee oder mehr der Druck der tatsächlichen Zeitverhältnisse, vor allem der Gegensatz gegen die politisch konservativ gefärbte Orthodoxie, war, der zu dieser Fortbildung des religiösen zum politischen Individualismus und Liberalismus führte, dürfte bei der unauf© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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löslichen Verknüpfung von Idee und Wirklichkeit nicht eindeutig zu beantworten sein. Wie der Konservativismus, der Demokratismus und der Radikalismus, so bezeichnet auch der Liberalismus einen Begriff, der „eine Welt von Gegensätzen" in sich schließt. Der Liberalismus als allgemeine Kulturidee und als uraltes weltanschauliches Prinzip des antiautoritären, antitraditionalistischen und fortschrittlichen Denkens ist nicht identisch mit dem viel enger umgrenzten „modernen" Liberalismus, den der übliche Sprachgebrauch im Auge hat. Dieser „moderne" Liberalismus, dessen Vorgeschichte eine Reihe von Jahrhunderten umfaßt, ist zu einer historischen Potenz allerersten Ranges, zu einem bestimmten historischen Begriff erst durch das Zeitalter der Aufklärung und der französischen Revolution geworden und stellt alles andere als ein eindeutig bestimmtes Gebilde dar. Zu den verschiedenen Zeiten und in den verschiedenen Ländern ist sein Wesen höchst verschiedenartig definiert worden, und ist er in der Tat etwas anderes gewesen. Wenn man nun trotz all dieser verschiedenartigen Fassungen des Begriffs und der Differenzen des realen Sachverhaltes mit gutem Recht von dem Liberalismus und von einer Geschichte des Liberalismus spricht, so macht man dabei die stillschweigende Voraussetzung, daß der Begriff des Liberalismus eine ganz bestimmte historische Erscheinung bezeichnet und daß zwischen alledem, was im Laufe der geschichtlichen Entwicklung unter dem Namen oder in der Gefolgschaft des Liberalismus aufgetreten ist, ein einigendes Band besteht. Ohne dieses Band wäre der Liberalismus keine geschichtliche Einheit, sondern ein anarchisches Chaos. Sprechen wir von dem Liberalismus, so nehmen wir damit an, daß es neben dem Wandel der von den Liberalen erhobenen, nach Zeit und Ort verschiedenen Forderungen und neben den im Laufe der geschichtlichen Entwicklung ewig wechselnden liberalen Parteiungen und Parteibezeichnungen, neben dem Wandel der konkreten Ziele und der Kampfmethoden konstante Faktoren, typisch wiederkehrende Prinzipien, bleibende Grundmotive des Denkens und Handelns gibt, die das „Wesen" des Liberalismus ausmachen und die zugleich besagen, daß es für den Liberalen nur eine begrenzte Zahl von Möglichkeiten gibt, zu den zentralen Fragen des Staats-, Gesellschafts-, Wirtschafts- und Geisteslebens prinzipiell Stellung zu nehmen. Die moderne Forschung hat sich lebhaft bemüht, aus dem Wandel der Erscheinungen und Gestaltungen des Liberalismus das Einheitsmoment herauszulösen und daraus das „Wesen" des Liberalismus abzuleiten. Je nach dem Standpunkt des Betrachters ist man dabei zu höchst ungleichartigen Ergebnissen gelangt. Von Formulierungen, die bestenfalls zur Charakterisierung eines kleinen Ausschnittes aus der Geschichte des Gesamtliberalismus ausreichend sind, geht es fort zu Definitionen, die derart vage, inhaltsleer und allgemein gehalten sind, daß sie entweder ins Uferlose verlaufen oder nicht mehr aussagen, als daß es sich hier um eine große historische Bewegung handelt, die den vor allem durch Renaissance, Reformation, Aufklärung und Rationalismus begonnenen, die Durchbrechung autoritärer Schranken und die Begründung der Freiheit und Autonomie des Denkens und der Persönlichkeit bewirkenden Rationalisierungs-, Indi© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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vidualisierungs- und Säkularisierungsprozeß aus der rem theoretischen Sphäre in die Sphäre des politischen, sozialen, wirtschaftlichen, überhaupt des praktischen Lebens hinübergeleitet und damit die große Freiheits- und Emanzipationsbewegung des „modernen Geistes" auf eine allseitige Basis gestellt und sich zu einem Reformideal des Gesamtdaseins entwickelt hat. Damit ist nun aber nicht genau gesagt, wann und wo der Liberalismus beginnt und seine „Vorgeschichte" zu Ende ist, wann und wo und ob überhaupt er zu existieren aufgehört hat, und was sein spezifischer Inhalt ist. Denn die Begriffe der „Autorität", der „Freiheit", der „Autonomie", der „Persönlichkeit" und des „Individualismus" erhalten erst durch eine präzise Inhaltsbestimmung einen konkreten Sinn, der nach Zeit und Ort verschieden ist. Es steht mit derlei allgemeinen Festlegungen ähnlich wie mit den Versuchen, das Wesen der Philosophie zu bestimmen. Wie dieses „Wesen" in auch nur annähernd erschöpfender Weise nicht vom Standpunkt einer bestimmten, als absolut angenommenen Philosophie, eines einzelnen philosophischen Systems oder doch wenigstens einer individuellen philosophischen Überzeugung, also nicht aus den relativ berechtigten, aber durchaus einseitigen und fragmentarischen Begriffsbestimmungen der einzelnen Philosophen definiert, vielmehr höchstens aus dem geschichtlichen Tatbestande der Philosophie selbst, aus der Geschichte des philosophischen Geistes erkannt werden kann und letzten Endes lediglich in der gemeinsamen Leistung zu erblicken ist, die durch die Arbeit sämtlicher Philosophien im Wandel der Geschichte zustandekam, so gestaltet sich ganz ähnlich das Problem bei der Frage nach dem „Wesen" des Liberalismus. Nur aus seiner Geschichte und in seiner Differenzierung vermag das „Wesen" des Liberalismus erkannt zu werden. Von welchen Gesichtspunkten und mit noch so breiter Heranziehung historischen Tatsachenmateriales man auch immer eine Definition des Begriffes Liberalismus versuchen mag, mehr als ein Wesensfragment, bestenfalls einen oder einige der dominierenden Faktoren wird eine solche Wesensbestimmung nach dem Stande unserer bisherigen Erkenntnis nicht zum Ausdruck zu bringen vermögen. Die Geschichte ist nun einmal, wie „Jacob Burckhardt sagt, „die unwissenschaftlichste aller Wissenschaften, nur daß sie viel Wissenswürdiges überliefert. Scharfe Begriffsbestimmungen gehören in die Logik, aber nicht in sie, wo alles schwebend und in beständigen Übergängen und Mischungen existiert. Philosophische und historische Begriffe sind wesentlich verschiedener Art und verschiedenen Ursprungs; jene müssen so fest und geschlossen als möglich, diese so flüssig und offen als möglich gefaßt werden"22. Zu befriedigenderen und wirklich weiterführenden Ergebnissen gelangen wir nicht durch vorschnelle und erkünstelte Definitionen und idealtypische Konstruktionen, sondern vorerst nur durch die historische Einzeluntersuchung, die einer selbständigen begrifflichen Klärung der Probleme nicht ängstlich aus dem Wege geht. Einem großen Dilemma aber vermag auch die Einzeluntersuchung nicht zu entrinnen: Der Liberalismus als Gesamterscheinung, der Begriff der Sache und des geschichtlichen Tatbestandes, vermag zwar nur aus seinen geschichtlichen Abwandlungen verstanden und näher bestimmt werden, diese ge© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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schichtlichen Abwandlungen selbst aber können nur erkannt und begriffen werden, wenn man eine der gewöhnlichen Vorstellungsweise entnommene allgemeine Ansicht von den wesentlichsten Merkmalen des Liberalismus bereits besitzt. Daß eine solche Vorstellung ständig von der Gefahr der vorschnellen Dogmatisierung und erkünstelten Verengerung bedroht ist und bis zu einem gewissen Grade dem subjektiven Empfinden und historischen Fingerspitzengefühl ausgeliefert bleibt, ist jedem, der ernsthaft mit den hier versteckten Problemen gerungen hat, schmerzlich fühlbar. Es besteht aber ein großer Unterschied zwischen einer philosophischen Definition, die mit dem Anspruch auf Objektivität, Allgemeingültigkeit und erschöpfende Allseitigkeit auftritt und, obwohl sie den realen Sachverhalt nur zum Teil zum Ausdruck zu bringen vermag, die empirischen Tatbestände in ein voreilig festgelegtes Schema hineinzwängt, — und einer historischen Allgemeinvorstellung, die sich ihrer subjektiven Bedingtheit und Unzulänglichkeit bewußt ist und die genauere Ermittlung der Kriterien der empirischen Untersuchung überläßt. Bei dieser Lage der Dinge ist es unmöglich, eine Einigung über den Sammelbegriff „Liberalismus" zu erzielen. Aber wenn wir ihn auch nicht eindeutig definieren können, so können wir doch nicht aufhören, ihn auch fernerhin zur Bezeichnung von ganz bestimmten historischen Erscheinungen zu verwenden. Ohne eine, in einer formalen Begriffsbestimmung allerdings nicht erfaßbare Allgemeinvorstellung vom Wesen des Liberalismus entbehrt die Untersuchung eines kritischen Auswahlprinzips und eines sicheren Wertmaßstabs, vermag sie innerhalb dessen, was im Laufe der geschichtlichen Entwicklung unter dem Namen des oder unter Berufung auf den Liberalismus aufgetreten ist, die liberalen von den nichtliberalen Elementen, den Scheinliberalismus von dem echten Liberalismus nicht zu scheiden, den Umfang der unter den Begriff des Liberalismus fallenden Tatbestände nicht fester abzugrenzen und die Wesenszüge nicht näher zu bestimmen. Nur unter diesen Voraussetzungen kann man, um ein konkretes Beispiel zu wählen, darüber streiten, ob Dahlmann dem Konservatismus oder dem Liberalismus zuzurechnen sei, oder zu dem Urteil gelangen: Wenn Bismarck den politischen Standpunkt seiner Jugendzeit als „ständisch-liberal" bezeichnet, so muß man auf Grund unserer Vorstellung vom Wesen des Liberalismus und insbesondere auf Grund unserer Kenntnis des frühen deutschen Liberalismus das Wörtchen „liberal" darin ausstreichen23. Ein unentbehrliches heuristisches Hilfsmittel zur Erfassung und Ordnung der historischen Wirklichkeit, ein Mittel, das zugleich dem unabweisbaren Streben des menschlichen Geistes, die Fülle der Einzelerscheinungen unter allgemeine Begriffe zu ordnen, eine gewisse Erfüllung gewährt, wird durch die Aufstellung von Typenbegriffen gebildet. So läßt sich auch das geheimnisvolle und vieldeutige Phänomen des modernen Liberalismus auf eine Reihe von Grundformen zurückführen. Derartige Grundformen dürfen nun aber keine idealtypischen Begriffsspekulationen sein, die, auf dem Wege eines isolierenden und idealisierenden Verfahrens zum voraus entworfen, wenn auch an wirklichen Tatbeständen sich orientierend, in der Art der an ihrer Stelle durchaus berechtigten © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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soziologischen und psychologischen Typen als Schemata an die historische Wirklichkeit angelegt werden. Sie müssen vielmehr vermittels abwägender Vergleichung aus einer Fülle von historischen Einzeluntersuchungen, die die unmittelbar gegebenen Tatsachen und Probleme, die wirklichen Gegebenheiten, das eigentliche Geschehen zum Forschungsgegenstande haben, durch Ausscheidung der gemeinsamen und verbindenden Merkmale abstrahiert werden. Es handelt sich also um empirische, auf induktivem Wege gewonnene verallgemeinernde Typen, die reale Wesenheiten zum Ausdruck bringen, jedoch der begrifrlichlogischen Schärfe entbehren. Da wir diese Typen in Ermangelung anderer Mittel durch eine knappe Formel bezeichnen, ergibt sich die Notwendigkeit, beim Gebrauch derartiger Schlagworte den Inhalt möglichst genau zu präzisieren. Grundlegende Formeln dieser Art sind etwa — um nur ein paar der allerwichtigsten zu nennen —: der staatsscheue und der den Staat als Macht bejahende Liberalismus, der Liberalismus der wirtschaftlichen Ellenbogenfreiheit und der der aristokratischen Persönlichkeitskultur, der vulgäre und der klassische, der gemäßigte und der radikale, der konstitutionell gesinnte und der auf Parlamentsherrschaft ausgehende, der vorwiegend weltbürgerlich gestimmte und der vorwiegend national gesinnte Liberalismus, der vormärzliche und der nachmärzliche, der vorbismarckische und der nachbismarckische Liberalismus; der Liberalismus des erwerbstätigen Bürgertums, der Aristokratie, des Beamtentums und der der Intelligenz, der auserlesenen Geister, der Gelehrten und der Literaten. Da der Liberalismus in eine Anzahl ungleichartiger, individuell eigentümlicher, aber doch zugleich vielfach ineinander übergehender und sich miteinander verbindender Formen und Strömungen zerfällt und uns nur in seiner Differenzierung zugänglich ist, wird das, was an den historischen Problemkomplexen und Tatbeständen als das eigentlich „Liberale" anzusehen ist, von Fall zu Fall ganz konkret näher bestimmt werden müssen. Dabei erhebt sich sofort das überaus schwierige, an dieser Stelle nicht näher zu erörternde Problem der sowohl prinzipiellen wie konkreten Stellung des Liberalismus zum Demokratismus und Konservativismus. Daß beispielsweise der „klassische" Liberalismus vermöge seines geistigen Ursprungs, seiner aristokratisch-exklusiven Haltung und der gesellschaftlichen Stellung seiner Vertreter dem Konservativismus vielfach näher steht, als dem „vulgären" Liberalismus und daß die weit überwiegende Mehrheit der deutschen Liberalen lange Zeiten hindurch nur so lange „liberal" war, als sie für die Rechte des dritten Standes kämpfte, in dem Augenblick aber „konservativ", und zwar vielfach konservativer als die sogenannten Konservativen wurde, als das Proletariat seine Ansprüche anmeldete, dürfte heute wohl allgemein anerkannt werden. Es zeigt sich hier zugleich, wie verfehlt das vielfach noch immer beliebte Verfahren ist, den Liberalismus schlechthin und ein- für allemal als die Partei der Bewegung, der Neuerung und des Fortschritts zu charakterisieren. Erst da, wo der Liberalismus als eine fest organisierte politische Partei und in parlamentarischen Formen auftritt, scheint der Geschichtsschreiber des Libe© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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ralismus methodisch auf einem sichereren Boden zu stehen und einen festen Rahmen für seine Darstellung zu besitzen. Stehen doch bei dem parlamentarischen Liberalismus die realen Vorgänge meist über den oft ins Uferlose abschweifenden prinzipiellen Erörterungen, die Interessen- und Machtfragen über der Ideologie, und kann man doch hier, statt von einer Summe neben- und gegeneinanderstehender eigenwilliger Einzelpersönlichkeiten von fest in sich geschlossenen parlamentarischen Fraktionen und Parteiorganisationen ausgehen, die zum Zwecke des Kampfes um die politische Macht zu einheitlichen Gemeinschaften zusammengefaßt und deren Taten und programmatische Kundgebungen — die zu überschätzen man sich sehr wohl hüten muß — unmittelbar gegeben sind. Aber hier erhebt sich sofort die große Gefahr, daß man die Proklamierung von liberalen Grundsätzen mit der realen Geltung dieser Grundsätze verwechselt, daß man die Geschichte einer sich liberal nennenden Partei ohne weiteres in der Geschichte des Liberalismus einfach aufgehen, daß man die in anderen Parteien vorhandenen liberalen Elemente außer acht läßt und — rein methodisch —, daß man in das hinter den Kulissen und hinter der Fassade sich abspielende eigentliche Getriebe der Dinge, in die bewegenden Kräfte der politischen Kämpfe nicht eindringt, zumal es bisher noch kaum gelungen ist, in das geheimnisvolle Dunkel der entscheidend wichtigen Fraktionsgeschichte Licht zu bringen. Auch die Erforschung der Geschichte des außerparlamentarischen, an feste politische Parteiorganisationen nicht gebundenen Liberalismus, insbesondere die des nach Klarheit noch ringenden, mit weltanschaulichen Grübeleien gesättigten vormärzlichen Liberalismus namentlich in Mittel- und Norddeutschland, ist vor die schwierigsten Aufgaben gestellt. Als ein kleiner Beitrag zur Lösung dieser Aufgaben und zugleich zur „Vorgeschichte" der modernen politischen Parteien will die nachfolgende Untersuchung über das Verhältnis des theologischen Rationalismus zum vormärzlichen Vulgärliberalismus angesehen werden. Wie das Wort „Vulgärliberalismus" besagt, handelt es sich hier um eine Bewegung, die von den breiteren Massen, damals also vornehmlich vom bürgerlichen Mittelstand und vom reiferen Kleinbürgertum getragen wird und deren Doktrin das Gepräge des „Vulgären" und „Populären" und damit des gedanklich Mittelmäßigen und Formlosen hat. Da dieser vormärzliche Vulgärliberalismus, wenigstens in Preußen bis zum Vereinigten Landtag von 1847, über den Bereich der theoretischen Diskussion kaum hinausgedrungen ist und da es nach dem Stande der Quellen nur stellenweise möglich ist, ein auch nur annähernd geschlossenes Bild von dem in den Massen wirkenden Geist aus den Äußerungen und Taten dieser Massen selbst zu gewinnen, ergibt sich die Notwendigkeit, die Untersuchung vorzugsweise auf die literarischen Produkte der Führer der Bewegung zu konzentrieren und vermittels der ideengeschichtlichen Methode den typischen Gedankengehalt der rationalistisch-vulgärliberalen Theorie herauszuarbeiten, die unter den Durchschnittsmenschen jener Zeit eine verbreiterte Anerkennung gefunden hat. Dies Verfahren erscheint um so mehr als eine Notwendigkeit, als die bürgerlichen Massen in Deutschland nach einem kurzen Aufflackern in der © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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Zeit der Befreiungskriege erst seit der Julirevolution langsam und allmählich zum Macht- und Klassenbewußtsein zu erwachen begannen, bis dahin aber unfähig waren, aus sich heraus politische Ideen klar und bestimmt zu formulieren. Sie bedurften der Führerpersönlichkeiten, die sie aus dem Zustande bequemer Lässigkeit überhaupt erst herausrissen oder aber sie erst dadurch zur Aktion gelangen ließen, daß sie ihrem unsicheren Streben und ungeläuterten Drangen nach Weiterbildung des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens durch eine den realen Interessen entsprechende Doktrin Einheit und Ziel gaben. Im Zeitalter des „aufgeklärten" Absolutismus war es nur eine dünne Schicht selbständiger und gebildeter Geister in Deutschland, meist Gelehrte, Schriftsteller und hohe Beamte, die von wahrhaft politischem Interesse erfüllt waren und den Mut hatten, die Handlungen der Staatsobrigkeiten, die herrschenden Autoritäten und die geltende Rechtsordnung einer scharfen Kritik zu unterwerfen, die von dem revolutionär agitatorischen Schwung der französischen Aufklärung allerdings weit entfernt blieb. Diese Männer, die sich meist in einer gesicherten und sozial angesehenen Stellung befanden und die Jahrzehnte hindurch entweder isoliert für ihre Ideen kämpften oder sich um ein paar Zeitschriften scharten und häufig „den gesamten Rechtszustand Deutschlands ohne Scheu als der aufgeklärten Gegenwart unwürdig besprachen, übertraten dennoch kein Gesetz und hingen oft mit unverstellter Zuneigung an der Person ihres eigenen Fürsten"24. Das entsprach durchaus dem moderantistischen Geiste im Deutschland des 18. Jahrhunderts, das Kant mit stolzer Bescheidenheit das „Jahrhundert der Aufklärung", Wieland mit selbstgefälliger Überheblichkeit das „aufgeklärte Jahrhundert" genannt hatte. In Wielands „Teutschem Merkur", Schubarts „Deutscher Chronik" (seit 1774), Schlözers „Briefwechsel meist historischen und politischen Inhalts" (1776—1782) und Schlözers „Staatsanzeigen" (1783—1794) vollzog sich der für die Geschichte der politischen Publizistik so bedeutsame Übergang vom literarischen zum politischen Journal. Erst das Zeitalter der Französischen Revolution25, der preußischen Reform und der Befreiungskriege hat den neuen Stand der sogenannten „Gebildeten" aus dem politischen Schlummer zu wecken begonnen und zu den ersten bescheidenen Ansätzen politischer Parteibildung geführt. „Was die Welt bewegt", so meinte rückblickend 1823 der Rationalist Tzschirner, „erregt notwendig ein allgemeines Interesse; da, wo jeder gelitten oder gehandelt, gefürchtet oder gehofft hat, fragt auch jeder nach den Ursachen wie nach den wahrscheinlichen Folgen der Ereignisse. Nicht Heere nur zogen, wie vormals geschah, aus, die Völker wurden zu den Waffen gerufen."28 Den national und staatsreformerisch gerichteten Bestrebungen stemmte sich in Deutschland die feudalständische Reaktion, die Lehre von der Fürstensouveränität, vom sozial-konservativen und legitimistischen Prinzip entgegen. Indem die herrschenden Regierungsgewalten in Deutschland-Österreich seit dem Wiener Kongreß unter der Ägide Metternichs sich auf die Seite dieser Prinzipien stellten und die vornehmlich im Bürgertum sich regenden politischen Emanzipationsbestrebungen durch Gewaltmittel zu ersticken suchten, wurde der einmal wach gewordene und nicht mehr © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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zu ertötende, über den bloßen Untertanenstandpunkt hinausgewachsene Geist der Opposition von der erstrebten fruchtbaren Anteilnahme am Staatsleben abgedrängt, und, wie ja allgemein bekannt ist, auf die theoretische Diskussion verwiesen und zum Teil dem revolutionär gesinnten Radikalismus in die Arme getrieben. So vor allem ist es zu erklären, daß sich auf Umwegen, auf dem Boden religiöser, kirchlicher, theologischer, philosophischer und literarischer Kämpfe die politische Parteibildung in Deutschland vollzog. Der Begriff der Partei, so sagte 1843 der Hegelianer Karl Rosenkranz, ist „von der Kirche aus durch die Belletristik, Schulphilosophie in den eigentlichen Staat gewandert"27. Der theologische Rationalismus hat an dieser Entwicklung einen beträchtlichen Anteil genommen. Die 1830er und 1840er Jahre, die Jahrzehnte seines wissenschaftlichen Niedergangs, sind zugleich die Jahrzehnte seines politischen Aufgangs. Statt im Gehäuse zu erstarren und abzusterben, wandelte er sich zu einer neuen Gestalt des Lebens: zum vulgären Liberalismus. Mit dem Ausbruch der Julirevolution, dem Erlahmen der gegenrevolutionären Bewegung und dem erneuten Vordringen des Geistes der Aufklärung und der Opposition war die Zeit gekommen, wo auch der halbwegs gebildete, literarisch tätige Mensch, der dem Staat bisher nur passiv gegenübergestanden hatte, sich dazu berufen glaubte, in politischen Dingen nicht nur ein ernsthaftes Wort mitreden, sondern gar mit einem eigenen Reformplan aufwarten zu können. Das Erlebnis der großen Französischen Revolution, der Sieg des tiers etat, der Völkerkampf gegen Napoleon, die Gegnerschaft zu der mit den Befreiungskriegen in innerem Zusammenhang stehenden neureligiösen, romantisch-konservativen Bewegung, die sich mehr und mehr mit den restaurativen und reaktionären Tendenzen der herrschenden Regierungsgewalten eng verband, der Druck der Restaurationspolitik und die allgemeine Politisierung des deutschen Lebens, die seit der Julirevolution in die Breite zu wirken begann, brachten auch den Rationalismus zur inneren Besinnung und Belebung und zu dem Bewußtsein, daß man zwar getrennt marschieren könne, aber vereint schlagen müsse. Sie trieben ihn schließlich dazu fort, in Verbindung mit der Philosophie auch den Staat zum Gegenstande der Spekulation zu machen und konkrete politische Forderungen aufzustellen. Und wie er sich fast allenthalben durchaus klar darüber wurde, daß die religiösen und die politischen Grundsätze, wie die kirchlichen und bürgerlichen Verhältnisse wechselseitig miteinander zusammenhängen, so besaß er von vornherein die feste Überzeugung, daß dem Reformwerk durch die Ideologie und Theorie der Boden erst bereitet werden müsse, zumal man mehr um Menschheitsideen und Prinzipien als um Interessen kämpfe. Den gegnerischen Angriffen gegenüber galt es den eigenen Standpunkt zu verteidigen und theoretisch zu rechtfertigen. Während er sich ursprünglich auf die literarische Debatte beschränkt und jeglichen parteimäßigen Anstrich sorgfältig zu vermeiden versucht hatte, begann er sich unter dem Druck der Verhältnisse in immer steigendem Maße auch in der Sphäre der Politik als Vorkämpfer für „Freiheit" und „Fortschritt" zu fühlen und die Massen, die er hinter sich hatte, innerhalb der Schranken der Zensur in den Vereinen und Ver© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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Sammlungen, durch Wort und Schrift, von der Kanzel und vom Katheder herab in diesem Sinne zu beeinflussen. Unter dem Gesichtspunkt des Kampfes gegen „Reaktions"- und „Stabilitätssystem", gegen „Antiliberalismus", „Legitimismus", „Ultraroyalismus", „Servilismus", „Obskurantismus" begann er Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft zu betrachten und sich gegenüber der „Widerstands"- und „Stillstandspartei" und den Verfechtern des „historischen" Rechtes als die „Bewegungspartei", als die berufenen Propagandisten des „vernünftigen" und „natürlichen" Rechtes, als die Wächter des „Zeitgeistes", die Schrittmacher des „Liberalismus" zu fühlen, wobei er denn aber ängstlich bemüht war, den gegen ihn erhobenen Vorwurf der revolutionären und anarchischen Gesinnung zurückzuweisen und in zuweilen sophistischer Weise „die Unschuld des sogenannten Rationalismus" zu erweisen. Als eine wesentliche Aufgabe der über Erfahrung und Geschichte stehenden rationalistischen Theorie erscheint es nunmehr: „Das Ideal eines Staates und damit eine Norm für die Beurteilung der in der Erfahrung gegebenen Staaten zu finden; nicht das, was ist, sondern das, was sein soll, darzustellen."28 Da es aber dem Geist der deutschen Aufklärung gemäß nicht auf leeres Spekulieren, sondern auf praktisches Wirken und verantwortungsbewußtes Handeln ankommt, so vermag das wahrhaft Ideale nur in seiner notwendigen Beschränkung durch das Reale und in Anknüpfung an das Gegebene, historisch Gewordene und nun einmal Seiende erkannt zu werden, das zwar „zufällig in seiner Gestaltung, doch notwendig seinem Wesen und Grunde nach" ist. Es handelt sich also für den Rationalismus darum, zu untersuchen, inwieweit die bestehenden Ordnungen der Vernunft gegenüber legitimiert werden können. Die naturrechtliche aprioristische Doktrin, die lange Zeiten hindurch zur Stützung, Rechtfertigung, Legitimierung des positiven Rechtes und damit der staatlichen Autorität gedient hatte, wird zu einem Kampfmittel für alle diejenigen Parteiungen, die sich gegen die bestehende Ordnung, die Autorität des geschichtlich Gewordenen, die Stellung der privilegierter. Stände wenden und für eine „vernünftige" Regelung der öffentlich-rechtlichen Machtverteilung, für einen harmonischen Ausgleich der Macht- und Kultursphäre kämpfen. Wie der Rationalismus als Theologie noch zu der Zeit, als seine wissenschaftliche Position bereits ins Wanken geraten war, in dem festen Glauben lebte, daß er „unter den Gelehrten und Gebildeten unserer Zeit die herrschende Denkungsart", daß er „ein Erzeugnis der allgemeinen Kultur aller Wissenschaften", daß er „eine allgemeine Bewegung des Zeitalters" sei, „welche die Theologen nicht hemmen können, sondern von der sie mehr oder weniger fortgezogen werden"29, so ging auch sein politisches Wirken, das die „auf die Grundsätze des Rechtes und der Sittlichkeit gegründete politische Reformation"30 sich zum Ziele setzte, von der geschichtsphilosophischen Erwägung und der zur unerschütterlichen Überzeugung gewordenen zukunftsfrohen und zukunftssicheren Einsicht aus, daß „das leitende Prinzip der neueren Zeit und der Mittelpunkt ihrer Bewegung"31 die Idee der bürgerlichen Freiheit und die dadurch bedingte Idee der Gleichheit vor dem Gesetz sei und daß der Kampf um © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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die Religionsfreiheit wie die ganze Geschichte der letzten Jahrhunderte ein ständiges Fortschreiten zur Verwirklichung dieser Ideen und zur Umbildung der absolutistischen Staatsverfassung in sich schließe. Der Staat muß daher, statt sich in völlig widersinniger Weise dem unaufhaltsamen Strom der Entwicklung entgegenzustemmer, den Weg der Reform und der freiwilligen Konzessionen beschreiten. „Man muß vernünftig reformieren, damit nicht gewaltsam revoltiert werde."32 Das war nicht nur die Taktik, sondern auch der Grundsatz des theologischen Rationalismus, dem revolutionäre Tendenzen durchaus fern lagen, zumal er viel zu sehr auf ein hausbackenes, philiströs-ruheseliges Dasein gestimmt war. Eine so erhebliche Unterschätzung der realen Machtverhältnisse und der Widerstandskraft des historisch Gewordenen auch in den hier entwickelten Gedankengängen enthalten war, die geschichtliche Entwicklung hat schließlich den Forderungen des Naturrechts und der Revolution, mit denen der der Zukunft zugewandte politisierende Rationalismus die Geschichte in eine neue Bahn lenken wollte, in weit höherem Maße „recht" gegeben, als all jenen Bestrebungen und Ideologien, die den Gang der Ereignisse aufzuhalten versucht und es als eine Anmaßung der menschlichen Vernunft angesehen haben, „den Pfadfinder für die voranschreitende Menschheit abzugeben"33. Die uralte Lehre von dem Widerstreit zwischen Fortschritt und Beharrung, die seit der Französischen Revolution wieder in den Mittelpunkt der Debatte gerückt war und dazu geführt hatte, den chaotischen Wirrwarr der politischen Parteiungen auf die beiden großen Gruppen der „Liberalen" und der „Konservativen" zu reduzieren, ist auch vom Vulgärrationalismus aufgegriffen und in den Dienst seiner politischen Emanzipationsbewegung gestellt worden. Für die Rationalisten zerfallen die Politiker in „Liberale" und „Antiliberale" oder in der Sprache Tzschirners in Anhänger des „Reformationssystems" und des „Reaktionssystems". Ein „Liberaler" ist, wer für die Verwirklichung der großen Zeitforderungen, für den „Fortschritt" und die „Freiheit" eintritt, wer an die Perfektibilität des Menschengeschlechts glaubt, für bürgerliche Freiheit, Rechtsgleichheit, konstitutionelle Regierungsform und damit für eine „wahre" und „gute" Politik kämpft; ein „Reaktionär" oder „Antiliberaler" dagegen ist, wer die Berechtigung dieser Ideen leugnet, als Feind des „Wahren" und „Guten" das Prinzip des „Stillstands" oder „Rückschritts" vertritt und Anhänger des „Systems der absoluten Gewalt" ist. Wertungen dieser Art, die zum Gemeingut des vormärzlichen Vulgärliberalismus in Deutschland gehören, steht eine ebenso einseitige Antithese auf konservativer Seite gegenüber. Metternich beispielsweise, dem vornehmsten Repräsentanten des Hochkonservativismus, erschien der liberale Fortschrittsgedanke lediglich als das negative, zerstörende, revolutionäre Prinzip, dessen letzte Konsequenz durch Gentz' berühmtes Wort bezeichnet wird: „Der Philosoph formt Systeme, der Pöbel schmiedet Mordgewehre daraus." Für Metternich heißt, wenigstens der Theorie nach, konservativ sein, „nicht Umsturz und Zurückführung auf Zustände einer früheren Epoche, nicht Rückschritt, sondern wohlüberlegter, von der Zeit gebotener Fortschritt. Stabilität ist nicht Immobilität, Erhaltung heißt nicht die notwendige © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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Bewegung aufhalten, sondern den Tendenzen nach gewaltsamem Einsturz Schach bieten"34. Der Widerstreit dieser Prinzipien, der bekanntlich von Julius Stahl zur Ausbildung einer Parteilehre benutzt worden ist, in der die Parteien der Revolution (ihr Prinzip der Rationalismus) den Parteien der Legitimität und der göttlich sanktionierten Rechtsordnung (ihr Prinzip die Autorität) gegenüberstehen, hat den inneren Kämpfen des Restaurations- und Revolutionszeitalters sein Gepräge gegeben. Tatsächlich ist nun aber mit derlei inhaltsleeren Bestimmungen, unter denen jeder sich etwas anderes denken kann, über das Wesen der politischen Parteien und Parteiungen gar nichts ausgesagt35. Erhalten wollen und zerstören wollen, schließen keineswegs einander aus, und eine objektive, wissenschaftlich unantastbare Erkenntnis dessen, was als „Fortschritt" und als „Rückschritt", als „wahre" und als „falsche", als »gute" und „schlechte" Politik anzusehen ist, ist schlechterdings überhaupt nicht zu gewinnen. Denn wie bereits Friedrich der Große bemerkte: auch die Politik hat ihre Metaphysik36. Im Hintergrunde der politischen Theorien und des politischen Handelns stehen bei dem Prinzipienund Systempolitiker sowohl wie bei dem Opportunitätspolitiker, formuliert oder nicht formuliert, bewußt oder nicht bewußt, Grundmotive des Denkens und Handelns, ethische Ideale und Werte, deren Wahrheitswert mit den Mitteln der Wissenschaft nicht zu beweisen, an die zu glauben vielmehr eine Sache der persönlichen Entscheidung, der Weltanschauung oder auch des materiellen und des Klasseninteresses ist. Die Bedingungen und Voraussetzungen dieser Werte und Ideale, die Ursachen ihres Entstehens und ihre Wirksamkeit im Bereich des Volks- und Einzellebens klarzulegen, mag dem Historiker wohl gelingen, der in seiner Eigenschaft als realistischer Historiker sich von metaphysischen Voreingenommenheiten möglichst fernzuhalten sucht. Die wissenschaftliche Parteigeschichtsforschung wird, wenn sie nicht in naivster Weise parteidogmatische Schlagworte oder politische Privatansichten zu historischen Wertmaßstäben machen will, über metaphysische Postulate und das häufig so gedankenlose Gerede vom Fortschritt und Rückschritt sich erheben und zunächst einmal von einem Satze Treitschkes ausgehen müssen: „Über den Charakter einer Partei entscheidet nicht, ob sie erhalten oder zerstören will, sondern was sie erhalten oder zerstören will, nicht die Form, sondern der Inhalt der Parteibestrebung."37 Im Zentrum des vulgärrationalistischen politischen Denkens steht der Gedanke der bürgerlichen Freiheit. Der Freiheitsbegriff, den die Rationalisten in den Anfängen ihres politischen Wirkens dem Staate gegenüber geltend machten, lief auf die Freiheit vom Staat hinaus. Es handelte sich zunächst darum, die bitter erkämpfte, von dem religiös indifferenten absolutistischen Obrigkeitsstaat bereits faktisch gewährte, aber noch nicht als öffentliches Recht sichergestellte Religionsfreiheit als ein von der Vernunft gefordertes unveräußerliches Menschenrecht zu proklamieren. Vom Boden der öffentlich-rechtlich und menschenrechtlich garantierten Religionsfreiheit aus aber galt es dann, den einzelnen und seine subjektiven Rechte vor den willkürlichen Eingriffen und dem © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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bevormundenden Druck absolutistischer und bürokratischer Regierungsformen überhaupt zu schützen, den Menschen vom Bürger zu trennen, den Kreis seiner Pflichten genau zu umschreiben und mit den Mitteln des Naturrechts die Staatstätigkeit in möglichst weitgehendem Maße zu beschränken. „Jede bürgerliche Gesellschaft oder jeder Staat — denn beide Ausdrücke sind gleichgeltena — ist eine zum Schutz und zur Sicherung des Rechts verbundene Menschenmenge."38 Ein jeder soll im Staat seine Freiheitssphäre haben, „d. h. ein bestimmtes Rechtsgebiet, innerhalb dessen er sich unabhängig von der Willkür anderer nach eignem Belieben regen und bewegen könne"39. Damit ist zugleich gesagt, daß der Kampf des Naturrechts gegen die absolute Monarchie nur scheinbar ein Kampf gegen den Staat, in seinem Endzweck vielmehr dazu bestimmt war, „dem Staate neue Bahnen anzuweisen"40. Wie der Rationalismus als Theologie dem Mißbrauch der göttlichen Allmacht und Weisheit, der Wundertätigkeit, Schranken entgegengesetzt hatte, so ging er, um sein Dasein und seine Zukunft zu sichern, jetzt dazu über, auch dem Mißbrauch der Staatsgewalt Schranken entgegenzusetzen. Im Hintergrunde aber stand der Wunsch des Spießbürgers: Ich will meine Ruhe haben! Die „durch das Christentum erleuchtete Philosophie" stellt dem Staate, als dessen Aufgabe vornehmlich die Sicherung des Rechtes, der Schutz von Leben und Eigentum erscheint, eine Reihe von „angeborenen" Urrechten gegenüber, die vor dem Staate vorhanden, unveräußerlich und als von Gott selbst verliehene Rechte zu betrachten sind, die mit dem Abschluß des Gesellschaftsvertrages jedoch — den man teils als historisches Faktum, teils als abstrakten philosophischen Grundsatz ansah — um des gegenseitigen Geltenlassens willen gesetzlichen Schranken unterworfen werden, aber innerhalb dieser Schranken von der staatlichen Gewalt nicht angetastet werden dürfen. Der Eintritt in den staatlichen Verband schließt die Aufgabe individueller Rechte in sich. Die „sittliche" Freiheit des einzelnen, die Autonomie des Gewissens zwar, die der Würde des sich selbst verantwortlichen Menschen entspricht, unterliegt lediglich „natürlichen", zeitlosen Gesetzen, die aus der „vernünftigen" Natur des Menschen notwendig hervorgehen und durch die Annahme der grundsätzlichen Identität der Individualvernunft in allen Menschen der subjektiven Willkür enthoben sind. Die „bürgerliche" Freiheit dagegen, die sogenannte „äußere" Freiheitssphäre mit Einschluß der „erworbenen Rechte" bedarf, um das ungestörte Zusammenleben der „Vernunftwesen" untereinander zu sichern, der Bindung durch „positive", staatlich sanktionierte Gesetze, die aber nicht „willkürlich", sondern „notwendig" und für alle gleich sein müssen und den „Vernunftgesetzen" nicht widerstreiten dürfen. Aus dem „Widerstreit zwischen dem Positiven als einem Gegebenen oder Bestehenden und dem Entwicklungstriebe der Menschheit, der eben nichts anderes ist als ein Streben nach Befreiung von örtlichen und zeitlichen Schranken, um in der Vollkommenheit immer weiter fortzuschreiten, geht eben das hervor, was man Liberalismus nennt, und also auch der Antiliberalismus als dessen natürlicher Antipode"41. Unter dem Eindruck der gewaltigen Erschütterungen des deutschen Staats© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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lebens in der Epoche der Französischen Revolution und der Befreiungskriege, die das große Werk in Angriff nahm, eine Brücke zwischen Staat und Nation zu bauen und den Staat zu einer Sache aller zu machen, beginnt dieser „Liberalismus", für den noch lange Zeit hindurch das Übergewicht der weltbürgerlichen Tendenz vor der staatlich-nationalen charakteristisch bleibt, sich der Anschauung zu nähern, daß der Staat nicht nur als eine Schutzanstalt für Recht, Leben und Eigentum, sondern auch als „Vaterland", als geschlossene Einheit, als Organisation der Volksgemeinschaft zu begreifen und daß das „vernünftige" mit dem „positiven" Recht zu versöhnen sei. Fordert das Leben in der staatlichen Gemeinschaft von den einzelnen in ihrer Eigenschaft als Staatsbürger die Preisgabe individueller Rechte, so fordert es zugleich von der staatlichen Gewalt, die dem Bürger Pflichten auferlegt, an seine sittlichen Kräfte, seinen Gemeinsinn und seine innere Hingabe für eine überindividuelle Lebensgemeinschaft appelliert, die Anerkennung und Sicherstellung Öffentlicher Rechte. Dem freien Menschen entspricht der freie Bürger. Neben die Forderung der Freiheit vom Staat tritt nunmehr die Forderung der Freiheit im Staat in der Form der Teilnahme am Staat. Aus dem abstrakten Freiheitsideal des alten Naturrechts erwächst so ein zweites Element des modernen Staatsgedankens, die Forderung nach konstitutioneller Beschränkung der Staatsgewalt, Was an neuen Gedanken im Lager des Vulgärrationalismus nach 1815 sich regt, das ist weniger die aus dem deutschen Idealismus erwachsene epochemachende Idee des neuen Jahrhunderts: der ethisch an die Gemeinschaft gebundene, den Staat als höchste Form der Gemeinschaft und gegenüber der Einzelsphäre als höheren Zweck bejahende, den Dienst am Staat als Selbstvollendung der Persönlichkeit und als Ausweitung des eigenen Lebens empfindende Individualismus, als vielmehr der moralistisch, mechanistisch und rationalistisch verstandene Individualismus des Naturrechts, der die Ideen der Französischen Revolution vorwiegend als Menschheitsideen, den Menschen selbst als Genus begreift und, da er den Gegensatz von Regierenden und Regierten, von Macht und Freiheit noch immer stark empfindet, dem Staate mit einer Mischung von Respekt und Mißtrauen gegenübersteht, der sich im Keime aber bereits die Liebe zugesellt. Es ist die zum Bewußtsein ihrer selbst gekommene, sich mündig und als eine Macht innerhalb der vom Absolutismus geschaffenen Staatseinheit fühlende und einen entsprechenden Anteil an der Staatsgewalt beanspruchende oppositionell gewordene Staatsbürgerschaft, die nicht mehr bloß leidend gehorchen will, sondern Rechtsgarantien verlangt und ihre Forderungen mit Entschiedenheit anmeldet. Die Führer des politisierenden Rationalismus vulgaris, der sich seit 1815 durch die Reaktionspolitik des Polizeistaats und durch die neu aufgekommenen orthodoxen und pietistischen Strömungen bedroht fühlte, gehen nunmehr in immer steigendem Maße dazu über, sich von abstrakten Spekulationen über das Ideal des vollkommenen Staates hinwegzuwenden zu einer zwar allgemein gehaltenen, aber doch entschiedenen Stellungnahme zu den Problemen des konkreten Gegenwartsstaates. So sehr aber ist ihr ganzes Wirken auf die Begründung eines gesunden Verhältnisses zwi© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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schen den Freiheitsrechten des Individuums und den Gemeinschaftsforderungen des Staates gerichtet, daß sie an dem großen Machtproblem der nationalen Einigung, das erst in den 1840er Jahren populär zu werden begann, mit ein paar nichtigen Phrasen vorübergehen42. Ein im einzelnen ausgeführtes und wohldurchdachtes politisches Aktionsprogramm wird man von diesen Männern, die ja durchweg Theologen waren, überhaupt nicht erwarten dürfen. Über den Bereich allgemeiner Grundsätze und Stimmungen dringen ihre Überlegungen nur selten hinaus. Ihr Sinnen und Trachten ist auf die Aufstellung von absolute Geltung besitzenden Lehr- und Leitsätzen gerichtet, an die man sich halten, auf die man sich verlassen und mit denen man im praktischen Leben etwas anfangen kann. Es ist die Aufgabe, wenigstens die Umrisse und die gedankliche Begründung ihrer so einflußreichen politischen Theorie klarzulegen, die sich aus den konstitutionellen Schlagworten der Zeit zusammensetzt. Obenan steht der Gedanke der bürgerlichen Freiheit, dessen Verwirklichung durch den Fortschritt der Geschichte wie durch das „richtig" verstandene Christentum gefordert wird, denn „die Sache des Protestantismus ist die Sache der Freiheit und des Lichtes"43. Wie die Idee der bürgerlichen Freiheit die Forderungen der Glaubens-, Gewissens-, Lern-, Lehr- und Preßfreiheit, der Freiheit des Gedankens überhaupt in sich schließt, so läßt sich auch die durch den „Zeitgeist" wie durch den Protestantismus geforderte Idee der bürgerlichen Rechtsgleichheit, der Gleichheit vor dem Gesetz, der Ausgleichung der Standesunterschiede, der gleichen Berechtigung des Bürgertums zu Staatsämtern auf die höhere Idee der bürgerlichen Freiheit zurückführen. Die eigentliche Garantie dieser Freiheits- und Gleichheitsrechte ist nicht in der Durchführung des Prinzips der Volkssouveränität zu erblicken, sondern lediglich in der Herrschaft des Gesetzes und in der Aufrichtung des konstitutionellen Rechtsstaates. Es gibt aber Fälle, wo die Weisheit und Gerechtigkeit des Regenten „die bürgerliche Freiheit mehr sicherstellt als eine Verfassung, welche nicht gewissenhaft gehalten wird, und gewiß war in dem nicht konstitutionellen Preußen und Dänemark mehr bürgerliche Freiheit als in Frankreich unter dem ersten Konsul, obgleich nicht nur konstitutionelle, sondern selbst republikanische Formen in diesem Lande bestanden. Auf der anderen Seite aber kann auch der Freund der bürgerlichen Freiheit nicht verkennen, daß da, wo eine Verfassung vorhanden ist, der Mißbrauch der höchsten Gewalt erschwert sei, und daß beide, das Volk und der Fürst, die Überzeugung, die Gesetze seien durch den Staatszweck notwendig geboten, mithin weise und gut, doch dann am vollständigsten erlangen, wenn sie von den Vertretern des Volkes dafür erkannt und erklärt worden sind"44. Was im Staate als Recht gelten soll, kann nicht historisch aus dem, was dafür gegolten hat, abgeleitet, es muß vielmehr philosophisch aus der Vernunft entwickelt werden. „Wenn wir sagen das Recht, so meinen wir nicht das positive oder willkürlich durch Übereinkommnis oder Autorität eingesetzte, folglich nur hier oder dort und nur zeitlich geltende, nicht das historische oder bloß faktisch in engerem oder weiterem Räume aufgekommene, sondern dasjenige, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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welches beiden andern, sollen sie Anerkennung verdienen oder Gültigkeit ansprechen, vorausgehen und zugrunde liegen muß, daß nicht nur vor allem positiven vorhandene, sondern auch ewig über demselben thronende, und mit dem Anspruch auf allgemeine Herrschaft, d. h. ohne alle Beschränkung nach Raum oder Zeit versehene, nämlich das Vernunftrecht."45 Die Vernunftidee vom Staat ist der Rechtsstaat, dessen Wesen von den Rationalisten unter audrücklicher Bezugnahme auf die englisch-französischen Verfassungstheorien und -zustände folgendermaßen umschrieben wird: Konstitutionelle Monarchie, Teilung der Gewalten, Ministerverantwortlichkeit, Garantie der Menschen- und Bürgerrechte, Repräsentativsystem; der Monarch als Inhaber der Staatsgewalt unverantwortlich und unverletzlich, aber an Gesetz und Verfassung gebunden; die Justiz unabhängig; die Volksvertretung zur Mitwirkung bei der Gesetzgebung, zur Steuerbewilligung, zur Kontrolle der Staatsausgaben und der Verwaltung berufen; ein volkstümliches Wehrsystem mit allgemeiner Wehrpflicht und möglichst mit Landwehr- und Landsturmorganisationen. Der politische Freiheitsgedanke des Rationalismus vulgaris reduziert sich also auf die Forderung des bürgerlichen Rechts- und Verfassungsstaates in der Form der konstitutionellen Monarchie, eine Forderung, die in dem Standardwerk des vormärzlichen Vulgärliberalismus, in Rotteck-Welckers Staatslexikon, bis ins einzelne durchgeführt, naturrechtlich begründet, als die große Tendenz des Jahrhunderts verkündet und von Paul Pfizer einmal dahin umschrieben worden ist: „Zur wahren bürgerlichen Freiheit gehört meiner Meinung nach vor allen Dingen: möglichst geringe und möglichst gleiche Beschränkung des einzelnen im Gebrauche seiner Kräfte, seines Vermögens und Eigentums; Herrschaft des für alle gleichen Gesetzes statt der Willkür, und zwar: Herrschaft eines solchen Gesetzes, das, nicht von der Laune oder dem Gutdünken eines Machthabers vorgeschrieben, sondern als Gesamtwille der Nation oder ihrer Vertreter ausgesprochen, willigen Gehorsam findet."46 Was der von der Theologie herkommenden vulgärrationalistischen Ausprägung des Konstitutionalismus ihr besonderes Gepräge gibt, ist die Tatsache, daß das Naturrecht mit seinem metaphysischen Absolutismus hier noch im Bunde mit der Theologie erscheint und daß die politischen Forderungen aus moralischreligiösen Lehrsätzen abgeleitet werden, wie denn nach Gierkes Ansicht „zu allen Zeiten über die Grundrichtung der politischen Theorien in erster Linie die religiösen Ideen entschieden haben"47. Was der Rationalismus erstrebt, ist die Durchdringung des gesamten öffentlichen Lebens mit christlichem Geiste und christlicher Gesinnung. Der „wahre Liberalismus" ist für die Rationalisten nichts anderes als die konsequente Weiterbildung der „richtigen religiösen Grundideen"48. Und wie die Idee der bürgerlichen Freiheit und Gleichheit, so erscheint auch die Idee des konstitutionellen Rechtsstaates als ein Ausfluß der eudämonistisch und rationalistisch verstandenen protestantischen Sittenlehre und des Glaubens an die sittlich-religiöse Autonomie des Einzelmenschen und an die Vervollkommnung und Fortschrittsfähigkeit des Menschengeschlechts. „Das Christentum", so sagt selbst ein Mann wie Karl Theodor Welcker, „be© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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gründet mehr als irgendeine Religion der Erde die rechte Willensrichtung, das richtige Grundprinzip oder die Lebenskraft, nicht der despotischen und der theokratischen Verfassung, sondern die des freien Rechtsstaates, nämlich die Vorherrschaft der freien prüfenden sittlichen Vernunft, der geprüften freien Gewissensüberzeugung oder der freien Wahrheit und Sittlichkeit."19 Der Rationalismus vulgaris steht mit seinen der Originalität und Eigenwüchsigkeit entbehrenden politischen Dogmen auf der gemäßigten Seite des vormärzlichen Vulgärliberalismus, der, da man allgemeine Schlagworte nun einmal nicht entbehren kann, als politische Parteiung prägnanter als vulgärer Konstitutionalismus zu bezeichnen wäre. Diesen Konstitutionalismus in einen prinzipiellen Wesensgegensatz zum demokratischen Radikalismus zu stellen, würde dem realen Sachverhalt durchaus widersprechen. Man muß sich davor hüten, die zweifellos und in starkem Maße vorhandenen Unterschiede des politischen Temperaments und der politischen Taktik mit prinzipiellen Wesensverschiedenheiten zu verwechseln. Erst mit der Julirevolution beginnt sich ein erheblicher Teil des deutschen Liberalismus nach links zu entwickeln, und erst seit dem Auftreten der Junghegelianer, denen die Jungdeutschen den Weg gebahnt hatten, hat sich vom Vulgärliberalismus ein radikal und agitatorisch gesinnter Demokratismus abzuspalten begonnen50, der mit seiner energischeren und konsequenteren Betonung des politischen Gleichheitsgedankens historisch wirksam aber erst zu einer Zeit geworden ist, wo die unteren Massen zum Klassenbewußtsein erwacht waren. Bis dahin bedeutet das „demokratische Prinzip", das übrigens Rotteck51 dem konstitutionellen einfach gleichgesetzt hat, nicht Herrschaft der Masse, sondern lediglich die Beteiligung der gereiften und besitzenden Masse an den Angelegenheiten des Staates. Im übrigen aber ist es auch rein terminologisch durchaus unhaltbar, einen scharfen Trennungsstrich zwischen Liberalismus, Konstitutionalismus und Radikalismus zu ziehen. Gibt es doch einen konservativen und liberalen Radikalismus ebensowohl wie einen demokratischen, wie denn überhaupt radikale Köpfe sich von jeher in allen Parteien und Parteiungen finden. Mit alledem ist natürlich lediglich die typische Haltung bezeichnet, die für individuelle Nuancen und selbst für entscheidende starke Abweichungen Raum genug ließ. Denn noch gab es bei der allgemeinen Verworrenheit der politischen Begriffe und der praktischen Ziele keine fest organisierten Parteien mit eindeutig umschriebenen Programmen, noch war in Nord- und Mitteldeutschland bis zum Regierungsantritt Friedrich Wilhelms IV. das politische Interesse auf kleine Kreise beschränkt und die Anteilnahme der Öffentlichkeit an den kirchlich-religiösen Streitfragen größer als die an den politischen; noch war es möglich, religiösen Rationalismus und Individualismus mit politisch konservativer Gesinnung, streng kirchliche Gebundenheit mit liberal-konstitutionellen Forderungen zu verbinden. Wie keine große historische Erscheinung auf eine einzige Ursache zurückgeführt werden kann, so ist auch der moderne Liberalismus aus den verschiedenartigsten Wurzeln erwachsen. Als eine der wichtigsten Wurzeln speziell des © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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vormärzlichen Vulgärliberalismus erscheint der im Bunde mit der deutschen Aufklärung und Ideen der französischen Revolution stehende theologische Rationalismus. Es waren die von elementaren politischen Ereignissen mitgerissenen, vom Strom des Werdens und von der „Selbstentwicklung der Idee" getriebenen Führer des Rationalismus, die ihre große Gefolgschaft, weit über das Maß des Beabsichtigten und Gewollten hinaus, von den religiösen zu den politischen Tagesfragen hinüberführten. Wie der Junghegelianismus so hatten auch sie einsehen gelernt, daß der Kampf gegen Dogma und Autorität sich nicht auf Religion, Philosophie und Pädagogik beschränken lasse, vielmehr aus der theoretisch-weltanschaulichen in die politisch-theoretische und dann in die politischpraktische Sphäre geleitet werden müsse, aber zu ihrem Schrecken mußten sie schließlich erkennen, daß die Interessen sich verschoben hatten. Das endgültige Ergebnis war, daß der Rationalismus vulgaris als theologische und wissenschaftliche Richtung sich ausgelebt hatte, von der geschichtlichen Bühne abtrat und den Mächten das Feld räumen mußte, die er selbst mit hatte heraufbeschwören helfen und die in den kommenden Jahrzehnten sich kirchlich-religiösen Fragen gegenüber unproduktiv und meist lau und interesselos verhalten sollten. Indem wir uns nunmehr der sogenannten Lichtfreundebewegung zuwenden, zeigt sich aufs deutlichste an einem praktischen Beispiele, wie der Rationalismus unter dem Durck der politischen, kirchlichen und sozialen Zustände politisch wurde. Wir haben hier einen jener nicht allzu häufigen, besonders aufschlußreichen Momente vor uns, wo die unmittelbar praktische Auswirkung der Theorie geradezu handgreiflich faßbar wird. Den äußeren Anlaß zur Entstehung der Partei der „protestantischen Freunde", der „Lichtfreunde"52, wie sie von den Gegnern genannt wurden, lieferte die Maßregelung des Pastors Sintenis in Magdeburg wegen seiner Polemik gegen die Anbetung Christi. Um gegen die vom Ministerium Eichhorn drohende kirchliche Reaktion und Herrschaft der Orthodoxie zu protestieren, um das gute Recht der „freien, sich selbst bestimmenden Vernunft", der Kritik und der individuellen Überzeugung zu verteidigen und um eine Organisation zu schaffen, die den regelmäßigen Predigerkonferenzen der unter dem Einfluß des Pietismus und der neueren Theologie stehenden Minorität die Spitze bieten konnte, berief der Pastor Leberecht Uhlich eine Theologenversammlung, die am 29. Juni 1841 in Gnadau unter Teilnahme von Wegscheider und Sintenis abgehalten wurde. Von dieser Konferenz nahm der parteiähnliche Zusammenschluß des Rationalismus vulgaris seinen Ausgang, Auf einer zweiten Konferenz, die im September 1841 in Halle stattfand, wurde der programmatische Satz aufgestellt: „Wir freuen uns in dem Bewußtsein, daß wir mit unserem Glauben und Streben stehen auf der Grundlage der protestantischen Kirche, welcher Grund ist nach innen Christus, nach außen Verwahrung gegen jede geistige Bevormundung. Wir nennen uns darum protestantische Freunde."53 Von 1842 ab wurden regelmäßig zu Pfingsten und Herbst Zentralversammlungen in Köthen abgehalten, die durch Kreisversammlungen, große, von Tausenden be© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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suchte Volksversammlungen und fest organisierte Vereine ergänzt wurden. Dank den neuen Eisenbahnen war es auch den Laien möglich, in großen Scharen zu diesen Zusammenkünften herbeizueilen. Von Sachsen und Schlesien breitete sich die Bewegung sehr bald namentlich über Mittel- und Ostdeutschland aus. Ihren Höhepunkt erreichte sie, nachdem der Zulauf von Jahr zu Jahr gewachsen war, im Jahre 1845. Da haben viele Tausende aus allen Teilen Deutschlands an den Demonstrationen und Bürgerfesten teilgenommen. Der Kampf der „Lichtfreunde" richtete sich vor allem gegen das apostolische Glaubensbekenntnis, wie überhaupt gegen die Aufstellung eines allgemeinen kirchlichen Bekenntnisses, worin man einen unerträglichen Dogmenzwang, eine Bedrohung der Gewissensfreiheit und der unveräußerlichen Rechte des Individuums erblickte. Er richtete sich gegen die Bevormundungspolitik der neuen Regierung überhaupt, gegen die kirchlichen Verfassungsexperimente Friedrich Wilhelms IV. und seine utopischen Träumereien vom christlichen Staat. Demgegenüber erhob man, wofür aber die Zeit noch nicht gekommen war, die Forderung nach kirchlichem Neubau, nach starkem Anteil des Laienelementes am Kirchenregiment, nach repräsentativer Kirchenverfassung. Es galt schließlich, das Interesse für Religion und Kirche neu anzufachen, die Kerngedanken der Aufklärung und des Rationalismus in Beziehung zu setzen zu den Fortschritten der neueren Wissenschaft und das Werk der Reformation vollenden zu helfen. Die treibenden Kräfte und populären Führer der Bewegung waren nicht die alten, maßvollen Veteranen des Rationalismus, sondern die der jüngeren, radikaler gestimmten Generation entstammenden rationalistischen Prediger Uhlich und Wislicenus. Uhlich war ein Mann von nicht gewöhnlicher populärer Beredsamkeit und praktischer Klugheit, Wislicenus nicht ohne einen Anflug von höherer Bildung und von Ideen der Junghegelianer beeinflußt, beide jedoch ohne schöpferische Originalität, wenn auch voll wohlmeinenden Strebens und religiösen Ernstes. Durch die Erklärung, die Wislicenus 1844 in Köthen abgab und die durch seine berühmt gewordene Flugschrift „Ob Schrift, ob Geist? Glaube oder Wissenschaft? Entweder — oder!" in weite Kreise drang, rückte die Angelegenheit der Lichtfreunde in den Brennpunkt des öffentlichen Interesses. „Solange die Bibel als offenbarte Wahrheit angesehen wird", so hatte Wislicenus gesagt, „ist sie Norm und Richtschnur unseres Glaubens; aber sie hört sofort auf, es zu sein, wenn wir anfangen, sie wie ein anderes Buch mit der Vernunft zu beurteilen. Es ist Täuschung, wenn der rationalistische Theologe behauptet, auf dem Prinzip der normativen Autorität der Schrift zu stehen. Verwerfen wir auch nur einzelne Erzählungen der Bibel, wie jeder Rationalist — Theolog oder Nichttheolog — tut, so stellen wir unser eigenes Urteil über die Autorität der Schrift, somit ist nicht sie oberste Autorität, sondern der uns selbst innewohnende, lebendige Geist der Wahrheit."54 Durch diese vielumstrittene Erklärung wurde die Lichtfreundebewegung, die mit dem gleichzeitig auftretenden und dem ihr innerlich verwandten Deutschkatholizismus einen Bund schloß, in eine Bahn gelenkt, die schließlich zur Gründung freireligiöser Gemeinden außerhalb des landeskirchlichen Verbandes, aber zugleich zu ihrer Unterdrückung durch © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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die sich bedroht fühlenden Regierungen geführt hat. Die allgemeinhistorische, mehr als kirchengeschichtliche Bedeutung der Bewegung beruht auf ihrem Parteicharakter und auf ihrer Verquickung mit den oppositionell gestimmten politischen Strömungen des Vormärz. „Der kirchliche Boden", so meinte Metternichs publizistischer Mitarbeiter Jarcke, „ist in eine zitternde Bewegung geraten. Die Religion ist jetzt schon und wird in kurzer Zeit noch mehr die Achse sein, um welche sich die Welt und mit ihr die Politik bewegt."55 Die Masse des Bürgertums stand, soweit sie überhaupt noch religiös interessiert oder nicht zur Neuorthodoxie abgeschwenkt war, in den vierziger Jahren in ihren religiös-sittlichen Anschauungen noch immer auf dem Standpunkt des Rationalismus vulgaris. Als nun die Reaktionspolitik des polizeistaatlichen Absolutismus auf das kirchlich-religiöse Gebiet übergriff und es schien, daß die Regierung Friedrich Wilhelms IV. unter den Einfluß der pietistischen und orthodoxen Partei gerate, die in aller Offenheit den Grundsatz vertrat, daß eigentlich nur die Strenggläubigen eine Existenzberechtigung in der kirchlichen Gemeinschaft hätten, da weckte das in der Öffentlichkeit einen Sturm der Entrüstung. Wenn man auch die Hoffnung auf baldige politische Reformen herabzustimmen gelernt hatte, so war man doch keineswegs gewillt, sich das nehmen zu lassen, was man bereits besaß: die Gewissensfreiheit, die religiöse Bekenntnisfreiheit, die Errungenschaften der Aufklärung. Eine jede Opposition, die gegen diesen Zwang sich auflehnte, mußte einen breiten Anhang finden, zumal man erwarten konnte, mit der Einführung einer kirchlichen Repräsentativverfassung zugleich das politische Verfassungsproblem im Sinne der konstitutionellen Doktrin seiner Lösung entgegenzuführen. Es sollte eben „durch die Freiheit der religiösen Überzeugungen der Freiheit überhaupt eine Gasse gebahnt werden"56. Die eigentlich religiösen und sittlich-humanen Ideen und theologischen Debatten verloren im Verlauf der Bewegung allmählich ihre zentrale Bedeutung. Dafür kam immer mehr ein agitatorisches Moment hinein. In ständig wachsendem Maße rückten die politischen Fragen in den Vordergrund. Der unterdrückten politischen Opposition schien sich ein Ventil zu öffnen. Manch einer von denen, die, von dem Drang zu aktiver Gegenwartsgestaltung erfüllt, sich den Lichtfreunden anschlossen, hat die theologischen Kontroversen lediglich zur Maskierung seiner politischen Ziele benutzt. Namentlich in Halle, wo der vornehmlich auf Schleiermacher, aber auch vielfach auf Hegel fußende freisinnige Theologe Karl Schwarz, der Historiker Max Duncker und der junge Philosoph Rudolf Haym die Führung an sich gerissen hatten, erwuchsen seit 1845 aus der Agitation für die Lichtfreunde große Kundgebungen für die Kerngedanken des politischen Liberalismus, für das Recht Schleswig-Holsteins und die Mission des Vereinigten Landtags57. So hat denn die Lichtfreundebewegung zur Sammlung all derjenigen Kräfte gedient, die im Gegensatz zur herrschenden Regierung standen und von einem System des Zwangs und der starren Autorität nichts wissen wollten. Rationalisten, Schleiermacherianer, Junghegelianer, Jungdeutsche, Liberale aller Schattierungen; Unzufriedene und Aktionshungrige, brave, friedliche Bürger und © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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revolutionär gesinnte Demagogen; Theologen, Gelehrte, Literaten, Publizisten, Beamte, Grundbesitzer und Kaufleute fanden sich zusammen. Wie hoch die Besorgnis vor der Herrschaft der Orthodoxie gestiegen war, erhellt auch daraus, daß nach dem Zeugnis eines hervorragenden zeitgenössischen Beobachters „die der absoluten Startsform durchschnittlich ang verbundene W e l t der Staats-, Militär- und Kirchenbeamten alten Stils und alles, was von ihrer Bildungsforrn abhängig war, bloß um ihren Rationalismus sicherzustellen, in die ungewohnte oppositionelle Stellung der irgendwelche Garantien Verlangenden hinübergetrieben wurde, der bisher indifferentistische Haufe der gewöhnlichen Zeitungspolitiker aber, der die theologisch-kirchliche Reaktion auch eine politische Regsamkeit entfalten sah, sich plötzlich für kirchliche Interessen im entgegengesetzten Sinne erhitzte und in ihm seine Pronunziamentos erließ"58. Es handelte sich also keineswegs um eine vorwiegend kleinbürgerliche Bewegung von Gevatter Schuster und Schneider oder wie vielfach, auch von H. Leo59 und Treitschke mit billigem Spott, aber auch mit gutem Humor bemerkt worden ist, um eine Strömung, die schließlich sich daran genug sein ließ, bei Bier und Tabak über die Zukunft des Christentums zu beraten. Die eigentlichen Träger dieser oppositionell gerichteten Mittelstandsbewegung waren vielmehr das gebildete und besitzende Bürgertum. Als die preußische Staatsregierung am 10. August 1845 alle lichtfreundlichen Versammlungen verbot, „sobald sie durch die Zahl oder Standesverschiedenheit ihrer Teilnehmer oder auch durch den Ort ihrer Vereinigung den Charakter von Volksversammlungen annehmen", als sie die Führer mit Amtsentsetzung bestrafte und eine ganze Kette von Maßregelungen und Schikanen in die Wege leitete, als die Kirchenbehörden ihre lichtfreundlich gesinnten und bei ihrer Überzeugung verharrenden Amtsbrüder aus der kirchlichen Gemeinschaft ausstießen, da wurden in zahlreichen Städten der preußischen Monarchie, vornehmlich in Magdeburg, Halle, Berlin, Breslau, Königsberg, Gegenproteste angeregt, die, wie in Berlin, auch solche Kreise ergriffen, die der Bewegung an sich fernstanden60. Die numerisch bedeutendste und sozialgeschichtlich instruktivste dieser Protestadressen war die der Stadt Breslau, die in 52 Städten und Ortschaften zirkuliert hatte und innerhalb eines Monats unterzeichnet worden war von: 3 Dozenten der evangelischen Theologie, 124 Amtsgeistlichen, 46 Kandidaten, 35 Studierenden der evangelischen Theologie, 13 Universitätsdozenten, 72 Studierenden, 50 Gymnasiallehrern, 300 anderen Lehrern, 142 Juristen, 175 Ärzten und Apothekern, 35 Mitgliedern der höchsten Landeskollegien, 700 Beamten in unmittelbarem Staatsdienst, 600 Kaufleuten, 400 ländlichen Grundbesitzern, 80 Rittergutsbesitzern, 119 Offizieren, 2000 Industriellen61. Von den Zeitgenossen ist, wie schon ein flüchtiger Blick in die fast unabsehbare Flugschriften- und Zeitschriftenliteratur beweist, die Bedeutung der lichtfreundlichen Bewegung außerordentlich überschätzt worden, sowohl von den Anhängern wie von den Gegnern. Was traute man ihr und dem gleichzeitig auftretenden Deutschkatholizismus nicht alles zu! Daß die alten Rationalisten Roehr, Wegscheider, Bretschneider und Paulus einer neuen Reformationsepoche © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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nahe zu sein glaubten, nimmt nicht wunder. Bei niemandem aber nahmen Wünsche und Erwartungen utopischere Formen an als bei dem Historiker Gervinus. In seiner Kampfschrift „Die Mission der Deutschkatholiken" (1845), in der er zum erstenmal seine kollektivistische Geschichtsauffassung entwickelte, vertrat er den Gedanken, daß die religiöse Freiheitsbewegung der Deutschkatholiken und der Lichtfreunde, falls sie der Gefahr der Sektenbildung entgehe, dazu berufen sei, eine sittlich-nationale Reformation größten Stils, die Vereinigung der Konfessionen und die Begründung einer deutschen Nationalkirche in die Wege zu leiten und damit der politischen Wiedergeburt die Bahn zu brechen. Von realerer und entscheidenderer Bedeutung war es, daß die stattliche Schar der Junghegelianer, die in der oppositionell gestimmten Publizistik den Ton angab, sich den Lichtfreunden anschloß, mit dem schweren Rüstzeug der Dialektik und der spekulativen Philosophie den „Befreiern des Geistes vom Buchstabendienste" sekundierte und sich tapfer mit der Orthodoxie und den „Männern der Finsternis" herumschlug. Der spekulative Rationalismus der Junghegelianer, der sich von den Errungenschaften des deutschen Idealismus und der Romantik genährt hatte, ohne die kritischen Tendenzen der alten Aufklärung, die Leugnung der übernatürlichen Offenbarung, und, Hegel folgend, die intellektualistische Auffassung des religiösen Glaubens aufzugeben — lediglich Feuerbach ist Hegel hier nicht gefolgt —, war in der Tat dem Rationalismus vulgaris dem Wesen nach ebenso verwandt, wie es auch die Denkweise, der sogenannte „Gefühlsrationalismus" mancher Schleiermacherianer war. So wird es verständlich, daß in Zellers „Theologischen Jahrbüchern", in Schweglers „Jahrbüchern der Gegenwart", dem Organ der süddeutschen Junghegelianer, und in Noacks gelehrten „Jahrbüchern für spekulative Philosophie", der gemäßigten Fortsetzung der „Hallischen Jahrbücher", eifrig über die Bedeutung und die große Hoffnungen erweckenden Zukunftsmöglichkeiten der Lichtfreundebewegung debattiert wurde. Hier traten auch die Männer auf, die von Hegel ausgegangen, an ihm und der spekulativen Philosophie überhaupt aber irre, der begrifflichen Abstraktionen und des zergrübelten Spintisierens überdrüssig geworden waren und in dem bis dahin viel geschmähten gesunden Menschenverstande, in dem unverbildeten sittlich-religiösen Volksempfinden Kräfte zu entdecken glaubten, die zur inneren Erneuerung, zur Bewältigung der Aufgaben des konkreten Lebens und der Gegenwart führen könnten62. Arnold Ruge, der noch 1838 in den „Hallischen Jahrbüchern" vom Standpunkt des „Rationalismus der Vernunft" über die geistlose und rückständige Vernünftelei des theologischen Rationalismus, des „Rationalismus des Verstandes" gespottet und mit H. Leo gegen das „Aufkläricht" und die Beschränktheit des Philistertums gewettert hatte, war bereits 1839 mit der ihm eigenen dialektischen Virtuosität dazu übergegangen, den Rationalismus vulgaris als notwendige Entwicklungsstufe des gegenwärtigen theologischen Geistes zu rechtfertigen. In der Lichtfreundebewegung, die zu einer engen Verbindung von Vulgärrationalismus und Junghegelianismus, von Religion, Philosophie und Politik geführt hatte, glaubte er schließlich die von der Philosophie geforderte Fortsetzung und © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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Erneuerung der Reformation vor sich zu haben, die notwendig zu einer Demokratisierung der Gesellschaft und des Staates führen müsse. Das war eine Anschauung, die fast allenthalben auch im Lager der Jungdeutschen und der politischen Lyriker vertreten wurde. „Die christliche Liebe, die alle gleich verbindet, kann für uns nur in der Idee der politischen Freiheit ihre Vollendung rinden. An diesem Ziele dürfen wir uns durch nichts irre machen lassen, weder durch falsche Hoffnungen, noch durch künstliche Ableitungen. Nur in einer freien Welt werden Offenbarung und Vernunft sich als einsgeworden setzen können."63 So verkündete im Namen vieler Theodor Mundt, einer jener Männer, die, ihr Individuum als souverän empfindend, auf die Kraft ihrer autonomen, keiner überlieferten Autorität unterworfenen Vernunft vertrauend, für das Eigenrecht ihrer Zeit eintretend, die Welt nach ihrem Bilde formen zu können glaubten. Ist ihnen dies auch nicht gelungen, so bleibt ihnen doch das historische Verdienst, daß sie, an einer Scheide der Zeiten stehend, dem empirischen und realistischen Denken, einem neuen gegenwartsfrohen, tatenlustigen, politisch interessierten, antimetaphysischen Zeitalter die Bahn mit haben brechen helfen. Indem sie an die Spitze großer literarischer und theologischer Parteien traten, haben sie zugleich die Bildung politischer Parteien vorbereitet. Als praktischer Ausläufer einer alten geistigen Bewegung, als vollwertiger Beleg für die weite Verbreitung der rationalistischen Denkart auch zu der Zeit, wo der Rationalismus vulgaris in der literarischen und wissenschaftlichen Debatte längst als tot und abgestorben bezeichnet wurde, als ein kirchengeschichtliches Novum besitzt das Auftreten der Lichtfreunde und der freien Gemeinden eine erhebliche historische Bedeutung. Darüber hinaus aber spielt es in der Geschichte des vormärzlichen Vulgärliberalismus eine recht beachtliche Rolle. Denn es hat nicht nur die Religion dem Volke menschlich wieder nahe gebracht und sie für eine kurze Zeit aus einer Sache der theologischen Zunft und der lauen Gemeinden zu einer Sache des Volks gemacht; es hat darüber hinaus weite Kreise des bürgerlichen Mittelstandes aus dem behaglichen Schlummer geweckt, in einen Zustand beständiger Erregung versetzt und das Interesse für die Fragen des öffentlichen Lebens wachgerufen. Es hat auf die Standes- und Kastenunterschiede verwischend und demokratisierend gewirkt und eine gemeinsame Gedanken- und Aktionsbasis geschaffen. Es gewöhnte das Bürgertum an Massendemonstrationen und parlamentarische Verhandlungsformen, an Reibereien mit Behörden und Regierung. Unter dem Druck von oben entstand in den bürgerlichen Massen ein Geist der Unruhe, der Opposition und Agitation. So hat die Lichtfreundebewegung, freiwillig und unfreiwillig, politisierend und parteibildend gewirkt und die Organisierung einer großen liberalen Partei mit vorbereiten helfen. Und wie die Bewegung von 1845 ab direkt in die politische Agitation überging, das zeigen nicht nur die Vorgänge in Halle, Breslau, Königsberg, sondern auch die vielfach als demokratische Volksvereine auftretenden freien Gemeinden. Wie in Süddeutschland so vollzog sich auch im Lager des Vulgärrationalismus noch vor dem Ausbruch der Märzrevolution die Scheidung zwischen einer gemäßigt liberalen und einer radikaleren, mehr demokra© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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tischen Richtung, die nicht nur eine entschiedenere und aggressivere Taktik verfolgte, sondern auch in ihren Forderungen über die übliche konstitutionelle Dogmatik hinausging. Als theologische, philosophische und pädagogische Doktrin hatte der Vulgärrationalismus den Gipfel seiner Wirksamkeit und seines Einflusses zu einer Zeit erreicht, wo der Geist der Goethezeit, der Geist der Klassik, des Neuhumanismus, der idealistischen Philosophie, der Romantik längst über ihn hinweggeschritten, die geistigen Führer der Nation ergriffen und von hier aus seinen Siegeszug durch die deutschen Lande angetreten hatte. Dieser veränderten Richtung des deutschen Geisteslebens ist er zum Opfer gefallen. Nicht als Glaubensund Lebensform, wohl aber als wissenschaftliche Bewegung war er nicht mehr als ein toter Ast an einem saftvollen, herrlichen Baume. Die Kampfe, die er in den zwanziger und vollends in den dreißiger und vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts um seine wissenschaftliche Existenz zu führen hatte, sind nur ein Symbol hierfür. Langsam aber sicher wurde sein Ansehen untergraben. Die Harmsschen Thesen (1817), die Leipziger Disputation (1827), die Denunziation von Gesenius und Wegscheider in der „Evangelischen Kirchenzeitung" (1830) taten ihre Wirkung. Den entscheidenden wissenschaftlichen Schlag aber führte der Mann, der unter den auf Schleiermacher folgenden Theologen vielleicht in höchstem Umfange das ganze deutsche Bildungsleben in sich vereinigte, Kunst und Wissenschaft, Philosophie und Geschichtsschreibung: der geniale Kirchenhistoriker Karl Hase. 1834 und 1837 erschienen seine beiden bedeutsamen Streitschriften „Der neue Hutterus und seine Gegner" und der „Anti-Roehr"64. Um die Kernidee des Rationalismus, das Prinzip der Geistesfreiheit zu retten, mußte er den Rationalismus vulgaris zerschmettern, „denn dieser war nur eine der ersten unvollkommenen Erscheinungen des rationalistischen Prinzips"65. Was Hase ihm vorzuwerfen hatte, mußte ihm wissenschaftlich den Todesstoß geben: Das Fehlen eines verstehenden, liebevollen historischen Sinnes; die Einsicht in die historische Bedingtheit des Vernunftinhalts; der Mangel religiösen Gefühls und vor allem der Mangel an wissenschaftlicher Kraft und Tiefe, das Nichtverständnis des philosophischen Gehalts des Christentums. Mit einem gewissen Recht hat Richard Rothe einmal gesagt, der Rationalismus sei zwar eine schlechte Theologie, jedoch keine so üble Religion gewesen. Mit so unzureichenden wissenschaftlichen Mitteln der Rationalismus vulgaris das gute Recht der Kritik gegenüber der autoritativen Auffassung des Christentums gewahrt hat, seine Ideen, so unvollkommen, zeitbedingt, dürr und flach ihre geistige Formung auch mitunter erscheinen mag, sind gestaltende Kräfte des Lebens. Ihre historische Bedeutung beruhte auf ihrer praktischen Brauchbarkeit. Der sittliche Geist, der den Rationalismus durchdrang, war „ein freier, männlicher und kräftiger Geist, welcher das Herz nicht schlaff, sondern stark macht, und den Menschen nicht zum Tändeln mit süßen Gefühlen, sondern zum fröhlichen Streben und mutigen Handeln leitet"66. Dieser Geist, der nicht auf die Lehrmeinungen, sondern auf die Gesinnung und die Tat das Schwergewicht legt, hat das deutsche Bürgertum lange Zeit hindurch erfüllt, und darauf be© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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ruht die Kulturleistung des Rationalismus. Selbstzuversicht und mutiger Zukunftsglaube, praktische Tüchtigkeit und strenge Pflichterfüllung, Selbstgenügsamkeit und Zufriedenheit, heitere Lebensfreude und innerer Friede, bürgerliche Anständigkeit und ein geregeltes Familienleben sind durch ihn in hohem Grade befördert worden Ja, man muß weitergehend sogar behaupten, daß er nicht unwesentlich mit dazu beigetragen hat, im Bürgertum Interesse am Staatsund. Gemeinschaftsleben zu erwecken und Staatsgesinnung zu erzeugen. Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts haben seine moralisch-religiösen Ideen einen mächtigen Einfluß üben können, um dann einer mehr materialistisch gerichteten Popularliteratur, der Zeitung und den politisch-wirtschaftlich-sozialen Interessenkämpfen das Feld zu räumen. Aber noch heute ist dieser Geist nüchterner, verstandesheller, wenn auch beschränkter Klarheit, die mit einer so großen Sicherheit des Lebensgefühls verknüpft ist, dabei aber für die irrationalen Kräfte des Lebens kein Verständnis aufbringt, lebendig in einem beträchtlichen Teile unseres Bürger- und Bauerntums. Unter der Einwirkung der von orthodoxen theologischen Richtungen, vom deutschen Idealismus, von der Romantik und der Historischen Schule geprägten Werturteile ist es bis zum heutigen Tage, auch in den Kreisen der Fachhistoriker, vielfach üblich, auf die Aufklärung, das Naturrecht und erst recht auf den Vulgärrationalismus mit einem überlegenen Lächeln herabzusehen oder gar mit scharfen Worten ein Verdammungsurteil zu sprechen. Es ist ganz unbestreitbar, daß der Vulgärrationalismus von den Spitzenleistungen der von Lessing, Kant und Hegel zu Ende gedachten Aufklärung ebenso weit entfernt geblieben ist wie von dem empiristisch-sensualistischen Geist, der weltmännischen Weite, dem ungeheuren Pathos, dem revolutionären Schwung, wie sie der anglo-französischen Aufklärung eigen waren. Das bequeme Verfahren jedoch, das einst Fichte in den „Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters" und in der glänzenden, wenn auch menschlich nicht gerade ehrenvollen Streitschrift über „Friedrich Nicolais Leben und sonderbare Meinungen" angewandt hatte, indem er den Vulgärrationalismus zur Zielscheibe seines Spottes machte und von hier aus die Aufklärung, der er selbst so viel schuldete, in undankbarer Schülerart gründlich abkanzelte, hat gar zu zahlreiche Nachahmer gefunden. Tendenziöser Parteigeist und beschränkte Ignoranz sind bis zum heutigen Tage noch immer eilfertig bei der Hand, mit ihrem „Ecrasez l'Infâme" nicht hinter dem Berge zu halten. An diesen Männern ist die Mahnung spurlos vorübergegangen, die Thomasius bereits 1691 in seiner Schrift „De Praejudiciis oder von den Vorurteilen, die uns an der Erkenntnis der Wahrheit hindern" an seine Zeitgenossen gerichtet hatte: sich zu befreien von dem „Vorurteil der Autorität" und von dem „Vorurteil der Nachahmung". Dem Parteigeist entgegen ist die einfache Tatsache zu konstatieren, daß die Aufklärung wohl die mächtigste Säule ist, auf der das moderne Leben ruht, und daß zwar nicht der Buchstabe, die logische Form und das zeitbedingte Dogma, wohl aber der Geist der deutschen und westeuropäischen Aufklärung mit Einschluß des Positivismus es ist, der zwar weniger dem deutschen Geistesleben und der Philosophie, aber um so mehr dem modernen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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und erst recht dem heutigen Staats-, Partei-, Wirtschafts- und Sozialleben sein Gepräge gegeben hat. Philosophie-, Religions- und Literaturhistoriker vor allem sind es gewesen, die einer gerechten historischen Einschätzung des Aufklärungszeitalters die Bahn gebrochen haben. Wer denkt hier nicht an Hettner, Dilthey, Troeltsch, denen sich neuerdings Rudolf Unger mit seinem „Hamann und die Aufklärung" würdig anreiht? Indem wir den Vulgärrationalismus der späten deutschen Aufklärung zum Gegenstande unserer Untersuchung machten, wollten wir nicht nur dazu beitragen, einer vielverketzerten Bewegung zu ihrem historischen Recht zu verhelfen, sondern zugleich an einem praktischen Beispiele zeigen, wie der viel umstrittene Gegensatz von individualistischer und kollektivistischer Geschichtsauffassung in einer höheren Einheit sich aufhebt. Wem der Blick für die tatsächlich bewegenden Mächte des geschichtlichen Lebens nicht getrübt ist, wird auch in der Geistesgeschichte sein Augenmerk auf das Neben-, Mit- und Gegeneinander der individuellen und der kollektiven Kräfte, auf den psychologischen sowohl wie auf den soziologischen Faktor zu richten haben. Wenn es auch meist eine persönlich beglückendere und menschlich bildendere Aufgabe ist, sich den erlesenen Geistern und schöpferischen Individualitäten zuzuwenden und diese zum Zentrum einer historisch-psychologischen oder biographischen Untersuchung zu machen, so fordert doch die Erkenntnis des wirklichen Geschehens, daß das im Kausalzusammenhang oft entscheidendere Tatleben und die Ideologie der Massen, Stände, Klassen, Parteien und Parteiungen, ihrer historischen Bedeutung entsprechend in gleichem Maße berücksichtigt werden. Da es nun aber irgendwie immer die Menschen sind, die mit ihrem Tun und Handeln, ihrem Denken und ihren Leidenschaften die Träger der geschichtlichen Entwicklung sind, so muß auch die Erforschung von geistigen Kollektivbewegungen von dem Einzelmenschen ausgehen, der aber weniger in seiner isolierten Einzigkeit, denn als Repräsentant einer Gruppe und als massenpsychologisches Element zu betrachten ist. Individuelle Sonderheiten und Nuancen erscheinen, so interessant sie in menschlicher und ideeller Hinsicht auch sein mögen, dem typischen Gesamtcharakter gegenüber als untergeordnet. So bildet das eigentliche Ziel der auf die Erfassung der Kollektivkräfte ausgehenden Betrachtung die Einsicht in das Leben und Denken der Massengruppe, die, mehr als eine bloße Summation der Gruppenglieder, den einzelnen mit sich reißt, den Charakter einer überindividuellen Individualität annimmt und im Strom der Entwicklung als eine geschichtliche Einheit erscheint. Wenn wir vermöge eines abstrahierenden Verfahrens von dem Vulgärrationalismus sprachen, so bezeichneten wir damit einen historisch eng begrenzten Begriff, der mehr bedeutet als eine durch lose Bande zusammengehaltene Gruppe von mittelmäßigen Aufklärungstheologen und Stubengelehrten, mehr als ein Konglomerat von dürftigen Lehrmeinungen, Reflexionen, Philosophemen, theologischen Spitzfindigkeiten und Traktaten. Wir meinten vielmehr eine in den verschiedensten Daseinsgebieten zur Auswirkung gelangende, in erster Linie aus der Vulgäraufklärung erwachsene Lebens-, Denk-, Glaubens- und Weltanschau© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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ungsform, die zu einer historischen Kraft, zu lebendigem Leben und zu großer Kausalbedeutung erst dadurch geworden ist, daß sie, statt im theologischen Schulgezänk und im Bereich akademischer Erörterungen stecken zu bleiben, sich in die Lebenshaltung des bürgerlichen Durchschnittsmenschen umsetzte und zu einer Kollektivbewegung entwickelte, die die breite Masse vornehmlich des Mittelstandes ergriff und vom Ende des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts in ihren Bann zwang.
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3. GEISTIGE UND POLITISCHE STRÖMUNGEN AN DER U N I V E R S I T Ä T HALLE I N DER E R S T E N HÄLFTE DES 19. J A H R H U N D E R T S Länger als ein Jahrhundert hindurch war Halle die eigentliche Schulstadt der preußischen Monarchie gewesen. Die großen Denkrichtungen im Deutschland des 18. Jahrhunderts, die auf die breiten Massen des Bürgertums mächtig einwirkten, die Aufklärung und der Pietismus, hatten in Halle ihre Sammelstätte gefunden. Durch Christian Wolff und Thomasius, durch Siegmund Jakob Baumgarten, Salomo Semler und den Geist des Franckeschen Waisenhauses war die Durchschnittsbildung der Zeit bestimmt worden. Aber auch die großen Juristen und Kameralwissenschaftler der Zeit, von den älteren Seckendorff und Thomasius, von den jüngeren Gundling, Böhmer, Ludewig, Heineccius und Stryk hatten hier eine außerordentliche Wirksamkeit entfaltet und Tausende von preußischen Beamten gebildet. Bis zum Tode Friedrichs des Großen stand der preußische Staat mit der deutschen Aufklärung in engem Bunde. Eine zwar kurze, aber unvergleichliche zweite Blütezeit erlebte die Universität in den Jahren von 1799—1806. So mancher später oft genannte Mann hat in dieser Zeit in Halle die Fundamente seiner Bildung gelegt. Um nur einige der klangvollsten Namen zu nennen: Böckh und Immanuel Bekker, Karl und Friedrich von Raumer, Dahlmann, Varnhagen, Wilhelm Grimm, Johannes Schulze, Neander, Ludwig Jahn, Alexander von der Marwitz. Neben den vielen Studenten, die mehr oder weniger an einem wüsten Pennalismus Gefallen fanden oder gar in dem gähnenden Abgrunde der Syphilis versanken, gab es eine stattliche Zahl erlesener Jünglinge, die sich vor allem um F. A. Wolf, Reil, Steffens und Schleiermacher scharten. Manch einer hatte das Glück, in dem nahen Lauchstädt oder auch in Halle selbst ein Wort mit Goethe wechseln zu dürfen, wenn er herüberkam, um seinen Freund Wolf zu besuchen. Ein idyllischer Zauber liegt über dem göttlichen Leben jener Tage. Man lebte wie im Garten der Poesie. Zu Zweien oder Dreien las man in einer schattigen Laube mit jugendlicher Begeisterung Shakespeare und Goethe, Dante, Cervantes und die Romantiker. Von der Nüchternheit rationalistischer Verstandesbildung war man zu den lichten Höhen edler, freier, idealistischer Menschenbildung emporgestiegen. Ein enges Band verknüpfte die hervorragenden Schüler mit den hervorragenden Lehrern. Es war noch jene selige, von Treitschke einzig schön beschriebene Zeit des deutschen Universitätslebens, wo der Professor sein hodie non legitur an die Türe des Kollegsaales schrieb, wenn ein heiterer Frühlingsmorgen ins Freie lockte.
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Geistige und politische Strömungen an der Universität Halle
In jenen Jahren ist Halle für kürzere oder längere Zeit ein Lieblingsaufenthait der Romantiker gewesen. Fast alle kamen sie: die Gebrüder Schlegel, Tieck, Wackenroder, Novalis, Brentano und Arnim, Eichendorff und Fouqué Reichardts Haus in Giebichenstein wurde der Mittelpunkt dieses Kreises. Hier fand sich alles zusammen, was Sinn hatte für Wissenschaft und Kunst, für edle Geselligkeit und Frauenschönheit. Hier weilten Goethe und Jean Paul, Fichte und Schelling; im Mittelpunkt des Hauses aber stand Schleiermacher, das Genie der Geselligkeit. Die Gespräche und Debatten verstummten, wenn die Reichardtschen Töchter die Werke von Palestrina, Leonardo Leo, Durante, Händel und Bach zu neuem Leben erweckten; wenn die schöne Luise Reichardt, bestrahlt von dem Glanz der untergehenden Abendsonne, im Garten ihren herrlichen Gesang anstimmte und ihre Liederkompositionen den lauschenden Freunden vortrug. Bis in die Nacht hinein saß man beisammen. In Eichendorffs Erinnerungen wird die Zaubergewalt solcher Stunden lebendig: „Dort aus den geheimnisvollen Bosketts schallten oft in lauen Sommernächten, wie von einer unnahbaren Zauberinsel, Gesang und Guitarrenklänge herüber; und wie mancher junge Poet blickte da vergeblich durch das Gittertor, oder saß auf der Gartenmauer zwischen den blühenden Zweigen die halbe Nacht, künftige Romane vorausträumend."1 Durch den brutalen Eingriff französischer Gewaltherrschaft wurde mit einem Schlage dieses reiche, stimmungsvolle Leben zerstört. Eher als eine „Sinngebung des Sinnlosen" wird man eine „List der Vernunft" in diesem Ereignis erblicken. Aus den Ruinen des Zerstörten blühte neues Leben empor: die Ideen, die das Zeitalter der deutschen Erhebung erfüllen. Zweimal war die Universität von Napoleon wegen ihrer franzosenfeindlichen Haltung geschlossen worden. Von 1808—13 hatte sie als westfälische Universität unter Jeromes Herrschaft ein Schattendasein geführt. Als preußische Universität wurde sie 1813 neu begründet, 1817 mit Wittenberg vereinigt. Von da ab hat die Universität Halle wieder einen schnellen Aufschwung genommen. Mit der neu gegründeten, mächtig aufblühenden Universität Berlin zwar vermochte sie, die bis zum Ende der 30er Jahre im wesentlichen doch eine Theologenuniversität war, nicht wettzueifern. Aber was sie an wissenschaftlicher Bedeutung eingebüßt hatte, gewann sie an aktueller Wirkungskraft. Im dritten und vierten Dezennium des 19. Jahrhunderts geht durch das Hallische Universitätsleben ein stürmisches Wogen. An keiner anderen deutschen Universität markierte sich der Gegensatz der einander bekämpfenden Richtungen so scharf wie hier. Besonders bei den Fakultätssitzungen und bei den Habilitationen pflegte es hoch herzugehen2. Da konnte es wohl vorkommen, daß der geniale Sprachforscher A. Fr. Pott, ein politisch freigesinnter Mann, in seiner temperamentvollen Weise einem Kandidaten Heinrich Leos in der Aula vor zahlreicher Versammlung zurief, er gehöre jener turpis pars pietistarum an, die schon so viel Unheil in Halle angerichtet habe, und daß dann Leo wutentbrannt aufsprang, mit den Füßen aufstampfte und mit wildem Blick in die Korona brüllte: iniuriarum bic locus non est! © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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Mit der Entstehungsgeschichte der politischen Parteien in Deutschland sind die philosophischen, theologisch-religiösen und literarischen Parteiungen des Vormärz auf das engste verknüpft. Die Kämpfe an den preußischen Universitäten und das herrische Gebaren der Publizistik bildeten einen Ersatz für das fehlende, heiß ersehnte parlamentarische Leben. Darauf nicht zuletzt beruht ihre allgemeingeschichtliche Bedeutung, und daraus — nicht nur aus der allgemeinen Geisteslage — erklärt sich auch die Wichtigkeit, die die Zeitgenossen literarischen oder gelehrten Fehden und theoretischen Erörterungen beimaßen. Wie wäre sonst das außerordentliche Aufsehen verständlich, daß die 1838 gegründeten „Hallischen Jahrbücher" erregten3? „Es ist die Zeit des Ideenkampfes und Journale sind unsere Festungen"4, mit diesen für die ideologische Phase unseres Parteilebens so charakteristischen Worten hat Heinrich Heine seine publizistische Laufbahn eröffnet. Wer sich das überaus regsame und bewegte Hallische Geistesleben jener Tage zu vergegenwärtigen sucht, gewinnt zunächst den Eindruck verwirrender Mannigfaltigkeit, um so mehr da — was ja für die Frühzeit unseres Parteilebens besonders charakteristisch ist — die Vertreter der verschiedenen Richtungen mehrfach von einem Standpunkt zum entgegengesetzten hinüberwechseln. Alle Schattierungen des damaligen theologisch-religiösen Lebens, Rationalisten, Pietisten, Orthodoxe, laue Vermittlungstheologen, Vertreter einer philosophischen Bildungsreligion und spekulative Theisten; alle Schattierungen der Hegeischen Schule, konservative, liberale und radikale Hegelianer; Vertreter einer empirisch-kritischen und einer mehr konstruktiven Philologie sind hier zu finden. Dazu kommen, besonders unter den Juristen (Pernice, Mühlenbruch, Blume), Anhänger der Romantik und der Historischen Schule. Und schließlich noch die immer mehr sich zuspitzenden politischen Differenzen! Seit 1838, so berichtete 1844 der Kurator Pernice an den Minister, beginne sich in der politischen Haltung der Mitglieder der philosophischen Fakultät eine tiefgreifende Spaltung und Zerklüftung bemerkbar zu machen. In der Tat harte sich eine Gruppe politisch freisinniger Professoren zusammengefunden, an deren Spitze der Philosoph Hinrichs und die Philologen Meier und Pott standen. Dieser Gruppe schlossen sich nach einigen Jahren Max Duncker, Rudolf Haym, Karl Schwarz und Robert Prutz an, die dann in den 40er Jahren, als der Sturm, den das Auftreten Arnold Ruges hervorgerufen hatte, verbraust und Halle zu einem Zentrum der lichtfreundlichen Bewegung geworden war, die Führung an sich rissen. Auf der konservativ gerichteten Gegenseite standen an erster Stelle Heinrich Leo, August Tholuck, J . Ed. Erdmann und Ludwig Pernice. Es sind nicht die Hallischen Universitätskämpfe selbst, der auch auf die Studentenschaft übergreifende Hader und Streit der Parteien und das ganze Getriebe der Rivalitäten, Intrigen, Schikanen, bei denen manch kleinliche und würdelose Menschlichkeiten zum Vorschein kommen, die in diesem Aufsatz erzählt werden sollen. In den Grundzügen sind diese Kämpfe bekannt. Mehr fesseln das historische Interesse die an diesen Reibungen beteiligten Persönlichkeiten und die den Hintergrund dieser Kämpfe bildenden wissenschaftlichen, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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religiös-kirchlichen und politischen Gegensätze. In den Führern der Bewegung spiegeln sich die allgemeinen Verhältnisse und Bezüge, das geistige und zeitgeschichtliche Milieu in schattenhaften Umrissen. Aus der Fülle der Erscheinungen greife ich ein paar besonders bedeutsame Persönlichkeiten heraus, mit dem Bemühen, sie, soweit das mit ein paar Strichen möglich ist, in ihrer persönlichen und geistigen Sonderart, in der Verschiedenartigkeit ihres Denkens, ihres Lebensgefühls und ihres Menschentums zu erfassen. Wertvoll und einzigartig in sich, ausgeprägte Persönlichkeiten und markante Charakterköpfe, haben sie für die Universität Halle und die Ausgestaltung des akademischen Lebens, aber auch als verantwortungsbewußte Mitgestalter ihrer Zeit erhebliche oder doch zumindesten beachtliche Bedeutung gewonnen. Jahrzehnte hindurch ist die Richtung der theologischen Fakultät durch August Ludwig Wegscbeider (1771—1849) bestimmt worden. Seit 1810 hat er unermüdlich an der Universität Halle gewirkt. Durch sein ebenso gelehrtes wie langweiliges Hauptwerk, die Institutiones Theologiae doristianae dogmatteae (1815) war er neben Röhr, dem Weimarischen Generalsuperintendenten, zum anerkannten Schulhaupt des Rationalismus geworden, der das moralisch-religiöse Erbe der vulgären deutschen Aufklärung durch Aufnahme Kantischer Ideen dem Wandel der Zeiten anzupassen suchte5. Als Wegscheider 1830 in die bekannte häßliche Fehde mit Ludwig von Gerlach geriet, da hat er so treu und mannhaft, wie es seine ängstliche Gelehrtennatur zuließ, zu seiner Überzeugung gestanden. In dem Rechtfertigungsschreiben, das er an Altenstein richtete6, hat er nachdrücklich das gute Recht der historisch-kritischen Forschung und der natürlichen Wundererklärung vertreten. Wegscheider war ein Philister und Pedant, aber ein höchst ehrenwerter, gutmütiger, streng rechtlich denkender, hochangesehener Mann und ein beharrlicher, leistungsfähiger Arbeiter. Der Ruhm seines Namens war groß. Die jungen Theologen strömten in hellen Haufen nach Halle. In den 20er Jahren hatte er oft über 300 Hörer. Es war wie in Heidelberg, wo Paulus wirkte, allenthalben, wie Creuzer ein wenig hämisch an Hegel schrieb, ein „Laufen und Drängen dorthin, wo man die breite Prosa mit Löffeln frißt" 7 . Dabei war Wegscheider auch als akademischer Lehrer von ermüdender Langweiligkeit, und in seinem Hörsaal war die Luft recht muffig. Wenn er eine Stelle aus den Werken eines der spekulativen Philosophen — am meisten hatte er es auf Schelling abgesehen — kritisch zerfaserte oder wenn er mit einem Seitenblick auf seinen Kollegen Tholuck seine Hörer vor den „dunklen Gefühlen" warnte, geriet wohl ein Funke von Leben in die trockene Eintönigkeit seines Vortrages. Mit den 30er Jahren begann sein auch jetzt noch starker Einfluß merklich abzunehmen. Ein Jahrzehnt später mußte er beinahe vor leeren Bänken lesen. Wer nicht pietistisch oder positiv war, ging zu dem jungen, reichgebildeten, feurigen Karl Schwarz, der durch die Schule Schleiermachers und Hegels gegangen war. Mit Wegscheider zusammen nennt man gewöhnlich Wilhelm Gesenius (1786 bis 1842). Von ihrer theologischen Richtung abgesehen haben beide Männer wenig miteinander gemein. Wegscheider bewegte sich in ausgefahrenen Gelei© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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sen, Gesenius war ein Entdecker, ein Mann von Format, als Lehrer und als Gelehrter. Sein Leben ist das an äußeren Ereignissen arme Leben eines Büchermenschen. Es verlohnt nicht von ihnen zu reden. Vor schweren inneren Krisen war er durch die unverrückbare Festigkeit seines rationalistischen Lebensstiles geschützt. Die Bücher waren seine Welt. Selbst auf seinen Reisen war er in eine Wolke von Bücherstaub gehüllt. Unter seinen Büchern ist er gestorben. Dem Kampf war er abgeneigt, sein Wesen verlangte nach friedlicher Harmonie. Dabei war er bis in sein Alter voller Lebendigkeit, Witz und Humor. Diesen Eigenschaften und der geistvollen Bewegtheit seiner Darstellung hatte er es zu danken, daß seine Lehrwirkung auch in seinen letzten Jahren, als der Hallische Rationalismus in vollem Niedergang begriffen war, fast keinen Abbruch erlitt. Der größte Teil der Studentenschaft blickte mit Verehrung und Stolz auf ihn. Alle kannten den kleinen, gedrungenen Mann mit seinen wallenden weißen Locken, wenn er sarkastisch lächelnd, einen großen Stoß Bücher unter dem Arm, durch die Straßen schritt. Als Theologe wurde er bekannt durch seinen Jesajakommentar, der durch Hitzigs Forschungen aber schon bald überholt wurde. Auch in diesem Werke zeigte er sich mehr als Philologe denn als Theologe. Daß er, auf den Schultern der großen niederländischen Philologen stehend, die semitische Philologie aus den Banden der Theologie befreit hat, verschafft ihm ein dauerndes Gedächtnis in der Wissenschaftsgeschichte. Die exakte Methode, die die klassische Philologie ausgebildet hatte, verband er mit den Anregungen, die er der Historischen Schule verdankte, um sie auf die semitischen Sprachen anzuwenden. Mit seinen grammatikalischen und mehr noch mit seinen lexikographischen Werken wirkte er bahnbrechend. Liebevollstes Versenken in das Detail, Verzicht auf jedes willkürliche Eingreifen in das heilige Gut der Sprache, streng empirischkritische Forschung machten ihn allem philosophischen Konstruieren abhold. Er wollte seine Autoren auslegen, nichts in sie hineinlegen; nur die durch gesicherte Quellen gestützte Überlieferung ließ er gelten. Ansätze zu höherer historischer Kritik, das Bemühen, den Autor aus seiner Zeit heraus zu verstehen, sind deutlich bei ihm zu erkennen. Auch die sprachvergleichende Methode, die in der Indogermanistik zu so epochemachenden Ergebnissen geführt hatte, hat er zuerst auf seine Disziplin angewandt. Ewald und Hitzig stehen auf seinen Schultern. Mit dem Stilleben der Theologenfakultät war es vorbei, als der müde, kraftlose Knapp starb, der letzte Vertreter der alten pietistischen Tradition, die durch den Rationalismus nie ganz verdrängt worden war. An seine Stelle trat 1826 der junge August Tholuck (1799—1877). Mit diesem Moment fiel das Barometer auf Sturm. Einer der merkwürdigsten, feurigsten, einflußreichsten und bedeutendsten Männer des modernen Protestantismus tritt uns in Tholuck entgegen. Als eines Goldschmieds Sohn wurde er in Breslau geboren. Er war eine exzentrische, pathologische Natur, die in der Jugendzeit von Selbstmordgedanken durchwühlt und durch Selbstmordversuche zerrüttet wird. Ungewöhnliche geistige © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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Fähigkeiten sind ihm eigen. Er ist ein junges Sprachgenie, das sich mit besonderer Vorliebe dem Arabischen zuwendet. Ihn erfüllt ein maßloser Ehrgeiz und Wissensdurst; er verschmäht kein Mittel, um emporzukommen. In widerwärtiger Weise drängelt er sich an seine reichen und vornehmen Mitschüler heran. 1817 verschwindet er plötzlich aus Breilau. In grimmer Winterkälte wandert er nach Berlin, nur ein fadenscheiniges Röcklein bedeckt ihn, aber in seinem Herzen lebt die Hoffnung. Er hat einen verwegenen Plan. Er will sich von dem ihm völlig unbekannten, durch seine türkischen Sprachstudien berühmt gewordenen Herrn von Diez, dem einstmaligen preußischen Gesandten in Konstantinopel, adoptieren lassen. Er klopft an die Türe des Diezschen Palais, man weist ihn zurück. Verzweiflung malt sich auf seinem Gesicht, das ist seine Rettung. Schon ist er auf dem Weg zur nahen Brücke, um sich zu ertränken, da holt man ihn zurück, und das scheinbar Unmögliche wird möglich. Diez adoptiert ihn und läßt ihn studieren. Neander wird sein Lehrer. Durch Diez gerät Tholuck in den Konventikel des Barons von Kottwitz. Kottwitz, seinem „Vater Abraham", verdankt er die Bekehrung. Man muß den zum Teil erhaltenen tränenseligen Briefwechsel der beiden lesen, um ihr Verhältnis zu verstehen; reden läßt sich kaum darüber. Durch Kottwitz wird Tholuck mit den Gebrüdern Gerlach und mit Thadden bekannt. In wenigen Jahren gilt er als das theologische Haupt der Erweckungsbewegung. Aber auch jetzt noch ist er nicht fest im Glauben. „Unreines Feuer, das kommt oft auf meinen Altar, ich könnte eher ein Elias denn ein Jesajas werden."8 Zweifel, schwere leidvolle Krisen und Krankheiten, die ihn an den Rand des Grabes bringen, quälen ihn immer wieder. Am Kampf des Tages nimmt er dennoch lebhaften Anteil. Hegel sieht in ihm einen Bundesgenossen im Kampfe gegen Aufklärung und Rationalismus. In der Vorrede zur ,Enzyklopädie' hat er ihn verewigt; im Grunde aber ist Tholuck für ihn doch nicht mehr als ein „Repräsentant des Geschwätzes vom Pantheismus"9. Als Knapps Lehrstuhl frei wird, sieht Tholuck, nach anfänglichem Zögern, ein geeignetes Wirkungsfeld vor sich. Er läßt seine Beziehungen arbeiten, und er versteht zu lavieren. Die Hallenser Fakultät lehnt ihn geschlossen ab, aber Altenstein ernennt ihn trotzdem, und er nimmt an. Tholucks Verhalten in dieser Affäre ist nicht einwandfrei. Aber an den üblichen Vorstellungen von Anstand und Ehre läßt es sich nicht messen. Man würde seine Seele beschmutzen, wenn man an persönlichen Eigennutz denken würde. Er fühlte sich als Streiter Gottes auf Erden; für den Herrn galt es zu kämpfen, zu siegen oder zu sterben. Nicht mit Unrecht hat man10 ihn mit Ignatius von Loyala verglichen — „Ich habe den schwersten Schritt meines Lebens getan. Mit Tränen zog ich in der düstern Stadt ein. Seit ich in Halle eingetreten bin, ist mir Glaube und mit ihm Friede geschenkt worden."11 Halle war ihm ein Missionsplatz; es galt die „Eroberung für den Herrn". Außer dem eifernden Altlutheraner Guericke fand er keinen Gesinnungsgenossen vor. Aber er wich nicht von der Bresche; langsam gewann er an Boden, um schließlich der Herrscher der theologischen Fakultät zu werden. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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Seine wissenschaftliche Bedeutung als Theologe ist nach dem Urteil der Fachleute nicht allzu erheblich. Nur seine leidenschaftlichsten Anhänger und sein unkritischer, panegyrischer Biograph12 sind anderer Meinung. Es fehlte ihm die Gediegenheit der Forschung. Mannigfache Anregungen hat er erfahren. Schleiermacher, die Romantiker und die spekulative Philosophie sind für ihn nicht ohne Bedeutung geblieben. Es dürfte schwerhalten, seinen Standpunkt wissenschaftlich exakt zu bestimmen. Er hat sich beständig gewandelt und blieb doch immer derselbe. Albrecht Ritschi hat von ihm bekannt: „Wissenschaftlich ist Tholuck inkommensurabel. Ich habe ihn sprechen hören, wie weiland die ,Hallischen Jahrbücher', und dann wieder wie einen Herrnhuter."13 Vorherrschend in ihm war eine subjektivistische, mehr lodernde als innige Gefühlsreligiosität. Mit dem fanatischen Zelotentum Hengstenbergs, dem doktrinären Orthodoxismus, hat er nichts gemein. Ais die Erweckungsbewegung in einen übersteigerten Konfessionalismus ausartete, als Hegels Wort sich bewahrheitete, daß sie „viel Staub des Hochmuts, der Gehässigkeit und Persönlichkeit" aufgewirbelt habe und doch „mit Unfruchtbarkeit geschlagen"14 sei, da zog er sich von ihr zurück. In seinen späteren Jahrzehnten wurde er zum Vermittlungstheologen; er näherte sich den positiven Schleiermacherianern. Sein wissenschaftliches Wirken bildet nicht das eigentliche Zentrum seines Wesens. Groß war er als Kanzelredner und als Seelsorger. Er war im Grunde ein praktischer Theologe. Seine Predigten waren selbst für seine Gegner von zwingender Gewalt. Aus den innersten Tiefen der Brust drang die etwas hohle, aber laute Stimme. Das Sündenbewußtsein wollte er aufrütteln. Er verschmähte es, an den Verstand zu appellieren. Die Kräfte des Gemüts waren die Waffen, mit denen er die Skepsis des Verstandes überwinden wollte. Immer redete er zu Herzen, aber nicht alle gingen getröstet von dannen. Viele seiner Predigten sind gedruckt. Ihre Wirkung geht dadurch verloren. Ganz anders ist es mit den Predigten Schleiermachers. Am wirkungsvollsten war Tholuck als Seeherger. Auf seinen Spaziergängen ließ er sich von einzelnen Studenten begleiten, im Zwiegespräch suchte er sie zu gewinnen. Er hatte eine eigene Methode, die mit der Zeit zur Manier wurde und von Seelenfängerei nicht frei war. Immer mehr fand er, wie zahlreiche glaubhaft überlieferte Anekdoten bekunden, Gefallen an taktlosen Vexierfragen, durch die er verblüffen und auf die jugendliche Seele bestimmend einwirken wollte. Auch in die Breite suchte Tholuck zu wirken. Auf seinen Abendgesellschaften sammelte er oft über hundert Studenten um sich. Seine flüchtigen, wenig scharfen Vorlesungen wurden um seines berühmten Namens oder persönlicher Verehrung willen stark besucht. Aber selbst seine Anhänger mußten zugeben, daß hier nicht viel zu holen war. Letzten Endes wirkte er immer nur auf einzelne. Im Laufe der Jahrzehnte hat er Hunderte und Tausende für eine positive Kirchlichkeit gewonnen. Darin liegt die Weite und zugleich die Grenze seiner Bedeutung. Er schuf wohl gläubige Pastoren, aber mit Schmerz mußte er schließlich erkennen, „daß die gläubige Pastorenkirche keine Gemeinden hinter sich habe"15. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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Dem Leben Tholucks blieb so die letzte Erfüllung versagt. Mit Entschiedenheit hatte er gegen die vom Rationalismus vertretene kritische Auffassung des Christentums die autoritative zur Geltung gebracht. Aber der fortschreitenden Säkularisierung des modernen Lebens zeigte er sich nicht gewachsen. Ebensowenig wie seine Epigonen zeigte er sich imstande, den fachwissenschaftlichen Charakter der modernen Theologie, den vereinsmäßig-korporativen Charakter der modernen protestantischen Kirche zu überwinden. Trotz aller Einzelerfolge war sein Streben im Grunde gescheitert. Er hatte kapitulieren müssen vor der harten, unerbittlichen Wirklichkeit. Die letzten Jahrzehnte seines Lebens fallen in ein eisernes Zeitalter. Tragisch hatte sein Leben begonnen, tragisch sollte es enden. Was Wille, Glaube und heldischer Sinn im Kampf mit einem siechen, schwachen Körper vermögen, hat Tholuck bewiesen. Dieser Mann hat wahrhaft gelebt als ein Moralist der Leistung, er hat gerungen und gelitten, ohne zu verzagen und zu verzweifeln. Es kam der Moment, wo der letzte kümmerliche Rest von Kraft von ihm wich, wo die todbringende Gehirnerweichung einsetzte, bis sich, wie einer seiner Nekrologschreiber sich auszudrücken beliebte, „der Schmachtriemen der Endlichkeit ihm löste"16. Das Interesse, das die Geschichte an den Hallischen Theologenkämpfen des 19. Jahrhunderts nimmt, konzentriert sich vor allem auf die 30er Jahre. Durch den theologisierenden Junghegelianismus wurde ein ganz neues Ferment in die dort herrschenden Gegensätze hineingetragen. 1835/36 erschien „Das Leben Jesu" von David Friedrich Strauß. „Dies Buch füllt jetzt mein geistiges Leben aus", so schrieb Tholuck an Ludwig von Gerlach, „ich sehe darin ein großes Zeichen der Zeit. Die Rationalisten klatschen mit den Händen." Der milde, vorsichtige Kirchenhistoriker Thilo schmunzelte freundlich: „das habe ich lange gedacht." Gesenius frohlockte: „daß dich der Teifel, daß dich der Teifel! so mußte es kommen, anders nicht." Der allzeit kritische Wegscheider aber meinte: „es ist Brauchbares darin, aber alles dürfte sich doch nicht halten lassen."17 Das Auftreten von Strauss, sein kecker Wahrheitsmut und seine Kompromißfeindschaft, die dem alten Rationalismus den Todesstoß versetzte, hat der Richtung Tholucks in der Hallischen Theologenfakultät zum Siege verholfen. 1839 gewann Tholuck einen sicheren Bundesgenossen in seinem gesinnungsverwandten Freunde, dem bedeutenden Systematiker Julius Müller. Müller war eine streng disziplinierte, vornehme, klassisch gebildete Persönlichkeit, die zu dem unruhigen Tholuck einen wohltuenden Gegensatz bildet. Nach seinem Hauptwerk, der „Christlichen Lehre von der Sünde" nannte man ihn den „Sündenmüller". Er war kein Eiferer. „Alle Sittlichkeit" — das ist einer seiner Lieblingsgedanken — „ist unbewußte Religion, wahre Religion das Bewußtsein der Sittlichkeit."18 Mit dem Eintritt Müllers in die Fakultät war das Übergewicht der positiven Richtung entschieden. Um diese Zeit hatten unter den Philosophen längst die Hegelianer die Herrschaft an sich gerissen. Die 30er Jahre waren ja das Jahrzehnt, in dem die Hegelsche Philosophie recht eigentlich ihren Siegeszug durch Deutschland angetreten, in dem sie sich am tiefgreifendsten und wirkungsvollsten ausgebreitet © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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Auch die Universität Halle ist in dieser Zeit von ihr erobert worden. Bereits 1826 war neben die alten Kantianer Tieftrunk und Gerlach und den liebenswürdig eleganten Enzyklopädisten Gruber Hermann Friedrich Wilhelm Hinrichs (1794—1861) getreten. Er zuerst hat in Halle für die Hegeische Philosophie Propaganda gemacht und den Rosenkranz, Schaller, Erdmann, Ruge den Weg gebahnt. Hinrichs war der erste Schüler Hegels, der das Universitätskatheder bestiegen hat. In Heidelberg hatte er jahrelang als Privatdozent ein kummer- und sorgenvolles Dasein geführt. Dann war er durch Hegels Vermittlung als Professor nach Breslau gekommen. 1826 schickte ihn Altenstein als Ordinarius nach Halle. Von Anfang an trat er in einen scharfen Gegensatz zu seinen Kollegen. Seine herbe, schroffe, von nicht geringem Selbstbewußtsein getragene Friesennatur, die nur im Gespräch mit einem vertrauten Freunde den ganzen Reichtum ihres Innern und die Gediegenheit ihrer universalen, ganz in klassischem Boden ruhenden Bildung zu offenbaren wußte, stieß allenthalben an. So kam es, daß er sich in Halle nie recht eingelebt hat und daß ihn die Sehnsucht nach seiner Lieblingsstadt Wien nicht verließ. Nur die Hegelianer und anfangs auch die Junghegelianer wußten ihn zu schätzen. Für sie war er „der Fels der Terminologie, die Sicherheit und der eigentliche Halt der Schule"20. Mit einem Buche über „Die Religion im inneren Verhältnisse zur Wissenschaft" (1822), in dem er die Versöhnung von theistischer Glaubenslehre und Hegelscher Philosophie verkündete, trat er zum ersten Male an die Öffentlichkeit. War Hegel oft dunkel und geheimnisvoll, der junge Hinrichs erschien nahezu unergründlich, und selbst sein Lehrer Hegel, dem er das Manuskript seines Buches zugesandt hatte, mußte bekennen, daß es ihn „große Anstrengung" kosten würde, sich „ganz durch das Einzelne hindurchzulesen"21. Wer sich auf die Lektüre der philosophischen Schriften aus Hinrichs' Frühzeit beschränkt, kann nicht ahnen, welch tiefes Gemüt in diesem Manne lebt. Selbst in den ästhetischen Schriften dieses feinsinnigen Kunstkenners, in seinen Vorlesungen übet Goethes Faust, über Schillers Dichtungen und über das Wesen der antiken Tragödie, ein Buch, das Goethe sorgfältig studierte und auch rezensierte22, werden die anschaulichsten und konkretesten Dinge auf das Prokrustesbett einer ausgeklügelten Begriffsphilosophie gespannt. Man vernimmt beständig — um ein glückliches Wort F. Th. Vischers wieder in Erinnerung zu bringen — „das Gerassel und Getrampel ihrer Terminologie"25. Platen hat Hinrichs ein „Obertollhausüberschnappungsnarrenschiff", den „großen Hinrichs" hat ihn Platens Gegner Heine genannt. Goethe, der auch von Hinrichs' Erstlingsschrift Notiz genommen hatte, traf mit seiner Kritik das Wesen. „Wenn ich aber ehrlich sagen soll", so meinte er 1827 zu Eckermann, „so tut es mir leid, daß ein ohne Zweifel kräftig geborener Mensch von der norddeutschen Seeküste, wie Hinrichs, durch die Hegeische Philosophie so zugerichtet worden, daß ein unbefangenes natürliches Anschauen und Denken bei ihm ausgetrieben, und eine künstliche und schwerfällige Art und Weise sowohl des Denkens wie des Ausdruckes ihm nach und nach angebildet worden, so daß wir in seinem Buch (über das Wesen der antiken Tragödie) auf Stellen geraten, wo unser Verstand durch© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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aus still steht und man nicht mehr weiß, was man lieset... Es gibt in seinem Buche nicht wenige Stellen, bei denen der Gedanke nicht rückt und fortschreitet, und wobei sich die dunkele Sprache immer auf demselbigen Fleck und immer in demselbigen Kreise bewegt, völlig so wie das Einmaleins der Hexe in meinem Faust." In der Überlieferung lebt Hinrichs als einer der systemgetreuesten Schüler seines Meisters fort. Diese Auffassung ist nicht einmal für Hinrichs' Frühzeit ganz richtig, geradezu falsch aber ist sie für die Jahrzehnte von 1830—50. Die Zeitereignisse trugen auch ihn empor und brachten ihn zur vollen Entfaltung seiner Persönlichkeit. All das, was an Kräften des Gemütes und der Anschauung in ihm war, wird jetzt deutlich sichtbar und bricht durch die zuweilen noch immer abstruse Form seiner Darstellung hindurch. Hinrichs gehörte jener ersten Generation deutscher Gelehrtenpolitiker an, die vorwiegend in der idealistischen Philosophie ihren Wurzelboden hat24. Innerhalb der liberal-nationalen Bewegung des 19. Jahrhunderts war er nur ein unscheinbares Glied. Denkwürdig und der Erinnerung wert aber bleiben die Quellen, aus denen seine Wendung vom spekulativen zu einem mehr realistischen Denken hervorgegangen ist. Es war zum erstenmal im Preußen der Restaurationszeit, daß ein streng wissenschaftlich-philosophischer Denker — der bedeutende Jurist Eduard Gans und philosophische Dilettanten wie Arnold Ruge und die Berliner Junghegelianer können ja nicht als solche gelten — zur Tagespolitik sich hinüberwandte. Nach Hinrichs' eigenem Bekenntnis waren es die Julirevolution und die Befreiung Griechenlands, der Untergang Polens und die Verfassungsänderungen und Verfassungskämpfe in den deutschen Staaten, die ihn aus der Sphäre des reinen Philosophierens heraus- und über den konservativ-kontemplativen Grundzug der Lehre seines Meisters hinaustrieb. So tat denn auch er jenen für die Junghegelianer so bedeutsamen Schritt, daß er vom Begreifen des Gewesenen zum Prophezeien des Kommenden und zu Schaffenden fortschritt. Die Philosophie ist jetzt für ihn nicht mehr die Eule der Minerva, die mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug beginnt, sondern auch, wie er es mit prachtvoller Bildhaftigkeit formuliert hat, „die Lerche des Himmels, welche in der Dämmerung von der Erde aufsteigend der aufgehenden Sonne entgegensingt. Aber auch der Adler, der zur Mittagssonne immer höher und höher sich hinaufschwingend zuletzt in Licht sich verliert. Schon Plato meinte, daß die Philosophie nicht lichtscheu sein, sondern unverwandt in die Sonne blicken soll"25. Es ist in Hinrichs' geistiger Herkunft begründet, daß ein unüberwindlicher Glaube an die Macht der Idee, der Glaube an ein absolutes Vernunftideal ihm die Maßstäbe zur Beurteilung auch des politischen Lebens liefern. Die Geschichte, so meint er, gibt die Begründung des Vernunftideals; vermittels der „politischen Dialektik" läßt sich aus der geschichtlichen Entwicklung die „Perfektibilität des Geistes der Menschheit" ablesen. Durch die Reformation, die französische Revolution („Auch über die Guillotine ist der Geist hinweggeschritten")26 und die Befreiungskriege ist der Geist in den Individuen zum Freiheits- und Selbstbewußtsein gelangt. Er ist eine „volkstümliche Macht" gewor© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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den, und nun gilt es, die politische Konsequenz zu ziehen und den „Rechtsund Gedankenstaat" zu schaffen, der dem Glauben an den Geist und die Freiheit gemäß die Wirklichkeit gestaltet. „Die Philosophie hat die Tiefe nicht bloß im Gedanken zu suchen, sondern auch in der Wirklichkeit zu realisieren. Die Philosophen sollen nicht feiern, wie römische Auguren da sitzen und warten, bis die Adler geflogen kommen."27 Der Philosoph ist es, der für die Regierenden die Normen des Handelns aufzustellen hat. Erkenntnis und Tat, das sind die beiden großen Mächte, die das politische Leben bestimmen. Als mit dem Beginn des Jahres 1842 eine große publizistische Bewegung einsetzte, die das deutsche Einheitsproblem und insbesondere das Verhältnis Preußens zu Deutschland zum Gegenstand der Erörterung machte, da trat auch Hinrichs mit seinem politischen Programm hervor. Mit größtem Erfolg hielt er im Winter dieses Jahres vor Hunderten von Zuhörern seine „Politischen Vorlesungen", in denen sich philosophische Spekulationen und historischer Realismus merkwürdig ineinander verschlingen. Auf Befehl des Ministers Eichhorn mußte er die Vorlesungen einige Wochen aussetzen. Für die liberale Presse wurde er dadurch erst recht zu einer populären Figur28. Den scharfen Verweis, den er von Eichhorn erhielt, beantwortete er mit dem Drude der Vorlesungen. Mit derselben apodiktischen Gewißheit, mit der die Hegelsche Geschichtslogik die Vergangenheit gedeutet hatte, konstruiert Hinrichs in seinen „Politischen Vorlesungen" die Entwicklungstendenz der Zukunft. Diese Tendenz geht auf Schaffung der deutschen Einheit, auf den deutschen Bundestaat unter Preußens Führung, zu dessen Realisierung der Zollverein den ersten entscheidenden Schritt bedeute. Diese Tendenz geht auf die Umwandlung der Bundesverfassung in deutsch-nationalem und liberal-konstitutionellem Sinne, auf die Erziehung des deutschen Volkes zur „politischen Nation". Alle deutschen Einzelstaaten, die in ihrer Selbständigkeit zu erhalten sind, werden ebenso wie Preußen konstitutionelle Staaten werden; alle diese Staaten werden Vertreter in das deutsche Nationalparlament senden Wie er sich im einzelnen den Gang dieser Entwicklung und die Auseinandersetzung Deutschlands mit Österreich gedacht hat — er ist sich nicht recht klar darüber gewesen und die besondere Schwierigkeit des sogenannten preußisch-deutschen Problems hat er, trotz seiner Kenntnis Paul Pfizers, nicht gesehen oder sich wenigstens doch nicht deutlich darüber ausgesprochen —, kann hier nicht näher entwickelt werden. Es dürfte schwerhalten zu entscheiden, ob in seinem politischen Gedankensystem der Einheits- oder der Freiheitsgedanke vorherrscht. Bezeichnend ist die Gruppierung seiner Grundsätze: „Einheit des deutschen Vaterlandes, Aufopferung für das Ganze, freie Selbstbestimmung in den öffentlichen Angelegenheiten"29, wobei allerdings zu bedenken ist, daß eine nationale Einheit ohne liberale Verfassungsformen ihm schlechthin logisch und historisch unmöglich erschien. Hinrichs hat eine deutliche Vorstellung von dem Zusammenhang zwischen Staatenbildung und Verfassungsentwicklung, von dem Zusammenhang zwischen dynastischem Einheitsstaat und absolutistischer Regierungsform, zwischen Nationalstaat und Repräsentationssystem30. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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Im Sinne eines maßvollen Liberalismus hat Hinrichs in den 40er Jahren, den Drang der Zeit empfindend und zugleich einem tiefsten, innersten Bedürfnis seiner Natur folgend, zu den konkreten Tagesfragen in mancher Broschüre und Flugschrift Stellung genommen. Staat, Nation und Volksgeist waren ihm nicht abstrakte Begriffe, sondern eine »Herzensangelegenheit". Der Radikalismus und die Idee der Volkssouveränität fanden in ihm keinen Verteidiger. Er wartete auf den Einzelnen, auf das weltgeschichtliche Individuum, in dem der Geist der Nation zur Erfüllung gelangen werde. Als die Wogen der Revolution von 1848 die festgefügten Dämme überfluteten und die Regierungen in den ersten Monaten völlig zurückgedrängt wurden, da wandte er sich mit Schärfe gegen den „Revolutionsschwindel", der „die Geschichte machende Persönlichkeit mit Füßen zu treten"31 drohe. Er blieb immer der Mann des Maßes und der Mitte. Auch von der Reaktion hat er sich in den Vorreden zu seiner (wissenschaftlich wenig belangvollen) „Geschichte der Rechts- und Staatsprinzipien" voll Bitterkeit losgesagt, ohne als Dialektiker zu verkennen, daß auch sie insofern berechtigt und historisch notwendig ist, als sie der Trieb zur Aktion, zum Fortschritt ist. Bemerkenswert ist der Umschwung, den sein Denken in den trüben Jahren der Reaktion erfährt. Er wendet sich von der Tagespolitik zum Althegelianismus zurück32. Der Stand der Quellen gestattet, die tieferen Motive dieses Wandels sichtbar zu machen. In den letzten Jahrzehnten hatte sich Hinrichs' Forschen um einen Ausgleich von Idealismus und Realismus, von Wissenschaft und Leben, von Theorie und Praxis bemüht. Das deutsche Volk war ihm als ein sinnendes, träumendes Philosophengeschlecht erschienen, das für die Welt des Handelns und der Wirklichkeit erzogen werden müsse. Als ein wahrhaft Mitfühlender, Mithelfender hatte er den Aufstieg zum Realismus miterlebt. Das Ziel, das ihm vorgeschwebt hatte, der liberale Nationalstaat, schien durch das Mißlingen der Revolution in weite Ferne gerückt. Enttäuschung und Entmutigung ergriff die Gemüter, Verzweiflung an der Spekulation und an der Theorie. Die historischen und die Naturwissenschaften, Technik und Wirtschaft, Empirismus und Materialismus traten ihren Siegeszug an. Der einmal wachgewordene realistische Geist schien ein reißender Strom geworden zu sein. Hinrichs empfand diese Entwicklung als einen radikalen, viel zu extremen Umschlag der idealistischen Epoche, als „destruktive Skepsis"33. Die geistige, sittliche Freiheit, das Heiligtum der Seele, schien ihm gefährdet. Aus dieser Stimmung heraus ist er zur reinen, idealistischen Spekulation wieder zurückgekehrt. Denn höher als die zufälligen Erscheinungen der Wirklichkeit stand ihm die unverlierbare Stille seines Innern, das Gefühl seiner reinen Menschheit, die er um der Zukunft seines Volkes willen zu bewahren sich verpflichtet fühlte. Über seinem Lebensabend lagern die Schatten der Resignation. Aber unzerstörbar blieb ihm der Glaube, der sein bescheidenes Gelehrtendasein mit Glanz und Glück erfüllt hatte, der Glaube an ein Absolutes, der Glaube an die Idee als die weltwirkende göttliche Macht und Liebe, der Glaube, daß „das Beste in der Welt ist, was der Gedanke hervorbringt"34. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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Von diesem Glauben war auch Johann Eduard Erdmann (1805—92) erfüllt. In Erdmann, dem Führer des konservativ gerichteten Flügels der Hegeischen Schule, gewann die philosophische Fakultät in Halle für lange Zeit ihren hervorragendsten Lehrer und einen wirklich bedeutenden Kopf. Erdmann war mehr als ein reiner Gelehrter. Er war ein durch Reisen, Erfahrungen und weit ausgedehnte Studien fein gebildeter Weltmann, eine fest in sich geschlossene, aristokratische Persönlichkeit, ein Mann von Eleganz in Kleidung, Haltung und Sprache, ein glänzender Causeur und mitunter auch ein Poseur, wie sein Schüler Kuno Fischer. In Livland war er geboren. Hier in seiner Heimat war er bereits mit 25 Jahren Oberpfarrer, Rittergutsbesitzer und Patrimonialherr geworden. Da die russische Gesetzgebung es ihm unmöglich machte, die Witwe seines Onkels zu heiraten, gab er Amt und Würden, Hab und Gut auf, ging nach Berlin und wurde noch einmal Student und Schüler Hegels. Erdmann trug die Neigung zum Extrem in sich. Alles, was er in die Hand nahm, betrieb er mit Passion, so auch sein Studium. Schon bald wurde er Privatdozent in Berlin. Sein außerordentlicher Lehrerfolg veranlaßte Altenstein, ihn 1836 nach Halle zu senden. Durch Erdmann wurde die Hegeische Philosophie in Halle populär. Wie ein kleiner König hat er Jahrzehnte hindurch die absolute Herrschaft auf dem philosophischen Katheder behauptet. Das Geheimnis seines Erfolges beruhte nicht zuletzt auf der zündenden Wirkung, wie sie die „Professorenprophetie" wohl auszuüben vermag. Erdmann war Althegelianer und er ist es immer geblieben. Als der Zersetzungsprozeß der Hegeischen Schule sich seinem Ende nahte und der Kampf gegen die Hegeische Philosophie immer heftigere Formen annahm, da hat er mit der vornehmen Geste des sich überlegen fühlenden Geistes und mit feiner Ironie seinen Standpunkt verteidigt, dessen Wahrung ihm keine inneren Kämpfe bereitete: „Trotz aller dieser Anklagen gestehe ich einfach zu, daß ich ein Anhänger Hegels bin, so sehr, daß ich mir manchmal einbilde, der allereinzige treue Anhänger des Mannes zu sein. Freilich nur des Hegel, bei dem ich in den Jahren 1826—28 Kollegia gehört habe und dessen Werke in achtzehn Banden bei Duncker & Humblot herausgekommen sind. Den Hegel, von dem in allen Büchern steht, er habe den König einen Punkt auf dem i genannt, oder auch behauptet, Alles, was existiere, sei vernünftig, den habe ich nicht gekannt und weiß nichts von ihm. Wenn dann Einer mich fragt, zu welcher Seite der Hegeischen Schule ich gehöre, so natürlich zu der rechten, denn man wird doch nicht von mir fordern, daß ich mich auf die unrechte stelle."35 Wie gesagt, Erdmann war und blieb Althegelianer. Aber er war ein zu freier und reichgebildeter Mann, um in den Dogmen des Systems oder gar der Hegeischen Schule zu erstarren; zu den Unentwegten wie etwa Michelet hat er nie gehört. Gerade Erdmanns Lebenswerk, die bis zum heutigen Tage wertvolle „Geschichte der neueren Philosophie" und der noch wertvollere zweibändige „Grundriß der Geschichte der Philosophie" zeigen, zu welch vorurteilsloser Toleranz dieser tiefbohrende und bahnbrechende Forscher gegenüber fremden Meinungen und © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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Standpunkten fähig war. Er ist einer von den wenigen wirklich bedeutenden Philosophiehistorikern. Von dem Buchstaben Hegels hat er sich als Historiker immer weiter entfernt, ohne die Grundgedanken Hegels aufzugeben. Ganz anders als der Forscher Erdmann war der akademische Lehrer Erdmann. Als solcher pflegte er ungebührlich stark zu popularisieren. Er war nicht frei von Schauspielertum und Effekthascherei. Wenn dieser elegante Mann mit dem Ausdruck unerschütterlichen Ernstes das Katheder bestieg und seinen auswendig gelernten Vortrag begann, in dem es vor Geist, Witz, Paradoxen, Sarkasmen, Kunststücken und Wortspielen, geistreichen Analogien und politisierenden Exkursen nur so funkelte, dann riß er mit. Das waren zum Teil Eigenschaften, die ihn auch zum philosophischen Essayisten befähigten. Ein Meister des philosophischen Essays ist er in der Tat gewesen, wie nach ihm wohl nur noch der so ganz andersartige Georg Simmel. Mit der spielerischen Dialektik, die Erdmann souverän beherrschte, verstand er, das Dunkelste klarzumachen und andererseits auch den plattesten Dingen eine geheimnisvolle Seite abzugewinnen. Es ist bezeichnend, daß er eine Reihe seiner besten Essays unter dem Titel „Ernste Spiele" zusammengefaßt hat und daß gerade er es war, der eine Ehrenrettung der Sophistik versuchte, wobei er indirekt zugab, daß es dabei zugleich auf eine Selbstverteidigung abgesehen sei36. Besonders charakteristisch für Erdmann ist seine durchaus positive Stellung zum Christentum und zur Kirche. Als er 1836 nach Halle kam, wurde er mit offenen Armen von Tholuck empfangen. In seinen „Vorlesungen über Glauben und Wissen" (1837) vertrat Erdmann ein positives Christentum im Gewande der Hegeischen Philosophie. Es war der Grundgedanke seiner Vorlesungen, daß es die Aufgabe der Spekulation sei, all das als unverlierbaren religiösen Besitz wiederherzustellen, was dem unbefangenen Glauben angehört hat, ehe die philosophische Reflexion eintrat. Diese Vorlesungen wurden zu einem Zankapfel der verschiedenen Richtungen; in Halle selbst wirkten sie parteibildend und in den Hallischen Jahrbüchern schürte Ruge das Feuer gegen Erdmann. Im Geiste dieser Vorlesungen hat Erdmann auch des Öfteren in Halle von der Kanzel herab gepredigt. Dem zeitgenössischen Pietismus stand er ablehnend, aber tolerant gegenüber, nur gegen die Auswüchse hat er sich mit beißendem Spott gewandt. Es gab einen Punkt in Erdmanns philosophischem Glaubensbekenntnis, wo es mit seiner Vorurteilslosigkeit zu Ende war und wo er seinen Meister Hegel nicht fort-, sondern zurückbildete. Das war seine Lehre vom Staat. Allerdings, ein Sklave irgendeiner Clique oder politischen Parteiung ist er nie gewesen. Ein grimmer Feind der deutschen Professorenpolitik, hatte er für das Verfassungswerk von 1848 nur Worte schneidender Verachtung. Für ihn waren die Jahre von 1848—50 „drei vergeudete Jahre" 37 . Nie, so meinte er, ist „der Geschichte ärgerer Hohn gesprochen" worden, „als damals, wo Professoren der Geschichte sich einbildeten, sie könnten Geschichte machen"38. Nicht nur, daß er völlig verkannte, was diese Männer Großes und Unvergängliches geleistet, er verstand nicht einmal das ernste, mühevolle Wollen, den hingebenden Idealismus, ohne © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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den eine deutsche Einheit, trotz des großen Mannes der Tat, niemals zustandegekommen wäre. Aus Hegels Philosophie, an dessen Lehre vom Staat als dem höchsten sittlichen Organismus er unwandelbar festgehalten hat, aus dem Universalismus Fichtes und der Vertreter des Humanitätsideals, aus den politischen Lehren der Historischen Schule und des christlich-germanischen Kreises, hat sich Erdmann, der mit dem streng konservativen Juristen Ludwig Pernice, einem Schüler Savignys, befreundet war, seine Lehre vom Staat zurechtgezimmert39. Seine 1851 erschienenen „Philosophischen Vorlesungen über den Staat", die sich äußerlich vollkommen in der Hegeischen Formel bewegen, hatten es letzten Endes darauf abgesehen, die Reaktionstendenzen des nachmärzlichen preußischen Staates philosophisch zu rechtfertigen. Für einen dialektisch so gewandten Denker wie Erdmann, „der nur herausbringen will, was vernünftig ist, und der die Frage über die gegenwärtige Ausführbarkeit als etwas, das ihn nichts angeht, beiseite läßt"40, für den beweisen nur heißt, „aus der aufgestellten Voraussetzung folgern"41, konnte dies keine schwere Aufgabe sein. An seinem Begriff der Nation läßt sich die Quintessenz seiner Gedanken und ihre geistige Herkunft am deutlichsten und kürzesten darlegen. — „Weil die Natur jedes Landes, die Geschichte jedes Reiches eine andere ist, die Idee des Staates in jedem Staate in anderer Weise Wirklichkeit (Form) gewinnt", so kann Aufgabe und Wesen der deutschen Nation nur aus der ihr „von Gott, von Natur und Geschichte" aufgeprägten individuellen Eigenart hergeleitet werden. Jedes künstliche Machen, jede Mißachtung vor dem Hergebrachten und daher auch jedes Verlangen nach dem Rechtsstaat, ist als ein Widerspruch gegen die Vernunft zurückzuweisen. Den Grundsätzen der Vernunft entspricht nicht der nationale Einheitsstaat, sondern die Erhaltung der partikularen Zersplitterung, die Entfaltung eines reichen, mannigfaltigen, kulturellen Lebens in den Einzelstaaten, der Verzicht, deutsche Provinzen nichtdeutscher Staaten für Deutschland wiederzugewinnen. „Als eine Vielheit von Staaten realisiert Deutschland seine Bestimmung am besten." Was ist nun diese Bestimmung? Die Natur hat Deutschland dazu ausersehen, „Deichsel an dem Wagen der europäischen Politik zu sein", „die Netzgefäße abzugeben für die Zirkulation des Lebens der übrigen Nationen". Die Deutschen sind die „Griechen der Neuzeit". Deutschland ist „das Herz Europas", es ist Menschheitsnation im eigentlichen Sinne und es ist seine Aufgabe, „den Krieg, die Unvernunft, zu hindern und den Frieden, die Vernunft, herrschen zu lassen, da es nicht Schlachtfeld sein wollte, Meßplatz zu sein für Waren und Ideen". Wo Deutschland dies tut, „spielt es seine Rolle im Drama der Weltgeschichte" und folgt nur seinem eigenen egoististischen Interesse42. Man erkennt43, wie Erdmanns Thesen der Idee des konservativen Nationalstaatsgedankens in der Form, wie ihn die christlich-germanische Staatslehre vertreten hat, am nächsten kommen. In der unpolitischen Auffassung vom Wesen des Nationalstaats, in der Betonung des Zusammenhangs von deutscher Kulturnation und deutschem Einzelstaat, in der scharfen Frontstellung gegenüber © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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dem liberalen Nationalstaatsgedanken, in der Unterschätzung der Machtpolitik, ging Erdmann mit ihr einig. Mit Hegel und der Historischen Schule andererseits teilte er nicht nur die konservative Tendenz, sondern auch die hohe Bewertung des Individuellen, die beispielsweise darin besonders charakteristisch zum Ausdruck kommt, daß er das Aufgehen eines Staates, hier des preußischen, in einem größeren Ganzen auf das schärfste ablehnt. Indem er aber über Hegels Begriff des „weltgeschichtlichen Volkes" zum universalistischen Begriff der Menschheitsnation zurückging, tat er einen Schritt, der in der nachmärzlichen Ära wohl einzigartig dasteht. So unfruchtbar und bedeutungslos diese Wendung für die Weiterentwicklung der politischen Theorie auch war, ideengeschichtlich reizvoll bleibt sie und allgemeingeschichtlich bedeutsam auch insoweit, als sie erkennen läßt, auf welchen Zickzackwegen und mit wieviel Rückschlägen die Entwicklung vom spekulativen zum empirischen Denken erfolgt ist. Daß Erdmann trotz seiner leidenschaftlichen Verehrung Hegels auch 1866 noch nicht imstande war, den Geist der Zeit, in Gedanken erfaßt, in sich darzustellen, beweist seine Wahlrede: „Fort mit Bismarck, das heißt Fort mit Schaden!" Es ist eine ganz andere Welt, die der konservative Heißsporn Heinrich Leo (1799—1878) eröffnet. Trotz seines außerordentlichen Wissens, der umfassenden Weite seines Blicks, der Universalität seiner Forschung, die die verschiedensten Zeitepochen und Kulturzweige umspannte und Philologie und Historie gleichmäßig beherrschte, ist von dem Geschichtsschreiber Leo heute nicht viel mehr als der Name lebendig. Selbst die Fachleute, von einigen Liebhabern abgesehen, pflegen ihn meist nicht näher zu kennen, allenfalls noch seine wertvolle „Geschichte der italienischen Staaten", die sie zugleich als ein nützliches Nachschlagewerk zu schätzen wissen. Dabei hat es eine Zeit gegeben, wo Leo als der Rivale Rankes gelten konnte. Die schneidende Schärfe und parteiische Ungerechtigkeit seiner historisch-politischen Urteile und die Mängel seiner wissenschaftlichen Methoden haben es vor allem verschuldet, daß auch seine großen Werke so gut wie verschollen sind, so frisch und lebendig, so kraftvoll und anschaulich sie auch meist geschrieben und so reich an geistvollen und noch heute anregenden Einfällen sie auch sind. Zu innerer Harmonie ist Leo niemals gelangt. Eine naturwüchsige, unmittelbare und dabei ungewöhnlich reizsame Natur, in der geniale und psychopathische Züge eng beieinander wohnen, spottet er der Schulmäßigkeit und Maximenhaftigkeit, die für den Lebensstil des deutschen Gelehrten seit den Tagen des Humanismus charakteristisch ist. Er lebte gern „aus voller Faust", sein welsches Blut gab den Impulsen nach, die der Moment ihm eingab. Ein höchst widerspruchsvoller Charakter, setzt er sich aus Elementen zusammen, die im Leben des Alltags für unverträglich gelten. So ist es verständlich, daß er den zeitgenössischen Gegnern als eine Karikatur, als ein Mann ohne Gesinnung, ohne Welt- und Geschichtsanschauung erschien, der in der Geschichte, wie in einem eisernen Käfig, wild und toll umherfahre44. Seine ungezügelte, maßlose Leidenschaft, die Widerspruch nicht ertragen konnte, war ebenso groß wie seine unbändige Freiheitsliebe. Er war durch und durch eine Kampfnatur und ein © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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Gewaltmensch. Er vermochte frivol bis zum Zynismus, gemein, brutal, rücksichtslos und ordinär in seinem Haß und in seiner Polemik zu sein, wenn es galt, für seine Ideale den Streitkolben zu schwingen. Manches allzu scharfe Wort, das er gesprochen, manche Tollheit, die er begangen, hat ihm dann nachher bitter leid getan. Weichheit, Gutmütigkeit und edle Menschlichkeit waren seinem Wesen keineswegs fremd. Von hervorragender rhetorischer Begabung, war er ein hinreißender akademischer Lehrer, aber bei der Disziplinlosigkeit seiner Natur unfähig, eine wissenschaftliche Schule zu begründen. Seine Jugendgeschichte, die er in seinen historisch so lehrreichen Lebenserinnerungen anschaulich erzählt hat, ist allgemein bekannt. Als Student gehörte er zu den leidenschaftlichsten Verfechtern der christlich-germanischen Ideale der deutschen Burschenschaft. Den revolutionären Radikalismus der Unbedingten, dem er zeitweilig gehuldigt hatte, hat er dann zwar bald überwunden. Unter den Lehrern, die auf seine Studien und auf seine Lebensrichtung entscheidenden Einfluß gewannen, sind vor allem Hegel und Eichhorn, der Mitbegründer der Historischen Rechtsschule, daneben wohl auch noch Hugo und Luden zu nennen. Trotz mannigfacher Vorarbeiten45 bedarf die Aufhellung seiner hochinteressanten und wechselvollen Bildungsgeschichte und die Analyse seines historischpolitischen Denkens noch einer gründlichen Untersuchung. Für die Ausbildung seines politischen Standpunktes ist die Einwirkung wichtig geworden, die er durch Haller und Burke empfangen hat. Im ganzen gesehen erscheinen als durchaus vorherrschend in ihm romantische und Hegeische Gedankengänge. Den Übergang von der Wissenschaft zur Politik hatte Leo um 1830, die Wendung zu einem strenggläubigen Pietismus, die unter der Einwirkung Ludwig von Gerlachs erfolgte, im Beginn der 30er Jahre vollzogen. Seine bedeutendsten wissenschaftlichen Leistungen fallen in die 20er und in die anfangenden 30er Jahrt. Je älter er wurde, je mehr wurde es das leitende Prinzip seiner Geschichtsschreibung, Zeugnis abzulegen von seiner religiösen, philosophischen und politischen Überzeugung. Seine leider Fragment gebliebenen Studien und Skizzen zu einer „Naturlehre des Staates" (1833) und sein sechsbändiges „Lehrbuch der Universalgeschichte" (1835—44) verraten in ihrer tendenziösen Zuspitzung allenthalben den Parteimann. In seinen Gedankengängen wird man nicht weniger Widersprüche finden als im Leben selbst. Daß aber „die Geschichte die Evolution von Gedanken ist"46, daß nur Gedanken die historischen Persönlichkeiten zur Entfaltung bringen und daß alle Lebensregungen eines Volkes nur als Ausflüsse des eingeborenen Volksgeistes zu begreifen sind, das waren Ideen, die zum eisernen Bestande seiner idealistischen, von sittlichem Pathos erfüllten Geschichtsanschauung und Entwicklungslehre gehörten. Seine ganze Liebe gehörte einer dahingeschwundenen, mannigfaltigen, ständisch gegliederten, den atomistischen, modern-liberalen Richtungen der Politik entrückten Welt, „wo sich das Bauern- und Bürgerleben wie das Leben des Adels, der Kirche und der Universitäten, jedes nach seinem natürlichen Prinzip organisch entwickelte, wo das politische Gesamtleben einer Nation nur als Resultat dieses organischen Lebens der einzelnen Kreise und noch nicht in der ebenso © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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prosaischen als übermütigen Tätigkeit einer Hierarchie von Staatsbeamten beschlossen war"47. Den Höhepunkt seiner publizistischen Wirksamkeit erreichte Leo in dem Jahrzehnt von 1830—40. Von dieser Zeit ab sah man in ihm einen der markantesten Vertreter der politischen und kirchlichen, der feudal-ständischen Reaktion, die in dem Freundeskreise Friedrich Wilhelms IV. ihre vollkommenste Verkörperung fand. Das „Enfant terrible der Reaktion"48, so hat Julian Schmidt Leo genannt. Als Mitarbeiter der „Augsburger Allgemeinen Zeitung", des „Berliner Politischen Wochenblatts", der „Evangelischen Kirchenzeitung" und des „Hallischen Volksblatts für Stadt und Land"49 ist Leo gegen den Aufklärungsgeist und gegen den Liberalismus zu Felde gezogen. Aber seine persönliche Eigenart, die Eigenwilligkeit seines Denkens hat Leo der Partei nicht geopfert. Selbst in seinen hitzigsten Kampfperioden ist er bei aller Wildheit doch kein verbissener Doktrinär und besinnungsloser Fanatiker gewesen. Dazu war er doch zu groß. Und im Alter hat seine konservative Überzeugung eine Färbung angenommen, die von einem maßvollen Liberalismus kaum noch zu unterscheiden war50. Seine glänzendsten Kampfschriften, die gegen Diesterweg, gegen Görres, gegen die „Hegelingen", gegen die „junghegelische Rotte", gegen das „wüste Unkräuticht", gegen die jungdeutsche „Lästerbrut" fallen in die ausgehenden 30er Jahre. Daß ein Mann, der in diesen Formen seine Gegner bekämpfte, der den Untergang des mittelalterlichen Faustrechts schmerzlich bedauerte, in die wüstesten Fehden hineingeriet, war unausbleiblich. Aber es scheint, als ob er gerade daran Gefallen fand. Die bekannteste und geschichtlich wichtigste dieser Fehden war die mit Arnold Ruge. Zwei Raufbolde stießen hier aufeinander und zugleich zwei Prinzipien des modernen Geistes- und Parteilebens. Es war eines der denkwürdigsten und symptomatischsten Zusammentreffen in der deutschen Parteigeschichte der vormärzlichen Ära, in der Heinrich Leo eine originelle und unvergeßliche Stellung einnimmt.
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4. ZUR G E S C H I C H T E DER
ΗΕGΕLAUFFASSUNG
Hegel1 ist d er abschließende Gestalter des Heroenzeitalters der spekulativen idealistischen Philosophie in Deutschland. Er gehört zu dem Geistestyp der großen Vollender. Die Gedankenmassen der Aufklärung, Klassik und Romantik zu einem riesigen Monument zusammenfügend, die ferne Vergangenheit abendländischen Denkens wieder lebendig machend, hat er die Geschichte zum Organon der Philosophie erhoben, mit fast gigantischer Kraft die geistig-geschichtliche Wirklichkeit von Jahrtausenden zu dem System des „absoluten Idealismus" verschmolzen und eine Versöhnung von Glauben und Wissen, eine Synthese von Antike und Christentum versucht, wie sie bis dahin noch nicht dagewesen war. Durch ihren enzyklopädischen, allumfassenden Universalismus, durch ihre Problemfülle und die spekulative Höhe ihrer Grundgedanken, durch ihren Reichtum an tiefsinnigen, originalen Ideen und die imponierende architektonische Gliederung des als Gesamtlehre längst historisch gewordenen Systems stellt die Hegeische Philosophie einen ragenden Gipfel innerhalb der allgemeinen Geistesgeschichte dar. Daß sie darüber hinaus durch die ungewöhnliche Weite und Tiefe ihrer Einwirkung auf Zeitgenossen und Nachfahren eine weltgeschichtliche Macht geworden ist, erklärt sich erst aus den historischen Umständen: dem Zeitpunkt der Entstehung des Hegeischen Weltbildes und der Problematik und Dynamik der im späten 18. Jahrhundert in der atlantischen Welt einsetzenden „permanenten Revolution". Hegels zeitgenössische Welt lag im Schatten eines gewaltigen säkularen Strukturwandels. Sie stand bereits im Zeichen des Übergangs von der „traditionellen" zur „modernen" Gesellschaft und einer internationalen Strukturkrise der überkommenen Ordnungen, die durch die von der Amerikanischen und Französischen Revolution ausgelösten Umwälzungen und durch die Vorboten der Industrialisierung geprägt wurde. Hegel stand an der Schwelle der großen Auseinandersetzung zwischen der alten und der neuen sozialen Welt. Auf die Wissenschaft und insbesondere die Geistes- und Gesellschaftswissenschaften, auf das politische und gesellschaftstheoretische Denken, auf die politischen Führungsschichten und Parteien, auf höchst verschiedenartige Gesinnungs-, Interessen- und Aktionsgruppen, mittelbar auch auf die Regierungspolitik und die Gestaltung des realen sozialen Lebens hat Hegel bis zur Gegenwart einen tiefgreifenden und nachhaltigen Einfluß ausgeübt. Hegel war der Philosoph der Restauration und Revolution zugleich. Der
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Sinn seiner ganzen Philosophie war das Verstehen der Welt in ihren mannigfaltigen Formen und Stufen als Entfaltungs- oder Verwirklichungsprozeß der absoluten Vernunft. Hegel fühlte sich als Sohn seiner Zeit, und seine Philosophie war und sollte sein: „ihre Zeit in Gedanken erfaßt." Indem er den Weltprozeß in einer letzten abschließenden Bestimmung gipfeln und die Eule der Minerva erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug beginnen ließ, hat er sein Zeitalter mit geistiger Weihe gefüllt. Das Doppelgesicht seiner dialektischen Philosophie aber ließ ihn zugleich zum genialen Deuter zukünftiger Dinge werden. Auf den verschiedensten Gebieten hat er den kommenden Zeiten Anregungen vermittelt und im nationalen Machtstaatsgedanken und marxistischen Sozialismus Kräfte mitentfesseln helfen, die das Völker-, Staats-, Gesellschaftsund Geistesleben mit revolutionärer Gewalt auf neue Wege getrieben und neuen Zielen entgegengeführt haben. So ist durch Hegel der philosophische Idealismus ein Kampfmittel politischer Bewegungen und sozialer Klassen geworden. Über Hegels Philosophie steht als Devise: „Das Wahre ist das Ganze." Die sogenannten drei Teile des Systems — Logik, Naturphilosophie und Geistesphilosophie — sind keine Teile im eigentlichen Sinne, sondern nur Momente in dem begrifflichen Zusammenhange der geistigen Totalität. Aus religiösen und historischen Fragestellungen ist der schichten- und stufenweise sich erhebende Gedankenbau des Hegeischen Systems in langsamem, bedächtigem, organischem Reifeprozeß hervorgegangen. Die geschichtlichen und individuellen Voraussetzungen, die Entwicklungsgeschichte des Systems bildet den Schlüssel zum Verständnis dieser angeblich so panlogistischen Philosophie, die in der romantischen Gemütsverfassung, den persönlich-irrationalen Tiefen ihres Schöpfers verwurzelt ist. Vor allen andern Denkern der Neuzeit ist Hegel der Philosoph des Geistes. Seine unvergänglichste Leistung liegt auf dem Gebiet der Kultur-, Sozial- und Geschichtsphilosophie. Seine originalste Schöpfung ist die Lehre vom „objektiven" Geist, der die Gebiete menschlichen Daseins umfaßt, die in der Vergesellschaftung und im Gemeinschaftsleben der Menschen ihre Grundlage, aber zugleich auch ihr Ziel haben. Hegels Philosophie des objektiven Geistes — die Lehre von Recht, Moralität, Familie, Gesellschaft, Staat, Verfassung, Volk, Nation — hat 1820 in den „Grundlinien der Philosophie des Rechts" ihre abschließende Gestalt erhalten. Mit dem Abschluß der „Rechtsphilosophie" erreichte Hegel den Gipfel seines Ruhms. Idealistisch-spekulative Kraft des Denkens mit nüchternstem Wirklichkeitssinn verbindend, war er zum Schicksalsgenossen des preußischen Staates geworden. Wenn auch innerhalb des Systems der „absolute" Geist — Kunst, Religion und Wissenschaft — dem Staat als der höchsten Inkarnation des „objektiven" Geistes übergeordnet wird, so ist es mit der Hegeischen Dialektik doch durchaus vereinbar, wenn in der „Rechtsphilosophie" der Staat als der Begriff erscheint, auf den alles hinausläuft. Wie der „Geist" bei Hegel als der letzte aller © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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Zwecke, als die übergreifende Einheit von Denken und Gegenstand, Logik und Natur, Subjekt und Substanz, Vernunft und Wirklichkeit sich darstellt, so gehört auch die Durchdringung des Allgemeinen und Besonderen zum Wesen des Staates. Der Hegeische Staat steht im Zentrum der Lehre von der Sittlichkeit, er ist die „Wirklichkeit der sittlichen Idee", „die selbstbewußte sittliche Substanz", „die Wirklichkeit der konkreten Freiheit". Im Gegensatz zu heutigen Denkweisen ist der Hegeische Staat die Einheit von Kultur, Volk und politischer Macht, die Versöhnung von Recht und Macht, Sittlichkeit und Religion, die Konzentration aller Kulturkräfte; als Erscheinung des Absoluten ist er ein Ewig-Göttliches in zeitlich-irdischer Gestalt. Durch die Sittlichkeit, die Synthese von Moralität, innerlicher Gesinnung und formalem Recht, verwirklicht sich der Geist, dringt die Vernunft in die Welt ein. Die Sittlichkeit entsteht durch das Sicheinfügen des Einzelwesens in den kulturschaffenden Geist der staatlichen Gemeinschaft. Denn der Mensch kann nicht allein leben, er muß in die Welt eingehen, um sich in ihr zu finden. Daher ist die höchste Gemeinschaft — das Leben im Staat und für den Staat — die höchste Freiheit. Und weil der Staat das höchste „Dasein der Freiheit" ist, hat er auch das höchste Recht gegen den einzelnen, dessen höchste Pflicht es ist, „Mitglied des Staates" zu sein und dem Staate freiwillig zu dienen. Als Einheit des subjektiven und des allgemeinen Willens ist der Staat „vernünftiger Wille"; er ist das Ganze der sittlichen Idee, der Geist eines Volkes, die Zusammenfassung aller in einem Volke vorhandenen Energien, eine auf den Willen und die Gesinnung sich gründende überpersonale Ordnung. Durch Hegels Metaphysik des Staates hat der nationale Machtstaatsgedanke in Deutschland, wie überhaupt der nationale Imperialismus, seine ideelle Verklärung und damit einen mächtigen Antrieb empfangen. Machtsteigerung, Kampf und Krieg gehören bei Hegel zum Wesen des Staates, der nicht nur ein moralisches Recht, sondern geradezu die sittliche Pflicht hat, Machtpolitik zu treiben. Denn der Staat muß Machtstaat sein und seinen egoistischen Interessen folgen, wenn Freiheit und Kultur zur höchsten Entfaltung gelangen soilen. Die von Hegel verkündete Welt ist geistbeherrscht, aber es ist die „List der Vernunft", daß sie das Antinomische versöhnt und sich der Macht bedient, um den Geist zu verwirklichen. Die Entwicklung der Vernunft vollzieht sich durch die geschichtlichen Völkergeschicke. Der Staat ist der wahrhafte Inhalt der Geschichte, die Geschichte der Staaten ist die Weltgeschichte, und die Weltgeschichte ist Machteeschichte. Hegels System ist von seinen Epigonen in Stücke gehauen worden. Das Zerschneiden des systematischen Bandes war die notwendige Voraussetzung für das geschichtliche Sichausleben der Hegeischen Philosophie. Wie diese Philosophie überhaupt, so stellt auch die Hegeische Staatsauffassung eine Vereinigung der Gegensätze dar. Hieraus erklärt es sich, daß sie auf die entgegengesetztesten Gesinnungs-, Interessen- und Aktionsgruppen zu wirken und dem deutschen Konservatismus und Liberalismus wie der demokratischen und der sozialistischen Bewegung, wenn auch in verschieden hohem Maße, entscheidende Impulse © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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zu geben vermocht hat. Wenn dann Hegels Staatsvergottung, die er selbst mit dialektischer Virtuosität seiner idealistischen Gesamtansicht eingegliedert hatte, von nicht wenigen seiner Nachfahren aus ihrem philosophisch-metaphysischen Zusammenhang herausgerissen und vergröbert, ihrer ideellen Grundlagen und Zwecksetzungen entkleidet und dazu benutzt worden ist, eine prinzipiell ideenlose, brutale Gewalt- und zynische Machtpolitik ideologisch zu drapieren, so kann freilich Hegel selbst, dem der Staat eine „Idee" und kein „Betrieb" war, hierfür nicht verantwortlich gemacht werden. Der multidimensionalen geschichtlichen Laufbahn und Funktion der Hegelschen Philosophie nachzugehen und ihre Auswirkungen in die großen Kausalund Sinnzusammenhänge einzuordnen, ist mehr als bloß eine Aufgabe der gelehrten Forschung. Ein derartiger Versuch wäre zugleich ein zeitgemäßer Akt historischer Bewußtseinsklärung und Standortbestimmung. Wir harren noch des bedeutenden Historikers, der imstande wäre, ein Gesamtbild der weitverzweigten Auswirkungen der Hegelschen Philosophie zu entwerfen und die Bilanz zwischen ihren fruchtbaren und verhängnisvollen Ausstrahlungen zu ziehen2. Von einer Geschichte der objektiven Nachwirkungen Hegels kann eine Geschichte der subjektiven Auffassung über Hegel zwar nicht völlig getrennt, wohl aber für heuristische Forschungszwecke deutlich unterschieden werden. Nicht immer sind die Schüler und geistigen Nachfahren des Meisters dankbare Schuldner und nur in wenigen Fällen sind sie gerechte und wahrhaft verständnisvolle Beurteiler seiner Philosophie gewesen. Nicht selten haben sie unter der Maske äußerlicher Abkehr oder auch der offenen Feindschaft ihre Abhängigkeit verborgen, die ihnen oft gar nicht zum Bewußtsein kam. Nur zeitweilig läuft die Wandlung des Urteils über Hegel der zu- und abnehmenden Intensität seines fortwirkenden Realeinflusses parallel. Wer da weiß, zu wie vielen Antithesen die Hegeische Philosophie den Anstoß gegeben hat, in wie ungewöhnlich hohem Grade sie in den Kampf des Tages hineingezerrt, wie sehr sie zu einem Spielball der Parteien und der verschiedenartigsten Faktionen geworden ist, wie sehr reine und unreine Motive, Motive der ehrlichen Überzeugung und des guten, echten Glaubens, des politischen und des materiellen Interesses, der Liebe und des Hasses, des Neides und der Mißgunst, das Maß ihrer öffentlichen Wertschätzung bestimmt haben, der weiß damit zugleich, daß eine Geschichte der Hegelauffassung ein bedeutsames Problem innerhalb der allgemeinen Geschichte darstellt. Denn so unverkennbar trägt Hegels Philosophie die Züge des Genius an sich, daß sie einer jeden Generation in neuer Gestalt erscheint, und so tief reicht ihre geschichtliche Bedeutung, daß die Genesis der Hegelauffassung zugleich den Wandel der geistigen und politischen Strömungen eines ganzen Jahrhunderts erkennen läßt. Eine solche Geschichte der Hegelauffassung ist ein höchst schwieriges und weitverzweigtes Unternehmen. Sie beschränkt sich nicht auf die Geschichte des literarischen Kampfes um Hegel, nicht auf die Unzahl der über ihn erschienenen Schriften, auf die Hegelforschung im eigentlichen Sinne, auf die zahlreichen Apologien und auf die gegen Hegel gerichteten Pamphlete. Sie müßte auch © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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auf jene Schriftenflut zurückgreifen, wo nur nebenbei ein Wort über diesen Mann und seine Philosophie zu finden ist. Sie müßte schließlich von der Persönlichkeit Hegels überhaupt absehen und verfolgen, wie sich die Anschauung über Geist und Sinn, Wesen und Wert des „Hegelianismus" gewandelt hat. Sie könnte aber noch tiefergreifen und versuchen, aus der Denkweise und dem gesamten Lebenswerk solcher führenden Persönlichkeiten und Gruppen, die sich wohl innerlich, aber nicht schriftstellerisch mit Hegel auseinandergesetzt haben, die Hegelauffassung zu rekonstruieren. Das ist ein Unternehmen, das nicht nur ein außerordentliches Wissen und einen ungewöhnlichen Weitblick, sondern auch allerfeinstes historisches Empfinden und ein ganz besonderes Maß von kritischer Schulung und Taktgefühl voraussetzt. Ich deute auf die Bedeutsamkeit und Schwierigkeit der Aufgabe hin, ohne sie selbst jetzt oder zukünftig lösen zu wollen und zu können. Lediglich mit ein paar Strichen will ich versuchen, die Genesis der Hegelauffassung in Deutschland in ihren Hauptlinien kurz zu skizzieren, wobei ich, obwohl das Bild dadurch einseitig wird, das Schwergewicht auf die Hegelkritik, nicht auf die Hegelapologetik und die wissensdiaftliche Hegelforschung legen will. Es gab eine Zeit, wo die Hegeische Philosophie, alle ihre philosophischen Widersacher in den Hintergrund drängend, scheinbar unbesiegbar, unwiderleglich und konkurrenzlos dastand, wo ihr diktatorischer Machtspruch, das Welträtsel wahrhaft und in absoluter Weise gelöst zu haben, nicht als lächerliche Anmaßung, sondern als unumstößliche Wahrheit galt. Es war die Zeit, die mit Hegels Berliner Periode ihren Anfang nahm und sich bis in die 30er Jahre hinein erstreckte; die Zeit, wo sie sich die Universitäten und Schulen eroberte, wo es kaum einen denkenden Kopf in Deutschland gab, der sich nicht mit ihr irgendwie hätte auseinandersetzen müssen, und wo selbst Persönlichkeiten von Format, Männer der Theorie wie Männer der Praxis, nicht nur zu Anhängern, sondern zu Nachbetern und Sklaven dieser Philosophie wurden. Selbst unphilosophische Naturen wurden damals vom Taumel des „absoluten Wissens" ergriffen. Friedrich Förster sprach die Meinung und Stimmung weiter Kreise aus, wenn er in seiner berühmt gewordenen Rede am Grabe Hegels den Meister als den „Helfer, Erretter und Befreier aus jeder Not und Bedrängnis"3 pries und die Prophezeiung wagte, daß sein Reich, das Reich des Gedankens, sich nicht ohne Anfechtung, aber ohne Widerstand ausbreiten und die Welt sich erobern werde. Es kam ganz anders, als der Glaube an die Macht der Spekulation sich träumen ließ. Kaum war es Hegel und seinen Schülern gelungen, sich eine beherrschende Stellung im deutschen Geistesleben zu erobern, da ging der Hader und Streit im eigenen Hause los. Mit elementarer, unaufhaltsamer Gewalt entlud sich das Ungewitter, und griff es auf die Umgebung über. Innerhalb eines guten Jahrzehnts war es mit der öffentlichen Wertschätzung der Hegeischen Philosophie zuende. Man wandte sich nicht nur von ihr ab, sondern man überschüttete sie vielfach mit Haß, Hohn und Verachtung. Es handelte sich bei diesem Wechsel der Auffassung um mehr als um das lärmende Gezänk philosophischer Schulen und Sekten. Es war das wachsende Interesse an Wirklichkeits© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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nahe, das auf Aktualisierung von Idealen hindrängende Streben, der geistige und politische Klimawandel, der über diese Philosophie rücksichtslos hinwegschritt. Man geht am zweckmäßigsten von der Entwicklung des literarischen Kampfes um Hegel und von dem Zersetzungsprozeß der Hegelschon Schule aus, wenn man diesen Umschwung der Stimmung und Wertschätzung verstehen will. Schon Johann Eduard Erdmann hat darauf hingewiesen, daß der Kampf um Hegel, wie er in den 30er und 40er Jahren entbrannte, in drei Etappen verlaufen ist. Zwar sind diese verschiedenen Phasen nicht so zu denken, daß die eine die andere einfach abgelöst und verdrängt oder „aufgehoben" habe; auch wenn eine neue beginnt, wirkt die vorangegangene weiter; lediglich die dominierenden Probleme erfahren eine bedeutsame Verschiebung. Der Streit drehte sich zunächst vor allem um die logisch-metaphysischen Grundlagen des Systems. Er nahm an Intensität und an Wirkung in die Breite zu, als er auf das religiöskirchliche Gebiet hinübersprang und die möglichen Konsequenzen der Hegelschen Philosophie enthüllte. Er führte zur entscheidenden Katastrophe und zur Abkehr vom Hegelianismus und der spekulativen Philosophie überhaupt, als er schließlich die Probleme des politisch-sozialen Lebens ergriff und das Banner der Revolution entfaltete. In hohem Grade hat er parteibildend gewirkt und zur Klärung der schneidenden Gegensätze beigetragen, die die Epochen der Restauration, Revolution und Reaktion durchzogen. Die ersten Angriffe gegen Hegels Logik und dialektische Methode kamen aus dem seltsam gemischten Lager der Antihegelianer. Es waren vornehmlich Schelling, Herbart, Fries, Beneke, Baader und ihre Anhänger, die katholische Philosophie und alle diejenigen, die sich an neuen philosophischen Systembildungen versuchten. Die hierher fallenden Schriften, so verschieden sie auch untereinander sind, verfolgen sämtlich ein gemeinsames Ziel: durch die Aufdeckung von logischen Fehlern und Irrtümern und durch den Nachweis von verwerflichen und metaphysischen Tendenzen wollen sie Hegels System als Ganzes oder doch wenigstens einige Teile des Systems durch ein anderes bereits bestehendes oder durch ein neues erst noch zu schaffendes System widerlegen und ersetzen. Das entsprach durchaus den Vorstellungen, die man damals allgemein vom Wesen der Philosophie hatte. Im Anschluß an die großen Vorbilder des deutschen Idealismus sah man es als selbstverständlich an, daß die philosophischen Probleme nur in der Form eines Systems gelöst werden könnten. Ein System kann nur durch ein System widerlegt werden, und nur wer ein System hatte, galt als ein Philosoph! Von den Einwänden, die damals, zu Ende der 20er und zu Anfang der 30er Jahre, gegen Hegels System erhoben wurden, sind eine Reihe in der Folgezeit sehr wirksam geworden. Daß Hegel durch seine Lehre von der Vereinigung der Gegensätze den Satz des Widerspruchs leugne, daß er damit die fundamentalen Denkgesetze aufhebe und die ganze Logik auf den Kopf stelle, daß er Logik und Metaphysik in ungehöriger Weise vermenge; daß seine Lehre von der Identität des Denkens und Seins eine unbewiesene Voraussetzung darstelle; daß er im Rationalismus steckengeblieben sei, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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aus dem Logischen nicht herauskomme und das empirische Moment vernachlässige; daß er von Kants kritischem Geist abgewichen sei —, das waren Argumente, die fortan noch oftmals geltend gemacht worden sind und die schließlich dazu beigetragen haben, daß Hegels System zerschlagen und die Konservierung seiner Logik als unmöglich erwiesen wurde. Von besonderer Wichtigkeit für das Schicksal der Hegelschen Philosophie wurde es, daß die sogenannten Halbhegelianer, die man unter dem Namen des Spekulativen Theismus zusammenzufassen pflegt, zum erstenmal, soweit ich sehe, zwischen Form und Inhalt der Hegelschen Philosophie scharf unterschieden haben. Durch ihre Minierarbeit ist der imponierende Bau des Hegelschen Systems unterhöhlt worden. Diese Männer waren usprünglich von Hegel ausgegangen. In langsamer Entwicklung hatten sie sich allmählich, wie es besonders klar der Werdegang ihres Führers Chr. H. Weiße erkennen läßt, von ihm zu lösen begonnen. Bereits zur Zeit von Hegels Tod erschien ihnen seine Philosophie nur als ein Durchgangspunkt und ihr Kampfruf war und wurde immer mehr: Es muß über Hegel hinausgegangen werden! Weiße hat zwischen der Logik Hegels und seiner übrigen Philosophie, der angewandten Logik, scharf unterschieden. Den Inhalt dieser Philosophie wollte er im wesentlichen preisgeben, die Logik dagegen erschien ihm noch 1829 „als eine Schöpfung, einzig in ihrer Art und durchaus vollendet, bei welcher von einer eigentlichen Kritik allerdings nicht die Rede sein kann"4. Aber bereits einige Jahre später machte seine Kritik auch vor der Logik nicht Halt; er wandte sich jetzt, bei aller Anerkennung im Einzelnen und bei aller Hochschätzung von Hegels monumentaler Leistung, gegen Hegels Philosophie überhaupt, die er als die Philosophie des logischen Pantheismus charakterisierte und der er vorwarf, daß sie auf eine pantheistische Metaphysik hinauslaufe, daß sie die Freiheit negiere, die Individualität nicht zu ihrem Rechte kommen lasse und das Irrationale aus der Vernunft ableite. Und sein Kampfgenosse I. H. Fichte glaubte den anstößigen Hegelschen Pantheismus dadurch verständlich machen und den Weg zu seiner Umbildung bezeichnen zu können, daß er behauptete, Hegel habe mit seiner Lehre, daß das Allgemeine nicht an sich, sondern nur als Individuelles und daß Gott nicht abstrakt Absolutes, nicht bloße Substanz, sondern Geist, Selbstbewußtsein, ewige Persönlichkeit sei, nicht ernst gemacht, er habe „die tiefere Bedeutung seiner Lehre selbst nicht eingesehen oder sei ihr untreu geworden"5. Dieser Gedanke, daß man den „wahren" Hegel von dem sich selbst nicht richtig verstehenden Hegel unterscheiden müsse, ist dann nach ein paar Jahren für die Junghegelianer das beliebte Mittel geworden, mit dem sie ihre Kritik Hegels mit ihrer Anerkennung Hegels in Einklang zu bringen versuchten. Die spekulativen Theisten, deren eigene philosophische Gedankenarbeit hier nicht näher zu erörtern ist, stellen eine entwicklungsgeschichtlich bedeutsame Übergangserscheinung dar. Denn diese Männer, die von Hegel vielfach abhängiger waren und blieben, als sie selbst glaubten, haben die Einheit von Hegels Methode und System gesprengt und durch die Tat bewiesen, daß man die dialektische Methode anwenden könne, ohne zu Hegels Ergebnissen zu gelangen, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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und daß man umgekehrt zu einzelnen seiner Lehren sich bekennen könne, ohne seine Methode für die richtige zu halten. In eine Festung, die bis dahin für uneinnehmbar galt, war damit Bresche geschossen, der Glaube an die Absolutheit der Hegeischen Philosophie und Methode war erschüttert worden. Das war zunächst aber nur eine Tatsache von vorwiegend ideeller Bedeutung, die der allgemeinen Wertschätzung der Hegeischen Philosophie wenig Abbruch getan hat, denn noch war die Hegeische Schule in sich einig, und nur wenigen ist damals die Bedeutung dieser Hegelkritik wirklich klar geworden. Ihrer momentanen Wirkung nach entsprach sie der Bedeutung eines Vorpostengefechtes. Erst nach Jahren, als die spekulativen Theisten in der 1837 von I. H. Fichte gegründeten „Zeitschrift für Philosophie und spekulative Theologie" eine Sammelstätte gefunden hatten, haben ihre Angriffe, die an Heftigkeit stetig zunahmen, Resonanz gefunden und eine in die Breite gehende Wirkung erzielt. Im Vordergrunde des literarischen Kampfes aber standen seit 1835 nicht mehr die logischen Grundlagen, sondern die religiösen, ethischen und politischen Konsequenzen des Systems. Daneben ging die kritische Beschäftigung mit Hegels Logik weiter. Von größter Wirkung war es, als Trendelenburg 1840 in seinen „Logischen Untersuchungen" ein strenges Gericht über Hegels Logik ergehen ließ, indem er den Nachweis führte, daß das begriffliche Erkennen von der Anschauung lebe und nicht aus sich allein zeugungsfähig, daß Hegels reines Denken alles andere als voraussetzungslos sei und daß ein tiefer Zwiespalt zwischen der dialektischen Konstruktion des Begriffs und der genetischen Entwicklung der Dinge liege. Von da ab ist dann immer wieder der Vorwurf gegen Hegel erhoben worden, daß sein Begriffssystem, das seit J . E. Erdmann den Namen des „Panlogismus" führt, den konkreten Erscheinungen, der empirischen Wirklichkeit, der Fülle des Lebens nicht gerecht werde, da es das Leben in Denken umsetze und damit einsarge. Und für die angehenden Privatdozenten der Philosophie, die in den 40er Jahren, wo neue Systeme wie Pilze aus der Erde wuchsen, der Meinung waren, sie könnten eine Habilitation nur auf Grund eines eignen Systems wagen, war und wurde es immer mehr eine verlockende Aufgabe, sich durch eine Kritik der Hegeischen Philosophie hierzu den Weg zu bahnen. Diese Aufgabe erschien um so lohnender, als sie sicher sein konnten, sich auf diese Weise am besten bei dem hegelfeindlichen Ministerium Eichhorn zu empfehlen, das 1840 das hegelfreundliche Ministerium Altenstein abgelöst hatte. 1835 war mit dem Erscheinen des „Lebens Jesu" von D. Fr. Strauß der Kampf um Hegel in eine neue Phase eingetreten. Gewaltsam begann der Junghegelianismus an den Ketten des Systems zu rütteln. Der wahre Geist dieses Systems, so rief er, ist der Geist der Kritik: „Nichts gilt mehr weil es ist, sondern nur soweit es sich als geltend ausweisen kann." 6 Die Julirevolution hatte entscheidend gewirkt. Immer mehr regte sich seitdem unter den gebildeten Schichten, namentlich in der akademischen Jugend, ein noch ungeklärtes, tastendes Streben nach Versenkung in die empirische Wirklichkeit, ein Hinauswollen über die bestehenden Zustände, ein Drang nach aktiver Gegenwartsgestaltung. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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Aber so sehr sah man noch die Probleme der Wirklichkeit als allgemein geistige, theoretische Probleme und so tief war man noch in den Banden der metaphysischen Spekulation verstrickt, daß von den 30ern bis etwa zur Mitte der 40er Jahre nicht die politischen, sondern die religiös-kirchlichen Probleme das öffentliche Interesse maßgebend bestimmten. Hegel, der oftmals mit Nachdruck betont hatte, daß seine Philosophie sich mit der Lehre des Christentums in Übereinstimmung befinde und daß die christlichen Dogmen den gleichen Inhalt wie die philosophischen Wahrheiten hätten, hatte sich tatsächlich viel zu wenig klar, entschieden und lückenlos genug über die letzten Probleme des religiösen Lebens ausgesprochen, um nicht seinen Anhängern und seinen Gegner die verschiedenartigsten Interpretationsmöglichkeiten und Angriffsflächen zu bieten. Selbst sein getreuer Apologet K. Fr. Göschel hatte bekennen müssen, „daß man auf den ersten, besten Angriff nicht recht erfährt, wie man mit dieser Philosophie daran ist, und was man an ihr hat, und aus ihr machen soll: ja, sie scheint in allen Beziehungen den entgegengesetzten Richtungen unserer Zeit gleichzeitig anzugehören und entgegenzustehen"7. Wie bereits der kurze Streifblick auf die spekulativen Theisten lehrte, hatten schon zu Lebzeiten Hegels und vollends nach seinem Tode die Theologen und Philosophen darüber zu debattieren begonnen, ob das Absolute Hegels als Persönlichkeit zu fassen sei oder in pantheistischem Sinne verstanden werden müsse. Daran schloß sich die weitere Frage, ob das Verhältnis des Besonderen zum Absoluten und die Übertragung der Dialektik auf die Geschichte dazu führe, die höchste Verkörperung der religiösen Idee, der Einheit von Gott und Mensch, in der Person Christi anzunehmen oder vielmehr von dem Glauben an historische Tatsachen zu trennen sei. Wie stand es überhaupt — das wurde immer mehr das eigentlich entscheidende Problem — mit dem Verhältnis der Religion zur Philosophie? Zu welchen revolutionären Konsequenzen man vom Boden der Hegeischen Philosophie aus gelangen konnte, war bereits 1831 in Feuerbachs damals wenig beachteter Schrift „Gedanken über Tod und Unsterblichkeit" offenbar geworden. Erst das Buch von Strauß führte zur Palastrevolution und zur Spaltung der Hegeischen Schule, die sich seit Hegels Tode langsam angebahnt hatte. Das Auftreten von Strauß hat eine Epoche wildester Diadochenkämpfe eingeleitet, in denen Hegels Schüler sich gegenseitig zerfleischt und den Antihegelianern schließlich das Feld geräumt haben. Innerhalb weniger Jahre ist Strauß von der Kritik der Ursprungsgeschichte des Christentums, von dem mythischen Standpunkt des „Lebens Jesu", das an Hegels These von der Identität des Inhalts von Religion und Philosophie noch festgehalten hatte, zur Kritik der christlichen Dogmatik fortgeschritten. Indem er diese in spekulative Ideen auflöste und den Hegeischen Gottesbegriff in durchaus pantheistischem Sinne interpretierte, hat er die Glaubenssätze, die für ihn den Charakter einer vulgären Metaphysik gewannen, durch die Philosophie ersetzt. Von Hegelschen Voraussetzungen war Strauß ausgegangen; und da ihm nicht klar zum Bewußtsein kam, daß die Konsequenzen, die er aus seiner © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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kritischen Zerstörungsarbeit zog, die Lehre des Meisters im Grunde zertrümmerten, hat er noch geraume Zeit an dem Glauben an die Wahrheit des absoluten Idealismus durchaus festhalten können. Viel weiter in seiner Abkehr von Hegel ging Feuerbach. Einer der bedeutendsten Philosophen des 19. Jahrhunderts, hat er einen völligen Umschwung des philosophischen Denkens herbeigeführt, und ist er der Begründer des deutschen Positivismus geworden. Von der Kritik der Hegeischen Religionsphilosophie aus ist er Ende der 30er Jahre zur völligen Ablehnung Hegels gelangt, den er als den „Kulminationspunkt der spekulativ systematischen Philosophie"8 bezeichnete. Hegels Philosophie, die er 1839 als die Philosophie der „rationellen Mystik" charakterisierte, sei nichts anderes als verkappte spekulative Theologie, die zur Logik gemachte Theologie, der es am Mut zur absoluten Negativität fehle und die daher nicht über den alten Zwiespalt zwischen Diesseits und Jenseits hinausgekommen sei. Das Wesen der in Gefühl und bildhafter Vorstellung wurzelnden Religion habe Hegel, der der Form der Religion gegenüber dem Inhalt nur eine untergeordnete Rolle zuerteilt habe, überhaupt nicht erkannt. Indem Feuerbach die theologischen und philosophischen Abstraktionen auf den Menschen und auf die Natur und damit auf das echt Reale und Sinnlich-Lebendige zurückführte und die Religion als ein Werk der dichtenden Einbildungskraft und der Selbstanbetung des Menschen erklärte, hat er Hegels Philosophie auf den Kopf gestellt. Die wahre, zukunftsvolle Philosophie, die einem Sonderdasein der Religion das Existenzrecht nimmt, weil sie selbst die wahre Religion darstellt, erscheint sonach als die gerade Umkehr der Hegelschen Philosophie. Sie macht das gegenständliche Sein zum Subjekt und das Denken zum Prädikat, sie geht vom Konkreten zum Abstrakten, sie ist nichts anderes als „wahre und universale Empirie"9, reale Erkenntnis der diesseitigen Wirklichkeit, d. h. der Sinnlichkeit als des unmittelbar Gegebenen und darum auch unmittelbar Gewissen. Mit Feuerbach beginnt die Philosophie wieder in ein enges Verhältnis zur Naturwissenschaft zu treten. Und die Naturforscher und Materialisten sind es dann gewesen, die in den 50er Jahren Hegels Philosophie zwar nicht widerlegt, aber redlich dazu beigetragen haben, ihrer öffentlichen Geltung den Garaus zu machen. Daß die Junghegelianer Hegel in der willkürlichsten und subjektivsten Weise interpretierten und daß sie — mit Ausnahme Feuerbachs, der sich seine geistige Selbständigkeit erkämpft hatte — ihren Radikalismus als die „wahre" Lehre Hegels oder doch zumindesten als die konsequente Fortbildung seiner Lehre hinzustellen versuchten10 und mit einem mitleidigen oder verachtungsvollen Lächeln auf den großen Haufen der angeblich Zurückgebliebenen herabblickten, das hat dazu geführt, daß von dem System kaum mehr als die ausgehöhlte Form übrig blieb. Dem moralischen Ansehen der Hegeischen Philosophie aber war ein schwerer Stoß zugefügt worden. Die Denunziation der ganzen Lehre war die Folge. Zu den Gegnern Hegels, denen nun erst recht der Kamm schwoll, traten neue. Was es mit dieser Philosophie auf sich habe und welch revolutionärer Geist ihr innewohne, so sagten sie, erkennt man an den Früch© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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ten, die sie aus sich hervorgetrieben. Es ist die Schuld dieser in Scheinlösungen sich erschöpfenden Philosophie, die Schuld ihrer gelenkigen Kategorien und beweglichen Dialektik, daß sie die substantiellen Mächte entwertet hat und daß ihr pantheistischer Grundzug von den Schülern zur Unchristlichkeit und zum Atheismus, zum Unglauben und zu einem diabolisch zerstörenden Geiste umgebildet wird. In dieser Verurteilung Hegels waren die Pietisten, die Orthodoxen, die Supranaturalisten, die spekulativen Theisten und die Katholiken — um nur die Wichtigsten zu nennen — ein und derselben Meinung. Mit einer wahren Sintflut obskurer Schriften sind sie, die im allgemeinen alles andere als einig untereinander waren, gegen Hegel und die Hegelianer zu Felde gezogen. Und auch der vulgäre Liberalismus, wie er sich etwa in dem Kreise um Rotteck und Welcker darstellt, verfehlte nicht, Hegels Philosophie als eine Lehre hinzustellen, die „dem deutschen Volke seine heiligsten Güter, echte Frömmigkeit, Glauben an Vorsehung, Freiheit und persönliche Unsterblichkeit, und die Begeisterung für Ideen und Ideale zu rauben trachtet"11. Daß der Streit um Hegels Religionsphilosophie vom Ende der 30er Jahre ab ganz allmählich der Kritik des originellsten Teiles seiner Geistesphilosophie, der Lehre vom objektiven Geist, vor allem der Staats- und Geschichtsphilosophie, zu weichen beginnt, hängt vor allem mit der Zunahme der politischen Interessen und des politischen Aktionsdranges zusammen. Diese Frühphase des Politisierungsprozesses ist eine Begleiterscheinung der Steigerung der sozialen und wirtschaftlichen Mobilität. Die auslösenden Antriebsmomente jedoch erwuchsen vorwiegend aus dem mehr vordergründigen Gang der „Haupt- und Staatsaktionen". Man denke etwa an den Kölner Kirchenstreit und die Frage der gemischten Ehen, namentlich aber den hoffnungsvoll begrüßten und dann so bald herbste Enttäuschung hervorrufenden Regierungsantritt Friedrich Wilhelms IV. Erst Mitte der 40er Jahre ist die vom Geistig-Spekulativen zum Realen hindrängende Bewegung so weit vorgeschritten, daß die breiten Kreise der Gebildeten, soweit bei ihnen der Sinn für die großen Fragen des öffentlichen Lebens überhaupt schon geweckt ist, vor allem durch die politischen Tagesprobleme in Erregung versetzt werden. Die religiös-kirchlichen Parteien, die sich mit allen Mitteln der literarischen Polemik und der Agitation bekämpft hatten und im Verlaufe des Streites immer schroffer und einseitiger geworden waren, hatten sich überlebt. Politische Parteiungen waren aus ihnen hervor-, sie waren ihnen über den Kopf gewachsen. Von aktiver Teilnahme an dem politischen Entscheidungsprozeß, vor allem in Preußen, ausgeschlossen, war es nur wenigen „Untertanen" beschieden, aus der praktischen Arbeit heraus zu einem politischen Programm zu gelangen. Da wurde es denn, da das Gros der deutschen Bildungselite bis zu dem großen Experiment von 1848 von dem Glauben an eine Welt konstruierter Möglichkeiten erfüllt blieb, die Aufgabe und das Ziel der theoretischen Diskussion, ein solches Programm zu schaffen. Die Hegeische Philosophie hat in dieser Hinwendung zum politischen Freiheitskampf eine erhebliche Rolle gespielt, und das System ist im Verlaufe des Kampfes zerstört worden. „Für Deutschland", sagte 1844 Karl Marx, „ist die © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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Kritik der Religion im Wesentlichen beendigt und die Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller Kritik." „Nachdem das Jenseits der Wahrheit verschwunden ist", ist es die Aufgabe der Geschichte, „die Wahrheit des Diesseits zu etablieren. Die Kritik des Himmels verwandelt sich damit in die Kritik der Erde, die Kritik der Religion in die Kritik des Rechts, die Kritik der Theologie in die Kritik der Politik." 12 Diese Sätze erzählen von dem Schicksal der Hegeischen Philosophie. Es ist die historische Leistung der „Hallischen Jahrbücher" und ihres Herausgebers Arnold Ruge, den konservativ-kontemplativen Grundzug der Hegelschen Philosophie durchbrochen und den politischen Radikalismus und den Geist der Revolution aus ihr deduziert zu haben. Ruge, der damals das Haupt der philosophisch-politischen Publizistik in Deutschland darstellte, war von der Apologie Hegels ausgegangen. Aber bereits 1839 beginnt sich diese in eine Kritik Hegels zu verwandeln. Ruge wendet sich nunmehr gegen das fertige philosophische System, gegen die romantischen und irrationalistischen Bestandteile, gegen den Objektivismus des Systems, gegen die Fesseln der Dogmatik, gegen Hegels einseitig theoretischen Standpunkt, gegen seine „faule Beschaulichkeit", seine „Zurechtmacherei der christlichen Dogmatik"13, gegen seine politische Charakterlosigkeit, die es fertig gebracht habe, seine Philosophie zur „königlich preußischen Staatsphilosophie"14, zur „Hofphilosophie und Scholastik"15, zur Philosophie der Restauration herabzuwürdigen. „Weder in der Religion, noch in der Politik, noch durchgreifend in der Geschichte" ist Hegel „seinem Prinzip der Entwicklung, der Geistesphilosophie und ihrer Dialektik treu geblieben"16. Der echte Sinn dieser Philosophie besteht vielmehr nach Ruge in der Souveränitätserklärung des philosophierenden Ich, in der entfesselten Dialektik, in dem Recht zur allseitigen Kritik, das aus Hegels gründlichst mißverstandenem Prinzip der absoluten Negativität abgeleitet wird, in dem diktatorischen Soll der Idee, die alles Unvernünftige negiert, zur Praxis drängt und die gesamte Wirklichkeit mit den unsterblichen und revolutionären Gedanken der Freiheit und Entwicklung zu durchdringen und das Leben zu gestalten sucht. Diesem so verstandenen, dem „eigentlichen" Hegel, „dem großen Rationalisten, dem tiefsinnigen Aufklärer der historischen Hieroglyphen, dem liberalen Politiker Hegel"17, gebührt neben Luther das großartigste Monument in dem Pantheon der Geschichte. Im Sinne dieses Anti-Hegelschen Hegelianismus haben die „Hallischen" und dann ab 1841 die „Deutschen Jahrbücher" einen Kampf zugleich für und gegen Hegel geführt, für seine unsterbliche Logik und absolute Methode, für seine Lehre von der Selbstherrlichkeit des Staates, aber gegen die historisch und individuell bedingte Gliederung seines Systems und gegen die verhängnisvollen Konsequenzen seiner Philosophie. In ähnlichem Geiste und mit ähnlichen Mitteln haben zur selben Zeit Karl Marx und Friedrich Engels Hegel zu würdigen und fortzubilden gesucht, bis sie dann in den Bann Feuerbachs gerieten. 1845 haben sie im Anschluß an Feuerbach, bei dem sie aber nicht lange stehenblieben, mit Hegels Ideologie und Begriffsmystik, mit seinen metaphysischen Lehren abgerechnet. Sie glaubten, ihn © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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und die metaphysische Philosophie überhaupt restlos überwunden zu haben, aber in weit höherem Grade, als ihnen selbst zum Bewußtsein kam, sind sie ihm, da sie an einer realistisch verstandenen Dialektik und an wichtigen Kerngedanken der Hegeischen Geschichtsphilosophie festhielten, verpflichtet geblieben. Das Gefühl ihres unüberbrückbaren Gegensatzes hat sie aber nicht gehindert, auch in späterer Zeit mit Stolz ihre Abstammung von Hegel zu bekennen und die Erinnerung an seine Größe zu bewahren. Oftmals ist es als ihr Verdienst gepriesen worden, daß sie zu den Ersten gehört haben, die den Versuch machten, den überzeitlichen Gehalt in Hegels Philosophie herauszuarbeiten, und daß sie auch in den Jahrzehnten, wo die Abkehr von Hegel und der spekulativen Philosophie allgemein war, das Andenken an ihn und die Geschichtsphilosophie wachgehalten haben18. In diesem Zusammenhang ist auch an das Lebenswerk von Lassalle zu erinnern. Noch weit positiver als die Schöpfer der Ideologie des marxistischen Sozialismus hat Lassalle die unvergängliche Bedeutung Hegels verkündet. „Es handelt sich darum", so schrieb er noch 1861 an Johannes Schulze, „die Fahne unseres unsterblichen Meisters Hegel Schlag auf Schlag, es handelt sich darum, sie überall zum entscheidenden Siege zu führen. Nur zu lange haben hierin die Schüler Hegels, in bezug auf die empirischen Wissenschaften eine große Schuld der Trägheit gegen ihren Meister auf sich geladen. Ja! Er hat uns in der absoluten Methode das absolute wissenschaftliche Machtmittel hinterlassen."19 Als die „Deutschen Jahrbücher" 1843 unterdrückt wurden, da bildeten sich in Schweglers „Jahrbüchern der Gegenwart", in Wigands „Epigonen", in Noacks „Jahrbüchern für spekulative Philosophie" neue, wenn auch weniger radikale Zentren der junghegelschen Bewegung. Man wollte Hegel nicht nur interpretieren, man wollte ihn im Sinne der liberalen Zeitforderungen verbessern und umbilden. So verband sich denn auch hier die wärmste Anerkennung Hegels mit einer scharfen Kritik der romantischen Bestandteile und der sogenannten Restaurationsgelüste seiner Philosophie. Wesentlich ungebundener in ihrer Hegelkritik waren die jungdeutschen Literaten und Dichter und ein Teil der politischen Lyriker. Sie waren in ihren Anfängen in mehr oder weniger hohem Grade von Hegel und der Romantik beeinflußt gewesen. Indem sie seit den 30er Jahren, wo sie, unter dem Eindruck der aus Frankreich herübergekommenen Schlagworte, als Verkünder des Fortschrittsgedankens und des politischen Liberalismus und Demokratismus auftraten, den Kampf gegen Hegel aufnahmen — schon 1829 hatte Theodor Mundt gegen den Begriffsschematismus von Hegels Ästhetik protestiert —, kämpften sie zugleich für ihre Selbstbefreiung. In Hegels Restaurationsphilosophie glaubten sie eine der Quellen des gegenwärtigen politischen Elends zu erblicken. Und ein großer Teil des deutschen, insbesondere des vulgären Liberalismus, stand hier durchaus auf ihrer Seite. Die Junghegelianer, die Jungdeutschen, ein großer Teil der Liberalen, das waren die Kreise, die Hegel immer wieder der Allianz mit dem Beamtenstaat, des Servilismus und Quietismus, der politischen Charakterlosigkeit anklagten und ihm vorwarfen, daß er alles Bestehende als vernünftig zu erweisen versucht habe. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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Zu einer wesentlich anderen Auffassung gelangte, trotz mancher Berührungspunkte mit der Hegelkritik der liberalen Junghegelianer, die feudal-konservative Gegenpartei. Die Jünger Hallers und die Männer, die sich um Jarckes „Berliner Politisches Wochenblatt" scharten, beschuldigten Hegel des verkappten politischen Liberalismus, der Staat, Kirche und Sittlichkeit bedrche. K. E. Schubarth warf ihm Hochverrat am preußischen Staat und Aufforderung zur Rebellion vor und bezeichnete seine Lehre geradezu „als das größte Übel und Unheil für das Menschengeschlecht"420. Ein Mann von der geistigen Bedeutung und der nachhaltigen Wirkung wie Friedrich Julius Stahl, der Theoretiker der preußischen Konservativen, aber begnügte sich nicht mit einer lediglich destruktiven Kritik. Er versuchte, Kritik und Anerkennung voneinander zu scheiden und durch eine sorgfältige Untersuchung der Grundlagen des Hegeischen Systems, das er wegen seines pantheistischen, Freiheit und Persönlichkeit ertötenden Geistes, wegen seines rationalistischen Logismus und seiner verfehlten und irrigen Methode schroff ablehnen zu müssen glaubte, seine Kritik der Rechtsphilosophie wissenschaftlich zu begründen. Als der Grundschaden von Hegels „ultragouvernementaler" Staatslehre erschien ihm, ähnlich wie der Historischen Rechtsschule, „der Mangel aller höheren Sanktion und der Mangel alles geschichtlichen Prinzips"21. Hegel stehe, so meinte er, in einem Bunde mit dem Geist der Revolution, da er das positiv überkommene Recht und die in ihm begründeten erworbenen Rechte mißachte. Das hat aber Stahl nicht gehindert, dankbar anzuerkennen, daß Hegel „durch tiefe und fruchtbare Gedanken", namentlich durch seinen Staats- und Volksgedanken, „die Erkenntnis des Zeitalters in ausgedehnten Gebieten wissenschaftlich und sittlich gefördert" 22 habe. — Der Kreis der politischen Gegner Hegels schließt sich mit den Katholiken, die gegen ihn den Vorwurf heidnischer Staatsvergötterung erhoben. Der Kampf gegen Hegels Geistesphilosophie, vor allem der gegen seine Religions- und Rechtsphilosophie, hatte durchweg nicht den Charakter einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung, sondern den einer parteiisch voreingenommenen, tendenziösen Verunglimpfung gehabt. Man glaubte seine Philosophie widerlegt, sie berichtigt und verbessert zu haben, indem man sie mit Schmähungen überschüttete. Die Schärfe und Roheit des Tons mußte die Stichhaltigkeit und Beweiskraft der Argumente ersetzen. Sowohl die Junghegelianer wie die Antihegelianer lehnten einfach ab, was ihnen zuwider, was mit ihren Tendenzen und ihrer Weltanschauung nicht im Einklang war. Durch den Hinweis auf den „wahren" Hegel glaubten die Junghegelianer ihre radikalen Lehren rechtfertigen zu können, und von der Unwiderleglichkeit der logischen Grundlagen des Systems waren sie, solange und soweit sie nicht zu Feuerbach übergingen, derart überzeugt, daß ihnen eine kritische Prüfung nicht nur als vollkommen überflüssig, sondern geradezu als unsinnig erschienen wäre. Die Antihegelianer dagegen gingen meist so weit, daß sie Hegel in Bausch und Bogen verwarfen, ohne sich auf eine wissenschaftliche Prüfung überhaupt einzulassen. In den 40er Jahren begann das anders zu werden. Angeregt durch den Auflösungsprozeß der Hegeischen Schule und durch die sich häufenden Angriffe der Hegelfeinde, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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mehrten sich jetzt die Versuche, nicht nur einzelne Teile, sondern das Hegelsehe System als Ganzes wissenschaftlich zu widerlegen, indem man es von innen heraus in seinem gesamten Aufbau kritisierte. Man ging dabei von der durchaus richtigen Vorstellung aus, daß es Hegels eigenen Intentionen widerspreche, wenn man einen Systemteil isoliert betrachte und aus dem Gesamtzusammenhang herauslöse. Namentlich von Fachphilosophen sind diese Versuche angestellt worden, zum erstenmal, soweit ich sehe, von den spekulativen Theisten Hermann Ulrici und Karl Philipp Fischer. An Hegels Methode und ihren Ergebnissen schien Ulrici nichts mehr haltbar. Wohl aber war er bereit zuzugeben, daß der von dem temporären Charakter zu unterscheidende substantielle Gehalt der Hegeischen Philosophie: „die Entwicklung des Denkens aus sich selbst als aus seiner immamenten Notwendigkeit , der allein wahre Begriff der Philosophie ist"23. Gar viele von denen, die im Laufe ihrer Entwicklung zu der Einsicht gekommen waren, daß Hegels System wie jedes andere System doch auch nur historisch bedingt, Ausdruck einer bestimmten historischen Situation sei und sich nunmehr überlebt habe, waren mit einem Teile ihres Werdens, Wesens und Wirkens von Hegel abhängig. Und wenn sie jetzt als undankbare Schüler ihren großen Lehrmeister verprügelten und nicht müde wurden, von der Unhahbarkeit seines Systems und von seinem verderblichen Einfluß zu sprechen, so folgten sie damit nur dem Zuge der Zeit; sie taten es aber auch deshalb, weil sie für ihr neues Lebensgefühl und für ihre Emanzipation kämpften. Deutlicher als ein stilles Fortwirken der Hegelschen Philosophie läßt der erbitterte ideologische Kampf erkennen, daß diese Philosophie, auch als der Glaube an ihre „Form" und an die Haltbarkeit ihrer logischen Grundlagen dahin war, noch immer eine beherrschende Stellung im deutschen Geistesleben einnahm. Was bereits tot und abgetan ist, vermag die Gemüter nicht so zu erregen. Gerade die 30er und 40er Jahre waren die Zeit, in der Hegels Lehre von den Einzclwisscnschaften aufgenommen, kritisch gesichtet, verarbeitet und fruchtbar gemacht worden ist. Erst als das System als solches gesprengt war, hat der Strom des Hegelschen Geistes auf die Wissenschaften stark zu wirken begonnen. Diejenigen Schüler Hegels aber, die sich als seine eigentlich getreuen und als seine wahren Fortsetzer betrachteten, die Hegeische „Rechte" und das „Zentrum", waren in unablässiger Arbeit redlich bemüht, das System als Ganzes zu erhalten, gegenüber allen Angriffen zu verteidigen und die Lücken auszufüllen, die es offengelassen hatte. Was diese Hegelianer der ersten Generation an produktiver Arbeit tatsächlich geleistet haben, das ist, abgesehen von ihrer Tätigkeit auf dem Gebiet der Geschichte der Philosophie, nicht allzu erheblich. Aber da sie einen großen Teil der philosophischen Lehrstühle innehatten und in den 30er und 40er, ja sogar noch zum Teil in den 50er Jahren einen erheblichen Einfluß ausübten, so gebührt ihnen, den Apologeten Hegels, den Verkündern seines Ruhms und seiner unvergänglichen Bedeutung, in einer Geschichte der Hegelauffassung ein besonderer Platz. Erst die Hegelianer der zweiten Generation, die den empirischen Wissenschaften größere Zugeständnisse mach© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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ten, vielfach auf Kant zurückgingen und damit die Schranken allzu gläubiger und unselbständiger Schulverehrung durchbrachen, sind in ihrer Arbeit zu fruchtbareren und folgenreicheren Ergebnissen gelangt. Erst sie haben gelernt, zwischen Lebendigem und Totem in Hegels Philosophie wirklich zu scheiden. Den Tiefstand ihrer öffentlichen Wertschätzung erreichte die Hegeische Philosophie in den Jahren, die auf die Revolution von 1848 folgten. Auch in der Geschichte des deutschen Geistes bezeichnet das Jahr 1848 den Beginn eines neuen Zeitalters, den entschiedenen Bruch mit der spekulativen Epoche der philosophisch-ästhetischen Bildung, die endgültige Wendung zu jenem Geiste, von dem Feuerbach bereits 1842 gesagt hatte: „Der Geist der Zeit oder Zukunft ist der des Realismus."24 In besonders hohem Maße traf der Umschwung der Stimmung die Hegelsche Philosophie, die einem nach einer Neuschaffung des Lebens verlangenden Geschlechte als der Urtypus einer tatenscheuen, wirklichkeitsfremden, unzeitgemäßen, konstruktionslüsternen, metaphysischen Gedankendichtung erschien, von der man sich endgültig lösen müsse. Das Ende der Philosophie, so war damals die allgemeine Empfindung, schien herbeigekommen. Tatsächlich handelte es sich nicht um einen Zusammenbruch der Philosophie überhaupt, sondern vielmehr lediglich um den Bankerott der spekulativsystematischen Philosophie. Keineswegs ist die philosophische Produktion der 50er und 60er Jahre arm an neuen und zukunftsreichen Ideen gewesen. Bei den Fach- und Berufsphilosophen, die, mit Ausnahme von Lotze und Fechner, den bedeutenden Metaphysikern der Jahrhundertmitte, über ein mehr als mittelmäßiges Epigonentum nicht hinausgekommen und die meist in der Beschäftigung mit der Philosophiegeschichte steckengeblieben sind, wird man sie allerdings nicht suchen dürfen. Die Philosophie jener Zeit manifestiert sich vielmehr in den großen Führern der Geistes- und Naturwissenschaften. Und diese allerdings standen Hegel, soweit sie ihn nicht völlig ablehnten, sehr kritisch gegenüber. In denkwürdigen Sätzen hat 1848 der junge Anton Springer in der Vorrede zu seiner Schrift „Die Hegelsche Geschichtsanschauung" die damals herrschende Stimmung festgehalten. „Jede Schrift, welche einen philosophischen Gegenstand zum Inhalt hat", so heißt es da, „muß heutzutage ihr Erscheinen rechtfertigen. Das deutsche Volk hat auf seinen spekulativen Rausch einen tüchtigen Katzenjammer bekommen, und es dürfte wohl eine Zeitlang währen, bis sich der Ekel legt und die Lust zum Philosophieren uns wieder anwandelt. Ich kann diese Änderung der Volksstimmung nicht tadeln; sie war geboten durch das Auftauchen der realen Interessen der Politik, geboten durch den schiefen Weg, den die deutsche Wissenschaft zu nehmen begann. Wir haben durch diese Bemühung der deutschen Philosophenschulen eine theoretisch freie Weltanschauung gewonnen, nun gilt es auf einem anderen Wege uns die praktische Freiheit zu erwerben und unsere bisherigen Bestrebungen zu ergänzen. Bis dahin mag das Denken ruhen und das Wollen seine Stelle vertreten; sie werden schon wieder zusammenstoßen und ihre Verwandtschaft erkennen." Unter den Einzelwissenschaften waren es die historischen, die sich auch noch in den 50er Jahren ein positives Verhältnis zu Hegel, dem kritisch korrigierten © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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Hegel, bewahrt haben. Das erklärt sich nicht nur daraus, daß eine Anzahl führender deutscher Historiker bei Hegel in die Schule gegangen waren und von ihm den Sinn für umfassende Perspektiven, den Glauben an eine ideelle, vernunfterfüllte Entwicklung und schließlich auch den Kern seiner Staatslehre übernommen hatten. Zwischen ihrer Arbeit und der Hegeischen Philosophie, die die Geschichte zu ihrem Organon gemacht und sie als „die Erinnerung und die Schädelstätte des absoluten Geistes, die Wirklichkeit, Wahrheit und Gewißheit seines Throns" erkannt hatte, bestand überhaupt ein tiefer innerer Zusammenhang. Je mehr aber die historischen Wissenschaften sich ihres Eigenrechtes bewußt zu werden begannen und es als ihre zeitgemäße Mission erkannten, ihre wissenschaftliche Arbeit in den Dienst der politischen Neugestaltung zu stellen, je mehr glaubten sie von Hegel abrücken zu müssen. Unvergänglich erschien den „politischen" Historikern und Verkündern des klassischen Liberalismus, namentlich den Haym, Duncker, Droysen, die von einem idealitätslosen Realismus nichts wissen wollten, auch jetzt noch der idealistische Gehalt des Hegeischen Philosophierens und der Hegeischen Weltanschauung. Aber wie sie als Empiriker die Fesseln des spekulativen Systems und die apriorische Konstruktion der Tatsachen verabscheuten, so wollten sie als Politiker von Hegels konservativ-kontemplativer Haltung gegenüber den großen Fragen des geschichtlichen Lebens nichts wissen. Was sie an Hegels Philosophie vor allem vermißten, war die zu tatkräftigem Handeln animierende Vitalität und insbesondere der kämpferische Einsatz für eine Liberalisierung der politischen Ordnungen. Festhalten wollten sie an dem großen Erbe der klassisch-idealistischen Tradition, aber nicht indem sie es einfach konservierten, sondern indem sie es den lebendigen Bedürfnissen der Gegenwart entsprechend zu konkretisieren versuchten. Als die wahre Erbin des idealistischen Geistes erschien ihnen die Geschichtswissenschaft. Im übrigen war ihre Stellung zu Hegel nicht unähnlich derjenigen der Historischen Rechtsschule und derjenigen ihres großen Gegenspielers Leopold v. Ranke, der 1854 in seinen Vorträgen vor König Max Hegel Scholastik, Vergewaltigung der Geschichte durch logische Kategorien, Entwertung der Persönlichkeit zugunsten der sich selbst entwickelnden Idee vorgeworfen hatte. Wenn Rankes frommer Sinn auch noch Hegels Pantheismus mißbilligend hervorhob, so hatte das weniger typische Bedeutung. Ein besonders gefährlicher und in den 50er Jahren höchst einflußreicher Gegner erstand der Hegeischen Philosophie in den Naturwissenschaften. Diese kämpften, wenigstens ihrem Programm nach, gegen jegliche Philosophie überhaupt. In Wirklichkeit hatten auch sie ihre Metaphysik und in der Form des Materialismus, der Lehre von „Kraft und Stoff", eine herzlich schlechte Metaphysik. Hegels Naturphilosophie, die ihnen als phantastischer Unsinn erschien, war für sie das gegebene Objekt, um ihrem Übermut freien Lauf zu lassen. So maßlos und oftmals gehässig ihre Kritik auch war, einer gerechten Einschätzung von Hegels Naturphilosophie ist sie doch zugutegekommen. Die Naturphilosophie ist seitdem als Hegels schwächste und unoriginellste Leistung, als ein Irrweg erkannt. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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Ein dritter großer Gegenspieler erwuchs der Hegeischen Philosophie in den 50er Jahren im Pessimismus, dem das Mißlingen der Revolution von 1848 den Weg bereitet hatte. Schopenhauer erlebte jetzt seine Auferstehung. Allmählich begann er populär und seine aus persönlichen Motiven und aus seiner fanatischen Geschichtsfeindschuft hervorgegangenen unflätigen Invektiven gegen Hegel, gegen diesen „widerlichen, geistlosen Scharlatan und beispiellosen Unsinnschmierer", gegen diese „Ministerkreatur" mit der „Bierwirtsphysiognomie" begannen wirksam zu werden. Und diejenigen, die auf dem Gebiet der zünftigen Fachphilosophie in den 50er Jahren das Feld beherrschten, die immer unfruchtbarer werdende Schule der spekulativen Theisten, die wollten von Hegel auch nichts mehr wissen. Auch von all den anderen alten Gegnern Hegels glaubte noch manch einer, immer wieder von neuem seine Stimme erheben zu müssen. Selbst davor wurde nicht Halt gemacht, Hegels Person und die seiner Schüler moralisch zu beschmutzen. Welcher menschlichen Gemeinheit beispielsweise der Fanatismus des finsteren Zelotentums fähig war, zeigt zur Genüge der berüchtigte, 1854 anonym erschienene Roman Eritis sicut dens von Wilhelmine Canz. So wie die Dinge damals lagen, drängte der Kampf um Hegel zu einem vorläufig abschließenden Ende, denn die Argumente hatten sich erschöpft. Schon vor Hegels Tode hatte dieser Kampf begonnen; er hatte innerhalb von drei Jahrzehnten zur Auflösung der Hegeischen Schule und zur Zerschlagung des Systems geführt. Hegels Anhängerschaft, soweit sie den Mut hatte sich zu ihm zu bekennen, war auf ein kleines Häuflein zusammengeschmolzen. Die Junghegelianer per se waren seit 1848 fast ganz verschwunden, und von der alten Hegelschen Schule waren nur noch Reste vorhanden. Unentwegt setzte diese ihre Arbeit fort. Ihr erschien Hegel, der Zeitmeinung zum Trotz, noch immer als der größte, als der unwiderlegte Philosoph. Einer der geistvollsten Schüler, die Hegel gehabt hat, der bedeutende Philosophiehistoriker und Essayist J . E. Erdmann, der sich im Verlaufe seiner Entwicklung von dem Buchstaben Hegels stetig weiter entfernt hatte, hat seine Stellung mit der des „letzten Mohikaners" verglichen. Selbst bei einzelnen Hegelianern der ersten Generation dämmerte der Gedanke, daß man wenigstens zaghaft versuchen müsse, zwischen dem Ewigkeitsgehalt und der zeitlichen Hülle in Hegels Philosophie zu unterscheiden. In diesem Sinne hat Karl Rosenkranz 1852 eine Schrift veröffentlicht, die den bezeichnenden Titel trug: „Meine Reform der Hegelschen Philosophie", was nun aber zur Folge hatte, daß ihm die Hegelianer strikter Observanz Abfall von Hegel vorwarfen. Rudolf Haym war es, der mit Klarheit die geschichtliche Lage überschaute und aus ihr die Konsequenzen zog. Sein Buch über „Hegel und seine Zeit" (1857) war eine Tat. Es stellt den schärfsten und gewichtigsten Angriff dar, der gegen Hegel überhaupt unternommen worden ist, zugleich aber auch den folgenreichsten, denn für ein halbes Jahrhundert hat Haym mit seinem Werk die Hegelauffassung in ihren entscheidenden Grundzügen bestimmt. Aus schweren inneren Erschütterungen, aus dem Ringen und Streben eines leidenschaft© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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lichen Menschen nach Wahrheit und Wirklichkeit, aus dem Drang nach Selbstbesinnung und Rechenschaftsablegung, aus dem Gange und dem Geiste der Zeit ist sein Buch geboren. Als junger Studiosus war Haym 1839 nach Halle gekommen, das damals eine Hochburg des Hegelianismus und des Junghegelianismus darstellte. Dem Einflüsse der junghegelschen Denkweise, die auf die damalige akademische Jugend einen bestrickenden Reiz ausübte, ist sein empfänglicher und leicht erregbarer Geist gar bald unterlegen. Mit beinahe kritikloser Hingabe schloß er sich an die „Hallischen Jahrbücher" an, und mit enthusiastischer Bewunderung sah er zu Ruge und zu Strauß auf, in dem er den „kritischen Held des Jahrhunderts" erblickte. Von hier aus hatte er den Weg zu Hegel selbst gefunden. Die Hegelsehe Philosophie hat sein Innerstes getroffen. Trotz all des heißen Bemühens um seine Selbstbefreiung ist Haym nie wieder ganz von Hegel losgekommen. Bis zum Jahre 1845 hat er, wie seine frühen Jugendschriften bis zur Evidenz beweisen, in Hegels Philosophie die Lösung aller Rätsel, die Befriedigung seines damals fast unersättlichen Wissensdranges zu finden geglaubt, bis dann der Moment kam, wo durch hier nicht näher zu charakterisierende biographische Einflüsse und durch die Einwirkung Feuerbachs sein Glaube an die Absolutheit dieser Philosophie und ihrer Methode vernichtet wurde. So nachhaltig war der Stoß, den er erfuhr, daß er bereits am 4. August 1845 dem Habilitationsgesuch, das er dem Kuratorium der Universität Halle einreichte, den Satz einfügen konnte, daß es ihm als die Aufgabe seines Lebens erscheine, „an der wahren Weiterführung und Überwindung einer Philosophie arbeiten zu helfen, welche in ihrer Abgeschlossenheit dem Fortschritte der Zeit und ihren Bedürfnissen sich entfremdet, in den schiefen und übereilten Konsequenzen jedoch, zu denen sie den Anlaß gegeben, dem Staate und seinen Institutionen, ja, jedem gesunden und Maß haltenden Leben feindlich zu werden droht". Noch deutlicher wurde er dem Minister Eichhorn gegenüber. Es gelte jetzt, so schrieb er ein paar Monate später an ihn, die Hegelsche Philosophie ,,zu bekämpfen und, wo möglich, zu vernichten". Diese Worte waren der Ausdruck seiner innersten Überzeugung. Ohne daß es ihm selbst ganz klar wurde, hatte er wohl Hegels System, aber nicht Hegels Philosophie überwunden. In den für Hayms innere Entwicklung bedeutsamsten Jahren von 1843—48 sind auch eine Reihe der leitenden Gedanken seines späteren Hegelbuches herangereift. Es ist an dieser Stelle nicht möglich, das langsame und widerspruchsvolle Werden seiner Anschauungen an Hand der Schriften und Briefe aus dieser Zeit zu verfolgen. Eine eingehende und zusammenhängende Charakteristik der Hegeischen Philosophie hat Haym in dem im Jahre 1846 begonnenen, im März 1848 zum Abschluß gekommenen Artikel „Philosophie" in der Ersch- und Gruberschen Enzyklopädie gegeben. Dieser 460 Spalten lange Artikel, der so gut wie gänzlich verschollen ist und den man25 witzig die „Prachtleiche der Erschund Gruberschen Katakomben" genannt hat, ist ein Abriß der Geschichte der Philosophie, deren einzelne Abschnitte allerdings von sehr verschiedenen und zum Teil von mehr als fragwürdigem Werte sind. Der Abschnitt über Hegel © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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gehört zweifellos mit zu dem Besten; er ist nichts anderes als das Hegelbuch von 1857 im Embryonalzustande. Das kann hier als das Ergebnis einer eingehenden Vergleichung nur behauptet, aber nicht bewiesen werden. Alle die Vorwürfe, die Haym 1848 — ich nenne nur die allerwichtigsten — gegen Hegels Philosophie erhebt: daß sie ein mit Reflexion und Absichtlicnkeit Gemachtes, daß sie von der Omnipotenz des Begriffs, von einem übermäßigen Intellektualismus und Rationalismus erfüllt sei, der das Ethische in sich aufsauge, das Konkrete verflüchtige, das Empirische vergewaltige, das Individuelle nicht zu seinem Recht kommen lasse; daß sie von enzyklopädischer Uferlosigkeit; daß sie eine mißlungene und längst überholte Vermittlung zwischen Substanz und Subjekt, Aufklärung und Romantik, Reflexion und Mystik, modernem und antikem Denken in der Form des Begriffs; daß sie in ihrem Prinzip durchaus romantisch geblieben, in ihrer Ausführung scholastisch und sophistisch sei; daß bei ihr der Kritizismus gegenüber dem Dogmatismus zu kurz komme; daß ihre Methode unhaltbar sei; daß sie auf der unbewiesenen, mystischen Voraussetzung der von der ästhetischen Anschauung durchsetzten absoluten Erkenntnis beruhe; daß sie damit, da System und Methode eine unzerreißbare Einheit bilden, der Auflösung anheimfalle; daß sie als der treue Spiegel einer armseligen und kümmerlichen Zeit die Philosophie der Restauration; daß sie, konservativ, fatalistisch und quietistisch in ihren Tendenzen, die theoretische Rechtfertigung des Polizeistaats sei, — alle diese Einwände kehren in verstärktem Maße, in leidenschaftlicherem Tone, in gedanklicher Vertiefung und Klärung in dem Hegelbuche von 1857 wieder. Fast alle diese Argumente waren bereits vor Haym von der Hegelkritik, sie waren zum Teil besser und wissenschaftlich gründlicher geltend gemacht worden. Nicht auf der Neuheit und Stichhaltigkeit der kritischen Argumente beruht der wissenschaftliche Wert des Buches. Polemische Tendenz, männlicher Zorn und rhetorischer Eifer haben Haym in seiner Kritik bedenklich weit geführt. So ist es gekommen, daß ihm bei der Analyse der Hegeischen Schriften und bei der Deutung von Hegels Persönlichkeit eine ganze Reihe grober und gröbster Mißverständnisse unterlaufen sind. Trotzdem ist sein Buch viel mehr als bloß eine philosophische und politische Streitschrift. Es ist zugleich eine schriftstellerische Meisterleistung und ein bahnbrechendes wissenschaftliches Werk. Erst Haym hat für ein historisches Verständnis des Hegeischen Systems den Weg gebahnt, indem er, in den Grundzügen bereits 1848, erkannte, daß dies System nur aus seiner Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte heraus verstanden werden könne. Das war eine grundsätzlich neue Erkenntnis, die von niemandem vorher deutlich ausgesprochen und von der Mehrheit der zeitgenössischen Kritiker bei weitem nicht genügend gewürdigt, ja, von den meisten nicht einmal verstanden worden ist. Es war dies eine Aufgabe, die Rosenkranz in seinem verdienstvollen, mit der Pietät des dankbaren Schülers geschriebenen „Leben Hegels" sich noch nicht gestellt hatte. Den Hauptinhalt seines Buches bildete die Erzählung von Flegels Leben. Wo er darüber hinausging, zeigte er sich vor allem bemüht nachzuweisen, wie © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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Hegels System mit den vorangegangenen Systemen zusammenhänge. Noch 1870 hat er geglaubt, daß der Hegel, den er in seiner Biographie von 1844 geschildert habe, „der wirkliche Hegel" sei, „wie er, als historische Person, in die künftigen Jahrhunderte fortwandern wird"26. Tatsächlich aber hatte seine Auffassung in der Zwischenzeit bemerkenswerte Verschiebungen erfahren, insbesondere auch was die philosophiegeschichtliche Einordnung Hegels anging, denn 1870 wird — offenbar um der Hegelauffassung, wie sie der Neukantianismus vertrat, entgegenzuwirken — Hegel so dargestellt, als ob er der eigentliche Fortsetzer von Kant sei. Im Gegensatz zu Rosenkranz stellte Haym, von seinem historischen Standpunkt aus, seine Darstellung auf eine viel breitere Basis. Biographische und kulturgeschichtliche Gesichtspunkte miteinander verbindend, wie er es bereits 1854 in seiner Gentz-, 1856 in seiner Humboldtbiographie getan hatte, wollte er aus der persönlichen Eigenart, der Bildungsgeschichte und den Schicksalen ihres Urhebers, aus den zeitgeschichtlichen, den politisch-kulturellen Bedingtheiten, aus der gesamten historischen Situation das Wesen der Hegeischen Philosophie begreifen und verständlich machen, wollte er den Grund und Boden aufwühlen und durchsuchen, aus dem diese Philosophie erwachsen ist. Und in der Tat, kaum eines von jenen Elementen, aus denen dieser Gedankenbau geworden ist, ist seinem kritischen Scharfsinn entgangen. Indem er das allmähliche Werden dieses Systems nachschaffend verfolgte, indem er die geistige Herkunft der Bestandteile, aus denen es sich zusammensetzte, aufspürte, erfaßte er den großen Denker als den Sohn seiner Zeit und seine Philosophie als „ihre Zeit in Gedanken erfaßt". Mit der strikten Anwendung dieser Methode, die damals, zumindesten in der Philosophiegeschichtsschreibung, eine Umwälzung bedeutete, hat Haym den Nimbus des ewig Gültigen an dieser Philosophie zerstört und sie, wie er schon 1848 es formuliert hatte, „zu einer nur noch historischen Existenz" herabgedrückt. „Es ist einer der aufklärendsten Schritte, welche überhaupt getan werden körnien, wenn man, die Arbeit der Geschichte rückwärts nachahmend, etwas, was bis dahin als etwas Dogmatisches, als etwas objektives Ideelles, als eine Metaphysik oder Religion, als ein Ewiges und Fixes gegolten hat, zu einem rein Historischen herabholt und bis auf seinen Ursprung im bewegten Menschengeiste hineinverfolgt." Mit diesem Satze, der dem monumentalen Eingangskapitel des Hegelbuches entnommen ist, hat Haym den Geist des heraufziehenden Historismus in einer schlagenden Formel zusammengefaßt und zugleich damit angedeutet, wie sich sein Buch, das einen neuen Typus philosophiegeschichtlicher Betrachtungsweise begründet hat, durchaus harmonisch seinem großen Plane einer Entwicklungsgeschichte des deutschen Geistes im realistischen Sinne einordnet. Wahrhaft und wirklich war es ihm um das wissenschaftliche Verständnis, um die „historische Erkenntnis" der Hegelschen Philosophie zu tun. Aber nicht nur darum! Ebensosehr handelte es sich darum, das System vom Standpunkt der eignen philosophisch-politischen Überzeugung aus mit polemischer Rücksichtslosigkeit und dogmatischer Strenge zu kritisieren und das © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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System als System — zu zerschlagen. Nicht etwa, um nun Hegel völlig zum alten Eisen zu werfen, sondern um das Recht der lebendigen Geschichte geltend zu machen, um die verderblichen Einwirkungen seines Systems auf das Leben der Gegenwart zu zerstören und um den „edlen und echten Kern", den „Geist" diefes Systems und dieser Methode, „das Positive und Bleibende, das Vortreffliche und Fruchtbare jener wunderbaren Gedankenarbeit" bewahren und lebensfähig erhalten zu können und um „aus der Verschüttung des Geistes den unvertilgbaren Funken idealistischer Ansicht desto kräftiger wiederaufzublasen". Die „historische Erkenntnis" muß den Kampf um Hegel beenden helfen. So versucht denn Haym, aus der wissenschaftlichen Untersuchung der historischen und psychologischen Genesis des Systems das Recht und das Material zur Kritik des Systems selbst, die historische Begründung seines eigenen Standpunktes abzuleiten. Indem sich die historisch-wissenschaftliche mit der polemischparteiischen Absicht verbindet, wird sein Buch zur Streitschrift. Das lag, wie er es selbst in einer Randbemerkung zu Rosenkranz' „Apologie Hegels" ausgedrückt hat, in der „Tendenz des Buchs, in seinem Zweck, das Gesunde, Sittliche, National-Förderliche zur Geltung zu bringen". Wie sein Parteigenosse Julian Schmidt und der klassische Liberalismus überhaupt, so empfand auch Haym den Idealismus der klassischen deutschen Dichtung und Philosophie als einen Gegensatz und doch zugleich als eine Wesensgemeinschaft. Und wie der knorrige Gervinus, so glaubte auch er, daß die Zeit der Dichtung und Philosophie vorüber und es nunmehr an der Zeit sei, alle Kräfte der Nation aufzurufen zum politischen Schaffen und zum handelnden Leben. Infolge der unkritischen metaphysischen Grundlagen des Systems erscheint Haym an dem systematischen Aufbau Hegels eigentlich nichts mehr haltbar. Hegels Philosophie „ist mehr als widerlegt; sie ist gerichtet worden. Sie ist nicht ein System — sie ist einstweilen durch den Fortschritt der Welt und durch die lebendige Geschichte beseitigt worden". Die Aufgabe des Historikers aber ist es, „das Geschehene zur Geschichte, die Geschichte zur verstandenen und erzählten Geschichte zu machen". Deshalb muß Hegels System gesprengt, deshalb kann es nicht durch ein anderes System widerlegt werden; denn das Zeitalter der Metaphysik ist zu Ende, das des Realismus und der Politik hat begonnen. Bereichert durch die Erfahrungen der Revolutions- und Reaktionszeit ist Haym über den Standpunkt der Hegelanalyse von 1848 in einem Punkte von entscheidender Bedeutung hinausgekommen. Auch damals bereits schon erschien ihm Hegels Philosophie durch den Wandel der Zeiten überholt und gerichtet. Aber damals hatte er noch den Glauben an die Möglichkeit und Berechtigung eines neuen metaphysischen Systems, war er selbst noch bemüht, aus den Trümmerhaufen der philosophiegeschichtlichen Vergangenheit ein eigenes, den gegenwärtigen Zeitverhältnissen entsprechendes System zu schaffen. Über ein paar absonderliche Fragmente, Ansätze zu einem System des „sittlich-praktischen Idealismus", ist er dabei nicht hinausgekommen. Auch 1857 hat er, wenn auch in durchaus unsystematischer Form, eine ausgeprägte philosophische Überzeugung und Weltanschauung, die einmal im Zusammenhang zu rekonstruieren wohl der © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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Mühe wert ist. Aber die Philosophie in der Form einer selbständigen Wissenschaft schien ihm damals erst in ferner Zukunft wieder möglich zu sein. Der nächstberufene Erbe der Hegeischen Philosophie und der metaphysisch gerichteten Philosophie überhaupt, so heißt es 1857, ist nicht irgendein anderes System, auch nicht die ins Kritische und Transzendentale umgeschriebene Hegelsche Philosophie — das ist erst die Philosophie der Zukunft —, der nächste Erbe ist die um den Gedankenkern und die Gedankenübung von Hegels System bereicherte und ihrer Selbständigkeit bewußt gewordene Geschichtswissenschaft, die den „seiner vergänglichen Form entkleideten Geist jenes Systems", „die Tendenz auf ein konkretes, individualisierendes und geschichtsverständiges Erkennen" bewahrt und in den Dienst des Einen stellt, was jetzt not tut: in den Dienst der Errichtung des liberalen Nationalstaates, in den Dienst des Kampfes gegen die Reaktion. Kampf gegen die Reaktion heißt aber auch Kampf gegen Hegel. Denn Hegel war es, so ist Hayms innerste Überzeugung, der von seiner Berliner Periode ab die Philosophie des absoluten Idealismus in die des Restaurationsidealismus verwandelt hat, in die Wille, Freiheit, Persönlichkeit, moralische Energie ertötende und den Polizeistaat und orthodoxen Kirchenglauben rechtfertigende Philosophie der Restauration. Hegels Nachwirkungen sind es, die das Jammerdasein des gegenwärtigen preußischen Staates mit der Weihe der Vernünftigkeit erfüllen. In der klassischen Abkunft seiner Philosophie, in seinem Versuch, die Antike zu erneuern und eine ästhetische Ansicht des Universums zu liefern, in seinem kontemplativen Grundzug glaubte Haym, die Quelle seiner Irrtümer und seiner verhängnisvollen Nachwirkungen zu erblicken, die in der Rechtsphilosophie schließlich dazu geführt habe, das Standbild des antiken Staates mit einem schwarz-weißen Anstrich zu versehen. Jetzt handelt es sich nicht mehr um die „historische Erkenntnis" der Hegeischen Philosophie, sondern um ihre parteiische Beurteilung „aus dem lebendigen Bewußtsein der Gegenwart heraus". Es sind starre, dogmalische, einer rationalistischen Geistesverfassung entstammende und der doktrinären Gedankenwelt des zeitgenössischen Liberalismus entnommene Wertmaßstäbe, die Haym an Hegel heranbringt, wenn er ihn, mitunter in einem schulmeisterlich-inquisitorischen Ton, auf seine politische Gesinnung, auf seinen politischen Charakter, auf die Echtheit seines Patriotismus, auf seine Brauchbarkeit für die Kämpfe der Gegenwart hin prüft. Die Maßlosigkeit seiner patriotischen Leidenschaft, die Unbedingtheit und männliche Härte seines sittlichen Standpunktes, das bis zur Siedehitze sich steigernde Pathos seiner Gesinnung und die innere Überzeugung, daß es mit allen Mitteln für eine heilige Sache zu kämpfen gelte, haben Haym bei seiner Kritik weiter geführt, als sich mit der Würde der Geschichtswissenschaft verträgt. Aus dem Politiker Hegel hat er ein Zerrbild, beinahe eine Karikatur gemacht. Überhaupt ist sein Buch, das leidenschaftlichste, das er überhaupt geschrieben hat, ein merkwürdig zwitterhaftes und vielseitiges Gebilde: Als Zeugnis seines inneren Werdens ein Dokument von geradezu hervorragender Bedeutung; innerhalb der Geschichte der Hegelauffassung, der Philosophiegeschichts© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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Schreibung und der Kantbewegung ein bahnbrechendes oder doch zumindesten zielweisendes Werk; in dem Entwicklungsgang des deutschen Geistes vom spekulativen zum historisch-realistischen Denken und damit auch in der Geschichte des Hegeischen Geistes eine bedeutsame Erscheinung; für den klassischen Liberalismus und die Reaktionszeit ein markanter Ausdruck; in der Geschiente der Streitschriftenliteratur ein ragender Gipfel; als schriftstellerisches Kunstwerk ein beachtenswerter Bestandteil der deutschen Literatur. Daß ein so absonderliches und zwiespältiges Buch bei den Zeitgenossen die geteilteste Aufnahme finden mußte, versteht sich von selbst. Von der überwiegenden Mehrheit der mir bekannt gewordenen Kritiker, auch von den Franzosen27, mit Bewunderung aufgenommen, von einzelnen als ein epochemachendes Meisterwerk der historischen Forschung, von anderen als Manifestation einer edlen liberalen Gesinnung gepriesen, fehlte es auch keineswegs an Stimmen, die in dem Buche lediglich eine unwissenschaftliche Schmähschrift, „das freche Geschwätz" eines „verdrehten Burschen"28 sahen. Auffallend still blieb es in den Reihen der eigentlichen Hegelianer. Nicht einmal die „Philosophische Gesellschaft" in Berlin, die damals die Sammelstätte der Hegelianer bildete, trat gegen Haym auf. Nur Rosenkranz wandte sich mit Entschiedenheit gegen ihn. Anfang 1858 erschien seine „Apologie Hegels gegen Dr. R. Haym", die aber nach seinem eigenen Zeugnis fast gar nicht beachtet wurde. Haym habe, so warf Rosenkranz ihm vor, in der Weise eines schlechten psychologischen Pragmatismus die Hegeische Philosophie in die Geschichte des philosophierenden Individuums Hegel aufgelöst, er zeichne den zeitgeschichtlichen Hintergrund durchaus ungenügend, er unterstreiche nur die Mängel und Fehler der Hegeischen Philosophie, er biete keine wissenschaftliche Untersuchung, sondern lediglich eine Kritik von Hegels Politik und Staatslehre, er sei in einen unverschämten, parteisüchtigen Ton verfallen und degradiere die Geschichte zur Advokatenrolle und zur tendenziösen Verfälschung, er habe Hegel als einen genielosen Anempfinder und Akkommodationspolitiker hingestellt, er habe den Menschen Hegel verdächtigt und seinen moralischen Charakter verunglimpft, er urteile überhaupt nur nach subjektiven Mutmaßungen. Was Rosenkranz, dessen Einwände zum Teil durchaus berechtigt waren, zu Hayms Widerlegung tatsächlich vorbrachte, das war durchaus ungenügend und zeigte deutlich, daß es sich hier nicht nur um einen unüberbrückbaren Gegensatz der Standpunkte und der Methoden handelte, sondern daß Rosenkranz den Sinn von Hayms Buch überhaupt nicht verstanden hatte. Das Schlußwort der „Apologie" zeigt das besonders deutlich: „Nicht der Wissenschaft bedurfte Dr. Haym, sondern einer politischen Tat. Nach einer solchen lechzt er in seinem Pathos. Statt ihrer schrieb er dies Buch — zufällig über Hegel und so mußte es ein krankhaftes werden." Hält man sich an den wissenschaftlichen Grundkern von Hayms Buch, so erscheint Haym Rosenkranz gegenüber durchaus im Recht, wenn er auf das Titelblatt der „Apologie" schrieb: „Die Zeit ist gekommen, wo die Gegner Hegel tiefer würdigen und hochschätzen, als die sogenannten Apologeten." © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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Der Streit um Hayms Buch, der hier nur angedeutet werden konnte, wirft ein bedeutsames Licht auf die Hegelauffassung der Zeit. Zugleich aber läßt er erkennen, wie es noch immer eine Reihe namhafter Persönlichkeiten gab, die sich über den einseitigen Parteigeist erhoben und ihre Augen nicht vor der Tatsache verschlossen, daß der Strom des Hegelschen Geistes zwar nicht mehr in der alten Breite, aber noch immer in tausend Rinnsalen durch das wissenschaftliche und politische Denken flutete und dort weiter wirkte. Zu diesen Männern gehörte auch Heinrich Leo, der einstmals als konservativer Heißsporn erbittert gegen die „Hegelingen" gewütet hatte und der nunmehr, wenn auch nicht öffentlich, für den großen Meister in die Schranken trat. In ganz ähnlichem Sinne wie es Wilhelm Vatke29 1871 tat, feierte Leo30 1858 Hegel als den Philosophen, dem die deutsche Nation die Befreiung von den Illusionen einer schlechten Abstraktion und dem die Gegenwart eine Fülle fruchtbarer Ideen zu danken habe, die ihr zu selbstverständlichem Besitz geworden seien. Leo stand mit seiner Wertschätzung Hegels keineswegs völlig isoliert, aber ein Repräsentant der herrschenden Zeitströmung, der sogenannten öffentlichen Meinung, war er nicht. Gerade weil die Abkehr von Hegel fast allgemein war, konnte Hayms Buch, dessen negativ kritische Seite vor allem von den Zeitgenossen empfunden wurde, eine so außerordentliche und folgenreiche Wirkung erzielen. In höherem Maße als Hayms eigener Absicht entsprach, hat es dazu beigetragen, daß Hegels Werke nicht mehr gelesen wurden und immer mehr in Vergessenheit gerieten. Der wissenschaftliche Kern seines Buches hat die Hegelauffassung bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts bestimmt. An diesem Kern hat Haym selbst, von Modifikationen abgesehen, ebenso festgehalten wie an seiner politischen Überzeugung. Aufgegeben aber hat er das, was lediglich tendenziöser Parteigeist und politische Leidenschaft ihm eingegeben hatten. Für diese Wandlung seiner Auffassung liegt ein bedeutsames Zeugnis vor in dem schönen Hegelaufsatz aus dem Jahre 187031. Dieser Aufsatz zeugt von seinem Gegensatz, aber auch von semer alten Liebe zu Hegel. Die kampferfüllte, gegen die Reaktion gerichtete Polemik des Jahres 1857 ist dem Bemühen um eine ausgewogenere Betrachtungsweise gewichen. Mächtig hat der Wandel der politischen Ereignisse auf die historische Urteilsbildung und den Charakter der Geschichtsschreibung überhaupt eingewirkt. Für den nationalliberalen Politiker Haym war mit der Bismarckschen Reichsgründung die Stunde der Erfüllung des Hegelschen Staatsgedankens gekommen. So vermag er denn mit Ehren und mit einer Anerkennung, die doch zugleich scharfe Kritik ist, des großen Philosophen zu gedenken, dem die deutsche Bildung, das Denken und Fühlen, das geistig-politische Leben der Gegenwart so viel zu danken habe. An die gewaltigen Ereignisse des Jahres 1870 knüpft der Aufsatz an. Was der Völkerkampf der Gegenwart darstellt, ist, wie Haym nunmehr glaubte, eine Bewährung Hegelscher Staatsweisheit, eine Auswirkung seiner Lehre von der Machtnatur des Staates, von der selbständigen Hoheit der Staatsidee und von dem vernunfterfüllten Gang der Geschichte. Hegel war es zugleich, der zuerst © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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Preußens Zukunft und historische Aufgabe erkannt und der die Brücke zwischen Nord und Süd geschlagen hat. Die Beziehung Hegels zur unmittelbaren Gegenwart, die Haym 1857 als verhängnisvoll empfand und die sein Buch zur Streitschrift gestempelt hatte, bedeutet für ihn jetzt, im Jahre 1870, nicht mehr als einen bloßen Anknüpfungspunkt, Auf der Entstehung und de: Idee des Systems verweilt sein Blick. So objektiv, wie er nur vermag, ist er bemüht, Hegels Werk zu würdigen, indem er Vergängliches und Bleibendes voneinander sondert. Tot ist Hegels System, tot ist seine Methode, tot und der Gegenwart entfremdet ist die panlogistische Tendenz seiner Philosophie. Und einer tiefgreifenden Korrektur zumindesten bedarf die Art und Weise, wie Hegel den Begriff des Geistes, der Vernunft, der Entwicklung, das Verhältnis des Vernünftigen und Wirklichen, des Individuellen und des Allgemeien bestimmt hat. Lebendig dagegen sind die Antriebe, die er dem Denken der Wissenschaft gegeben, lebendig ist der seiner systematischen Form und seiner Einseitigkeiten entkleidete Ideengehalt seines Werkes, insbesondere aber der des geistesphilosophischen Teiles. Mit diesem Ergebnis stimmten im wesentlichen auch die anderen überein, die zu dem hundertsten Geburtstage Hegels eine kleine Festgabe beisteuerten. Es waren nicht viele, die ihre Stimme erhoben, und durchweg solche, die aus dem Lager der Geisteswissenschaften kamen. So sehr hatte sich in den verflossenen beiden Jahrzehnten die Lage zuungunsten Hegels verschoben, daß es jetzt darauf ankam, ihm den Platz eines wahrhaft großen Denkers, wenigstens in der geschichtlichen Erinnerung, wieder zu erkämpfen. Besonders nah mit Haym berührte sich der Standpunkt seines politischen Gesinnungsgenossen Gustav Rümelin; auch dieser bemühte sich, den im Nationalliberalismus zum Ausdruck gelangenden politischen Gesinnungsumschwung, die Bewunderung für Bismarcks Werk, durch Berufung auf Hegels Staatslehre ideell zu rechtfertigen. Darüber hinaus jedoch hat Rümelin, ähnlich wie später Treitschke in der „Deutschen Geschichte", noch entschiedener als Haym, Hegels Leistungen auf den Gebieten der Ästhetik, der Rechtsphilosophie und Geschichtsphilosophie als „Epoche machend und von unvergänglicher Geltung"32 anerkannt. Lediglich das auf ein paar kümmerliche Reste zusammengeschmolzene Häuflein der alten Hegeischen Schule wollte sich mit einer Wertschätzung nicht zufriedengeben, die sich im wesentlichen auf die Geistesphilosophie beschränkte und darauf aus war, zwischen Lebendigem und Totem in Hegels Philosophie zu scheiden. Für die alten Hegelianer der ersten Generation war Hegel noch immer der „unwiderlegte Welt-" oder doch zumindesten der „deutsche Nationalphilosoph". Den anderen Philosophen des Reichsgründungszeitalters dagegen erschien Hegel entweder als ein bereits der Geschichte angehörender Denker, der für die Philosophie der Gegenwart ohne Bedeutung sei, oder aber als eine noch immer zu bekämpfende Größe. Die bedeutendste und zukunftsreichste philosophische Richtung jener Zeit, der Neukantianismus, wollte von Hegel nichts wissen. Aus der Opposition gegen Hegel und die unkritische Metaphysik, aber ebensosehr aus der Opposition gegen den bloßen Naturalismus, Positivismus und Empiris© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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mus war die Kantbewegung, die von vornherein keinen einheitlichen Charakter hatte, von den verschiedensten Seiten her in Gang gekommen, und hatte sie sich in den 60er Jahren durchzusetzen begonnen. Sie richtete sich ebensosehr gegen den spekulativen, wie gegen den empirischen Dogmatismus. Die führenden Vertreter der ersten Phase des Neukantianismus bestimmten ihr Verhältnis zu Hegel noch durchaus negativ. Hegel und den anderen spekulativen Nachfolgern Kants machten sie zum Vorwurf, daß sie von der Methode und dem Geist des Kritizismus abgefallen seien. Nur ein bedeutender Denker hatte damals den Mut, an Hegel wieder anzuknüpfen. Eduard von Hartmann war es, der durch seine Philosophie, die auf die doppelte Synthese von Hegel und Schopenhauer, von metaphysischer Spekulation und Naturwissenschaft hinauslief, innerhalb der Fachphilosophie das Andenken an Hegel wachzuhalten und ihn in den Kampf um die Fortbildung der Philosophie wieder hineinzuziehen versucht hat. Zwischen dem zu konservierenden Inhalt und der dagegen völlig verfehlten Methode von Hegels System glaubte er scharf scheiden zu müssen. Dem Metaphysik verachtenden Zeitgeist zum Trotz wollte er das, was er als die unverlierbare Kernidee in Hegels Philosophie ansah, in geläuterter Form und das hieß für ihn, mit Elementen des induktiv-naturwissenschaftlichen Erkennens verbrämt, zur Erneuerung bringen: „Daß der Weltprozeß Entwicklung ist und zwar logische Entwicklung des Logischen selbst sei, dies ist die ewige und unvergängliche Wahrheit der Hegeischen Philosophie; daß nichts als das Logische sei, und nur dies das der Entwicklung zugrunde liegende Substrat und Subjekt sei, ist ihr zu überwindender und bereits überwundener Irrtum. Daß sie Logismus und Idealismus, vor allem, daß sie logischer oder idealer Evolutionismus ist, ist ihr Verdienst; daß sie Panlogismus und absoluter Idealismus sein will, ist ihre Schwäche und Einseitigkeit."33 — Hartmann war innerhalb der Philosophie seiner Zeit eine einsame und durchaus zwiespältige Erscheinung. Mit seiner Lebensauffassung und seinen naturwissenschaftlichen Neigungen im wesentlichen der Jahrhundertmitte angehörend, stellt er mit seinem Streben nach Metaphysik und systematischer Erkenntnis und mit seiner Wertschätzung Hegels einen Epigonen des deutschen Idealismus und zugleich einen Vorläufer des Jahrhundertendes dar. Erst um die Wende des Jahrhunderts hat sich in der Hegelauffassung ein tiefgreifender Umschwung vollzogen, der mit einer neuen Phase in der Geschichte des Hegeischen Geistes korrespondiert. Von verschiedenen Seiten her ist es zu einer Erweckung Hegels gekommen. Da war die historische Forschung, die das geschichtliche Andenken Hegels erneuerte und einem tendenzfreien Verständnis seiner Philosophie die Bahn brach. Da war die Philosophie selbst, die in Hegel einen Bundesgenossen der eigenen Bestrebungen entdeckte. All die vielen Ismen, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine so große Rolle gespielt hatten, der Naturalismus, Positivismus, Empirismus, Psychologismus, Historismus, Relativismus, war man gründlich satt geworden. Eine starke, unaufhaltsame Reaktionsbewegung setzte ein. Es kam zur Auferstehung der Metaphysik und zu einer Art Erneuerung der Philosophie des deutschen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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Idealismus. Und namentlich Hegel hörte auf, eine antiquierte und wenig beachtete Erscheinung zu sein. Eiligst begann ihn, nach Nohls schönem Wort, „der Dogmatismus auf seine klappernden Mühlen zu leiten"34. Mächtig begann auf einmal wieder der Strom des Hegeischen Denkens auf Philosophie und Geisteswissenschaft, vor allem auf die wiedererstandene und nunmehr neu zu begründende Geschichts- und Kulturphilosophie zu wirken35. Namentlich das jüngere Geschlecht wurde von diesen neuen Tendenzen ergriffen. „Es ist der Hunger nach Weltanschauung", so sagte 1910 Wilhelm Windelband, „der unsere junge Generation ergriffen hat und der bei Hegel Sättigung sucht."36 Erst von hier aus gesehen, wird die außerordentliche Wirkung verständlich, die Diltheys meisterhafte, 1905 erschienene „Jugendgeschichte Hegels" erzielt hat. Nicht nur den Anfängen von Hegels Entwicklung hat Dilthey, dessen Interesse vornehmlich dem Metaphysiker, in zweiter Linie dem Geschichtsphilosophen galt, ganz neue, ungeahnte Züge abgelauscht; er hat das alte, im Laufe des 19. Jahrhunderts zu fast kanonischer Geltung emporgestiegene Dogma von dem einseitigen Rationalisten und Panlogisten Hegel zertrümmert. Die Entdeckung des irrationalen Hegel ist mit Recht als seine große Tat gepriesen worden. Den Anregungen Diltheys folgend, sind wir in den letzten Jahrzehnten in der Erkenntnis des historischen Hegel, namentlich durch die Forschungen Franz Rosenzweigs und durch das bei aller Einseitigkeit bedeutende Werk Richard Kroners, ein gutes Stück weitergekommen. Was Grillparzer 1855 dem toten Hegel höhnend zurief, das hat für uns Heutige einen anderen, einen ungleich tieferen, einen durchaus positiven Sinn: „Was mir an deinem System am besten gefällt? Es ist so unverständlich wie die Welt."
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5. ARNOLD RUGE UND DIE „HALLISCHEN J A H R B Ü C H E R « Unter den Großmächten des 18. Jahrhunderts war die Aufklärung scheinbar gebrochen in das 19. Jahrhundert hinübergetreten. Unzweifelhaft hatte ihr Öffentliches Ansehen durch die bittere Kampfansage der klassischen Literatur, der idealistischen Philosophie, der Romantik, der Historischen Rechtsschule und der politisch-theologischen Reaktion einen mächtigen Stoß erhalten. Sie war ergänzt und fortgebildet, sie war vollendet und damit geistesgeschichtlich überwunden worden. Aber daß sie auch noch im Restaurationszeitalter eine imponierende Macht im geistigen und praktischen Leben darstellte, zeigt deutlicher als alles andere der heftige und maßlose Kampf, der gegen sie geführt wurde. Erst nach 1848 und vollends nach 1870, durch das siegreiche Vorwärtsdringen des monarchisch-nationalistischen Imperialismus, durch die allmählich kanonische Geltung erlangende Theorie der „Realpolitik", des vergröberten und seiner idealistischen Grundlagen entkleideten Machtstaatsgedankens, der grundsätzlich prinzipienlosen Interessenpolitik haben die „westlichen Ideen" des humanitär-philosophischen Rationalismus der Aufklärung, zugleich aber auch der echte, unverfälschte Geist des deutschen Idealismus die zentrale Bedeutung wenigstens für das politische Denken der bismarckschen und der wilhelminischen Zeit verloren. In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts war die Lage in Deutschland jedenfalls die, daß die geistigen Heroen der Nation die Aufklärung als endgültig erledigt ansahen, während die breiten Massen der städtischen und ländlichen Bevölkerung von den vulgärrationalistischen Ausläufern der Aufklärung, Popularphilosophie, Naturrecht und theologischem Rationalismus, erst vollends durchdrungen wurden. Während das Gros des mit seiner inneren Bildung beschäftigten und dem öffentlich-politischen Leben in den 1820er und 1830er Jahren meist gleichgültig gegenüberstehenden höheren Bürgertums die soziologische Grundlage für die Wirksamkeit und Ausbreitung des deutschen Idealismus darstellte, nahm die Aufklärung immer mehr den Charakter einer großen Mittelstandsbewegung an, die schließlich dem Vulgärliberalismus die Bahn gebrochen und der bürgerlich-konstitutionellen Rechtsstaatsdoktrin zum Siege verholfen hat1. Durch den Abbruch der Reformtätigkeit, durch die Nichteinlösung des Verfassungsversprechens von 1815 war ein innerer Bruch zwischen Staat und Volk entstanden. In dem Kampfe gegen das „Stabilitätssystem" des erneuerten bürokratisch organisierten Absolutismus gelangten die ihrer „angeborenen" Rechte
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gegenüber Staat und Gesellschaft bewußt gewordenen aufwärtsstrebenden, oppositionell und rationalistisch gestimmten Kräfte, namentlich aber die heranwachsende junge Generation, zu einer entschiedenen Abkehr von den deutlich sichtbaren und wirksamen politisch-religiösen Ausläufern der romantisch-idealistischen Bewegung, die als die Verkörperung eines gegenwartsfernen Irrationalismus und Mystizismus, als die Symbole der feudal-klerikalen Reaktion, der politischen Unfreiheit und der religiösen Orthodoxie empfunden wurden. Über die einfache Fortwirkung des Geistes der Aufklärung hinaus kam man aber auch — bewußt oder unbewußt — zu einer Rezeption derjenigen Gedanken der Aufklärung, die im Kampfe des Tages brauchbare Waffen zu sein schienen. Vollkommen deutlich wird das seit der Julirevolution. Eine neue Welle des Aufklärungsgeistes kam damals über Deutschland. In den Werken so verschiedenartiger und sich zum Teil gegenseitig befehdender Männer wie Rotteck, Schlosser, Gervinus und Dahlmann, Trendelenburg, Strauß, Feuerbach, Ruge, Bruno und Edgar Bauer, in der schönen Literatur bei Heine, Börne, dem Jungen Deutschland und den sogenannten politischen Lyrikern Freiligrath, Herwegh, Prutz, Dingelstedt, Kinkel, Sallet gelangte diese Bewegung vor allem zum Ausdruck. Alle diese Männer — lediglich Rotteck steht hier isoliert — waren zugleich mehr oder weniger stark von der idealistischen Epoche und von der Romantik befruchtet worden, die viel zu tief in den Geist der Zeit eingedrungen waren, als daß man sich ihrem Einfluß hätte entziehen können. Sich von der Romantik loszulösen, war besonders schwer für die Poeten. Sie waren direkte Schüler der Romantik, sie haben als Romantiker begonnen, und in ihren Tendenzen blieben sie namentlich der Frühromantik mannigfach verwandt. Nur nach schweren inneren Erschütterungen vermochten sie zum Bruch mit ihrer Lehrmeisterin zu gelangen. Und auch ihr Kampf gegen Hegel galt doch zugleich ihrer Selbstbefreiung. Am einseitigsten und folgerichtigsten gelangt das bezeichnete Problem, die „Renaissance der Aufklärung", zum Ausdruck bei den Junghegelianern, in ihrer politischen Zuspitzung am deutlichsten bei Arnold Ruge. Arnold Ruge (1802—1880) gehört zu jenen Naturen, die die Rolle, die sie in dem großen Drama der Geschichte zu spielen berufen sind, weniger der Originalität eigenen schöpferischen Denkens und Könnens als vielmehr der Gunst der Zeit verdanken. Er war eine journalistische Begabung allerersten Ranges, unzweifelhaft einer der glänzendsten, beweglichsten und wandelbarsten, aber dabei doch charaktervollsten Publizisten, die Deutschland je besessen hat. Er hatte die Fähigkeit, die Wahrheiten und Entdeckungen, die tiefe Denker und große Forscher in mühevollster, einsamer Arbeit gefunden und gemacht hatten, auf zündende, schlagwortartige Formeln zu bringen. Trotz unzweifelhaft vorhandener genialer Züge und trotz eines feinen Spürsinns für jene von unten aufsteigenden Kräfte der Massen, die dereinst der vom monarchisch-dynastischen Prinzip beherrschten Staatenwelt ein anderes Antlitz geben und die geschichtliche Entwicklung in neue Bahnen lenken sollten, war er seiner innersten Wesenheit nach doch das, was man2 fälscherlicherweise von dem schöpferischen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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Friedrich Schlegel behauptet hat: „Ein Literat, nichts weiter!" Daß Ruge die Hegeische Philosophie in den Dienst der politischen und sozialen Emanzipation der aufstrebenden bürgerlichen Klasse zu stellen begonnen hat, daß er, die Zerstörungsarbeit der Aufklärung, die Agitationsarbeit der Jungdeutschen fortsetzend, das Banner der entschiedenen Opposition und schließlich der Revolution entfaltet hat, das ist die große, die einzige wahrhaft schöpferische Tat seines Lebens, die innerhalb der Geschichte des deutschen Liberalismus allerdings auf lange Zeit hin nicht mehr als einen verheißungsvollen Ansatz darstellen sollte. Nach einer glücklich verlebten Jugend, die Ruge mit ergötzlichem Humor in seinen Lebenserinnerungen ausführlich geschildert hat, machte er zum erstenmal von sich reden in der Burschenschaftsbewegung als einer der Führer des radikalen Jünglingsbundes. Die Teilnahme an dieser Bewegung hat seine Lebensbahn bestimmt und auf die Ausprägung seiner Persönlichkeit auf das stärkste gewirkt. Mit sechs Jahren Festungshaft hat er auf dem Lauenburger Tor in Kolberg die romantische Schwärmerei seiner Jugend büßen müssen. Sein unverwüstlicher Humor half ihm über diese Zeit hinweg, und mit eiserner, wirklich bewundernswerter Konsequenz und zäher Beharrlichkeit — morgens um drei Uhr pflegte er aufzustehen — hat er in diesen Jahren die großen griechischen Dichter und Philosophen studiert und sich auf dem Gebiete der antiken Literatur ein solides und konkretes Wissen erworben, das man im übrigen vergeblich bei ihm suchen wird. Seine Vorliebe für das Komische führte ihn dann von den Alten zu Jean Paul und zum Studium der englischen Humoristen. 1831 kommt er nach Halle, wo er früher studiert und promoviert hatte und wo er jetzt eine Lehrerstelle an den Franckeschen Stiftungen annimmt. Sein unbescheidener Vorwitz und seine unpraktische Reformierungslust, die er einige Jahre später als Stadtverordneter inmitten eines Kollegiums von ängstlichen Spießbürgern ebenso vergeblich zur Geltung zu bringen versucht, machen Ihn bald mißliebig. Auch als Privatdozent der Philosophie an der Universität hat er kein Glück. Er doziert, anfangs im engen Anschluß an Jean Paul, Solger und Schleiermacher, über Ästhetik. Es ist die einzige philosophische Disziplin, von der er wirklich etwas versteht. Nicht nur F. Th. Vischer, selbst die zünftigen Hegelianer haben seine Schriften über die „Platonische Ästhetik" und die „Neue Vorschule der Ästhetik" als wissenschaftliche Leistungen anerkannt. Als Dozent aber vermag er sich keine Geltung zu verschaffen. Sein formloser, abstrakter, ungenießbarer Vortrag stößt allenthalben ab. Stand seine ganze Jugend bisher im Zeichen der Romantik — noch zu Beginn der 1830er Jahre hatte er sich für Schleiermacher begeistert —, so sollten die Jahre von 1833—37 für seine geistige Entwicklung von epochemachendem Einschnitt werden. Durch seinen geistvollen Freund Theodor Echtermeyer3 wird Ruge mit Hegel bekannt. Ihm gibt er sich jetzt rückhaltlos hin. Die Philosophie wird ihm die „Sonne des Geistes". Langsam aber reift in ihm der Gedanke — namentlich unter dem Eindrucke der Schriften von Strauß und © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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Feuerbach —, daß der Inhalt der Hegeischen Philosophie im Widerspruch stehe zu den religiös-politischen Zeittendenzen. Mit rückhaltloser Bewunderung dagegen bekennt er sich zu Hegels Logik und zu dem Prinzip der dialektischen Entwicklung. Dieses Prinzip, so wie er es verstand, gibt seinem Leben die Hemmungslosigkeit, die für die radikalen Junghegelianer typisch ist. Die „Trunkenheit des Begriffs der Freiheit und des absoluten Systems"4 jagt ihn in rastlosem Taumel von einer Wandlung zur anderen. Eine Reihe von formalen Allgemeinbegriffen wie Freiheit, Wahrheit, Humanismus begleiten ihn durchs Leben. Als fixe Ideen mit ständig wechselnder Inhaltsbedeutung kehren sie in all seinen Formulierungen solange wieder, bis er sie zu Tode gehetzt hat. Unwandelbar festgehalten hat er dagegen an der allgemein verpflichtenden Geltung der herrschenden Moralordnung. Wie hätte es auch anders sein können? Ein Mann wie Ruge hatte wohl Sinn für die einander aufhebenden und einander ablösenden Gegensätze intellektueller Prozesse, aber kein Verständnis für die Antinomien und tragischen Wirrnisse des Lebens. Die große und historisch wohl fruchtbarste Zeit seines Lebens waren die Jahre von 1838—41, die Jahre, in denen er in Gemeinschaft mit Echtermeyer die „Hallischen Jahrbücher" herausgab. In dieser Zeit war Ruge der anerkannte Führer der philosophisch-politischen Publizistik in Deutschland. Die Gründung der „Hallischen Jahrbücher" war, ebenso wie später die der „Preußischen Jahrbücher", eine kulturpolitische Tat. In ihren Anfängen waren die Jahrbücher, die in dem Verlage von Otto Wigand in Leipzig erschienen, weder ein ausschließliches Parteiorgan noch eine Fachzeitschrift noch eine Rezensionsfabrik wie die antiquierten Literaturzeitungen. Zu ihren Mitarbeitern gehörten die Hegelianer Strauß, Feuerbach, Vischer, Zeller, Hinrichs, Rosenkranz, Schaller, Vatke, aber auch Vertreter des Jungen Deutschland und der politischen Lyriker wie Heinrich Laube und Robert Prutz und eine Reihe bedeutender Fachwissenschaftler wie Mohl, Bluntschli, Droysen, Kugler, Moritz Haupt, Pott, ja anfangs sogar Heinrich Leo. Aber schon nach den ersten Jahren, als die Jahrbücher nicht mehr für Strauß, sondern für Feuerbach und dann ab 1841 für Bruno Bauer Propaganda machten, zogen sich die Gelehrten fast alle von der Mitarbeit zurück. Die Literaten beherrschten nunmehr das Feld, und in der Spätzeit der Jahrbücher hat mancher fade Schwätzer den Schutt seines kleinen Geistes in ihnen abgeladen. Anfangs war das anders. In Kritiken, Charakteristiken, Korrespondenzen und großen, universal angelegten Übersichten wurde eine Darstellung des zeitgenössischen Geistes in Kunst und Wissenschaft nicht nur angestrebt, sondern auch tatsächlich geliefert. Auf dem, was die Jahrbücher kritisch geleistet haben, ruht ihre bleibende geistige Bedeutung. Sie sind nicht nur eine hervorragende Quelle zur Geschichte ihrer Zeit, sondern selber ein Stück Geschichte. Sie verkörperten das Prinzip der Bewegung, und sie haben die theoretischen Mittel mit schaffen helfen, die schließlich die Mächte der starren Autorität unterhöhlt haben. Dessen war sich Ruge von Anfang an wohl bewußt. Wenn er auch zur Konkretisierung seiner abstrakten Spekulationen nicht gelangte, so durfte er doch, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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wenigstens zu Ende der 1830er Jahre, mit Recht Anspruch darauf erheben, am wirkungsvollsten die Hinwendung der philosophischen Ideen zum politischen und zum praktischen Leben verkündet zu haben. Die trotz aller philosophischen Kunstausdrücke urwüchsige Form, in der er seine Ideen vertrat, die mitreißende Kraft seiner agitatorischen Polemik, die packende Prägnanz seiner Formulierungen, sein beißender Spott, sein treffender Witz und sein glänzender Humor machten ihn über Nacht berühmt und gefürchtet. David Friedrich Strauß5 hat ihn treffend einen „norddeutschen Rüpel" genannt. Aber er gehört zu jenen Menschen, denen man die Sympathie nicht versagen kann, auch wenn sie sich noch so ungezogen und unmanierlich benehmen. Dieser große, breitschultrige, plumpe, polternde und dabei doch so gutmütige und treuherzige Pommer von der Insel Rügen, dem der Kampf Lebenselement war, teilte mit rücksichtsloser Brutalität seine Schläge aus. Wenn man die verwegenen Artikel liest, in denen er in Leo den hierarchischen Pietismus, in Tholuck den genialischen Mystizismus und in J . E. Erdmann die mißverstandene und populär gewordene Hegelsche Philosophie zu treffen suchte, dann wird man den Sturm der Entrüstung begreifen, den sein Auftreten, besonders in Halle, hervorrief. Ruges Selbstgefühl, das niemals klein war, nahm in diesen Jahren übersteigerte Formen an. Als sich die Neugierigen verlaufen hatten, die in den Hörsaal des nunmehr berühmt Gewordenen gedrängt waren, schrieb Ruge Januar 1839 erbost an Rosenkranz: „Ich lese keine Stunde wieder als Privatdozent und habe nichts dagegen, wenn dem Staat solch Stroh wie Erdmann und Konsorten lieber ist, als meine Person."6 Gar zu gern wäre er wenigstens Titularprofessor geworden. Daß er es nicht wurde, hat mit dazu beigetragen, ihn zur Opposition gegen den preußischen Staat anzutreiben. Zunächst hielt er es jedoch für angemessen, auch dem Minister Altenstein gegenüber, der das Jahrbücherunternehmen anfangs begünstigte, etwas großspurig aufzutreten: „Die Hallischen Jahrbücher sind eine literarische Erscheinung, der sich keine andere an die Seite stellen kann, und den Ruhm dieses Pioduktes habe ich mit freier patriotischer Vorliebe auch im Titel dieser Universität Halle zugewendet, die mich jetzt durch den Mund mir und der Welt und Nachwelt obskurer Namen — der Feindschaft anklagt. Seit die Jahrbücher bestehen, strömen viele Reisende hierher, um mich zu sehen, in den Ferien ist mein Haus fortwährend von fremden Gelehrten und Literaten besucht, besonders zieht es, wie weiland auch Jena und Weimar, jetzt hierher die jüngeren Talente, von denen viele einen bedeutenden Namen vererben werden."7 Trotz aller Schwächen war Ruge im Grunde doch ein durch und durch anständiger, lauterer Charakter. Ein tapferer Kämpfer, ein mutiger und rücksichtsloser Bekenner, ein Gesinnungs-, kein Interessenpolitiker, gehört er zu den recht seltenen Erscheinungen des deutschen Bürgertums, die über das Beteuern ihrer „idealistischen" Gesinnung, über moralisierende Reden und Proklamationen hinaus die Tat reden ließen. Er besaß den Mut zur Konsequenz, und er hat sein ganzes Besitztum seinen politischen Idealen geopfert: sein Vermögen, seine Existenz, den Frieden seiner Familie, den Heimatboden8. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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Mit der Wendung zum demokratisch-revolutionären Radikalismus und Internationalismus, wie ihn von 1841 ab die nunmehr „Deutschen Jahrbücher" vertraten, sank Ruges politische Bedeutung. Seine ins Allgemeine sich immer mehr verflüchtigenden Gedankengänge eilten seiner Zeit weit voraus. Mit seiner vorwärtsstürmenden unruhigen Natur mehr dem Seinsollen als dem Sein, mehr der Zukunft als der Gegenwart, mehr dem Prägen von Gedanken, Aufstellen von Forderungen und Programmen, Proklamieren von Manifesten als dem Selbsthandeln und praktischen Schaffen zugewandt, fehlte es ihm an der klaren Erkenntnis der nüchternen Wirklichkeit, an dem Augenmaß für das praktisch Erreichbare und Mögliche. Daß er die Lebenskraft der herrschenden dynastischen und den aggressiven Machtcharakter der aufstrebenden nationalistischen und demokratischen Mächte unterschätzte und allzu optimistisch auf den Sieg der Doktrin, der ethischen Postulate und der vom Gedanken der Gerechtigkeit erfüllten popularen und revolutionären Gewalten vertraute, wurde ihm zum Verhängnis. Wie aktuell auch heute manche seiner Gedanken erscheinen mögen, als praktischer Politiker war er von vornherein zur Erfolglosigkeit und zum Scheitern verurteilt. Mit der Unterdrückung der „Deutschen Jahrbücher" im Jahre 1843 war Ruge der Boden für eine fruchtbare publizistische Wirksamkeit in Deutschland entzogen. Er ging nach Paris, wo er in Gemeinschaft mit Karl Marx die berühmt gewordenen, in Deutschland damals verbotenen „Deutsch-französischen Jahrbücher"9 herausgab. Wenn er auch fortan in der Errichtung der demokratischen Republik, in der Überwindung des „Patriotismus" durch den „Humanismus", in der Schaffung des „Weltstaates" das zu erstrebende Ziel der Entwicklung sah und sich auch weiterhin um die Konstruktion utopischer Zukunftsformen abmühte, so hat er doch die Wendung zum proletarischen Sozialismus und Kommunismus nicht mitgemacht. Geistesmächtigere und mehr auf das Konkrete gerichtete Köpfe traten jetzt an seine Stelle und übernahmen die Führung des demokratischen Radikalismus. Es bedeutete nun wirklich „die Hinwendung des Gedankens zur Tat", die Morgendämmerung einer neuen Weltepoche, als Marx 1845 verkündete: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern."10 1846 kehrte Ruge nach Deutschland zurück. 1848 hielt er als Mitglied der demokratischen Linken seinen Einzug in die Paulskirche11. Hier stellte er am 22. Juli seinen bekannten Antrag auf allgemeine Abrüstung und Errichtung eines Völkerbundes12; hier trat er im Gegensatz zu dem großdeutschen Programm seiner Parteigenossen für das preußische Erbkaisertum ein. Durch seinen Aufenthalt in Paris, vollends aber durch das Scheitern der Revolution und den Anbruch der Reaktion hatte sich in Ruge eine tiefgreifende Wandlung vollzogen. Die Ohnmacht des auf sich selbst gestellten konstruktivspekulativen Denkens, die Diskrepanz von Theorie und Praxis war evident geworden. Der Junghegelianismus hatte Bankerott gemacht. Der Positivismus trat an seine Stelle. Ernüchtert und an seinem Vaterlande zunächst verzweifelnd verließ Ruge von neuem die Heimat. Die Zeit der inneren Sammlung und © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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Reinigung, die nun folgte, hat ihm reichen Gewinn gebracht. Sein Stil wurde fortan klarer, sein Denken konkreter, wirklichkeitsnaher und gegenwartszugewandter. In den letzten Jahrzehnten seines Lebens, die er in Brighton in England verlebte, hat er, besonders in den Schicksalsjahren der deutschen Einigung, eine rege publizistische Tätigkeit entfaltet. Sein Programm für die Lösung der deutschen Frage und im Zusammenhang damit auch für die Lösung des österreichischen Staats- und Reichsproblems gedieh allmählich zu immer größerer Klarheit und Entschiedenheit. Es gipfelte schließlich in den Forderungen: Krieg gegen Österreich, Umbildung Gesamtösterreichs in ein Donaureich verbündeter und freier Völker, Auflösung des deutschen Bundestages, Mediatisierung der Kleinstaaten durch Preußen, Proklamierung der Volkssouveränität, Zusammentritt eines deutschen Parlamentes in Berlin. Kurz entschlossen hat sich Ruge noch vor Königgrätz auf Bismarcks Seite gestellt, da er von ihm die Verwirklichung der Hegeischen Staatsidee in Gestalt eines freien deutschen Reiches auf demokratischer Basis erhoffte: „Folgen wir nicht der Laune, dem Ärger, sondern der Vernunft. Wer ihn uns auch bereitet hat, diesen Krieg, den wir brauchten, nehmen wir ihn auf — den Krieg gegen Österreich und den Bund, den Krieg der Einheit gegen die Zerrissenheit, den Krieg der Nation gegen die Fürsten, die Deutschland zerstört haben und sich seiner Wiedergeburt widersetzen, den Krieg der Freiheit gegen diese abergläubischen Barbaren und gegen diese kopf- und herzlosen Separatisten, diesen Krieg zur Befreiung dreier Völker, der Deutschen, der Italiener und der Ungarn."13 Die letzte große Wandlung in seiner politischen Entwicklung erfuhr Ruge seit 1875—76. Er erkannte den ideenarmen, die Freiheit bedrohenden Aufbau des Bismarckschen Reiches und wandte sich erbittert und ernüchtert von ihm ab. „Ruge wiederholt damit eine Entwicklung, die er ähnlich schon in seiner Jugend durchgemacht hat, daß er im bestehenden Staat die Verwirklichung der Hegeischen Freiheitsidee sieht, aber wenige Jahre darauf seiner Täuschung inne wird und im Namen dieser Idee den Kampf gegen den eben noch verherrlichten Staat aufnimmt."14 Nach diesem kurzen Ausblick kehren wir zu den „Hallischen Jahrbüchern" zurück. Vom Beginn ihres Erscheinens an bezeichnet Ruge als ihr Prinzip den Gedanken der Entwicklung und als ihr Arbeitsprogramm die Aufgabe, „zum ersten Mal vollständig das Selbstbewußtsein der Gegenwart zur freien Macht zu erheben". Der erste Jahrgang war noch im wesentlichen von dem Grundgedanken beherrscht, daß es die Aufgabe der Wissenschaft sei, „den Geist, also auch Religion und Staat zu erkennen, wie er ist und geworden ist, nicht wie er sein wird oder sein soll"15. Es war dies ein durchaus aufrichtig gemeintes Bekenntnis, nicht etwa eine Verbeugung vor den herrschenden Machthabern. Philosophie und Dogma, Freiheit und Autorität galten zwar der Form nach als wertverschieden, aber noch nicht als absolute Gegensätze. Wohl aber sah es die Philosophie als ihr Recht und ihre oberste Pflicht an, gegenüber der „Avancementsorthodoxie" das „scharfe Schwert des unerbittlichen Begriffs" zu schwingen und die dogmatische Wahrheit nicht unbesehen als Wahrheit hinzunehmen, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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sondern sie in neuer, begrifflich geläuterter Form selbständig aus sich vermittels der Dialektik zu erzeugen und sie als eine notwendige Stufe der Entwicklung aufzuweisen. Der erste Jahrgang der Jahrbücher war vorzugsweise der Diskussion der religiösen Streitfragen gewidmet, bei der die Apologie und Erläuterung der Schriften von D. Fr. Strauß naturgemäß im Vordergrund stand. Die große Aufgabe der spekulativen Philosophie und Theologie ist es, so erklärte Ruge, nach Hegels Vorbilde „an und für sich die Wahrheit zu begreifen und durch die Form der philosophischen Wahrheit die unwahre Form des Dogmas, die ewig nur Wahrheit sein soll, nie ist, zu zerbrechen, und den Geist, der in trüben Bildern und Vorstellungen gefangen sitzt, in sein lichtes Reich der Freiheit zu versetzen"16.
Mit dem Jahre 1839 wurde das anders. Da beginnt sich die Hegelapologetik der Jahrbücher zur Hegelkritik zu wandeln. Die „Praxis der Idee" wird allmählich das Ziel dieses antihegelschen Hegelianismus, der fortan immer mehr ein positivistisches Gepräge erhalten hat. Die „logischen Kategorien" sollen zu „realen Kategorien" ausgeweitet werden. So richtet sich denn die Kritik, die schon bald den Charakter eines hitzigen Kampfes annimmt, nicht gegen die logischen Voraussetzungen als vielmehr gegen die vermeintlichen praktischen Konsequenzen der Hegeischen Philosophie, gegen das fertige philosophische System, gegen seine historisch und individuell bedingte Gliederung, gegen seinen einseitig theoretischen, ruheseligen Geist, gegen die Fesseln der Dogmatik und gegen die empirische Wirklichkeit. Jede Stufe der Entwicklung gilt fortan als notwendig aufgehoben durch die folgende, die Vernunft als das Maß aller Dinge und als das allein Wirkliche. Schließlich wird, da alle substantiellen Mächte entwertet werden, das Individuum als der Träger der Vernunft zu dem wahrhaft Absoluten. Aus dem gründlichst mißverstandenen Hegeischen Prinzip der „absoluten Negativität" wird das Recht zur allseitigen Kritik deduziert. Alles Vergangene und Bestehende, auch Hegel selbst, dessen System einseitig rationalistisch aufgefaßt wird, hat sich vor dem Prinzip der entfesselten historischen und logischen Dialektik zu verantworten. Die Hegeische Philosophie, so heißt es jetzt, ist nicht das erreichte Absolute. Hegel hat sich nicht zu Ende gedacht, er hat sich selbst nicht richtig verstanden. Indem er seine Philosophie zur „königlich preußischen Staatsphilosophie", zur „Hof philosophie und Scholastik" herabgewürdigt und die „faule" Wirklichkeit mit der Vernunft gleichgesetzt hat, ist er sich selbst untreu geworden. Demgegenüber erschien es also durchaus richtig, wenn die Jahrbücher, wie Ruge in seinen Lebenserinnerungen später einmal gönnerhaft bemerkte, „ihn gegen sich selbst in Schutz nahmen"17. Die „richtig" verstandene Hegeische Philosophie kennt keinen Abschluß. Ihr Wesen ist Bewegung, Agitation, Handeln, Fordern, Gestalten; sie macht Partei und drängt zur Praxis und ihre Aufgabe ist die Durchdringung der Wirklichkeit mit den ewigen Gedanken der Freiheit und der Entwicklung. An allem weist sie die Vergänglichkeit auf. „An die Stelle des Systems der abstrakten und theoretisch absoluten Entwicklung tritt das System der konkreten Entwicklung, welches überall den Geist in seiner Geschichte erfaßt, und ans Ende jeglicher © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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Geschichte die Forderung ihrer Zukunft setzt, als religiöser oder gewissenhafter Trieb die Verwirklichung des Gewußten zum praktischen Pathos des Subjekts macht, aus der faulen Beschaulichkeit des Hegelianismus die Fichtesche Tatkraft wieder auferweckt und die Polemik gegen das Sollen, gegen den Liberalismus, gegen den wahren Rationalismus, gegen die durchgeführte Aufklärung verwirft, denn das inhaltsvolle Sollen der sich selbst erkennenden geschichtlichen Gegenwart ist das göttliche Sollen, die Dialektik der Geschichte, die gegenwärtige Zukunft, die nur dem verborgen ist, welchen sein böser Dämon mit Blindheit schlägt, um ihn zu verderben, dem Widersacher der Geschichte und der Freiheit."18 So dekretiert Ruge, daß die gegenwärtige Vernunft, die das Resultat der ganzen bisherigen vernünftigen Entwicklung ist, zur Negation dieser Entwicklung und zur Position der Zukunft wird. Der bloß theoretische Idealismus hat der Politisierung und Rationalisierung der Welt zu weichen. Die allmächtige Idee wird durch ihr diktatorisches Soll die empirische Wirklichkeit umgestalten, der Begriff wird zur Sache werden. Die absolute Theorie erscheint schließlich zugleich als die beste Praxis. Denn daß die Vernunfttheorie die schöpferische Gestaltungskraft habe, Geschichte zu machen, daß der tatsächliche Verlauf der Entwicklung der dialektischen Konstruktion entsprechen werde, daß der Begriff die Wirklichkeit einzufangen vermöge, daran hat Ruge nicht gezweifelt, handelte es sich hier doch lediglich um eine Folge seines philosophischen Ausgangspunktes. „Die Philosophie wird zur Gesinnung, die Gesinnung zum Charakter und der Charakter zur Tat werden."19 Die mit Pathos erfüllte Logik des „absoluten Idealismus" erhebt sich damit zur Höhe ethischer Begeisterung. Bei aller Tendenz, die empirische Wirklichkeit in die Fesseln seiner dogmatischen Konstruktionen zu schlagen, und bei aller Überschätzung der bloßen Ideologie, wußte Ruge doch sehr wohl, daß zur Verwirklichung von Vernunftidealen nicht nur ein eiserner Wille, sondern auch reale Macht gehört. Daß „die letzte und höchste Freiheit, die des Denkens" ohne politische Freiheit nicht möglich ist, wurde immer mehr der zentralste seiner Kerngedanken. Wie die politische Meinungsbildung und die Anfänge der politischen Parteien im Vormärz vorzugsweise von literarischen Kämpfen und Parteiungen ihren Ausgang genommen haben, so hat auch Ruge vom Boden der Philosophie, Theologie und modernen Literatur aus20, die er in den Jahrbüchern Revue passieren ließ, den Weg zu politischen Problemen gefunden. Ruges politische Leitsätze sind die Konsequenzen seiner logischen Prämissen und seiner philosophischen Dogmen; die Einsicht in seine dehnbaren Denkkategorien bildet daher die unerläßliche Voraussetzung für das Verständnis und die Beurteilung auch seines politischen Programms. Bereits 1838 begann in den damals „orthodox preußisch" gesinnten Jahrbüchern ein ernstes und eindringliches Werben um den preußischen Staat. Schon zu dieser Zeit war Ruge sogar so weit gegangen, zu den großen innerpolitischen Tagesfragen offen oder verkappt Stellung zu nehmen. So war 1838 eine ganze Aufsatzreihe dazu bestimmt, für den preußischen Staat in der Frage der gemischten Ehen und des Kölner Kirchenstreites eine Lanze zu brechen. Um © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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Görres' „Athanasius" konzentrierte sich der Streit in den Jahrbüchern, der eine erwünschte Gelegenheit bot, die Gefährlichkeit romantisch-katholischer Staatsprinzipien aufzuzeigen und die Jahrbücher gegen den Vorwurf der revolutionären Gesinnung zu verteidigen, den zuerst Heinrich Leo und dann bald Hengstenberg und die Wochenblattspartei erhoben hatten. Preußen, so deklamierte Ruge, ist Geist von unserm Geist. Es ist der Staat des Protestantismus, der Reformation, der wahren Aufklärung, der Hort der freien Wissenschaftlichkeit. Berlin ist das „Zentrum protestantischer Kultur"21. Protestantismus ist jetzt Philosophie, Philosophie ist Freiheit und Entwicklung, Preußen verkörpert den freien Geist und, da ihm das Prinzip der freiwilligen Entwicklung immanent ist, wird ein revolutionärer Umsturz unmöglich gemacht. Man bemerkt die Verwandtschaft dieser Gedanken mit einzelnen Ideen in Pfizers „Briefwechsel zweier Deutschen". Auch dort war Preußen, im Hinblick auf die Zeit der Reformen und der Befreiungskriege, als der Staat erschienen, „welcher seine Kraft und Größe lediglich dem Prinzip der Bewegung und der Intelligenz verdankt". Auch dort hatte es geheißen: „Freiheit und Aufklärung gehen Hand in Hand, und alles, was die Intelligenz niederdrückt, schwächt auch die Macht des preußischen Staats." 22 Und auch dort war der Glaube, daß eine Zeit kommen werde, wo die Philosophie vom Katheder herabsteige, um zu handeln und zu vollbringen; „wo sie zur Tat wird und die Welt beherrscht"23. Aber was bei dem feinen Denker Pfizer, im Gewande geschichtsphilosophischer Konstruktion, als Hoffnung, Glaube, Möglichkeit, persönlich-individuelle Überzeugung erschienen war, das wird bei dem ungestümen, groben Ruge zum Begriff, zur starren Doktrin, zum allgemeine Geltung beanspruchenden Dogma und Postulat, zum Terrorismus der Freiheit. Wie mit dem Jahre 1839 die Stellung der Hallischen Jahrbücher zu Hegel sich wandelt, so genau parallel auch die zum Preußentum. Wenn Ruge auch an Hegels Lehre von der Selbstherrlichkeit und dem hohen sittlichen Wert des Staates „an sich" festhält, so werden doch jetzt die Idee und das Wesen des preußischen Staates scharf geschieden von seinem gegenwärtigen mangelhaften und unhaltbaren Zustand. Das gegenwärtige Preußen erscheint nun nicht mehr als der „freie Staat", sondern als der „Polizeistaat". Die absolute Monarchie hatte einstmals ihre historische Berechtigung. Da sie aber keiner höheren Ausbildung mehr fähig ist, hat sie ihre Mission bereits erfüllt und muß der nächsten Entwicklungsstufe, dem Konstitutionalismus weichen. Erst indem der preußische Staat sich vollkommen mit dem protestantischen Prinzip der Freiheit durchdringt und an das konstitutionelle Prinzip sich anschließt, indem er alles, was diesem Prinzip widerspricht, d. h. alles „Katholische", von sich streift, „kann dieser Staat uns werden, was wir so sehr an ihm zu gewinnen uns sehnen, das Haupt und der Mittelpunkt des europäisch bedeutenden freien Deutschlands. Das ist Preußens großstaatliche Mission, das wäre unsere Sicherheit und Emanzipation"24. Solange jedoch der preußische Staat eine „Hierarchie" ist und die Bürokratie die Priester dieser Hierarchie sind, so lange er nicht wagt, seine weltgeschichtliche Aufgabe zu lösen, nämlich als Zwingherr © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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zur Deutschheit aufzutreten und die Hegemonie über Deutschland zu verwirklichen, ist er vorerst nur der „problematische Staat". So liegen denn Zukunft und Heil des Vaterlandes in den Händen der preußischen Opposition. Immer rückhaltloser, diktatorischer und brüsker wird jetzt, da die Regierung Friedrich Wilhelms IV. die auf sie gesetzten Hoffnungen grausam enttäuscht hat, der entschiedene Radikalismus proklamiert. „Alle Verwaltungsänderungen, auch die besten führen zu nichts, — es bedarf einer völligen Systemänderung."25 Der freien Form der Wissenschaft, dem fortgebildeten Rationalismus, entspricht der freie Staat: „Wissenschaft ohne politische Freiheit ist ein Unding."20 Als die Jahrbücher im Sommer 1841 aus Preußen weichen mußten, entfalteten sie von Sachsen aus, das nach der Julirevolution seine Reformzeit erlebt hatte, eine immer hemmungslosere Agitation. Mit Windeseile trieben sie dem Abgrunde entgegen, da sie zu konkreten Bestimmungen nicht gelangten und sich von der empirischen Wirklichkeit immer weiter entfernten. Als Ruge in der „Selbstkritik des Liberalismus" das charakteristische Wort sprach: „Man darf das Vertrauen zu dem Terrorismus der Vernunft nie verlieren, wenn man nicht den Boden unter seinen Füßen wegstoßen will" 27 , bedeutete das nicht mehr als eine politische Bankerotterklärung. Der Bruch zwischen Ideal und Wirklichkeit war unheilbar geworden28. „Terrorismus der Vernunft", rücksichtslose, unbedingte Herrschaft des Verstandes, bezeichnet das Wesen der Rugeschen Geisteshaltung. Sein philosophischer Dilettantismus, sein grobschlächtiger, auch in der Politik schablonenhaft denkender Geist zeigen sich am deutlichsten in seiner Begriffsbildung, die er zu höchster Vollendung gebracht zu haben glaubte. Wenn man ihn recht verstehen und gerecht beurteilen, d. h. zugleich seinen Anspruch an seiner Leistung messen will, dann muß man in den sauren Apfel beißen und ihm bis in die Schlupfwinkel seines Denkens zu folgen suchen29. In der Kunst, sich in orakelhaft schillernden Redensarten zu bewegen, die den Kern seiner Gedanken verschleiern, hat es Ruge zu einer ungewöhnlichen Virtuosität gebracht. Sein mitunter bis zur Karikatur gesteigerter hegelianisierender Jargon entsprang nicht nur einer persönlichen Vorliebe, sondern auch der Absicht, der Zensur ein Schnippchen zu schlagen und sie womöglich auf eine falsche Fährte zu locken, was ihm denn auch oft genug gelungen ist. Um zwei Pole kreisen Ruges Gedanken, um die Begriffe Aufklärung und Romantik. Sie sind für ihn letzte Einheiten, die geradezu den Charakter von Kategorien gewinnen. Die Begriffe Aufklärung und Romantik haben bei Ruge einen dreifachen Sinn. Erstens bezeichnen sie logische Konstruktionen zeitloser, idealtypischer Art; als solche erscheinen sie als die metaphysischen Prinzipien des Guten und Bösen, an denen Geschichte, Leben und Politik, überhaupt alles Wirkliche, Gewesene, Werdende, Seiende und Kommende zu messen sind. Zweitens bezeichnen sie empirische Daseinsformen, die großen im schroffen Gegensatz zueinander stehenden Tendenzen des gegenwärtigen, wirklichen Lebens; drittens verflossene Epochen der Geschichte. Begriffe sind zugleich logische und © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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historische Bestimmtheiten, Bestimmtheiten in der Form der Allgemeinheit und in der Form der Existenz, des Allgemeingültigen und des Historisch-Individuellen, das ist das Grundprinzip der Rugeschen Begriffsbildung. Indem er nun aber, da es mit theoretischen Mitteln den bisherigen Primat der Theorie durch den Primat der Praxis zu überwinden gilt, die Forderung aufstellt, daß die logischen Kategorien den historischen untergeordnet werden sollen, gelangt seine Begriffsbildung — und das ist ihr eigentlichstes, im Gegensatz zu Hegel stehendes Wesen — nicht mehr zu einer Synthese, sondern löst sich in einem unendlichen Progreß auf. Man gewinnt eine Vorstellung von der leeren Allgemeinheit und der fließenden Inhalts- und Umfangsbedeutung der Begriffe Aufklärung und Romantik, wenn man, auf der Grundlage von Ruges Jahrbücheraufsätzen bis zum Jahre 1841, das Wichtigste von dem zusammenstellt, was er als unter die Begriffe Aufklärung und Romantik fallend bezeichnet hat: Aufklärung Protestantismus wahres Christentum (Humanismus) Verstand, Vernunft Rationalismus Philosophie Wissenschaft Klarheit männlicher Geist strenge Erkenntnis Entwicklung Fortschritt Aktivismus fließende Dialektik Revolution Liberalismus Gegenwart Freiheit
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Romantik I Katholizismus falsches Christentum Gefühl, Gemüt Mystizismus Gemütsglaube Phantastik weiblicher Geist subjektive Willkür Rückschritt (Stillstand) Indifferenz (Quietismus) Fixierung der Idee Restauration Absolutismus Mittelalter Autorität
Jeder dieser Begriffe hat wieder seine besonderen Merkmale; so beispielsweise der Begriff der Freiheit in der besonderen Form der politischen Freiheit die folgenden (NB. im Jahre 1841!) 30 : Volksvertretung, Öffentlichkeit, Preßfreiheit, Geschworenengerichte, Nationalverteidigung, Liberalismus. Mit Hilfe seiner gelenkigen, logisch zum gut Teil disparaten Kategorien war es Ruge möglich, mit allen auftauchenden Problemen schnell fertig zu werden. Scheint eine empirische Erscheinung das eine oder andere der bezeichneten Wesensmerkmale an sich zu tragen, so genügt das, um sie teilweise, meist aber ganz unter den Begriff der Aufklärung, bzw. der Romantik fallen zu lassen. Auch das muß noch bemerkt werden, daß Ruge die in Begriffen fixierten Wesensmerkmale häufig synonym mit den beiden übergeordneten Allgemeinbegriffen gebraucht. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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Man denke nur an den Titel seines berühmten Romantikmanifestes „Der Protestantismus und die Romantik". Bereits 1842 bildet dann aber der Protestantismus nicht mehr einen Gegensatz zur Romantik, sondern erscheint selber als eine romantische Erscheinung, der auf der Seite der Aufklärung der „Humanismus" entspricht. Die Rangordnung der Werte, der die verschiedenen Wesensbestimmungen und Tatbestände unterworfen sind, verschiebt sich beständig. Durch Ruge sinkt die Dialektik zu einem bloßen Formelspiel herab, das viel dazu beigetragen hat, die Hegelsche Philosophie in Mißkredit zu bringen. Die Fähigkeit, alles, was sie nur wollte, beweisen und etikettieren zu können, mußte sie erkaufen mit logischer Unnahbarkeit und einer ständig wachsenden Entfremdung von Wirklichkeit und Geschichte. Aber wie bedeutungslos auch immer der philosophische Ertrag und Gehalt von Ruges Spekulationen sein mag, eine erhebliche historische Bedeutung behalten sie durch die praktische Wirkung, die sie geübt haben. Es lag in der Konsequenz von Ruges unhistorischem Denken, daß er der Inhaltsleere und der uferlosen Umfangsweite seiner Begriffe durch das Mittel der Definition abzuhelfen sucht. Man höre nur — um von diesem doktrinären Dogmatismus eine Vorstellung zu bekommen — folgende Definition der Romantik, die zu Ruges Auffassung von der historischen, eigentlichen Romantik hinüberführt: „Diesen ganzen Kreis der fixen Idee, des unfrei gewordenen Freiheitsprinzipes der Reformation, den Kreis, der die Idee, wie es ihm gemütlich ist in der Willkür des Subjekts, teils als Gemüts-, teils als Reflexionsbewegung fixiert, und ihren objektiven, sowohl historischen, als wissenschaftlich methodischen und künstlerisch-gesetzlichen Prozeß nicht respektiert, — diesen ganzen Kreis also haben wir, nicht ohne Veranlassung seiner eigenen Koryphäen, die Romantik genannt."31 Erst zum Teil zwar hatte die Romantik für Ruge wahrhaft historischen Charakter gewonnen. In Eichendorff, Immermann, Rückert z. B., in den politischreligiösen, den pietistischen Romantikern Tholuck, Hengstenberg, Leo, Menzel, Jarcke, in den Jungdeutschen und in den „Hegelianern mit dem romantischen Zopf"32 schien sie ihm noch vollauf lebendig und gegenwärtig. Anders stand es mit der historischen Aufklärung. Sie war ihm, vom theologischen Rationalismus abgesehen, wirkliche Vergangenheit, die allerdings nur so weit der Betrachtung wert sei, als sie für die Gegenwart und ihre intellektuelle Beherrschung nutzbar gemacht werden könne. Die Stellung, die sie in seinem Geschichtsbild einnimmt, hat der junge Kuno Fischer so formuliert: „Die Reformation ist dabei stehen geblieben, den Menschen durch seinen Glauben zu rechtfertigen. Die Konsequenz dieser einseitigen Befreiung ist, die Welt durch den Menschen zu rechtfertigen. Dieser Fortschritt geht über das protestantische Bewußtsein des 16. und 17. Jahrhunderts hinaus: er ist die Aufklärung des 18. Jahrhunderts."33 Die „historische" Aufklärung, so meinte Ruge anfänglich, ist über die subjektive Willkür nicht hinausgekommen, sie ist nicht zur Versöhnung mit dem „objektiven" Geist gelangt. Diese Einseitigkeit zu überwinden, ohne den gött© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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lichen Rationalismus zu opfern, ist die Aufgabe der „Hallischen Jahrbücher". Die „historische" Aufklärung ist nur das Mittel zum Zweck der „wahren" Aufklärung, die darauf ausgeht, die Freiheit mit der Autorität zu versöhnen. Sie ist, wie er es 1838 ausdrückte, „das Sichwissen der Vernunft im Staate sowohl als im Dogma"34. Von dem Augenblick aber, wo nicht mehr alles wirklich geltende Gesetz und Dogma als Vernunft zu erweisen war, sondern wo die Souveränitätserklärung des philosophierenden Ich erfolgte, machte sich die „wahre" Aufklärung die Einseitigkeit der „historischen" zunutze und entwickelte sich zur „absoluten Monarchie der selbstbewußten Vernunft". „Im ganzen Reich der Wirklichkeit", so hieß es 1840 in den Jahrbüchern, „im Himmel und auf Erden, in Kirche und Staat, Sitte und Religion, Gesetz und Herkommen soll ihr C'est moi ertönen und sich durchsetzen"35. Was die Reformation begann, indem sie das Recht und die Macht des eigenen Gewissens und Wissens begründete, was die „historische" Aufklärung als die „Reformation der Reformation" fortsetzte, was durch die Französische Revolution Wirklichkeit wurde, was Voltaire und Rousseau als die „großen Vorbilder"36, was die deutschen Klassiker als die Apostel des Freiheits- und Humanitätsgedankens, was der „eigentliche" Hegel, der „große Rationalist", der „tiefsinnige Aufklärer der historischen Hieroglyphen"37 geleistet, das hat die „wahre" Aufklärung, der spekulative Rationalismus, die selbstgewisse und nur sich selbst anerkennende Vernunft, die „Autonomie des menschlichen Geistes", d. i. die Revolution, zu vollenden und zu verwirklichen38. Dieser „neue Idealismus" ist „in Wahrheit aber nichts weiter als die notwendige Konsequenz der Kantischen Autonomie des Willens, des Fichteschen sich selbstbestimmenden Ichs und der Hegeischen Auslegung dieser sich selbst bestimmenden Intelligenz, d. h. der Dialektik des Begriffs, sowohl im reinen Selbstbewußtsein als im Geist (Staat und Geschichte)"39. An seinen Sieg knüpft sich der Fortschritt in der Geschichte. Was ihm widerspricht, hat nur mehr noch eine begriffswidrige Existenz. Mißt man den Gegensatz der Aufklärung, die Romantik, an dieser obersten Norm, so ist ihr Wesen leicht zu konstruieren. Sie ist unvernünftig, subjektivistisch, willkürlich, phantastisch, mystisch, weibisch und, trotz ihres protestantischen Ursprungs, antiprotestantisch. Denn indem sie das subjektivistische Freiheitsprinzip der Reformation, das ihren historischen Ursprung bildet, nicht gebändigt hat durch den „Geist" und den „Begriff", ist sie über die „genialische" Willkür des seiner phantastischen Laune sich hingebenden Subjekts nicht hinausgekommen. Sie ist ein auf die Spitze getriebener Individualismus und Ichkult, aber — und das ist das Paradoxe ihrer Erscheinung — sie ist zugleich dogmengebunden, „fixiert", irreal, quietistisch, reaktionär. Weil die Romantiker den Fortschritt zur „wahren Freiheit" leugnen, weil sie sich vom realen Leben abwenden und sich in der Sehnsucht nach „spiritueller Freiheit" verzehren, sind sie schließlich reaktionär und dogmengläubig geworden. In dem „Manifest" über den „Protestantismus und die Romantik. Zur Verständigung über die Zeit und ihre Gegensätze"40 hat Ruge diese Thesen entwickelt. Die ganze Geistesgeschichte der letzten fünf Jahrzehnte wird hier als © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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ein Abfall von der Aufklärung charakterisiert. Der Zweck des Manifestes war von Anfang an ein politischer. Die Romantik sollte literarisch und moralisch vernichtet werden, ehe sie förmlich die Herrschaft in Staat und Kirche an sich risse41. Demgemäß richtete sich die Polemik weniger gegen die romantische Dichtung als vielmehr gegen die Dichtung der Romantiker, gegen den romantischen Geist und die romantischen Ideen, „das romantische Prinzip": den „Romantizismus". Für Ruge war die Romantik der große Topf, in den er alles hineinwarf, was ihm geistig und politisch mißliebig war. So konnte er vier Epochen der Romantik unterscheiden, von denen alle zwanzig Jahre die eine die andere ablöst. Erstens die Progonen der Romantik Jacobi, Hamann und die Stürmer und Dränger seit 1770; zweitens die eigentlichen Romantiker, Gebrüder Schlegel, Tieck, Wackenroder, Werner, Steffens, Creuzer, Gentz, Adam Müller, Haller, Schubert, Brentano, Arnim seit 1790; drittens seit 1810 die Epigonen Uhland, Kerner, Kleist, Chamisso, Eichendorff, Schenkendorf, Rückert, Varnhagen, E. Th. Hoffmann; neben diesen ästhetischen Epigonen stehen die Politiker und Praktiker Görres, Jahn, Leo, Hengstenberg, Tholuck, Menzel, Jarcke usw. Als vierte und letzte Epoche, die mit der Julirevolution beginnt, schließt sich die französierende Romantik an, das Junge Deutschland. Hierher gehört auch der Neuschellingianismus und der Althegelianismus. Mit dem Romantikmanifest erreichte Ruge den Gipfel seiner publizistischen Wirksamkeit. Gegenüber Heinrich Heines bedeutendem Pamphlet über die „Romantische Schule", das 1836 zum Abschluß kam, und gegenüber der Romantikcharakteristik, die in den 1840er Jahren Schlosser in der „Geschichte des 18. Jahrhunderts" und Gervinus in der „Geschichte der poetischen Nationalliteratur der Deutschen" gegeben haben, ist die Folgewirkung des Manifestes unvergleichlich viel größer gewesen. Gervinus' knorriges Urteil und moralisches Pathos erscheint maßvoll und gerecht im Vergleich mit der ins Bodenlose gesteigerten Parteilichkeit der Ruge-Echtermeyerschen Artikel. Es war die politische Leidenschaftlichkeit und die aufreizende Demagogie, die diesen Artikeln einen so breiten Resonanzboden verschafft hat. Man überhörte das Wortgeklingel, man übersah die begrifflichen Konstruktionen, man hielt sich an den Kern, an die prägnanten Werturteile. Auf Jahrzehnte hinaus ist die vulgärliberale Romantikauffassung durch das Manifest nicht nur auf das stärkste beeinflußt, sondern geradezu bestimmt worden. Tiefgreifenden Wandel haben hier nicht Julian Schmidts und Hermann Hettners Romantikstudien geschaffen, sondern erst Hayms „Romantische Schule" und Diltheys „Leben Schleiermachers". Seitdem hat eine intensive Beschäftigung mit der Romantik eingesetzt. Recht eigentlich in Mode gekommen aber ist sie erst in neuester Zeit. Demgegenüber an die zwar einseitig rationalistische und oft beschränkte und verständnislose Romantikkritik der „Hallischen Jahrbücher" zu erinnern, dürfte keine ganz unzeitgemäße Aufgabe sein. Fanatischer Haß hat Ruges Blick getrübt, aber er hat auch seinen Blick geschärft. So hinfällig und irrig auch seine abstrakten geschichtsphilosophischen Konstruktionen sein mögen, so völlig liederlich und unwissenschaftlich auch die Art seiner Forschung sein mag, von dem inhaltlichen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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Kern seiner Gedanken, der hier nur leise gestreift werden konnte, bleibt ein Teil als wertvolles Vermächtnis erhalten42. Als Ausdruck für das Erwachen der politischen Opposition der jungen, zur Herrschaft strebenden Klassen, als ein Vorbote künftiger revolutionärer Erschütterungen nehmen die ,,Hallischen" und „Deutschen Jahrbücher" innerhalb der vormärzlichen Publizistik eine zentrale Stellung ein. Thronend über der realen Wirklichkeit, in theoretisch-doktrinären, bis zur äußersten logischen Konsequenz vorwärtsschreitenden Spekulationen sich erschöpfend, voll kindlichen Glaubens an das Zustandekommen einer großen, von Tatkraft und Opferbereitschaft erfüllten Volksbewegung, hat es Ruge allen Ernstes für möglich gehalten, mit seinen Jahrbüchern allmählich nicht nur das Werk der theoretischen Befreiung vollbringen, sondern damit zugleich die politisch noch schlummernden Massen des Bürgertums mit einer neuen Gesinnung erfüllen, zur entschiedenen Opposition, zum parteimäßigen Zusammenschluß und schließlich zur staatsumwälzenden revolutionären Tat aufrütteln zu können. Dem politisierenden Junghegelianismus erschien die Geschichte als ein vernünftiger Prozeß, der der Verwirklichung der politisch-demokratischen Freiheit zustrebt. So wie die Verhältnisse in Deutschland damals lagen und in der Folgezeit sich entwickelt haben, mußte dieser Glaube, der die Perspektive auf eine große, schicksalshafte Wendung der deutschen Geschichte eröffnete, als ein Traumgebilde erscheinen. Für den Epigonen ist es nicht schwer, in Ruge den doktrinären Utopisten und ideologischen Optimisten zu erkennen. Die von den Jahrbüchern proklamierte „Praxis der Idee", d. h. die Bewegung der bürgerlichen Massen im Sinne der Theorie, lag noch in weiter Ferne und rückte durch das Mißlingen der Revolution von 1848, die den revolutionsscheuen und revolutionsängstlichen Geist des deutschen Bürgertums erst vollends offenbar machte, durch den Sieg Bismarcks und durch das Heraufkommen des klassenbewußten Proletariats in immer weitere Ferne. Nicht allein das historische Milieu mit seiner zähen Lebenskraft, schon der ganze Ton und das recht hoch gespannte geistige Niveau der Jahrbücher, die begrifflichen Abstraktionen, die orakelhaften Spekulationen, das Schweben über den Dingen, standen einer Wirkung auf die Massen hindernd entgegen. Nicht einmal in den breiten Kreisen der „Gebildeten" haben die Jahrbücher nennenswerte Resonanz zu finden vermocht. Gerade gegen diese Gebildeten, gegen die „Philister", die in der geruhsamen Stille ihrer privaten, wirklichkeitsabgewandten Existenz zu erstarren und über dem ästhetischen Schwelgen in romantischen und philosophisch-spekulativen Ideen das öffentliche Leben zu vergessen drohten, richtete sich ja mit die Kritik der Jahrbücher43. Die starke, ja mächtige Wirkung, die die Jahrbücher — wofür eine Fülle von beweiskräftigen Zeugnissen vorliegen — unzweifelhaft geübt haben, beschränkte sich im wesentlichen auf die geistig bewegliche, neuerungslustige, aufwärtsstrebende Jugend der gebildeten und besitzenden Schichten, aus der sich dereinst die Führer der liberal-demokratischen Bewegungsparteien rekrutieren sollten. Gerade diese junge Generation, für die die Revolution von 1848 mit allen ihren Konsequenzen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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das entscheidende, gestaltbildende und richtungweisende Erlebnis werden sollte, ist es dann gewesen, die der liberalen Bewegung in Deutschland schließlich das Genick gebrochen hat. Zwei große, jahrzehntelange planmäßige Arbeit erfordernde, von den Jahrbüchern, wenn auch in unzureichender, wirklichkeitsfremder, an der konkreten Situation vorbeisehender Weise versuchte Möglichkeiten boten sich dem deutschen Liberalismus: entweder mit den herrschenden Gewalten zu einer durchgreifenden Verständigung zu gelangen, die ihm einen maßgeblichen Anteil an der Machtverteilung sicherte und zu einer Verschmelzung von Staatsmacht, Kultur und Volk führte, oder aber die Massen allmählich zu revolutionieren, an das Bürgertum durch soziale Zugeständnisse zu fesseln, den Boden für radikalrevolutionäre Taten zu bereiten und mit ganzer Kraft auf den Sturz der regierenden Mächte hinzuarbeiten. Jeder dieser Wege ist versucht, aber keiner ist mit Energie, Konsequenz, unerschrockenem Mut und politischem Geschick zu Ende gegangen worden. In leeren Drohungen, moralischen Protesten und revolutionär klingenden Phrasen sich erschöpfend, den Weg des „Juste-Milieu" nicht verlassend und schließlich nach 1866 und 1870 im „Götzendienst des Erfolgs" sich selbst und seine alten Ideale vom nationalen Volkstaat aufgebend, wurde aus der „Praxis der Idee", der in der Abstraktion stecken gebliebenen Theorie der „Hallischen" und „Deutschen Jahrbücher", bei dem deutschen Liberalismus die Parole: „Ruhe ist die erste Bürgerpflicht!", bei Marx und Lassalle dagegen die Revolutionierung des Proletariats. Politisches Genie, wahrhaftes Heldentum, die Entschiedenheit und mitreißende Kraft der großen schöpferischen Persönlichkeit ist in den Reihen der Liberalen nicht zu finden. Hierauf und damit zugleich auf ihrer von Haus aus unentschiedenen, lavierenden, mit dem Feuer nur spielenden, den Mut zur Tat nicht findenden Taktik beruht die Tragik, die Schwäche und zugleich der Mangel an „Realpolitik", die für die Geschichte des deutschen Liberalismus charakteristisch geworden sind. Die Machthaber in Preußen, der Monarch und die hohe Ministerialbürokratie, haben frühzeitig die Gefahr erkannt, die ihnen von dem Jahrbücherunternehmen drohte. Sie erblickten in ihm das Symptom für eine Bewegung, die das monarchische Prinzip zu untergraben und den altpreußischen Staat dereinst vielleicht einmal aus den Angeln zu heben drohe. Mit der ganzen Macht der ihnen zur Verfügung stehenden Polizei- und Zensurgewalt haben sie der ihnen drohenden Gefahr begegnen zu müssen geglaubt44. Bis zum Regierungsantritt Friedrich Wilhelms IV. zwar hatten die Jahrbücher dank der Gönnerschaft des Ministers Altenstein im wesentlichen freies Spiel. Selbst das preußische Oberzensurkollegium stand ihnen anfangs ausgesprochen günstig gegenüber. So hatte es im Juni—Juli 1838 sogar einen für das „Politische Wochenblatt" bestimmten Aufsatz beanstandet, der den Mitarbeitern der Jahrbücher vorwarf, daß ihre Tendenz trotz einer scheinbar wissenschaftlichen Form eine „auflösende, unchristliche, unruhige, jungdeutschliche" sei und auf „Kirchenzerstörung, Christenverfolgung, Freiheitstrunkenheit und Fleischesanbetung hinauslaufe"45. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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Unter Friedrich Wilhelm IV. wurde die Stellung zu den Jahrbüchern eine andere. Auf Grund eines an den König gerichteten Berichtes des Ministers v. Rochow vom 26. Februar 1841, der die Jahrbücher als eine Gefahr für die öffentliche Gesinnung bezeichnete und ihren Geist als einen Geist der Flachheit, Frechheit, Auflösung und Zügellosigkert charakterisierte46 erging am 11. März eine königliche Kabinettsorder, wonach die Jahrbücher fortan entweder in Halle gedruckt und der kontrollierenden Behörde unterworfen oder fortan in Preußen verboten werden sollten. Ruge quittierte diese Drohung bekanntlich mit seinem Umzug nach Dresden und mit der Umwandlung der „Hallischen" in die „Deutschen Jahrbücher". Zur Rechtfertigung der kgl. Kabinettsorder gab Altensteins Nachfolger Eichhorn in den Akten die Erklärung ab, es liege am Tage, „daß die Herausgeber der fraglichen Zeitschrift von dem Standpunkte einer hohlen philosophischen Reflexion aus Religion und Kirche wie die Verwaltungsgrundsätze und die Politik des preußischen Staats einer unbescheidenen und anmaßenden Kritik mit großer Keckheit unterwerfen und dadurch bei dem teilweise nur zu sehr zu philosophisch-politischen Abstraktionen sich hinneigenden deutschen Publikum das so wünschenswerte Vertrauen auf die Einsicht und Weisheit, wodurch tatsächliche Zustände und bestehende Verhältnisse allein gefördert werden können, untergraben". Als dann Ende des Jahres 1841 das preußische Oberzensurkollegium schärfere Maßregeln gegen die Jahrbücher verlangte, entspann sich ein Schriftwechsel über die zu ergreifenden Maßnahmen zwischen dem Minister des Unterrichts, dem Minister des Innern und der Polizei und dem Minister der auswärtigen Angelegenheiten. Aus taktischen Gründen, um Preußens Ansehen in der Öffentlichkeit nicht zu schaden — durch die Zensurinstruktion vom 24. Dezember 1841 war ja bedingte Preßfreiheit gewährt worden —, sprach sich Eichhorn dagegen aus, daß die preußische Regierung die Unterdrückung der Jahrbücher beim Bundestage beantrage. Sein Vorschlag, auf diplomatischem Wege auf die sächsische Regierung einen Druck auszuüben und sie zur verschärften Anspannung der Zensur anzutreiben, wurde in die Tat umgesetzt. Die sächsische Regierung hat diesem Ersuchen stattgegeben und nach mehrfachen Zusammenstößen mit der Redaktion die „Deutschen Jahrbücher" am 3. Januar 1843 schließlich unterdrückt; kurze Zeit darauf wurden sie von der Bundesversammlung für das gesamte deutsche Bundesgebiet verboten. Das äußere Schicksal der Jahrbücher war damit besiegelt. Obwohl durch das Zensurgesetz vom 31. Januar 1843, mit dem die preußische Regierung zum System der Unterdrückung und Bevormundung wieder zurückkehrte, die gesamte entschieden oppositionelle Presse Norddeutschlands unterdrückt wurde, lebte der Geist der Jahrbücher, wenn auch in weniger radikaler Form, fort in Schweglers „Jahrbüchern der Gegenwart", in Wigands „Epigonen", in Noacks „Jahrbüchern für spekulative Philosophie", die fortan bis zur Revolution von 1848 die Zentren der junghegelschen Bewegung darstellten.
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6. G E R V I N U S UND DIE D E U T S C H E R E P U B L I K E I N B E I T R A G ZUR G E I S T E S G E S C H I C H T E D E R DEUTSCHEN DEMOKRATIE In der Geschichte des Verhältnisses von Geschichtsschreibung, Politik und Öffentlicher Meinung stellt Georg Gottfried Gervinus (1805—71) einen Markstein dar. Indem er zu Beginn der 1830er Jahre das epochemachende Programm aufstellte, daß die Geschichtsschreibung dem Leben, die Wissenschaft der politischen Gegenwartsgestaltung zu dienen habe, hat er den nachfolgenden Historikergenerationen die Bahn gewiesen, die als Vorkämpfer des Liberalismus, noch ganz erfüllt von dem pädagogischen Wirkungsdrang der Aufklärung und durchdrungen von dem Glauben an ihre historische Mission, darauf aus waren, das Ideal ihrer liberalnationalen Politik als Maßstab an Vergangenheit und Gegenwart zu legen und womöglich das Amt des Geschichtsschreibers mit dem des praktischen Staatsmannes zu verbinden. Von Schlosser, Gervinus und Dahlmann führt der Weg zu der Gruppe der preußisch-kleindeutschen, der sogenannten „politischen" Historiker, zu den Droysen, Duncker, Sybel, Häußer, die, von Waitz, Mommsen, Haym, Julian Schmidt unterstützt, in Heinrich von Treitschke ihren Gipfel erreicht. Von Gervinus bis Treitschke hat die deutsche Geschichtswissenschaft das Ohr der Nation oder doch wenigstens das der gebildeten und besitzenden Schichten besessen. Mit Treitochke hat diese außerordentliche Wirksamkeit ihr Ende gefunden. Durch die Reichsgründung glaubte man im wesentlichen erreicht zu haben, wonach man gestrebt hatte. Die Geister begannen sich zu wandeln. Die Geschichtswissenschaft wurde in immer steigendem Maße zur strengen, zünftigen, spezialisierten Fachwissenschaft, zu einer Sache der Gelehrten. Die Wissenschaft sollte wieder objektiv und frei von Tendenz sein, die Auslese der Forschungsgegenstände fortan nicht mehr oder nur nebenbei unter aktuellen Gesichtspunkten erfolgen. Der neuen Historikergeneration erschien Ranke als das große Ideal, Ranke, der in seiner Gedächtnisrede auf Gervinus 1871 erklärt hatte: „Unmöglich kann man seinen Standpunkt in dem Leben nehmen und diesen auf die Wissenschaft übertragen: dann wirkt das Leben auf die Wissenschaft, nicht die Wissenschaft auf das Leben . . . Wir können nur dann eine wahre Wirkung auf die Gegenwart ausüben, wenn wir von derselben zunächst absehen, und uns zu der freien objektiven Wissenschaft erheben."1 Dieses Programm wurde zum Programm der deutschen Geschichtswissenschaft, und ist es bis zum heutigen Tage im wesentlichen geblieben.
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Das Programm bedeutete aber noch nicht die Umsetzung in die Wirklichkeit. Wenn auch die Geschichtsphilosophie der letzten Jahrzehnte die subjektive Bedingtheit aller Geschichtsschreibung und Geschichtsforschung, das sogenannte „subjektive Apriori" des Historikers, aufgewiesen hat, so waren sich bis 1918 doch nur die wenigsten Historiker bewußt, daß die nationalliberale und konservative Tradition und Ideologie, die sich von der Zeit der Reichsgründung bis zum Zusammenbruch des Kaiserreiches zu einem Gesinnungsschema herausgebildet hatte, für sie den Charakter eines unantastbaren absoluten Dogmas angenommen hatte und von ihnen an Stelle wirklicher Objektivität stillschweigend und nahezu selbstverständlich zum leitenden historischen Wertmaßstab erhoben worden war. Da der politische Historiker ex eventu zu urteilen pflegt, womit zugleich gesagt ist, daß die „Realpolitik", der im Moment zwar der Sieg gehört, keineswegs auch für die fernere Zukunft immer „recht" hat, so hat der Zusammenbruch des Bismarckschen Reiches naturgemäß auch in der Geschichtswissenschaft zu neuen Wertungen geführt, jedoch das Verhältnis der Geschichtsschreibung zur Politik und öffentlichen Meinung im Sinne eines zielbewußten, die Gegenwart positiv bejahenden, auf wissenschaftlich exakte Forschung sich stützenden Wirkungsdranges bisher nur vereinzelt einer Lösung nähergebracht. Daß es sich hier um ein drängendes Bedürfnis unserer Zeit handelt, wird ohne weiteres ersichtlich aus der ungeheuren Wirkung, die die wissenschaftlich völlig unzureichende, ausgesprochen dilettantische und journalistische, dabei darstellerisch zuweilen vorzügliche „Historische Belletristik" der Emil Ludwig, Werner Hegemann, Herbert Eulenberg, Paul Wiegler auf die breiten Massen des Lesepublikums ausübt. Wird die Geschichtswissenschaft durch die Revolution von 1918 vor die unentrinnbare Aufgabe gestellt, ihre traditionell gewordenen Wertungen kritisch zu überprüfen und eine geistige Bestandsaufnahme, eine Art Inventur, vorzunehmen, so muß der Wandel der Anschauungen auch einem Manne zugute kommen, der in den Kreisen der „Gebildeten" heute vergessen ist, von den Fachhistorikern aber meist erheblich unterschätzt oder gar als ein bockbeiniger, eigensinniger, verbitterter Doktrinär abgetan wird: Georg Gottfried Gervinus. Es ist Gervinus' Stellung zum Problem der Demokratie, die die Tragik seines persönlichen Schicksals und zugleich die historische Bedeutung seiner beiden letzten Lebensjahrzehnte ausmacht. Unter den geistigen Führern des vormärzlichen Liberalismus in Deutschland hat niemand einen tiefergreifenden Einfluß auf die Zeitgenossen ausgeübt als Gervinus von 1835—48. Mit Ehrfurcht und Bewunderung lauschte das aus dem politischen Schlaf allmählich erwachende Bürgertum seinen Worten und Mahnungen. Als er aber 1848/49 sich vom konstitutionellen Liberalismus abzuwenden begann und 1870/71, ein paar Monate vor seinem Tode, nach langer Schweigezeit noch einmal seine Stimme erhob und an der Bismarckschen Lösung der Reichsgründung bittere, überaus scharfe und zum Teil ungerechte und doktrinäre Kritik übte, da fand er inmitten der patriotischen Begeisterung und Sie© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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gesfreude keinen Widerhall mehr. Er war seinen Zeitgenossen fremd geworden. „Niemand mehr wußte recht von ihm", so bekannte 1871 Herman Grimm2. Man hatte das Empfinden, daß sein Leben mit einer grellen Dissonanz abschließe und daß er sich selbst untreu geworden sei. Sahen die Zeitgenossen in ihm einen Zurückgebliebenen und längst Überholten, einen politischen Stümper und Utopisten, weil er die Tragfähigkeit des Bismarckschen Reiches angezweifelt und seit dem Zusammenbruch der deutschen Revolution von 1848/49 mit großer Energie und unter den höchsten geistigen und historisch-politischen Perspektiven den Gedanken vertreten hatte, daß die Entwicklung des deutschen Staatslebens allmählich der Demokratie zutreibe, so müssen wir Heutigen, die wir auf Grund verschollener und neu aufgefundener handschriftlicher Dokumente nachweisen können, daß er nicht nur in der Demokratie, sondern in der demokratischen Republik die Zukunft Deutschlands sah, seinen genialen historisch-politischen Instinkt und seinen wahrhaft prophetischen Seherblick hervorheben. Der Erfolg und die Tatsachen haben Gervinus recht gegeben. Der alte Gervinus, der mehr der Zukunft als der Gegenwart lebte, war ein Einsamer unter seinen Berufs- und Zeitgenossen, aber nicht weil er der einzig Blinde unter lauter Sehenden, sondern weil er einer der wenigen Sehenden unter lauter Blinden und Einäugigen war. Zwei Werke vor allem haben Gervinus' Ruhm begründet, die fünfbändige „Geschichte der poetischen Nationalliteratur der Deutschen" (1835—42), die fünf Auflagen erlebte und später unter dem Titel „Geschichte der deutschen Dichtung" erschien, und die „Einleitung in die Geschichte des 19. Jahrhunderts" (1853). Sein Werk über Shakespeare (1849—52) und die ungefüge, vielbändige, methodisch mangelhafte „Geschichte des 19, Jahrhunderts seit den Wiener Verträgen" (1855—66), die unvollendet geblieben ist und nur bis zur Julirevolution reicht, durch ihre universalhistorische Anlage historiographisch jedoch bedeutungsvoll bleibt, haben eine breitere Resonanz im Publikum nicht mehr gefunden. Gervinus war sieben Jahre lang Kaufmann gewesen, ehe er unter Schlossers Anleitung Geschichte zu studieren begann. Mit rein gelehrten Studien zur Geschichte der florentinischen Historiographie und zur Geschichte von Aragonien hat er sich bereits in jungen Jahren in der Fachwelt einen geachteten Namen erworben. Als er sich 1833 zur Abfassung eines größeren Werkes entschloß, da schwankte er zwischen einer kurzgefaßten Geschichte der europäischen Staaten, einer Politik auf geschichtlicher Grundlage und einer Geschichte der deutschen Dichtung. Die Entscheidung fiel schließlich für die Geschichte der deutschen Dichtung, deren Entwicklung nach seiner Ansicht bereits zum Abschluß gekommen war. Die poetische Produktionskraft der Nation, so meinte er, hat sich mit der klassischen Periode erschöpft. „Unsere Dichtung hat ihre Zeit gehabt; und wenn nicht das deutsche Leben still stehen soll, so müssen wir die Talente, die nun kein Ziel haben, auf die wirkliche Welt und den Staat locken, wo in eine neue Materie neuer Geist zu gießen ist."8 Die Nation steht jetzt vor der unentrinnbaren Aufgabe, das Befreiungswerk, das die Reformation für die Gemüts© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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bildung, die klassische Literaturepoche für die Geisteskultur vollbracht hat, weiterzubilden und nutzbar zu machen für die politischen Bestrebungen der Gegenwart, für die große Aufgabe der „nationalen Reformation". Es gilt daher, mit den Mitteln der Wissenschaft den Übergang vom literarischen zum politischen Zeitalter vorzubereiten, die Deutschen vorwärtszutreiben, „vom Dichten zum Trachten, vom Schreiben zum Handeln, von gedankenlosen Kunstgenüssen und abstruser Wissenschaftspflege zu den Werken des Staates, der Politik und des Volkslebens"4; „der Nation ihren gegenwärtigen Wert begreiflich zu machen, ihr das verkümmerte Vertrauen auf sich selbst zu erfrischen, ihr neben dem Stolz auf ihre ältesten Zeiten Freudigkeit an dem jetzigen Augenblick und den gewissesten Mut auf die Zukunft einzuflößen. Dies aber kann nur erreicht werden, wenn man ihr ihre Geschichte bis auf die neuesten Zeiten vorführt"5. Das Werk, das Gervinus innerhalb weniger Jahre geschaffen hat, hat bei allen Mängeln der Methode und der Detailforschung die Wissenschaft der modernen Literaturgeschichte überhaupt erst geschaffen. Es ist die erste umfassende Gesamtdarstellung der deutschen Dichtung von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, bahnbrechend darin, daß hier die poetische Nationalliteratur weniger nach ästhetischen Kategorien abgehandelt, als vielmehr im Zusammenhang mit Kultur und Politik, in den Ursachen ihres Werdens, in ihrer Wirkung auf das Leben und in ihrem Verhältnis zur historischen Umgebung, überhaupt als organisches Ganzes, als eine Geschichte der deutschen Bildung und des deutschen Geisteslebens betrachtet wird. Die einzelnen Dichter und Dichtwerke erscheinen bei Gervinus nicht losgelöst aus ihrer Zeit, sondern als Repräsentanten und Exponenten des die Individualerscheinungen beherrschenden Zeitgeistes. Es war ein großer Wurf von so geprägter Eigenart und genialer Kombinationskraft, wie ihn zu jener Zeit eben nur Gervinus wagen und wie er nur ihm gelingen konnte. Die „Geschichte der deutschen Dichtung" ist Gervinus' unsterblichste wissenschaftliche Leistung, so unerträglich uns Heutige auch die rigoristische Härte und moralische Enge seiner schneidend scharfen und einseitigen Urteile, sein ewiges Gerede von den „Grundsätzen", der „Gesinnung", dem „Charakter", sein unzureichendes Verständnis für die komplizierten und problematischen Naturen berührt. Gerade mit seiner Einseitigkeit und Sittenstrenge, mit der Verkündung von „objektiven Werten", d. h. den Dogmen des zeitgenössischen Liberalismus, kam er dem Bedürfnis der Mitlebenden entgegen. „Das Bürgertum in seinem politischen Befreiungskampf brauchte die Sanktion seiner Willensziele durch geistige Helden und Führer, und diese erblickte es in Goethe, Schiller und den Gleichstrebenden ihres Kreises. So kam ein Zug von Heroenkult in die Literargeschichtsschreibung jener Tage, der bis auf unsere Zeit fortgewirkt hat, freilich nicht, ohne in einem historisierenden Epigonentum zur Maske der vielbewunderten und selten gelesenen Klassiker zu erstarren."6 Die glänzendste seiner Charakteristiken hat Gervinus Lessing gewidmet, dem seine ganze Liebe gehörte. Auf Gervinus' Einfluß ist es zurückzuführen, daß der deutsche Liberalismus jahrzehntelang Lessing als sein leuchtendes Vorbild und einen seiner hervorragendsten Ahnen für sich proklamierte. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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Als Gervinus 1847 die Redaktion der neugegründeten „Deutschen Zeitung" übernahm, deren Grundtendenz es sein sollte, „das Gefühl der Gemeinsamkeit und Einheit der deutschen Nation zu unterhalten und zu stärken", da hat er innerhalb eines Jahres Außerordentliches geleistet. Vornehmlich durch ihn und seine unermüdliche Agitation wurde die „Deutsche Zeitung" zum Organ und Zentrum des gemäßigten Liberalismus, wurden die süd- und norddeutschen Liberalen zu einer großen Partei verschmolzen, der er den Gedanken in den Kopf hämmerte, daß Deutschlands politische Neugestaltung, die Umwandlung des Staatenbundes in einen Bundesstaat, nicht durch die Revolution, sondern durch gesetzliche Reformen angestrebt werden, daß die föderalistische Gestaltung des Deutschen Reiches der Zukunft auf konstitutionell-monarchischen Grundlagen ruhen, daß Preußen aber zuvor ein Verfassungs- und Musterstaat werden müsse. Preußen, so verkündete Gervinus 1848, ist dazu berufen, das deutsche Einigungswerk zustandezubringen, zu dessen erwünschtesten Voraussetzungen die Gleichartigkeit der deutschen Einzelstaatsverfassungen gehört. 1847 hatte Gervinus die konstitutionelle Monarchie für eine der tiefsinnigsten Schöpfungen des menschlichen Geistes erklärt, 1848 sich mehrfach entschieden gegen die Republik ausgesprochen, weil die Mehrheit des Volkes selbst sich für die Erhaltung der Monarchie erklärt habe, weil es aller Natur widerstreite, daß ein Volk, dessen größter Teil bisher unter dem Absolutismus gelebt habe, plötzlich zur Republik überspringe, weil die ganze politische Lage Europas gegen den Bestand einer großen Republik spreche7. Bis zum Dezember des Jahres 1848 hat Gervinus an diesen Anschauungen festgehalten. Von hier datiert, wenn auch nicht ein Bruch in seiner politischen Entwicklung, so doch eine neue Epoche in seinen politischen Ansichten. Schon als Mitglied des Vorparlaments und der Frankfurter Nationalversammlungen hatte Gervinus an dem Verhalten dieser Versammlungen scharfe Kritik geübt. Von Anfang an hatte er darauf hingewiesen, daß auf die unverzügliche und möglichst innerhalb von acht Wochen zum Abschluß zu bringende Verfassungsberatung auf der Grundlage der Vereinbarung mit den Regierungen alles ankomme, daß aber auch dann das ganze Einigungswerk an der Person des Königs von Preußen wahrscheinlich scheitern werde. Er hatte daher bereits nach dem Ausbruch der preußischen Revolution die Abdankung Friedrich Wilhelms IV. und die Übertragung der provisorischen Zentralgewalt an seinen Nachfolger gefordert. Als er mit seinem Vorschlage isoliert blieb, trat er für kurze Zeit zur Gagernschen Partei über, wandte sich aber dann gegen Gagerns „kühnen Griff", gegen die Wahl des Erzherzogs Johann zum Reichsverweser und trat für das Triasprovisorium ein. Mit alledem hatte er sich von dem Standpunkt seiner einstmaligen Kampfgenossen, der Gagernschen Partei, der späteren Erbkaiserpartei, immer weiter entfernt. Da er das Scheitern der Revolution voraussah, trat er Juli 1848 aus der Paulskirche aus. Ohne rechtes Zutrauen zu dem Erfolg seiner Wirksamkeit kämpfte er im Winter 1848 in der „Deutschen Zeitung" doch noch unentwegt für das entschieden kleindeutsche Programm, gegen jede staatliche Verbindung Deutschlands mit Österreich. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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Resigniert und entmutigt legte er schließlich im Frühjahr 1849 die Feder aus der Hand, um sich fortan wieder seinen wissenschaftlichen Studien zu widmen. Er hatte den Glauben an den Sinn seiner publizistischen Tätigkeit verloren. Und er teilte auch nicht den rosigen Optimismus jenes Teiles der zersprengten Erbkaiserpartei, der sich im Juni 1849 in Gotha in der Hoffnung zusammenschloß, daß das Dreikönigsbündnis, die preußischen Unionsbestrebungen und der von den Dreikönigsregierungen entworfene Verfassungsplan schließlich doch noch zur Lösung der nationalen und der politischen Freiheitsfragen zu führen vermöge. „Die Konstitutierung der Gothaer Partei", so meinte später mit vollstem Recht ein einstmaliger Gothaer, „war die nachträgliche Bankerotterklärung der Frankfurter Mehrheit."8 Während sich aber die Gothaer wenigstens dazu aufrafften, überhaupt noch etwas zu tun und zu wollen, war die demokratische Partei, die neben einigen beachtlichen Köpfen eine Fülle von unfruchtbaren Schwarmgeistern und politischen Spießbürgern umfaßte, durch den Ausgang der Revolution und das Wiedererstarken der regierenden Gewalten völlig zusammengebrochen. Ihre kümmerlichen Überreste verurteilten sich freiwillig zur politischen Impotenz; erst in der 1861 gegründeten „Deutschen Fortschrittspartei" sind sie, inzwischen innerlich gewandelt und monarchistisch geworden, soweit sie nicht im Exil lebten, praktisch wieder zur Geltung gekommen. Dem Scheitern der Revolution folgte unmittelbar der Anbruch der Reaktion und der Demokratenriecherei. In dieser Zeit der allgemeinen Ermattung und der Zerfahrenheit, des erschütterten Glaubens, der Kleinmütigkeit und der Verzagtheit, der erlahmten Volkskraft und des erschlafften Volkswillens, entfaltete eine der charaktervollsten, edelsten und mannhaftesten Gestalten des deutschen Bürgertums, entfaltete Gervinus, der lange Zeit der erbitterte Gegner der Demokratischen Partei gewesen war und auch jetzt mit ihr nichts zu schaffen haben wollte, das Banner der Demokratie. Drei bedeutsame, menschlich wie sachlich erschütternde Bekenntnisse, bedeutsam für den Menschen und den politischen Charakter ebensowohl wie für den Geist der Zeit und die soziale Lage, sollen uns den Weg veranschaulichen, der von dem Gervinus der „Deutschen Zeitung" zu dem Gervinus der „Einleitung in die Geschichte des 19. Jahrhunderts" führt. Erst auf Grund dieser Zeugnisse vermag die vielumstrittene „Einleitung" eindeutig interpretiert und Gervinus' Stellung zum Problem der Demokratie zusammenfassend gewürdigt zu werden. Am 22. Dezember 1848 legte Gervinus in der „Deutschen Zeitung" ein Bekenntnis ab, das eine neue Epoche seiner politischen Wirksamkeit einleitet. „Wir sind", so erklärte er, „der Selbstregierung, obgleich wir so vollmäulig die Volkssouveränität in Anspruch genommen haben, noch nicht fähig. Die Reichstage in Berlin und Wien haben das unwidersprechlich bewiesen . . . Wir sind zur Einheit in Deutschland nicht reif. Der Reichstag in Frankfurt hat das unwidersprechlich bewiesen . . . Wir verstehen von äußerer Politik und ihren ersten Erfordernissen, ohne die eine Nation nie etwas sein wird, nichts. Wir sind daher auch zur Nationalität im politischen Sinne noch nicht reif . . . Wenn es so mit den Fähigkeiten des Volkes steht, so steht es mit den Fähigkeiten der Re© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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gierungen nicht besser. Man wird willig sein, Gesetze und Freiheiten zu geben, man wird vielleicht selbst die Fürstenkongresse nicht mißbrauchen, was die innere Freiheit angeht; aber dem Körper der Nation eine großartige Bewegung zu erhalten, hat man nicht Mut, noch Kraft, noch Einsicht. Man wird den großen festen Kern und den tiefen Sinn der gewaltigen Erschütterung dieses Jahres verkennen, der darin liegt, daß dieser einmal in Bewegung gekommene Körper eines großen Volkes der Tätigkeit unter aller Bedingung bedarf und daß der politische Geist dieses Volkes gelernt hat Ansprüche zu machen, die geleitet, geläutert und befriedigt sein wollen. Entbehren sie der billigen Befriedigung, so werden sie sich ins Unsinnige steigern; der gesunden Läuterung, so werden sie ins Ungeheure verwildern; der kräftigen Leitung, so werden sie sich selbst überlassen in die Irre gehen. Die Revolution wird ihre furchtbare Fortsetzung finden. Und wer sich in die ganze Natur unserer Lage und inneren Zustände versetzt, der will doch auch glauben, daß diese Schwäche der politischen Einsicht und Tatkraft, diese Ungewöhnung des Handelns, diese Macht des Individualismus und Partikularismus, dieser Neid und Stammeifersucht, dieses wunderbare Amalgam großer und kleiner Staaten, diese Kleinstaaterei in der Politik und diese Kleingeisterei in den Menschen, die ihre Frucht ist — daß alle diese Dinge und die unendlichen Hemmungen eines politischen Lebens, die darin gelegen sind, überwunden werden könnten ohne eine Aufrüttelung und Durchschütterung der Nation bis in ihre letzten Tiefen, damit ein neues Geschlecht heraufkomme, das mit den eisernen Nerven geboren ist, die zu den Werken eines neuen Staatslebens gehören? Ich selber habe das früher geglaubt. Ich hatte geglaubt, es sei möglich, daß die Kraft der geistigen Bildung den Mangel dieser physischen Erziehung zur Politik für den ersten Anlauf ersetzen werde. Ich habe mich darin vollständig geirrt. Ich habe mich wider Willen und mit dem innerlichsten Widerstreben überzeugen müssen, daß uns diese geistige Schule der Kunst und Wissenschaft wenig politische Einsicht gebracht, den Instinkt des Willens gelähmt und die Kraft des Handelns gebrochen hat. Die altgewordenen Glieder werden dem Medeenkessel der Revolution nicht entgehen können und, wenn sie wirklich verjüngt werden sollen, nicht dürfen." „Auf die Rettung des Vaterlandes durch Preußen und durch die Monarchie", so lautet das zweite Bekenntnis, „war unser Streben hinausgegangen. Preußen hat uns verlassen; nicht allein der König, auch die Dynastie, auch die Stände, auch das Volk. Der Monarchismus hat sich selbst verlassen; seine Sache ist in Deutschland, was auch die preußischen Bajonette schaffen mögen, gänzlich verloren."9 Das dritte Bekenntnis schließlich ist ein bisher noch ungedruckter Brief vom 7. Dezember 1850. Der Adressat ist Rudolf Haym, der ein paar Wochen zuvor als Chefredakteur der „Konstitutionellen Zeitung", des Zentralorgans der Gothaischen Partei, wegen seiner scharf oppositionellen Artikel aus Berlin ausgewiesen worden war. „Ich bin überzeugt", so heißt es hier, „daß wir die Fahne der Republik aufstecken müssen; oder daß ich besser sage: uns dazu bekennen, dafür werben müssen, um sie zur rechten Zeit aufzupflanzen und vorwärtszutragen gegen Osten. Wenn es für uns irgendein politisches Heil gibt, so müs© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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sen wir auf diesem Wege dahin zu gelangen suchen; ich weiß wohl, daß er in den Abgrund so gut führen kann, als auf die Höhe, aber ich sehe dies verzweifelte Spiel für notwendig an. Es war für mich immer ein großes Problem, ob eine so geistig und sinnlich verweichlichte Nation überhaupt zu den Werken der Pclitik befähigt wäte, und die neueste Erfahrung scheint mir zu sagen, daß wenn sie es nach dieser verunglückten Probe noch werden soll, es nur durch das Zusammenfassen aller ihrer Kräfte, und nicht am wenigsten ihrer physischen Kräfte geschehen kann. Im Namen der Monarchie nun werden Sie diese Kräfte vergebens zusammenrufen, im Namen des Konstitutionalismus, wenn wir uns nicht täuschen wollen, noch vergeblicher; auf den Ruf der Republik aber werden Sie — nicht im Moment, aber seiner Zeit — drei Vierteile des deutschen Volkes bereit haben und das andere Vierteil werden Sie mit dem Schrecken willig oder unschädlich machen. Selbst wer aus der konstitutionellen Monarchie immer noch so grundsätzliche Glaubensartikel macht, wird mitgehen müssen und können; er mag die Republik für ein Mittel, für einen Durchgang nehmen, während sie andere für Zweck und Ziel ansehen. Denn noch ist der Beweis nicht geführt, daß eine absolutistische Dynastie je den aufrichtigen Übergang zum Konstitutionalismus gemacht habe oder machen könne, ohne durch das Fegefeuer der Republik und der Revolution durchgegangen zu sein. Denn auch dies war immer ein Problem gewesen, selbst als ich am zuversichtlichsten für Reform und gegen Revolution schrieb, ob es möglich sei, daß ein großes Volk wie das deutsche zur politischen Reife und Selbständigkeit nun überhaupt, unter irgendwelchen Voraussetzungen, gelangen könne ohne Revolution. Es wäre unmenschlich gewesen, am Vorabend vor der Krise, die diese Frage entschieden stellte, für die Revolution zu sprechen; denn selbst wenn man die wissenschaftliche noch so feste Überzeugung hätte, daß sie eine Notwendigkeit sei, so würde man doch die Massen von dieser Notwendigekit durch keine rationellen Gründe der Welt überzeugen, sondern es muß dies die leidige Erfahrung tun, die die Schuld der Fürsten und ihrer Ratgeber evident und die Völker geneigt macht, ihr Richteramt anzutreten; die andren, die voreilig und ungerechtfertigt von dieser Schuld im voraus überzeugt waren, hätte man durch solch eine verfluchte Predigt in ihrer nutzlosen Blutgier und Wut nur gesteigert. Jetzt scheint mir die Sache [so] zu liegen, daß die Fragen: ob Reform oder Revolution, ob Monarchie oder Republik über allen Zweifel hinausgerückt sind. Die Frage scheint mir nur vorzuliegen, ob die bisherigen Konstitutionellen so grundsätzlich, so gewissenhaft, so doktrinär, so loyal, so moralisch sein wollen, sich selber und ihren bisher verfochtenen Tendenzen treuzubleiben, oder ob sie sich so von der summa lex des Staatssinnes leiten lassen, ob sie so politisch sein wollen, das Mittel zu ergreifen, das allein übrig bleibt. An der Entscheidung dieser Frage mag wohl die Zukunft Deutschlands hängen, an der Frage, ob die, die sich bisher noch immer, was Einsicht angeht, als die fähigsten bewiesen haben, die bedächtige Bewegung Deutschlands leiten oder bloß leiden wollen. In dem letztern Falle werden sich die geistigen Kräfte von den physischen scheiden, und an dieser Spaltung werden wir noch einmal scheitern, wie wir 1848 dadurch ge© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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scheitert sind, daß sich die Moderados weder mit den Regierungen und ihren Kammern, noch mit den Volksmassen verstehen wollten."10 Durch die „Einleitung in die Geschichte des 19. Jahrhunderts" wurde Gervinus noch einmal ein populärer Mann in Deutschland. Der absonderliche Inhalt des schwierigen und gedankenreichen wissenschaftlichen Buches, das einen von doktrinären Konstruktionen nicht unbeschwerten universalhistorischen Überblick über die Geschichte der letzten Jahrhunderte seit dem Ausgang des Mittelalters gibt und das für die breite Masse der Leser überhaupt nicht bestimmt war11, würde kaum das allgemeine Interesse in so ungewöhnlich hohem Maße erregt haben, wenn nicht die badische Regierung den unglücklichen Versuch gemacht hätte, den freien Geist und die Unabhängigkeit der wissenschaftlichen Forschung durch brutale Gewalt zu knebeln. Es bezeichnet einen der schmählichsten Schandflecke in der Geschichte der Reaktion, daß die „Einleitung" polizeilich beschlagnahmt, Gervinus selbst die venia legendi entzogen, daß er „wegen Aufforderung zum Hochverrat und wegen Gefährdung der öffentlichen Ruhe und Ordnung" in Anklagezustand versetzt und in erster Instanz zu zwei Monaten Gefängnis verurteilt wurde. Die zweite Instanz hat dann unter dem Druck der Öffentlichkeit auf die Weiterführung des Prozesses verzichtet12. Eine so zentrale Bedeutung auch die Revolution von 1848 für den Wandel von Gervinus' politischen Anschauungen besitzt, die „Einleitung" zeigt doch aufs deutlichste, wie sein Glaube an die Zukunft der Demokratie zugleich aus historischen Erkenntnissen und geschichtsphilosophischen Ideen erwachsen ist, die bereits im Vormärz in ihm gereift waren. Zum erstenmal in seiner „Mission der Deutschkatholiken" (1845) hatte Gervinus das Programm seiner kollektivistischen Geschichtsauffassung entwickelt. Daß die Völker und Massen an die Stelle der großen Einzelnen getreten sind, daß der einzelne gut daran tue, den Forderungen der Zeit zu gehorchen und dem drängenden Bedürfnis des Ganzen sich freiwillig zu beugen, daß die „überwältigende Macht", die in der Überzeugung der Vielen liegt, die moderne Entwicklung notwendig bestimmt, das ist der bereits 1845 umschriebene Gedankenkreis, in dem die „Einleitung" wurzelt. In der „Einleitung" selbst erscheint das gewaltige Anwachsen der Kollektivkräfte als die Folge eines großen historischen Gesetzes, das die Geschichte der letzten Jahrhunderte seit dem Ausgang des Mittelalters beherrscht. Ein regelmäßiger Fortschritt von der geistigen und bürgerlichen Freiheit der Einzelnen zu der der Mehreren und der Vielen, ein durch den Absolutismus wechselvoll geförderter und gehemmter Kampf der demokratischen Ideen mit den aristokratischen Einrichtungen des Mittelalters, ein allmählicher Obergang von der Monarchie zur Aristokratie und von der Aristokratie zur Demokratie oder zur gemischten Verfassung bildet nach Gervinus' Ansicht den Inhalt der neueren Geschichte. So hat die Reformation, die neben der Entdeckung der neuen Welt die Geschichte der nächsten Jahrhunderte bestimmt hat, zunächst einen monarchischen Charakter gehabt in Deutschland und England unter dem Einfluß von Luther und Cranmer, sie wurde aristokratisch in Westeuropa durch den Calvi© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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nismus, demokratisch durch das Puritanertum, vorübergehend in England und auf die Dauer in Amerika. Die konstitutionell-monarchische Verfassung Englands, die das schließliche Ergebnis einer mehrhundertjährigen Entwicklung wurde, darf als das Musterbild einer aus monarchischen, aristokratischen und demokratischen EIemenzen zusammengesetzten Verfassung gelten. Aber „diese Verfassung ist nicht geeignet zu einem Formular für jeden andern Staat, sie taugt vielmehr zur Norm nur für ein Volk, das aus gleichem Nationalsinn, mit der gleichen Benutzung seiner alten und neuen Einrichtungen, eine seiner Natur und Eigenheit gleich entsprechende Verfassung zu bilden vermöchte, die der englischen vielleicht an Werte am gleichsten wäre, wenn sie ihr an Gestalt am ungleichsten wäre" 13 . Die gemischte Verfassung Englands und die rein republikanische der Vereinigten Staaten erscheinen als „die großen Schlußsteine und Musterbilder germanischer Staatsentwicklung". Es ist ein angeblich der historischen Erfahrung entsprechender, in Wahrheit ein geschichtsphilosophischer Glaubenssatz von Gervinus, daß der Germanismus, abgeneigt aller Zentralisation, erfüllt von dem Geist der Sonderung, des Individualismus, vom Drang nach nationaler Selbständigkeit, nach kleinen Staatsgebieten, nach Selbständigkeit und Selbstregierung der natürlichen Staatsteile, nach föderativer Vereinigung und friedlicher Verständigung, der Träger der demokratischen Freiheitsideen ist. Der Romanismus dagegen mit seinem universalistischen Streben nach großen, über die Grenzen der Nationalitäten ausgedehnten Einheitsstaaten, erscheint als der Träger aller Bestrebungen, die „auf gleichmachende Gemeinherrschaft, auf eine einförmige geistige Unterdrükkung, auf Universalismus und Despotismus in Staat und Kirche, auf die Erhaltung der mittelalterlichen Zustände ausgehen" (S. 43). Mit dem Ende des 18. Jahrhunderts aber hat sich dieser scharfe Gegensatz verwischt. Die materiellen Interessen sind seitdem die bewegenden Kräfte der Politik geworden. Durch die Große Französische Revolution und durch die Befreiungskriege ist der Romanismus, überhaupt der ganze europäische Kontinent in den Bann der germanischen Verfassungsideen und des germanisch-protestantischen Individualismus geraten. Der seit 1789 unaufhaltsame moralische und materielle Verfall der Monarchie wird von der stufenweise vorwärtsschreitenden politischen Emanzipierung der Völker begleitet. Mit dem Kampf um innerlich freie Staatsordnungen hat sich die Nationalitätsidee, der Drang nach nationaler Abscheidung und äußerer Unabhängigkeit der Völker verbunden. Überhaupt sind die Bewegungen des 19. Jahrhunderts von universalen Tendenzen erfüllt. Getragen von dem Instinkt der großen Massen, streben sie, in ihrem Verlauf gesetzmäßig bedingt, einem gemeinsamen und gleichartigen Ziele zu. Das eben ist die eigentümliche Größe der gegenwärtigen Zeit, daß die wahrhaft bedeutenden, überragenden Persönlichkeiten immer mehr verschwinden, daß dafür aber die Massen die Politik zu machen beginnen. „Nicht die Qualität, nicht die Höhe der Bildung der einzelnen macht den Ruhm dieser Zeit aus, sondern die Quantität, die Weite, die Ausbreitung der Bildung unter den Vielen . . . Ist es nicht eine Zeit tiefgehender, den inneren Menschen bildender Kul© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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tur, so ist es dagegen eine Zeit weitreichender, die äußere Lage der Menschheit fördernder Zivilisation" (S. 181). So mächtig ist der Geist des Individualismus geworden, daß die Forderung nach der Freiheit von Mensch zu Mensch, nach der politischen Gleichheit, nach der Ausgleichung der Kasten- und Standesunterschiede universale Geltung bekommen hat, daß die demokratischen Ideen eine weltbewegende, unaufhaltsame Macht geworden sind. Bedeutet das auch nicht, daß die Entwicklung bei den verschiedenen Völkern zur völligen Gleichheit der Staatsform führt, daß sie in allen europäischen Staaten dem republikanischen Staatsideal Nordamerikas allmählich entgegentreibt, so verlangt das Ausgehen von einem allen gemeinsamen Staatsbegriff doch allenthalben „die Herrschaft des Volkswillens nach der Entscheidung der Mehrheit; bedingt eine Regierung, die nicht auf die Vorspiegelung eines göttlichen Rechts gegründet ist, sondern auf die Notwendigkeit; erfordert eine Gesetzgebung, die auf dem Bedürfnisse der Gesellschaft ruht, über das die Gesamtheit selber urteilt". (S. 183.) Es ist die soziale Lage, die Revolutionierung der Gesellschaft, die die Entwicklung über den Liberalismus und die konstitutionelle Monarchie notwendig hinaustreibt. Das Emporstreben des vierten Standes im Bunde mit dem zahlreichen Proletariat der gebildeten Klassen bedroht die neu errungene Machtposition und die privilegierte Stellung der Bourgeoisie. Will das Bürgertum sich die Zukunft sichern, die politisch leitende Klasse der Nation werden und von der drohenden Revolution der Zukunft nicht zermalmt werden, so tut es gut daran, sich rechtzeitig der Schicksalsgewalt zu beugen, sich in den Dienst der demokratischen Ideen zu stellen und sich den Forderungen des vierten Standes zu nähern, ehe es zu spät ist. „Die Emanzipation aller Gedrückten und Leidenden ist der Ruf des Jahrhunderts . . . Dies ist der große Zug der Zeit. Die Stärke des Glaubens und der Überzeugungen, die Macht des Gedankens, die Kraft der Entschlüsse, die Klarheit des Ziels, die Ausdauer der Hingebung ist in dem volkstümlichen Lager, alles was einer geschichtlichen Bewegung den providentiellen Charakter, den Charakter der Unwiderstehlichkeit gibt." (S. 188 ff.) Durch diese über die Gegenwart weit hinausfliegenden Gedanken wuchs Gervinus, der im Grunde seines Wesens ein Bildungsaristokrat und in seinen Anschauungen und Idealen ein Mitglied der bürgerlichen Klasse war und immer blieb, über seine Standes- und Berufsgenossen weit hinaus bis zu einsamer Höhe, wurde er der Prophet einer in gröbsten Umrissen bereits von ihm erkannten Bewegung, deren endgültiges Ergebnis auch von uns heute nicht mehr als geahnt werden kann. Gervinus selbst war sich durchaus bewußt, daß die geschichtliche Entwicklung, die notwendig und unentrinnbar zum Sieg der Demokratie führen müsse, vielleicht noch Jahrhunderte bis zu ihrem Abschluß brauche. Ob die Republik oder die Monarchie, die konstitutionelle oder die demokratisch-parlamentarische Monarchie schließlich den Sieg erringen und wie lange sie ihn behalten, zu welchem Ergebnis schließlich die Auseinandersetzung zwischen Bürgertum und Proletariat führen wird, das entzieht sich, so erklärte er in der „Einlei© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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tung", der genauen Berechnung. Daß Gervinus in dem Konstitutionalismus nur ein großes allgemeines Provisorium sah und daß er an den Sieg der Republik wenigstens in Deutschland geglaubt hat, weil die Monarchie 1848 die Reform vereitelt und die Revolution aufs neue vorbereitet habe, kann auf Grund der oben angegebenem Quollernachweis? vornehmlich aus den Jahren 1349/50 nicht mehr in Frage gestellt werden. Er bekannte sich zur Republik nicht aus Liebe, sondern aus Vernunft, aus dem Glauben an den gesetzmäßig vorwärtsschreitenden Lauf der Geschichte. In diesem Sinne wandte er sich mit propagandistischem Eifer an die gebildeten Schichten, wollte er die geistigen Führer der Nation, die Besten und Weisesten für die demokratischen Ideen gewinnen, um auf diesem Wege die Demokratie zu einer Herrschaft der höchsten Ordnung, der Gerechtigkeit und des Gesetzes zu machen. Von sich selbst aber hätte er sagen können, was er einstmals in seiner „Geschichte der florentinischen Historiographie" zu Unrecht zur Charakterisierung Machiavellis geäußert hatte: „Sein Genius erkannte das Neue, erkannte dessen Notwendigkeit und schuf dafür; sein Herz hing am Alten und verließ es nur mit Schmerz."14 Zu den politischen Tagesfragen hat Gervinus bis zum Jahre 1870 öffentlich nicht mehr Stellung genommen. Selbst die große Krise des Jahres 185915, die Gründung des Nationalvereins, der Ausbruch und Verlauf des preußischen Verfassungskonflikts haben ihn nicht zu einem öffentlichen Hervortreten bestimmen können. Er fühlte allzu deutlich, daß er mit seinen Anschauungen allein stand, daß seine Zeit noch nicht gekommen oder daß sie bereits über ihn hinweggeschritten war. Erst der deutsch-französische Krieg hat sein Schweigen durchbrochen. Der seit 1866 aufgestaute Groll brach jetzt gewaltsam und schrankenlos hervor16. Nicht als hohe Festtage, so rief er aus, sind die Taten der preußischen Macht- und Raubpolitik seit 1866 in den Kalender zu schreiben, weit eher sind sie als „Tage der Schmach, Gewalttat, Bundesbrüchigkeit" auszulöschen. Auch die großen Kriegstaten von 1870 vermögen geschehenes Unrecht nicht wieder gutzumachen und das Großpreußentum nicht in wahrhaft deutschen Geist zu verwandeln, im Gegenteil, sie erscheinen „trächtig an unberechenbaren Gefahren, weil sie uns auf Wege führen, die der Natur unseres Volkes und, was viel schlimmer ist, der Natur des ganzen Zeitalters durchaus zuwiderlaufen". So doktrinär uns auch heute Gervinus5 Glaube an den Segen der Verewigung der Kleinstaaterei, an die Notwendigkeit eines deutschen Staatsbaues auf föderalistischen Grundlagen erscheint, ein Glaube, der sich noch 1870/71 bis zu der kindlichen Forderung verstieg, Preußen möge den 1866 annektierten deutschen Gebieten ihre Selbständigkeit wieder zurückgeben, — so bemerkenswert muß uns erscheinen, daß er als ein von der Parteischablone unabhängiger Kopf einen Teil der Gefahren erkannt hat, die mit der Bismarckschen Gründung des neuen Deutschen Reiches notwendig verbunden waren. Gervinus sah klar voraus, daß die neue Staatsveränderung, die nicht aus der Entscheidung des Volkes hervorgegangen, sondern von der preußischen Militärmonarchie durch eine Revolution von oben geschaffen worden war, keine © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
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Gewähr auf dauernden Bestand biete und nur die Bedeutung eines Zwischenspieles haben könne; er wußte, daß auf diesem Wege die innere Einheit der Nation nicht zu begründen sei, und er fürchtete, daß das neue Deutschland Bismarckschen Gepräges den natürlichen Siegeslauf des Demokratismus und Replublikanismus in eine falsche und gefährliche Bahn lenken werde. Die Aufrichtung eines großen Machtstaates im Herzen Europas in einem Zeitalter, das — wie er allzu illusionistisch meinte — „auf friedliche Tätigkeiten, auf weltumspannende, wissenschaftliche und industrielle Interessen und nicht auf Unitarismus und zentralisierte Soldatenstaaten"17 gerichtet ist, müsse zu unabsehbaren internationalen Verwicklungen, zu einer Gefährdung des europäischen Friedens führen. Die Nachbarstaaten werden das von Preußen beherrschte neue Deutsche Reich als eine stete Bedrohung ihrer eigenen Sicherheit empfinden. Die gewaltige Verstärkung der militaristischen und zäsarischen Tendenzen im großpreußischen Reiche, die „ganz Europa in ein einziges Kriegs- und Rüstungslager verwandelt habe", wird einen noch nie dagewesenen, allzermalmenden Militarismus großziehen, der zum Verderben führen muß. Denn ungestraft lassen sich „weder die Gewalten der Erde noch die des Himmels herausfordern". Wenn auch der Verlauf der Dinge Gervinus vielfach recht gegeben hat und das Bismarcksche Reich dem äußeren Druck und den inneren Spannungen nicht hat standhalten können, das Heilmittel, das Gervinus selbst in Vorschlag zu bringen hatte: die Wiederherstellung der annektierten deutschen Gebietsteile, hätte den Strom der Entwicklung nicht aufzuhalten vermocht. Unter den vielen sich anbietenden Lösungsmöglichkeiten der deutschen Frage war, wie man unabhängig von aller Bismarcklegende feststellen muß, die Bismarcksche Lösung, wenigstens außenpolitisch gesehen und in Anbetracht der einmal gegebenen Verhältnisse, zu ihrer Zeit die einzige wirklich mögliche, so verhängnisvoll und tragisch für uns auch ihre Auswirkungen geworden sind. Die Überspannung des Machtgedankens, die einmal entfesselten dämonischen Kräfte des Militarismus, Nationalismus, Imperialismus und Kapitalismus haben im Zeitalter Bismarcks ganz Europa mit Zwangsgewalt zu durchdringen begonnen. Den Weg zur Katastrophe hat die die Erhaltung des europäischen Friedens bewußt erstrebende Bismarcksche Politik seit 1871 nicht mehr versperren können. Politisches Spießbürgertum und genialer Weitblick zugleich geben Gervinus' Kritik der Bismarckschen Reichsgründung ihr Gepräge. Gervinus verlor den Boden der Wirklichkeit und der gegebenen Machtverhältnisse, indem er um Deutschlands willen vom preußischen Staate, von ihm allein, die freiwillige Aufgabe seiner Großmachtstellung forderte. Für sein Ideal des Deutschen Reiches war die Zeit noch nicht gekommen. Was ist das Gebot der Zukunft, so fragte er 1871? „Deutschland wieder zu einem wahren Bundesstaat zu machen, dessen Protektor nicht ein absolut gebietender Militärdiktator ist, dessen ganze staatliche Gliederung eine Friedensbürgschaft ist, der seine Kriegsordnung nur für seine Verteidigung bemesse, der nie ein kriegerisches Unkraut säe, dem es ein Fest sein wird, ein Zeitalter der Entwaffnung, eine Friedensära einzuleiten, die der schrecklichen Wucht der Militärlasten in Wahrheit ein Ende macht."18 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
VERZEICHNIS
DER ERSTEN
DRUCKORTE
Nr. 2 Historische Zeitschrift 141. 1930, 497—541. Nr. 3 Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft u. Geistesgeschichte 7. 1929, 560—586. Nr. 4 H. Rosenberg Hg., R. Haym, Hegel u. seine Zeit, Leipzig 1927, 510—550, u. ders., Hegel, in: Menschen, die Geschichte machten, III, Wien 1931, 134—139. Nr. 5 Archiv für Kulturgeschichte 20. 1930, 281—308. Nr. 6 Die Gesellschaft 1929/II, 119—136.
VERZEICHNIS Deutsche Jhbb. Hall. Jhbb. HZ Hg. PJ
DER = = = = =
ABKÜRZUNGEN Deutsche Jahrbücher Hallische Jahrbücher Historische Zeitschrift Herausgeber Preussische Jahrbücher
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Anmerkungen zu S. 7—18
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ANMERKUNGEN 1. Zur Einführung 1 Mit reichlicher Verspätung sind damit die isolierten Anstrengungen früherer Forscher, die bezeichnenderweise nicht zum Kreis der historischen Lehrstuhlinhaber in den Universitäten gehörten, wieder aufgenommen und vorangetrieben worden. Es sei erinnert an W. Sombart, Die deutsche Volkswirtschaft im Neunzehnten Jahrhundert, 1903, A. Sartorius von Waltershausen, Deutsche Wirtschaftsgeschichte 1815—1914, 19232, F. Schnabel, Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert, III, Erfahrungswissenschaften und Technik, 1934. Schnabel, der aus dem Gymnasiallehrerberuf hervorgegangen war, war damals Geschichtsprofessor an der Technischen Hochschule in Karlsruhe. 2 Hierzu jetzt die weit ausholende, hervorragende Abhandlung von M. Stürmer, Bismarck-Mythos und Historie, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B3/71, 16. Januar 1971. 3 Vgl. hierzu auch die Betrachtungen von H.-U. Wehler in: E. Kehr, Der Primat der Innenpolitik, Berlin 19702, 21 ff. 4 H. Herzfeld, Staat und Nation in der deutschen Geschichtsschreibung der Weimarer Zeit, in: Veritas Justitia Libertas. Festschrift zur 200-Jahrfeier der Columbia University New York, Berlin 1953, 131. 5 Siehe G.-K. Kaltenbrunner, Hg., Hegel u. die Folgen, Freiburg 1970. Einen umfassenden bibliographischen Überblick über die Hegelliteratur sowie eine problembezogene Auseinandersetzung mit der Hegelkritik der letzten Jahrzehnte gibt J . Ritter, Hegel u. die französische Revolution, Frankfurt 1965, 75-134. 6 Hierzu jetzt auch W. J . Brazill, The Young Hegelians, New Haven 1970, bes. 227—260, und K. Löwiths tiefschürfende Abhandlung: Philosophische Theorie u. geschichtliche Praxis in der Philosophie der Linkshegelianer, in: ders., Hg., Die Hegeische Linke, Stuttgart 1962, 7-38. 7 HZ. 125. 1922, 248-83. 8 Gervinus, Sohn eines Gerbermeisters und späteren Gastwirts, gehörte zu den wenigen Professorenpolitikern, die für ihre politischen, aber auch ihre wissenschaftlichen Überzeugungen erhebliche persönliche Opfer brachten. 1837 verlor er als Widerstandskämpfer gegen den Verfassungsbruch des Königs von Hannover sein Göttinger Ordinariat und wurde des Landes verwiesen. Ab 1844 mußte er sich mit einer Honorarprofessur in Heidelberg zufrieden geben, wo ihm „durch allerhöchste Entschließung" 1853 die venia legendi wieder entzogen wurde. Seitdem führte Gervinus ein Privatgelehrtendasein. 9 Einen Beitrag zu dieser Aufgabe liefert die feinsinnige Würdigung, die W. Boehlich im Anhang der von ihm neu herausgegebenen „Einleitung in die Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts" (Frankfurt 1967, 181-211) Gervinus hat zuteil werden lassen. Auch sei auf das vielfach erregende Aktenmaterial verwiesen, das Boehlich in Buchform unter dem Titel „Der Hochverratsprozeß gegen Gervinus" (Frankfurt 1967) herausgegeben hat.
2. Theologischer Rationalismus und vormärzlicher Vulgärliberalismus Wie der moderne Historismus und Psychologismus das Problem ansieht, formuliert sehr schön R. Müller-Freienfels, Persönlichkeit und Weltanschauung, 1919, 85: 1
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Anmerkungen zu S. 18—31
„Es gibt weder in Religion noch in Kunst oder Philosophie e i n Ideal für alle Menschen, sondern je nach der Individualität höchst verschiedene Ideale, für deren Abwägung gegeneinander bisher ein absoluter Maßstab noch nicht gefunden worden ist und vermutlich auch nicht gefunden werden wird. Gewiß gibt es innerhalb der einzelnen Richtungen Tief- und Höhepunkte, aber die Richtungen untereinander sind letzten Endes inkommensurabel." 2 H. G. Tzschirner, Briefe veranlaßt durch Reinhards Geständnisse, 1811, 84. 3 Streit der Fakultäten (Kehrbach), 81 f. 4 Religion innerhalb der Grenzen usw. (Kehrbach), 184. 5 Sehr instruktiv entwickelt den Vernunftbegriff des theologischen Rationalismus K. G. Bretschneider, Über die jetzigen Bewegungen in der evangelischen Kirche Deutschlands. Ein Votum zur Förderung des Friedens, 1846, 39 f. β Auch Kant (Religion innerhalb d er Grenzen, 142) hatte gesagt: „Fragt man nun: welche Zeit d er ganzen bisher bekannten Kirchengeschichte d ie beste sei, so trage ich kein Bed enken, zu sagen: es ist d ie jetzige." Aber für Kant ist die Gegenwart doch nicht die Zeit der erreichten Perfektibilität, sondern nur ein bedeutsamer Schritt vorwärts zu dem Ideal vom unsichtbaren Reich Gottes auf Erden. 7 Vgl. zu diesem Abschnitt J . Fr. Roehr, Briefe über den Rationalismus, 1813, 16, 26, 30 f., 34 ff., 60, 407, 434; A. L. Wegscheider, Lehrbuch der christlichen Dogmatik, 1831, V, XIII, XIX, XXXVIII, 51, 584; H. G. Tzschirner, Briefe, 64, 84, 138 f., 143; K. G. Bretschneider, Systematische Entwicklung aller in der Dogmatik vorkommenden Begriffe, 18253, 3, 8, 14, 17, 19, 39 f., 498, 531; G. Fr. Dinter, Die vorzüglichsten Regeln der Pädagogik, Methodik und Schulmeisterklugheit, 18324, 4, 44, 55; Die vorzüglichsten Regeln der Katechetik 18297, 16. Die summarisch zusammenfassende Behandlung dieser Schriften ist durchaus gerechtfertigt, da gegenüber dem gemeinsamen typischen Gedankengehalt die individuellen Sonderheiten kaum ins Gewicht fallen. 8 K. Hase, Ideale u. Irrtümer, 18945, 192. 9 Vgl. Dilthey, Gesammelte Schriften, IV, 463 ff. 10 Zitiert bei A. Schultz, G. Fr. Dinter, 1908. 11 Malvina. Ein Buch für gebildete Mütter, Dinters sämtl. Schriften, 3. Abt., Bd. 2, 1843, 42. 12 Die vorzüglichsten Regeln der Pädagogik, Methodik und Schulmeisterklugheit, 18324, 4. 13 L. A. v. Rochau, Grundsätze der Realpolitik, I, 1853, 12. 14 Friedrich Rohmers Lehre von den politischen Parteien, I, 1844, 8. 15 G. Simmel, Philosophische Kultur, 19233, 34. 18 Als Hauptvertreter wäre hier Nicolai zu nennen. Über ihn vgl. K. Aner, Der Aufklärer Friedrich Nicolai, 1912; M. Sommerfeld, Nicolai und der Sturm und Drang, 1921. 17 M. Weber, Ges. Aufsätze zur Religionssoziologie I, 62. 18 Vgl. vor allem Troeltsch, Politische Ethik u. Christentum, 1904, 24 ff. 19 Auch von katholischen Kreisen ist diese Anschauung vielfach vertreten worden. Vgl. z. B. W. E. Frhr. v. Ketteier, Freiheit, Autorität u. Kirche, Mainz 1862, 101 ff. 20 Chr. Fr. Weiser, Shaftesbury u. das deutsche Geistesleben, 1916, 31. 21 Lessings theologische Streitschriften III, 37. Ich zitiere Lessing nach der von J . Petersen besorgten Neuauflage der Hempelschen Ausgabe. 22 Weltgeschichtliche Betrachtungen, Hg. J . Oeri, 1921, 81. 23 Vgl. Meinecke, Preußen u. Deutschland im 19. u. 20. Jahrhundert, 1918, 356. 24 C. T. Perthes, Das deutsche Staatsleben vor der Revolution, 1845, 267. 25 Zur Wirkung auf Deutschland vgl. jetzt A. Stern, Der Einfluß der Französischen Revolution auf das deutsche Geistesleben, 1928. 28 Tzschirner, Die Gefahr einer deutschen Revolution, Leipzig 1823, 9. Vgl. auch Görres, Teutschland u. die Revolution, 18192, 45 f. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35953-3
Anmerkungen zu S. 32—39
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K. Rosenkranz, Über den Begriff der politischen Partei, 1843, 13. Tzschirner, Gefahr 31. K. G. Bretschneider, Sendschreiben an einen Staatsmann über die Frage: ob evangelische Regierungen gegen den Rationalismus einzuschreiten haben? Leipzig 1830, 84 f. 30 Tzschirner, Reaktionssystem, 1824, 66. 31 Ebda., 152. 32 K. G. Bretschneider, Die Theologie und die Revolution. Oder: die theologischen Richtungen unserer Zeit in ihrem Einflusse auf den politischen und sittlichen Zustand der Völker, Leipzig 1835, 165. 33 Vgl. hierzu die vorzüglichen Ausführungen von A. Merkel, Fragmente zur Sozialwissenschaft, 1898, 55 ff. 34 H. v. Srbik, Metternich. Der Staatsmann u. der Mensch, 1925, I, 354; vgl. ebda. 351 ff. Ganz ähnlich hat übrigens H. Leo, Nominalistische Gedankenspäne 1864, 43, das Wesen des Konservativen bestimmt: „Das Konservieren vielmehr, was wir im Auge haben, hat es mit Lebendigem und mit Leben zu tun, und schließt Veränderungen, wie sie jede Entwicklung notwendig begleiten, nicht nur ein, sondern verlangt sie. Politisch konservieren heißt: Einrichtungen, Sitten, Rechte, kurz! den ganzen Inhalt eines politischen Lebens in kontinuierlichem, gedeihlichem, in wachsendem und werdendem Zustande — im Fortschritte, aber in wirklich gedeihlichem Fortschritte erhalten und den zur Auflösung, zum Zerfall führenden Fortschritt — also das, was eigentlich Rückschritt ist, abwehren." Mit den gleichen Worten hätte ein Liberaler das Wesen des Liberalen definieren können. 35 Worauf bereits C. Frantz, Kritik aller Parteien, 1862, 6 ff., 11 ff., hingewiesen hat. Eine dämmernde Vorstellung von der Relativität der Begriffe „Bewegung" und „Widerstand" besitzt unter den Vulgärrationalisten der einflußreiche Vielschreiber W. Traugott Krug (1770 bis 1842), der durch seine „Briefe über die Perfektibilität der geoffenbarten Religion" (1795) den theologischen Rationalismus mit hat heraufführen helfen, 1804 Nachfolger Kants geworden war und seit 1809 als Philosophieprofessor in Leipzig wirkte. Vgl. sein Buch: Der falsche Liberalismus unserer Zeit, Leipzig 1832, 51. 36 Vgl. Meinecke, Die Idee der Staatsräson, 1924, 359. 37 Treitschke, Historische u. politische Aufsätze, III, 19157, 585. 38 W. T. Krug, Über Staatsverfassung und Staatsverwaltung, Königsberg 1806, 7. 39 Ebda. 69. 40 G. Jellinek, Ausgewählte Schriften u. Reden, II, 50. 41 W. T. Krug, Geschichtliche Darstellung des Liberalismus alter u. neuer Zeit, Leipzig 1823, 99 f. 42 Eine Ausnahme bildet hier W. T. Krug. Vgl. neben seinen späteren politischen Schriften sein Buch über „Die Fürsten und Völker in ihren gegenseitigen Forderungen dargestellt", Leipzig 1816, und „Kreuz- und Querzüge eines Deutschen auf den Steppen der Staatskunst und Wissenschaft", Leipzig 1818, Abschnitt H. 43 Tzschirner, Protestantismus u. Katholizismus aus dem Standpunkte der Politik, Leipzig 1824, 83. 44 Tzschirner, Reaktionssystem, 158 ff. 45 Rotteck, Staatslexikon, I, 1834, S. IX. 46 Pfizer, Briefwechsel zweier Deutschen, Hg. G. Küntzel, 1911, 176. 47 O. v. Gierke, Althusius u. die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien, 19133, 56. 48 Vgl. hierzu die anonyme, über den typischen Standpunkt des Rationalismus in einzelnen entscheidenden Punkten hinausgehende Abhandlung über „Das christliche Prinzip, seine verschiedenen Auffassungen in der Vergangenheit und Gegenwart, und 27
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seine wahre weltgeschichtliche Bedeutung" in: Unsere Gegenwart und Zukunft, Hg. K. Biedermann, Bd. V, 1847, 74 ff. 49 Welcker, Christentum, christliche Religion und Moral in ihrem Verhältnis zur politischen Kultur oder zum Recht und Staat. Rotteck-Wekkers Staatslexikon III, 1836, 477. Vgl. auch J . Rupp, Über den christlichen Staat, 1842. 50 Ruge in: Deutsche Jahrb. 1843, Nr. 1 ff. 51 Vgl. Rottecks Aufsatz Demokratisches Prinzip; demokratisches Element u. Interesse; demokratische Gesinnung. Staatslexikon, IV, 1837, 252 ff. 52 Der äußere Verlauf der Bewegung und die Geschichte der freien Gemeinden ist in breitester Ausführlichkeit dargestellt bei F. Kampe, Geschichte der religiösen Bewegung der neueren Zeit, 4 Bde, 1852—60. 53 Vgl. Kampe, II, 168. 54 C. Thierbach, G. A. Wislicenus, 1904, 26 f. 55 K. Glosy, Literarische Geheimberichte aus dem Vormärz, Jahrbuch der Grillparzcr-Gescllschaft, 21, S. LXX. 56 R. Schwener, Geschichte der Freien Stadt Frankfurt, III, I, 1915, 78. 57 Einzelheiten bei R. Haym, Die protestantischen Freunde in Halle, Jahrbücher der Gegenwart 1846, 799 ff.; Haym, Das Leben M. Dunckers, 1891, 66 ff.; Haym, Aus meinem Leben, 1902, 160 ff. 58 Der deutsche Protestantismus, seine Vergangenheit u. seine heutigen Lebensformen. Von einem deutschen Theologen (Hundeshagen), 1847, 515. 59 Zu Leos Haltung vgl. Briefe an W. Menzel, Hg. H. Meisner u. E. Schmidt, 1908, 180 f.; vgl. dazu Frhr. vom Hagen. Die Stadt Halle, II, 1867, 351. 60 Über die Berliner Protestadresse, die von 90 angesehenen Männern namentlich der Schleiermacherschen Richtung unterzeichnet und durch eine im Ton weit schärfere des Berliner Magistrats ergänzt wurde, siehe Trekschke, Deutsche Geschichte, V, 1928, 347 f.; G. Kaufmann, Geschichte Deutschlands im 19. Jahrhundert, 1912, 254; M. Lenz, Geschichte der Universität Berlin, II, 2, 178. 61 Vgl. Der deutsche Protestantismus von einem deutschen Theologen (Hundeshagen), 1847, 346. Unter den 2000 Industriellen dürften wohl Gewerbetreibende, Fabrikanten und selbständige Handwerker zu verstehen sein. 62 Vgl. hierzu die überaus charakteristischen Ausführungen von R. Haym in den Jahrbüchern der Gegenwart 1846, 814—19. 63 T. Mundt, Der heilige Geist u. der Zeitgeist, 1845, 45. 64 Abgedruckt in Hases Ges. Werken, Bd. VIII, I. Halbband, 1892. 65 Hase, Der Untergang des Rationalismus (1845), Ges. Werke, VIII, 2. Halbb., 490. Tzschirner, Briefe 143. 3. Geistige und politische Strömungen an der Universität Halle in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts 1 Eichendorff, Halle und Heidelberg. Vermischte Schriften, V, 1866, 302; vgl. auch das glanzvolle Kapitel „Halle" in Diltheys Leben Schleiermachers, 1922, 711 ff. 2 Interessante Einzelheiten bei R. v. Delbrück, Lebenserinnerungen, I, 94 ff.; Ruges Briefwechsel, herausgegeben von P. Nerrlich, I, 170 f., 195; R. Haym, Leben M. Dunckers, 42 f. und im allgemeinen in W. Schrader stoffreicher Geschichte der Universität Halle, II, besonders 206 ff. 3 Zu A. Ruge und den Hallischen Jahrbüchern s. anten Nr. 5. 4 Mehrfach zitiert bei J . Proelss, Das Junge Deutschland, 1892. 5 S. oben S. 19 ff. 6 Vgl. W. Germann, Zur Geschichte der theologischen Professuren in Halle, Zeitschrift für kirchliche Wissenschaft und kirchliches Leben, 1888, 398.
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Briefe von und an Hegel, Hg. K. Hegel, II, 122. G. N. Bonwetsch, Aus A. Tholucks Anfängen. Briefe von u. an Tholuck. Beiträge zur Förderung der christlichen Theologie, herausgegeben von Schlatter und Lütgert, 1922, 49. 9 Briefe von u. an Hegel, II, 299. 10 M. Lenz, Geschichte der Universität Berlin, II, 1, 322. 11 Bonwetsch, 107. 12 L. Witte, Das Leben Tholucks, 2 Bde, 1884/86. 13 O. Ritschi, Albrecht Ritschis Leben, I, 52. 14 Hegel, Enzyklopädie (Lasson), 26. 15 F. Nippold, Geschichte des Protestantismus seit dem Befreiungskriege, 1901, 123; vgl. auch M. Lenz, Kleine historische Schriften, III, 1Q8. 16 G. Frank, Allgemeine Deutsche Biographie Bd. 38, 58. 17 L. v. Gerlach, Aufzeichnungen aus seinem Leben, I, 230. 18 M. Kähler, J . Müller, der Hallische Dogmatiker, 1878, 11. 19 Vgl. unten S. 69 ff. 20 Echtermeyer in: Hallische Jahrbücher 1838, 672. 21 Briefe von u. an Hegel, II, 42. 22 Weimarer Ausgabe, Werke Bd. 42, 2. Abtlg. 80 f. 23 Hall. Jahrbb. 1839, 513. 24 Vgl. im allgemeinen Meinecke, Drei Generationen deutscher Gelehrtenpolitik, HZ 125. 25 Hinrichs, Die Preußische Petitionsfrage nach provinzialständischem und konstitutionellem Gesichtspunkt, 1844, S. X. 26 Politische Vorlesungen. Unser Zeitalter und wie es geworden, nach seinen politischen, kirchlichen u. wissenschaftlichen Zuständen, mit besonderem Bezuge auf Deutschland und namentlich Preußen, 1843, Bd. I, 211. 27 Politische Vorlesungen I, S. VII. 28 Über das Aufsehen, das Hinrichs' Vorlesungen in der Öffentlichkeit erregten, vgl. B. Bauer, Vollständige Geschichte der Parteikämpfe in Deutschland während der Jahre 1842—46, III, 1847, 117 ff. 29 Politische Vorlesungen, II, 489. 30 Vgl. vor allem Hinridis' Geschichte der Rechts- und Staatsprinzipien seit der Reformation bis auf die Gegenwart in historisch-philosophischer Entwicklung, II, 1850, S. XII iL 31 Hinrichs, König Friedrich Wilhelm IV. Ein Wort an meine Mitbürger, Flugschrift, Halle 1848, 5. 32 In seinem Buche: Die Könige. Entwicklungsgeschichte des Königtums von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart, 1852, das „die Majestät des Königtums als Autorität der Verfassung von Ordnung und Sittlichkeit" (464) aus der Entwicklung der Idee der Monarchie dialektisch beweisen sollte, hat er diese Wendung vollzogen. 33 Hinrichs, Zur Reform der modernen Kunst, 1856, 12. 34 Hegels Werke, XIII, 49. 35 Vorlesungen über akademisches Leben und Studium, 1858, 31; eine für das Verständnis von Erdmanns Persönlichkeit sehr wichtige Quelle, die bereits in den 30er Jahren entstanden ist. 36 Vgl. Ernste Spiele, 18702 151. 37 Philosophische Vorlesungen über den Staat, 1851, 53. 38 Ebda., 40. 39 Erdmann lebte in der Illusion, daß seine Vorlesungen über den Staat „ganz" auf dem Standpunkte Hegels ständen; vgl. seinen Grundriß der Geschichte der Philosophie, 18783, II, 699. 40 Vorlesungen über akademisches Leben, 151. 7 8
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Vorlesungen über den Staat, 167. Zu den Zitaten in diesem Abschnitt vgl. ebda. 42, 62, 52, 46, 49, 47. 46, 50, 45. 45 Die allgemeinen Ergebnisse von Meineckes „Weltbürgertum und Nationalstaat" werden hier als bekannt vorausgesetzt. 44 Vgl. E. Meyen, H. Leo, der verhallerte Pietist, 1839, 40. 45 Vgl. vor allem P. Krägelin, H. Leo, Bd. I, Lamprechts Beiträge zur Kultur und Universalgeschichte, H. 7, 1908, und die dort zit. Literatur; ferner G. von Below, Η. Leo, Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, II, 593 ff. G. Masurs feinsinnige Studie über Leo in den Mitteldeutschen Lebensbildern, III, 392 ff., konnte für diesen Aufsatz nicht mehr herangezogen werden. 46 Leo, Nominalistische Gedankenspäne, 1864, 121. 47 Leo an F. von Raumer, 1. 1. 1831, Lebenserinnerungen u. Briefwechsel von F. von Raumer, 1861, II, 321. 48 Geschichte der deutschen Literatur im 19. Jahrhundert, III, 18563, 421. 49 Von Leos Briefen und geschichtlichen Monatsberichten aus dem Halleschen Volksblatt hat O. Kraus wichtige Stücke mitgeteilt in: Allgemeine konservat. Monatsschrift, 1893/94. 50 Vgl. namentlich seinen Aufsatz „Was ist konservativ?" in den Nominalistischen Gedankenspänen. 41 42
4. Zur Geschichte der Hegelauffassung 1 Diese Abhandlung ist ursprünglich erschienen in der von mir herausgegebenen 2., um unbekannte Dokumente vermehrten Auflage von R. Haym, Hegel u. seine Zeit, Leipzig 1927, 510—550. Sie wird hier in leicht überarbeiteter Fassung vorgelegt. Die einleitenden Seiten, die hier ebenfalls in revidierter Form zum Wiederabdruck gelangen, sind meinem kurzen Essay über Hegel entnommen, der in „Menschen, die Geschichte machten", Wien 1931, III, 134-139, veröffentlicht wurde. 2 Einen Ansatz, um Hegels Nachwirkung in den Geistes- und Sozialwissenschaften zu verfolgen, macht E. Rothacker, Einleitung in die Geisteswissenschaften, 1920. Zu Hegels Einfluß auf das politische Denken vgl. H. Heller, Hegel und der nationale Machtstaatsgedanke in Deutschland, 1921, die Ausführungen in F. Rosenzweigs meisterhaftem Werk über Hegel und der Staat, 1920, II, 188 ff., das Hegelkapitel in F. Meineckes Idee der Staatsräson, 1924, sowie J . Löwenstein, Hegels Staatsidee. Ihr Doppelgesicht und ihr Einfluß im 19. Jahrhundert, 1927. Vgl. jetzt auch S. Hook, From Hegel to Marx, New York 1926, H. Marcuse, Vernunft und Revolution. Hegel u. die Entstehung der Gesellschaftstheorie, Neuwied 19622 und K. Löwith, Von Hegel zu Nietzsche, Stuttgart 19584. 3 Rosenkranz, Leben Hegels, 1844, 565. 4 Über den gegenwärtigen Standpunkt der philos. Wissenschaft, 1829, 11. 5 Über Gegensatz, Wendepunkt und Ziel heutiger Philosophie, I, 1832, 80. 6 D. Fr. Strauß, Streitschriften zur Verteidigung des Lebens Jesu, Zweites Heft, 1837, 185. 7 K. Fr. Göschel, Hegel u. seine Zeit, 1832, 4 f. 8 Feuerbach, Sämtliche Werke, Hg. Bolin u. Jodl, II, 175. 9 Ebda. II, 231. 10 Ein besonders lehrreiches Beispiel ist B. Bauer, der seinen Radikalismus dadurch als einen legitimen Sprößling der Hegeischen Philosophie erweisen zu können glaubte, daß er mit der Beweglichkeit seiner jeglichen Beweises fähigen Dialektik — unter der Maske eines Pietisten — behauptete, Hegel sei „ein größerer Revolutionär als alle seine Schüler zusammen". Die Posaune des jüngsten Gerichts über Hegel den Atheisten und Antichristen, 1841, 82. 11 Staatslexikon oder Enzyklopädie der Staatswissenschaften, Hg. Rotteck u. Wel-
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cker, VII, 1839, 610. 12 Marx, Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie, Deutsch-franz. Jhbb. 1844, 71 f. 13 Hallische Jhbb. 1840, 1211. 14 Ebda, 1841, 22. 15 Ebda, 1840, 2331. 18 Ebda, 1931. 17 Ebda, 1245. 18 Ich möchte hier auf den kaum bekannten, aber für die Stellung des Marxismus zu Hegel sehr lehrreichen Aufsatz hinweisen, den G. Plechanow 1892 „Zu Hegels sechzigstem Todestag" in Kautskys „Neue Zeit", 10/1. 198 ff., veröffentlicht hat. Dort wird auch die baldige Auferstehung von Hegels Geschichtsphilosophie vorausgesagt. 19 HZ 90. 1903, 451. 20 K. E. Schubarth, Über die Unvereinbarkeit der Hegeischen Staatslehre mit dem obersten Lebens- u. Entwicklunesprinzip des Preußischen Staats, 1839, 30. 21 Stahl, Geschichte der Rechtsphilosophie, 18543, 472. Die 3. Auflage ist gegenüber der 2. von 1847 bloß eine durchgesehene. 22 Ebda, 470; vgl. hierzu auch die tiefgreifenden und weiterführenden Ausführungen von Rosenzweig, II, 191 ff. 25 Ulrici, Über Prinzip u. Methode der Hegeischen Philosophie, 1841, 291. 24 Sämtl. Werke, II, 221. 25 R. M. Meyer im Archiv f. das Studium der neueren Sprachen u. Literaturen, 109, 381. 26 Rosenkranz, Hegel als deutscher Nationalphilosoph, 1870, S. V. 27 Vgl. den Aufsatz von E. Scherer, Revue des deux mondes. 31. 1861, 812 ff. 28 Varnhagen v. Ense, Tagebücher, Bd. 14, 210. 29 Vgl. Philosophische Monatshefte, VII, 142 ff. 30 HZ 90. 1903, 449. 31 An Hegels hundertstem Geburtstag, in: Die Grenzboten, 1870/2, Bd. I, 377-387. 32 Über Hegel, in: Reden u. Aufsätze, 1875, 56. 33 E. v. Hartmann, Hegels Panlogismus, 1870, in: Ges. Studien u. Aufsätze, 1876, 604. 34 Hegels theolog. Jugendschriften, 1907, S. X. 35 Auf das schwierige und sehr verwickelte Problem „Hegel und die Gegenwart" kann ich im Rahmen dieses Aufsatzes nicht einmal andeutend eingehen. Über die Beziehung der Gegenwartsphilosophie zu Hegel vgl. E. Hammacher, Die Bedeutung der Philosophie Hegels für die Gegenwart, 1911; W. Metzger, Hegel und die Gegenwart, Zeitschr. f. Philos. u. philos, Kritik, Bd. 150, 91 ff.; H. Scholz, Die Bedeutung der Hegelschen Philosophie f. das philos. Denken der Gegenwart. Philos. Vorträge der KantGesellschaft, 1921; H. Levy, Die Hegel-Renaissance in der Gegenwart, 1927. 38 Präludien, 19114, I, 265. 5. Arnold Ruge und die „Hallischen Jahrbücher" 1 Vgl. dazu meinen Aufsatz: Theologischer Rationalismus und vormärzlicher Vulgärliberalismus. Oben Nr. 2. 2 Strauß, Ausgewählte Briefe, He. E. Zeller 1895, 75. 3 Über Echtermeyer vgl. A. Stahr, Kleine Schriften zur Literatur u. Kunst, I, 393 ff.; Ruge, Zwei Jahre in Paris, 1846, II, 139 ff. 4 Hall. Jhbb., 1840, 1211. 5 Strauß, Briefe, 75. 6 Ruges Briefwechsel, I, 162. 7 An Altenstein 23. 8. 39, ebda, 174.
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Auch die Redaktion der Jahrbücher hat Ruge jahrelang kostenlos geführt. Die geschäftliche Lage der Jahrbücher war außerordentlich schlecht. Trotz der unzweifelhaft starken Wirkung, die sie geübt haben, betrug Ende 1839 die Abonnentenzahl nur 313; bis Frühjahr 1842 stieg sie dann allmählich auf 500; Briefe von und an L. Feuerbach. Hg. W. Bolin, 11, 22, 101; K. Biedermann, Mein Leben und ein Stück Zeitgeschichte, I, 78 f. Ganz ähnlich stand es übrigens mit den „Preußischen Jahrbüchern" in den ersten Janren ihres Bestehens. Es zeigt sich hier, wie abwegig es oft ist, aus der Abonnentenzahl auf die Leserzahl, die Wirksamkeit, Reichweite und historische Bedeutung eines publizistischen Organes einen Rückschluß zu ziehen. Im Gegensatz zu den „Hallischen" und „Deutschen Jahrbüchern" hatte es die „Rheinische Zeitung", von 1842 bis 1843 das zweite große Zentrum der junghegelschen Bewegung, innerhalb eines Jahres auf 3400 Abonnenten gebracht. 9 Ein wenig bekannt gewordener Neudruck dieser seltenen und wichtigen Zeitschrift erschien 1925. 10 Im Anhang zu Fr. Engels, L. Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, 19105, 64. 11 Zu Ruges Haltung in der Paulskirche vgl. die Andeutungen bei P. Kretschmann, Der großdeutsche Gedanke auf der Linken der Frankfurter Nationalversammlung 1848—49, Berliner Diss. 1924. 12 Vgl. V. Valentin, Die 1848er Demokratie und der Völkerbundgedanke, 1919. 13 Ruge, An die Deutsche Nation, Manifest, Hamburg 1866, 3. Während Ruge sich hier für die kleindeutsch-großpreußisch-unitarische Lösung der deutschen Frage, möglichst unter Ausschließung Deutschösterreichs, einsetzt, war er noch 1860 in seiner Schrift „Die drei Völker und die Legitimität oder die Italiener, die Ungarn und die Deutschen beim Sturze Österreichs", London 1860, als Anwalt des großdeutschen Gedankens und für die völlige Zerschlagung des österreichischen Reiches eingetreten. Sein Programm war damals der durch Deutschland militärisch zu unterstützende Aufstand der Italiener, der Ungarn, der Slawen, die Errichtung einer ungarisch-slawischen Donaumacht auf föderalistisch-demokratischer Basis und die Einverleibung Deutschösterreichs in Deutschland. Ganz im Gegensatz hierzu stand seine Auffassung vom Jahre 1859: Wenn auch Deutschland und Italien sich der Österreichischen Herrschaft entziehen müssen, „so bleibt Wien immer ein Mittelpunkt für die österreichischen Völkerschaften . . . Nur durch den Zusammenhalt Österreichs, nicht durch seine Zersplitterung lassen sich die Deutschen in Ungarn und Siebenbürgern retten". Ruge, Die Freiheit der Hauptvölker. Ein Vademecum für ihre Verehrer, in Deutsches Museum, Hg. R. Prutz, 1859, I, 490. 14 J . Löwenstein, Hegels Staatsidee, 1927, 113. Außer Ruge sind, wie Löwenstein in seinem auch sonst sehr aufschlußreichen Buche nachweist, unter den einstmaligen Hegelianern im Verlauf der 1870er Jahre auch noch C. Rößler, Fr. Th. Vischer, Br. Bauer und K. Hillebrand mit Entschiedenheit von dem Bismarckschen Machtstaate und der herrschenden Staatsgesinnung abgerückt. 15 Hall. Jhbb. 1838, 1433. 16 Hall. Jhbb. 1838, 1012. 17 Aus früherer Zeit, IV, 10. 18 Hall. Jhbb. 1840, 1211 f. 19 Hall. Jhbb. 1840, 2254. 20 Zur Literaturkritik der Jahrb. vgl. das allerdings recht unzureichende Buch von E. v. Eck, Die Literaturkritik in den Hallischen u. Deutschen Jahrbüchern, 1926. 21 Hall. Jhbb. 1838, 1196. 22 Briefwechsel zweier Deutschen, He. G. Küntzel, 1911, 174. 23 Ebda, 245. 25 Ebda, 1841, 154. 24 Hall. Jhbb. 1839, 2107. 26 Ebda 1841, 3. 27 Deutsche Jhbb. 1843, 1. 8
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28 Vgl. vornehmlich für die Spätzeit der Jahrb. die aufschlußreiche Abhandlung von G. Mayer, Die Junghegelianer u. der preuß. Staat, HZ 121; ders., Die Anfänge des politischen Radikalismus im vormärzlichen Preußen, Zeitschr. für Politik 6. 29 Daß es bei einer Darstellung der politischen Ideen der Junghegelianer in ganz besonderem Maße notwendig ist, auch die Form und Methode ihres Denkens näher zu untersuchen, betont auch G. Mayer, HZ, 121, 417: „Fragen wir aber jetzt nach den Gesichtspunkten, die für die politische Stellungnahme dieser Schule ausschlaggebend geworden sind, so ergibt sich, daß keineswegs Gefühlsantriebe, auch nicht etwa Standeszugehörigkeit oder materielle Rücksichten ihren politischen Standpunkt bestimmten, sondern daß die Methode ihres philosophischen Denkens gleichzeitig ihrer politischen Betrachtungsweise Richtung und Inhalt lieh." Vgl. auch Löwenstein, 84 ff. 30 Vgl. Hall. Jhbb. 1841, 3, wo die bezeichneten Merkmale als „Begriffsformen" aufgezählt werden. 31 Ebda, 1839, 1962 f. 32 Ebda, 1840, 512. 33 A. Ruge und der Humanismus, Wigands „Epigonen", Bd. IV, 1847, 97; vgl. H. Falkenheim, K. Fischers Frühzeit, Preußische Jhbb. Bd. 133, 339 f. 34 Hall. Jhbb. 1838, 1929. 35 Ebda, 1181. 36 Ruge an Stahr, 7. 11. 1841. Ruges Briefwechsel, I, 247. 37 Hall Jhbb. 1840, 1245. 38 Vgl. Ruges Briefwechsel, I, 259. 39 Deutsche Jhbb. 1841, 3. 40 Das Manifest ist gemeinsam mit Echtermeyer verfaßt. Über den erheblichen Anteil Echtermeyers vgl. A. Stahr, I, 409 f; Ruges Ges. Schriften, Bd. 1, XI ff; VI, 149 f. (Ich benutze die Ausgabe von 1848.) Unter dem Pseudonym Dreigüm hat dann Ruge 1842 ein wohl ironisch gemeintes Gegenmanifest „Die wahre Romantik und der falsche Protestantismus" veröffentlicht, in dem er sich vom Protestantismus und vom Christentum lossagte, um an seine Stelle den „Humanismus" zu setzen. „Die Jahrbücher haben sich bisher immer selbst widerlegt, bei nichts sind sie geblieben, am allerwenigsten beim Protestantismus, den sie nun nicht einmal mehr in den Mund nehmen mögen, während er früher ihre Fahne, oder soll ich sagen ihr Aushängeschild? war." Deutsche Jhbb. 1842, 673. Im Bd. 1 von Ruges Ges. Schriften erschien dann das Manifest durchgreifend umgearbeitet unter dem Titel: „Geschichte der neuesten Poesie und Philosophie seit Lessing oder unsere Klassiker und Romantiker". Auch hier ist die ganze moderne Bildungsgeschichte auf den Gegensatz zwischen Aufklärung und Romantik reduziert. S. 9: „Die Aufklärung des 18. Jahrhunderts ist entweder Kritik und Polemik gegen das von Natur und Humanität abgewendete Christentum, oder positive philosophische Verwirklichung des freien und eigenen Wissens, künstlerische Besitznahme der Idealwelt, namentlich in der Poesie, und politische Erkämpfung der freien ethischen Weltordnung der Staatsfreiheit. Es ist aber nicht unrichtig, wenn man die freien künstlerischen und ethischen Gestaltungen nicht als ein Geschäft, sondern als eine Folge der Aufklärung betrachtet; man sondert alsdann das Theoretische und das Praktische des neuen Zeitgeistes, dessen Epoche wir mit einem Wort die Aufklärungszeit nennen." S. 10: „Das Christentum, welches sich nicht in Humanismus auflösen laßt, ist Romantik. In diesem Sinne können wir sagen: Das Prinzip des Klassischen sei der Humanismus, das des Romantischen das Christentum. Ich nenne unsre Romantiker die Schriftsteller, welche mit den Mitteln unserer Bildung der Epoche der Aufklärung und der Revolution entgegentreten und das Prinzip der in sich befriedigten Humanität auf dem Gebiete der Wissenschaft, der Kunst und der Ethik verwerfen und bekämpfen." 41 Vgl. Ruges Ges. Schriften, VI, 79. 42 Das betont auch C. Schmitt, Politische Romantik, 19252, 33 ff. 43 Vgl. hierzu die anregende Charakteristik der „Gebildeten" der 1820er bis 1840er Jahre bei Löwenstein, 69 ff, 81. 44 Die Darstellung stützt sich im Folgenden vornehmlich auf die Akten des preuß.
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Anmerkungen zu S. 114—127
Geh. Staatsarchivs. Für die Einstellung der preuß. Regierung zum Junghegelianismus sind erheblich aufschlußreicher die auf die „Rheinische Zeitung" bezüglichen Zensurakten. Vgl. dazu vor allem J . Hansen, Rheinische Briefe u. Akten zur Geschichte der politischen Bewegung 1830 bis 1850, Bd. I, 1919, u. H. König, Die Rheinische Zeitung von 1842-43 in ihrer Entwicklung zur Kulturpolitik des preußischen Staates, 1927. 45 Der Aufsatz wurde dann doch in Nr. 28 des Politischen Wochenblattes abgedruckt. Ruges Antwort in den Hall. Jhbb. 1838, 179 f. 46 „Der Patriotismus, . . . den die Hall. Jahrb. verkünden", so heißt es weiter in diesem Bericht, „ist ein auflösender, allen Widerstand unmöglich machender, den Franzosen die Arme entgegenstreckender! >Man gebe Freiheitund wir sind bereit dem Auslande zu widerstehen — aber diese Freiheit ist Auflösung und Zügellosigkeit, die in den Hall. Jahrb. unter der Maske der Poesie und Philosophie sehr deutlich hervorsieht." 6. Gervinns und die deutsche Republik Ein Beitrag zur Geistesgeschichte der deutschen Demokratie HZ 27. 142 f. PJ 27, 475. Gervinus, Geschichte der poetischen Nationalliteratur, IV, 1840, S. VII. Hinterlassene Schriften, 1872, 79. 5 Geschichte der poetischen Nationalliteratur, I, 7. 6 W. Mahrholz, Literargeschichte und Literaturwissenschaft, 1923, 16. Den Literaturhistoriker Gervinus behandelt eingehend M. Rychner, G. G. Gervinus, Ein Kapitel über Literaturgeschichte, 1922. 7 Vgl. Gervinus und seine politischen Überzeugungen, Leipzig 1853, 66 ff. 8 L. A. von Rochau, Grundsätze der Realpolitik, 18592, 146. 9 Deutsche Zeitung, 24. Mai 1849. 10 Für die Wendung zur Demokratie und zur Republik sind weiterhin aufschlußreich Gervinus' anonym erschienene Schrift: Herr v. Radowitz als Cassandra und die neuen Gespräche des Herrn v. Radowitz, Braunschweig 1851; Gervinus' Briefe an Dahlmann in Briefwechsel zwischen J . und W. Grimm, Dahlmann und Gervinus, herausgegeben von Ippel, II, 1886, 327 f., 332 f., 340 f., 415, 438. 11 Vgl. hierzu Gervinus' Brief an Dahlmann vom 10. Dezember 1852: „Ich habe keine Parteischrift schreiben wollen, und ich fürchte auch, daß ich es in dieser historischen Form auch gar nicht gekonnt hätte. Ich habe doch zuviel wissenschaftliches Gewissen, als daß ich die Geschichte dazu mißbrauchen sollte. Was Sie also lesen, das sind Überzeugungen und Ansichten, die sich mir aus der gewissenhaftesten Erwägung und Betrachtung ergeben haben, ganz abgesehen von allen meinen eigenen Neigungen, Wünschen und Sympathien. Einige Gesichtspunkte sind darin, die ich selbst als neugewonnen bezeichnen muß, wie als verstoßend gegen meine politischen Neigungen." 12 Die Prozeßakten bei W. Beseler, Der Prozeß Gervinus, Braunschweig 1853. 13 Einleitung in die Geschichte des 19. Jahrhunderts. Neudruck, Hg. H. Körnchen, 1921, 94. 14 Vgl. Gervinus und seine politischen Überzeugungen, Leipzig 1853, 111. 15 Vgl. hierzu die Briefe von Gervinus an H. Baumgarten, Deutscher Liberalismus im Zeitalter Bismarcks. Eine politische Briefsammlung, Hg. Hcyderhoff und Wentzcke, I, 29 ff. 16 Vgl. das Vorwort zur Geschichte der Deutschen Dichtung, 5. Auflage, Bd. I, 1871; ferner seine Aufsätze: 1. Eine Nachschrift zu einem Vorwort, Beilage zur (Augsburger) Allgemeinen Zeitung, 17. Januar 1871; 2. Denkschrift zum Frieden. An das Preußische Königshaus; 3. Selbstkritik. Die beiden letzten Aufsätze blieben zunächst unveröffentlicht; erst 1872 wurden sie in den „Hinterlassenen Schriften" abge18 Ebda., 24. 17 Hinterlassene Schriften, 1872, 15. druckt. 1
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PERSONENREGISTER Altenstein, Karl Frhr. vom Stein zum (1770—1840) 54, 56, 63, 76, 101, 113 Ammon, Christoph Friedrich von (1766 bis 1850) 19 Arnim, Achim von (1781—1831) 52, 111 Baader, Franz von (1765—1841) 74 Bach, Johann Sebastian (1685—1750) 52 Bauer, Bruno (1809—1882) 98, 100, 133 A. 28, 134 A. 10, 136 A. 14 Bauer, Edgar 98 Baumgarten, Siegmund Jakob (1706 bis 1757) 51 Bekker, August Immanuel (1785—1871) 51 Beneke, Friedrich Eduard (1798—1854) 74 Bismarck, Otto von (1815—1898) 8, 28, 93, 103, 127 Blu(h)me, Friedrich (1797—1874) 53 Bluntschli, Johann Kaspar (1808—1881) 100 Böckh, August (1785—1867) 51 Böhmer, Georg Ludwig (1715—1797) 51 Börne, Ludwig (1786—1837) 98 Brentano, Clemens (1778—1842) 52, 111 Bretschneider, Karl Gottlieb (1776—1848) 19, 33 A. 29, 34 A. 32, 44, 130 A. 5. 7 Burckhardt, Jacob (1818—1897) 27 Burke, Edmund (1729—1797) 67
Dingelstedt, Franz (1814—1881) 98 Dimer, Gustav Friedrich (1760—1831) 19, 22, 130 A. 7 Droysen, Johann Gustav (1808—1884) 85, 100, 115 Duncker, Max (1811—1886) 43, 53, 85, 115 Durante, Francesco (1684—1755) 52 Echtermeyer, Ernst Theodor (1805—1844) 99 f., 111, 137 A. 40 Eckermann, Johann Peter (1792—1854) 59 Eichendorff, Joseph Frhr. von (1788 bis 1857) 52, 109, 111 Eichhorn, Johann Albrecht Friedrich (1779 bis 1856) 41, 61, 67, 76, 87, 114 Engels, Friedrich (1820—1895) 80 Erasmus, Desiderius (1469—1636) 19 Erdmann, Johann Eduard (1805—1892) 53, 59, 63—66, 74, 76, 86, 101 Ersch, Johann Samuel (1766—1828) 87 Euienberg, Herbert (1876—1949) 116
Fechner, Gustav Theodor (1801—1887) 84 Feuerbach, Ludwig (1804—1872) 18, 45, 77 f , 80, 82, 87, 98, 1.00 Fichte, Immanuel Hermann (1796—1879) 75 f. Fichte, Johann Gottlieb (1762—1814) 48, 52, 65, 110 Canz, Wilhelmine 86 Fischer, Karl Philipp (1807—1885) 83 Cervantes, Miguel de (1547—1616) 51 Chamisso, Adelbert von (1781—1838) 111 Fischer, Kuno (1824—1907) 63, 109 Förster, Friedrich Christoph (1791—1868) Cranmer, Thomas (1489—1556) 123 Creuzer, Georg Friedrich (1771 — 1858) 73 54, 111 Fouqué, Friedrich Frhr. de Ia Motte(1777—1843) 52 Dahlmann, Friedrich Christoph (1785 bis Frantz, Constantin (1817—1891) 131 A. 35 1860) 28, 51, 98, 115 Frciligrath, Hermann Ferdinand (1810 bis Dante Alighieri (1265—1321) 51 1876) 98 Diesterweg, Friedrich Adolf Wilhelm Friedrich IL, d. Gr. (1712—1786) 8, 35 (1790—1866) 22, 68 Diez, Heinrich Friedrich von (1751 bis Friedrich Wilhelm IV. (1795—1861) 40, 1817) 56 42, 68, 79, 107, 114, 119 Dilthey, Wilhelm (1833—1911) 49, 96, 111 Fries, Jakob Friedrich (1773—1843) 74
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Personenregister
Gabler, Johann Philipp (1753—1826) 19 Gagern, Heinrich Frhr. von (1799—1880) 119 Gans, Eduard (1758—1839) 60 Gentz, Friedrich von (1764—1832) 34, 111 Gerlach, Gottlieb Wilhelm (1786—1864) 59 Gerlach, Leopold von (1790—1861) 56 Gerlach, Ludwig von (1795—1877) 54, 56, 58, 67 Gerlach, Otto von (1801—1849) 56 Gervinus, Georg Gottfried (1805—1871) 15 f., 45, 98, 111, 115—127 Gesenius, Wilhelm (1786—1842) 47, 54 f., 58 Gierke, Otto von (1841—1921) 39 Görres, Joseph von (1776—1848) 68, 106, 111, 130 A. 26 Göschel, Karl Friedrich (1784—1862) 77 Goethe, Johann Wolfgang (1749—1832) 51 f., 59 f., 118 Grillparzer, Franz (1791 — 1872) 96 Grimm, Herman (1828—1901) 117 Grimm, Wilhelm (1786—1859) 51 Gruber, Johann Gottfried (1774—1851) 59, 87 Guericke, Heinrich Ernst Ferdinand (1803 bis 1878) 56 Gundling, Nicolaus Hieronymus (1671 bis 1729) 51
Hengstenberg, Ernst Wilhelm (1802 bis 1869) 23, 57, 106, 109, 111 Henke, Heinrich Philipp Konrad (1752 bis 1809) 19 Herbart, Johann Friedrich (1776—1841) 74 Herwegh, Georg (1817—1875) 98 Hettner, Hermann (1821—1882) 49, 111 Hillebrand, Karl (1829—1884) 136 A. 14 Hinrichs, Hermann Friedrich Wilhelm (1794—1861) 53, 59—62, 100 Hoffmann, Ernst Theodor Amadcus (1776—1822) 111 Hugo, Gustav (1764—1844) 67 Hundeshagen, Karl Bernhard (1810 bis 1872) 44 A. 58. 61
Händel, Georg Friedrich (1685—1759) 52 Häußer, Ludwig (1818—1867) 115 Haller, Karl Ludwig von (1768—1854) 67, 82, 111 Hamann, Johann Georg (1730—1788) 111 Harms, Claus (1778—1855) 47 Hartmann, Eduard von (1842—1906) 95 Hase, Karl August (1800—1890) 21 A. 8, 47 Haupt, Moritz (1808—1874) 100 Haym, Rudolf (1821 — 1901) 43, 45 A. 62, 53, 85—94, 111, 115, 121 Hegel, Georg Friedrich Wilhelm (1770 bis 1831) 14, 23, 43, 45, 48, 54, 57, 59, 61, 64—67, 69—96, 98—100, 103 f., 106, 109 f. Hegemann, Werner (1881—1936) 116 Heine, Heinrich (1797—1856) 53, 59, 98, 111 Heineccius, Johann Gottlieb (1681—1741) 51
Kant, Immanuel (1724—1804) 19—21, 31, 48, 84, 89, 110, 130 A. 6 Kerner, Justinus (1786—1862) 111 Ketteier, Wilhelm Emanuel Frhr. von (1811—1877) 130 A. 19 Kinkel, Gottfried (1815—1882) 98 Kleist, Heinrich von (1777—1811) 111 Knapp, Georg Christian (1753—1825) 55 Kottwitz, Ernst von (1757—1843) 56 Kroner, Richard (* 1884) 96 Krug, W. Traugott (1770—1842) 36 A. 38. 41, 131 A. 35. 42 Kugler, Franz (1808—1858) 100
Immermann, Karl (1796—1840) 109 Jacobi, Friedrich Heinrich (1743—1819) 111 Jahn, Friedrich Ludwig (1778—1852) 51, 111 Jarcke, Karl Friedrich (1801—1852) 43, 82, 109, 111 Jean Paul (1762—1825) 52, 99 Jerome Bonaparte (1784—1860) 52 Jesus Christus 21 Johann, Erzherzog von Österreich (1782 bis 1859) 119
Lassalle, Ferdinand de (1825—1864) 81, 113 Laube, Heinrich (1806—1884) 100 Leibniz, Gottfried Wilhelm (1646—1716) 18 Leo, Heinrich (1799—1878) 44 f., 52 f., 66—68, 93, 100 f., 106, 109, 111, 131 A. 34
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Personenregister Leo, Leonardo (1694—1744) 52 Lessing, Gotthold Ephraim (1729—1781) 19, 48, 118 Lotze, Hermann (1817—1881) 84 Luden, Heinrich (1780—1847) 67 Ludewig, Johann Peter von (1668—1743) 51 Ludwig, Emil (1881—1948) 116 Luther, Martin (1483—1546) 123 Machiavelli, Niccolo (1469—1527) 126 Marwitz, Alexander von der (1797 bis 1814) 51 Marx, Karl (1818—1883) 79 f., 102, 113 Maximilian II. von Bayern (1811—1864) 85 Meier, Moritz Hermann Eduard (1796 bis 1855) 53 Menzel, Wolfgang (1798—1873) 109, 111 Metternich, Klemens Fürst von (1773 bis 1859) 31, 34, 43 Meyen, Eduard 66 A. 44 Michelet, Karl Ludwig (1801—1893) 63 Moser, Justus (1710—1794) 22 Mohl, Robert von (1799—1875) 100 Mommsen, Theodor (1817—1903) 115 Mühlenbruch, Christian Friedrich (1785 bis 1843) 53 Müller, Adam Heinrich (1779—1829) 111 Müller, Julius (1801—1878) 58 Mundt, Theodor (1808—1861) 46, 81 Napoleon I. (1769—1821) 32, 52 Neander, August (1789—1850) 51, 56 Nicolai, Friedrich (1733—1811) 48, 130 A. 16 Noack, Ludwig (1819—1885) 45, 81, 114 Nohl, Herman (1879—1960) 96 Novalis (Friedrich von Hardenberg) (1772—1801) 52 Palestrina, Giovanni Pierluigi da (um 1525—1594) 52 Paulus, Heinrich Eberhard Gottlob (1761 bis 1851) 19, 22, 44, 54 Pernice, Ludwig (1799—1861) 53, 65 Perthes, Clemens Theodor (1809—1867) 31 A. 24 Pfizer, Paul (1801 — 1867) 39, 61, 106 Platen, August Graf von (1796—1835) 59 Pott, August Friedrich (1802—1887) 52, 53, 100 Prutz, Robert Eduard (1816—1872) 53, 98, 100
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Ranke, Leopold von (1795—1886) 66, 85, 115 Raumer, Friedrich von (1781—1873) 51 Raumer, Karl Georg von (1783—1865) 51 Reichardt, Johann Friedrich (1752—1814) 52 Reil, Johann Christian (1759—1813) 51 Reimarus, Hermann Samuel (1694—1768) 19, 25 Ritschl, Albrecht (1822—1889) 57 Rochau, Ludwig August von (1810—1873) 23 A. 13, 120 A. 8 Rochow, Gustav Adolf Rochus von (1792—1847) 114 Roehr, Johann Friedrich (1777—1848) 19, 21, 44, 54, 130 A. 7 Rößler, Constantin (1820—1896) 136 A. 14 Rohmer, Friedrich (1814—1856) 23 Rosenkranz, Karl (1805—1879) 32, 59, 73 A. 3, 86, 88—90, 92, 100 f. Rosenzweig, Franz (1886—1929) 96 Rothe, Richard (1799—1867) 47 Rotteck, Karl Wenzeslaus von (1775 bis 1840) 39 A. 45, 39 f., 79, 98 Rousseau, Jean Jacques (1712—1778) 110 Rückert, Friedrich (1788—1866) 109, 111 Rümelin, Gustav (1815—1888) 94 Ruge, Arnold (1803—1880) 15, 45, 59, 60, 64, 68, 80, 87, 98—114 Rupp, Julius (1809—1884) 132 A. 49 Sallet, Friedrich von (1807—1843) 98 Savigny, Friedrich Carl von (1779—1861) 65 Schaller, Julius (1810—1868) 59, 100 Schelling, Friedridi Wilhelm von (1775 bis 1854) 23, 52, 74 Schenkendorf, Max von (1783—1817) 111 Schiller, Friedrich (1759—1805) 59, 118 Schlegel, August Wilhelm (1767—1845) 52, 111 Schlegel, Friedrich (1772—1829) 52, 99, 111 Schleiermacher, Friedrich (1768—1834) 23, 43, 51 f., 54, 57, 99 Schlözer, August Ludwig von (1735 bis 1809) 31 Schlosser, Friedrich Christoph (1776 bis 1861) 98, 111, 115, 117 Schmidt, Julian (1818—1886) 68, 90, 111, 115
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Personenregister
Schopenhauer, Arthur (1788—1860) 86, 95 Schubart, Christian Friedrich Daniel (1739 bis 1791) 31 Schubarth, Karl Ernst (1796—1861) 82 Schubert, Gotthilf Heinrich (1780—1860) 111 Schulze, Johannes (1786—1869) 51, 81 Schwarz, Karl Heinrich (1812—1885) 43, 53, 54 Schwegler, Albert (1819—1857) 45, 81, 114 Seckendorff, Veit Ludwig von (1626 bis 1692) 51 Semler, Salomo (1725—1791) 19, 51 Shakespeare, William (1564—1616) 51, 117 Simmel, Georg (1858—1918) 64 Sintenis, Wilhelm Franz (1794—1859) 41 Solger, Karl Wilhelm Ferdinand (1780 bis 1819) 99 Springer, Anton (1825—1891) 84 Stahl, Friedrich Julius (1802—1861) 35, 82 Steffens, Henrik (1773—1845) 51, 111 Strauß, David Friedrich (1808—1874) 58, 76 f., 87, 98—101, 104 Stryk, Samuel (1640—1710) 51 Süvern, Johannes Wilhelm (1775—1829) 22 Sybel, Heinrich von (1817—1895) 115 Thadden-Trieglaff, Adolf von (1796 bis 1882) 56 Thilo, Johann Karl (1794—1853) 58 Tholuck, August (1799—1877) 53, 55 bis 58, 64, 101, 109, 111 Thomasius, Christian (1655—1728) 48, 51 Tieck, Ludwig (1773—1853) 52, 111 Tieftrunk, Johann Heinrich (1759—1837) 59 Treitschke, Heinrich von (1834—1896) 35, 44, 51, 94, 115
Trendelenburg, Friedrich Adolf (1802 bis 1872) 76, 98 Troeltsch, Ernst (1865—1923) 49 Tzschirner, Heinrich Gottlieb (1778 bis 1828) 19 f., 31, 33 A. 28. 30. 31, 34, 38 A. 43. 44, 47 A. 66 Uhland, Ludwig (1787—1862) 111 Uhlich, Leberecht (1799—1872) 41 f. Ulrici, Hermann (1806—1884) 83 Unger, Rudolf (1876—1942) 49 Varnhagen von Ense, Karl August (1785 bis 1858) 51, 92 A. 28, 111 Vatke, Wilhelm (1806—1882) 93, 100 Vischer, Friedrich Theodor (1807—1887) 59, 99 f., 136 A. 14 Voltaire (1694—1778) 110 Wackenroder, Wilhelm Heinrich (1773 bis 1798) 52, 111 Waitz, Georg (1813—1886) 115 Weber, Max (1864—1920) 24 Wegscheider, Julius (1771—1849) 18, 22, 41, 44, 47, 54, 58, 130 A. 7 Weiße, Christian Hermann (1801—1866) 75 Welcker, Karl Theodor (1790—1869) 39, 79 Werner, Zacharias (1768—1823) 111 Wiegier, Paul (1878—1949) 116 Wieland, Christoph Martin (1733—1813) 31 Wigand, Otto (1795—1870) 81, 100, 114 Windelband, Wilhelm (1848—1915) 96 Wislicenus, Gustav Adolf (1803—1875) 42 Wolf, Friedrich August (1759—1824) 51 Wolff, Christian (1679—1754) 18 f., 51 Zeller, Christian Heinrich (1774—1860) 22 Zeller, Ludwig (1804—1872) 45, 100
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