Politik ohne Wunschbilder: Die konservative Aufgabe unserer Zeit [Reprint 2019 ed.] 9783486778854, 9783486778847


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German Pages 387 [388] Year 1952

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Table of contents :
Vorwort
INHALT
I. Einleitung
II. Die modernen Ideologien
III. Die beiden Formen des konservativen Gedankens
Der konservative Gegenpol der Ideologien — Systematische und historische Schwierigkeiten seiner Darstellung — Vorwegnahme des Resultats der Betrachtung
A. Die Entstehung des Konservatismus
B. Die konservativen Romantiker
C. Die konservativen Systematiker
D. Die Entstehung des Nationalismus
IV. Die konservative Theorie
V. Konservative Theorie und Praxis
VI. Schluß
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Politik ohne Wunschbilder: Die konservative Aufgabe unserer Zeit [Reprint 2019 ed.]
 9783486778854, 9783486778847

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POLITIK OHNE WUNSCHBILDER Die konservative

Aufgabe

unserer

Zeit

VON

HANS

MÜHLENFELD

R.OLDENBOURG MÜNCHEN

VERLAG 1952

Geschrieben

im Jabre

1948

Copyright 1952 by Verlag R. Oldenbourg, München Gesamtherstellung R. Oldenbourg, Graphische Betriebe GmbH., München

VORWORT Das hier veröffentlichte Buch erstrebt einen Beitrag zur Klärung unserer politischen Zeitsituation in einer bestimmten Richtung, die als die konservative Wendung der Gegenwart bezeichnet werden muß. Angesichts der gedanklichen Verwirrung und der praktischen Ohnmacht der Gegenwart, mit der immer schwerer drückenden Last ihrer sozialen Probleme fertig zu werden, erwächst aus dem Willen zur Klarheit über unsere Lage mit Notwendigkeit die Forderung, unvoreingenommen und beharrlich alle Bestände unseres politischen Denkens zu prüfen, um keine Möglichkeit außer acht zu lassen, die eine Aussicht auf gangbare Wege eröffnet und Hilfe verspricht. Deshalb kann und darf man auch nicht länger mehr an einer systematisch und historisch so bedeutsamen geistigen Erscheinung wie dem konservativen Gedanken vorübergehen, ohne ihn von neuem gründlich auf seine Gültigkeit für unsere Zeit zu befragen. Infolge dieser Erwägungen entstand nach einigem Zögern, ob der Zeitpunkt für ein derartiges Unternehmen richtig gewählt sei, der nachstehende Versuch zur zeitgemäßen Neubegründung der konservativen Theorie. Ihm liegt keineswegs die Hoffnung oder gar die Annahme zugrunde, daß echt und entschieden konservatives Denken künftig ohne weiteres die breiten Massen einer modernen Bevölkerung ergreifen könnte. Dagegen sprechen zu viele Gründe, wie aus der eingehenden Erörterung des Themas zur Genüge hervorgehen wird. Doch liegt diesem Versuch stattdessen die Überzeugung zugrunde, daß der richtig verstandene konservative Gedanke künftig nicht nur aus dem Kreis der maßgebenden Ideenkräfte des politischen Lebens nicht verschwinden darf und soll, sondern daß er im Gegenteil wieder stärker als bisher und in voller Reinheit hervortreten muß. Als ein in Wahrheit unveräußerliches Element gesunder Politik auf lange Sicht hat er nämlich im gesellschaftlichen wie im staatlichen Bereich eine Aufgabe, die mit der Natur des Menschen selbst unmittelbar zusammenhängt. Erst die dauernde Vernachlässigung dieser Aufgabe, die die Vergangenheit mit sich

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Vorwort

gebracht hat, führte zu jener empfindlichen Beeinträchtigung, ja schließlich beispiellosen Verzerrung sämtlicher Ergebnisse des politischen Tuns, die das Trümmerfeld zweier Weltkriege zur Folge hatte. Der in diesem Buch unternommene Versuch zu einer modernen Darstellung des konservativen Gedankens, der gleichzeitig einen Nachweis seiner dauernden Gehalte liefern will, kann naturgemäß nicht mehr sein als ein erster Schritt in Richtung auf das erstrebte Ziel. Vieles, was Erwähnung verdient und verlangt, vermochte nicht erwähnt zu werden. Andere und gleichgerichtete Versuche müssen und werden aus dem drängenden Zwang der Zeitlage folgen, sind doch schon diesseits und jenseits unserer Grenzen spürbare Zeichen dafür vorhanden. Nächst dem Vorhaben, den konservativen Gedanken in einer zeitgemäßen Weise neu zu fassen und zu verdeutlichen, ist es daher nicht zuletzt das Bestreben der folgenden Untersuchung, mit dem Ertrag ihrer Einsichten und Erkenntnisse geeignete Handhaben zu finden, um diese überall verstreuten Regungen des konservativen Denkens, auch wenn sie oft noch unter fremden Namen auftreten, als solche erkennen und würdigen zu helfen. Die Freilegung des konservativen Gedankenfundaments, und das heißt der eigentlichen Absichten des konservativen Denkens, ermöglicht dann von der Warte unserer Tage aus eine vorläufige Zusammenschau gewisser Ansätze zur Gesundung der heutigen Welt, die — weder an nationale Grenzen noch an soziale Schranken gebunden — eine wirkliche Hoffnung auf das Werden der Zukunft gewährt. Was die Art und Weise anlangt, mit der hier das Thema behandelt wird, so muß die Untersuchung sich in ihren geschichtlichen Partien notwendig auf gedankliches Material stützen und beschränken, das theoretische Schriften und Theoretiker der Vergangenheit bieten. Die politische Praxis mag darin einen Mangel erblicken, der das Verständnis der Darlegungen erschwert und die Gängigkeit des Ganzen beeinträchtigt. Aber auch ein politischer Gedanke wie der konservative kann, sosehr er sich in seinem Wesen von allen anderen politischen Prinzipien der modernen Zeit unterscheidet, nicht ohne ein festes Fundament entwickelt bzw. neu begründet werden, das aus geistesgeschichtlichen Tatsachen besteht und die Bildungselemente der kulturellen Entwicklung enthält. Die theoretischen Beiträge zur Politik, die uns die Vergangenheit in der verschiedensten Gewandung überliefert hat, geben ja in der Regel nicht bloß die persönlichen Auffassungen ihrer Autoren wieder, sondern — sofern dieselben in ihrer Zeit zu Einfluß und Geltung gelangt sind — stets auch und gerade die Empfindungen und An-

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Vorwort

sichten einer größeren Zahl von Menschen. Der politische Theoretiker von Rang pflegt nämlich über seine Person hinaus nicht allein Wegweiser und Anreger, sondern zugleich auch Sprachrohr und Interpret für das zu sein, was in den Menschen seiner Zeit an Vorstellungen über das politische Leben umlief und in Tun oder Lassen zu unmittelbarem Ausdruck kam. Die Schilderung der durch den Zeitgeist bestimmten Entstellung des konservativen Gedankens zum Pseudokonservatismus im geschichtlichen Teil der Untersuchung endet, wie hier schon betont werden soll, mit voller Absicht bei einer Erörterung über die Entstehung des Nationalismus im vorigen Jahrhundert. "Was danach kommt und dort nur kurz angedeutet wird, ist zwar praktisch von außerordentlicher Bedeutung für das deutsche Schicksal geworden, bietet aber geistesgeschichtlich nichts eigentlich Neues mehr, da es nur ein Weiterschreiten auf dem einmal eingeschlagenen Wege der zunehmenden Ideologisierung des Konservatismus bis zur Verkehrung seiner ursprünglichen Intentionen ins extreme Gegenteil darstellt. Die Namen und Werke der Theoretiker, die für diesen Prozeß bezeichnend sind, dürften allgemein bekannt sein, so daß ein Ausblick auf die neueste Entwicklung genügt. Und ferner: Die eingehende Schilderung der weitverzweigten Opposition in den eigenen Reihen, die das konservative Denken gegenüber der offiziell führenden oder inoffiziell maßgebenden Pseudoform vor allem von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ab in seiner Echtheit bewahrte und weitertrug, unterbleibt hier ebenfalls. Eine soldie Schilderung würde, zumal sich diese Opposition keineswegs auf das politische Gebiet im engeren Sinne beschränkt hat, die Vorlage einer neuen Untersuchung erforderlich machen. Aber auch diese neue Untersuchung könnte, da sich aus ihr keine wesentlich anderen Gesichtspunkte zur Wiedergewinnung und Reinigung des konservativen Gedankens ergeben würden, an dem Resultat der historischen Betrachtung nichts ändern, das in dem anschließenden Entwurf zur Theorie vorgelegt wird. Der Verfasser

INHALT I. Einleitung Die Verkennung der konservativen Aufgabe — Ihre Aktualisierung in der Gegenwart — Der Gang der Untersuchung

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II. Die modernen Ideologien Der Bankrott der Ideologien — Ihre Herkunft aus der Aufklärung — Die Korrespondenz zwischen Ratio und Trieb — Die Idee des Fortschritts

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A. Liberalismus: Seine humanitär-idealistische Fassung — Seine äkonomisch-positivistische Fassung — Der Neoliberalismus und seine konservative Wendung

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B. Sozialismus: Seine idealistische Fassung — Seine materialistische Fassung — Der Freisozialismus und seine konservative Wendung . .

65

C. Kommunismus: Seine marxistische Fassung — Seine leninistische Fassung — Seine stalinistische Fassung

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D. Anarchismus und Syndikalismus: Der theoretische Anarchismus — Der revolutionäre Anarchismus — Der Neoanarchismus — Der Syndikalismus 125 E. Faschismus: Seine italienische Fassung — Seine deutsche Fassung

140

III. Die beiden Formen des konservativen Gedankens Der konservative Gegenpol der Ideologien — Systematische und historische Schwierigkeiten seiner Darstellung — Vorwegnahme des Resultats der Betrachtung

177

A. Die Entstehung des Konservatismus (Moser, Burke)

184

. . . .

B. Die konservativen Romantiker (Adam Müller, Savigny und die Historische Schule)

213

C. Die konservativen Systematiker (Haller, Hegel, Stahl) . . . .

231

D. Die Entstehung des Nationalismus (Fichte, Hegel, Treitschke)

. 269

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Inhalt

IV. Die konservative Theorie Ergebnisse und Folgerungen — Die Prinzipien des konservativen Gedankens — Die Elemente des konservativen Denkens — Stellung und Aufgabe der konservativen Theorie in der Gegenwart 312

V. Konservative Theorie und Praxis Das besondere Verhältnis zwischen Theorie und Praxis — Die konservative Staats-, Gesellschafts- und Wirtschaftsauffassung — Die religiöse Fundierung konservativen Denkens und Handelns 360

VI. Schluß Die Logik des konservativen

Standpunkts

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I. E I N L E I T U N G Die bisherige Auffassung der verschiedenen Kräfte des politisch-sozialen Lebens beurteilt das konservative Denken meist als eine vornehmlich interessenbedingte Ideologie, die aus der Reaktion führender Schichten oder privilegierter Kreise der modernen Gesellschaft gegen das Heraufkommen unterdrückter oder doch abhängiger Teile der Bevölkerung entstanden sei. Als ein Zusammenhang von bestimmten Ansichten über die politisch-sozialen Macht- und Ordnungsverhältnisse dient das konservative Denken danach mehr oder weniger bewußt der Erhaltung veralteter oder überlebter Zustände, die im Gegensatz zu den genossenschaftlich-demokratischen Tendenzen der neueren Zeit mehr herrschaftlich-aristokratischen Charakter trugen und infolgedessen der Vergangenheit der sozialen und politischen Geschichte angehören. Wenn auch die ernsthaften Anhänger dieser Auffassung vom konservativen Denken nicht so weit zu gehen pflegen wie jene weitverbreitete Demagogie, die in jeder konservativen Äußerung einen feinen oder groben Egoismus sozialreaktionärer Art als ihren eigentlichen Inhalt vermutet, so steht doch eines fest: konservatives Denken hat im Laufe der neueren Zeitentwicklung für die überwiegende Zahl der Menschen etwas durchaus Fragwürdiges, ja Anrüchiges bekommen. Bis zum heutigen Tag bedeutet konservativ zu sein in der allgemeinen Meinung geradezu eine geistige oder moralische Unmöglichkeit, durch die man sich selbst von vornherein als bemitleidenswert beschränkt, wenn nicht gar als tadelnswert selbstsüchtig abstempelt. Schon das bloße Wort „konservativ" ruft, auf das politisch-soziale Leben bezogen, oft eine ganze Skala von negativen Empfindungen hervor, die vom unbehaglichen Mißtrauen bis zur heftigen Abneigung, vom lädielnden Hohn bis zum blanken Haß reicht. Fast durchweg aber gilt „konservativ" jedenfalls auf politischem Gebiet als Kennwort für überholte Ansichten und unzeitgemäße Standpunkte, falls es nicht kurzerhand mit rückschrittlicher Gesinnung und standesmäßigen Sonderinteressen gleichgesetzt wird. Und dementsprechend schließt denn auch das Bekenntnis zu konservativem Denken und Handeln

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Einleitung

seit Jahrzehnten die Gefahr in sich ein, geringschätziger oder haßerfüllter Isolierung anheimzufallen. Jedermann muß sich vor einem solchen Verdacht oder Vorwurf hüten, um nicht alsbald einer Flut stiller Mißbilligung oder lauter Verurteilung zu begegnen. Die Fehlerhaftigkeit und Ungerechtigkeit solcher Auslegung des konservativen Denkens stand für den tieferblickenden und vorurteilslosen Betrachter schon längst fest. Stellte sie doch nicht nur das Spiegelbild der Geistesverfassung ihrer Urheber dar, die mit ihr die eigene Position zu rechtfertigen suchten, sondern auch den beinahe notwendigen Ausdruck einer Denkweise, die das Gegenteil der konservativen ist und dieselbe daher nur in den Grenzen ihrer eigenen Möglichkeiten zu verstehen vermag. Aber die modernen Lebensverhältnisse waren bis zum zweiten Weltkrieg noch nicht so beschaffen, daß sie Anlaß zur wirklichen Überwindung solcher falschen Auslegung werden konnten. Angesichts des rastlosen zivilisatorischen Fortschritts bestand auch nach dem ersten "Weltkrieg noch zu wenig Grund, sich tiefere Gedanken über das wahre "Wesen einer Idee zu machen, die offenbar nicht mehr benötigt wurde und durch die fortschreitende Entwicklung der Zeitläufte zu einem überflüssigen Requisit des politischen Ideenfundus geworden zu sein schien. Höchstens in einigen Ansätzen fragte man damals hinsichtlich des konservativen "Wesens bis zum Ende — und auch diese Ansätze wurden dann schnell wieder gerade unter denjenigen Fehlern verschüttet, gegen die sich der konservative Gedanke als politischer Ausdruck einer eigenen Denkweise ursprünglich richtet. Erst der zweite "Weltkrieg hat die allgemeinen Lebensverhältnisse so umwälzend geändert, daß nunmehr die Voraussetzungen für die seit langem fällige Korrektur der falschen Auffassung dessen gegeben sind, was konservatives Denken seiner wahren Natur nach überhaupt ist und soll. Durch den neuen Krieg wurde die Menschheit in ihren führenden Nationen und vor allem das deutsche Volk auf einem Höhepunkt des zivilisatorischen Fortschritts in eine Lage gebracht, die nicht als das Resultat eben dieses Fortschritts selber zu erkennen schon die ganze Einseitigkeit der ihm gemäßen Geistesverfassung erfordert. Der immer größere rationale Fortschritt der technischen Zivilisation ist nämlich, wie wir sehen werden, zwangsläufig von einem immer größeren emotionalen „Rückschritt" begleitet. Und auf diesen Rückschritt muß die nicht mehr z u überbietende Verfahrenheit unserer menschlichen Welt hinter der glänzenden Fassade wissenschaftlicher, technischer und organisatorischer Errungenschaften zurückgeführt werden. Die

Einleitung

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umfassendste Erscheinungsform dieses emotionalen Rückschritts ist zweifellos, als seelisches Ereignis verstanden, der letzte Krieg mit all seinen vielfältigen Wirkungen — genauso wie er, als technisch-organisatorisches Ereignis verstanden, den Gipfel des rationalen Fortschritts darstellt. Vier Umstände sind es, die als mittelbare und unmittelbare Folgen des zweiten Weltkriegs die Situation der Isolierung, in der sich der konservative Gedanke seit mehreren Generationen in Deutschland und anderswo befand, dermaßen aufgelockert und gewandelt haben, daß eine erneute und erneuernde Beschäftigung mit ihm nicht nur zur Möglichkeit, sondern im Hinblick auf die Zukunft auch zur Notwendigkeit geworden ist. D a ist einmal die Tatsache des Krieges selbst, der allmählich die ganze Erde umspannte und in Mitleidenschaft zog. V o m fordernden Druck seiner Einflüsse befreit, aber von seinen Konsequenzen bis in den letzten Winkel ihrer Existenz betroffen, gewinnen die Menschen heute langsam Distanz zu dem, was mit ihm und durch ihn geschah, und messen seine Ergebnisse an objektiven Maßstäben, die ihnen vor und während der Katastrophe abhanden gekommen waren. Jetzt gewahren sie, daß derselbe Fortschritt der Zivilisation, den sie bisher und trotz der schon höchst anschaulichen Warnung des ersten Weltkrieges immer noch für einen Segen gehalten hatten, längst zum Fluch geworden ist — das Licht des Fortschritts wirft so tiefe Schatten, daß es gewissermaßen bis zum Verlöschen verdunkelt wird. Die Diskreditierung, die hierdurch das bedenkenlose Fortschritts denken erfährt, dem praktisch so gut wie alle in tragischer Blindheit gehuldigt haben, wird immer größer, je mehr sich das Unheil entschleiert und auswirkt, das dieser zweite Krieg der Zivilisation geschaffen oder doch zu allumfassender Wirkung gebracht hat. Jenes strahlende Wunschbild vom unaufhaltsamen Fortschritt, das unser Jahrhundert vom vorigen übernahm, erweist sich als ein Phantom, das mehr und mehr verblaßt. Und an seinen Platz rückt eine neue, ganz andere und ungewohnte, weil undogmatische und unsystematische Vorstellung vom Werden der Zukunft, die man sidi bisher nicht anders ausmalen konnte als mit Dogmen und Doktrinen, Programmen und Plänen. V o r den Trümmern, die uns die Idee des rationalen Fortschritts mit ihren zunehmenden Übergriffen auf alle Lebensbereiche am Ende ihrer absoluten Herrschaft beschert hat, erlangt daher mit oder ohne Wissen um den tieferen Sinn dieses Vorganges das allen Dogmen und Doktrinen abholde konservative Denken wieder Gewicht für denjenigen, der wirkliche Folgerungen aus der Gegenwartslage zu ziehen gewillt und fähig ist, langdauernde Vorurteile

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Einleitung

aufzugeben und altvertraute Denkbahnen zu verlassen. Der Götze »Fortschritt" zerbrach unter den Schlägen dieses furchtbarsten aller Kriege ebenso, wie das Menschenbild von Jahrhunderten in seinem Gluthauch zerborsten ist — und die Menschen müssen darauf mit einer Revision ihres Denkens reagieren, ob sie wollen oder nicht. Die zweite Tatsache, die jene Mißdeutung und Verkennung des konservativen Denkens nachdrücklich und anschaulich zu widerlegen geeignet ist, besteht darin, daß sich in Deutschland und anderen europäischen Ländern als speziell soziales Ergebnis des Krieges eine materielle Entmachtung bisher führender oder doch privilegierter Schichten in derart weitem Umfang und endgültiger Form vollzogen hat, daß fortan konservatives Denken als Gesamterscheinung nicht mehr bloß auf deren egoistische Interessen zurückgeführt werden kann. Selbst wenn es hier jemals seinen eigentlichen Ursprung gehabt hätte — solche Begründung entbehrt von nun an allzusehr auch der äußeren Stützen, um fernerhin Geltung verlangen zu können. Auch jetzt noch von sozialreaktionärem Egoismus in Verbindung mit konservativem Denken zu sprechen und beide miteinander als w.esensmäßig verwandt und bedingt zu erklären, heißt deshalb heute noch mehr über die Wirklichkeit hinwegsehen als früher. Die dritte Tatsache ergibt sich aus der immer klarer zutagetretenden Zwangslage, in die mittlerweile der Sozialismus als jene moderne Ideologie geraten ist, die das politische Gesicht der Öffentlichkeit im Nachkriegseuropa anfangs weithin bestimmt hat. Von den breiten Massen seiner Anhänger kaum bemerkt, sieht sich der europäische Sozialismus nämlich durch die Zeit selber zu einer revisionistischen Anerkennung und Aufnahme von politischen und überhaupt von geistigen Prinzipien gedrängt und gezwungen, die ihrer Herkunft nach bei näherer Prüfung als Elemente wesentlich konservativen Denkens zu identifizieren sind — auch wenn sie in gutem Glauben als Fortschritt des sozialistischen Gedankens hingestellt werden. Der Hinwendung zu diesen für den Sozialismus neuen Elementen wesentlich konservativen Denkens korrespondiert dabei die Abwendung von alten Elementen der materialistischen Geschichtsbetrachtung und der ökonomischen Gesellschaftsauffassung des doktrinären Marxismus, die sich unter dem Eindruck der Vor- und Nachkriegserfahrungen als ganz oder teilweise unhaltbar erweisen, zumindest aber nicht mehr als Zentralideen vertretbar sind. Diese dritte Tatsache wird überdies noch dadurch unterstrichen, daß aus derselben Zwangslage ebenfalls im zeitgenössischen Liberalismus eine ähnliche Wen-

Einleitung

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dung eingetreten ist — auch diese Ideologie sieht sich zur Aufnahme konservativer Elemente in ihr gedankliches System genötigt. Die vierte Tatsache sdiließlidi ist zwar von geringerem direktem Belang als die übrigen, doch muß ihr eine beträchtliche indirekte Wirkung für die Rehabilitierung des konservativen Denkens zugeschrieben werden. Nach Kriegsschluß unterstand der Nordwesten Deutschlands mit einem Großteil seiner Menschen jahrelang dem Gebot des britischen Volkes, dessen eigene Politik im Innern sehr erheblich von konservativen Kräften mitbestimmt wird. Erfolg, Stil und Ethos dieser Politik rechtfertigen damit, als historisches Ganzes genommen, konservatives Denken überhaupt sichtbarer und. eindrucksvoller, als es seine gedankliche Klärung zu tun vermöchte — sei es nun aktiv durch eine im Amt befindliche Regierung oder passiv durch eine ebenfalls in einer Art von amtlicher Funktion befindliche Opposition vertreten und praktiziert. Diese vier Umstände, deren Gewicht nicht zu unterschätzen ist, befreien für die Betrachtung politisch-sozialer Fragen den Begriff des Konservativen, jedenfalls vom deutschen Standort aus, so nachhaltig von dem eingangs geschilderten Odium, daß man nunmehr wieder und vielleicht sogar erstmals richtig über Sinn und Wesen, Wert und Rang des konservativen Denkens als einer allgemeinen Angelegenheit diskutieren kann und darf, ohne als beschränkt, selbstsüchtig oder unzeitgemäß zu gelten. Von diesen vier T a t sachen der lebendigen Erfahrung her stellt sich im Gegenteil die Überlegung ein, daß eine weitere Aufrechterhaltung jenes Odiums unter den grundlegend gewandelten Zeitverhältnissen ihrerseits gerade den Verdacht oder Vorwurf verdient, dessen Widerlegung wir durch die Entwicklung der Nachkriegszeit und vor allem durch den Wandel ihrer wichtigsten Ideologien unmißverständlich erleben. Die Unfähigkeit der modernen Ideologien, der Verfahrenheit der menschlichen Zustände Herr zu werden, ihr Versagen vor der N o t des Leibes und der Seele, ihre Hilflosigkeit gegenüber dem wachsenden Wunsch nach existentieller Geborgenheit — all solche empfindlichen Mängel scheinen es heute nahezulegen, diesen Ideologien selber jenes Urteil der Beschränktheit, der Selbstsucht und der Zeitungemäßheit zurückzugeben, das sie so viele Jahrzehnte bedenkenlos ihrem Gegenpol, dem konservativen Denken, erteilt haben. Denn sie vermochten bisher über gewisse Anläufe hinaus tatsächlich nicht aus dem engen Kreis ihres jeweiligen dogmatischen Gedankensystems herauszufinden, das den gleichen Gesetzen und Regeln untersteht wie der rationale Fortschritt selbst, dem wir die Katastrophe der

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Einleitung

Gegenwart verdanken. Treten sie doch in Wahrheit dem menschlichen Leben und seinen natürlichen Anforderungen mit einem künstlichen, schon im Ansatz einseitigen Denken entgegen, dessen verführerischem Reiz der idealen Vereinfachung sie, wie noch zu zeigen sein wird, trotz aller guten Absichten allesamt erlagen. Wie kaum anders zu erwarten, ist denn auch die Reaktion auf dieses immer offenkundiger werdende Scheitern der modernen Ideologien, das sie selber durch ihre Regenerationsversuche zu überdecken versuchen, nicht ausgeblieben. Ja, sie scheint sich auf der bereits erwähnten Grundlage der Kriegs- und Nachkriegserfahrungen ständig zu verstärken. Hier schon deutlich erkannt und dort erst unklar empfunden, wächst nämlich heute allerorten die Uberzeugung, daß dem Prozeß einer unaufhörlichen und übertriebenen Veränderung unserer Lebensverhältnisse, der unter Berufung auf den Fortschritt und unter Verheißung der Freiheit seit langem und zumal seit dem ersten Weltkrieg stattfindet und doch nur moralischen Rückschritt und wachsende Unfreiheit politischer, sozialer und wirtschaftlicher Art zeitigt, Einhalt geboten werden muß. Von den scheinbar gegensätzlichsten Namen der modernen Weltanschauungen und Parteibildungen getragen, hat dieser zivilisatorische Prozeß dem Menschen aller Schichten immer weniger Ruhe gegönnt, immer geringere Stabilität verstattet und fast jedes Bewahren und Erhalten einer auch nur kleinen Basis eigener Existenz zunichte gemacht. Deshalb breitet sich jetzt, ganz ohne ideologische Fassung oder Fundierung, langsam anschwellend die allgemeine Meinung aus, daß es künftig darauf ankommt, sich gegen diesen Prozeß einer radikalen Veränderung in Permanenz zur Wehr zu setzen, um nicht auch noch die verbliebenen armseligen Reste der Stabilität des menschlichen Daseins zu verlieren. Man will nicht auch noch das Letzte hergeben müssen — weniger an äußerem Besitz als solchem, sondern vor allem an innerem Eigentum, als das Ruhe, Stabilität und Eigensphäre seit je gelten. Allzu lange, so fühlt man, haben wir im Zeichen der modernen Ideologien eine dauernde Veränderung alles Bestehenden hingenommen: nun soll damit aufgehört werden, ehe es endgültig zu spät ist und alles im großen Malstrom der rastlosen Umwälzung ohne Ende versinkt, die gar nichts mehr mit natürlicher Entwicklung zu tun hat. Was sich in diesem Gefühl und dieser Meinung vielerorts regt, ist ohne Zweifel das Ursprungserlebnis des konservativen Gedankens in der heute zeitgemäßen Form. Der Unterschied gegenüber seinem ersten Auftreten vor

Einleitung

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rund zweihundert Jahren besteht dabei nicht allein darin, daß die Übergriffe des rationalen Fortschritts damals noch verhältnismäßig klein waren und heute riesengroß geworden sind, sondern er besteht außerdem auch darin, daß die angedeutete Reaktion auf den alles verschlingenden Veränderungsprozeß im Gegensatz zu einst ohne Rücksicht auf geistige Lager und politische Parpeiungen erfolgt, ja aus den Fortschrittsparteien selber als Anlauf zur Regeneration deutlich genug hervorbricht. Die doppelte Lehre, die dem Menschen der Gegenwart die Katastrophe des zweiten Weltkriegs und das Versagen der modernen Ideologien erteilt haben, durchschlägt also alle gewohnten Sicherungen und Scheidungen mit elementarer Wucht: Ruhe, Stabilität und Eigensphäre werden überall zur Existenzfrage. Nach langer Überlagerung durch das rationale Fortschrittsdenken tritt daher als seine Gegenposition das konservative Denken — und zwar unter eigenem oder fremdem Namen, als solches erkannt oder auch unerkannt — dort wieder in Erscheinung, wo es noch nicht gänzlich und für immer als eine eigene Denkweise mit bestimmten geistig-seelischen Voraussetzungen vernichtet ist. Die Besinnung auf Sinn und Wesen, Wert und Rang dieses Denkens kann in einer Zeit, die vor unermeßlich weiten und zerklüfteten Trümmerfeldern materieller und ideeller Art steht, nur zu der Bemühung führen, den Versuch einer Neubegründung der konservativen Theorie zu wagen. Im Verlauf dieses Versuches werden sich die aus der Sache selbst notwendig ergebenden Schwierigkeiten der Aufstellung einer solchen Theorie im strengen Wortsinn deutlich herausstellen. Trotz dieser Schwierigkeiten, die wir noch eingehend kennen lernen werden, muß jedoch der Versuch stattfinden. Der Gründe hierfür gibt es mehrere: Der gewichtigste ist fraglos die Not, in die uns der rationale Fortschritt mit seiner Kette von Übergriffen bis hin zum zweiten Weltkrieg und seinen Folgen gebracht hat. Das menschliche Gefühl, das sich dagegen sträubt, bedarf von sich aus und für sich selbst einer Klärung und Stärkung seiner Position, die nur auf dem theoretischen Wege einer Reflexion über den eigenen Standort zu bewerkstelligen ist. Ferner hat das konservative Denken in einem Zeitalter äußerster Bewußtheit und schärfster Argumentation, höchster Begrifflichkeit und kühlster Sachlichkeit nur dann Aussicht auf Achtung und Beachtung, auf Wirkung und Dauer, wenn es sich zur Klarheit und Deutlichkeit einer begrifflichen Theorie kristallisiert. Unterbleibt solch theoretische Grundlegung, so wird es kaum imstande sein, sich in der politischen Diskussion verständlich zu machen und in Bälde diejenige Rolle bei der Beseitigung aller Trümmerfelder unserer 2

Mühlenfeld, Politik

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Einleitung

Gegenwart und beim Werden der Zukunft zu spielen, die ihm in der heutigen Lage sowohl von Natur aus zukommt als auch von vielen Menschen erwartungsvoll zugewiesen wird. Mag sich seine Theorie in der Art ihres Aufbaus auch noch so sehr von den ideologischen Theorien der technischen Zivilisation unterscheiden, mag sie noch so sehr von der dort üblichen Logik abweichen, mag sie noch so sehr der dort vorhandenen strengen Systematik entbehren — ohne zur verständlichen, weil begrifflich schlüssigen Gestaltung seiner Gehalte vorzudringen, ohne in einem größeren Rahmen seine Stellung zum Leben aufzuzeigen, ohne ein faßliches „Weltbild" wenigstens in Umrissen darzustellen, wird sich der konservative Gedanke nicht im Wettstreit der politischen Auseinandersetzungen durchsetzen und behaupten können. Verdacht und Vorwurf, sozialreaktionär und unzeitgemäß zu sein, sind bloß auf diese Weise überzeugend zu entkräften, Aufgabe und Funktion im Werden der Zukunft nur auf diese Weise einleuchtend darzutun. Die Epoche der modernen Ideologien mit ihren streng begrifflichen Darlegungen verlangt solche Forip, um einem zentralen Gedanken des politisch-sozialen Lebens Gültigkeit zu verleihen und Einfluß zu sichern. Doch das Vorhandensein einer handlichen Theorie wird für das konservative Denken nicht bloß deswegen erforderlich, weil es ganz allgemein der Klärung und Stärkung seiner eigenen Position bedarf oder weil es sich um der Zukunft willen mit der rationalen Durchbildung der modernen Ideologien messen können muß, sondern auch noch aus einem weiteren Grunde. Bemüht man sich nämlich vom Standpunkt heutiger Erfahrung und heutigen Wissens um eine theoretische Erfassung und Formung seiner ursprünglichen Intentionen, so ergibt sich ohne viel Mühe eine moderne Theorie des konservativen Gedankens, die von den Mängeln der Vergangenheit frei ist. Es sind hauptsächlich die vordergründigen und im Rahmen der seelisch-geistigen Gesamtentwicklung unseres Zeitalters durchaus erklärlichen Mängel der Gebundenheit an besondere Situationen und Interessen, die bei Freund und Feind den Blick für das wahre Wesen und die prinzipiellen Absichten des konservativen Denkens oft bis zur völligen Entstellung und Verkennung getrübt haben. Mit der Beseitigung dieser Mängel fallen vom bisher gewohnten Bild der konservativen Theorie gleichsam die Schlacken ab, die in der landläufigen Meinung ihr Wesen ausmachen, um zusehends eine reinere und daher überlegene Form derselben erscheinen zu lassen, mit der ihre wahrhaft zeitüberdauernde Gestalt hervortritt. Der Kern bleibt der gleiche, während seine

Einleitung

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historischen Hüllen verschwinden und moderne Argumente, Einsichten wie Forderungen, an deren Stelle treten. Diese theoretisch-begriffliche Reinigung erlaubt dann erstens eine neue Wertung des konservativen Gedankens auf der Ebene zeitgemäßen und zeitgerechten Urteilens und Schlußfolgerns. Sie ermöglicht zweitens einen vertieften Anspruch auf Gehör bei der Lösung der gegenwärtigen Problematik des Mensdien. Und sie gibt drittens die Gewißheit, daß das innere und äußere Gleichgewicht des politisch-sozialen Lebens in der technischen Zivilisation künftig ohne seine Mitwirkung weniger denn je wiederzugewinnen und aufrechtzuerhalten sein wird. Der Versuch einer Neubegründung der konservativen Theorie, zu dem die nachfolgende Untersuchung einen Beitrag leisten möchte, kann unter den genannten Gesichtspunkten nur in mehreren Schritten vor sich gehen, deren Reihenfolge durch die Logik der Sache bedingt wird. Am Anfang muß eine kritische Betrachtung der modernen Ideologien stehen, um den Nachweis zu erbringen, daß dem konservativen Denken mit Recht die Funktion eines ausgleichenden Gegengewichts für das übermäßig vom rationalen Fortschritt geprägte und beherrschte politische Denken der Zivilisation zugeschrieben werden darf — eine Funktion, die es dank seines prinzipiell von jenen Heilslehren unterschiedenen Ansatzes in Idee und Wirklichkeit auch tatsächlich auszuüben vermag. Die ausführliche Darstellung der modernen Ideologien dient im Zusammenhang unseres Themas aber außerdem noch einem wichtigen methodischen Zweck. Erkenntnis und Beschreibung dessen, was konservatives Denken ist, wird nämlich aus wohlbestimmten Gründen erst von seinen Gegenpositionen aus wirklich deutlich faßbar. Denn das konservative Denken ist seiner ganzen Natur nach nicht von sich aus „schöpferisch", das heißt, es setzt keine Pläne und Programme, keine Theoreme und Systeme in die Welt. Es ist ein Denken, dessen Inhalt sich der jeweiligen Zeitlage entsprechend wandelt, auf die es nur mit einer Reihe von Strukturprinzipien korrigierend und kompensierend antwortet. Daher ist für seine Erfassung die Kenntnis der Geistesrichtungen, auf die es antwortend reagiert, unerläßlich — ohne die Gegenposition seiner Widersacher bleibt es nicht nur in viel höherem Grade als die neuen Heilslehren ihrerseits, sondern in einem tieferen Sinne überhaupt unverständlich. Indem die modernen Ideologien dargestellt und ihre Wesenseigenheiten vom Standpunkt des konservativen Denkens aus beleuchtet werden, ergibt sich deshalb in jedem einzelnen Fall ein Teilaspekt dessen, worauf dieses Denken antwortet und was es nicht ist. In solcher Weise vorzugehen, 2«

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Einleitung

ist also nicht nur historisch, sondern auch systematisch begründet. Denn da •der konservative Gedanke seiner Art nach unveräußerlich ganzheitliches Denken verkörpert, erfordert seine Kennzeichnung notwendig den Umweg über das, was es nicht ist — Ganzheit läßt sich nur dadurch charakterisieren, •daß sie über die formale Benennung als solche hinaus in ihrem konkreten Gegensatz zu Teilen, Geteiltem, Aufteilbarem gezeigt wird, woraus dann •das lebendige Bild des Ganzen als Folge erwächst und entsteht. Als weitere Vorbedingung einer Erneuerung und Neufassung der konservativen Theorie wird daraufhin in einem zweiten Schritt der Aufweis von zwei geschichtlichen Ausdrucksformen des konservativen Denkens erfolgen müssen. Es gibt nicht allein in der deutschen, sondern auch in der europäischen Geistesgeschichte zwei Formen des konservativen Gedankens, die man mit Recht als seine echte und unechte Art bezeichnen kann. Eine solche systematische und historische Scheidung der unechten von der echten Form ist unerläßlich, um das eigentliche Wesen, den inneren Kern und die substantielle Gestalt des Konservativen im politisch-sozialen Bereich der modernen Zivilisation klarzulegen und seine lediglich auf zeitbedingten Mängeln beruhende Verkennung und Mißdeutung richtigzustellen. Damit ist dann gleichsam der Weg freigemacht, um in einem dritten Schritt die Neubegründung der konservativen Theorie selber in Angriff zu nehmen, was bloß im dauernden Anschluß an die allgemeine menschliche Situation der Gegenwart, ihr geschichtliches Werden und ihr aktuelles Sein zu geschehen vermag. Denn allein von einer Betrachtung her, die zumindest dem Ziel nach die gegenwärtige menschliche Existenz in der Gesamtheit ihrer zahlreichen Bezüge materieller und ideeller Art, in ihrer geistig-seelischen und leiblichen Eigentümlichkeit umfaßt, wird die volle Berechtigung sichtbar und einleuchtend, heute von der grundlegenden Bedeutung des konservativen Gedankens für die nahe und ferne Zukunft unserer Daseinswelt zu sprechen. Und am Ende der Untersuchung darf, gleichsam als Schlußstein ihres Aufbaus, die wichtige Frage nach dem Verhältnis zwischen konservativer Theorie und Praxis nicht ohne Erörterung bleiben. Denn das Verhältnis zwischen Theorie und Praxis ist ein Grundproblem aller modernen Politik. Daher muß der Versuch zur Neubegründung der konservativen Theorie dieses Problem wenigstens in seinen prinzipiellen Umrissen fixieren, um sich ihrer Geltung für die Gestaltung der Wirklichkeit und die Anforderungen des Tages zu vergewissern. Aus ihm ergibt sich eine weitere Reihe von Bestimmungen, die ebenfalls zu den Grundfragen konservativer Politik gehört.

II. DIE M O D E R N E N IDEOLOGIEN Das Auftreten der modernen Ideologien erweist sich, zumal nach den Erlebnissen und Erfahrungen der beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts und ihrer Folgen, als ein charakteristisches Zeichen der allgemeinen geistigen Situation, die das technische Zeitalter geschaffen hat. Seit dem 18. Jahrhundert bildeten sich im umfassenden Säkularisationsprozeß der Neuzeit, der das Bild Gottes in immer weitere Fernen rückte und schließlich den religiösen Glauben weithin vollkommen auflöste, als Zerfallsprodukte der alten christlichen Glaubenseinheit und zugleich als Ersatz für die allmählich verblassende Beziehung des Menschen zum Transzendenten jene großen politischen Lehren, die wir heute als Liberalismus, Sozialismus, Kommunismus und ähnliche Formen rein diesseitiger Glaubenssysteme kennen. Mit höchster Eindringlichkeit verkörpern diese Systeme und Lehren das besondere Wesen des modernen Denkens, zu dessen wichtigsten und folgenreichsten Ausdrucksformen sie zweifellos gehören, in seiner unverwechselbaren Eigenart. Ihr vielfältiges und dennoch im Grunde ganz einheitliches Werden verdeutlicht unübertrefflich den Gang des neuzeitlichen Menschen in die gefährliche Dynamik seiner Entwicklung. Bemerkt oder unbemerkt, sind sie zumindest seit dem vorigen Jahrhundert nämlich bei fast allem und jedem dabei, was in unserer menschlichen Daseinsordnung geschieht. Daher wird es heute, wo wir am vorläufigen Ende jenes Entwicklungsganges stehen und uns trotz aller zivilisatorischen Errungenschaften am Rande eines Abgrundes sehen, in den unsere alte Kultur zu stürzen droht, zu einem der dringlichsten Anliegen, allgemeine Klarheit über die modernen Ideologien zu erlangen, die unser Leben in Politik und Wirtschaft, Erziehung und Moral, Wissenschaft und Kunst mit unsichtbarer Gewalt bestimmen. Unleugbar spricht die Bilanz, die eine bald zweihundertjährige Herrschaft dieser Ideologien über Staat, Gesellschaft und Wirtschaft zu ziehen erlaubt, nicht zu ihren Gunsten. Mag ihr Anteil an der abgelaufenen Entwicklung auch noch so verschieden sein und im einzelnen Falle jeweils anders be-

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II. Die modernen Ideologien

urteilt werden, so ergibt sich dochr aus ihrer langen Wirksamkeit insgesamt unmißverständlich folgendes: Wenn die menschliche Welt gegenwärtig so heillos zerrüttet ist, wenn unser Dasein von zahllosen äußeren und inneren Gefahren bedroht wird, wenn schon die kreatürliche Existenz von Millionen und aber Millionen wie nie zuvor bis auf den Grund in Frage gestellt ist, dann können die Ideologien nicht ohne Schuld an solchem Zustand sein. Als die politisch wirksamen Erscheinungsformen des modernen Denkens haben sie ihn entweder nicht verhindern können oder sie haben ihn mitgeschaffen. Die Rolle, die sie im Verlauf des technischen Zeitalters bisher gespielt haben, zwingt unvermeidlich zu diesem Schluß auf ihren Anteil am Geschehen. Entweder haben sie es bewirkt oder geduldet — eine dritte Möglichkeit der Beziehung zu ihm besteht nicht. Das bedeutet aber: an diesen ganzen Lehren, die jede für sich als eine andere und neue Heilsbotschaft aufgetreten sind, muß etwas nicht „stimmen" und falsch oder schlecht sein. In einer langdauernden Herrschaftsperiode haben die modernen Ideologien, als Gesamterscheinung betrachtet, offenkundig nicht verhindert oder nur zuwege gebracht, daß der Mensch mitten in einer Fülle wissenschaftlicher, technischer, wirtschaftlicher und organisatorischer Fortschritte außen und innen verelendet und verkümmert. Sicher gibt es vom ideologischen Standpunkt aus Erklärungen hierfür — jede der gemeinten Ideologien hat sogar ihr eigene Ansicht über die Gründe der Gegenwartskrisis, die sie mit dem leidenschaftlichen Ernst echter Überzeugung vorträgt und vertritt. Aber viele Zeitgenossen, die derartige Erklärungen anhören und mangels anderer auch hinnehmen müssen, verspüren je länger, desto mehr ein empfindliches Unbehagen dabei, das sich durch alle Argumente und Beweise nicht beschwichtigen läßt. Jene Erklärungen für den fraglichen Zustand einer tiefer und tiefer greifenden Zerrüttung der Fundamente des gegenwärtigen Daseins sind nämlich o f t einleuchtend, ja im Rahmen der jeweiligen Lehre auch durchaus zutreffend, vermögen aber dennoch nicht völlig zu befriedigen, sobald man aus diesem Rahmen mit seinem Begriffsschema heraustritt. Angesichts der zunehmenden Ausweglosigkeit der tatsächlichen Lage, in der sich nachgerade so gut wie jedermann befindet, bleibt ein ungewisser Rest bei jeder ideologischen Rechnung übrig. Und dieser Rest nährt den Zweifel an der Gültigkeit der verschiedenen Begründungen für Elend und Unglück, Schuld und Unrecht unserer Zeit. Er bestärkt das Mißtrauen, ob die wirklichen Ursachen für das Übermaß der Gegenwart an Leid und Sorge, Unsicherheit und Ungeborgenheit nicht ganz anderswo liegen, als es die Ideo-

Der Bankrott der Ideologien

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logien behaupten — jede für sich mit wechselndem Inhalt, aber alle zusammen mit dem gleichen, einander ausschließenden Anspruch auf Unfehlbarkeit ihrer Diagnose. Sobald man sich von dem anerzogenen oder angewöhnten Respekt vor den Ideologien freimacht und nach ihrem Wert fragt, den sie als diesseitige Glaubenslehren nur beansprucht, doch nicht bewiesen haben, vermögen ihre Gedanke'nsysteme heute mithin kein festes Vertrauen mehr zu erwecken. "Wenn auch noch viele Menschen mit letzter Hoffnung dieser oder jener Ideologie anhängen — der Glaube an die Gültigkeit ihrer Weltbilder, an die Wahrheit ihrer Grundsätze, an den Sinn ihrer Ziele ist nicht nur unsicher geworden, sondern vielfach Insgeheim bereits unwiederbringlich dahin. Bestenfalls, so scheint es, verkünden und praktizieren sie mehr oder minder berechtigt Teilwahrheiten, die bloß für einen beschränkten Bereich des Lebens, für einen engen Ausschnitt des Daseins gelten und brauchbare Vorschriften zum Handeln geben. Aber allgemeine Gültigkeit, allgemeine Wahrheit, allgemeinen Sinn besitzen diese „säkularisierten Religionen" unseres Zeitalters allem Anschein der realen Verhältnisse nach nicht mehr, wenn das überhaupt jemals der Fall war. Denn sie reichen ganz offenbar nicht aus, um einerseits den Wünschen und Vorstellungen der Zeitgenossen von dem Zustand, in dem ihre Lebensordnung sein sollte, richtigen Ausdruck zu verleihen, und um andererseits die aktuelle Lebensordnung selber mit jenen Wünschen und Vorstellungen in einen erträglichen Einklang zu bringen. Hinter der eindrucksvollen Fassade der modernen Theorien des politischen Lebens ist mit anderen Worten gleidisam das gedankliche Gerüst, in dem unsere Gegenwart staatlich und kulturell, gesellschaftlich und wirtschaftlich hängt, gegen den Willen der aktiv oder passiv an seinem Fortbestehen Beteiligten rissig und brüchig geworden. Ja, der ganze Boden, auf dem die Ideologien selbst so sicher und berechtigt zu stehen vermeinen, zittert und bebt in Wahrheit mit jedem Tag mehr. Keine nodi so laute Verkündigung ihrer Grundsätze, keine nodi so leidenschaftliche Verfechtung ihrer Ansichten, keine noch so kluge Beweisführung ihrer Heilspläne ist imstande, diese Tatsache aus der Welt zu schaffen. Die modernen Ideologien, die sich seit ihrem Auftreten so eifrig bemühen, alles Vorhandene in Frage zu stellen und immerfort die Veränderung des Bestehenden zu fordern, sind auf dem Höhepunkt ihrer Herrschaft durch eben deren Folgen in noch gar nicht abzusehender Weise selber in Frage gestellt und zur Veränderung auf(rcfnffiprt

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Dem ist so, auch wenn die Ideologien das nicht wahrhaben wollen oder unter dem Vorwand, ihre Gedankensysteme der Zeit anpassen zu müssen, tastende Versuche zur Regeneration unternehmen. Denn es wird von Jahr zu Jahr und beinahe von Tag zu Tag einer ständig wachsenden Zahl von Zeitgenossen immer deutlicher, daß unter dem Gebot der Ideologien und ihrer abstrakten Begriffsnetze nichts anderes stattfindet als eine langsam fortschreitende Entfesselung der menschlichen Triebwelt, ausgedrückt in immer brutaler ausbrechenden Bekundungen von Haß und Neid, Egoismus und Machtgier. Trotz aller Beschwörungen von Ethos und Moral vermögen die Ideologien des Zeitalters weder die individuellen noch die kollektiven Leidenschaften und Begierden des Menschen zu bändigen. Und in diesem Sachverhalt liegt, wie der zweite Weltkrieg endgültig bewiesen hat, ihr verhängnisvoller Bankrott beschlossen, den alles Verschweigen seiner Herkunft nicht verbergen oder gar rückgängig machen kann. Abstrakte Ideologie und konkrete Realität sind fortan nicht mehr in Deckung zu bringen, sondern klaffen zum Unheil der Menschheit endgültig auseinander. Sind darum alle modernen Ideologien als untaugliche weltliche Glaubenslehren zu verwerfen? Sind ihre Argumente durchweg irrig? Sind ihre Ziele sämtlich falsch? Oder haben diese Lehren nur ihre Rolle ausgespielt? Halten die Menschen bloß noch in Ermangelung anderer und besserer Stützen ihrer Ratlosigkeit eigensinnig oder ängstlich an den tatsächlich schon überholten, weil durch die Ergebnisse selbst widerlegten Theorien fest? Und: müssen daher neue politische Lehren gefunden oder erfunden werden? Solche Fragen bewegen heute infolge des unverkennbaren Bankrotts der Ideologien insgesamt, den die Gegenwart auf Schritt und Tritt mit der schier unlösbaren Verworrenheit ihrer Zustände im Kleinen wie im Großen zeigt, eine ständig zunehmende Zahl von Menschen in der einen oder anderen Weise. Sie lassen sich nicht einfach mit Ja oder Nein beantworten. Vielmehr können sie allein durch eine Prüfung von Wesen und Eigenart der modernen Heilslehren,j eder einzelnen wie ihrer Gesamtheit, entschieden werden. Solche Prüfung muß im Rahmen des Möglichen ohne Voreingenommenheit gegenüber den speziellen Inhalten und Zielen dieser Lehren vorgehen. Aber sie muß auch ohne Blendung durch den oft erheblichen Aufwand an Opfersinn, Mut und Tatkraft erfolgen, dessen noch jede Ideologie für alle Anläufe zu ihrer partiellen oder totalen Verwirklichung bedurfte. Diese Bedingungen für das Zustandekommen einer sachlichen Entscheidung über Wert oder Unwert, Richtigkeit oder Unrichtigkeit, Brauchbarkeit oder Unbrauchbarkeit

Ihre Herkunft aus der Aufklärung

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der Ideologien zum Aufbau der menschlichen Daseinsordnung schließen natürlich nicht aus, daß deren Prüfung von einem bestimmten Standpunkt aus erfolgt — ohne solch festen Ort wäre ein ernsthafter Versuch zur kritischen Beurteilung vergeblich'. Jede tiefer dringende Betrachtung der modernen Ideologien führt alsbald zu ihrem Werden, das heißt über ihre Leistungen und Wirkungen hinaus zur Geschichte ihrer Ziele und damit zur Entstehung ihrer Prinzipien und Methoden. Indem man sie in solcher Weise betrachtet, gewinnt man alsbald auch Einblick in die Eigentümlichkeit des Denkens, mit dem sie die Wirklichkeit erfassen und bewältigen. Als grundlegende Form ihres in die Zeit eingebetteten Weltverständnisses steht dieses Denken nicht weniger in der Geschichte als Staaten oder Völker. Wenngleich die Geschichte des menschlichen Denkens mit seinen verschiedenen Stufen gemeinhin weitaus verborgener bleibt als die Geschichte der Staaten und Völker, so ist sie doch von nicht geringerer Bedeutung. Denn das menschliche Denken, dessen Epochen sich nur dem tieferen Blick enthüllen, wirkt gleichsam aus dem verborgenen Hintergrund des Geschehens mit zwingender Kraft in den sichtbaren Vordergrund hinein. Es zieht gewissermaßen die Drähte des Spiels, das dann dort als Politik und Wirtschaft, Kunst und Wissenschaft, Recht und Sitte usw. abrollt. In solchem Sinne wirken auch und gerade die modernen Ideologien, in denen sich durchweg eine ganz bestimmte Denkform ausspricht. Und insofern sind ihre Leistungen und Wirkungen von der Geschichte ihrer Prinzipien und Methoden abhängig. Diese Denkform nun stammt im entscheidenden Ansatz aus dem Zeitalter der europäischen Aufklärung des 17. und 18. Jahrhunderts, auf das die modernen Ideologien in ihren letzten Voraussetzungen sämtlich direkt oder indirekt zurückgehen, selbst wenn sie teilweise erst im 19. oder gar 20. Jahrhundert aufgetreten sind. Denn diese beiden neueren Jahrhunderte sind geistes- und kulturgeschichtlich nur die Fortsetzung und Vollendung der zivilisatorischen Tendenzen jener beiden älteren Jahrhunderte. Das rationale Denken abstrakter Kausalität, das jene als eine neue Denkform mit außerordentlichen Folgen ausbildeten, wurde von diesen erst zu seiner vollen Konsequenz gebracht. Die sogenannte Aufklärung stellt also das geistige Fundament des eigentlichen „Zeitalters der Technik" dar, das mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts einsetzte und in seinem Verlauf die gesamte Daseinswelt der Menschen tiefsten Veränderungen unterwarf. Die Aufklärung ist als langsam reifende Frucht der Renaissance und der

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großen Entdeckungsreisen, des Humanismus und der Reformation entstanden. Die Erklärung für die Größe dieses Zeitalters, das recht eigentlich erst den breiten Ubergang vom Mittelalter zur Neuzeit vollzog, liegt ohne Zweifel in dem Umstand, daß sich in seinen schöpferischen Höhepunkten zwei seelisch-geistige Grundverfassungen des Menschen begegneten, befruchteten und wechselseitig steigerten. Noch lange verfügten nämlich die in verschwenderischer Fülle auftretenden bedeutenden Geister jenes an fruchtbaren Anfängen und reifen Ergebnissen einer neuen Form des Weltverständnisses so reichen Zeitalters der Aufklärung über die ungebrochene K r a f t und Tiefe des Gefühls, wie es dem voraufgehenden Mittelalter eigen war. Starke alte Emotionalität traf sich hier, wie man sagen kann, mit starker neuer Rationalität — und beide schufen in einer einzigartigen Verschmelzung die Grundlagen für eine völlige Wandlung der Welt und des Menschen. Angesichts des drängenden Reichtums an genialen Schöpfungen und Leistungen, mit denen es in der T a t ein neues Weltbild und ein neues Menschenbild errichtete, nimmt es nicht Wunder, daß dieses Zeitalter sich selber als licht und hell gegenüber dem Mittelalter empfand, das nun vom Standpunkt der Vernunft aus zu einem Zeitalter des Dunkels und der Finsternis, der Dumpfheit und der Enge wurde. D a ß dieses Zeitalter sich in Anbetracht seiner Entdeckungen und Erfindungen, die mit Hilfe des planenden und rechnenden Verstandes erzielt wurden, als Epoche eines unaufhörlichen Fortschritts begriff. D a ß es sich im Besitz der zivilisatorischen Errungenschaften, die es auf dem Wege des rationalen Denkens gewann und immer mehr ausbaute, als eine Zeit der Befreiung des Individuums von alten Banden und Fesseln der Natur erlebte. Und daß es sich ganz im Banne der stürmisch vorwärtsschreitenden Entwicklung auf so vielen Ebenen des menschlichen Daseins und vornehmlich in der Wissenschaft zu einem gläubigen Optimismus bekannte, der von der Zukunft nicht mehr erwartete als eine ständige Verbesserung und Vervollkommnung der menschlichen Lebensbedingungen durch die konsequente Ausbildung eben der Denkform, mit deren Hilfe es eine neue Epoche der Menschheitsgeschichte begründete. Das Tor, das sie mit der leuchtenden Fackel des seiner selbst bewußt gewordenen Verstandes aufstieß, um aus dem vermeintlichen Dunkel des Mittelalters in das helle Licht der Neuzeit zu treten, erschien der Aufklärung mit subjektivem Recht als der verheißungsvolle Eingang zu einem irdischen Paradies. In diesem Paradies der völlig von der Vernunft beherrschten Zukunft konnte sich, so meinte jene Zeit, der alte Traum der Menschheit er-

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füllen, eine Welt ohne Willkür und Unfreiheit, ohne Ungerechtigkeit und Ungleichheit, ohne Unordnung und Unsidierheit, ohne Ausbeutung und Unterdrückung, ohne Haß und Feindschaft zu schaffen. Denn die Macht des neuen Denkens, das nur noch sich selbst und das heißt der Wahrheit seiner Logik verpflichtet war, schien unermeßlich zu sein. Ihr mußte sich wie einem Zauberstab alles beugen — Kultur und Natur, Mensch und Ding. Seine zur Wahrheit und damit zum Guten drängende Kraft machte, wie seine ersten Ergebnisse zu beweisen schienen, prinzipiell vor nichts halt, weil alles ihm zum Wohle der Menschheit unterworfen war. Deshalb galt es nur, den rationalen Plan, der offenbar in den Werken der Schöpfung lag, zu entdecken und der Vernunft des Menschen zu unterbreiten, um all das, was diesem Plane noch durch vorläufige Unvollkommenheit, weil Vernunftwidrigkeit nicht entsprach, auszumerzen und damit dann ein Zeitalter der allgemeinen Glückseligkeit herbeizuführen. Denn das neue Weltbild gipfelte mit überzeugender Selbstverständlichkeit auch in einem neuen Menschenbild. In der von rationalen Gesetzen beherrschten Welt lebt der mit Vernunft begabte Mensch — und sowohl all die zahlreichen Mängel 'der Welt als auch all die zahlreichen Schwächen des Menschen rühren im Grunde daher, daß ihre Gesetze noch nicht ausreichend erkannt sind und seine Vernunft noch nicht vollständig herrscht. Wie daher jene erforscht werden müssen, so muß diese immer mehr von ihren alten Fesseln und Banden erlöst werden, um am Ende das Paradies einer vollkommen vernünftigen Zukunft zu ermöglichen. Die Mittel hierzu sind folgerichtig vor allem Wissenschaft und Erziehung, Forschung und Schule. Diese Mittel werden mit Sicherheit zu dem erstrebten Ergebnis führen, wenn man sie nur konsequent anwendet. Denn da der Mensch eben durdi seine Vernunft, seinen Verstand zum Menschen geworden ist, da das Vernünftige auch das Wahre und das Wahre notwendig auch das Gute ist, kann die Ausbildung seiner Vernunft, wie sie ja in erster Linie Wissenschaft und Erziehung bewirken, nur der Verwirklichung des Guten dienen. Weil der Mensch die Gabe der Vernunft besitzt, die bloß unter dem Schutt der Unvernunft seiner geschichtlichen Vergangenheit vergraben ist, muß er von sich aus und von Grund auf gut sein und ein natürliches Streben zum Guten, weil Wahren haben. Wird seine Vernunft deshalb von jenem Schutt befreit, so wird und muß auch diese Eigenschaft des menschlichen Gutseins zum Durchbrach und schließlich zur Herrschaft kommen. Das Böse und Schlechte im Mensdien sowie die feindlichen und störenden Kräfte in der Natur sind

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daher im Weltverständnis der Aufklärung nur so lange mächtig, als sie noch nicht von der guten Vernunft, vom siegreichen Verstand beherrscht sind. Erziehung und Wissenschaft, die großen Mittel des rationalen Denkens, arbeiten ständig an der Aufrichtung dieser Herrschaft, mit deren einstiger Vollendung das Böse und Schlechte im Menschen verschwinden wird sowie die feindlichen und störenden Kräfte in der Natur gezähmt sein werden. Menschenbild und Weltbild der neuen Denkform, die alles rational begreift und begründet, greifen also ineinander, um eine Zukunft zu schaffen, deren Glück nicht erst im Jenseits, sondern schon im Diesseits hier auf Erden liegt. Um dieses Zieles willen wurden beide so in unauflöslicher Wechselwirkung zu den eigentlichen Leitbildern des neuen Zeitalters, an denen sich seine Menschen orientierten. Doch diese neue Orientierung des Menschen zog alsbald noch weitere Folgen nach sich. Indem sie nämlich die Verheißung irdischen Glücks enthielten, wurden diese Leitbilder gleichzeitig auch zu Keimen und Stützen eines neuen weltlichen Glaubens, der sich in der Aufklärung erstmals entwickelte und anfangs neben, später jedoch vor den alten Glauben der Religion trat, um ihn immer mehr in den Hintergrund zu drängen. Diesen neuen irdischen Glauben, der allmählich aus dem Weltbild und dem Menschenbild der Aufklärung entstand, bildeten — in ihrer endgültigen Aufspaltung verschiedenen Konfessionen und Sekten vergleichbar — die modernen Ideologien. Was die Aufklärung im Zeichen des neuen Welt- und Menschenbildes hoffte und glaubte, wünschte und ersehnte, das trat dann auch ein: es wurde tatsächlich licht und hell. Die alten Bande und Fesseln fielen, und die Zivilisation begann einen Siegeszug ohnegleichen. Aber diese Erfüllung ihrer optimistischen Träume war keineswegs von jener Dauer, die sie erstrebt hatte. Vielmehr erfolgte in dem an die Aufklärung anschließenden Zeitalter, das ihre Grundzüge bis zur Vollendung weiterentwickelte, zunehmend ein Umschlag ins Gegenteil. Und zwar insofern, als die feindlichen und störenden Kräfte der Natur allerdings gebändigt wurden, das Böse und Schlechte im Menschen indessen nidit nur nicht verschwand, sondern entgegen allen Erwartungen erst recht entfesselt wurde und damit das eigentliche Ziel jener optimistischen Träume zuschanden machte. Von außen betrachtet, ist dieser Umschlag für den modernen Menschen im Banne der Ideologien immer wieder einer der geheimnisvollsten Vorgänge seiner Kulturgeschichte. Von innen und jenseits des ideologischen Weltverständnisses und seines Men-

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schenbildes gesehen, stellt er jedoch nur die Auswirkung der in der rationalen Denkform bereits angelegten Tendenzen dar. Die im technischen Zeitalter zur Gegenwart gewordene Zukunft, die das Wunschbild der Aufklärung war, wurde immer heller und lichter im Sinne einer Erleuchtung durch den entdeckenden und erfindenden Verstand. Aber bald begann dieses Licht mit seiner Helligkeit zu blenden. Es leuchtete nicht nur, sondern es schmerzte am Ende auch. Denn der Mensch verlor in der Fülle seines Wissens den Glauben an Gott, in der Kälte seines Bewußtseins die Wärme des Gefühls «nd in der Schärfe seines Denkens die Ge-

borgenheit des natürlichen Einklangs mit der Welt. Und mit der Befreiung des Individuums von alten Banden und Fesseln war dasselbe der Fall: sie endete in der Entwurzelung. Die Freiheit von der Vergangenheit durdh Auflösung der Tradition wurde im anschließenden Zeitalter der Masse zuletzt so weit getrieben, daß man ihr Resultat als Entfesselung des Menschen bezeichnen mußte. Und dieser Entfesselung entsprach in geheimer Verbindung die Entfremdung des Menschen gegenüber und inmitten der Wirklichkeit der Dinge und die Vereinsamung innerhalb der Gemeinschaft der Mitmenschen, was dann am Ende, dem Ergebnis eines neurotischen Prozesses vergleichbar, die Konsequenz einer Verkümmerung sowohl der Individuen als auch der kollektiven Gebilde nach sich zog. Und was schließlich die Erhöhung und Verfeinerung des materiellen Niveaus der Zivilisation anbetrifft, der die Aufklärung siegesgewiß den Boden bereitet hatte, so vollendete sich hier nur, was dort begonnen hatte. Die Zivilisation wurde derart kompliziert, daß der unübersehbar ausgedehnte Riesenapparat der Lebensfürsorge für die Bevölkerungsmassen ganzer Erdteile immer öfter nicht mehr funktionierte und die Menschen hilfloser denn je der Not und dem Elend überließ. Das der Aufklärung folgende Zeitalter der Technik ist mithin, als Ganzes genommen, nicht bloß ihre Fortsetzung und Vollendung geworden, sondern gleichzeitig ihre Umkehrung und Widerlegung. Sein zwiespältiges Janusgesicht offenbart diesen Sachverhalt mit unüberbietbarer Deutlichkeit. Unsere Gegenwart vollends hat die Doppelgesichtigkeit der technischen Zivilisation, die von der Bändigung der Natur und der Entfesselung des Menschen gebildet wird, auch dem letzten Zeitgenossen zum unmittelbaren Erlebnis gemacht — sie ist, wie vor allem die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts zeigen, eine unleugbare Tatsache. Der immer höheren wissenschaftlichen und organisatorischen Vervollkommnung unseres Daseins steht eine immer tiefere menschliche Verwilderung und der immer höheren technischen

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und wirtschaftlichen Differenzierung unseres Lebens eine immer tiefere soziale und politische Unordnung gegenüber. Die fortschreitende Entwicklung der äußeren Welt wird in ihrem Erfolg für den Einzelnen wie für die Gesamtheit mit unheimlichem Zwang gleichsam Zug um Zug von innen her nicht allein rückgängig gemacht, sondern mit eindrucksvollem Kontrast in einen fortschreitenden Niedergang verwandelt. Diese Zwiegesichtigkeit des heutigen Daseins, die in den beiden Kriegen mit ihren Triumphen der Technik und Organisation, aber auch mit ihren Orgien des Hasses und der Roheit gipfelt, ist so augenfällig, daß sie zu dem Schluß zwingt: in ihr liegt ein Gesetz des Kulturablaufs verborgen, das in Wahrheit eine Gesetzlichkeit der menschlichen Natur offenbart. Und zwar muß jener Zwiegesichtigkeit der gegenwärtigen Existenz auf dem vorläufigen Höhepunkt der modernen Zivilisationsentwicklung eine Gesetzlichkeit der menschlichen Natur und kann nicht, wie vielfach irrtümlich angenommen wird, eine Gesetzlichkeit der Dinge zugrunde liegen, weil alle technischen Erfindungen und organisatorischen Errungenschaften in ihrer Wirkungsmöglichkeit prinzipiell neutral sind. Das heißt, sie können zum Guten wie zum Schlechten verwendet werden. Denn die Wahl zwischen beiden Möglichkeiten trifft stets und überall der Mensch, dem die Erde Raum genug bietet, um in Frieden und Ordnung zu leben. Gelingt ein solches Leben nicht mehr in dem Maße, wie es früheren Zeiten trotz all ihrer Mängel und Schwächen gelungen ist, so dürfen folglich auch nicht die Dinge, sondern können einzig die Menschen selber dafür verantwortlich gemacht werden. Dann aber bleibt nur ein einziger Schluß übrig: die Menschen müssen im Vergleich zu einst eine grundlegende Wandlung durchgemacht haben, die ihr Verhalten entscheidend veränderte. U n d da es nicht ihr Äußeres sein kann, das sich doch gleichgeblieben ist, muß es ihr Inneres sein, das seine alte Beschaffenheit verloren und damit auch Frieden und Ordnung im Großen wie im Kleinen die geheimen Voraussetzungen entzogen hat. Die neuere Zeitbetrachtung, zu der sich als einer ausgesprochenen Zivilisationskritik seit langem die Wissenschaften vom Menschen und seiner Kultur zusammengefunden haben, ist mit einer ganzen Kette von Vorstellungen und Begriffen über die Krise des technischen Zeitalters schon weit ins öffentliche Bewußtsein unserer Tage eingedrungen. Aber so sehr ihre verschiedenen Ansichten und Lehren auch einen unentbehrlichen Beitrag zur Erkenntnis der in Frage stehenden Problematik geliefert haben, so sehr hat doch auch wieder die Fülle der vorgetragenen Auffassungen in ihrer Gesamt-

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wirkung den Blick der Zeitgenossen für das gegebene Zustandsbild getrübt. Die verwirrende und oft einander widerstreitende Menge der Anschauungen und Meinungen vom Wesen des ganzen Geschehens, das dem modernen Menschen zugleich Sieg und Niederlage bringt, ist nicht imstande gewesen, eine einfache Klarheit des Begreifens und von da aus eine brauchbare Richtschnur des Handelns aufkommen zu lassen. Obwohl mit fast jedem einzelnen Begriff jener Wissenschaften, mit beinahe jeder bedeutenden Lehre der am Zeiträtsel bemühten Forscher und Denker unstreitig ein heller Lichtstrahl auf die eine oder andere Seite der fraglichen Problematik fiel, so verhüllten sie doch gerade in ihrer Menge diese Problematik als Ganzes. Ja, sie entrückten damit das hinter der tiefen Fragwürdigkeit des gegenwärtigen Daseins liegende Gesetz der verstehenden Einsicht und dem entschlossenen Zugriff mehr, als daß sie es näherbrachten. So blieben sie bei aller in ihnen aufgewandten Genialität und Intensität des Denkens und Forschens nur Aspekte und Fragmente, bloß Hinweise und Entwürfe, ohne aus dem Reichtum der erkannten Tatbestände und Sachverhalte einen festen Standort des Verstehens und eine sichere Linie des Verhaltens entwickeln zu können. Dieser offenkundige, aber gewöhnlich verschwiegene Mangel der an scharfsinnigem Einblick so reichen und an entschiedenem Überblick so armen Zeitkritik geht allem Anschein nach auf das Welt- und Menschenbild der Aufklärung, auf die Einseitigkeit der rationalen Denkform und damit auf die Identität des modernen Menschen mit seiner Zivilisation zurück. Erst wenn man dieses Welt- und Menschenbild mit seinen weitverzweigten Folgerungen aufgibt, entschleiert sich nämlich der Grundvorgang, den die Erörterung des Problems in immer wiederholten Bemühungen umkreist, ohne bisher jene feste Linie und jenen sicheren Standort zu gewinnen. Dann aber ergibt sich als zusammenfassende Feststellung für die Gesetzmäßigkeit, nach der Krise und Katastrophe unserer Zivilisation eingetreten sind, folgendes: Der Fortschritt der menschlichen Rationalität ist auf die Dauer offenbar von einem „Rückschritt" der Emotionalität begleitet, von einer Involution der menschlichen Gefühlskräfte. Und dieser Rückschritt wiederum ist von einem unwiderstehlichen Vordringen der menschlichen Vitalität gefolgt. Das heißt, die beständig fortschreitende Entwicklung von Verstand und Bewußtsein beseitigt, indem sie den modernen Menschen immer mehr von überlieferten Schranken und Fesseln befreit, damit 2ugleich die Dämme und Wälle, die seine Triebregungen bisher in festen Grenzen gehalten haben.

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Der anonyme Schöpfer aber dieser traditionsmäßigen Dämme und Wälle gegen die menschliche Triebhaftigkeit, die am wirksamsten von der Religion, von den Werten und Normen, von Sitte und Brauch gebildet wurden, ist das Gefühls- und Instinktleben. Dieses ist es denn auch, das mit der Auflösung und Vernichtung der überkommenen Bindungen zunehmend mehr durch Rationalität und Bewußtheit verdrängt wird. Mit anderen Worten: das Fortschreiten des Verstandes in Richtung auf ein ganz abstraktes Kausalitäts-, Zweck- und Nützlichkeitsdenken, das in der Welt der Technik und Organisation entsprechende äußere Form annimmt, fördert eine gefährliche Verengung und Verflachung der Gefühls- und Instinktsphäre und führt damit einen von Jahrzehnt zu Jahrzehnt schnelleren Abbau und Verlust der ihr entsprechenden Formenwelt herbei. Und diese Verengung und Verflachung der Gefühls- und Instinktsphäre, dieser Abbau und Verlust der von ihr in langer Tradition geschaffenen Formenwelt zieht dann mit Notwendigkeit die Entbindung und Entfesselung der gesamten Triebsphäre nach sich, der keine wirksamen Grenzen und Schranken mehr Halt gebieten. Die solcherart entstandene Freisetzung der triebhaften Regungen des neuzeitlichen Menschen ist es, durch die sich das immer wieder überraschende Mit-, Bei- und Nebeneinander von Verstandesherrschaft und Triebherrschaft erklärt, das so nachdrücklich wie nichts anderes das Gesicht unserer Zeit als Sieg und Niederlage in einem prägt. Aller Wahrscheinlichkeit nach liegt denn auch hier, jenseits aller ideologischen Weltauslegung mit ihrem einseitig rationalen Menschenbild, die in unendlich' komplexer Gestalt wirkende Ursache für den verfahrenen Zustand der modernen Zivilisation als kulturelles Gebilde. Denn diese enge Nachbarschaft, diese Gleichzeitigkeit und wechselseitige Verzahnung von höchster Verstandeskultur und äußerster Bewußtheit mit einer geradezu dämonischen Tyrannei der Triebe ist das eigentlich Neue und im Vergleich' zu früheren Zeiten sowohl Verblüffende als auch Bestürzende an ihr. Jeder Blick in die Wirklichkeit trifft auf diesen Sachverhalt, wenn er nicht in ideologischer Enge befangen bleibt, sondern sieht, was tatsächlich ist. Der über allen Vergleich hinaus entwickelte Verstand vermag nicht mehr jene allgemeine Ordnung zu stiften, die der Mensch in Erinnerung an die Vergangenheit für selbstverständlich halten muß. Und zwar vermag er das deshalb nicht, weil er stets von neuem durch die außerordentliche Dynamik der Triebregungen daran gehindert, weil seine Herrschaft immer wieder von den übermächtigen Kräften der Tiefe durchbrochen und vereitelt wird.

Die Korrespondenz zwischen Ratio und Trieb

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Vergebens ruft der Mensch im Banne seines gewohnten Welt- und Menschenbildes die Vernunft zu Hilfe, erwartet er Erfolg vom Walten rationaler Regelung, verspricht er sich Abwehr durch verstandesmäßige Übereinkunft. Trieb, Wille, Leidenschaft, Begierde, oder wie sonst man die Mächte der Tiefe in ihm selbst benennen will, sind und bleiben stärker und vereiteln gleichsam hinterrücks von Mal zu Mal alle Anstrengungen des Denkens. Hinter dem glänzenden Proszenium der technischen Zivilisation treten Selbstsucht und Machtgier, H a ß und Neid, Angst und Mißtrauen ihrerseits immer mehr eine verderbliche Herrschaft an und beweisen individuell wie kollektiv die Ohnmacht der Ratio gegenüber den elementaren Kräften in der Menschenbrust. Jede Diagnose des gegenwärtigen Zustands unserer Daseinswelt, die ohne ideologische Befangenheit vorgenommen wird, muß unvermeidlich' auf diesen Zusammenhang stoßen, der das Ergebnis eines sich allmählich verschärfenden Vorgangs im menschlichen Innern ist und insofern allem äußeren Verhalten und Handeln voraufgeht und zugrunde liegt. Man muß jedoch das aus der Aufklärung stammende und durch den Einfluß der technischen Umwelt vorwiegend unbewußt herrschende Welt- und Menschenbild erst entschlossen beiseite schieben, um sehen zu können, daß hier ein Geschehen stattfindet, dessen scheinbar gegensätzliche Glieder tatsächlich doch aufs engste miteinander verbunden sind. Denn eins bedingt jedenfalls in der neueren Entwicklungspsychologie des Menschen das andere: Rationalität und Triebhaftigkeit, und das sind für die heute vorliegende Problematik die einseitige Entwicklung der Verstandeswelt und die folgenschwere Entbindung der Triebwelt, gehören im seelisch-geistigen Gesamtverlauf des modernen Zeitalters offensichtlich gesetzmäßig zusammen. Das heißt: sie korrespondieren in Wahrheit miteinander! Gerade weil der Mensch seine Verstandeskräfte im Gegensatz zu früher übermäßig ausbildete, weil er sein Bewußtsein über jede bisher bekannte Grenze ausweitete, traten auch seine Triebkräfte übermäßig hervor — und zwar als vitale Gesamtheit ihrer einzelnen Regungen und Strebungen. Indem das eine Vermögen einseitig betont und verbreitert wurde, brach auch das andere aus seinen bis dahin traditionell wirksamen Bindungen hervor. Die vordringende Verstandeswelt zerstörte und die ausbrechende Triebwelt überwältigte nämlich zuerst in langsamen Schüben und bald in immer rascheren Stößen die Verhaftung beider in der Gefühlswelt, Dabei wurde diese Gefühlswelt dann gleichzeitig ihrerseits in einem vielschichtigen entwicklungspsychologischen Prozeß in den Hintergrund gedrängt, verflacht 3

Mühlenfeld, Politik

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und eingeengt. Von dort aus vermag sie jedoch ihre seit alters eingespielte Doppelrolle als unsichtbarer Wächter ihrer Kontrahenten, der Verstandesund Triebkräfte, nicht mehr in der gewohnten Weise zu wahren — die Leidenschaft triumphiert über das Gefühl. Das menschliche Verhalten in der Gegenwart läßt dieses Geschehen unter derOberflädie in seinen individuellen wie in seinen kollektiven Erscheinungsformen überall als Tendenz des Lebens in der Zivilisation erkennen. Seine verblüffende Neuartigkeit, die heute durch keine historischen Einzelparallelen mehr fortzudisputieren ist, wird anders als auf solche Weise überhaupt nicht mehr verständlich. Die ausführliche Begründung dieser unsichtbaren Korrespondenz zwischen Ratio und Trieb, in welcher Formel sich die beschriebene Gesetzmäßigkeit erfassen und ausdrücken läßt, werden vornehmlich die folgenden Abschnitte unserer Untersuchung mit der Darstellung des Konservatismus und seiner Pseudoform sowie mit dem Entwurf zur Neubegründung einer zeitgemäßen Theorie des konservativen Gedankens geben. Denn jene Gesetzmäßigkeit der innermenschlichen Entwicklung, die hinter den Krisen und Katastrophen der Gegenwart steht, kann nicht mit der präzisen Kürze mathematischer Abstraktion bewiesen werden. Ihrer eigenen Natur gemäß, kann sie vielmehr allein in lebendiger, Beispiele und Sinnzusammenhänge aufweisender Umschreibung erfahrener und erlebter Wirklichkeit einleuchtend gemacht werden. Ohne Frage bedarf die konservative Theorie selber, um sich für die Gegenwart als notwendig zu erweisen, am meisten der Einsicht in die Korrespondenz von Ratio und Trieb als des maßgebenden Faktors in der seelisch-geistigen Grundsituation des technischen Zeitalters. Doch ist das Wissen um das Vorhandensein dieses geheimen Wechselspiels zwischen Rationalität und Triebhaftigkeit auch schon für die Betrachtung und Erkenntnis der modernen Ideologien unentbehrlich. Denn die Prüfung ihrer Inhalte und die Besinnung auf ihr Wesen führt immer wieder auf dieselbe Denkform zurück und stößt daher in jedem einzelnen Fall alsbald auch auf dieselben Folgen, die das rationale Denken in der menschlichen Vitalsphäre auf vielfältige Art nach sich zieht. Und damit liefert dann die Beschäftigung mit ihnen bereits die erste Reihe von Argumenten, die jene Gesetzmäßigkeit einleitend verdeutlichen. Die modernen Ideologien sind in ihrer wechselnden Gestalt nämlich, wie ihre Darstellung im einzelnen unzweifelhaft erkennen lassen wird, die großen politischen Ausdrucksformen dieses gemeinsamen Hervortretens von rationalen und triebhaften Elementen in und aus der inneren Verfassung

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des Menschen im technischen Zeitalter. Nicht die Technik selber ist, wie man vielfach glaubt, der Hauptschuldige an der tiefen Unordnung der modernen Zivilisation, sondern diese neuen Ideologien sind es. Denn erst sie haben den an sidi neutralen „Geist der Technik", die es bloß mit Sachen zu tun hat, im großen Maßstab des für weite Gruppen und Schichten verbindlichen Denkens und Handelns auf den ganz anderen Bereich des Menschlichen übertragen, der vor allem seelisch, gefühls- und instinktmäßig bedingt ist. Die modernen Ideologien sind deshalb auch in ihrer höchstverzweigten Auswirkung die entscheidenden Träger und Verbreiter jener verhängnisvollen Korrespondenz von Ratio und Trieb geworden: Sie haben die Zeitgenossen der technischen Zivilisation je länger, desto mehr auf einem der tatsächlich wichtigsten Gebiete menschlichen Daseins, im gemeinschaftlichen Zusammenleben, durch ihre Wunschbilder wie mit einem Gift infiziert und damit schließlich die größte soziale Seuche hervorgerufen, die jemals bestand — eine direkt oder indirekt wirkende, aller geschichtlichen Vergleiche spottende Politisierung der modernen Existenz, die den einzelnen Menschen als Individualität auszulöschen droht, um nur noch den Massenmenschen als Kollektivwesen übrigzulassen. Sie sind es, die vor allem für jene Übergriffe des Fortschritts vom Sachlichen auf das Menschliche verantwortlich gemacht werden müssen, die unsere Daseinswelt an den Rand des Abgrunds gebradit haben. Wie die modernen Ideologien unmittelbar oder mittelbar sämtlich aus der neuen Denkform stammen, die in der Aufklärung geboren wurde, so teilen sie also samt und sonders auch das Schicksal derselben, mit dem Aufschwung der Rationalität zugleich Triebhaftigkeit zu entbinden. Dies wird vor allem an dem Grunderlebnis des rationalen Denkens deutlich, das auch zum Grunderlebnis der weltlichen Heilslehren werden mußte. Von sich aus ist diese neue Denkform auf unendliches Fortschreiten, das heißt auf eine dauernde Ausdehnung ihrer Geltung und eine beständige Vervollkommnung ihrer Mittel angelegt. Ganz anders als die Denkformen früherer Zeitalter und außereuropäischer Kulturkreise, treibt das rationale Denken, das alte Schranken und Fesseln niederreißt, mit zwingender Notwendigkeit aus sich selbst gleichsam gradlinig seine Weiterentwicklung hervor. Wo nämlich allein die Erforschung und Erhellung immer neuer Kausalgesetzlichkeit als Ziel gilt, da bewegt sich das Denken in der einmal eingeschlagenen und mit jedem Schritt fester werdenden Bahn unermüdlich weiter. Immer mehr Ursachen und Wirkungen suchend und findend, die sich 3*

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über den bereits gesicherten wie ein riesiger Turmbau der Kausalität in steile und steilste Höhen erheben, drängt es unaufhörlich voran. Mehr und mehr von allen Behinderungen durch Tradition und Konvention befreit, die das menschliche Denken bisher eingeschränkt und gebunden haben, setzt es sich solcherart in einer Linie fort, deren Endpunkt um so weiter in die Unermeßlichkeit des Erforschbaren und Erkennbaren hinausgeschoben wird, je unbeirrter und schneller es sie verfolgt. Ja, dieses Denken hat der prinzipiellen Intention nach in Wahrheit überhaupt kein Ende. Denn es beruhigt sich, sofern nur die in ihm wirksame Energie erhalten bleibt, niemals mit irgendwelchen Ergebnissen, sondern eilt seinem Wesen gemäß ruhelos vorwärts. Stößt es an Grenzen, die sich seinem Zugriff nicht öffnen, so nimmt es sie zum Anlaß, hinter ihnen noch unerschlossene, aber grundsätzlich erschließbare Kausalität zu vermuten, die sich fortgesetzten Bemühungen und neuausgebildeten Erkenntnismitteln dereinst doch entschleiern wird. In seinem Zeichen verliert die Welt daher, ob schon erreicht oder noch bevorstehend, mit höchster Folgerichtigkeit scheinbar eines um das andere ihrer Geheimnisse und die Zukunft einen um den anderen ihrer Schrecken. Was aber das rationale Denken zu seiner Unersättlichkeit bringt, was es auf einer geraden Linie der Aufhellung immer weiterer und tieferer Kausalzusammenhänge vorantreibt und auf diesem Erkenntnisweg ohne Ende weder ruhig werden noch ermatten läßt, das ist die mit ihm gleichzeitig freiwerdende Vitalität. Und dies eben unterscheidet es auch von ähnlichen Denkformen anderer Zonen und Zeiten, die sich mit einem bestimmten Erkenntnisstand begnügten. Denn dieses Denken verschafft, indem es mit Hingabe betrieben wird, auch der entbundenen Triebhaftigkeit seine Befriedigung. Machtdrang und Selbstsucht erhalten in tausenderlei Form durch seine Ergebnisse eine Erfüllung, deren Ausmaß größer ist als je zuvor. Aus dieser Erfüllung schöpft es dann immer wieder seine Bestätigung, um vorwärtszudringen zur Erkenntnis neuer Kausalität, die in anderer Konstellation doch nur wieder dieselbe Wirkung hervorruft. Die einseitig betonte. Rationalität setzt mithin, getragen von der Verwandlung der menschlichen Umwelt in technische Zivilisation, alsbald im Menschen selbst Triebhaftigkeit frei, und die so entfesselte Triebhaftigkeit bedient sich darauf der Rationalität, die ihrerseits neue vitale K r a f t entbindet. Dies unermüdliche Wechselspiel zwischen Ratio und Trieb verwischt, je länger es stattfindet, schließlich sogar die Grenze zwischen seinen beiden Polen, so daß es im konkreten Einzelfall des modernen Geschehens sehr

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o f t zweifelhaft werden mag, ob der neuen Denkform überhaupt noch der Primat zugewiesen werden darf. Das gilt auch und gerade für die modernen Ideologien — wir werden noch ausführlich sehen, daß ihre jüngsten Formen mehr triebhafte als rationale Züge aufzuweisen scheinen, obwohl sie zweifellos gleicher Herkunft sind wie die älteren Formen, bei denen das anfängliche Verhältnis zwischen Verstandeswelt und Triebwelt noch unverwischt zutage tritt. Mit einem Wort: das Grunderlebnis des rationalen Denkens ist die triebhaft erfüllte Idee des unaufhörlichen Fortschritts—und zwar des Fortschritts nicht im Sinne einer natürlich wachsenden Entwicklung, wie sie der Begriff der Evolution vortäuscht, sondern im Sinne einer künstlich-zweckhaften, selbstherrlichen und machtbewußten Vervollkommnung des rational Unvollkommenen, die durch dauernde Änderung des Bestehenden erreicht werden soll. Die Idee dieses Fortschritts, die das unvergleichliche Merkmal unseres ganzen Zeitalters geworden ist, quillt gleichsam selbsttätig aus der rationalen Denkform hervor und ist tatsächlich deren notwendige Folgerung. Selbst wenn sie sich o f t bis zur Unkenntlichkeit hinter irgendwelchen Verkleidungen verbirgt — wer sich in dieser Denkform bewegt, der muß solcherart fortschrittlich denken, ob mit oder ohne Willen und Wissen um die Notwendigkeit des Zwanges hierzu. Und wer unter dem Einfluß dieser Fortschrittsvorstellung lebt, in dem weckt sie eben als solche mit geheimer Grundsätzlichkeit bewußt oder unbewußt auch immer Ungeduld mit der Gegenwart und damit Geringschätzung oder mindestens Kühle, Distanz, Fremdheit gegenüber jeder Vergangenheit. Wer vom Denken in kausaler Rationalität Gebrauch macht oder ergriffen wird, der kann infolgedessen gar nicht anders, als in unwillkürlicher Erwartung den Fortschritt vorauszusetzen, selbst wenn er in keiner Weise an der Weiterbildung der ihn begründenden Denkform beteiligt ist. Die Tendenz zu ständiger Ausweitung der Kausalität, zu dauernder Änderung der gegebenen Zustände, zu prinzipieller Ungeduld mit der Gegenwart und zu wesensmäßiger Fremdheit gegenüber der geschichtlichen Vergangenheit mag stark oder schwach ausgeprägt sein und in der oder jener Form erscheinen. Aber vorhanden ist sie in irgendeiner Weise immer, w o und wann die W i r k lichkeit im Sinne einer in sich geschlossenen Denkform rational erfaßt und bewältigt wird. Z u Anfang, im vorbereitenden Zeitalter der Aufklärung, blieb die Teilnahme und Teilhabe an diesem neuen Denken in der Kategorie des Fort-

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schritts immerhin noch auf relativ kleine Kreise, auf eine mehr oder minder dünne Schicht von Menschen beschränkt, da die staatlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebensformen sich bloß langsam seinen Erfordernissen > anpaßten und entsprechend wandelten. Doch im Zeitalter der Technik, das der Aufklärung folgte und ihre neuen Grundzüge allmählich bis zu vollkommener Reinheit ausbildete, nahm eine immer größere Zahl von Menschen dieses einseitig rationale Denken an, bis es schließlich zur herrschenden Denkform wenigstens in den großen Städten und Industriegebieten wurde. Jeder mußte sich ihr beugen, jeder lernte sie zu handhaben, jeder erkannte sie als das vernünftige Denken schlechthin an. Damit war denn auch, ob dies jeweils bewußt wurde oder nicht, die diesem Denken innewohnende Idee des Fortschritts mit all ihren Eigenschaften zum Grunderlebnis des modernen Menschen geworden. Und dieses Grunderlebnis formte dann, ohne Zutun des Einzelnen und noch lange von dem Optimismus des Fortschrittsglaubens verdeckt, die eigentliche Grundstimmung der ganzen Epoche: eine nie mehr zur Ruhe kommende, als drängende und treibende Unruhe gleichsam unter der Oberfläche des Stolzes auf die Errungenschaften der Zivilisation schwälende Unzufriedenheit, die aus der ungeduldigen Erwartung und Forderung nach unaufhörlicher Verbesserung aller Zustände und das heißt nach unaufhörlicher Veränderung des Bestehenden erwuchs. Mit solcher Erwartung und Forderung war dann alsbald auch in wechselnder Form, doch mit gleichbleibendem Inhalt naturgemäß die Unmöglichkeit oder besser Unfähigkeit verbunden, wie bisher Not, Leid und Unglück so zu empfinden und zu ertragen, daß sie ihren Lebenssinn behielten und zur Besinnung, zur Läuterung und damit zur Reife des Menschen beitrugen — noch nie wurde unser Leben so naiv ohne Geschichte geführt wie heute, wo die allgemeine Primitivität nirgends größer und schrecklicher ist als im geschichtslosen Raum des reinen Fortschrittsdenkens. Denn Not, Leid und Unglück werden unter dem Bann dieser tyrannischen Denkform nicht mehr wie einst als von Gott gesandtes Geschick des unvertauschbaren Ich erlebt, sondern immer zwanghafter bloß noch als kausal bewirkte „Betriebsunfälle" in einer rationalen Daseinsrechnung, die eben deshalb mit den Lebenswegen aller anderen Menschen prinzipiell vergleichbar ist. Daher wird das Schicksal auf dieser Ebene des Bewußtseins denn auch zusehends mehr zu einem Mechanismus ohne Gnade und Geheimnis, dessen Versagen ganz folgerichtig stets die häßliche Suche und den bösen Ruf nach dem Schuldigen hervorbringen muß.

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Teilnahme und Teilhabe ständig größerer Menschenzahlen am modernen Denken rationaler Kausalität und seiner überall hingreifenden Bewußtheit der Lebensvorgänge entstand dabei nicht nur durch Belehrung, Vorbild oder Beispiel, sondern erklärt sich in ihrem ganzen Umfang vornehmlich aus zwei Gründen. Einmal wurde der gesamte menschliche Daseinsraum nach und nach von der Technik erfaßt, durchdrungen und geformt. Damit sah sich der Mensch fast aller Berufe und Schichten mit wachsendem Druck in eine Umwelt hineingestellt, die selber doch bloß Form gewordene Rationalität, Gestalt gewordene Kausalität und konkret gewordene Abstraktion war. Z u ihrer Bewältigung und Beherrschung mußte daher auch die neue Denkform übernommen und gewissermaßen gelernt werden, ob man wollte oder nicht. Und zum andern fand diese neue Denkform deshalb und dort willig A u f nahme, weil und wo ihre Anwendung jenem schon seit Renaissance und Humanismus bestehenden, aber erst seit der Aufklärung unwiderstehlich emporschießenden und immer weiter um sich greifenden Drang nach Freiheit Erfüllung schenkte, den die gleichzeitig stattfindende Freisetzung der Vitalität mit sich brachte. Dank des neuen Denkens erst und durch seine Hilfe konnte man sich nämlich mit endgültigem Erfolg von den Banden und Fesseln befreien, die noch der aus dem Mittelalter überkommenen Ordnung des Leibes wie der Seele angehörten. Das Denken bestimmt mit seiner verborgenen Geschichte also auch die soziale und politische Geschichte der sichtbaren Welt. A u f diese Weise ist das europäische Bürgertum in seinem Kampf gegen die soziale und politische Abhängigkeit von der ständischen Lebensordnung zum ersten Träger und frühen Vollender des Rationalismus geworden. Dabei erstritt es aber nicht die Freiheit für alle Menschen, die sozial abhängig waren und sich unterdrückt oder ausgebeutet fühlten, sondern bloß für sich selber. Denn zugleich mit dem triebhaften Drang nach Freiheit, den das neue Weltverständnis der Zivilisation emporschießen ließ, sprengte auch der triebhafte Drang nach Macht sowie überhaupt der triebhafte Egoismus die bisher gesetzten Grenzen — die menschliche Triebwelt wurde ja in der Gesamtheit ihrer Regungen zur modernen Vitalität entbunden. Deshalb mußte, wie schon angedeutet wurde, mit der Zunahme individueller und kollektiver Freiheit gleichzeitig auch wieder eine Fülle neuer Macht und damit neuer Unterdrückung sowie überhaupt eine Fülle von gleichsam zusätzlichem Egoismus und damit neuer Ausbeutung entstehen. U n d unsere Darstellung wird noch im einzelnen

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feststellen, wie die entsprechenden Formen dieser neuen Macht, dieser neuen Unfreiheit, dieser neuen Selbstsucht und neuen Ausbeutung aussehen, die den alten Formen nach ihrer Beseitigung mit nicht geringerer, sondern noch größerer Wirksamkeit auf dem Fuße folgten. Als dann schließlich die Industriearbeiterschaft die geschichtlich-gesellschaftliche Bühne als Akteur betrat und gleichfalls in das neue Denken hineinwuchs, wiederholte sich derselbe Vorgang. Jedoch wiederholte er sich nicht bloß in anderem Gewände, sondern auch in entgegengesetzter Richtung. Das rationale Denken vernichtete hier ebenso die bestehenden Schranken und entband die Triebhaftigkeit auf Kosten des Gefühls, das heißt, es weckte ebenso einen leidenschaftlichen Freiheitsdrang und beseitigte die Fesseln sozialer und politischer Abhängigkeit. Aber es ließ auch hier mit außerordentlicher Heftigkeit bald ein triebhaftes Macht- und Besitzstreben hervorbrechen. Und dieses Macht- und Besitzstreben führte dann da, wo die neue Schicht direkt oder indirekt die Führung übernahm, zu neuer Abhängigkeit und Unterdrückung, neuer Unfreiheit und Ausbeutung, neuem Zwang und Druck. Doch diesmal erfaßten Unterdrückung, Ausbeutung und Z w a n g mangels einer noch jüngeren Unterschicht, gegen die sich die triebhaften Regungen der Macht und des Egoismus richten konnten, umgekehrt die älteren Schichten. Damit war der Entwicklungsprozeß der Vergangenheit praktisch umgestülpt. Denn nun wurden die älteren Schichten in ein Sozialsystem gezwungen, dessen Neigung zur Totalität sie ähnlich widerstrebten, wie sich vorher die jüngere Schicht dem bis dahin geltenden sozialen System widersetzt hatte. Diese Emanzipationserscheinungen des Bürgertums und der Industriearbeiterschaft, die das rationale Denken gleichsam aus seinem Schoß gebar, wurden mit ihren Folgen neuer Unfreiheit ergänzt durch die ebenfalls jede frühere Erfahrung übertreffende und noch tiefer reichende, weil an den Kern der Persönlichkeit rührende Abhängigkeit des modernen Menschen von der anonym wirkenden Macht der technischen Apparatur. Mit ihr vollzieht die Zivilisation ihren Fortschritt, aber auch und gerade hier befreit die Ratio nur, um vermehrten Zwang zu erzeugen. In dieser technischen Apparatur der Zivilisation entstand nämlich, sichtbar und doch unsichtbar, über alle bisherigen Formen der Macht hinweg ein zusätzliches System der Macht, dem allmählich sämtliche Bevölkerungsschichten Untertan wurden. Sein anonymer Zwang, in dem die menschliche Wirkung ganz zurückzutreten scheint, verleitet dazu, dies System als eine unzugängliche Herr-

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schaft der Dinge aufzufassen, die sich1 vom Menschen losgelöst und zu seinem Herrn aufgeschwungen haben. Aber die Kurzsichtigkeit dieser Auffassung liegt auf der Hand. Denn sie beruht lediglich auf einer Eliminierung des Menschen aus der grundsätzlich neutralen Apparatur der Technik — sie denkt ihn gewissermaßen nur künstlich weg. Gerade daraus geht hervor: rationales Denken schafft, indem es vermeintlich1 Freiheit schenkt, nicht bloß auf der sozialen Ebene neue und andere Unfreiheit, sondern es läßt diese Unfreiheit dadurch noch größer und härter werden, daß es gleichsam auch auf der dinglichen Ebene zusätzliche Unfreiheit herbeiführt. Der moderne Mensch sieht das, gebannt von seinem triebhaft festgehaltenen Welt- und Menschenbild, in der Regel gar nicht oder will es doch nicht wahrhaben. Aber sein individuelles wie sein kollektives Schicksal in der technischen Zivilisation, deren menschliche Grundlagen fast mit jedem Tage bedrohlicher ins Wanken geraten, beweist immer nachdrücklicher, daß es so ist. Während allerorten von Freiheit die Rede ist, wächst in furchtbarer Paradoxie die Unfreiheit auf allen Gebieten des Lebens und führt zu ebenso endlosen wie vergeblichen Rebellionen, die sämtlich keine Freiheit bringen, sondern bloß die Zerstörung auch ihrer letzten Reste besiegeln. Der soziale und politische Fortschritt, von dem sich einst die Aufklärung alles versprach, erscheint mit anderen Worten der unbefangenen Betrachtung im Grunde bloß als eine zivilisationsbedingte Verlagerung der Spannung zwischen Zwang und Freiheit auf ein anderes Niveau, das durch die veränderte Konstellation ihrer Träger und vor allem durch eine höhere Abstraktion des jeweiligen Abhängigkeitsverhältnisses gekennzeichnet wird. Die Spannung selbst aber wird dadurch nicht geringer, sondern höchstens noch größer, nicht erträglicher, sondern höchstens noch unerträglicher, nicht schöner, sondern höchstens noch häßlicher. Denn immer mehr Menschen, Gruppen, Schichten und Völker nehmen, von der triebentbindenden Rationalität des modernen Denkens und seiner technischen Welt ergriffen, an dem unersättlichen Spiel von Egoismus und Macht teil. Und immer ungebändigter beteiligen sich die neuartigen Machtfaktoren des modernen Zeitalters, die abstrakt wirkenden Zwänge der maßlos gewordenen Zivilisation und ihrer riesenhaften Organisationen, an diesem Spiel. Die soziale und politische Geschichte der führenden Länder Europas, deren Ideologien sich mit ihren elementaren Interessen untrennbar verschmolzen zu haben scheinen, läßt während des 18. und 19. Jahrhunderts diese Rück-

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Wirkungen der neuen Denkform auf den menschlichen Freiheitsdrang und das menschliche Machtstreben mit jeder Generation deutlicher erkennen. Doch erst die Geschichte des 20. Jahrhunderts gab ihnen mit Krisen und Katastrophen, die die ganze Erde erschütterten, eine abschließende Gestalt. Als solche sind diese Krisen und Katastrophen unleugbar Folge und Ergebnis des neuen Denkens und insbesondere seiner politischen Ausdrucksformen, der weltlichen Glaubenslehren, der Ideologien. Mit diesen Krisen und Katastrophen erscheint das Endprodukt des Fortschritts innerhalb und außerhalb des Menschen, dessen gegenwärtiges Dasein unter dem Zeidien des neuen Denkens entstand — diesem Zeichen ständiger Aufhellung und Feststellung von bisher Unbekanntem, ständiger Ausdehnung und Eroberung von Neuem, ständiger Ungeduld und Unzufriedenheit mit dem Vorhandenen, ständiger Änderung und Umwälzung des Bestehenden. "Wie die Religionskämpfe der geschichtlichen Vergangenheit trotz aller bitteren, ja oft tödlichen Feindschaft auf der gleichen Ebene des Glaubens an die Erlösung im Jenseits stattfanden, so finden auch die Kämpfe der Ideologien, die im großen Säkularisationsprozeß der Neuzeit allmählich an die Stelle der Konfessionen getreten sind, auf der gleichen Ebene des Glaubens an den Fortschritt im Diesseits statt. An diesem irdischen Erlösungsglauben zu rütteln, mit seinen ideologischen Lehren insgesamt auch die für den Ausbau der Zivilisation maßgebende Denkform des Fortschritts in ihrer unbedingten Geltung für fragwürdig zu halten und echte Konsequenzen aus dieser Einsicht zu ziehen, bedeutet daher seit langem die neue Ketzerei unserer Zeit. Aber sdion der erste und vollends der zweite Weltkrieg, der mit seinen verhängnisvollen Folgen nicht zuletzt das Ergebnis des ersten war, haben unmißverständlich gezeigt, daß die ideologischen Glaubenslehren des Fortschritts nicht mehr zur Bewältigung der geschichtlichen und kulturellen Probleme ausreichen, die die Zeit dem Menschen aufgibt. Mögen die modernen Ideologien als Ganzes der Gegenwart auch noch so sehr in Fleisch und Blut übergegangen sein — ihrer innersten Natur nach sind sie alle doch nichts anderes als die Erwecker und Erhalter jener im Menschen selbst liegenden Sprengkräfte, die die Krisen und Katastrophen unserer Welt hervorgerufen haben und zu verewigen drohen, falls ihnen nicht Widerpart geboten wird. Deshalb hat der Versuch, aus der Ausweglosigkeit der Zeitlage herauszukommen, die Einsicht in die partielle oder totale Untauglichkeit der modernen Ideologien für ein derartiges Vorhaben zur gedanklichen Vorausset-

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zung. Diese Einsicht kann angesichts der leidenschaftlichen, ja blinden Gläubigkeit, die sich mit den Ideologien verknüpft hat, selbstverständlich niemals rational erzwungen, sondern immer nur durch deutende Hinweise als Erlebnis nahegelegt werden. Solchem Ziel sollen die nachfolgenden Einzeldarstellungen dienen. Erst dann nämlich, wenn die in den heillosen Erschütterungen des Zeitalters selber schon vielfach erfahrene Fragwürdigkeit dieser modernen Lehren mit ihren einzelnen Elementen auch direkt aufgewiesen ist, wird die Bahn frei zur Darstellung und Erörterung desjenigen Denkens, das als Gegengewicht für die Sprengkraft der rational-triebhaften Glaubenssysteme unserer Zeit zu wirken bestimmt ist. Diese ganz prinzipiell anders beschaffene politische Denkweise erscheint dem so leicht und gern in scharfe Antithesen verfallenden rationalen Denken zwar als fortschrittsfeindlich. Aber sie hat in Wahrheit gar keinen Anlaß, den Fortschritt an sich als Feind anzusehen. Denn sie verneint ihn keineswegs da, wo er seine Grenzen nicht überschreitet. Und ihr jeweils zeitbedingtes Anliegen ist es nur, sowohl seine Möglichkeiten zum Schaden mit Hilfe ihrer Erkenntnismittel richtiger zu diagnostizieren wie seine Grenzen gegenüber dem Menschen genauer zu lokalisieren, als es die Ideologien tun und vermögen. Dieses anders strukturierte Denken bedeutet also seiner ursprünglichen Intention zufolge keine Absage an den Fortschritt, sofern er die natürliche und gesunde Weiterentwicklung des Lebens fördert. Vielmehr beabsichtigt es allein eine Abwehr der schädigenden Übergriffe des Fortschritts, und das heißt seiner Uberschreitungen jener Grenze, die ihm die menschliche Natur selbst mit ihren Bedürfnissen äußerer und vor allem innerer Art setzt. Es zielt auf eine Grenzberichtigung des Fortschritts, um den Menschen die Voraussetzungen ihrer Existenz zu erhalten und zu bewahren, nicht auf seine Leugnung oder gar Verkehrung ins Gegenteil.

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LIBERALISMUS

Der Liberalismus ist die Ideologie der modernen Freiheitsvorstellung, deren Schicksal aufs engste mit dem säkularen Wandlungsvorgang im europäischen Menschen während der vergangenen Jahrhunderte verknüpft ist. Als älteste der neuen Heilslehren geht er bis auf die Anfänge der Neuzeit zurück. Seine Morgenröte erfüllt die Zeit der Glaubenskriege in Frankreich, England

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und Deutschland. Noch ehe der allgemeine Widerstand gegen Absolutismus, Feudalismus und Zunftordnung unter den Parolen der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit einsetzte, gewann er seine ersten Umrisse im Kampf der Humanisten gegen jede Form geistiger Unfreiheit, zumal gegen religiöse Gebundenheit und kirchliche Bevormundung. Denn schon damals entstanden, gleichsam als Vorläufer der späteren Ideale eines seiner selbst voll bewußten Liberalismus, Uberzeugung und Forderung von Wert und Würde des Individuums in einem vielfach bereits ganz modern anmutenden Sinne. Mit dem Erstarken der Aufklärung nahm dieses Streben nach Freiheit allmählich die Gestalt einer eigentlichen Ideologie an, die auf der Grundlage des Rationalismus und seines abstrakten Menschenbildes erwuchs, wie es sich seit der Renaissance entwickelt hatte. In die bisher wesentlich auf das Gebiet der geistigen Tätigkeit beschränkte Freiheitsvorstellung wurde damit folgerichtig das gesamte menschliche Leben einbezogen: der Ruf nach Freiheit des Gedankens in Wort und Schrift, den die Humanisten als Herolde der Zukunft erhoben hatten, pflanzte sich fort und griff um sich, bis er schließlich zum Ruf nach Freiheit in Gesellschaft, Wirtschaft und Staat wurde. Entsprechend dieser Entwicklung, die sich vor allem auf eine Fortbildung der überkommenen Vorstellungen des antiken und christlichen Naturrechts stützte, lassen sich seit dem Zeitalter der Aufklärung zusammenfassend zwei große und weithin wirksame Formen der liberalen Idee unterscheiden, die mannigfache Verflechtungen und Verschränkungen miteinander aufweisen: die humanitär-idealistische und die ökonomisch-positivistische Fassung. Als bedeutendster Ausdruck der humanitär-idealistischen Form des Liberalismus kann der Katalog der allgemeinen Menschenrechte, das aus puritanischen Gedanken über Obrigkeit und Staat herkommende Verfassungswesen und der um den Begriff der sittlichen Freiheit kreisende philosophische Idealismus gelten, als bedeutendster Ausdruck seiner ökonomischpositivistischen Form aber die klassische Nationalökonomie, der Kapitalismus und der amerikanische Pragmatismus — sämtlich Erscheinungsformen derselben Lehre, die mit ihnen eine außerordentliche und folgenreiche Wirkungskraft beim Aufbau der modernen Welt bewies. Eine Ideologie von solcher Wirkungskraft wie der Liberalismus kann auf knappem Raum naturgemäß bloß andeutungsweise und gleichsam nur in Stichworten wiedergegeben werden, die weder den Wunsch nach Vollständigkeit zu befriedigen noch dem Anspruch nach eingehender geistesgeschichtlicher Einführung zu genügen vermögen. Schon der Umfang der erwähnten

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Ausdrucksformen des Liberalismus, die jede für sich einen ganzen Komplex systematischer und historischer, theoretischer und praktischer Inhalte darbieten, erfordert eine Beschränkung auf gewisse Hauptlinien der liberalen Theorie, aus denen sich dann ihr viel umfangreicheres und differenzierteres Gesamtbild erschließen läßt. Doch darf das begrenzte Ziel unserer Untersuchung als Rechtfertigung eines derartigen Vorgehens gelten, das auch weiterhin beibehalten werden muß. Unter diesen Vorbehalten stellt sich die Ideologie des Liberalismus folgendermaßen dar: Seine Vernunft zeigt dem Menschen mit unbezweifelbarer Klarheit die Mangelhaftigkeit der jeweiligen Daseinswelt, der privaten und öffentlichen Lebenszustände. Doch zeigt sie bei rechtem Gebrauch zugleich auch die Möglichkeit zur Überwindung solcher Mangelhaftigkeit, den Weg zur Verbesserung der aktuellen Zustände und schließlich das Ziel der Vollkommenheit der menschlichen Welt. Aus diesen beiden Prämissen, die sich aus dem optimistischen Rationalismus der Aufklärung ergeben, leitet sich die ganze liberale Ideologie her — ihre Ideale und Prinzipien, ihre Hoffnungen und Ziele, ihre Annahmen und Forderungen. Denn sie geht in ihrem Welt- und Menschenbild vom 'Sein-Sollenden als dem absolut Guten und Richtigen aus und steht dabei dem Seienden mehr oder weniger gleichgültig gegenüber. Dank seiner Vernunft ist der Mensch nach liberaler Auffassung also imstande, der schlechten und falschen Wirklichkeit jederzeit ein rationales Gegenbild vorzuhalten und entgegenzustellen, das alles Schlechte und Falsche korrigiert und mit einem idealen Entwurf des Guten und Richtigen ins Gegenteil verkehrt. Der Mensch braucht nur den aus diesem Entwurf folgenden Anweisungen nachzustreben und sie mit der allmählich fortschreitenden Korrektur der Wirklichkeit in die Tat umzusetzen, um seine eigentliche Bestimmung zu erfüllen. Das oberste Prinzip solch rationalen Gegenbildes zur unvollkommenen und verbesserungsbedürftigen Wirklichkeit, das den letzten Maßstab f ü r Handeln und Verhalten gibt, bildet die Freiheit des einzelnen Menschen — der Liberalismus ist deshalb genauer gesagt die moderne Ideologie der individualistischen Freiheitsvorstellung. Auf dieses Prinzip der unbeschränkten, aber von der individuellen Vernunft und ihren Geboten getragenen Freiheit des Einzelnen gründen sidi alle übrigen Ansprüche, die der Mensch aus seinem Wesen heraus mit natürlichem Recht erheben muß. Und als solches legt dieses Prinzip nicht nur fest, wofür der Mensch ist, sondern

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auch, wogegen er ist. Das heißt, aus ihm leiten sich auch alle Gegner und Widerstände ab, die das liberale Bewußtsein zu besiegen und zu überwinden hat, wenn sein Träger sich selbst verwirklichen soll. Worauf es daher in der Hauptsache ankommt, das ist die unentwegte und konsequente Vertiefung, Verbreitung und Verfechtung der Freiheitsidee, aus der allein sich wahres menschliches Glück in größtmöglicher Reinheit entwickeln kann. Jede Abhängigkeit, jede Schranke, jeder Zwang, den die Vernunft nicht bestätigt, ist darum vom Übel und verhindert jene Harmonie des Lebens, die gesetzmäßig im Weltplan angelegt ist und sich nach der Beseitigung aller Vernunftswidrigkeit von selbst entfalten wird. Das auf diesem Fundament errichtete Weltbild führte zu einer Sicht auf die Wirklichkeit, die für alles rationale Weltverständnis bezeichnend wurde: unter dem Zeichen der liberalen Freiheitsidee gilt nur das als wichtig und richtig, gut und wert, was der von Zeit und Raum unabhängigen Vernunft entspricht. Was sich dieser Bedingung nicht fügt, das verfällt der Ablehnung oder bleibt überhaupt unbemerkt. Die Folgen einer derartigen Einstellung zur Wirklichkeit waren doppelter Art: Zum einen stellte der Liberalismus Tradition und Konvention, Geschichte und Religion notwendig in Frage und ließ sie schließlich, indem er sie höchstens noch rational objektivierte und damit das innere Band zu ihnen vollends löste, ganz und gar hinter sich. Zum andern aber — und darin liegt seine größte kulturgeschichtliche Bedeutung — machte er dodi erst durch dieses Verhalten zur Überlieferung insgesamt jenes außerordentliche Maß an vitalen Energien frei, die zum Aufbau einer völlig neuen Welt unbedingt nötig, aber bisher in den alten Lebensformen gebunden waren. Denn ohne Zweifel befreite diese neue Sicht auf die Wirklichkeit, die nur noch die individuelle Vernunft gelten ließ, den modernen Menschen von der Vergangenheit, um all seine Kräfte auf die Gegenwart und das heißt zugleich auf die Gestaltung einer Zukunft von immer größerer Vollkommenheit zu lenken. Solcher Vollkommenheit dienen nun an erster Stelle die allgemeinen Ideale, denen der Liberalismus über alle geschichtliche Bedingtheit hinaus zum Leben verhelfen will: Bildung und Persönlichkeit. Von der ursprünglichen liberalen Konzeption aus hat die Freiheit ihre größte Aufgabe darin, ohne Rücksicht auf die historische Vergangenheit die Bildung des Menschen nach jeder Möglichkeit zu fördern und ihn vor allem durch die Entwicklung seiner geistigen Fähigkeiten zu der Persönlichkeit zu machen, die dem Bilde der in ihn gelegten Vernunft gerecht wird. Die Hochschätzung des Wissens ist daher

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von Anfang an das unverwechselbare Kennzeichen des Liberalismus. Denn gerade das Wissen schenkt Freiheit, indem es die Unvernunft der Tradition erweist und den Menschen aus den Fesseln und Schranken der Konvention herauslöst. Da Wissen die Persönlichkeit formt und zu seiner immerwährenden Steigerung der Vernunft als des höchsten, weil Freiheit schenkenden menschlichen Gutes bedarf, wird also die Entwicklung der Rationalität vorzüglich durch Wissenschaft das schlechthin unveräußerliche Anliegen liberaler Geisteshaltung. Und dieses Anliegen erfordert, soll es erfüllt werden, die Ausbildung eines kritischen Bewußtseins, das seinen Sinn im Gang des Fortschritts nur auf der Ebene einer dauernd vertieften Überlegung darüber erhält, wie Schaffen und Wirken des Menschen unter dem Gebot der Vernunft aussehen muß. Deshalb vollendet sich diese Sicht auf die Wirklichkeit in einer Ethik, deren normativer Charakter auf einem zeitlos gültigen Menschenbild über aller geschichtlich-natürlichen Erfahrung beruht. In enger wesensmäßiger Verbindung mit Bildung und Wissen begründet sie das von der individualistischen Freiheitsidee getragene Kulturbild des Liberalismus. Das derart beschaffene menschliche Ziel des Liberalismus, die Bildung der freien Einzelpersönlichkeit, schließt sein politisches Ziel, das aus solchen inneren Voraussetzungen nicht anders als Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit heißen kann und darf, in sich ein. Von jenem letztlich allein wichtigen menschlichen Ziel der liberalen Idee aus regeln sich nämlich auch ihre staatlichen und sozialen Ziele, deren Bedeutung ihm gegenüber sekundär wird. Denn mit dem Streben nach jenem Zentrum lösen sich in harmonischer Weise gleichfalls die Probleme des sozialen Zusammenlebens und der politischen Ordnung in der Art, daß gewissermaßen nur noch Gesellschaft übrigbleibt — und Gesellschaft ist die im Zeichen der Ratio erfolgende Vereinigung von freien, ihrer selbständigen Freiheit bewußten Individuen. So führt auch das freie Spiel der Kräfte, wie es die von der Aufklärung erstmals zum weithin verbindlichen Rang erhobene Vorstellung des Gesellschaftsvertrages gedanklich vorzeichnet, zwanglos zur besten Sozialordnung einer vollendeten Harmonie der menschlichen Gesellschaft, die keiner ständischen oder zünftlerischen Gliederungen mehr bedarf, weil auch diese die individuelle Freiheit nur beschränken. Und ebenso führt die vernünftige Vereinbarung der Interessengegensätze durch freie Diskussion zur besten Form der Politik in einem Staat, der nur das Werkzeug der Gesellschaft zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit nach innen und außen sein soll. Wenn bloß die Vernunft sich genügend durchsetzt und zur Herrschaft gelangt, dann

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beruht auch die Gesellschaft auf der höchstmöglichen Entfaltung der sittlichen Freiheit der Persönlichkeit, die von sich aus das höchste Glück der größten Zahl von Menschen garantiert. Seit langem ist die abstrakte Eigenart des Welterlebnisses, die dieser vorstehend kurz umrissenen Ideenkonzeption des Liberalismus zugrunde liegt, von der ernsthaften Kritik aus anderen geistigen Lagern bemerkt und enthüllt worden. Bei allem freiheitlichen Schwung, mit dem sie auftrat, und bei aller begeisterten Hingabe, die sie vornehmlich z u Beginn ihrer Herrschaft weckte, weist sie eine weitgehende Unbestimmtheit, ja Leere an konkretem Gehalt auf. Was sie auf den verschiedensten Gebieten des kulturellen Lebens hervorbrachte, litt mehr oder weniger deutlich an einer eigentümlichen Blässe, an einer seltsam unwirklichen Ferne zum blutvollen Leben und schließlich an einer verderblich werdenden Realitätsfremdheit. Denn weder gab sie über die Verkündung einer idealen Humanität hinaus feste Vorschriften, noch erlaubte sie gerade für den Raum jener imaginären Gesellschaft nähere Angaben hinsichtlich ihrer Durchführung. Sie stellte mit ihren ganz allgemeinen Inhalten gewissermaßen bloß Rahmenforderungen auf und erschöpfte sich in abstrakten Begriffen, deren konkrete Ausfüllung dem individuellen Ermessen vorbehalten blieb. Das heißt aber, der Bereich des S,eins wurde von der Sphäre des Sollens gleichsam abgeriegelt. Und hierdurch bekam das liberale Denken einen für sein ganzes Wesen kennzeichnenden Zug der rein oder doch vorwiegend formalen Auffassung und Behandlung der wirklichen Lebensfragen, einen überaus begrifflichen Anstrich, eine extrem theoretische Note. Hohe Idealität verband sich mit hoher Formalität und verlieh seinen Bekundungen und Hervorbringungen nur allzuoft jene edle Farblosigkeit, für die die liberalen Parolen von Bildung und Persönlichkeit oder von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit typische Beispiele darstellen. Solch formalem Wesen des Liberalismus ist es zuzuschreiben, daß er jedenfalls in seiner ersten Fassung so gut wie ausschließlich auf das Bürgertum groß- oder kleinbürgerlicher Prägung beschränkt blieb. Bauerntum und Industriearbeiterschaft standen ihm dagegen fremd gegenüber. Auf diese Schichten war seine Freiheitsforderung auch nicht eigentlich gemünzt, wie die Zeit bald bewies. Sondern sie richtete sich im Kern vielmehr an die bisherige Oberschicht der ständisch gegliederten Gesellschaft, deren Privilegien und Führungsansprüche vbr dem neuen Forum der Vernunft nicht aufrechtzuerhalten waren, wenn man deren Gebote ernstnahm.

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Gerade solche Fremdheit des Bauerntums und der Industriearbeiterschaft gegenüber dem Liberalismus, die doch in Wahrheit auf eine Unansprechbarkeit dieser unter sich so verschiedenen Schichten durch die liberale Idee zurückgeht, zeigt ganz klar, welche Voraussetzungen zur Teilnahme an seiner Gedankenwelt erforderlich sind. Und dadurch wieder wird das Wesen der liberalen Idee auf direkt eindringliche, weil existentiell beweiskräftige Art erhellt und bestätigt. Für die humanitär-idealistische Fassung des Liberalismus ist nämlich der Besitz einer gewissen Geistigkeit, die Fähigkeit zu einer idealen Einstellung, das Vermögen zu einer formalen Reaktion auf die Umwelt, die Möglichkeit eines theoretischen Standpunktes gegenüber den Fragen der unmittelbaren Lebenspraxis die seelisch-geistige Bedingung zur Annahme und Übernahme. Jede Art von Handarbeit, das heißt von umwegloser Beziehung zu materiellem Tun, schließt ein derartiges Weltverständnis von vornherein aus. Bauerntum und Industriearbeiterschaft mußten daher notwendig außerhalb der liberalen Ideologie bleiben. Denn die Gelegenheit zum jederzeitigen Rückzug und Rückgriff auf ein Reich der Ideen, der Theorie, des Gedankens ist nicht an beliebigem Ort der sozialen Stufenleiter, der beruflichen Tätigkeit und der überlieferten Erziehung vorhanden. Weder im Bauerntum noch in der Industriearbeiterschaft kann die jeweilige Wirklichkeit durch die Brille der idealen Vernunft und von einem theoretischen Entwurf des Menschendaseins aus gesehen werden, der die konkrete inhaltliche Bestimmung vermissen läßt. Vor diesen Bevölkerungsschichten mußte der Liberalismus als Ideologie denn auch im Verlauf seiner Herrschaft, die nach einer»langen Anlaufszeit mit der Französischen Revolution, dem Parlamentarismus und der idealistischen Philosophie zu Beginn des technischen Zeitalters machtvoll einsetzte, haltmachen. Mit dem Aufblühen der europäischen Industrie trat alsbald neben und schließlich vor die humanitär-idealistische Form des liberalen Gedankens eine andere, neue Form, ohne daß sich eine genaue chronologische Grenze zwischen beiden ziehen ließe. Sie hatte gewissermaßen keimhaft in der älteren Fassung geschlummert und wurde bei ihrem Erwachen durch die bedeutenden wirtschaftlich-sozialen Umwälzungen begünstigt, die im Gefolge der naturwissenschaftlichen und technischen Fortschritte mit reißender Schnelligkeit stattfanden. Man kann diese neue Form des liberalen Gedankens, in der die ältere als eine vergleichsweise wirkungslose Komponente allmählich aufging, als seine ökonomisch-positivistische Fassung bezeichnen, die von dem schon im 17. Jahrhundert beginnenden Kampf gegen die Ein4

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griffe des Staates in die Wirtschaft durch den absolutistischen Merkantilismus vorbereitet worden war. Und dieser ökonomisch und positivistisch bestimmte Liberalismus ist dann die eigentliche Ideologie des modernen Kapitalismus geworden. Die realistische Wandlung der liberalen Ideologie wird dadurch gekennzeichnet, daß angesichts des sich auftuenden Machtbereiches der Technik und der Wirtschaft jenes frühere Reich der Ideen mit seinem Ethos immer mehr entschwindet. Die beiden liberalen Prämissen von einst geraten unter dem Eindruck der neu eröffneten Möglichkeiten zur praktischen Verwirklichung der Ratio zunehmend in Vergessenheit. Immer öfter wird von einer Freiheitsvorstellung her gedacht und gehandelt, die keine anderen Schranken mehr kennt als den Verstand im Sinne des reinen Nutzens, des realen Zwecks, des praktischen Effekts. Das Zentrum, von dem aus und auf das hin jetzt argumentiert wird, ist der Mensch, der innerhalb des ganz handgreiflich und das heißt ökonomisch verstandenen Fortschritts der Zivilisation nach individueller Freiheit strebt. Mit Hilfe seiner Vernunft soll und darf er alles dransetzen, um sich' durch ungehemmte Ausbildung seiner persönlichen Fähigkeiten im freien Spiel der Kräfte zu entwickeln und auf solche Weise selbst zu verwirklichen. Die liberale Freiheitsvorstellung wird dadurch zuerst langsam und dann immer schneller ihrer bisherigen Beziehung auf ein ideales Reich des Sollens ledig, sie wirft unter dem anfeuernden Einfluß der materiellen Ausbildung der Zivilisation das Ethos gleichsam ab und erscheint zuletzt als rücksichtsloser Wille zur unbedingten Freiheit, der die einseitig ökonomische Entfaltung des Einzelnen für das natürlichste Ziel des Fortschritts hält und sein Verhalten damit legitimiert. Liberalismus in dieser Form bedeutet folgerichtig nur mehr eine Anerkennung aller Ansidhten, die den eigenen Standpunkt eines unbekümmerten Auslebens des Individuums gelten lassen, das im Grunde beziehungslos geworden ist. Alles, was diesen Standpunkt behindert, wird verneint, und alles, was ihm dient, wird bejaht — man kann diese Art der streng individualistischen Freiheitsvorstellung direkt als liberalen Freiheitspositivismus bezeichnen. Auch dieser Freiheitspositivismus aber ist dabei und fast noch mehr als früher das Ergebnis des rationalen Denkens. Die Vernunft hat zwar nicht mehr wie bisher die Aufgabe, vor allen Dingen ein verpflichtendes Gegenbild zur schlechten Wirklichkeit aufzustellen. Doch sie behält ihre alles beherrschende Rolle in der praktisch ungleich wichtigeren Aufgabe, das menschliche Handeln mit dem Ziel individueller Steigerung vorzuberei-

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ten, zu erklären und zu rechtfertigen. Allenfalls wird ihr, wo das nötig zu sein scheint, hin und wieder noch die Funktion zugewiesen, jene einst maßgebende humanitär-idealistische Form der liberalen Idee zu beschwören. Aber solche Beschwörung bleibt im lauten und harten Getriebe der wirtschaftlich bestimmten Welt gewöhnlich bloß noch eine unverbindliche Geste, ohne ihre frühere normative Kraft wiedergewinnen zu können. Mit anderen Worten: Idealismus und Humanität fallen bis auf praktisch bedeutungslose Reste dem Positivismus und Ökonomismus der kapitalistischen Entwicklung zum Opfer, die das neue Bild des Liberalismus als moderne Ideologie prägt. Doch ist es nur von außen gesehen allein der materielle Entwicklungsgang der technischen Industrie und ihrer Wirtschaftsweise gewesen, der eine derartige Neuprägung des Liberalismus hervorrief und gleichsam vor die ältere Fassung schob. In Wahrheit und von innen gesehen war es vielmehr jene ausschlaggebende Korrespondenz zwischen Ratio und Trieb im Menschen selbst, die den Liberalismus auf der alten Bahn des Kampfes gegen den Absolutismus und vor allem den Merkantilismus so veränderte. Wäre es anders, so müßte der ganze Vorgang im Grunde nämlich unverständlich bleiben. Denn der Mensch, der ja Träger dieser geistig-seelischen Wandlung von der humanitär-idealistischen Fassung zur ökonomisch-positivistischen war, hätte dann von sich aus nicht den geringsten Boden für das abzugeben vermocht, was damit tatsächlich geschah. Das heißt, das Vorhandensein einer entsprechenden Triebgrundlage für den inneren Wandel der liberalen Idee war Vorbedingung seines Stattfindens und Weiterbestehens. Unter dem Einfluß des humanitär-idealistischen Liberalismus und seiner überall hindringenden Freiheitsvorstellung waren vornehmlich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die alten Fesseln und Schranken des Individuums keineswegs nur in der wirtschaftlichen, sondern auch in der gesellschaftlichen Sphäre zwar nicht sämtlich niedergerissen, aber insgesamt dodi viel tiefer erschüttert worden, als man dem äußeren Anschein nach anzunehmen neigt. Auch Religion, Wertwelt, Sitte und Braudo als die großen Bindungsmächte des Gefühls traten bereits in jener Epoche allmählich in den Hintergrund. Damit wurde aber folgerichtig auch die menschliche Triebwelt immer mehr freigegeben. Denn nun durfte jeder nach eigenem Belieben handeln, da die Gebote dieser bisherigen Bindungen nicht mehr galten oder doch entwertet waren. Je länger Welt und Leben betont rational und bewußt kritisch betrachtet wurden, desto mehr trat das Gefühl daher zurück und die Triebhaftigkeit hervor — das läßt sich vor allem seit der

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Mitte des vorigen Jahrhunderts unter der verwirrenden Oberfläche des glänzenden Fortschritts selbst noch bei der Kunst mit ihrer eigenartigen Verschwisterung von Rationalität und Triebhaftigkeit beispielsweise in den "Werken der Literatur oder der Musik beobachten. Und diese zivilisationsbedingte Entbindung der Triebwelt war es, die in ständig steigender Wechselwirkung mit den Veränderungen der menschlichen Umwelt auch das humanitär-idealistische Streben nach Freiheit zu einem ökonomisch-positivistischen Drang nach Freiheit werden ließ. Die Ausbildung der technischen Zivilisation verwies die freiwerdende Triebhaftigkeit von selbst in die ökonomische Richtung — zumindest beim Bürgertum, dessen sozialgeschichtlicher O r t hauptsächlich die wirtschaftliche Tätigkeit ist. Hier war am ehesten die Plattform gegeben, um die Freiheit von der Vergangenheit und ihrer als drückend empfundenen sozialen A b hängigkeit durch den Erwerb wirtschaftlicher Unabhängigkeit zu erringen, ja die Unabhängigkeit dann weitergehend sogar unmittelbar in Macht zu verwandeln — in jene neuen Formen der Macht, die das technische Zeitalter mit seinen abstrakten Herrschaftsformen und -mittein fortlaufend mehr entwickelte. Zum immer stärker werdenden Erwerbstrieb gesellte sich so mit ungeahntem Erfolg der immer stärker werdende Machttrieb. Und beide traten alsbald nicht mehr wie früher vorwiegend individuell, sondern vornehmlich kollektiv in ganz neuartigen Formen auf und errichteten auch ein neuartiges Sozial- und Wirtschaftssystem: den Kapitalismus. Er ist die große Schöpfung des liberalen Bürgertums, die nun mit außerordentlichen Folgen die ganze Welt in einer erdumspannenden Expansion umgestaltete. Diese Leistung des neuen Sozial- und Wirtschaftssystems ist, gemessen an der Leistung früherer Zeitalter, so einzigartig in ihrer umfassenden K r a f t , daß sie gar nicht anders verständlich wird als durch eine unvergleichliche Freisetzung von Vitalität im Menschen selber. Besonders aber bleibt die zielbewußte Rücksichtslosigkeit, ja Maßlosigkeit des Kapitalismus als System, die sich hinter der prächtigen Fassade des durch ihn heraufgeführten zivilisatorischen Fortschritts immer offener zeigte und mit den rationalen Prinzipien des Nutzeffekts, des Profits, der Rentabilität, der Konkurrenz usw. gerechtfertigt wurde, ohne einen solchen Wandlungsvorgang im Innern des modernen Menschen schlechtweg unbegreiflich. So unterschiedlich die Geschichte des Kapitalismus in den einzelnen Ländern auch verläuft — die seelisch-geistige Grundstruktur seiner Entwicklung bleibt sich überall gleich, wie die durchgängig stattfindende Verwandlung

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der ihn tragenden und überhaupt erst ermöglichenden liberalen Ideologie beweist. Im Gewände des rationalen Fortschritts gewinnen die Triebregungen des selbstherrlich gewordenen Erwerbs- und Machtstrebens mit Hilfe einer neuen Auslegung der Freiheitsidee die Oberhand. Sie drängen Recht und Sitte je nach Bedarf durch Formalisierung und Sterilisierung ebenso beiseite wie deren ursprünglichen Beschützer, den Staat, und bauen mit ökonomischen Mitteln unter dem Schutz des liberalen Gedankens von der absoluten Freiheit des individuellen Eigentums ein System neuer sozialer und politischer Macht auf. Als kapitalistische Klassengesellschaft verschanzt sich dieses System hinter abstrakten Verfassungen, unpersönlichen Institutionen und wissenschaftlichen Gesetzen oft noch wirksamer, weil ungreifbarer als jedes frühere Machtsystem hinter Traditionen oder Armeen. Nun heißt die Freiheit in vulgärer Formulierung: freie Bahn dem Tüchtigen oder gleiche Chance für alle. Nun beginnt die Blütezeit der fatalen Schlagwörter vom Lebenskampf, vom Marschallstab im Tornister oder vom Glück, das jeder sich selbst schmiedet. Nun kursiert das moderne Märchen vom Zeitungsjungen, der Millionär wurde, in tausendfacher Abwandlung. Aber die in derlei "Worten und Bildern zur gängigen Scheidemünze gemachten idealen Forderungen und Aussichten bleiben in der Regel bloß leere Prinzipien, denen die entbundene Triebhaftigkeit wie der eiskalt kalkulierende Verstand von vornherein die gefühlsmäßigen Voraussetzungen zur Verwirklichung nimmt — jedenfalls hinsichtlich der unteren Bevölkerungsschichten, die unter der Herrschaft des Kapitalismus trotz oder wegen der liberalen Ideologie jede Geborgenheit verlieren und der äußeren und inneren Proletarisierung anheimfallen. An dieser psychologischen Herkunft des Kapitalismus ändert sich auch nichts, wenn man zur Erklärung seiner Folgen für die breite Masse der Menschen und vornehmlich für die handarbeitende Bevölkerung auf die Schicksalhaftigkeit hinweist, mit der sich technische Industrie und kapitalistische Wirtschaft in engster Beziehung miteinander herausgebildet haben. Oder wenn man auf einen Agrarkapitalismus als Vorläufer und die sogenannte Bodensperre als Vorbedingung des Industriekapitalismus hinweist. Oder wenn man, der liberalen Legende von der kulturgeschichtlichen Entwicklung dfer Neuzeit folgend, von der überlebten Gesellschafts- und Wirtschaftsform der Vergangenheit spricht, die ja Jahrhunderte über funktioniert hatte und erst vor dem neuen Freiheitstrieb die Segel streichen mußte. Bedingung für solche Entwicklung blieb nämlich allemal der Mensch, Rieht-

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schnür sein Denken, Rechtfertigung seines Handelns die herrschende Ideologie. Weder die konservative noch die sozialistische Freiheitsvorstellung war es, die im modernen Kapitalismus ihren Ausdruck fand, sondern die liberale — wenn auch nach langem und wirklich schicksalhaftem Wandel, den nur das Fortbestehen ihrer ursprünglichen Fassung bei irgendwelchen Angriffen z u verbergen oder gar zu leugnen gestattete. Die in der liberalen Ideologie beschlossene schrankenlose Betätigung der wesentlich bloß noch' ökonomisch verstandenen Freiheit des einzelnen Menschen war überhaupt nur bei einer vorwiegend rationalen, von Gefühlen weitgehend unbeeinflußten Einstellung zum Dasein möglich, mag Bildung und Wissen sie anfänglich auch noch mit einem gewissen ästhetischen Firnis umgeben haben. Gerade an der Gestalt des monopolistischen Kapitalismus samt der ihm eng verbundenen Formen des Imperialismus und Nationalismus, dieser beiden politisch wichtigsten Ausdrücke des triebhaften Kollektivegoismus in der Zivilisation, läßt sich jene grundlegende Korrespondenz zwischen Ratio und Trieb wie an wenig anderen Erscheinungen der modernen Welt feststellen. Offenbart der Kapitalismus als Sozial- und Wirtschaftssystem doch mit höchster Eindringlichkeit den verführerischen, aber trügerischen Reiz eines nur formalen, von der Wirklichkeit des Menschen in seinem eigentlichen Wesen abstrahierenden Denkens. In ihm als zivilisatorischer Daseinsform vollendet sich denn auch allem Anschein der Erfahrung nach1 der Umschlag des Idealismus einer absoluten Freiheit des vernünftigen Individuums ins Gegenteil. Die rationale Verherrlichung der Freiheit wird, von der Alltagspraxis übernommen und allzu schnell durch sich selbst der humanitäridealistischen Elemente beraubt, infolge der inneren Gesetzlichkeit der Menschenbrust nämlich am Ende notwendig zu einem Vehikel neuer Abhängigkeit und Unterdrückung, neuer Zwangsgewalt und Unfreiheit. Denn unter dem Zeichen der Freiheit bilden sich in der bürgerlichen Gesellschaft als Folge der kapitalistischen Erwerbswirtschaft neue Teilgruppen, die als Klassen wiederum in Abhängigkeit von einander geraten und die erstrebte soziale Harmonie durch neue Herrscbafisverhältnisse beeinträchtigen und schließlich unmöglich machen. Was aber den Wandel des Liberalismus vom humanitären Idealismus zum ökonomischen Positivismus als ganz natürlich empfinden ließ; was überhaupt das Bürgertum des 19. Jahrhunderts in seiner Breite bestimmte, den Kapitalismus mit seiner dauernden Verschärfung zum Monopolkapitalismus hinzunehmen, war nicht nur die unbewußt immer mehr hervortretende

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Triebgrundlage des in ihm angelegten hemmungslosen Erwerbs- und Machtstrebens, sondern die dem rationalen Denken entstammende Fortschrittsvorstellung, die mit allem einseitig rationalen Verhältnis zur "Wirklichkeit unzertrennlich verbunden ist. Der Kapitalismus als System der zivilisatorischen Konzentration und Expansion entspricht nämlich durchaus der Idee des rationalen Fortschritts, die der liberalen Ideologie gewissermaßen als Motor ihrer äußerst bewußten Daseinsauffassung eignet. Liberales Denken ist seiner Natur nach fortschrittliches Denken: je mehr die individuelle Freiheit in der einen oder anderen Form verwirklicht wird, desto sicherer ist der Menschheit ein unaufhörlicher Fortschritt gewiß. Für die ältere Fassung des Liberalismus heißt das: die freie Zivilisation bewegt sich mit jedem Schritt, der in humanitärer Gesinnung und rationaler Einstellung aus der Vergangenheit auf die Zukunft hin getan wird, dem guten Gegenbild zur schlechten Augenblickslage auf einer geraden Linie entgegen. Und für die jüngere Fassung heißt das: jeder neue Gedanke der Wissenschaft, jede neue Erfindung der Technik, jede neue Ausdehnung der Wirtschaft, jede neue Organisation des Handels, jede neue Verkehrslinie, jede neue Einebnung alter Grenzen usw. bedeutet dem liberalen Denken schon an sich und ohne Rücksicht auf die Folgen einen unmittelbaren Beitrag zum Fortschritt. Gestützt auf die Leitideen von der sieghaften Kraft der Vernunft und vom unbedingten Freiheitsanspruch der Persönlichkeit, bildet dieser Fortschrittsglaube oder vielmehr dieses Fortschrittsbewußtsein also die Grundüberzeugung des Liberalismus sowohl in der älteren als auch in der jüngeren Fassung. Für beide Fassungen des liberalen Gedankens hat die jeweilige Gegenwart nur insofern Wert, als sie Durchgang und Stufe zur Zukunft ist — ob sie nun humanitär-idealistisch oder ökonomisdi-positivistisch gefaßt wird. Die Zukunft allein vermag das reine Reidi des ethischen Sollens zu verwirklichen, das als blasses Ideal im Hintergrund steht. In der Zukunft allein liegt die restlose Verwirklichung der freien Persönlichkeit und ihrer wirtschaftlichen Ziele beschlossen. Das rationale Vollkommenheitsbild der Persönlichkeit, sei es durch Wissen, Bildung und Ethos oder durch den Erwerb von Reichtum und Macht bestimmt, wird nur in der sich immer wieder erweiternden Ferne der Zeit erreichbar. Und jedes Denken oder Handeln in der Gegenwart dient bloß dem Voranschreiten auf der Linie, die zu diesem Bild als endgültigem Ziel führt und führen muß. So bekommt denn für das liberale Bewußtsein jener älteren Fassung die

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Geschichte der Menschheit den Charakter einer einzigen großen Fortschrittsbewegung auf ihre geistige und sittliche Vervollkommnung hin. Und die jüngere Fassung sieht ganz ähnlich die gesamte Entwicklung der modernen Zivilisation als eine einzige große Fortschrittsbewegung auf ihre materielle, technisch-wirtschaftliche Vervollkommnung hin. Am Ende dieser beiden ideologischen Meinungen erhebt sich dann, humanitär oder technisch-wirtschaftlich akzentuiert, jener alte Traum der Aufklärung von dem durch die Vernunft herbeigeführten irdischen Paradies in zeitgemäß gewandelter Form. Es ist der letzte Inhalt des modernen Diesseitsglaubens, das Dogma der „säkularisierten Religion" des Liberalismus, das Bekenntnis der weltlichen Glaubenslehre der kapitalistischen Welt. Selbst diejenigen Menschen der Gegenwart, die keine Anhänger des Liberalismus sind, stehen meist viel mehr unter der heimlichen Herrschaft dieses Bekenntnisses, dieses Dogmas, dieses alten Traumes, als sie es wissen und wollen. Aller bösen Erfahrung über die negativen Auswirkungen der liberalen Ideologie zum Trotz gerät nämlich auch der heutige Mensch, sobald er sich unbefangen der rationalen Denkform bedient, unter die Herrschaft ihrer Dogmatik, die aus der Aufklärung erwachsen ist und von der unübersehbaren Menge der technischen und organisatorischen Formen der modernen Zivilisation getragen und ständig am Leben erhalten wird. Daher rührt die Schwierigkeit, sich diesem ideologischen Denken, dieser ideologischen Gesellschafts- und Geschichtsauffassung, diesem ideologischen Weltverständnis zu entziehen und wirklich neu zu denken, wie es der Bankrott des Liberalismus verlangt. Denn die rationale Denkform endet, eben weil sie die Wirklichkeit einseitig von der Vernunft her betrachtet und aufbaut, mit Notwendigkeit bei der absoluten Freiheitsvorstellung, die in den Zwang der Triebhaftigkeit ausmündet, und bei der absoluten Fortschrittsvorstellung, die in die Überwältigung durch Technik und Wirtschaft ausläuft. In der Durchtränkung der modernen Welt mit diesem freiheitlich-fortschrittlich gestimmten Bewußtsein des Liberalismus, das so unmittelbar mit der Denkform zusammenhängt, die unsere ganze Zivilisation begründet, besteht sicherlich eines der größten Hindernisse, die auch noch nadi der Katastrophe der rationalen Fortschrittsidee — wie sie die imperialistischen und nationalistischen Weltkriege der Menschheit im 20. Jahrhundert gebracht haben — eine allgemeine Umkehr des Denkens verhindern oder doch in der nötigen Konsequenz erschweren. Selbst wenn sie es immer wieder versuchen, so können die Menschen vielfach gar nicht mehr anders denken

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als rational im Sinne der modernen Denkform abstrakter Kausalität, und das heißt in den Kategorien der absoluten Freiheit und des absoluten Fortschritts. Alle Einschränkungen dieser Denkform, die ihnen die Praxis im jeweiligen Einzelfall aufzwingt, werden bei dem Nachsinnen über das Kommende immer wieder zunichte gemacht durch den unerbittlichen Zwang der rationalen Kausalität. Jede Gegenwart scheint immer wieder in einer Zukunft zu enden, die nur in idealen Plänen oder Programmen vorstellbar ist, auch wenn man noch so oft erfahren hat, daß solche Pläne und Programme die Wirklichkeit abstrakt sehen und mithin vergewaltigen. Deshalb erstickt jeder Versuch zu neuem Denken über das, was geschehen soll und muß, gleichsam aus sich selber heraus an den eigenen Voraussetzungen des Denkens, mit dem er unternommen wird. Deshalb endet jeder Anlauf zur Überwindung des alten Liberalismus allzu oft in einem neuen Liberalismus, der zwar die alten Fehler an ihren Folgen erkennt, doch schon mit der Art, in der dies Erkennen verwertet wird, die neuen Fehler gewissermaßen vorzeichnet, die dann in ihrem Effekt den alten beinahe aufs Haar gleichen. Daß indessen eine solche Umkehr des Denkens nötig ist, erkennen und anerkennen unter den niederziehenden Eindrücken der neuesten Entwicklung auch die dem liberalen Gedanken noch gebliebenen Anhänger in den verschiedensten Ländern. Diese Einsicht hat denn auch zur Ausbildung eines Neoliberalismus geführt, dem zwar noch nicht der offizielle Rang einer neuen Fassung im Sinne der früheren zugesprochen werden kann, der aber dennoch schon deutlich die Umrisse einer solchen zeigt. Dieser Neoliberalismus distanziert sich entschieden von dem unhaltbar gewordenen Liberalismus der Vergangenheit und erstrebt einen universellen Liberalismus, der sich als Quintessenz der sittlichen Errungenschaften und geistigen Grundlagen der abendländischen Kultur begreift. Die Krisis unserer Gesellschaft fällt mit der Krisis des Liberalismus zusammen. Daher wird eine Reinigung und innere Verjüngung der liberalen Ideologie auch maßgebend für eine Überwindung der Krisis der Gesellschaft sein. Es gibt nämlich Liberalismus in einem doppelten Sinne: Einmal im Sinne einer allgemeinen Idee, die im Grunde das Wesen der abendländischen Kultur bildet und mit antiker Philosophie und christlichem Naturrecht eine ehrwürdige Ahnenreihe in Anspruch nehmen darf. In diesem Ideenerbgut von Jahrhunderten, ja Jahrtausenden liegt als eine dialektische Kraft der dem Liberalismus wesentliche Gedanke einer Selbstbefreiung des Mensdien durch die Ratio. Und zum anderen gibt es Liberalismus im Sinne einer gei-

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stigen, sozialen und politischen Bewegung des vorigen Jahrhunderts. Sie entstand durch eine ungeduldige Betonung der Rechte des Individuums, durch den Übermut eines absoluten Vertrauens in die Vernunft und somit insgesamt durch eine Übertreibung der dem allgemeinen Liberalismus des Abendlandes innewohnenden Tendenz. Für beide Formen des Liberalismus gilt deshalb das Bild vom Stamm, der einen vergänglichen Schößling getrieben hat. Der Charakter der ersten und auch heute noch als gültig bezeichneten Form wird als humanistisch, personalistisdi, antiautoritär, universal, rational und realistisch gedeutet, der Charakter der zweiten und erst heute beim Rückblick in ihrer ganzen Vergänglichkeit und Verderblichkeit offenbar gewordenen Form in den Haupteigenschaften eines hybriden Rationalismus, Liberalismus und Opportunismus, Psychologismus, Positivismus, Ästhetizismus und Pragmatismus gesehen. Von solcher Auffassung her errichtet nun der Neoliberalismus, um einen Ausweg aus der gegenwärtigen Verfahrenheit der öffentlichen und privaten Zustände zu zeigen, einen neuen Entwurf der erstrebenswerten Zukunftsordnung. Dieser Entwurf besitzt eine größere inhaltliche Bestimmtheit als die ältere Fassung und enthält durch die scharfe Verurteilung der monopolistischen Form des Kapitalismus eine Auflockerung der jüngeren Fassung der liberalen Idee. In höchst bemerkenswerter Weise lassen sich in diesem Entwurf eines zeitgenössischen Liberalismus überdies ganz ähnliche Neigungen feststellen wie beim zeitgenössischen Sozialismus — Neigungen, die nicht nur wegen der inhaltlichen Forderungen bemerkenswert sind, die sie verkörpern, sondern auch und vor allem wegen der Denkweise, aus der diese Forderungen erwachsen. Der Neoliberalismus stellt nämlich Forderungen und setzt Ziele f ü r die künftige Gestaltung unserer Daseinswelt, die keineswegs seinem eigenen rationalen Denken angehören, sondern im Grunde nichts anderes sind als Elemente konservativen Denkens. Das heißt aber, die Ideologie sieht sich in der Bemühung um Distanzierung von den Irrtümern der Vergangenheit und im Streben nach innerer Verjüngung zu einer Einstellung gezwungen, die sie früher als ihre natürliche Gegenposition bekämpft hat. Trotz der Kritik an der eigenen Vergangenheit hält sie jedoch ihre aus den früheren Fassungen bekannte Grundlinie fest, die durch Rationalität, Freiheitsidee, Fortschrittsvorstellung, Überbewertung der Wissenschaft und Vorrang des ökonomischen gekennzeichnet ist — darum bleibt sie eben Liberalismus. Der prinzipielle Widerspruch zwischen dem Festhalten an der Grundlinie und dem Versuch zu einer neuen Wendung wird dabei gar nicht

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in seiner Unlösbarkgit bemerkt. Diese Unlösbarkeit aber besteht darin, daß die in Wahrheit konservativen Elemente des neoliberalistischen Zukunftsbildes, das noch mehr als früher als idealer Plan und theoretisches Programm auftritt, gerade die Angelpunkte sind, in denen sich das Tor zu einer besseren Wirklichkeit drehen soll. Ohne bereits an dieser Stelle die Eigenart des konservativen Denkens mit seinen Prinzipien näher darzulegen, sollen doch wenigstens diejenigen Punkte des bekanntesten neoliberalen Zukunftsprogramms erwähnt und in ihrer eigentlichen Natur gekennzeichnet werden, die den Schluß auf eine konservative Wendung im Liberalismus unserer Tage zu ziehen erlauben. Die Feststellung dieser Punkte dient gleichzeitig der Erkenntnis der Gedanken und Absichten, die den Neoliberalismus über die Kritik am vergangenen Liberalismus hinaus charakterisieren. Der als Wtrtscbaftshumanismus bezeichnete neue Liberalismus ist von der Vorstellung einer Dezentralisierung der Wirtschaft aus konzipiert, die mit den Forderungen nach einer Entproletarisierung der Gesellschaft und einem Föderalismus des Staates verbunden wird, ökonomische, soziale und politische Revolution sollen einander unter dem praktischen Primat des ökonomischen ergänzen — wobei der sonst im neueren Liberalismus gern vermiedene Ausdruck „Revolution" zwar nicht wörtlich gemeint ist, aber doch den ganzen Ernst der Gegenwartssituation betont, die auch von diesem Horizont aus als alles in Frage stellende Zeitwende erscheint. Die drei Programmpunkte der Dezentralisation, der Entproletarisierung und des Föderalismus verfolgen nun, obwohl sie im Rahmen des Wirtschaftshumanismus noch vorwiegend unter dem Aspekt eines ökonomischen Liberalismus gesehen werden, bei ihrer inhaltlichen Aufschließung ein ganz antiliberales Ziel. Sie sollen nämlich den vom Liberalismus einst selbst maßgebend herbeigeführten Übergriffen des Fortsdiritts — in Gestalt des wirtschaftlichen Zentralismus, wie er sich im Monopolkapitalismus, der sozialen Proletarisierung, wie sie sich in der bürgerlichen Klassengesellschaft mit ihrer Ausgliederung einer ganzen Bevölkerungsschicht, und des modernen Machtstaates, wie er sich im anonymen Majoritätsparlamentarismus mit seinem politischen Herrschaftsapparat gezeigt hat — Einhalt oder Widerpart bieten und deren unheilvolle Folgen nach Möglichkeit rückgängig machen. Dezentralisierung der Wirtschaft meint nicht weniger als eine ursprüngliche Gliederung der unnatürlich geballten Produktionsverhältnisse, eine Entflechtung allzu großer Kapital- und Industriezentren, eine Zurückführung

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übersteigerter Kräftekonzentration und -expansion auf ein gesundes Maß — und zwar sowohl räumlich als auch sachlich. In diesem Ziel der Dezentralisation wird mit anderen Worten die Umkehrung der inneren Bewegungstendenz des zivilisatorischen Fortschritts gefordert, der dem rationalen Denken entsprechend zu immer höherer Zentralisierung und Generalisierung streben muß. Hierin besteht ja eben der rationale Fortschritt, wie ihn der Liberalismus als maßgebende Ideologie im vorigen Jahrhundert hervorrief und als Sozial- und Wirtschaftssystem sanktionierte. Bezeichnet man nun im Gegensatz hierzu das Resultat einer Umkehrung dieser dem Ausbau der Zivilisation zugrunde liegenden Richtung immer noch mit dem gleichen Namen, nämlich als Fortschritt, so wird die dem rationalen Denken eigene Gesetzlidikeit offenbar bewußt oder unbewußt verkannt — denn diese Gesetzlichkeit, deren materieller Ausdruck jener Fortschritt ist, besteht nun einmal aus einer fortschreitenden Erfassung und Beherrschung immer umfangreicherer Wirklichkeitsbereiche durch unaufhörlich ausgedehnte und vorwärts getriebene Kausalität. Das heißt aber: als prinzipielle Kategorie einer Denkform betrachtet ist Dezentralisation — sofern damit überhaupt noch übergreifende Ganzheiten anerkannt werden und nicht einfach, wie etwa beim Anarchismus, partikulare Zerschlagung und Zerstückelung gemeint ist — nicht mehr rationaler Fortschritt, sondern Rückkehr zu jener gegenteiligen Denkweise, die der Liberalismus von Anfang an verneint hat und überwinden will. Indem der Neoliberalismus diese Kategorie als zentralen Begriff in sein ideologisches Gedankensystem einführt, nimmt er somit ein fremdes Denkprinzip auf, das in Wahrheit nicht liberal, sondern antiliberal ist. A n dem zweiten Programmpunkt einer Entproletarisierung der Gesellschaft wird die Abkehr des Neoliberalismus vom Fortschrittsdenken und seine Hinwendung zur Ursprungssituation des konservativen Denkens, das erst am Erlebnis der Übergriffe des rationalen Fortschritts zum Bewußtsein seiner selbst gelangte, noch anschaulicher. Neben der Erhaltung und Vermehrung der Bauern, Handwerker und Kleingewerbetreibenden mit Produktions- und Wohnungseigentum (also der nicht vom Zivilisationsprozeß mit seinem rationalen Fortschritt unmittelbar ergriffenen und betroffenen Bevölkerungsschichten) soll es Aufgabe der Zukunft sein, den notwendig unselbständigen Arbeitern und Angestellten (also den hauptsächlich vom fortschreitenden Zivilisationsprozeß mit Vermassung und Entseelung bedrohten und in ihrer existentiellen Geborgenheit gefährdeten Bevölkerungsschichten) als Ersatz für ihre verlorene Eigenständigkeit eine eigene Woh-

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nung mit Gartenland zu verschaffen. Wenngleich in vorwiegend ökonomischer Terminologie vorgetragen, wird aber mit solchem Ziel der Zivilisationsprozeß gewissermaßen in doppelter Weise verneint und das rationale Fortschrittsdenken des Liberalismus, der diesen Prozeß selber in Gang setzte und auf seine Höhe brachte, widerlegt und verlassen. In doppelter Weise: Denn einmal werden hier gerade die außerhalb oder am Rande des zivilisatorischen Fortschritts stehenden Bevölkerungsschichten als Beispiel und Vorbild hingestellt. Und zum anderen wird die mit dem Zivilisationsprozeß selbst erfolgte und immer wieder erfolgende Abhebung und Auflösung der vorliberalen Eigentumsvorstellung von Grund und Boden abgelehnt und durch das Mittel einer Wiederverbindung der vom zivilisatorischen Fortschritt entwurzelten Schichten mit Grund und Boden rückgängig gemacht. Führt man nun das Ziel, das hier vom Neoliberalismus angestrebt wird, auf seine eigentliche Absicht zurück und prüft man die Mittel, mit denen es erreicht werden soll, auf ihren wesentlichen Gehalt hin, so ergibt sich noch deutlicher als beim erstgenannten Programmpunkt, daß mit diesem Ziel und diesen Mitteln ein Element konservativen Denkens in die neuliberale Gedankenwelt aufgenommen worden ist. Worum es hier nämlich geht, das ist die Abwehr der einseitigen Abstraktion des Fortschrittsdenkens hinsichtlich der geistig-seelischen Verfassung des Menschen, der im Zivilisationsprozeß von seinen Wurzeln getrennt wird und nachgerade daran zu ersticken droht. Was hier von Grund und Boden als Wirkung auf den Menschen erwartet, ja als sicher angenommen wird: der wohltätige und heilsame Einfluß der Seßhaftigkeit im tieferen und der Verbäuerlichung oder Verhandwerklichung im weiteren Sinne, das ist doch zweifellos diejenige Vorstellung von den naturgegebenen Ansprüchen des Menschen an seine Umwelt, die das konservative Denken seit dem Beginn des rational-technischen Zeitalters immer wieder mit Wort und Tat gerade gegen den Liberalismus und seinen individualistisch-abstrakten Eigentumsbegriff sowie gegen das hinter ihm stehende Menschenbild vertreten hat und verteidigen mußte. Ganz klar wird schließlich der konservative Grundzug, der das neoliberale Denken kennzeichnet, mit dem dritten Programmpunkt eines politischen Föderalismus, in den ökonomische Dezentralisierung und soziale Entproletarisierung eingebaut werden. Denn der hier gemeinte Föderalismus stellt als die politische Ordnung eines Bundes von gleichberechtigten, gleichgeachteten und gleichbewerteten Gliedern das Gegenteil jenes staatlichen Zentralismus dar, zu dem alles entschieden rationale Denken eine prinzipiell bedingte

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Neigung besitzt. Dieser politische Zentralismus, der infolgedessen überall in der hochentwickelten technischen Welt der modernen Zeit als eine durchgehende Eigenschaft waltet, beginnt sich bereits mit seinen ersten Ansätzen in der Renaissance zu regen, gewinnt mit dem bürokratischen Absolutismus im Zeitalter der Aufklärung zusehends an Einfluß und bestimmt dann folgerichtig auch im 19. Jahrhundert von Anfang an die Politik des Liberalismus. In Deutschland erschien er vor allem mit der starken und auch das gesellschaftliche Leben tief beeinflussenden unitarischen Tendenz der Paulskirche und der späteren liberalen Parteien wie der Fortschrittler und der Nationalliberalen, die unter idealistischer und ökonomischer Begründüng mit einem damals unvergleichlich leidenschaftlichen nationalen Enthusiasmus zum modernen Einheitsstaat hindrängten. Und insofern gilt für diesen Föderalismus dasselbe, was oben zum ersten Programmpunkt des Neoliberalismus gesagt wurde: wirtschaftliche Dezentralisierung und staatlicher Föderalismus sind Anwendungen ein und desselben Denkprinzips auf zwei verschiedene Lebensgebiete. Die erwähnten drei Programmpunkte des Neoliberalismus treffen sich sämtlich in der Idee des konkreten Gegengewichts und Ausgleichs im Sinne einer Begrenzung und Mäßigung. Und diese Idee ist gleichfalls keineswegs liberal, sondern ihrem "Wesen nach konservativ. Das konservative Denken hat sie vom Anbeginn seiner Abwehr der Übergriffe des rationalen Fortschritts an als eines seiner Strukturprinzipien besessen und gehandhabt. Als Ausdruck einer Anerkennung der allseitigen Bedingtheit des Lebens widerspricht sie von Grund auf dem Unbedingtheitserlebnis des Weltverständnisses, das der Liberalismus aus der rationalen Denkform mit ihrer Freiheits- und Fortschrittsvorstellung notwendig gewinnen muß. Konsequent durchgedacht, hat denn auch die Übernahme dieser Idee zwangsläufig die liberale Ideologie in ihrem Kern zu Fall gebracht und die Liquidation des Liberalismus aus sich selbst heraus vollendet. Der kühne, aber gewaltsame Versuch zur Usurpation der ganzen abendländischen Geistesgeschichte bis zurück zur Antike, mit dessen Hilfe sich der Neoliberalismus unter das Zeichen eines universellen Liberalismus stellen und legitimieren möchte, ändert daran nichts. Denn er bleibt nach wie vor blind für das ungeheure Problem der menschlichen Triebfreisetzung im technischen Zeitalter. Diese Blindheit für den wirklichen Grund zur Entstehung der modernen Zeitnöte sterilisiert dann gewissermaßen auch die Aneignung der fremden Gedankenelemente — der Vernunftglaube kann trotz aller riditigen Einzelbeobachtungen nicht zu der Ein-

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sieht gelangen, daß gerade er die Unvernunft weckt, indem er die Welt vornehmlich rational verstehen und einrichten will. Denn diese Einsicht würde für ihn den ausdrücklichen Verzicht auf sich selbst bedeuten. Ihr im besonderen Maße aktuelles Gesicht gewinnt die jüngste Fassung der liberalen Idee endlich durch eine eindringliche Kritik an den Gefahren des modernen Kollektivismus, der freimütig als Zweig am Stamm des Liberalismus anerkannt wird. Vor allem für die Charakterisierung des Kollektivismus gilt unsere Feststellung von den richtigen Einzelbeobachtungen des Neoliberalismus in exemplarischer Weise. Denn nirgendwo sonst ist diese Erscheinung der Zeit tatsächlich so meisterhaft in ihren Äußerungen gezeichnet worden — wenngleich jene Blindheit für das hinter ihr stehende psychologische Tiefenphänomen das Bild sozusagen unfertig bleiben läßt. Dieser Kollektivismus tritt gewöhnlich in zwei eng miteinander verbundenen Formen auf: als Änderung der Wirtschaftsordnung und als Änderung der Eigentumsverhältnisse. Die andere Wirtschaftsordnung ist die Planwirtschaft, die an die Stelle der freien Marktwirtschaft eine zentralistische Kommandowirtschaft setzt, und die andere Eigentumsverfassung entsteht durdi die Sozialisierung, die Produktionsmittel aus privatem in öffentliches Eigentum überführt. Erstere geht auf den Staatssozialismus St. Simons zurück, letztere auf den sozialen Kommunismus von Marx. Als Planwirtschaft wird jedes ökonomische System bezeichnet, das die bisher vom Spiel zwischen Angebot und Nachfrage durch den Verbraucher geregelte und durch den Staat vor Auswüchsen bewahrte Wirtschaft einem unbedingten Staatszwang unterwirft. Hierbei braucht das Privateigentum sogar nicht einmal angetastet zu werden. Denn Privateigentum wird allein schon dadurch seines eigentlichen Sinnes beraubt, daß dem Menschen das Recht der freien Verfügung über sein Eigentum in diesem Wirtschaftssystem bestritten wird und verlorengeht. Im einzelnen sind die Kennzeichen der Planwirtschaft: Überwachung, Prüfung, Verbot und Beschlagnahme. Ihr beliebtestes Mittel ist das Formular in tausendfacher Abwandlung, und ihr unmittelbarer Träger ist unvermeidbar der anonyme Funktionär der sozialistischen Bürokratie. „Oben" wird bei diesem planwirtschaftlichen System in einer leitenden Bürokratie gelenkt und gesteuert, „unten" in der Masse der Verbraucher jedoch wird — gewartet. So führt dieses System aus seiner eigenen Gesetzmäßigkeit auf die Dauer zu einer wachsenden Verlangsamung und Verwirrung des gesamten Wirtschaftsprozesses, der eine immer schlechtere Versorgung der Bevölkerung entspricht. Mit dem zunehmenden Mangel

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an Gütern geht eine Lähmung des wirtschaftlichen Lebens Hand in Hand: schlimmer noch als die Vernichtung des Reichtums, die dieses System nach sich zieht, ist die Vernichtung der Produktionskräfte, die es zur Folge hat. Sein endgültiges Resultat ist daher ein Chaos, das sich aus Unwirtschaftlichkeit, Massennot und Gesetzesuntreue zusammensetzt. Zu ähnlichen Wirkungen führt auch die sogenannte Sozialisierung privater Betriebe. Sie muß ein völlig untaugliches Mittel bleiben, um die Menschen aus der Eigentumslosigkeit zu erlösen. Denn es ist absurd, ein durch Konzentration entstandenes Problem generell durch die Hyperkonzentration der Verstaatlichung lösen zu wollen. Im Gegenteil verschärft die Hyperkonzentration nur das Problem — das ja bloß ein Teil des überhaupt auf allen Lebensgebieten bestehenden großen Zeitproblems der Konzentration ist, •dessen Lösung allein Dezentralisierung geben kann und nicht etwa eine noch höhere Form der Zentralisierung. Daher bedeutet es reine Mystik, die durch die moderne Industrialisierung hervorgerufene Trennung der Arbeiter von den Produktionsmitteln dadurch zu beheben, daß wenige private Eigentümer dem Staat als einzigem Eigentümer weichen. Vielmehr wird hiermit bloß erreicht, daß der staatliche Apparat unmäßig potenziert und eine Bürokratie großgezogen wird, die ein Ubermaß von Macht in die Hand bekommt — ganz abgesehen davon, daß der Staatsbetrieb erfahrungsgemäß und nachweislich keineswegs besser produziert als der Privatbetrieb. Beide Tendenzen, zur Planwirtschaft und zur Sozialisierung, sind in der Gegenwart weitgehend ineinander verflochten und stellen samt ihren mannigfachen Folgen den modernen Kollektivismus dar. Mit wenigen Ausnahmen ist er heute überall in Europa anzutreffen oder gar an der Herrschaft. Aber trotz seines äußeren Triumphes befindet sich der mit Plan und Befehl arbeitende Kollektivismus in einer tiefen inneren Krisis. Hinter der Fassade seiner Machtstellungen herrschen nämlich Verlegenheit und Ratlosigkeit, verbergen sich schroffe Gegensätze und tiefe Spannungen. Denn die Zeit der Programme ist für ihn tatsächlich schon vorbei. Mit seiner Verwirklichung ist er auch bereits in die Verteidigung gedrängt worden: allenthalben wächst die laute oder stille Enttäuschung über den Sozialismus, der ihn vertritt und trägt. Deshalb stellt der zum Etatismus neigende Sozialismus, der die Freiheit der Gleichheit opfert und dem Machtstreben in vielleicht noch höherem Grade verfallen ist als seine Antipoden, die eigentliche und möglicherweise tödliche Krankheit unserer Zeit dar. H a t doch der Kollektivismus dem europäischen Menschen keine Hilfe gebracht, sondern ledig-

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lieh neues Ungemach: Formulare ohne Ende, Schlangen vor den Läden und Ämtern, übermächtige Bürokratie, Kontrollen aller Art, Korruption, Unduldsamkeit und Willkür. Als Resultat dieser Entwicklung wird bei seinen Vertretern und Anhängern zwar eine gewisse Distanzierung von der Einseitigkeit des eingeschlagenen "Weges sichtbar. Sie zeigt sich in den Versuchen, einer immer lebhafter werdenden Kritik am Sozialismus, der nur Armut und Unfreiheit bringen oder verewigen kann, mit neuen Programmen zu begegnen. Aber auch der freiheitliche 'Sozialismus, den man statt eines bürokratischen propagiert, vermag dem Kollektivismus mit seiner Versklavung des Menschen durch einen totalen Staat des bürokratischen Despotismus nicht zu entgehen. So ringen denn auch in der Brust des modernen Sozialismus zwei Seelen miteinander: eine antiliberale, machtpolitische sowie romantische Richtung und eine demokratisch-freiheitliche Richtung. Letztere versucht die gefährliche Bahn eines gemilderten Kollektivismus zu beschreiten. Doch sie bereitet damit wider "Willen nur der Radikalität des Kommunismus den Boden, statt den Kollektivismus als Ganzes aufzugeben und den Weg zu einer durch Gegengewichte gereinigten Marktwirtschaft einzuschlagen, auf dem sich die festgefahrenen Produktionskräfte Europas wieder lösen können.

B. S O Z I A L I S M U S

"Wie der Liberalismus die moderne Ideologie der Freiheit, so ist der Sozialismus die Ideologie der modernen Gleichheitsvorstellung. Wenn man auch in der Geschichte weit zurückliegende Regungen und Bewegungen sozialistischer Färbung gesucht und gefunden hat, so stammen doch die eigentlichen Anfänge des Sozialismus im heutigen Sinne ebenfalls erst aus der Aufklärung des 18. Jahrhunderts. Aus deren rationaler Denkform ist der Sozialismus als Heilslehre hervorgegangen, und von ihr bleibt er auch als seiner theoretischen Voraussetzung abhängig. Am frühesten meldete er sich in Frankreich zu "Wort, am kräftigsten zuerst in England, am konsequentesten und radikalsten aber dann später in Deutschland. Ganz ähnlich wie der ihm nahe verwandte Liberalismus durchläuft auch der Sozialismus mehrere Entwicklungsstadien, die zu verschiedenen Fassungen seiner Idee führen, ohne daß ältere und jüngere Formen chronologisch genau abgegrenzt werden können. Aber nicht nur die Herkunft aus derselben Denkform und die Ausbildung 3 Mühleilfeld, Politik

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mehrerer Fassungen hat der Sozialismus mit dem Liberalismus gemein, sondern er hat auch insofern ein ähnliches Schicksal, als er wie jener am Ende durch die Katastrophe, in die der rationale Fortschritt die ganze Welt und vornehmlich Europa gestürzt hat, zu einer revisionistischen Einstellung gedrängt wird, die ebensolche Merkmale zeigt wie der Neoliberalismus. Der Sozialismus als moderne Ideologie, das heißt als weltliche Glaubenslehre muß nämlich gleichfalls eine Abwehrstellung gegen die Ubergriffe des Fortschritts beziehen. Die Zeit selbst zwingt ihn dazu, seine Grundkonzeption in entscheidenden Punkten zu revidieren oder sogar aufzugeben. Obwohl dies mit weitaus größerem Zögern und unter teilweise anderen Begriffen geschieht als beim Neoliberalismus, und obwohl der Kreis seiner Anhänger, die sich der ganzen Tragweite dieser Korrektur der Grundkonzeption voll bewußt sind, aus naheliegenden Gründen vorerst noch verhältnismäßig klein ist, ändert das an dem Sachverhalt selber nichts. Drei große Formen der sozialistischen Idee im engeren Verstände lassen sich seit dem Zeitalter der Aufklärung unterscheiden: die idealistische, die materialistische und die sogenannte freie oder freiheitliche Fassung. Bis in die Gegenwart laufen alle drei Fassungen oder jedenfalls doch die beiden ersten in der einen oder anderen Weise nebeneinander her. Sie sind in Theorie und Praxis vielfach' gemischt und verflochten, so daß ihre begriffliche Trennung im konkreten Fall nicht immer leicht und bisweilen gar nicht zu bewerkstelligen ist. Die Fülle der Abwandlungen und Abarten, der Sonderrichtungen und Splitterbewegungen, die der sozialistische Gedanke im einzelnen ermöglicht, ja oft direkt herausfordert, macht eine befriedigende Darstellung seiner Theorie in einiger Kürze nicht nur zu einer der schwersten Aufgaben, sondern zu einem beinahe unerreichbaren Ziel — auch in dieser Hinsicht ähnelt die sozialistische der liberalen Ideologie. Noch heute, w o zumal der freiheitliche Sozialismus in West- und Mitteleuropa allem Anschein nach über eine beträchtliche Zahl von Anhängern und Freunden verfügt und als solcher nach wie vor aus Gründen der immanenten Denkgesetzlichkeit der technischen Zivilisation eine mächtige politische Doktrin darstellt, enthalten die meisten sozialistischen Äußerungen und Handlungen Teile oder Elemente fast sämtlicher seiner Formen und Spielarten in bunter Mischung. Es gibt, um nur die wichtigsten zu nennen, idealistischen und materialistischen, utopischen und marxistischen, religiösen und atheistischen, ethischen und ökonomischen Sozialismus, wobei der Gesamtzusammenhang hin und wieder kaum noch gewahrt bleibt.

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Diese weitgehende Undeutlichkeit des Sozialismus als ideologischer Einheit, die jede Diskussion über ihn so schwierig sein läßt, wird noch dadurch verstärkt, daß er sehr im Gegensatz zum Liberalismus und seinen aus der neueren Kulturgeschichte nicht wegzudenkenden Ausdrucksformen und Ergebnissen einerseits und trotz unbestreitbar größerer politischer Aktivität andererseits doch eine viel geringere und auch weniger eindrucksvolle Menge greifbarer Resultate hervorgebracht hat. Die liberale Ideologie war fraglos „schöpferischer" als die sozialistische, selbst wenn man letzterer noch den Kommunismus und Faschismus zurechnen würde, weil diese jüngeren Ideologien ohne jene ältere nicht möglich geworden wären. Als bedeutender Ausdruck des Sozialismus insgesamt kann nämlich lediglich die moderne Sozialgesetzgebung, die Planwirtschaft und — ein speziell geistiges Ergebnis, das mit diesen beiden unlöslich verbunden ist — das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit gelten, wobei alle drei Fassungen des sozialistischen Gedankens an der Schaffung dieser Ausdrucksformen beteiligt gewesen sind. Es hieße allerdings das menschliche Gewicht dieser Ausdrucksformen völlig verkennen, wenn man über ihrer geringen Zahl und ihrer vergleichsweise schwachen Eindrücklichkeit vergäße, daß es dem Sozialismus mit ihrer Hilfe gelungen ist, die größte und weltgeschichtlich wirksamste Ausdrucksform der liberalen Ideologie, den modernen Kapitalismus, zum Sturz oder zum "Wanken zu bringen und jedenfalls zum Rückzug aus seiner einstigen Stellung zu zwingen. Das kulturhistorisch sicherlich weniger eindrucksvolle Gesicht des Sozialismus verbirgt also höchst elementare Wirkungikräfte — jedoch nur zur Zerstörung alter Formen, die obendrein aus ihrer eigenen Entwicklung heraus der Auflösung entgegenkommen, während die Fähigkeit zum Aufbau einer neuen und besseren Welt erst noch schlüssig erwiesen werden muß. Und diese Fähigkeit eben ist es ja, die die Gegner des Sozialismus wie etwa der Neoliberalismus an Hand der bisher abgelegten Proben bezweifeln, und die seine Anhänger in der schon erwähnten und im folgenden noch näher zu erörternden Wendung des freiheitlichen Sozialismus ungewollt selber in Frage stellen. Die eigentliche Ausgangssituation des modernen Sozialismus ist nicht wie beim Liberalismus die Mangelhaftigkeit der alten Weltordnung, die durch Absolutismus und Feudalismus repräsentiert war, sondern die Schlechtigkeit der neuen Weltordnung, die das liberale Bürgertum geschaffen hat. Von daher rührt der zeitliche Abstand zwischen den beiden Heilslehren, die doch aus derselben Denkform stammen. Wie jener die Ideologie des „dritten" 5*

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Standes war, so wurde dieser in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Ideologie des „vierten" Standes der Industriearbeiter Schaft, die, sich gegenüber dem Kapitalismus in einer ähnlichen Lage sah wie vorher das Bürgertum gegenüber Absolutismus und Feudalismus. Bei dem Kampf um ihre Lebensrechte war die Ideologie der Freiheit weder geeignet, den Angehörigen dieser mit der zunehmenden Industrialisierung neu auftretenden Schicht ein befriedigendes Ideal zu geben, noch war sie imstande, ihre realen Existenzbedingungen zu verbessern. Denn diese liberale Ideologie stellte ja gerade Grund und Begründung dafür dar, daß der Kapitalismus sich entwickeln und die Lebensverhältnisse der Arbeiterschaft unter ein erträgliches Maß herabdriicken konnte. Der Ruf nach Freiheit und die auf ihm errichtete Lehre war somit nicht bloß durch das liberale Bürgertum gleichsam schon mit Beschlag belegt, sondern war auch ein untaugliches Mittel, der immer schneller anwachsenden neuen Bevölkerungsschicht, die in der aufstrebenden Industriewir tschaft ihr Brot durch medianische Arbeit verdiente, zu einem menschenwürdigen Dasein zu verhelfen. Von der realen Lage dieser neuen sozialen Schicht aus, die wie keine andere bisher auf den begrenzten Bereich ihrer Lohnarbeit angewiesen war und dadurch mit außerordentlichen seelisch-geistigen Konsequenzen immer enger in die Atmosphäre der Fabrik, der Maschine, der Technik gleichsam eingeschlossen wurde, erschien deshalb statt der Freiheit vielmehr die Gleichheit als das zentrale Problem ihrer Existenz, das gelöst werden sollte und mußte. Gleichheit wurde dieser Schicht in doppelter Weise zum wichtigsten Erlebnis: als tatsächliche Erfahrung in der mechanischen Zusammenarbeit, die der belebenden und beseelenden Einflüsse einer nichttechnischen Umwelt und Mitwelt entbehrte, und als ideales Ziel, das unvermeidlich aus jedem Blick über die Mauern der eigenen Arbeitswelt hinweg erwuchs. Zwar war die individuelle Freiheit zumindest im Grundsatz vom Bürgertum verwirklicht worden: es stand jedermann offen, seine Fähigkeiten unbehindert durch alte Vorurteile zu verwenden und sich im freien Spiel der Kräfte einen „Platz an der Sonne" zu verschaffen. Aber vom Standpunkt der Industriearbeiterschaft schien diese Freiheit so gut wie zwecklos oder direkt sinnlos zu sein, da sich unter ihrem Zeichen nach wie vor wirtschaftliche Ungerechtigkeit und damit doch nur wieder tatsächlich neue Unfreiheit breitmachen, ja bald sogar noch ausdehnen und vertiefen konnte. Die liberale Freiheit bedeutete für die Industriearbeiterschaft, zumal in den Anfängen des Hochkapitalismus, großenteils bloß die Freiheit, zu darben und zu hungern, aus-

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gesperrt und gekündigt zu werden, elende Wohnung und Kleidung zu haben, hilflos und schutzlos bei Krankheit und Unfall zu sein und im Alter oder bei Invalidität einfadi auf der Straße zu liegen, ohne daß sich wie früher jemand um Armut und Krankheit kümmerte. Erlösung von diesen Übeln, die auf den wirtschaftlich herrschenden Liberalismus immer tiefere Schatten warfen, versprach daher einzig die Forderung nach Gleichheit. Denn erst in ihr war offenbar der Schlüssel für das Tor zur echten und wahren Freiheit zufinden.Der lebenswichtige Akzent bei der revolutionären Parole von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, unter der das 19. Jahrhundert stand, wanderte also vom Anfang auf ihre Mitte. Und diese Mitte, die Idee der Gleichheit, ist dann in der Vielzahl von ideologischen Modifizierungen, die der sozialistische Gedanke in der Folgezeit aus sich entließ, durchweg das innerste Anliegen des Sozialismus als Gesamtbewegung geblieben. Sie bestimmt seinen Charakter gegenüber den anderen modernen Ideologien und fundiert seine verschiedenen Fassungen in ähnlicher Weise, wie der Liberalismus durch die Idee der Freiheit als ideologisches Ganzes fundiert wird. Zwar pflegt mit der Forderung nach Gleichheit in der Regel auch die Forderung nach Freiheit in dieser oder jener Form verknüpft zu sein. Aber der Sozialismus bedurfte des letzteren Postulats doch bloß sekundär, wie spätere Beispiele und Realisierungen seiner Ziele bewiesen. Der sozialistische Gedanke gab mithin der wirtschaftlich-sozialen Situation der gesellschaftlichen Schicht, die aus der neuen Wirklichkeit der kapitalistischen Entwicklung hervorging, ideologischen Ausdruck — darin liegt seine geistesgeschichtliche und zugleich menschliche Legitimation. Auf der Forderung nach Gleichheit, auf dem Verlangen nach sozialer und wirtschaftlicher Gleichberechtigung, auf dem Wunsch, im Mitmenschen überhaupt den Genossen zu sehen, baute sich demgemäß allmählich eine immer schärfer gefaßte begriffliche Theorie auf. Sie wurde schließlich zu einem strengen System von Prinzipien, das in seinem Aufbau dem Denken derjenigen Bevölkerungsgruppe entsprach, deren neue Glaubenslehre es war. Als solche erlangte sie eine ungeheure politische Bedeutung in der modernen Welt der technischen Zivilisation und ist aus der europäischen Geschichte der letzten hundert Jahre nicht wegzudenken. Ohne die Kenntnis dieser Ideologie, der sozialistischen Theorie und ihrer verschiedenen Fassungen, kann denn auch die politische Geschichte des 19. und des 20. Jahrhunderts nicht wirklich verstanden werden — sie ist mitsamt den wesentlich ihr entspringenden und

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dann als Widersacher gegenübertretenden neuesten Ideologien des Kommunismus und des Faschismus eine der Hauptkräfte im Schicksalsvollzug der Gegenwart geworden, ohne deren Berücksichtigung man überhaupt kein zutreffendes Bild der Zeitlage zu gewinnen vermag. T r o t z aller thematischen Gegensätze weist die sozialistische Theorie aber unverkennbar gleiche Wesenszüge auf wie die ihr voraufgehende liberale Theorie, deren Fehler sie wiedergutzumachen sucht. Auch sie ist nämlich zugleich mit ihrem Ziel auf eine unbedingte Rationalität festgelegt, auch ihr liegt die Fortschrittsidee mit denselben Folgerungen zugrunde. Das Ziel des Sozialismus, das als Forderung nach Gleichheit aus der realen Situation der ihn tragenden sozialen Schicht folgt, bestimmte von Anfang an auch das Denken, dessen sich die gewöhnlich aus anderen Schichten kommenden Theoretiker des neuen Gedankens zum Aufbau und Ausbau der Ideologie bedienten und bedienen mußten. W o es nämlich ein gedankliches System von Zielen und Methoden, von Erwartungen und Ansprüchen, von Begründungen und Beweisen auszubilden gilt, das der Forderung nach Gleichheit Erfüllung bringen soll, da ist eine von vornherein feststehende Denkform vorgeschrieben. U n d das ist eben das rationale Denken, wie es die A u f klärung aus dem Prinzip der unbedingten Kausalität mit einem opitimististhen Vernunftglauben entwickelt hatte, und wie es zugleich der geistigseelischen Eigenart einer Bevölkerungsschicht entsprach, die mehr als alle anderen Schichten auf ein Dasein in der engbegrenzten Welt der Maschine, der Fabrik, der Technik angewiesen war. Nur im Rahmen dieses nüchternabstrakten, auf Zweck und Nutzen beschränkten Denkens war die Konzeption einer radikalen Gleichheit als letztes Ziel möglich, dem wenigstens prinzipiell alle qualitativen Unterschiede des Lebens zum Opfer fielen, das darum wesentlich quantitativ bestimmt war und in vollem Einklang hiermit auch die anschaulichen Mittel zu seiner Bestätigung und Rechtfertigung aus den Naturwissenschaften schöpfte, die ja mit Hilfe desselben Denkens ihre unermeßlichen Erfolge erzielten. N u r im Rahmen dieser Umwelt aus Gestalt gewordener Rationalität, die Technik, Fabrik und Maschine im Grunde darstellen, war das in der Gleichheitskonzeption zwangsläufig mitenthaltene Ubergreifen naturwissenschaftlichen Denkens auf die historisch-psychologisch bestimmte Welt des Menschen möglich — was dann alsbald auch zur Weltanschauung des Materialismus führte, die gerade durch solches Ubergreifen charakterisiert wird. Die ganze Schicksalhaftigkeit in der Entstehung des Sozialismus läßt sich

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infolgedessen nur begreifen, wenn man sich bewußt ist, daß nicht allein die Konzeption der Freiheit durch Gleichheit die neue Ideologie unausweichlich auf ein einseitig rationales Denken verwies, sondern daß auch ihre soziale Basis sie in mehrfacher Hinsicht zu dieser Denkweise trieb, die später zur herrschenden Denkform des gesamten Zeitalters wurde. Einmal führten bestimmte Bevölkerungsteile ihr Leben, wie schon angedeutet, im Umkreis von Industrie und Wirtschaft, deren fortschreitende Technisierung und Organisierung ein immer höher entwickeltes Gefüge von Rationalität hervorbrachten. Deshalb rief das Dasein in diesem Form gewordenen Gefüge abstrakter Zweckhaftigkeit auch ohne weiteres eine Neigung zum einseitig rationalen Denken hervor. Diese Denkform war sozusagen ein standortbedingtes inneres Geschick der auf derartige Arbeitsstätten angewiesenen und von den übrigen Seiten der kulturellen Wirklichkeit mehr oder weniger ausgeschlossenen Menschen. Zum zweiten aber handelte es sich bei dieser Ideologie um die Belange einer ständig größer werdenden Masse von Menschen, denen die Fabrikarbeit mit ihrer mechanischen Produktion beinahe von Tag zu Tag mehr den Stempel der Anonymität aufdrückte. Die überwältigende Eintönigkeit der Problematik, die aus dieser tatsächlichen Verfassung ihrer Lebensweise folgte, legte das rationale Denken mit seinem abstrakten, quantitativen, materialistischen Formalismus nicht bloß nahe, sondern zwang es mit widerspruchsloser Unmittelbarkeit herbei. Dem, was hier mit zahllosen Menschen geschah, war in seiner erregenden, aber unüberschaubaren Wiederholung überhaupt nur mit den Mitteln einer formalen Radikalität zu begegnen. Und drittens drängte schließlich auch die Gegenstellung zu den alten oder neuen herrschenden Kräften der Gesellschaft den Sozialismus als Lehre zur Rationalität. Denn nur das rationale Denken, dessen kühle Vernunft die Vergangenheit verneint und überwindet, versprach eine Änderung des bestehenden Zustandes, da es ja selber der Inbegriff des Fortschritts ist, der Fesseln löst, Freiheit schenkt und K r a f t zur Errichtung einer anderen Welt verleiht. Infolge dieser Umstände war der Glaube an den rationalen Fortschritt von vornherein aufs tiefste mit der neuen Lehre verwoben. Einzig der Fortschritt konnte der realen Lage abhelfen, in der sich mit dem Aufblühen des liberalen Kapitalismus die biologisch wie sozialgeschichtlich stetig anwachsende Masse ihrer Anhängerschaft befand. Aus dieser Überzeugung, die gleichzeitig eine situationsgegebene Notwendigkeit war, rührt das unerschütterliche Vertrauen des Sozialismus aller Schattierungen zur Wissenschaft her.

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In der Meinung, damit alle anderen Ideologien als Gedankensysteme der Fremd- oder Selbsttäuschung, der Interessenmaskierung oder Lüge entlarven und sich selbst als eine auf wissenschaftlicher Forschung und deshalb auf Wahrheit beruhende Auffassung des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens hinstellen zu können, bezeichnete sich seine politisch aktivste Form denn bald selber auch als wissenschaftlichen Sozialismus. Die Wissenschaft mußte der Schlüssel zum Tor der neuen, besseren Welt sein: jede Maschine, die ein Erfinder auf Grund neuen Wissens konstruierte, jede physikalische oder chemische Entdeckung, die der Naturwissenschaft mit ihrem exakten Kausaldenken gelang, jede Verbesserung industrieller oder organisatorischer Methoden, die aus der experimentierenden Planung heraus vorgenommen wurde, hatte doch augenscheinlich die Aufgabe, das menschliche Dasein auf eine höhere Ebene als früher zu bringen und durch unentwegte Hebung des zivilisatorischen Standards der Völker sozialen Fortschritt zu erzeugen. Daher erschienen von diesem Standpunkt her Wissenschaft und Technik, auch wenn sie bisher nicht in solchem Sinne gewirkt hatten, als die beste Gewähr und das sicherste Mittel, um einen allgemeinen Fortschritt herbeizuführen, der jedem Menschen zu nutzen vermochte. Wenn statt dessen eine große und noch immer größer werdende Schicht von Menschen — die zudem auch noch mit der Auswertung dieses rationalen Fortschritts vor allem in der Fabrikproduktion beschäftigt war, und zwar rein materiell betrachtet mehr als alle übrigen Schichten — von der Verbesserung ihres Loses durch Teilnahme am Ertrag des Fortschritts ausgeschlossen wurde, so widersprach das unleugbar seinem eigentlichen Sinn. Denn Fortschritt kann nur dann Sinn haben, wenn er für alle Menschen, für alle Bevölkerungsschichten gilt, die sich seiner Vorteile erfreuen wollen. Andernfalls ist er keine Wohltat, sondern eine Ungerechtigkeit. Schafft er statt Freiheit, Glück und Sicherheit lediglich Ungleichheit, Elend und Zwang, so verliert er seinen Sinn, da ihn die fortschreitende Beseitigung der Unvollkommenheit und die fortschreitende Vervollkommnung des Bestehenden überhaupt erst konstituiert. Der rationale Fortschritt verlangt folglich, stellt man ihn in die soziale Wirklichkeit hinein, von sich aus Gleichheit, die ihn allein zu einem für alle Menschen gültigen Wert und Gut macht. Die Konsequenzen, die in dieser Art des sozialistischen Weltverständnisses beschlossen liegen, lassen die verschiedenen Entwicklungsstadien der neuen Heilslehre erkennen, die zuerst ihre idealistische, darauf ihre materialistische und schließlich — nachdem beide Wege trotz aller hochgespannten Erwar-

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tungen und hingebenden Bemühungen nicht das erstrebte Ziel erreichten — ihre freiheitliche Fassung hervorbrachten. Die idealistische Fassung der sozialistischen Idee hat ihre wichtigsten Sdiöpfer und Verkünder in Frankreich und England gefunden und wird wesentlich durch das Werk St. Simons, Fouriers und Owens teils theoretisch, teils praktisch bestimmt. Einer der frühesten systematischen Verfechter sozialistischer Gedanken war der Graf Henri de Saint-iSimon (1760—1824), der im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts die nachhaltig bis ins 20. Jahrhundert wirkende Lehre eines zentralistischen Staatssozialismus vertrat. Das tragende Gerüst seines „Industriellen Systems" bilden drei Phasen der Geschichte der Mensdiheit: das theologische, das metaphysische und das positive Stadium. Die moderne Industriegesellschaft ist der Ausdruck dieses dritten Stadiums. Und ihrer sozialen Ordnung gilt Saint-Simons ganzer Idealismus, in dessen Mittelpunkt die Liebe zur Arbeit und zum Arbeiter steht. In dieser neuen Sozialordnung, deren Zauberwort „Industrie" heißt, wird zwar das Privateigentum nicht grundsätzlich abgeschafft, aber doch in der Praxis stark eingeschränkt, um die Ungerechtigkeit der arbeitslosen Einkommen, vor allem des großen Grundbesitzes, und das tiefe Elend, das durch den liberalen Kapitalismus entsteht, zu beseitigen. Die Mittel hierzu bieten einmal die Aufhebung des Erbrechts, zum anderen eine industrielle Planwirtschaft, die von einem dirigierenden Zentralinstitut geleitet wird und die Fabrikanten, Kaufleute und Bankiers zu öffentlichen Beamten werden läßt. Durch die Aufhebung des Erbrechts soll der Nachlaß jedes Menschen an die Gesellschaft fallen, um den größtmöglichen Nutzen für die Allgemeinheit zu erzielen. Auf solche Weise bleibt das individuelle Sondereigentum zwar erhalten, aber ohne sich anzusammeln und allzu krasse soziale Ungleichheit hervorzurufen. Das ist die Voraussetzung für eine einheitlich geplante Güterproduktion, die einen friedlichen Ausgleich zwischen Arbeit und Kapital schafft und eine Wirtschaftsgemeinschaft entstehen läßt, in der die handarbeitende Schicht der Bevölkerung allmählich auf die Höhe der Gesellschaft steigen kann. Denn in ihr verschwindet das Hauptübel der bisherigen Gesellschaft, die Knechtschaft des Arbeiters gegenüber dem Besitzer, und macht einer Regelung der sozialen Verhältnisse Platz, in der das Arbeitertum die Rolle der ersten, herrschenden Klasse spielt. Diese Konstruktion der Gesellschaft plant also den Sozialismus durch straffe Organisation und stellt ihn unter rückhaltsloser Bejahung des ratio-

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nalen Fortschritts auf das Fundament der modernen Industrie. Wie an die Stelle des Feudalismus und der Kirche im positiven Zeitalter der Menschheitsgeschichte Industrie und Wissenschaft treten, so fällt die einstige Rolle des Klerus nunmehr den Gelehrten und Forschern zu, an deren Spitze ein oberster Leiter des streng zentralisierten Plansystems steht, der alles regelt. Saint-Simons Schüler, darunter besonders Bazard und Blanc, bauten dann diese Lehre des Meisters zum sogenannten St. Simonismus aus und verschafften ihr innerhalb der politischen Diskussion der Folgezeit in der Form des gouvernementalen Sozialismus, der staatskapitalistische Züge trägt, einen teilweise spürbaren öffentlichen Einfluß. Neben St. Simon ist Charles Fourier (1782—1856) der andere einflußreiche Hauptvertreter des idealistischen Sozialismus in Frankreich. Als einer der bittersten Kritiker der "Wirtschaftsweise des Liberalismus mit seiner freien Konkurrenz entwickelte er ebenfalls auf der Grundlage einer neuen Phasenlehre der Geschichte etwa gleichzeitig mit St. Simon ein ganz und gar abstrakt anmutendes, sehr umfangreiches und bizarres System, das man als freiheitlichen Genossenschaftssozialismus bezeichnen kann. Fourier sieht in der modernen Zivilisation die Armut und das Elend als Ergebnis des Überflusses entspringen, als die Kehrseite des Kapitalismus und seine notwendige Folge, die mit ihm wächst. Denn die Vorteile des ökonomischen Liberalismus sind gleichzeitig Schäden, seine freie Konkurrenz muß zur Bildung des Monopolkapitalismus treiben und im Bankrott enden. Deshalb strebt die moderne Zivilisation aus sich selber und gemäß dem Willen der Natur zum „Garantismus", und das heißt zu einer genossenschaftlichen Organisation der Erzeugung und Verteilung aller zum Leben erforderlichen Güter, doch unter Ausschluß der großen Industrie vorwiegend im landwirtschaftlichen und handwerklichen Betrieb. In Fouriers Zukunftsgesellschaft wird der Gedanke der Planwirtschaft ohne das Fundament der Industrie und ohne den scharfen Zentralismus wie bei St. Simon, aber mit ebenso streng systematischer Konsequenz sowohl hinsichtlich der Produktion als auch' bezüglich des Verbrauchs durchgeführt. Dabei gelangt er bezeichnenderweise zu einer Art von philosophischem System, dessen Mittelpunkt psychologisch ganz folgerichtig das Resultat seiner extremen Rationalität ist: die Passion, die Leidenschaft, der Trieb. Er betrachtet nämlich — die psychologische Blindheit und den ideologischen Dogmatismus des späteren Sozialismus gewissermaßen gleich zu Anfang vorwegnehmend und durch Übertreibung naiv enthüllend — die freie

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Leidenschaft, der alle Gesetze mit ihrem Zwang zu weichen haben, als den eigentlichen Hebel und das ursprüngliche Zentrum der sozialen Ordnung. Unter diesem Gesichtspunkt entwirft er das ganze Wunschbild seiner Zukunftsgesellschaft, ohne der entscheidenden Überlegung den nötigen Wert beizumessen, daß einerseits die Gleichheit innerhalb derselben nur mit Zwang herbeigeführt und aufrechterhalten werden kann, und daß andererseits die Entbindung der Leidenschaften, die sich ja notwendig auf alle Art von Triebregungen erstrecken muß und mithin auch den Drang etwa zur Macht oder zum Bösen freisetzt, zwangsläufig neuen individuellen und bald auch kollektiven Druck hervortreibt und daher schließlich wiederum in nichts anderem als hemmenden, bindenden, Schranken setzenden Vorschriften und Gesetzen enden kann. Die sozialistische Bewegung mit dem meisten Widerhall und unmittelbar praktischen Folgen trat aber während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht in Frankreich auf, wo der ideologische Sozialismus geboren wurde, sondern in England, wo die moderne Industrialisierung am frühesten einsetzte und der moderne Kapitalismus am schnellsten seinen rücksichtslosen Charakter zeigte. Der englische Sozialismus jener Zeit wurde hauptsächlich von Robert Owe« (1771—1858) ins Leben gerufen. Durch die beispielhaft wirkende soziale Organisation seiner großen Baumwollspinnerei bekannt werdend, vertrat der Fabrikant Owen unter dem Eindruck der unmenschlichen Lebens- und Arbeitsbedingungen in der frühindustriellen Wirtschaft des Liberalismus ebenfalls gesellschaftliche und wirtschaftliche Reformen im Sinne eines gemäßigten Genossenschaf tssozialismus. Voll Glauben an die Güte, Einsicht und Menschenliebe der anderen Unternehmer, denen er selbst ein Vorbild gab, suchte er eine friedliche Besserung des Loses der Arbeiter und eine Versöhnung zwischen Unternehmern und Arbeitern zu erreichen. Bei seinem Plan der Zukunftsgesellschaft, für dessen Konzeption auch der Einfluß der Quäker eine gewisse Rolle spielte, ging Owen in erster Linie von der ökonomischen Theorie Ricardos aus, nach der die Arbeitsmenge eines Produkts seinen Wert bestimmt. Durch direkten Austausch der produzierten Güter auf einer mit Wertscheinen arbeitenden Tauschbörse sollte der kapitalistische Profit vermieden werden und der Arbeiter in den ungeschmälerten Genuß seines vollen Arbeitswertes gelangen. Das endgültige Zukunftsbild dieser Gesellschaft sieht auf landwirtschaftlicher und handwerklicher Grundlage und ohne große Industrie dann genossenschaftliche

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Siedlungen vor, in denen das Privateigentum völlig abgeschafft ist. Owens aus der Aufklärung stammende Überzeugung war es dabei, daß der Mensdi infolge seiner angeborenen Natur gut wird, sobald audi seine äußeren Lebensverhältnisse gut sind. Und obwohl Owens sozialistische Experimente, die bis nach Nordamerika hinüberwirkten, schließlich in der Praxis sämtlich scheiterten, lösten seine Ideen doch während der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts eine Reihe von Arbeiteraufständen in England aus. Hiermit im Zusammenhang bildete sich dort auch 1838 die erste politische Partei des europäischen Sozialismus, die mit ihrem Programm damals der ganzen Bewegung den Namen Chartismus gab. Betrachtet man die erste offizielle Form der sozialistischen Idee, die vom späteren Sozialismus auf dem europäischen Festland für lange Zeit als utopisch abgelehnt wurde, als Ganzes, so läßt sich folgendes sagen: Dieser idealistische Sozialismus, in dem noch die Erfahrungen vom Ausbruch des Radikalismus am Ende der Französischen Revolution nachwirkten, begriff sich als ein selbsttätig wirkender Ausdruck der Vernunft, der Wahrheit und der Gerechtigkeit. Er lehnte die revolutionäre Verwirklichung seiner Ziele durch Gewalt ab und erhoffte alles auf friedlichem Wege von der Einsicht seiner Zeitgenossen. Er argumentierte mit allgemeinen ethischen, philantropischen und religiösen Postulaten, denen man den Einfluß des frühen Liberalismus mit seinem harmonistischen Denken mühelos anmerkt. Demgemäß verfügte er zur Lösung der bereits erkannten Problematik des vierten Standes lediglich über den begeisterten Schwung eines hohen Glaubens an den Menschen und seine Menschlichkeit. Doch hatte er sozusagen seinen wahren Gegner noch nicht in voller Klarheit erkannt, weshalb ihm auch die kämpferische Schärfe des materialistischen Sozialismus fehlte, der um die Jahrhundertmitte seine Nachfolge antrat. Und hinsichtlich der Wirkung dieser ersten Form läßt sich folgendes feststellen: Trotz der strengen Ablehnung durch den materialistischen Nachfolger bleibt in der Geschichte der sozialistischen Idee fortan ein gut Teil des spezifischen Idealismus ihrer frühen Fassung lebendig. So erhält etwa der sogenannte Reformismus der Epoche nach Marx bewußt oder unbewußt zweifellos von ihm das historische Fundament — vor allem in England, aber auch in Deutschland und Frankreich. Und noch in der jüngsten Fassung, dem freiheitlichen Sozialismus unserer Tage, wirken seine Spuren nach oder leben vielmehr wieder auf, wie wir sehen werden. Erst die materialistische Fassung der sozialistischen Idee erkennt und er-

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f a ß t in voller Klarheit den Gegner derjenigen Bevölkerungsschicht, deren Schicksal sie als Anwalt vertritt, im Kapitalismus. Unter Beibehaltung der grundsätzlichen Rationalität in der Einstellung zum Leben und damit auch des unbedingten Fortsdirittsglaubens richtet sich deshalb die neue Fassung des Sozialismus als Theorie vor allen Dingen gegen die Ideologie des kapitalistischen Systems, den Liberalismus. Und der Schöpfer des materialistischen Sozialismus als moderner Glaubenslehre der Industriearbeiterschaft, Karl Marx (1818—1883), entwickelt mit Unterstützung seines Freundes Friedrich Engels von dieser fortan den sozialistischen Gedanken bestimmenden Erkenntnis des wahren Gegners her eine begriffliche Theorie, die von solch tiefgreifender Wirkung war, daß sich später sogar noch eine neue Ideologie, der Kommunismus, mit fast dem gleichen Recht auf sie berufen konnte. Trotz hoher Einseitigkeit, trotz vieler Schwächen oder Mängel und trotz der Widerlegung seiner Prognosen durch die weitere Entwicklung ist der von Marx und Engels geschaffene Marxismus als gedankliche Leistung die bedeutendste der modernen Ideologien geworden, die die Gegenwart kennt. Mit seiner dialektischen Denkmethode und seiner Grundanschauung über das Verhältnis zwischen Bürgertum und Arbeiterschaft hauptsächlich der Philosophie Hegels verpflichtet, überragt er an begrifflicher Schärfe, theoretischer Dichte und geschichts- wie kulturphilosophischer Prägnanz sowohl den Liberalismus wie den idealistischen Sozialismus, aber auch die übrigen Ideologien des technischen Zeitalters durchaus, obwohl er die Anfälligkeit des ideologischen Denkens überhaupt in ganz besonderem Maße besitzt. Die marxistische Theorie, die überdies wesentliches Gedankengut ihrer Vorläufer in sich aufgenommen hat, ist denn auch ein derart komplexes und kompliziertes Gedankengebilde, daß sie hier nur in äußerster Knappheit wiedergegeben werden kann, um den gesteckten Rahmen nicht zu sprengen. In der Hauptsache aus sechs ineinandergreifenden Gliedern — der materialistisch-ökonomischen Geschichtstheorie, der Mehrwerttheorie, der Konzentrations- und Akkumulationstheorie, der Ausbeutungs- und Verelendungstheorie, der Klassenkampf- und Revolutionstheorie, der Krisen- und Zusammenbruchstheorie — bestehend, meint das marxistische Lehrsystem zusammengefaßt folgendes: Die Geschichte bietet den Anblick eines ständigen Kampfes zwischen führenden und geführten, herrschenden und beherrschten, bevorrechteten und unterdrückten sozialen Sdiiditen, den Klassen. Die von diesen Klassen in dauernder Auseinandersetzung getragene gesellschaftliche Entwicklung

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ist wirtschaftlich, politisch und kulturell letztlich durch die ökonomischen Verhältnisse bedingt, das heißt durch die Art und "Weise, wie wirtschaftlich produziert wird. Die moderne Erscheinungsform des historischen Kampfes zwischen den Klassen, der seit der Auflösung des urzeitlichen Gemeineigentums alle bisherigen Gesellschaften charakterisiert, ist der Gegensatz zwischen Bourgeoisie und Proletariat, die beide durch das Sozialund Wirtschaftssystem des Kapitalismus entstanden sind. Mit Hilfe des Mehrwerts, der aus der Einbehaltung eines wechselnd größeren Übertrags vom Erlös der durch die Industriearbeiterschaft hergestellten Produkte entsteht, beutet die im privaten Besitz der Produktionsmittel befindliche Bourgeoisie unter dem Schutz des kapitalistischen Systems die werktätigen Massen zu Unrecht aus und erzielt selber Riesengewinne, ohne sie mit den unentbehrlichen Helfern an der Produktion zu teilen. Und durch Einführung immer neuer Maschinen, die immer mehr Arbeitskräfte überflüssig machen und ins Elend stoßen, schafft sich der Kapitalismus eine dauernde Reserve von mittellosen Proletariern, mit der er die Löhne niedrig und sein Spiel in Gang halten kann. Doch diese Lohnsklaverei wird nicht ewig bestehen. Denn der Kapitalismus ist für den Absatz seiner Produkte auf größere und weitere Märkte angewiesen, weil er mehr produziert, als er im eignen Macht- und Einflußbereich abzusetzen vermag. D a er die Tendenz zu fortwährender Gewinnerhöhung hat und sein wirtschaftliches System nur bei stets steigender Produktion funktioniert, ist er von Anfang an auf Konzentration und Expansion angelegt. Das heißt, er drängt nach seinem inneren Gesetz zu der Form des Monopolkapitalismus und gleichzeitig zum Wirtschaftsimperalismus. Deshalb wird die unaufhaltsame Entwicklung des Kapitalismus schon sehr bald damit enden, daß sich einerseits alles Kapital in den Händen einer kleinen Schicht von Kapitalmagnaten sammelt, und daß andererseits keine nichtkapitalistischen Räume mehr als lohnender Markt zur Verfügung stehen. Diesem notwendig so und nidit anders stattfindenden Geschehen, das von immer schärferen Krisen begleitet sein wird, entspricht dann zwangsläufig eine zunehmende Verelendung der handarbeitenden Massen sowie eine zunehmende Ausmerzung der großen Schicht des Mittelstandes, die gleichsam niederkonkurriert wird. Durch beide Vorgänge entsteht aber in der ausgebeuteten und unterdrückten Mehrheit der Gesellschaft ein revolutionäres Bewußtsein, das zum Hebel für ihre künftige Form wird. Während nämlich der Kapitalismus sein

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inneres Gesetz bis zum Ende vollzieht, wächst in seinem Schoß die ihn ablösende Gesellschafts- und Wirtschaftsform des Sozialismus. Ist der Kapitalismus zu seiner Reife und somit an die ihm durch sein eigenes Wesen vorgeschriebene Grenze der Entwicklung gelangt, so erfolgt daher von Seiten der revolutionären Mehrheit der Menschen ein Umschlag, indem der Sozialismus an seine Stelle tritt. Dies geschieht durch die sozialistische Revolution, die nach einer für die Ubergangszeit geltenden Diktatur des Proletariats, das heißt einer Herrschaft der ausgebeuteten Mehrheit über die ausbeutende Minderheit, alsbald allen Menschen das Tor zur klassenlosen Gesellschaft als dem erstrebenswerten Endzustand des sozialen Lebens öffnet. In der klassenlosen Gesellschaft wird das Privateigentum abgeschafft und werden die Produktionsmittel verstaatlicht sein. Infolgedessen gibt es in ihr also weder Bourgeoisie noch Proletariat, weder Privilegien noch Unterdrückung, weder Ausbeutung noch Verelendung. Dann bestimmt das Volk selbst in seiner Gesamtheit das gemeinsame Schicksal, womit auch der Staat überflüssig wird, da niemand mehr unterdrückt zu werden braucht. Und damit ist dann der Zustand der Gleichheit erreicht, der die unerläßliche Bedingung dafür darstellt, daß überhaupt Freiheit und Gerechtigkeit, Glück und Frieden herrschen können. Dieser auf der materialistischen Geschichtsauffassung und der Mehrwertlehre errichtete Gedankenbau macht rein als Theorie den Eindruck einer folgerichtigen Geschlossenheit. Aber die später einsetzende Kritik hat an Hand der Erfahrung seine wesentlichen Inhalte als schief oder irrig erkannt — und zwar wurde diese Kritik keineswegs bloß von nichtsozialistischer Seite, sondern gerade und hauptsächlich auch von sozialistischer Seite selber vollzogen. Der sogenannte Reformismus der Epoche nach Marx behielt denn auch nur einige Teile der Lehre in gemäßigter Form bei — vor allem die materialistische Geschichtsauffassung, den Klassenkampfgedanken oder die Verelendungstheorie. Andere Teile dagegen, wie die Revolutionslehre oder die Zusammenbruchstheorie, wurden unter dem Einfluß der sorgsam begründeten und belegten Einwendungen aus dem eigenen Lager aufgegeben. Und schließlich wurde der Marxismus innerhalb des freiheitlichen Sozialismus bloß noch als eine aufschlußreiche Betrachtungsmethode gesellschaftlichwirtschaftlicher Zustände bezeichnet, die keinen offiziellen Charakter mehr beanspruchen kann. Mit der hier nur knapp skizzierten Theorie, deren Stärke in der Kritik am Bestehenden und deren Schwäche in der Zeitgebundenheit ihrer Zu-

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kunftserwartungen liegt, tritt uns ein ganz anderes Bild entgegen wie etwa beim Liberalismus. Es ist nicht ein unbestimmter Wunschtraum aus dem Reich der Ideen mehr, nicht das Ergebnis einer Harmonie der Kräfte, die aus dem Zusammenspiel sich selbst in voller Freiheit verwirklichender Individuen folgt, sondern ein von kämpferischer Auseinandersetzung bestimmtes Ideal, auf dessen baldige Erfüllung in der Zukunft jeder Schritt in der Gegenwart hinführt. Auch hier erscheint zwar das Ziel erst in der Ferne der Zeit, aber nicht mehr so weit und ungewiß hinausgeschoben und obendrein viel entschiedener gefaßt und bezeichnet. Das abstrakte und abstrakt beschriebene Ziel des Liberalismus, das auch noch den idealistischen Sozialismus beeinflußte, wird durch ein zwar ebenfalls künstliches, aber doch sehr viel genauer beschriebenes Ziel ersetzt, unter dem sich jeder etwas vorstellen kann. Und den Weg zu diesem Ziel weist nicht einfach mehr eine abstrakte Ethik, sondern eine am Gegenstand der gesellschaftlichen Entwicklung selbst orientierte Erkenntnis des sichbaren ökonomisch-sozialen Prozesses, die zu unmittelbarem Handeln auffordert und verpflichtet. Damit vollzieht die zweite Fassung des Sozialismus dieselbe "Wendung wie die zweite Fassung des Liberalismus: das ökonomische Moment rückt in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Die kapitalistische Ideologie r u f t auf der gleichen Wirklichkeitsebene eine antikapitalistische Ideologie hervor. Auch der Marxismus macht also das ökonomische zum letzten und höchsten Prinzip des Weltverständnisses, aber gleichsam nicht von oben, sondern von unten gesehen. Die von der unteren sozialen Schidit als grundlegend erlebten und erkannten ökonomischen Bedingungen des menschlichen Daseins erlangen dadurch, daß sie mit dem dort vorhandenen Ideal der Freiheit durch Gleichheit verbunden werden, außerdem auch vom ethischen Standpunkt aus den Rang absoluter Geltung. Deshalb darf der ökonomische Prozeß, das heißt die theoretische Erfassung und praktische Unterstützung derjenigen Faktoren, die seinen vorgezeichneten Ablauf bewirken, auch die volle Hingabe des Menschen verlangen. Damit jedoch gerät das Menschliche ähnlich wie beim Kapitalismus in Gefahr, vor dem Sachlichen allmählich zu verschwinden. Die eigentümlich nüchterne, kalte, den beseelten Menschen gewissermaßen auslöschende Stimmung, die den Marxismus noch mehr als seinen kapitalistischen Gegner kennzeichnet, ist die Folge solcher Uberlagerung des Menschlichen durch das Sadiliche: der Entmenschlichung der Geschichte entspricht die Entseelung der Kultur. Diese audi sonst für das technische Zeitalter so typisch werdende

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Verschiebung des Akzents vom Menschen auf die Sache wird hier noch dadurch vertieft, daß der Marxismus mit seiner Ideologie das individuelle Geschick hinter dem kollektiven Schicksal zurücktreten läßt und in Anbetracht seines Anliegens auch zurücktreten lassen muß. Denn nicht mehr der Einzelmensch steht hier wie beim Liberalismus im Vordergrund, sondern die soziale Schicht, die Klasse, das Kollektiv. Es geht bei der marxistischen Idee mit anderen Worten nicht nur mehr um die Sache als um den Menschen, sondern auch mehr um die Gruppe als um den Einzelnen, der damit in doppelter Weise ein Stück an lebendig beseelter Persönlichkeit verliert. Und infolgedessen wird die Atmosphäre, die solcherart auf ideologischem Wege entsteht, gewissermaßen noch kühler als bisher. Das Zukunfts- und Fortschrittsdenken des Marxismus unterscheidet sich indes nicht bloß darin vom Liberalismus, daß es konkreter ist und das Ziel wie den Weg dorthin genauer beschreibt, sondern auch darin, daß der Weg zum Ziel nicht mehr in formaler Gradlinigkeit verläuft, sondern in lebendigen Sprüngen, in spannungsreichen Gegensätzen. Es ist das dialektisdje Umschlagen einer Situation in die andere, entgegengesetzte, in ihr Gegenteil, das die natürliche Bewegung des Fortschritts bildet und schließlich als sein größtes und folgenreichstes Ergebnis notwendig die Synthese des ideologischen Endziels ergeben muß: aus dem Zusammenbruch der kapitalistischen Klassengesellschaft und der Errichtung der proletarischen Diktatur folgt zwangsläufig der Sozialismus als totales System, die klassenlose Gesellschaft, die keine Gliederung von oben und unten mehr kennt. Diese Dialektik des Geschehens — dank der man auch das bisher dem rationalen Verständnis noch unzugängliche, weil nicht gradlinig verlaufende Geschehen rationalisieren und in den durch Vernunft erkennbaren Gesamtentwurf des geschichtlichen Fortschritts einordnen kann — gilt es mit höchster Bewußtheit zu erfassen, um der Zukunft und dem Fortschritt sinngemäß zu dienen und das herbeizuführen, was Zukunftsoptimismus und Fortschrittsglauben erst rechtfertigt. Hierzu ist ein nüchterner Realismus ebenso nötig wie eine beständige Bezugnahme auf das ferne, aber sich auch schon im nächsten Geschehen mit Ansätzen ankündigende und schrittweis verwirklichende Ziel. Alles, was jetzt und hier nicht den grundlegenden ökonomisch-sozialen Prozeß betrifft, wird deshalb zweitrangig, ist nachgeordnet oder gar nebensächlich, ja es lenkt eigentlich nur von der konsequenten Verfolgung des Zieles ab. Denn es verwirrt das klare, unerbittliche Urteil des Verstandes, der bei allen Augenblicksentscheidungen immer wieder 6

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den Punkt oder die Stufe prüft, wo sich die jeweilige Situation innerhalb der dialektischen Bewegung des Fortschritts auf das künftige Ziel hin befindet. Und umgekehrt empfängt jede Idee erst Rang und Bedeutung durch ihre Funktion in der Realität der wirtschaftlich-gesellschaftlichen Entwicklung. Es bedarf nicht der weiteren Darstellung des gesamten, höchst umfangreichen Mauerwerks von Theorien und Thesen, mit denen das gedankliche Gerüst der neuen Lehre durch ihren Schöpfer und seine Jünger umkleidet worden ist, um zu zeigen, daß es sich beim Marxismus um das Ergebnis eines äußersten Willens zur Rationalität handelt — die kurze Andeutung der Grundlinien beweist das bereits zur Genüge. Und es bedarf gleichfalls keiner näheren Ausführungen über die enge Bindung dieses ideologischen Systems an die Vorstellung d,es Fortschritts — sie ist in vollendeter Verabsolutierung unzweifelhaft einer seiner prinzipiellen Bestandteile, ohne den die ganze Konzeption unmöglich wäre. Darum ist es auch nicht erforderlich, hier im einzelnen auf die Fehler und Lücken, die Schwächen und Verzeichnungen einzugehen, die seit langem von der einschlägigen Kritik aufgewiesen worden sind — etwa die durch die Tatsachen selbst widerlegten Thesen von der industriellen Reservearmee, vom Verschwinden der Mittelschichten, von der absoluten Verelendung der Unterschichten, oder die Einseitigkeit der materialistischen Geschichtsauffassung und der Mehrwerttheorie, die insbesondere durch die Entwicklungstendenz in der Landwirtschaft widerlegte Konzentrations- und Akkumulationstheorie, die unzulässige Vereinfachung der vielerlei Gesellschaftsschichten in der Klassenkampftheorie oder die Fragwürdigkeit der Zusammenbruchstheorie. Diese Thesen sind im Rahmen des Systems zwar äußerst wichtige Einzelheiten, denen immer wieder höchste Aufmerksamkeit von der Kritik aller politischen Lager einschließlich des eigenen gewidmet worden ist. Aber ihre Einzelheiten vermögen den Gesamteindruck einer durch und durch rationalen Konstruktion des Geschichts- und Gesellschaftsbildes, den das Ganze bereits im Grundriß macht, kaum noch zu verstärken. Hier ist in extrem rationaler "Weise die Fülle einer geschichtlich-gesellschaftlichen Lage auf die viel zu enge Formel des ökonomischen Interess.es, des menschlichen Eigennutzes, der nackten Selbstsucht gebracht. Hier ist Kultur, Wertweit und seelisches Leben im vielfältig zeugenden Reichtum und in der Maß setzenden Ordnung ihrer Gehalte zu einem Annex des letztlich allein bestimmenden materiellen lSeins herabgedrückt. Hier ist Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in eine starre Begrifflichkeit gepreßt,

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die der Wirklichkeit wie ein Netz übergeworfen wird, unter dem ihre Selbständigkeit und Farbigkeit, ihre Kraft und Fülle, doch auch und gerade ihr Sinn und ihre Wahrheit verloren gehen. Alles Handeln wird, ob klein oder groß, von der Dialektik dieses Systems rational eingefangen und der abstrakten Doktrin Untertan gemacht. Deshalb bekommt in der Konsequenz dieses ideologischen Weltverständnisses das soziale und damit auch das persönliche Leben den Charakter einer höchst bewußten strategischen Planung. Denn es ist schon durch die rationale Festlegung der Zukunft vorbestimmt — jeder Schritt und jede Tat haben gleichsam ihren kausalen Platz im Fortgang der dialektischen Entwicklung, die in der Abschaffung des Privateigentums, der Ausbeutung, der Unterdrükkung, der Bevorrechtung und damit im Verschwinden menschlicher Selbstsucht enden muß, weil dann weder Anlaß noch Handhabe mehr vorhanden sind, um überhaupt Selbstsucht zu entwickeln. So waltet denn nach dieser Auffassung auch hinter allem Geschehen einzig und allein die Vernunft, die unabhängig vom Menschen mit seiner Verstrickung in das situationsgebundene Sdiicksal auf das vernünftige Ziel hinstrebt, das die Theorie beschreibt und ein für allemal festgelegt hat. Ihm ist alles menschliche Dasein in der modernen Zivilisation unterworfen, ob es will oder nicht. Was dem Menschen dabei zu tun übrig bleibt, ist nur die Anerkennung dieser festliegenden Kausalität und der Dienst an ihrem Vollzug, der den Fortschritt garantiert. Im Einklang mit der ideologischen Uberzeugung von der unbegrenzten Herrschaft der Vernunft, der rationalen Kausalität, der auf das materielle Sein begründeten Durchschaubarkeit der Welt und des Lebens steht die Einstellung des Marxismus zur Wissenschaft, vor allem zu den Naturwissenschaften. Die Wissenschaft im Sinne einer unbedingten Geltung der Rationalität, der Berechenbarkeit, des durch Zahl und Maß dekretierenden Experiments ist hier die ideologisch sanktionierte Waffe des Fortschritts, deren Recht ebenso undiskutierbar ist wie ihr Sieg. Vor dieser Wissenschaft, vor der kühlen und nüchternen Klarheit ihrer Beweise durch reine Tatsachen treten alle anderen Instanzen und Werte zurück, verblassen zu Irrtümern und Täuschungen, werden ohnmächtig oder gar lächerlich. Das materielle Sein, das diese Wissenschaft erkennt und erforscht, degradiert als tragender und deshalb zentral wichtiger Unterbau des geistigen und seelischen Seins den von ihm abhängigen Uberbau der Religion und der Moral, der Kunst und des Rechts, des Staates und der Sozialordnung mit ihren zahllosen For6»

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men und Erscheinungen bis zur Irrealität bloßer Masken der menschlichen Geschichte, die Wirtschaft und Klassenkampf ist. Rein ökonomische Bedingtheit der geschichtlichen Entwicklung, materielles Sein als letzte Ursache, alles bestimmender Unterbau — derartige Begriffe sind nur Ausdruck dafür, daß der Marxismus mit dem rationalen Denken radikal Ernst gemacht hat. Wenn alles nur von und nadi dem Verstand betrachtet wird, muß die seelisch-geistige Welt der Gefühle und Werte samt der Fülle ihrer Verkörperungen in der Kultur gleichsam abdanken und allein materielles Sein als letzte Wirklichkeit übrigbleiben — sei es als materiell greifbare Sache oder als elementare menschliche Äußerung der Leidenschaften, der Triebwelt. Die nüchterne Reduktion der Ratio sieht und anerkennt nur das, was sich handgreiflich zeigt und nicht als Schein erweist. Alles andere löst sich vor ihrem unerbittlichen Scharfblick als unwirklich oder sekundär auf. Hierher rührt denn auch die trotz allen Scharfsinns bei Aufbau und Ausbau, Vortrag und Verwendung der Theorie immer wieder erstaunliche Naivität des Marxismus, der vor breiten Teilen der Wirklichkeit gewissermaßen die Augen schließt und den Menschen wesentlich nur als wirtschaftliches Individuum, die menschliche Gesellschaft nur als Wirtschaftsvereinigung und sein Ziel der klassenlosen Gesellschaft nur als ökonomisch bestimmtes Ideal ansieht. Hierher aber stammt auch seine bedeutende Durchschlagskraft in der politischen Diskussion mit allen Gegnern: der Wille, alles aus den ökonomischen Bedingungen zu erklären und überall Selbstsucht als letzten Beweggrund anzunehmen, stößt bei jedem Versuch des Weltverständnisses mit Sicherheit auf Spuren und Zeichen dessen, was er beweisen will. Und die diesen Beweisen dienende Terminologie des extrem rationalen Denkens kann um so einfacher und daher schlagender sein, je mehr sie von der seelischen Welt der Gefühle und Werte abstrahiert, die mit solcher Denkform gar nicht zu erfassen ist. Hierher kommt schließlich auch, soziologisch gesehen, die Wirkungsrichtung dieser Theorie: ihre Anhänger sind auf der einen Seite die der Technik als Milieu am schutzlosesten ausgelieferten Massen, die aus ihrer äußeren Situation wie aus ihrer inneren Verfassung heraus am ehesten einer elementaren Betrachtung der Dinge zuneigen, auf der anderen Seite aber diejenigen glaubenslos gewordenen Intellektuellen, die gerade von der radikalen Rationalität des Systems besonders angezogen werden. Letztere stellen daher in der Regel auch das Reservoir für die Theoretiker der Ideologie dar, deren Gesamtheit besonders in den Feinheiten der

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Dialektik von der breiten Masse ihrer Anhänger weder gewürdigt noch besessen werden kann. Zweifellos verdankt nun die materialistische Fassung des Sozialismus sowohl ihre eigenartige Form als auch ihren außerordentlichen Einfluß auf weite Schichten der Bevölkerung in den Industriestaaten dem ebenfalls f ü r den Liberalismus so folgenreichen Vorgang im Inneren des Menschen, den die technische Zivilisation mit sich bringt — jener Korrespondenz von Ratio und, Trieb, die auch die eigentümliche Atmosphäre dieser Ideologie bestimmt. Das marxistische System besitzt als der große Entdecker und Entlarver des Kapitalismus nämlich psychologisch im Grunde eine ganz ähnliche Struktur wie sein Gegner. Es ist sozusagen ein umgestülpter Kapitalismus. Denn der liberale und der marxistische Ökonomismus gehen auf denselben seelischgeistigen Vorgang im modernen Menschen zurück: der Ideologie des Besitzens steht bloß die Ideologie des Nichtbesitzens gegenüber. Eigentums. Alles Denken kreist hier um den Gedanken des materiellen Beiden Ideologien liegt die Besitzvorstellung zugrunde, beide beherrscht bis in ihr Geschichtsbild hinein das Denken in der Kategorie des ökonomischen Eigentums, beiden ist die Wirtschaft das Zentrum der menschlichen Existenz. Und auch im Marxismus vereinigen und mischen sich wie beim Kapitalismus einseitig betonte Rationalität — in Gestalt etwa des materialistischen Geschichsbildes und der alles ergreifenden Dialektik, die eine höhere Art des rationalen Denkens darstellt — mit einseitig betonter Triebhaftigkeit — in Gestalt etwa des Klassenkampfgedankens und der Revolutionsidee, die beide den triebhaften Regungen des Hasses und der Gewalt offen oder heimlich zum Leben verhelfen. Der Entbindung dieser Triebregungen fällt im Zusammenhang der Bewegungsglieder des Fortschritts hier sogar eine hervorragende Rolle zu: der Klassenkampf bereitet, ehe er seinen Sinn verliert, den Weg zum sozialistischen Staat vor, und die Revolution setzt, ehe sie ihre Bedeutung einbüßt, das rationale Ideal dieses Staates durch. Aber auch außerhalb dieser beiden Elemente kommt die Triebhaftigkeit dank des Charakters der ganzen Ideologie zu vielfältigem Ausdruck, beispielsweise in der doktrinären Unduldsamkeit und dogmatischen Herrschsucht der Funktionäre und Theoretiker, die als leitende Schicht die Masse der Anhänger führen. Solche Unduldsamkeit und Herrschsucht erklärt sich über ihre allgemeine psychologische Begründung hinaus insbesondere durch die Eigenschaft der Ideologie, moderne weltliche Heilslehre zu sein. Wer an dem ideologisch feststehenden Heil zweifelt, wer Teile oder gar den

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Kern der Lehre angreift, begeht ein Sakrileg. Deshalb muß über der Reinheit der Heilslehre gewacht, deshalb darf keine Ketzerei geduldet, deshalb muß auch hier, w o das letzte Ziel die Gleichheit aller ist, geherrscht und gehorcht werden. Man hat diese bis dahin unbekannte ideologische Formung der Triebregungen des Hasses und der Gewalt, die durch die Einverleibung von Klassenkampf und Revolution in das rationale System der Geschichte und der Gesellschaft erfolgen, gern als Ausfluß der persönlichen Psychologie des Schöpfers der marxistischen Lehre verstanden. Mögen Gründe dafür oder dawider sprechen, viel ausschlaggebender bei dieser höchst folgenreichen Einverleibung ist fraglos die Situation derjenigen sozialen Schicht gewesen, deren Ideologie der Marxismus wurde — und zwar in einer doppelten Weise. Einmal setzte das technische Zeitalter mit seiner überhandnehmenden Rationalität ganz allgemein die Triebwelt fast aller Bevölkerungssdhichten in stärkerem oder schwächerem Maße frei — in Sonderheit natürlich der Menschen, die vorwiegend in und mit der Technik leben. Und zum anderen mußte die reale Lage der Industriearbeiterschaft mit der tatsächlichen Entrechtung und Ausnützung durch den liberalen Kapitalismus solche Regungen hervorrufen: sie weckte ob der Ungerechtigkeit den H a ß und drängte, weil anders keine Änderung zu erhoffen war, zu dem Mittel der Gewalt. Als diejenige Bevölkerungsschicht, die am meisten und unmittelbarsten im rationalen Gefüge der Technik zu existieren gezwungen ist, mußte die Arbeiterschaft in der Industrie also auch die Korrespondenz zwischen Ratio und Trieb am nachhaltigsten in sich erleben. Und deswegen entsprach ihrer geistig-seelischen Verfassung, die durch die immer vollständigere Herauslösung aus der Gefühlswelt von Sitte und Brauch, von Religion und Wertordnung bestimmt wurde, die Eigenart des Marxismus als Ideologie am besten. Was dort geboten und verlangt wurde, verstand gerade diese Schicht als Anruf an Ratio und Trieb auch dann, wenn sie nicht den gesamten Komplex der Theorie überblickte und vor allem deren Materialismus gewissermaßen zu kurz sah. Durch den Kapitalismus war ihr Schicksal schließlich wirklich die Wirtschaft geworden, und so bestand keine Schwierigkeit, das bewegende Prinzip des Weltgeschehens im ökonomischen zu sehen. Der mit vollendeter rationaler Organisation wie mit bedenkenloser Triebvehemenz vorgehende Kapitalismus hatte sie wirklich vielfach bloß zum Besitzer von Arbeitskraft gemacht. Und so bestand gleichfalls keine Schwierigkeit, die Geschichte als eine Abfolge von Klassenkämpfen zwischen Ausbeutern

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und Ausgebeuteten zu sehen. V o n hier aus wird es unsdiwer verständlich, wenn die Verwirklichung des Ziels der Freiheit durch Gleichheit nur im Aufbau einer sozialistischen Wirtschaftsordnung gesehen werden konnte, wenn aus der rationalen Systematisierung dieser Uberzeugung sehr bald die Idee der zentralistischen Planwirtschaft folgte und, unter dem Einfluß der marxistischen Heilslehre immer strenger ausgeführt, schließlich als das große Heilmittel der Zukunft erschien. Schon St. Simon hatte diese Idee seinem System zugrundegelegt, aber erst der Marxismus mit seiner gedanklichen Straffheit und politischen Zielstrebigkeit schuf die Voraussetzungen zu ihrer Anwendung — nicht zuletzt mit der Bildung einer breiten Masse von bedingungslosen Anhängern. W o jedoch in dieser oder jener Form eine praktische Durchführung der sozialistischen Wirtschaftsordnung partiell oder total stattgefunden hat, dort ist alsbald das klar geworden, was sich aus jeder Verwandlung des menschlichen Daseins in eine strategische Planung trotz aller guten Absichten immer wieder ergeben muß. Gleich dem Resultat der liberalen Verherrlichung der Freiheit erscheint nämlich am Ende des materialistischen Sozialismus und seiner Verherrlichung der Gleichheit das Resultat des Zwanges — bloß anders gelagert und frühzeitiger als dort. Im sozialistischen Staat der Planwirtschaft übt den Zwang aber nicht mehr indirekt das Monopolkapital aus, sondern direkt die planwirtschaftliche Bürokratie der Funktionäre, die das neue Herrschaftssystem mit Hilfe einer noch viel größeren Polizei als bei ihrem Vorgänger in Gang hält und wiederum eine führende Schicht mit ganz ähnlichen Tendenzen zu Macht Steigerung und Machtmißbrauch wie ihr Vorgänger bildet. Der Sprung der Menschheit aus dem Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit, für den Friedrich Engels den Sozialismus hielt, ist aus psychologischen Gründen unter allen Umständen ein Sprung ins Wasser. Daher rückt dieses sozialistische System in menschlicher Hinsicht, und das heißt bezüglich seiner tatsächlichen Auswirkung für den einzelnen Durchschnittsmenschen, auf eine gemeinsame Ebene mit dem kapitalistischen System. Der Sozialismus wird in der Praxis immer Staatskapitalismus — aber mit eben dem Unterschied zum liberalen Kapitalismus, daß sich hier der Zwang, weil ideologisch viel unmittelbarer als dort fundiert, noch erheblich verbreitert und verstärkt, auch wenn er die Larve der sozialen Gerechtigkeit durch Gleichheit vorbindet. Denn hier, im Zwang des Systems der sozialistischen Planung durch immer mehr Funktionäre und Kontrollen, ist allem Anschein nach der Ort, wo sich die freigesetzte Trieb-

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haftigkeit in der klassenlosen Gesellschaft hauptsächlich auswirkt und tatsächlich auch bleiben muß, falls sie nicht gleichsam ganz von innen heraus als Neid und Mißgunst die soziale Beziehung zwischen ihren einzelnen M i t gliedern selber vergiftet. Faßt man die ideologische Konstellation von Kapitalismus und Marxismus, die psychologisch nach ihrer Grundstruktur zusammengehören, derart ins Auge, so ergibt sich für ihre Lage bis zur Gegenwart mithin folgendes: Der rationale Fortschritt der modernen Zivilisation brachte im kapitalistischen Liberalimus und im marxistischen Sozialismus zwei einander feindliche ideologische Systeme und politische Bewegungen hervor, die bei ihrer V e r w i r k lichung weder Freiheit noch Gleichheit zeitigen können, da beide Postulate in ihrer Unbedingtheit aus der Korrespondenz v o n Ratio und Trieb stammen und sich im L a u f e aller Versuche zur Durchführung deshalb notwendig selbst widerlegen und in ihr Gegenteil verkehren. Unter der Decke der rationalen Ideologien und im Gegensatz zu den von ihnen entwickelten abstrakten Menschen- und Weltbildern wachsen nämlich die antiliberalen und antisozialen Regungen des Menschen in der technischen Zivilisation zu immer bedrohlicherer Stärke, ohne daß ein Ende dieses grundlegenden innermenschlichen Entwicklungvorganges abzusehen ist. Je reiner sich die Ideologien verwirklichen, desto mehr erzeugen sie infolgedessen Druck und Zwang, Unfreiheit und Ungleichheit, Not und Elend. D e n n das Denken, dem sie huldigen, bewirkt, indem es alte Bindungen und Fesseln zerstört, eine Entbindung und Entfesselung der Triebwelt, die ihrerseits die rationale Forderung nach Freiheit auch zu einer triebhaften Forderung, zum unwiderstehlichen und unersättlichen Freiheitsdrang werden läßt. U n d dieser Freiheitsdrang bedient sich seinerseits wieder des rationalen Denkens zu seiner Durchsetzung und droht damit entweder alle Ordnung überhaupt aufzulösen oder führt zu neuem, verschärftem Z w a n g . Dasselbe "Wechselspiel ist bei der Forderung nach Gleichheit der Fall, die ebenso aus dem rationalen Denken erwächst: die Ratio macht auch hier den Trieb, indem sie ihn von seinen Fesseln befreit, unersättlich, und der unersättlich gewordene Trieb bedient sich dann der Ratio, deren W i r k e n dadurch immer illusorischer gemacht wird. D a s Ergebnis der einen w i e der anderen Ideologie ist am Schluß ihrer Wirksamkeit also noch schlimmer, als es die Zustände am A n f a n g waren, die sie beseitigen und durch bessere ersetzen wollten. Beide enden mit tragischer Paradoxie in Druck und Zwang, Unfreiheit und Ausbeutung, die zu

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vermeiden sie aufgebrochen sind. Statt der noch relativen Geborgenheit in den Bindungen von einst haben sie für alle Menschen daher nur eine totale Ungeborgenheit ohne Bindungen geschaffen. Ja, die alte Unfreiheit und Ungleichheit war, weil ihnen ein gut Teil von Schutz und Sicherung entsprach, in vielem Betracht noch milder und erträglicher als die neue. Doch noch über solch scheinbar unwiederbringlichen Verlust hinaus scheint das größte Verhängnis, in dem diese modernen Heilslehren den Menschen der Gegenwart hilflos sich selbst überlassen, das zu sein: sie sind allem Anschein nach Irrwege, die das Ziel, das sie fast jedermann aufgezwungen haben, endgültig zu verstellen drohen. Das heißt, jene Korrespondenz von Ratio und Trieb, die sie selber in unentwirrbarer Verflechtung mit dem technischen Fortschritt heraufführten, hat Denken und Wollen der Menschen auf einen Weg gezwungen, wo das Thema der Freiheit und Gleichheit in wechselnder Phrasierung immer wieder ertönen muß. Der moderne Mensch kann in seiner überwiegenden Zahl gar nicht mehr anders, als in Freiheit und Gleichheit sein rationales und triebhaftes Ziel zu sehen, obwohl er weiß oder erfährt, daß sein ausschließliches Streben nach diesen Prinzipien im Vordergrund oder Hintergrund seines Lebens ständig mehr Unfreiheit und Ungleichheit hervorbringt — sei es direkt und sichtbar durch Menschen praktiziert, sei es indirekt und ungreifbar durch Technik und Industrie, Wirtschaft und Organisation seiner Welt dargestellt. Die dauernd fortschreitende rationale Ausgestaltung der Freiheit und der Gleichheit hat mit anderen Worten offenbar ihre dauernd fortschreitende Widerlegung und Aufhebung durch triebhaften Egoismus und Machtdrang unausweichlich zur Folge. Die Problematik, die sich hieraus ergibt, ist denn auch mit höchster Eindringlichkeit das Anliegen der jüngsten Fassung des Sozialismus, die sich frei oder freiheitlich nennt. Aus der gekennzeichneten Lage kann man ihr Aussehen schon rein theoretisch erschließen. Bleibt das ideologische Streben nach Freiheit und Gleichheit nämlich im Rahmen der rationalen Denkform, so steht auch dieser Sozialismus, dessen Thema jene Problematik ist, unvermeidlich vor dem beschriebenen Dilemma der triebhaften ISelbstwiderlegung, Er vermag diesem Dilemma nur unter der Gefahr einer Preisgabe der überlieferten Denkform und ihres Gleichheitsprinzips zu entgehen, womit er aber aufhören würde, Sozialismus zu sein. Und in der T a t bestätigt denn auch jeder Blick auf die neue Form der sozialistischen Ideologie diese ihre innere Lage — nicht allein in Deutschland, sondern auch in anderen Ländern.

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Das Wesen des freiheitlichen Sozialismus besteht in dem Versuch, die beiden Irrwege zu vermeiden, die in der technischen Zivilisation durch eine absolute Geltung des Freiheits- wie des Gleichheitspostulats anscheinend unentrinnbar vorgeschrieben sind, und stattdessen eine mittlere Straße einzuschlagen, die sich zwischen der extremen Freiheit des kapitalistischen Liberalismus und der extremen Gleichheit des materialistischen Sozialismus hält, die beide in neuen und vermehrten Zwang ausmünden. Die außerordentliche Schwierigkeit, angesichts der modernen Entwicklung des Menschen die Richtung dieses Mittelweges genauer festzulegen, erklärt ohne weiteres den Eindruck, den der freie Sozialismus bei objektiver Betrachtung macht. Er kann in Wirklichkeit gar nichts anderes sein als das Produkt eines von geheimer Angst und Ratlosigkeit bestimmten Suchens nach einer neuen Konzeption von Freiheit durch Gleichheit und, in Ermangelung einer solchen, eine mit zahlreichen Widersprüchen und Gegensätzen ringende Vereinigung von Ideen und Elementen des Marxismus, des idealistischen Sozialismus, des Liberalismus und des — Konservatismus. Denn auch diese jüngste Form des modernen Sozialismus sieht sich wie die jüngste Form des Liberalismus unter der Wucht der Erfahrungen gezwungen, die feste Grenze ihrer ursprünglichen Denkform zu überschreiten, weil sich innerhalb ihres eigenen Bereichs keine befriedigende Aussicht auf eine Lösung der vorliegenden Zeitproblematik einstellt. Und hinter diesem Suchen nach einer zeitgemäßen Konzeption des sozialistischen Ideals steht als treibende K r a f t nicht mehr wie früher nur der Abscheu vor dem Kapitalismus und seiner liberalen Ideologie, sondern auch die Furcht vor dem Bolschewismus und seiner kommunistischen Ideologie. Einerseits will man daher den Marxismus aus naheliegenden Gründen nicht aufgeben, andererseits muß man sich aber von ihm distanzieren, da er in der Weiterbildung vor allem durch den Leninismus zur vorbildlichen Ideologie der totalitären Systeme geworden ist. Außerdem ist die Lage des europäischen Sozialismus praktisch dadurch bestimmt, daß er sich nur mit Hilfe des verabscheuten Kapitalismus vor dem Bolschewismus zu bewahren vermag. Die Alternative zwischen Freiheit und Gleichheit ist mit all ihren Folgen ja keine bloß ideologische und soziologische mehr, sondern mittlerweile auch eine höchst reale weltpolitische und welthistorische, die die außerordentlichen Schwierigkeiten der schon psychologisch festgefahrenen Situation des modernen Sozialismus noch unlösbarer macht. So nimmt es nicht wunder, wenn in seiner jüngsten Fassung ein Gebilde von ausgesprochenem Kompro-

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mißcharakter zutagetritt, das keine eindeutigen Linien zeigt und in einer seltsamen Mischung von esdiatologischem Sendungsbewußtsein und existentieller Unsicherheit schillert. Der freie Sozialismus kann in Anbetracht dieser Umstände teils psychologisch-soziologischer, teils politisch-historischer Art denn auch keinen einzigen wirklich neuen Gedanken entwickeln, sondern muß sich damit begnügen, bereits vorhandene Gedanken bei seinen ideologischen Vor- und Mitläufern auszuwählen und zu einer lediglich in der Komplexion neuartigen Ideologie sozialistischer Prägung zusammenzusetzen. Sie ruft bei ihren Anhängern manche Zweifel bezüglich ihrer Anwendbarkeit und bei ihren Gegnern den Verdacht hervor, daß hier der Wirklichkeit eine reine Notkonstruktion übergestülpt werden soll, die in der Praxis doch wieder in einer vollständig rationalen Organisation des Lebens und das heißt letzten Endes in einem ideologisch verbrämten kollektivistischen Zwangssystem mit totaler Bürokratisierung von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft münden wird. Denn alle Sicherungen, die der freie Sozialismus als seinen neuen Beitrag zur Gestaltung der sozialistischen Zukunftsordnung gegen Zwang und "Willkür entwirft und vorschlägt, stoßen ja bei ihrer Umsetzung in die Tat auf dasselbe Dilemma der zivilisationsbedingten Korrespondenz von Ratio und Trieb wie Kapitalismus und Marxismus. Dieselben unheimlich freigewordenen Kräfte des Individual- und Kollektivegoismus sowie des individuellen und kollektiven Machttriebes, die die theoretisch so idealen Konzeptionen des Liberalismus und des materialistischen Sozialismus zum Scheitern in der Praxis verurteilt haben, drohen ebenfalls der theoretisch mindestens so idealen Konzeption des freien Sozialismus. Und das offenbar umso mehr, als auch diese jüngste Fassung des Sozialismus trotz der Hereinnahme fremder Elemente in ihre Theorie doch wesentlich auf der Bahn des einseitig rationalen, gefühlsschwächenden und triebentbindenden Denkens bleibt — in erster Linie durch die aus dem Gleichheitsstreben fließende Betonung planwirtschaftlicher Ideen, die beim ursprünglichen Marxismus noch keine so bedeutende Rolle spielten. Mit all diesen auch von den Theoretikern des modernen Sozialismus als äußerst prekär empfundenen Hindernissen und Hemmungen scheint es unmittelbar zusammenzuhängen, daß die neue Fassung bisher noch kein verbindliches Programm von offiziellem Rang erhalten hat. Zwar fand sie schon viele Jahre vor dem zweiten "Weltkrieg ihre Themenstellung und ihren Namen. Aber erst durch die Erlebnisse und Erfahrungen seiner Krise und

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Katastrophe gewinnt sie eine gewisse Form — nicht ohne einen Blick über die Grenzen des Festlandes hinaus auf den reformistischen Fabier-Sozialismus in England, der nach langer theoretischer Anlaufszeit in der Praxis ganz ähnlichen Problemen begegnete, als er zur Herrschaft kam. Es gibt daher lediglich eine kleine Reihe von Entwürfen für ein offizielles Programm, die nach eigenem Bekenntnis jedoch nur Beiträge, Vorschläge und Versuche darstellen, während die eigentliche Gestalt der Ideologie viel eher in einer lebhaften und spannungsreichen, lockeren und offenen Diskussion allgemeiner Art eine festere Form zu erlangen trachtet. Schon hierin dürfte keine Zufälligkeit zu erblicken sein, sondern eine grundsätzlich bedingte Tendenz: trotz aller Neigung zu und Verpflichtung auf Rationalität zwingt die tatsächliche Lage der Ideologie dazu, eine doktrinäre Programmatik und orthodoxe Dogmatik aufzugeben und sich mehr einer anderen Denkform zuzuwenden, deren Eigenart eben um des Vermeidens abstrakter Schemata willen in der Abkehr von ideologischen Programmen und Systemen überhaupt besteht. Ohne Frage ist die hinsichtlich der Gesamtkonzeption der modernen Heilslehren auffallendste Wendung des freien Sozialismus seine Absage an den Fortschrittsglauben, die zuweilen in überraschender Entschiedenheit erfolgt. Wie wir schon feststellten und später noch ausführlich klarlegen werden, wird damit das Ursprungserlebnis und das Grundelement des von allen modernen Ideologien mehr oder minder heftig verurteilten konservativen Denkens aufgegriffen, ohne indessen schon zu entsprechenden Konsequenzen zu führen. Es ist schwer, ja unmöglich zu sagen, wie weit diese in vielen programmatisch wirkenden Bekundungen und Erklärungen des freien Sozialismus auftauchende Absage an den Fortschritt nur eine phraseologische Formel beschwichtigender Natur ist und wie weit sie eine prinzipiell gemeinte Besinnung mit dem Inhalt echter Verpflichtung darstellt. Dennoch kommt ihr, zumal sie gewissermaßen die Präambel der jeweils unternommenen Zeitkritik bildet, eine nicht zu unterschätzende Bedeutung in der ideologischen Entwicklung zu. Sie ist als einleitende Erschütterung eines Grundzuges der rationalen Denkform sicherlich ein gewisses Gegengewicht gegen die auch in dieser Fassung der sozialistischen Idee noch überwiegende rationale Einseitigkeit — ein Gegengewicht, das für die stimmungsmäßige Richtung ihres gedanklichen Weges bezeichnend sein und fruchtbar werden mag. Tatsache bleibt aber jedenfalls: der rationale Fortschritt ist durch Kapita-

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lismus und Bolschewismus, durch den ersten und zweiten Weltkrieg, durch die Millionen von Menschen und Tausende von Städten vernichtende Technik so diskreditiert worden, daß man auch hier, in einer alten ideologischen Bastion des Fortsdirittsdenkens, nicht umhin kann, seine Ü her griffe als solche zu bemerken. Allerdings bleibt es vorläufig bei diesem Ansatz, der zum Sprengmittel für die ganze Ideologie werden muß, wenn er konsequent weiter verfolgt würde — bisweilen sieht es sogar aus, als ob man dies hier und da auch weiß oder doch wenigstens ahnt. Denn man sucht den unleugbaren Übergriffen des rationalen Fortschritts nur im Sinne der alten Postulate von Freiheit und Gleichheit zu entgehen, und das heißt mit demselben Denken, dessen Grundlage.und Ausdruck eben der Fortschritt auch und gerade in seinen Übergriffen auf die außertechnischen Bereiche der menschlichen Welt ist, die einer anderen als der rationalen Gesetzlichkeit unterstehen. Infolgedessen müssen denn auch die aus einer anderen Denkform abgeleiteten Korrekturen jener Ubergriffe, mit denen der freie Sozialismus sein Bild der Zukunftsordnung versieht, gleichsam unecht werden. Denn sie bleiben, ganz ähnlich wie beim Neoliberalismus, mit ihrer Wendung gegen den Fortschritt größtenteils in der unmittelbaren Erkenntnis des einzelnen Ubergriffs und seiner Ursache als solcher stecken und werden in ihrer heilsamen Funktion alsbald wieder durch Rationalisierung aufgehoben — Weltbild, Menschenbild und Denkform der Aufklärung triumphieren also in ihrer Einseitigkeit trotz aller Folgen, die sie nach sich gezogen haben. Dies läßt sich deutlich beobachten, wenn man die wenigen Programmentwürfe prüft und die Diskussion um den Marxismus überblickt, die den Standpunkt der jüngsten Fassung der sozialistischen Ideologie ausdrücken. An diesen beiden Ausdrudesformen ist ferner am besten der Kompromißcharakter ihres Standpunkts, aber auch die Komplexhaftigkeit ihres Gehaltes und der Eklektizismus ihres Wesens abzulesen. Den wichtigsten Platz in der neuen Programmatik nimmt ein Zukunftsbild der Wirtschaftsordnung ein, und von hier aus dringt ein betont ökonomistischer Zug auch in diese dritte Form des Sozialismus, wodurch die Verwandtschaft mit der marxistischen Theorie unterstrichen wird. Zwischen der zentralistischen Verwaltungswirtschaft, wie sie der späte Marxismus entwickelt, und der von Monopolen gereinigten Marktwirtschaft, wie sie der Neoliberalismus mit seiner Forderung einer vom Staat gesetzlich festgelegten und garantierten Wettbewerbsordnung vertritt, strebt der freie Sozialismus eine aufgelockerte Verwaltungswirtschaft als endgültiges Ziel an. Diese Auf-

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lockerung ist nach einem ähnlichen Prinzip der Dezentralisation gedacht, wie es der Neoliberalismus zur Verhinderung monopolkapitalistischer Neigungen verwenden will. Im einzelnen besteht sie in einer Dezentralisierung der Wirtschaft, die durch indirekte Lenkungsformen vorgenommen werden soll, sowie in der systematischen Schaffung einer Vielzahl von neuen Unternehmungstypen. Dabei sollen diese verschiedenen Kunstformen von Unternehmen als neuartige Gebilde der innerbetrieblichen Machtverteilung weder in staatlicher noch in privater Hand sein, sondern unmittelbar oder mittelbar in der Hand der Gesamtheit. Der grundlegende Programmpunkt des Marxismus, die dem Privateigentum feindliche Vergesellschaftung der Produktionsmittel, ist mithin beibehalten. Aber seine zentralistische Tendenz, die zum Staatskapitalismus und zur Inthronisierung einer offen oder getarnt mit der wirtschaftlichen Verfügungsgewalt ausgestatteten Bürokratie verleitet, wird durch eine dezentralistische Tendenz ersetzt, von der man sich eine Rettung vor den diktatorischen Gefahren der absoluten Verwaltungswirtschaft verspricht. Unstreitig stellt der Gedanke der Dezentralisierung — weil er der inneren Richtung des rationalen Denkens mit seiner immer fortschreitenden Zentralisation und Generalisation entgegengesetzt ist — ein Prinzip des konservativen Denkens dar, das sich als eine eigene und selbständige Denkweise bereits in den Zeiten der Aufklärung gegen das zentralistisch-generalisierende Streben der Bürokratie des Absolutismus herausbildete und gerade in dieser Opposition zu seinem ersten Selbstbewußtsein gelangte. Aber hier, beim freiheitlichen Sozialismus, droht dieses konservative Prinzip in seiner Funktion einer Rettungsmaßnahme gegen die zentralisierende Entwicklung der technischen Zivilisation und ihrer Daseinsordnung alsbald in der praktischen Wirkung wieder aufgehoben oder doch zumindest entscheidend beeinträchtigt zu werden durch die Art, wie es zur Anwendung kommen soll. Die Dezentralisierung der modernen Wirtschaft soll hier nämlich nicht frei sein, sondern im Rahmen der Planwirtschaft stattfinden, an der man strikt festhält, und überdies eine kollektive Form erhalten. Das heißt, die möglichst dezentralisierte Wirtschaft muß doch von einer übergeordneten Spitzenbürokratie insgesamt koordinierend geplant und von abhängigen direktorialen oder gremienmäßigen Instanzen geleitet werden. Und das heißt, sie wird durch die Uberführung gerade ihrer produktionsmäßig bedeutendsten Teile in Gemeineigentum, das letztlich doch dem Staat zufällt, kollektiviert. Sieht man sich die Vorschläge zur Durchführung der aufgelockerten Plan-

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Wirtschaft näher an, so drängt sich bei unbefangener Beurteilung — sofern die Möglichkeit dazu überhaupt zugestanden wird — nach wie vor auch hier der Eindruck eines gewaltigen Rationalisierungsexperiments auf, das zwar ein neues Prinzip verwendet, aber dessen Wirkung durch die Art der Durchführung alsbald wieder aufhebt und dadurch völlig unhistorisch und abstrakt bleibt. Es beruht letzten Endes auf der Annahme, daß der moderne Mensch eben nicht jenes unter einseitiger Hervorkehrung von Ratio und Trieb leidende Wesen ist, als das ihn eine mehr als hundertjährige zivilisatorische Entwicklung geformt und die doppelte Katastrophe der Gegenwart enthüllt hat — auch der Furcht vor einem bürokratischen Wirtschaftssystem mit seinen totalitären Gefahren liegt ja dieser konkrete geschichtliche Mensch zugrunde und nicht etwa ein zeitloses menschliches Wesen. Derartig wirkt sich die aus der ganzen Geschichte der sozialistischen Ideologie stammende Verwechslung des Menschen hier und jetzt mit einem rational gewonnenen, abstrakten Menschenbild jenseits aller Bestimmung durch die Zeit aus: Auch der freiheitliche Sozialismus glaubt, daß der Mensch wegen der unvollkommenen materiellen Situation so ist, wie er sich verhält. Er kann von seiner rationalen Denkform aus nicht begreifen, daß gerade umgekehrt die materielle Situation so unvollkommen ist, weil der Mensch hier und jetzt das Ergebnis einer bestimmten, geschichtlich entstandenen seelisch-geistigen Entwicklung darstellt. Solchem Glauben, den die rationale Denkform unerbittlich vorschreibt, entsprechen denn auch die Plane und Programme dieses Sozialismus, auf ihn geht die Außerkraftsetzung der konservativen Elemente im Gesamtkomplex des freisozialistischen Denkens zurück, an ihm müssen und werden alle Ansätze zu einer wirklichen Neuordnung in der Praxis scheitern. Ohne Zweifel hat die hauptsächlich aus marxistischen und konservativen Elementen bestehende Wirtschaftsverfassung, in deren Entwurf das ganze Sehnen und Hoffen des freien Sozialismus kulminiert, etwas theoretisch Einleuchtendes. Ohne Zweifel kann sie Anspruch auf den Rang eines Dokumentes idealistischer Absichten erheben. Ohne Zweifel ist die in ihr verkörperte intellektuelle Leistung achtunggebietend. Aber trotz solcher Anerkennung zwingt das Bild dieser Wirtschaftsverfassung, wenn man cc in den größeren Rahmen der gesamtmenschlichen Ordnung hineinstellt, zu der Überzeugung, daß hier eine unabsehbar folgenreiche Rechnung ohne den Wirt, nämlich den lebendigen Menschen in seiner geschichtlich-kulturellen Bedrohung durch Ratio und Trieb gemacht wird. In dem Bestreben, einer

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direkten Zwangswirtschaft zu entgehen, wird hier ein System vorgeschlagen, das in nichts anderem als einer indirekten Zwangswirtschaft enden muß. Die von kollektiven Gruppen abhängige Bürokratie der Zwangswirtschaft wird aufgelockert, aber nicht beseitigt. Die Organe des staatlichen und gesellschaftlichen Zwanges werden hinter einer Wand verborgen, wo sie ihr zentralistisches Spiel der Macht — in Form von Ratschlägen und Weisungen einer obersten Planungsbehörde, von Vorgriffen und Einsprüchen durch Koordinierungsgremien, von Forderungen und Meinungen aus Steuerungsbüros ferngelenkter Unternehmungstypen usw. maskiert — weniger sichtbar und greifbar, aber doch durchaus im Sinne einer Zwangswirtschaft fortsetzen oder gar erst regelrecht ausbauen können und, der innermenschlidien Verfassung der Gegenwart zufolge, auch werden. Es erfolgt also lediglich eine Verlagerung des Zwanges, statt ihn selbst unschädlich zu machen, indem man ihm seine Basis entzieht. Und damit sind dann all die Hemmungen und Reibungen, die Entstellungen und Verunstaltungen im Bilde der Zukunft erneut beschworen und ideologisch festgelegt, die das wirtschaftliche Leben sowohl in der Produktion wie in der Konsumtion übermäßig standardisieren, reglementieren und schließlich strangulieren. Damit sind aber ferner auch all die Möglichkeiten einer Machtkonzentraion und Machtexpansion eröffnet und ideologisch sanktioniert, die der freie Sozialismus selber unter Übernahme der marxistischen Kritik am Kapitalismus bemängelt und verabscheut. Nicht nur das wirtschaftliche Leben wird stranguliert, sondern auch das menschliche Leben wird offen oder heimlich, stärker oder schwächer terrorisiert — wobei es dann Aufgabe der ideologischen Propaganda wird, solchen Terror der anonymen Macht einer in die Indirektheit zurückgenommenen Bürokratie durch entsprechende Auslegung seiner Notwendigkeit erträglich zu machen. Mit anderen Worten: Die Auflockerung der Verwaltungswirtschaft muß sich in Anbetracht der doch wieder zentralistisch aufgefangenen Dezentralisation psychologisch und soziologisch, ökonomisch und organisationstechnisch selbst aufheben, weil der Zeitgenosse unserer Gegenwart sich nicht mit dem abstrakten Ideal vom Menschen deckt, das Bedingung und Fundament der freisozialistischen Wirtschaftsverfassung ist. Als solche stellt diese Wirtschafts Verfassung daher ein Ergebnis typisch rationalen Denkens dar, das zwar scharfsinnig die einzelnen Mängel des zu beseitigenden Zustandes erkennt, dann aber diese Mängel auf rein logischer Ebene durch Gegeninstitutionen ausmerzen zu können meint, ohne zu bedenken, ob der in

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diesen Gegeninstitutionen wirkende Mensch nicht derselbe bleibt wie vorher. Im Grunde bricht denn auch hier wieder die marxistische Vorstellung durch, daß der Mensch durch die Abschaffung des Privateigentums gut im Sinne der Aufklärungsphilosophie zu werden vermag, und daß sich infolgedessen durch eine Sozialisierung des Besitzes der wesentliche Teil der menschlichen Problematik in der Zivilisation von selber löst. Im Banne dieser oft mehr unbewußten als bewußt vorhandenen Grundauffassung des Sozialismus kann die Einsicht gar nicht aufkommen, daß die eigentliche Problematik gewissermaßen erst im Rücken dieser vermeintlich grundsätzlich neuen, in "Wahrheit aber aus marxistischen und konservativen Elementen unorganisch zusammengesetzten Form der Planwirtschaft anfängt — nämlich dort, wo alle ökonomischen Lösungsprogramme und fortschrittlichen Zukunftspläne aufhören, Allheilmittel zu sein. Audi im freien Sozialismus gibt es hier und da allerdings eine Ahnung von diesem tieferen Sachverhalt, wie die Erwähnung einer lebendigen Vergemeinschaftung oder einer Verknüpfung von Freiheitsstreben mit seelischer Bindung zeigt, die unter Betonung ihres Gegensatzes zu einer bloß rationalen Vergesellschaftung als Ziel bezeichnet werden. Doch erheben sich diese Ziele, ähnlich wie das Prinzip der Dezentralisation, nicht über den Rang von isolierten Teilergebnissen im Gesamt der Heilslehre, die am künstlichen Zukunftsbild und am Fortschrittsglauben festhält. Trotz aller erlebnisunmittelbaren Absagen an den Fortschritt sind sie in ihrer entwicklungsgeschichtlichen Notwendigkeit auch diesem Sozialismus tatsächlich unerreichbar, weil wesensfremd. Eine andere Version des freisozialistischen Wirtschaftsprogramms, die von dem christlichen Flügel dieser neuesten Form der Ideologie stammt, läßt ähnliche Wesenszüge erkennen. Aber auch dies Beispiel freisozialistischer Programmatik zeigt deutlich, wie hier eine rationale Konstruktion hauptsächlich aus marxistischen und konservativen, doch auch aus liberalen und idealistischen Gedanken errichtet worden ist, die eine Reihe von tief gegensätzlichen Prinzipien in einer theoretischen Synthese zusammenspannt und unter Absehung von ihrer völlig verschiedenartigen Wirkungsrichtung in der Praxis zur Harmonie zu bringen denkt. Solch Bestreben wird noch klarer in einer dritten Version des Freisozialismus, die psychologisch-medizinischer und soziologisch-nationalökonomischer Herkunft ist. Diese Version eines Programmentwurfs von hohem geistigem Niveau stellt die am meisten vom Marxismus abrückende Spielart der frei7

Mühlenfeld, Politik

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sozialistischen Zukunftsvorstellung dar. Aber auch sie bleibt, wie die beiden anderen, letztlich dodi ganz unverkennbar auf der Ebene einer überwiegend rationalen Erfassung und Behandlung der vorliegenden Probleme, wenngleich die Anstrengungen hier am energischsten sind, dem modernen Fortschritt und seinen unheilvollen Konsequenzen, vor allen Dingen dem Zwangsstaat kollektiver Totalität zu entgehen. Dies Programm einer zukünftigen Ordnung beginnt mit einer tiefschürfenden Zeitkritik, aus der dann die Grundsätze des freien Sozialismus entwickelt werden: Die ständige Abnahme der Freiheit und Geborgenheit des modernen Menschen hat zu einem radikalen Mißtrauen gegen Staat, Wirtschaft und Mitmensch überhaupt geführt, das schließlich alles zweifelhaft werden ließ — auch den Sozialismus als Idee. Deshalb ist das Ziel der Ideologie über Marx und Engels hinaus, die trotz aller Zeitbedingtheit wegen ihrer Hellsichtigkeit für die sozialen Fragen des technischen Zeitalters als große Helfer der unterdrückten Menschheit angesehen werden, neu zu formulieren. Denn die Entwicklung der modernen Technik hat nicht nur den Übergang vom Klassenkampf zur Existenzbedrohung aller Menschen gebracht, sondern auch Staat und Gesellschaft überwältigt. Der Materialismus als Weltanschauung versprach eine rationale Ordnung, löste in Wirklichkeit aber bloß die lebendige Ordnung von Jahrhunderten auf — die rationale Ordnung der Zivilisation tötete die natürlichen Zusammenhänge des menschlichen Lebens. Und die Technik mit ihrer inhumanen Rationalität entwächst den Versuchen, sie zu lenken. Daher ist es ein Irrtum der Arbeiterklasse, von einer Gewinnung der Produktionsmittel die Freiheit zu erwarten: die Technik bleibt inhuman. Staats- oder Privatbesitz sind sich, von der tyrannischen Arbeitsform der technischen Produktion aus gesehen, gleich. Deswegen steht fortan nicht mehr die Frage von Arbeitgeber und Arbeitnehmer auf der Tagesordnung, sondern die Frage nach der Freiheit aller und jedes Einzelnen im Staat totalitär-bürokratischer Prägung sowie die Frage einer Bändigung der aggressiven Technik, die den Staat zu solcher Prägung geführt hat. Es geht also nicht mehr um die wirtschaftliche Freiheit des sozial Schwachen, sondern — da Staat und Technik gegenüber alle schwach geworden sind — um die menschliche Freiheit schlechthin. Und darum kann sich ein sozialistisches Programm nicht mehr in einer Regelung der Wirtschaft erschöpfen. Vielmehr muß es eine Neuordnung der sozialen Lebensform überhaupt enthalten, in der. die Menschenrechte garantiert sind. Statt der utopischen „klassenlosen Gesellschaft"

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des Marxismus muß der durch die Technik sozial nivellierte Staat von einer neuen, reichgegliederten Gesellschaftsform erfüllt, muß das demokratische Prinzip einer Regierung mit der Opposition verwirklicht werden. Denn die soziale Grundaufgabe ist die Auflösung der Masse in Politik und Produktion sowie ihre Überführung in neue Sozialformen. Demgemäß läßt sich die menschliche Not der Gegenwart in drei Sachverhalten aufdecken, die es zu bekämpfen gilt: in der Unfreiheit des Massenstaates, den die Technik herbeigeführt hat, im Verlust einer sinnvollen Arbeit, wie er durch die Arbeitsteilung der technischen Produktion bedingt wird, und in der Diktatur der Technik über den Menschen, die einzig und allein die Folge eines kurzsichtigen Materialismus ist. Entsprechend diesen drei Notquellen werden dann drei Gegenmittel vorgeschlagen: Genossenschaflliche Gruppierungen in allen Zweigen der Wirtschaft und besonders in der Industrie. Kombinierte Arbeit in Gestalt abwechselnd industrieller, handwerklicher und landwirtschaftlicher Tätigkeit für ein und denselben Menschen, um die Eintönigkeit der modernen Arbeit mit ihrer inneren Verödung zu vermeiden, und damit in Verbindung eine Qualitätssteigerung der Produkte. Gesunder politischer Provinzialismus in Gestalt einer Intensivierung des lokalen politischen Lebens, um dem Staat den Charakter konkreter Anschaulichkeit zu geben und jeden abstrakten Unitarismus zu nehmen, zusammen mit einer Bevorzugung der Bundesidee in umfangreicheren sozialen und politischen Gebilden, um die Gefahr der totalitären Bürokratie im unentrinnnbar großorganisierten Dasein der Zivilisation zu bannen. Sieht man diese Zeitkritik und die aus ihr hervorgehenden Folgerungen näher an, so tritt mit ihrer Grundeinsicht — Anerkennung des gesunden Wesens der lebendigen Ordnung in der vortechnischen Zeit und Ablehnung des zerstörerischen Wesens der einseitig rationalen Ordnung in der technischen Zeit — sowie mit der Aufstellung von Mitteln zu einer Überwindung der Notquellen, die sich aus dem Wesen der einseitig rationalen Ordnung ergeben, eine entschiedene Abwendung vom rationalen Fortschritt und eine Hinwendung zu Zuständen zutage, wie sie einst bestanden haben. Natürlich kann es sich hierbei lediglich um eine zeitgemäße Tendenz zum einstigen Zustand handeln, die nicht etwa auf eine Beseitigung der technischen Lebensapparatur, sondern auf eine Revision des beliebig veränderlich gedachten, abstrakt gefaßten Menschenbildes hinzielt, das der rationalen Ordnung und ihrem Fortschritt zugrunde liegt. Audi dieses Zukunftsprogramm wird mit anderen Worten schon im gedanklichen Ansatz ohne 7*

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Umschweife in die Situation des konservativen wiesen: Abwehr der Obergriffe des Fortschritts.

Ursprungserlebnissfis yer-

Prüft man alsdann die Hauptforderungen dieses freiheitlichen Sozialismus selbst, so wird mit seinen Gegenvorschlägen die moderne Form der Wirtschaft, die moderne Arbeitsteilung und der moderne Zentralismus von Staat und Politik in Frage gestellt und verworfen, obwohl sie doch sämtlich Ausdrucksformen des gleichen rationalen Denkens sind, dem auch die modernen Ideologien ihr Vorhandensein verdanken. Politischen Provinzialismus im Kleinen und die Bundesidee im Großen zu fordern, bedeutet die wie immer verstandene Bejahung des föderalen Prinzips — Provinzialismus bzw. Föderalismus ist nichts anderes als politische Dezentralisierung unter Anerkennung des übergreifenden Ganzen. Dem Gedanken einer kombinierten Arbeitsgestaltung zwischen industrieller, handwerklicher und landwirtschaftlicher Tätigkeit wohnt, so künstlich er heute auch wirkt, die grundsätzliche Intention gegen den strikt rationalisierten, arbeitsteilig aufgelösten Produktionsmedianismus der modernen Fabrikation inne. Ebenso zeigt der mit der Arbeitskombinierung gekoppelte Gedanke einer Qualitätssteigerung eine ähnliche grundsätzliche Intention gegen die extrem nivellierende, die Freude am Arbeitsergebnis ertötende Produktionstedinik nadi dem rationalen Prinzip der Serie. Und schließlich läßt die Forderung nach genossenschaftlichen Gruppierungen in der Wirtschaft durch ihr Ziel einer Verankerung des schaffenden Menschen im Gesamtkomplex seiner Arbeit erkennen, daß hier dieselbe Wendung gegen die einseitig rationale Entwicklung des Fortschritts im Vordergrund steht — diese unheilvolle Entwicklung, die ja erst den Menschen aus seiner engen seelischen Beziehung zum Arbeitswerk herausgelöst hat. Allerdings droht hinter dieser dritten Hauptforderung in einer mildernden Abwandlung, die aber alle Möglichkeiten planwirtschaftlicher Art besonders für die größeren Industriebetriebe offen läßt, wieder die alte Vorstellung von der Vergesellschaftung der Produktionsmittel mit ihrer Erwartung, daß eine Abschaffung des Privateigentums in gewissen Wirtschaftsbereichen wenn nicht den Egoismus des Menschen ausschalten, so doch eine wesentliche Erleichterung der Zeitprobleme bringen wird — was übrigens seltsam mit der vorher getroffenen Feststellung von der tyrannischen Bedeutung der Arbeitsform der technischen Produktion überhaupt kontrastiert, der gegenüber Staats- oder Privatbesitz gleich sei. Endlich weist auch die Erziehung zur mitmenschlichen Achtung, die als

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Bedingung für eine Verwirklichung der drei Forderungen verlangt wird, in dieselbe Richtung ihres konkreten Anliegens: gerade der konsequente Rationalismus ist es ja, der trotz und wegen aller abstrakten Ethik den Menschen allmählich versachlicht und verdinglicht hat, bis dieser zur Nummer in der Daseinsrechnung der Massenexistenz, zum Objekt kalkulierender Planung, zum Rädchen im Getriebe der modernen Zivilisationsmaschine geworden ist. Die Analyse der grundlegenden Einleitung dieses an Weitblick und Tiefsinn die anderen überragenden freisozialistischen Programmentwurfs zeigt also, daß auch hier zur Bändigung der in ihren Umrissen klar gesehenen Not eine Denkweise verwendet wird, die dem rationalen Denken des nach Freiheit und Gleichheit strebenden Sozialismus von Haus aus fremd ist. Es bleibt nichts anderes übrig, als nach der Erkenntnis des zerstörerischen Wesens der radikalen Rationalität ein anderes Denken zur Korrektur der angerichteten Schäden zu suchen. "Wie beim Neoliberalismus werden demzufolge drei große Abwehrmittel gegen die Übergriffe des rationalen Fortschritts entwickelt, die wesentlich auf konservativen Prinzipien beruhen — auf dem Gedanken des Gegengewichts, des Ausgleichs, der Vermittlung. Und bloß das letztgenannte Mittel, die genossenschaftliche Idee, wird in bezeichnender Umbiegung zum Eingang für das marxistische Element einer Beseitigung des Privateigentums in die neugefaßte Ideologie — an sich bedeutet auch die Genossensdhaftsidee noch keinen ideologischen Sozialismus, sondern nur Zusammenschluß der Kräfte, ohne daß die Eigentumsidee davon notwendig berührt wird. Grundsätzlich stammt mithin kein einziges der Abwehrprinzipien, die das eigentlich Neue an der Grundkonzeption dieses Programms ausmachen und den Weg in eine bessere Zukunft öffnen sollen, aus der dem Sozialismus zugehörigen Denkwelt. Das heißt: der freit Sozialismus erhält in der neuen Konzeption seinen „Fortschritt" allein dadurch, daß er gegen den Fortschritt zu denken gezwungen ist und sich dazu zwangsläufig fremder Denkmittel bedienen muß, weil die eigenen ihm das nicht erlauben. Aber der Freisozialismus erkennt diese seine paradoxe gedankliche Lage ebensowenig wie der Neoliberalismus. Und ebenso wie jener trotz der Hereinnahme konservativer Elemente in seine zeitgemäß erneuerte Lehre doch Liberalismus bleibt, so bleibt auch der Freisozialismus trotz der unbewußten Anleihen beim konservativen Denken eben Sozialismus. Die rationale Denkform mit ihren verzweigten und in der Regel unbekannten Kon-

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Sequenzen behält nämlich trotz richtigen Ansatzes, richtiger Forderungen und Gegenmittel der neuen Konzeption nadi wie vor die Oberhand in der weiteren Durchführung und Ausgestaltung der Theorie. Die neue Konzeption wird vom überlieferten ideologischen Denken sozusagen aufgefangen: die Forderungen und Gegenmittel werden alsbald wieder rationalisiert, systematisiert und damit in ihrer Wirkung aufgehoben. Der Grund hierfür liegt systematisch offenbar in der Unkenntnis über die eigentliche N a t u r der neuen Denkmittel, über die tieferen Folgerungen eines Denkens gegen die Übergriffe des Fortschritts. Denn nur unter dieser theoretischen Bedingung wird es möglich, die f ü r den Sozialismus wesensmäßig neuen Denkmittel gleichsam aus ihrem gesamten eigenen Sinnzusammenhang herauszulösen und praktisch so zu behandeln, als seien sie legitime Elemente der rationalen Denkform. Deshalb erfolgt die Anwendung und Auswertung der einem ganz anderen und zwar gerade gegensätzlichen Erlebnishorizont und Weltverständnis angehörenden Prinzipien doch letzten Endes wieder, ganz ähnlich wie beim Neoliberalismus, durchaus in der A r t und Weise des überlieferten sozialistischen Denkens — das heißt in den Vorstellungen einer rationalen Kollektivorganisation des Lebens. T r o t z der einleitenden Absage an den Fortschritt dennoch der konstruktiven Veränderungstendenz des Fortschrittsdenkens folgend, schließt sich an die prinzipiellen Anfangsforderungen dann im ausführenden Aktionsprogramm dieser freisozialistischen Lehre nämlich ein umfangreiches und detailliertes theoretisches System für ihre Umsetzung in die Praxis an, das geeignet ist, die eigentlichen Absichten jener Prinzipien umzubiegen , und ins Gegenteil zu verwandeln. Wenn auch erkannt wird, daß jede Verstaatlichung neues Material in den Rachen der zentralistischen Staatsbürokratie w i r f t , so ergibt sich doch als Resultat der praktischen Ausführungsvorschläge ein weitreichender staatlicher oder sonstwie von Groß- und Kleinorganisationen getragener und beherrschter Kontrollapparat vor allem für die vergesellschaftete Industrie. Sein Wesen droht die in ihm wirkenden oder in ihn einbezogenen Funktionäre oder Funktionsträger über kurz oder lang notwendig zu einer Bürokratie zu machen, die sich über die ganze Breite der Sozialordnung hinweg ausdehnt und auch als solche empfunden wird. Das heißt, die Planwirtschaft — deren reine Form einer der führenden Freisozialisten selbst als extremen Rationalismus kennzeichnet — triumphiert schließlich mit ihren Reibungen und ihrem Z w a n g doch wieder, selbst wenn man ihr noch so vorsorglich die Zähne ausbrechen will.

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Dieses Resultat muß infolge der inneren Verfassung des Gegenwartsmenschen um so sicherer eintreten, als auch die Marktwirtschaft, die mit ihrer freien Konkurrenz soweit wie irgend möglich in dem neuen Wirtschaftssystem aufrechterhalten bleiben soll, in ein sorgfältig ausgearbeitetes Netz der Kontrolle gespannt wird, das die theoretisch gewährte Freiheit im praktischen Effekt wieder aufhebt. Könnte man es nicht schon aus den Ausführungsvorschlägen des der Einleitung folgenden Aktionsprogramms schließen, so würde dann das an seinem Schluß erörterte Erziehungswesen deutlich erkennen lassen, wie auch hinter all diesen Zukunftsbildern ein Menschenbild steht, das nicht natürlich und konkret in, sondern künstlich und abstrakt über der Zeit liegt. Das vorgeschlagene Erziehungssystem beruht nämlich mit der großen idealistischen Schönheit seiner Konzeption, die in bestechender Art die Erinnerung an den frühen Liberalismus wachruft, auf dem mittlerweile endgültig durch Selbstwiderlegung zerbrochenen Menschenbild der Aufklärung. Damit wird aber trotz mancher psychologischen Einsicht das ganze Schwergewicht der Problematik verkannt, die jene alles begründende und bestimmende Korrespondenz von Ratio und Trieb heute schafft, von der immer wieder die Rede sein mußte. Dies Erziehungssystem baut auf dem in der Einleitung des eigenen Programms bereits erschütterten Glauben an Ratio und Wissen auf, bemerkt nicht die Freisetzung der Triebwelt durch diese beiden Mächte und verkennt infolgedessen die eigentliche Rolle des Gefühlslebens, das gerade die technische Zivilisation als moderner Lebensraum zugunsten der triebhaften Regungen beeinträchtigt. Bilden solche und andere Programmentwürfe die eine Ausdrucksform des freiheitlichen Sozialismus, so besteht seine zweite Ausdrucksform in der erneuerten Kritik am Marxismus, zu deren Aufnahme sich der Sozialismus nicht nur aus theoretischen Erwägungen, sondern auch aus praktischen Gründen gezwungen sieht. Erstere hängen mit der im Vergleich zur Zeit vor dem ersten Weltkrieg veränderten gedanklichen sowie wissens- und erfahrungsmäßigen Gesamtlage der Gegenwart zusammen, letztere mit dem inzwischen erfolgten Auftreten totalitärer Regime und vor allem mit der Existenz eines ausgeprägt marxistischen Staates in Rußland. Bei der Betrachtung dieser neuen Marxismus-Kritik zeigt sich nun, daß die Ansichten innerhalb des heutigen Sozialismus sehr weit auseinandergehen. Zwischen dem mehr oder weniger orthodoxen marxistischen Flügel und dem gar nicht oder kaum noch marxistischen Flügel klafft in Wahrheit

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ein ähnlidi tiefer Zwiespalt, wie er ernst den als utopisch verurteilten idealistischen Sozialismus vor Marx und Engels vom materialistischen Sozialismus geschieden hat. Auf der einen Seite steht also nach wie vor das im Rahmen des Reformismus bleibende und nur die revolutionär kommunistische Konsequenz ablehnende Bekenntnis zum Klassenkampf (mit dem fernen Zukunftsziel der klassenlosen Gesellschaft), zum Ökonomismus (mit der Annahme vom Privateigentum als der "Wurzel aller antisozialen Regungen im Menschen) und zur materialistischen Geschichtsauffassung (mit dem Glauben an das Wunder einer Daseinsverbesserung durch Vergesellschaftung der Produktionsmittel). Auf der anderen Seite aber zeichnet sich in wechselnd starker Ablösung von jener Fassung eine ganze Skala von losen Ideologieversionen ab, die durch die Einverleibung idealistischer, humanitärer, liberaler, christlicher und sogar konservativer Gedanken charakterisiert sind. Fragt man angesichts dieses Zwiespalts nach dem Ideengut, das beide Flügel dennodi zusammenhält, so ist es nächst der Anerkennung von Karl Marx als Schöpfer einer sozialgeschichtlichen Deutungsmethode einzig die spezifisch rationale Dertkform mit ihren zentralen Prinzipien der Gleichheit und Freiheit — diese Postulate erscheinen allerdings in der Regel nunmehr unter den abmildernden Formeln von der sozialen Gerechtigkeit und Menschenwürde — sowie mit ihrem Fortschrittsglauben, an den sie trotz aller erlebnisunmittelbaren Absagen an den Fortschritt gebunden sind. Es ist kaum möglich, aus dieser hin- und herflutenden Diskussion einer Auseinandersetzung mit dem Marxismus systematisch abgegrenzte Einzelfassungen herauszuschälen. Die Dinge sind hier noch dauernd im Fluß und werden es wahrscheinlich auch weiterhin bleiben, falls nicht stärkere geschichtliche Einflüsse eine klare Entscheidung erzwingen. Und dies um so mehr, als die ganze Diskussion trotz der auch hier vielfach zutagetretenden Wendung zur konservativen Denkweise doch im wesentlichen auf der alten Ebene des rational-konstruktiven Denkens bleibt oder vielmehr letztlich immer wieder auf sie zurückkehrt. Dennoch müssen im Zusammenhang unserer Betrachtung wenigstens einige der vom freiheitlichen Flügel des Sozialismus im Rahmen der neuen Marxismus-Kritik angestellten Überlegungen kurz angedeutet werden, um zu zeigen, von welchem Standpunkt aus sich eine Reihe von sozialistischen Theoretikern zu einer Revision ihrer Auffassungen bewogen sieht. Die Wirkung dieser Theoretiker auf die Praxis muß allerdings in Anbetracht der

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allgemein menschlichen Situation, die die zeitbedingte Korrespondenz von Ratio und Trieb mit ihrer Verführung zu und durch Egoismus und Machtstreben nun einmal entgegen aller besseren Einsicht schafft, und angesidits der überlegenen Faßlichkeit der radikalen Thesen des materialistischen Sozialismus ungewiß bleiben. Als einziger realpolitischer Faktor, der den Sozialismus auch in der Praxis seines Handelns mehr zu der freiheitlichen als zu der materialistischen Fassung als verbindlicher Richtschnur drängen mag, kann jedenfalls außer der Gefahr des Bolschewismus nur der moderne Sozialismus jenseits der westlichen Grenzen in England gelten. Dort kennt man, im Gegensatz zu Deutschland und letztlich wohl aus religionsgeschichtlichen Gründen, von Haus aus keinen marxistischen Sozialismus und hat unter führender Beteiligung der Fabier-Vereinigung aus der einstigen idealistischen Fassung Owenscher Provenienz — über die Stufen des Trade-Unionismus und Munizipalsozialismus — eine eigene sozialistische Ideologie entwickelt, die allerdings durch die Praxis der Herrschaft im Staate vielfach doch in die Nähe des Marxismus gebracht wurde. Das Programm der Fabier vertritt das Ziel der Sozialreform, lehnt Gewaltmethoden ab, verwirft den Klassenkampf, erstrebt mit dem Verfahren der friedlichen Durchdringung eine völlige Demokratisierung des öffentlichen Lebens und dadurch schließlich die gesetzliche Ausmerzung des Kapitalismus. In den letzten anderthalb Jahrhunderten hat sich, wie von Seiten der freisozialistischen Theoretiker mehr oder minder klar erkannt wird, in Folge und mit Hilfe eines unbedingten Glaubens an die Rationalität, einer naiven Fortschritts- und "Wissenschaftsgläubigkeit sowie einer wirklichkeitsfremden Verkennung der prinzipiellen Unzulänglichkeit aller überhaupt möglichen menschlichen Ordnung der Aufbau einer durchaus künstlichen Welt vollzogen. Das für den Menschen entscheidende Ergebnis dieser Entwicklung, der die früher das menschliche Leben sichernden Bindungen zum Opfer fielen, ist die rationale Gesellschaft mit ihrer individuellen Entpersönlichung und ihrer kollektiven Vermassung. Durch diese Erscheinungen entstand die bedrohliche Zahlenhaftigkeit des menschlichen Daseins, die uns heute überall entgegentritt. Größten Anteil an dieser Gestalt der modernen Daseinsordnung hat die Technik und der technische Verstand, dank deren auch der Mensch zu einer bloßen Funktion des Produktionsprozesses erniedrigt wurde — diese Technik, der ein Doppelgesicht von Vorteilen und Nachteilen eigen ist, die ein einseitig zweckgerichtetes Denken hervorruft und mit ihm den Menschen überwältigt, die die Tendenz zu unaufhörlichem Fortschritt

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besitzt, worin immer mehr die Stimme des Lebendigen zu kurz kommt und dessen Sinnerfüllung hintertrieben wird. Von diesen Feststellungen aus wird dann der Sozialismus als die Freiheitsbewegung innerhalb der rationalen Gesellschaft und gegen sie aufgefaßt, die ihren höchsten Ausdruck im totalen Staat der Gegenwart findet. Deshalb sind auch die Grenzen des Sozialismus heute, nachdem das Erlebnis der „proletarischen Situation" allgemein geworden und nicht mehr bloß auf den Arbeiter beschränkt ist, grundlegend erweitert. Es geht nunmehr um den in der rationalen Gesellschaft entrechteten Menschen überhaupt, was für den Sozialismus den Schritt von der Klassenbewegung zur staatsbürgerlichen Gemeinschaftsbewegung bedeutet. Von einer einheitlichen Arbeiterklasse kann längst nicht mehr die Rede sein, und die Entproletarisierung des Arbeiters ist in dem Maße, wie die materielle Verelendung der Bevölkerung in den Industriegebieten seit dem Ende der frühkapitalistischen Phase abgenommen hat, immer weiter vorgeschritten. Sozial- und Kulturpolitik haben seit der Zeit des „Kommunistischen Manifests" ein völlig anderes Bild der "Wirklichkeit herauf geführt. Dasselbe wird dadurch bestimmt, daß eine andere Schicht von Deklassierten verschiedenster Art, Herkunft und Berufstätigkeit entstanden ist. Aber dieser neuen Schicht entspricht wegen ihrer komplexen Zusammensetzung kein Klassenbewußtsein: an die Stelle des Proletariers von einst ist der Massenmensch von heute getreten und bildet nunmehr das große soziale Gegenwartsproblem. Es sind mithin zwingende Gründe der sozialgesdiichtlidien und sozialpsychologischen Entwicklung, die sich aus dem Wandel der zivilisatorischen Zustände ergeben, wenn der Sozialismus von seiner materialistischen Fassung abrückt und wieder mehr die ethische Fundierung seiner Idee betont. Eine bestimmte Gruppe will sogar den Sozialismus unter vollständiger Ablehnung jedes deterministischen Standpunkts und unter Betonung eines konsequent idealistischen Standpunkts ausschließlich ethisch begründen. Weder materielles Interesse noch eine Klassenmoral, sondern das Bewußtsein des kategorischen Imperativs bildet die Grundlage solcher Auffassung des sozialistischen Gedankens. Gerade dieser Sozialismus als sittliche Idee nimmt denn auch folgerichtig die idealistischen Sozialisten aus der Epoche vor Marx und Engels wieder ernst, die solange als unwissenschaftliche Utopisten verfemt waren. Und er faßt sich selbst als ein Wagnis auf, das den Mut zur Utopie erfordert, weil Utopie allem Willen zur Zukunftsgestaltung immanent sei, obwohl er immer die Gefahr des Dogmatismus heraufbeschwört. Daraus

B. Sozialismus: Der Freisozialismus und seine konservative Wendung

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wird dann die Folgerung gezogen: schafft der Sozialismus eine Gesellschaftsordnung, die das Gegenteil von Gerechtigkeit und Freiheit bewirkt, so wird er zum Unglück für die Menschheit, das schlimmer ist als seine völlige Auflösung und Verflüchtigung. Denn Sozialismus stellt nur ein Mittel zum Zweck dar, keinen Selbstzweck — das zu betonen, wird für wichtig gehalten, weil man auch heute wieder den Eindruck gewinnt, daß es doktrinäre Sozialisten gibt, die den Sozialismus bloß seiner selbst wegen und schlechthin wollen. Von diesem neuen Aspekt her, der doch in Wahrheit auf die Anfänge der sozialistischen Idee zurückgeht und überdies auf die Abstammung derselben aus der ursprünglichen liberalen Gedankenwelt hinweist, müssen Ökonomismus und Materialismus notwendig ihren bisher behaupteten Platz im ideologischen System aufgeben. Vor der durch die Wirklichkeit erzwungenen Kritik an der technischen Welt und ihrer rationalen Gesellschaft erscheinen alle ökonomistischen und materialistischen Lösungen als zu eng oder direkt falsch und sind deshalb nicht mehr haltbar. Aber in geheimem Widerspruch zu der Verpflichtung dieser Grundeinsicht werden in der Regel die mit dem formalen Gleichheitsprinzip des rationalen Denkens verbundenen Gedanken der Sozialisierung und der Planwirtschaft wenigstens stillschweigend bejaht oder doch nicht ausdrücklich verneint. Dadurch wird noch in Sonderheit jene grundsätzliche Feststellung von der bei dieser jüngsten Fassung des Sozialismus überhaupt vorhandenen Widersprüchlichkeit eines Hinundhergerissenseins zwischen der ideologischen Tradition und dem Wunsch nach Befreiung von ihr bestätigt. Gerade dieser Widerspruch verleiht dem freisozialistischen Streben eine so seltsame Doppelbödigkeit. Er rechtfertigt den nicht zur Ruhe kommenden und immer wieder durch leidenschaftliche Ausbrüche sozialistischer Wortführer genährten Argwohn seiner politischen Gegenspieler, daß die eigentlichen und letzten Ziele des Sozialismus noch andere sind oder doch im Drange der Praxis sein werden als jene, die die zeitgemäß gewandelte Theorie angibt. Er beweist aber obendrein auch, daß hier in der Marxismus-Kritik ganz ähnlich wie beim Neoliberalismus der neue Ansatz alsbald fast automatisch wieder in die alten Bahnen zurückfällt — der Zwang eines an den Kategorien der Gleichheit und Freiheit orientierten und damit von der Korrespondenz zwischen Ratio und Trieb abhängigen Denkens ist allem Anschein nach unüberwindlich, mögen diese Kategorien auch noch so viele Verwandlungen oder Verkleidungen wie in jüngster Zeit etwa als Wirtschaftsdemokratie oder Mitbestimmungsrecht zeigen.

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II. Die modernen Ideologien

Dieser Widerspruch steht auch unausgetragen über der Auseinandersetzung mit dem überlieferten Materialismus der sozialistischen Heilslehre. Immer von neuem und in immer anderen Wendungen wird hier von der Notwendigkeit einer Überwindung des Materialismus gesprochen, zugleich aber gern versucht, ihn durch eine tiefere Ausdeutung doch auch wieder zu retten, um nicht seiner politischen Funktion im System verlustig zu gehen. Dennoch ist er, wie mehr oder weniger offizielle Erklärungen zu schließen erlauben, vom freisozialistischen Standpunkt aus nicht mehr zu halten. Die offensten Stellungnahmen innerhalb der jüngsten Fassung bezeichnen den historischen Materialismus denn auch als den ob seiner furchtbaren Einseitigkeit problematischsten Teil des Marxismus und diesen selbst daher als eine Wissenschaft ohne den Menschen. Deshalb kann die Vergesellschaftung der Produktionsmittel hier nicht mehr als der Zaubergriff gelten, als der sie einst von dem heute offenkundigen Aberglauben des Materialismus angesehen wurde. Doch selbst wo man nicht so scharf gegen den Materialismus Stellung nimmt, distanziert man sich unter dem Druck der inzwischen gemachten Erfahrungen von seiner weltanschaulichen Enge — sei es auch nur über den Weg einer vermeintlichen Vergeistigung. Ohne daß davon ausdrücklich die Rede ist, merkt man indessen dieser ganzen, mit Leidenschaft geführten Auseinandersetzung über den Materialismus das Empfinden an, wie sehr es hier um Grundpositionen der Denkform des Sozialismus als rationaler Ideologie geht. Mit der Entscheidung gegen den Materialismus entfallen nämlich große und weitverzweigte, in der Tiefe unmittelbar mit der für den Sozialismus maßgebenden Korrespondenz zwischen Ratio und Trieb zusammenhängende Vorstellungsketten, die er bei der Masse seiner Anhänger bis zur Gegenwart weckte und ansprach. Der Verzicht auf diese, der realen Macht der Ideologie dienenden Kräfte ist fraglos von unabsehbaren Konsequenzen begleitet. Denn einmal taucht damit eine Reihe von Begriffen wie Menschlichkeit, Toleranz, Versöhnlichkeit usw. in der Mitte des ideologischen Systems auf, die aus einer für den Sozialismus neuen Akzentuierung des Welterlebnisses stammen. Zum andern ergibt sich daraus eine positive Einstellung zum religiösen Moment, was ganz ungewohnte gedankliche Perspektiven eröffnet. Schließlich werden von hier aus sogar die echt konservativen Kräfte als gesundes Gegengewicht in die allgemeine Zukunftsrechnung eingesetzt, was von dem neuen Ziel einer Kontinuität der Kultur zu sprechen erlaubt. Dies Ziel zieht seinerseits die Forderung nach geistiger Freiheit und weltanschaulicher Ungebun-

C. Kommunismus

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denheit der sozialistischen Bewegung nach sich, was sich aber mit der Ideologie als System und Doktrin nicht verträgt. Denn jede Ideologie und besonders die sozialistische legt ja, will sie Ideologie bleiben, eben die geistigweltanschauliche Route fest, nach der marschiert werden soll. Geistige Freiheit und weltanschauliche Ungebundenheit zu fordern, bedeutet folglich entweder ihre Selbstpreisgabe oder eine leere Formel der polemischen Taktik in der Auseinandersetzung mit ihren "Widersachern. Damit werden einerseits Ansprüche moralischer Art gestellt und andererseits Möglichkeiten propagandistischer Art aufgegeben, die den Sozialismus den Charakter einer politischen Massenbewegung im vollen Wortsinn kosten können. Und daher rührt denn auch das spürbare Zögern, mit dem man sich bei dieser gesamten Frage vor die Öffentlichkeit begibt. Daher kommt der merkbar esoterische Zug der kritischen Selbstbefragung und der starke "Widerstand in den eigenen Reihen, die sich vielfach nicht entschließen können oder wollen, altvertraute Grundsätze aufzugeben — vor allem nicht den eng mit dem Materialismus verknüpften Klassenkampf, unter dessen Zeichen man gerade die zum zweiten "Weltkrieg führende Innenseite der neueren Entwicklung und zumal die Genesis der modernen Gewaltlehre und Machtentartung zu verschleiern vermag.

C.

KOMMUNISMUS

Der Kommunismus ist die Ideologie der proletarischen Herrschaft, die schließlich in einer vollkommenen Brüderlichkeit sämtlicher Menschen aufgehen soll. "Wie der Sozialismus trotz aller grundsätzlichen Feindschaft gegen das kapitalistische System mit dem Liberalismus verwandt ist, so ist auch der Kommunismus trotz aller grundsätzlichen Feindschaft gegen jede reformistische Tendenz mit dem Sozialismus verwandt, dessen wahre Verkörperung er zu sein beansprucht. Seine Vorläufer sind in einem allgemeinen Sinne allerlei historische Bewegungen und Gruppen, die bis weit in die Vergangenheit hinab nach einer tatsächlichen Verbrüderung der Menschen strebten. Seine eigentlichen "Wurzeln liegen aber im Rationalismus der Aufklärungszeit, ohne den weder Ziel noch Denken des modernen Kommunismus zu verstehen ist — darin besteht, systematisch gesehen, seine Gemeinsamkeit mit den beiden anderen großen modernen Ideologien. Und gleich jenen hat auch der Kommunismus im Fortgang der technischen Zivilisation meh-

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II. Die modernen Ideologien

rere Entivicklungsstadien durchlaufen, die als zeitbedingte Fassungen seines Grundanliegens ebenso Produkt der sich' wandelnden innermenschlichen Verfassung sind wie die verschiedenen Formen der beiden anderen Ideologien. Ja, sogar noch bei dieser modernsten Glaubenslehre, die so umfassend wie keine sonst auf Veränderung der natürlich gewachsenen und geschichtlich gewordenen Zustände drängt, finden sich am vorläufigen Ende ihres "Weges ebenfalls Ansätze jener verblüffenden Wendung zu einem ganz anderen und bisher strikt abgelehnten Denken, die auch Liberalismus und Sozialismus zeigen — jedoch hier nur als praktisch und taktisch wichtiger Akzent, der noch nicht zu tieferen Einflüssen auf die Theorie und damit zu einer gewissen Stellung im ideologischen System gelangt ist. 'Die Entwicklung der kommunistischen Idee läßt sich in vier Fassungen beobachten: der vormarxistischen, der marxistischen, der leninistischen und der stalinistischen. Während die vormarxistische Fassung, durch Namen wie etwa Babeuf in Frankreich oder Weitling in Deutschland gekennzeichnet, nur noch ideengeschichtliche Bedeutung hat, bilden die drei anderen Fassungen den eigentlich modernen Kommunismus, der seit dem ersten Weltkrieg und vor allem durch den zweiten Weltkrieg eine der mächtigsten Ideologien der Erde geworden ist. Doch handelt es sich bei diesen Fassungen weniger um sdiarf voneinander zu trennende oder stark voneinander abweichende Auslegungen der Grundidee als mehr um verschiedene Stufen einer fortschreitenden Herausarbeitung hinsichtlich1 ihrer Umsetzung in die Tat. A m Ursprung des modernen Kommunismus steht dieselbe ideologische Theorie wie beim materialistischen Sozialismus, deren Schöpfer Karl Marx ist — das „Kommunistische Manifest" von Marx und Engels stellt für den Kommunismus ebensosehr eine auch heute noch grundlegende Urkunde dar wie für den Sozialismus. Bis zum ersten Weltkrieg wurde denn auch der Kommunismus hauptsächlich durch den linken Flügel des Sozialismus vertreten, der sich von einzelnen Reformen nidits versprach und jeden Revisionismus verwarf, weil er darin die Gefahr einer Verzögerung des von Marx in Bälde erwarteten Endes der kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung erblickte. In vielen Fällen war der orthodoxe Marxismus, wie die schweren Kämpfe innerhalb des damaligen sozialistischen Lagers beweisen, in Wahrheit bereits Kommunismus. Daher zog die unter dem Eindruck des ersten Weltkrieges einsetzende offene Trennung zwischen Kommunismus und Sozialismus — theoretisch längst vorbereitet, praktisch jedoch erst durch die natürlichen Auflösungs- und Neubildungstendenzen des Krie-

C. Kommunismus: Seine marxistische Fassung

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ges herbeigeführt — nur die unausbleibliche Konsequenz, die einmal fällig war. Und die Überführung der marxistischen Heilslehre in die politische Praxis großen geschichtlichen Stils, die als unmittelbare Folge des ersten "Weltkrieges und entgegen allen von der Theorie behaupteten Voraussagen ausgeredinet in dem rückständigen Agrarstaat Rußland stattfand, ließ dann den Kommunismus gleichsam zu sich selbst kommen. Er trat in der Form des Leninismus in den Kreis der weltgeschichtlich wirksamen Ideologien ein, um darauf in der Form des Stalinismus seine mächtigste Gestalt zu gewinnen. Diese beiden "Weiterbildungen des Marxismus sind dabei zwar russischer Herkunft, haben jedoch dank der Eigenart der kommunistischen Lehre zugleich auch allgemeine Geltung und bestimmen als große internationale Vorbilder auch die Theorie in den anderen Ländern der modernen Welt. Die Stelle innerhalb des Sozialrevolutionären Gedankensystems, an der sich Sozialismus und Kommunismus schließlich wie an einer Kreuzung des bisher gemeinsamen "Weges voneinander trennten, wird durch die verschiedenartige Auffassung über Bedeutung und Rolle der Revolution im Zukunftsgeschehen gebildet. Marx selber hatte, indem er in seiner Theorie weder das Endziel noch die zu ihm führende gewaltsame Umwälzung ausführlich behandelte und sich mit seinen Betrachtungen wesentlich auf eine Kritik des Kapitalismus beschränkte, den Keim des Zwiespaltes gelegt, der später die einheitliche Ideologie sprengen sollte. Getreu seiner Annahme vom baldigen Ende des Kapitalismus lehnte eine starke Strömung im Sozialismus jede bewußt sozialpolitische Tätigkeit ab, die sich als notwendige Folge eines friedlichen Kampfes mit der Bourgeoisie ergeben mußte. Nach der Meinung dieser extremen Marxisten waren soziale Reformen, wie schon angedeutet, nur dazu geeignet, der Verelendungstheorie den Boden der Realität zu entziehen, die Klassenkampflehre zu verwässern und dadurch die Revolution mit ihrer Machtergreifung des Proletariats, die f ü r den letzten Stoß gegen den sich selbst zersetzenden Kapitalismus als unvermeidbar erschien, zu verzögern oder gar zu verhindern. Auf der anderen Seite befürwortete eine gegensätzliche Strömung — ebenso getreu der Marxschen Annahme vom Sozialismus, der im Schoß des sich auflösenden Kapitalismus unaufhaltsam heranwächst — den Standpunkt eines gemäßigten Marxismus, um das Ziel der klassenlosen Gesellschaft mit Hilfe sozialpolitischer Maßnahmen schrittweise zu erreichen. Diese gemäßigten Marxisten hielten den Kapitalismus noch f ü r zu stark, um ihn durch gewaltsamen Umsturz zu be-

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seitigen. Auch schreckten sie vor den Auswirkungen einer Revolution zurück, die zumindest anfänglich gerade für das Proletariat äußerst nachteilig sein konnten. Entsprechend dieser unterschiedlichen Einstellung zu dem Gedanken eines revolutionären Eingriffs in den Ablauf der gesellschaftlichen Entwicklung standen sich Gegner und Anhänger einer Sozialreform, die der langsamen Besserung der Existenzverhältnisse des Proletariats auf friedlichem Wege dient, lange Zeit in scharfem Widerstreit als Revolutionäre und Revisionisten gegenüber. Nach wechselvollen Auseinandersetzungen gewann schließlich die revisionistische Richtung im Sozialismus unter der Losung „Eroberung der Macht innerhalb der bestehenden Staatsordnung" die Oberhand, während sich die revolutionäre Richtung in mehreren Gruppen abspaltete und alsbald eine eigene Ideologie entwickelte: den modernen Kommunismus. Eine kurze Darstellung dieser neuen Ideologie stößt auf all die Schwierigkeiten, die angesichts der unleugbar nahen Verwandtschaft beider aus dem Versuch einer Abgrenzung von Sozialismus und Kommunismus entstehen müssen. Da auch der Kommunismus auf Marx fußt, ja sich selber für den eigentlichen Vollstrecker und Vollender seiner Gedanken hält, begegnet vieles, was dem Sozialismus in seiner materialistischen Fassung eigen ist, auch beim Kommunismus. Die schroffe Feindschaft zwischen beiden Lehren, die gerade in jüngster Zeit wieder offenbar geworden ist, unterstützt zwar die Ansicht, daß der Kommunismus nichts anderes sei als ein radikaler Bruder des Sozialismus — Ketzerei ist in den Augen der Rechtgläubigen immer ein größeres Verbrechen als Unglaube und wird daher am bittersten gehaßt. Aber dennoch bildet der Kommunismus eine selbständige moderne Ideologie, ist nicht so sehr Bruder als vielmehr Schößling des Sozialismus und verdient deshalb einen besonderen Platz in einer Würdigung der wichtigsten säkularisierten Glaubenslehren des technischen Zeitalters. Denn aus seiner Einstellung zum Ablauf der gesellschaftlichen Entwicklung erwächst ein ideologisches System, das trotz seiner Herkunft eigene Züge zeigt und wesentlich Neues enthält. Beim Sozialismus wie beim Kommunismus ist das von Marx gewiesene Ziel der klassenlosen Gesellschaft ideologisch anfangs dasselbe. Doch hat sich beim Kommunismus entsprechend der anderen Bewertung der revolutionären Tat in den späteren Fassungen dieses Ziel verschoben — die Verschärfung der Mittel läßt auch das Ziel schärfer hervortreten, damit zugleich näher-

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rüdken und anders werden. Das Ziel heißt nämlich nunmehr ganz praktisch nur noch Herrschaft des Proletariats. Das Fernziel der klassenlosen Gesellschaft ist in diesem Nahziel, das dem leidenschaftlichen Erlösungsbedürfnis von den Übeln dieser Welt und dem politischen Aktivismus besser gerecht wird, gewissermaßen aufgesogen: die klassenlose Gesellschaft verwirklicht sich in der proletarischen Diktatur, die alle Klassen bis auf eine einzige abschafft und hiermit zugleich auch diese einzige gleichsam von selbst auflöst. Je eher das Proletariat die Macht ergreift, desto eher wird dieser T a g des Heils anbrechen — nahes und fernes Ziel gehen verwandelt ineinander auf. In solcher Vertauschung und Verschmelzung von Fernziel und Nahziel besteht die prinzipielle Andersartigkeit des kommunistischen Strebens im Gegensatz zum materialistischen Sozialismus. In ihr liegt daher auch die gedankliche Begründung und Erklärung für den moralischen Zwang zu einer ständigen, Gehorsam und Hingabe als unbedingte Pflicht fordernden Bemühung um das Eintreten des revolutionären Umsturzes. Immer wieder muß die gewaltsame Umwälzung versucht werden, bis sie beim letzten Versuch gelingt. Die Ordnung der Z u k u n f t wächst zwar auch nach der kommunistischen Ideologie im Schoß des Kapitalismus, aber sie bedarf eines dauernden Geburtshelferdienstes, der ohne jedes Bedenken zu leisten ist. Denn dieser Dienst gehört in die Gesetzmäßigkeit der Auflösung des kapitalistischen Systems mit hinein. Das Neue, das hierbei zum Wohl der gesamten Menschheit ans Licht gefördert wird, ist so groß und wichtig, daß jedes individuelle Schicksal davor verblaßt und zum Nichts wird, daß sogar ganze Gruppen und Schichten geopfert werden müssen und dürfen, ja daß selbst die Existenz einzelner Völker aufs Spiel gesetzt werden kann, ohne das Bild des werdenden Ideals zu trüben oder zu beflecken. Die Verheißung der tatsächlichen Brüderlichkeit aller Menschen ist ein radikales Gebot, das nur durch radikale Mittel zu erfüllen ist — das unerhörte Ziel rechtfertigt auch die unerhörten Wege, auf denen es angegangen und erreicht wird. So wurde aus der marxistischen Theorie, die den Zeitpunkt der Revolution mit der Machtergreifung des Proletariats im Ungewissen ließ, eine mit intensiver Aktivität geladene dogmatische Lehre zur bewußten Herbei- und Durchführung der gewaltsamen Umwälzung. Nach der Theorie von Karl Marx ergeben sich aus dem Mißverhältnis zwischen Produktivkräften und Produktionsweise die Krisen- und Verelendungserscheinungen, die zu revolutionären Aufständen und schließlich zur Revolution drängen. Wie die Widersprüche der feudalen Epoche zur bürgerlichen Revolution führten, so 8 Mühlenfeld, Politik

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werden und sollen die Widersprüche der bürgerlichen Epoche zur proletarischen Revolution führen. Damals wuchsen die bürgerlichen Produktivkräfte unaufhaltsam der noch aus dem Mittelalter stammenden Aneignungs- und Austauschweise der Produkte über den K o p f , und heute wachsen die proletarischen Produktivkräfte ebenso unaufhaltsam der vom Kapitalismus entwickelten privaten Aneignungs- und Austauschweise über den Kopf und verlangen die Enteignung der kapitalistischen Produzenten sowie die Vergesellschaftung der Produktion. Doch reichen Marx' Feststellungen nicht aus, um Maßstäbe für die Strategie und Taktik des revolutionären Kampfes zu liefern, der die notwendige Konsequenz aus solcher Auffassung der gesellschaftlichen Entwicklung ist. Hier setzt deshalb eine Fort- und Ausbildung des marxistischen Systems ein, für die sich aus den Gedankenmassen des Meisters allerlei Anhaltspunkte und Hinweise beibringen lassen, so daß die neue Ideologie mit guten Gründen als Vollstreckerin und Vollenderin der alten auftreten kann. Zur Zeit des Meisters war der Aufbau einer wissenschaftlich begründeten Theorie der Gesellschaft und die eingehende Kritik der kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung wichtiger als die genaue Festlegung der Zukunftsordnung in allen Einzelheiten. Auch lag dessen Stärke unverkennbar mehr auf dem Gebiet der Analyse und Kritik als auf dem Gebiet der Synthese und Neuschöpfung — Marx war ein durch und durch kritischer, kein schöpferisdier Geist. N u n aber, nachdem die Dynamik der gesellschaftlichen Entwicklung erkannt ist und der Kapitalismus seine Reife erlangt hat, wird der Aufbau der Zukunftsordnung zum Gebot der Stunde, wobei sich die Art der Mittel zu ihrer Verwirklichung aus der Art des Widerstandes ergibt, auf den der politische Wille zur Veränderung und Neusetzung stößt. Ist das Ziel nahegerückt und konkret geworden, so genügen auch nicht mehr wenige Andeutungen über die Methode, mit der es erreicht werden kann. Vielmehr wird eine regelrechte Theorie der Revolution zur unerläßlichen Bedingung des politischen Handelns — eine Theorie, die rational festlegt und vorschreibt, wie vorgegangen und was getan werden muß. Denn ohne revolutionäre Theorie gibt es keine revolutionäre Praxis. Der ideologische Gegensatz zwisdien Kommunismus und Sozialismus besteht mithin darin, daß der Sozialismus von einer Mehrheit seine Revolution erwartet, der Kommunismus dagegen mit einer Minderheit seine Revolution macht. Im ersteren Falle wird sie als der unabwendbar kommende, aber sich als Abschluß einer langsamen Reife des kapitalistischen Systems

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selbst vollziehende Vorgang des Umsdilagens vom Kapitalismus zum sozialistischen Ideal angesehen. Im letzteren Falle jedoch ist sie der notwendig durch eigene Willenshandlung sobald als möglich bewerkstelligte Vorgang des Umschlagens vom Kapitalismus zum kommunistischen Ideal. In beiden Fällen wird daher das ideologische Moment des Umschlagens von einem Zustand in den anderen ganz verschieden aufgefaßt — dort zeitlich unbestimmt und mehr passiv, hier durch eigene Aktivität bestimmt und sobald wie möglich herbeigezwungen. Demgemäß erhält nun die besondere Denkmethode des Marxismus, die von Hegel übernommene Dialektik, eine theoretisch und praktisch ungleich bedeutendere Funktion im System der kommunistischen Lehre als bisher. Denkt der Sozialismus vornehmlich auf der Vorstellungsebene des historischen Materialismus im Sinne einer bloß auf die gesellschaftliche Entwicklung gerichteten Betrachtungsweise, so denkt der Kommunismus vorwiegend in der Vorstellungswelt des dialektischen Materialismus im Sinne einer umfassenden Weltanschauung. Dialektisch ist die Methode, materialistisch ist die Auffassung, mit der man der Wirklichkeit insgesamt gegenübertritt. Diesem dialektischen Materialismus zufolge verläuft der Entwicklungsprozeß aller Wirklichkeit mit seiner Tendenz von niederen zu höheren Formen nicht als harmonische Entfaltung, sondern nach Art eines Kampfes zwischen Gegensätzen und Widersprüchen, die sich in einem dritten, höheren Zustand als Ergebnis des Fortschritts auflösen. Da das Umschlagen langsamer .quantitativer Veränderungen in rasche und plötzliche qualitative Veränderung ein allgemeingültiges Entwicklungsgesetz bildet, von dem sich die politische Sphäre nicht auszuschließen vermag, kann auch der Übergang vom Kapitalismus zum Kommunismus nicht auf dem Wege von Reformen, sondern allein auf dem Wege der Revolution stattfinden. Deswegen ist eine unversöhnliche proletarische Klassenpolitik an Stelle einer revisionistischen Politik des Interessenausgleichs zwischen Proletariat und Bourgeoisie erforderlich, weil anders das politische Handeln der gesetzmäßigen Dialektik alles Geschehens widerstreitet und sich von vornherein selber zum Scheitern verurteilt. Die Revolution, in der solche Politik als letzter Konsequenz enden muß, ist infolgedessen durch das dialektische Denken unmittelbar zwingend gefordert und begründet, weil nur die willensmäßige Beseitigung augenblicklicher Zustände zum plötzlichen Umschlagen einer Situation in ihr Gegenteil führt. Indem die Revolution die überall geltende Dialektik der Entwicklung auf politischem Gebiet vollzieht, ist sie daher ein lebensnot-

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wendiges Element des gesellschaftlichen Fortschritts, das alle Aufmerksamkeit beansprucht. Ihre Organisation stellt deshalb eine der wichtigsten gesellschaftlichen Aufgaben überhaupt dar, die nur mit schärfster Überlegung sämtlicher Umstände für ihre Vorbereitung und Durchführung zu erfüllen ist. Theoretisch ergeben sich zusammengefaßt also drei verschiedene Rechtfertigungen für die im modernen Kommunismus zutagetretende Betonung der Revolution, die in der Lehre eng miteinander verwoben sind: durch die dialektische Denkmethode, durch das Hinauswachsen der geschichtlichen Situation über Marx und durch' die damit hervorgerufene Intensivierung des Charakters der Ideologie als weltlicher Heilslehre. Praktisch allerdings muß die Spaltung des Marxismus in materialistischen Sozialismus und dialektischen Kommunismus, der dann eine mächtige neue Ideologie wurde, anders erklärt werden. Denn jene theoretischen Rechtfertigungen erhellen eben das eigentliche Geheimnis dieses neuen Mächtigw.erdens nicht befriedigend. Die begriffliche Fundierung ist nämlich bloß Hülle und Ausdruck eines tieferen Geschehens im modernen Menschen selber, das entsprechend der inneren und äußeren Situation der Anhänger des kommunistischen Ideals hier zu dieser Form drängte, sich aber auch in den übrigen Ideologien in anderer Form wiederfindet, um dort der ebenfalls innerlich und äußerlich bedingten Situation der sie tragenden Menschen zu entsprechen. Auch bei dieser Ideologie liegt der eigentliche Schlüssel zum rechten Verständnis in der von der modernen Zivilisation bewirkten Korrespondenz zwischen Ratio und Trieb. Was bei Marx in seinem gedanklichen System bereits deutlich angelegt ist, das kommt im neuen System der kommunistischen Lehre zum vollen Durchbruch: die Anerkennung der Gewalt. Die im Zivilisationsprozeß entbundene Triebhaftigkeit des modernen Menschen erhält hier in Gestalt der blutigen Revolution eine extrem politische Form und zugleich eine umfassende ideologische Verankerung. "Wurde die entbundene Triebhaftigkeit beim Liberalismus in die Richtung des ökonomischen und beim Sozialismus in die Richtung des Materiellen gelenkt, so nimmt sie hier ihre Richtung in die reirie Politik — das heißt dorthin, w o es nicht mehr um Besitz, sondern nach Abstrich aller „bürgerlichen" Ziele nur noch um Gewalt und Macht geht. Diese Richtung der Triebhaftigkeit entspricht insgeheim der von allem Besitz entblößten Daseinslage des Proletariers, während der Sozialismus mit seinen reformistischen Neigungen noch deutliche Spuren des bürgerlichen Besitzstrebens zeigt und der Liberalismus

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die Ideologie des Besitzens schlechthin geworden ist. Die gesellschaftliche Erscheinungsform der entbundenen Triebhaftigkeit kann auf der Ebene des Proletariats als der Klasse, die nichts außer ihrer Arbeitskraft besitzt, wesentlich nur noch Gewalt und Macht sein — und dieser Tatsache trägt die neue Heilslehre in einer unmißverständlichen Weise Rechnung. Das Vorhandensein der freigesetzten Triebhaftigkeit wird anerkannt, indem die Gewalt an zentraler Stelle in das ideologische System als Wirkungskraft eingebaut und durch immerfort wiederholten Anruf dauernd verstärkt und vertieft ist. Die Gewalt als triebhafte politische Aktion bereitet aber nur der Macht als dauerhafter Befriedigung des triebhaften politischen Strebens den Weg. Gewalt bekommt ihren realen Sinn lediglich durch die Macht, zu der sie führt. Deshalb verlangt das kommunistische Ideal nicht bloß die rationale Organisation der triebhaften Gewalt in einer Theorie der Revolution, sondern auch eine rationale Organisation der Machtausübung durch das Proletariat. Es handelt sich somit bei der Betonung der Revolution — und darin zeigt sich eben die Tatsache jenes Wechselspiels zwischen Ratio und Trieb — keineswegs um eine Verherrlichung der revolutionären Tat an sich, sondern um ihre Funktion im politischen Zukunftsbild des Kommunismus. Mit dem höchsten intellektuellen Aufwand zu einer förmlichen Technik der Revolution ausgearbeitet, ist sie doch1 nur gewichtiger Teil in einem größeren Plan: Einleitung und Anfangsschritt zur Diktatur des Proletariats, die bezeichnenderweise die Form des Terrorstaates annimmt. Auf diesem Ziel einer proletarischen Diktatur liegt, der innermenschlichen Verfassung der Gegenwart gemäß, der Nachdruck im Gesamtsystem. Denn sie ist — nach der ersten Befriedigung der auf die Politik gelenkten Triebhaftigkeit in der gewaltsamen Revolution, die notwendig kurzfristig sein muß — gleichsam die zweite und dauerhafte Phase der Triebbefriedigung durch den bleibenden Besitz der Macht, der gleichfalls eine ausgearbeitete Theorie verlangt. Gewalt gleich Revolution und Macht gleich Diktatur sind mit anderen Worten die beiden Seiten derselben politisch gerichteten Triebhaftigkeit, einmal vorübergehend und zum anderen auf Dauer befriedigt. Und beide werden in einer rationalen Lehre gefaßt, um den höchstmöglichen Grad an Realität zu gewinnen. Aus wenigen Andeutungen von Marx über die Sozialordnung der Zukunft entwickelte denn auch Lenin (1870—1923) die Theorie der beiden Phasen der kommunistischen Gesellschaft. Die erste oder niedere Phase der kommu-

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nistischen Gesellschaft ist noch in jeder Beziehung mit den Muttermalen des Kapitalismus behaftet, aus dessen Schoß sie durch die Revolution hervortritt. Wenngleich das Privateigentum bereits abgeschafft ist und die Produktionsmittel der ganzen Gesellschaft, das heißt dem Staat gehören; wenngleich jedermann — nach Abzug des Arbeitsquantums für die gemeinschaftlichen Fonds zum Unterhalt der gemeinsamen Produktion — schon ein Quantum von Konsumtionsmitteln erhält, das seiner Arbeitsleistung entspricht, so vermag doch diese erste Phase des Kommunismus die wahre Gleichheit und Gerechtigkeit noch nicht zu bringen. Auf dieser Stufe kann nur erst die Ungerechtigkeit beseitigt werden, daß sich Produktionsmittel in der Hand von einzelnen Personen befinden, nicht aber die Ungleichheit, die in der nach wie vor bestehenden Unterschiedlichkeit bei der Verteilung der Konsumtionsmittel liegt und vor allem aus den natürlichen Unterschieden zwischen den Menschen hinsichtlich Stärke oder Schwäche, Ehelosigkeit oder Kinderlosigkeit folgt. Denn hier wird noch nach der Arbeitsleistung und nicht nach Bedürfnissen verteilt. Hier herrscht noch das bürgerliche Recht, das ungleichen Individuen die gleiche Menge von Produkten für tatsächlich ungleiche Arbeitsmengen zuweist. Deshalb muß es hier auch noch den Staat geben, der das gesellschaftliche Eigentum an den Produktionsmitteln sowie die Gleichheit der Arbeitsleistung und die Gleichheit bei der Verteilung der Produkte schützt. Den vollständigen Kommunismus und damit endgültige Gleichheit und Freiheit vermag daher erst die zweite oder höhere Phase der kommunistischen Gesellschaft herbeizuführen. In ihr wird der Staat, der seiner Natur als Zwangssystem nach jede echte Freiheit ausschließt, abdanken. In ihr wird der Gegensatz von körperlicher und geistiger Arbeit verschwinden, der als eine der wichtigsten Quellen gesellschaftlicher Ungleichheit weder durch die Vergesellschaftung der Produktionsmittel noch durch die Enteignung der Kapitalisten beseitigt werden kann. In ihr wird aber dank dieser beiden letzten Maßnahmen auch eine außerordentliche Entwicklung der Produktivkräfte einsetzen, die eine Aufhebung der Arbeitsteilung, ein Verschwinden des Gegensatzes zwischen körperlicher und geistiger Arbeit und vor allen Dingen eine Verwandlung der Arbeit in ein unmittelbares Lebensbedürfnis der Menschen nach sich zieht — bis der Grundsatz „ Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen" zu Recht besteht. Dann werden sich die Menschen an die Grundregeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens so gewöhnt haben und dann wird ihre Arbeit so produktiv geworden sein, daß

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sie freiwillig nach Maßgabe ihrer individuellen Fähigkeiten arbeiten. Der enge Horizont der Selbstsucht wird damit überschritten werden, und die Verteilung der Konsumtionsmittel wird nicht mehr von der Gesellschaft festgesetzt und überwacht zu werden brauchen. Das heißt aber: in freiem Ermessen wird jedermann nach seinen Bedürfnissen aus der gemeinsamen Produktion seinen notwendigen Anteil nehmen, ohne gegen die Interessen der anderen zu verstoßen und ohne ihren Einspruch hervorzurufen. Bis diese höhere Phase des Kommunismus eingetreten ist, fordert die Theorie indessen strengste Kontrolle der Gesellschaft und des Staates über das Maß der Arbeit und des Verbrauchs. Diese Kontrolle muß mit der Enteignung der Kapitalisten beginnen, aber nicht durch einen Beamtenstaat, sondern durch den Staat des bewaffneten Proletariats durchgeführt werden. Dieser Staat erfordert eine Umwandlung aller seiner Bürger in Arbeiter und Angestellte eines einzigen riesigen Syndikats und die völlige Unterordnung ihrer Arbeit unter jenes Ziel. Alle Menschen werden somit zu entlohnten Angestellten des Staates, zu Arbeitern eines Staatssyndikats, das das gesamte Volk umfaßt. Die ganze Gesellschaft muß, so heißt es wörtlich bei Lenin, ein einziges Büro, eine einzige Fabrik mit gleicher Arbeit und gleichem Lohn sein. Und deswegen sind die wichtigsten Momente, um die kommunistische Gesellschaft in ihrer ersten Phase in Gang zu setzen und in Betrieb zu halten, die vom Kapitalismus bis zum äußersten vereinfachten Mittel der Kontrolle und der Rechnungslegung — vor ihnen wird und darf sich schließlich niemand mehr retten können, weil sie universell geworden sind. Damit werden aber aus politischen Funktionen zuletzt einfach administrative Funktionen, und dies ist die Voraussetzung dafür, daß dann in der nächsten Phase — nach einem Wort von Engels — der Staat einfach abstirbt und wahre Freiheit eintreten kann. Denn nachdem alle Mitglieder der Gesellschaft gelernt haben, den Staat zu regieren oder vielmehr zu verwalten, verschwindet die Notwendigkeit des Regierens überhaupt, weil die Einhaltung der unkomplizierten Grundregeln des menschlichen Zusammenlebens allen sehr bald zur Gewohnheit geworden sein wird. Dies ist das eigentliche Ideal der kommunistischen Lehre, dessen Gestalt gewiß, dessen Verwirklichung insgesamt jedoch trotz aller Bestimmtheit im einzelnen unbestimmt bleiben muß, da man vorher nicht wissen kann, in welchem Tempo sich diese ganze Entwicklung abspielen wird. Es gründet in der Tat letztlich auf der Vorstellung einer allgemeinen Brüderlichkeit — falls der Mensch eines Tages wirklich so beschaffen wäre, daß sich die

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Zukunftshoffnung der höheren Phase des Kommunismus erfüllte, so würde jedermann v o n echt brüderlicher Gesinnung gegenüber dem andern getragen sein. Ohne Z w e i f e l verdeutlicht die vorstehend skizzierte leninistische Fassung der kommunistischen Ideologie in geradezu vollendeter A r t jene Korrespondenz von Ratio und Trieb, die unentrinnbare Voraussetzung aller modernen Heilslehren ist und damit auch deren Ende im Sinne des Offenbarwerdens bestimmt. D a s völlig durchrationalisierte Gesellschafts- und Wirtschaftssystem ist zugleich ein terroristisches System allgegenwärtiger und übersteigerter Macht, wie die völlig durchrationalisierte Revolution ein höchster Ausdruck triebhafter G e w a l t ist, die gar nicht mehr darauf Rücksicht nimmt, daß im Gegensatz zu M a r x ' Voraussage die Arbeiterklasse als Ganzes kein revolutionäres Bewußtsein entwickelt, sondern daß sich die revolutionäre Partei aus einer Minderheit gleichsam als Stoßtrupp konstituiert, der den latent gedachten allgemeinen Willen vollstreckt. Beide, Ratio und Trieb, sind also hier miteinander aufs innigste verschränkt, stehen eins für das andere, treiben sich gegenseitig an und halten sich wechselseitig in K r a f t . W i e die Revolution als politisch-soziale Entladung der Triebhaftigkeit in der organisierten Technik des Umsturzes und in der organisierten Eroberung der Macht durch den Stoßtrupp des Proletariats eine völlige Rationalisierung erfährt, so erfährt auch der Zustand der proletarischen Macht als eine unabsehbar lange Epoche der Formung und Erziehung des Menschen eine völlige Rationalisierung im strengen Kontrollstaat, dessen Z w a n g und Strafe niemand entrinnen kann, weil das menschliche Dasein bis in seine innersten Bezirke von der zentralen Aufsicht erfaßt wird. Im N a m e n der tatsächlichen Freiheit, der tatsächlichen Gleichheit, der tatsächlichen Brüderlichkeit wird hier also nach der erfolgreichen Beseitigung des Absolutismus, des Feudalismus und des Kapitalismus ein politisches System errichtet, das den Z w a n g und Druck der alten Gesellschaftssysteme in Wahrheit noch bei weitem übertrifft. Das Resultat der Ideologie ist jedenfalls eine kollektivistische Komplexform der alten, individualistischen Gesellschaftssysteme: Ein neuer Absolutismus der kleinen Z a h l höchster Funktionäre, ein neuer Feudalismus der Abhängigkeit von der allmächtigen Bürokratie als Besitzer von Privilegien, ein neuer Kapitalismus der Ausbeutung durch den Staat als einzigen Unternehmer. Das heißt aber, die Ideologie hebt sich als entschiedenste aller rationalen Heilslehren selber auf und endet, statt in einer Verbesserung, nur in einer Verschlechterung der

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menschlichen Zustände. Denn das dritte Ziel neben Revolution und Diktatur, die höhere Phase jener idealen Zukunftsform der Gesellschaft mit ihrer aller historischen Erfahrung widersprechenden Voraussetzung eines neuartigen Mensdientyps, bleibt in Anbetracht der grundlegenden Korrespondenz zwischen Ratio und Trieb ausschließlich abstrakte Konstruktion, Produkt reinen Denkens, rationale Vision, leere Schlußfolgerung ideologischer Prinzipien. Angesichts der von ihr tatsächlich bestimmten Wirklichkeit mit ihrem Zwang und Druck wird die Ideologie f ü r alle außerhalb Stehenden bloß zur Maske einer bis zur nackten Demonstration des Bösen schlechthin gesteigerten Befriedigung von Macht und Gewalt. Und je länger die rationale Vision dieser weltlichen Glaubenslehre das Handeln bestimmt, desto mehr wird sie zu solcher Maske, weil die immer tiefer wirkende Rationalität immer größere Ströme von Triebhaftigkeit entbindet — und zwar nicht allein Macht und Gewalt, sondern auch triebhaften H a ß und triebhafte Angst, die aus dem Unbewußten hervordringen. Für diese psychologische Situation der kommunistischen Ideologie stellt ihre stalinistische Fassung seit langem handgreifliche Belege in solcher Fülle zur Verfügung, daß in unserem Zusammenhang nur einige Andeutungen gegeben werden können. Nach der leninistischen Periode des Kommunismus, die noch vornehmlich mit den Problemen der Machtergreifung beschäftigt war, wird das Hauptproblem der stalinistischen Periode die Machtsicherung. Nachdem der Kontrollstaat errichtet ist, verschiebt sich langsam, aber unaufhaltsam und mit ebenso weitreichenden wie tiefgreifenden Folgen der Akzent der Ideologie von der weltrevolutionären Aufgabe des Kommunismus zur näherliegenden Aufgabe, den Sozialismus in einem einzigen Land lebensfähig zu machen und ihn unter allen Umständen zu sichern. Die Feindschaft gegen die kapitalistische Welt ringsum und die als Reaktion auf das schlechte Gewissen und den eigenen H a ß psychologisch durchaus verständliche Furcht vor dieser Welt wird allmählich zur fixen Idee und treibt nun vollends die Ideologie in das rettende Gehäuse eines strengen Dogmatismus und Doktrinarismus, der immer mehr das System der kommunistischen Herrschaft trägt — sie kann gar nicht Diktatur der Massen, sondern muß Diktatur einer kleinen Parteiclique sein, der die Ideologie immer mehr zum persönlichen Herrschaftsmittel wird, in dem nun plötzlich auch sehr folgerichtig nationalistische und panslawistische Züge auftreten. Erst in der stalinistischen Periode wird der dialektische Materialismus daher ganz scholastisch als Weltanschauung verkündet und verlangt, ausgelegt und

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II. Die modernen Ideologien

gelehrt. Hier ist alles Denken kausaler Zweckmäßigkeit unterworfen, alles Verhalten eine rationale Technik geworden, gleichzeitig aber mit nationalpolitischen und imperalistischen Impulsen bis an den Rand geladen — tödliche Nüchternheit in Verbindung mit glühendem Fanatismus bilden den kaltdrohenden Wesenszug der Welt, die im Bann dieser Fassung der Ideologie entsteht. Trockene Rationalität paart sich widerspruchslos mit triebhafter Leidenschaftlichkeit und erzeugt in einzigartiger Reinheit jene eigentümlich moderne Atmosphäre des vernünftigen Barbarismus, wie sie die Korrespondenz von Ratio und Trieb in zahllosen Verkleidungen auch anderswo in der Welt der technischen Zivilisation hervorruft — bloß dort nicht so unmittelbar wie hier, nicht so hüllenlos nackt und nicht so grausam bis zur schrecklichen Lähmung des Herzens. Aber diese Welt der vernünftigen Barbarei, in der das Herz des Menschen schweigen lernen muß, kann sich der Entwicklung nicht entziehen, die anscheinend unvermeidlich mit dem Ziel des „Sozialismus in einem Land" vorgezeichnet ist. Die rationale Ideologie entbindet nämlich, je vollkommener sie mit Plan und Reißbrett durchgeführt wird, nicht nur um so mehr und stärker, sondern auch um so vollständiger und umfassender die menschliche Triebhaftigkeit individueller wie kollektiver Erscheinungsform. Je länger daher der Kommunismus als radikaler Sozialismus in Rußland unter den Gesetzen seines ideologischen Zieles steht, desto weniger kommt er darum herum, auch seinerseits dem modernen Nationalismus als dem Kollektivegoismus der technischen Zivilisation seinen Tribut zu zollen, wie es überall der Fall ist, wohin das zivilisatorische Denken mit seiner Doppelgesichtigkeit dringt. Und entsprechend wandelt sich im Stalinismus die kommunistische Lehre als Herrschaftsmittel. Außer den ökonomischen Bedingungen, die nach der orthodoxen A u f fassung des historischen Materialismus das gesellschaftliche Leben bestimmen, gibt es auch noch andere entscheidende Faktoren des menschlichen Schicksals, wie man innerhalb des Stalinismus allmählich erkennt. Diese „Realdialektik" hat man bisher zu Unrecht übersehen: die lebendigen Menschen sind nicht bloß „Mannequins der Wirtschaft", sondern auch Glieder eines Volkes oder einer Völkergruppe mit eigenem Werdegang und selbständiger Überlieferung. Was Marx und Engels lehrten, so stellt man fest, gilt nur für bestimmte Epochen der Geschichte und ist selbst bloß Produkt einer begrenzten Periode, in der sich der Kapitalismus im Aufstieg befand und noch nicht monopolistisch geworden war. Das aber ist inzwischen

C. Kommunismus: Seine stalinistisdie Fassung

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geschehen, und gegen diesen Monopolkapitalismus bedarf der Sozialismus eines starken Staates, zumal wenn er sich in einem einzigen Land behaupten muß. Die These von Engels, daß der Staat nach dem Sieg der proletarischen Revolution unnötig werden und absterben würde, ist deshalb ebenso zeitbedingt, wie das Ideal der klassenlosen Gesellschaft situationsbedingt ist — das heißt, die Lehre von Marx braucht nicht in jedem Satz wörtlich genommen zu werden, denn allein der ihr innewohnende Geist ist wahrhaft zeitüberlegen und darum maßgebend. Infolgedessen erlaubt der richtig, also dialektisch verstandene Materialismus auch, diese aus der realen Lage des kommunistischen Staates in Rußland entstandene Einsicht zu einer neuen Geschichtsauffassung zu verarbeiten, vor der die bislang gültige abdanken muß. Geschichte wird mit anderen Worten für den Kommunismus jetzt sehr viel mehr als anonyme Gesellsrhaftskunde. Sie ist für den „Sozialismus in einem Land" nunmehr vor allen Dingen die Geschichte des russischen Volkes, das als slawische Nation eine stolze und reiche Vergangenheit mit bedeutenden historischen Vorläufern seiner gegenwärtigen und zukünftigen Größe als sozialistischer Heilsbringer besitzt. Und dies bedeutet im Problemzusammenhang unserer Darstellung der modernen Ideologien: nidit nur der Sozialismus in den westlichen Ländern Europas entwickelt dort, wo er — wie etwa in England, Frankreich oder Deutschland — offiziell oder inoffiziell zu Einfluß und Herrschaft gelangte, mit besonderer Heftigkeit einen politischen Nationalismus ausgeprägt materialistischer Art, sondern auch und gerade der ideologisch aus derselben Quelle stammende Kommunismus in Rußland, wo überdies noch alte religiöse Sendungsvorstellungen mit dem neuen Sendungsbewußtsein der weltlichen Heilslehre zusammentreffen, endet aus derselben inneren Gesetzmäßigkeit bei dem gleichen Resultat. Die übersteigerte Form der rationalen Ideologie entfesselt den Kollektivegoismus dort sogar in seiner politisch gefährlichsten, weil nur auf dem "Wege des Imperialismus zu befriedigenden Ausdrucksform — auf dem Wege des Imperialismus, den die kommunistische Ideologie denn auch nach dem zweiten Weltkrieg von Rußland aus offen und mit rücksichtsloser Energie beschritten hat. Der mit diesen Inhalten erfüllte dialektische Materialismus wird in seiner Rolle eines ideologischen Panzers mit geradezu inquisitorischer Strenge überall im eigenen Einflußbereich durchgesetzt. Als solcher gibt er in der historischen Entwicklung des kommunistischen Staates aber auch erst die eigentlidie Grundlage für eine schrankenlose Bejahung der Technik als

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II. Die modernen Ideologien

größter Veranstaltung der menschlichen Ratio ab, die Macht gewährt und Herrschaft sichert. In der Stellung der Technik innerhalb des kommunistischen Gesellschaftssystems, das ihr wie einem Moloch bedenkenlos unzählige Millionen von Menschen opfert, erhält denn auch der Fortschrittsgedanke der rationalen Denkform — gestützt von dem dialektisch durchgeformten nationalen Geschichtsbild, vom hochentwickelten Kollektivismus des straff zentralisierten Kontrollstaats und von der alles ergreifenden staatskapitalistischen Wirtschaftsplanung — eine unüberbietbar einseitige Verkörperung. Der Mensch lebt hier, indem sein ganzes Dasein äußerlich und innerlich aufs engste mit der Technik verflochten wird, in der extremsten Form und damit größten Knechtschaft des rationalen Fortschritts, die möglich ist. Und in folgerichtiger Entsprechung begleitet diese unmenschliche Technokratie die extremste Form der Triebhaftigkeit: der Mensch lebt hier zugleich in einem ideologisch begründeten System höchsten Zwanges, skrupellosester Gewaltsamkeit, äußerster Machtkonzentration, primitivster nationaler Selbstsucht, größter Angst, tiefsten Hasses — ihm kann nur entgehen, wer sich gleichsam als wirklicher Mensch totstellt, wer seine natürlich-geschichtliche Individualität aufgibt und blindes Rädchen im Getriebe der großen Gesellschaftsmaschine, Staubkorn im Kollektiv der Massenorganisation wird. Doch mitten in solcher rational-triebhaften Atmosphäre taucht mit der Zeit ein neues Moment auf, das wenig zu ihr passen will. Bei aller Prinzipientreue, mit der an der Ideologie des strikten Materialismus festgehalten wird, bei aller fortdauernden Strenge der Organe des Zwanges, bei aller Zunahme der haß- und angsterfüllten Abneigung gegen die übrige Welt sind Konzessionen an die lebendige Wirklichkeit der menschlichen Natur nicht zu umgehen. Audi wenn die Methode des dialektischen Denkens und Handelns sie als vorübergehende Umwege zum Ziel geschmeidig zu erklären gestattet, so stammen diese Konzessionen doch unverkennbar aus einem der Ideologie wesensmäßig fremden Horizont, den die reale Lage des bolschewistischen Staates je länger, desto hartnäckiger herbeizwingt. Es sind vor allem Zugeständnisse an die natürliche soziale Gliederung, an ein natürliches Rangsystem der unterschiedlichen Begabungen und Anlagen, an die natürliche Individualität des Menschen, Zugeständnisse an die natürlichen Gefühle für Heimat und Familie, Geschichte und Tradition, Sitte und Brauch, ja an die Religion oder etwa Zugeständnisse an die natürliche Volkstümlichkeit der verschiedenen Kunstarten, die einen offenen Widerspruch

D. Anarchismus und Syndikalismus

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zur rationalen Denkform der kommunistischen Ideologie darstellen. Denn mit ihnen werden die im ideologischen System bis zum äußersten gesteigerten Grundsätze dieser Denkform — Zukunfts- und Fortschrittsdenken, Zentralisierung und Generalisierung, Nivellierung und Kollektivierung usw. — an entscheidenden Punkten in der Praxis durchbrochen oder doch gelockert. In ihnen werden mit der Absicht, elementare Übergriffe des rationalen Denkens zu mildern oder gar zu korrigieren, mit vorsichtiger Dosierung gewisse Grundsätze eines ganz anderen Denkens zugelassen. Allerdings ergeben sich aus diesem erzwungenen Rückgriff vorläufig keine ernsthaften Konsequenzen für die Theorie. All solche Konzessionen bleiben nämlich in der Hand des Kontrollstaates taktische oder strategische Maßnahmen und müssen es bleiben, weil sie sonst denselben unheilbaren Bruch in die Ideologie tragen würden, wie ihn der moderne Liberalismus und Sozialismus tatsächlich zeigen. Derartige Konsequenzen wären andernfalls unvermeidlich der Anfang einer Preisgabe des kommunistischen Systems, das sich doch selbst als den eigentlichen Vorkämpfer des Fortschritts begreift und alle seine Widersacher unterschiedslos mit der stereotypen Formel von der „Reaktion" gegen die erlösende Weltrevolution verdammt.

D. A N A R C H I S M U S

UND

SYNDIKALISMUS

Anarchismus und Syndikalismus sind die Ideologien einer Auflösung des staatlichen Lebens zugunsten freier Vereinigung in kleinen Menschengruppen. Als solche sprengen sie jede gewachsene Form des sozialen Lebens in größeren Zusammenhängen, verneinen jede kulturelle und historische Tradition und begreifen den Menschen in der Isolierung vollkommener Freiheit und Selbstbestimmung. Sie sind in Wahrheit der gedankliche Ausdruck einer konsequenten Auflehnung gegen alle Bindung des Menschen, die aus der Verzweiflung oder dem Überdruß an der Zivilisation geboren wird. Ohne in der politischen Praxis der neueren Entwicklung den übrigen ideologischen Gedankensystemen an Einfluß und Wirkung gleichzukommen, stellen sie dennoch weitverbreitete und ständig mit im Spiel befindliche Strömungen vor allem im Untergrund des modernen Daseins dar, deren Bedeutung für das Verständnis der Ideologien als Gesamtheit keineswegs zu verkennen ist. Wenn auch der Anarchismus mit seiner bald zwei Jahrhunderte alten Ge-

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II. Die modernen Ideologien

sdiichte nicht in all seinen Äußerungen auf eine glatte Charakterformel zu bringen ist, so läßt sich insgesamt das Wesen beider Theorien dahin festlegen, daß die für das Zeitalter der rationalen Technik bezeichnende Entbindung der Triebhaftigkeit des modernen Menschen besonders klar, weil einseitig in ihnen zutage tritt. Nur lose durch eine rationale Zukunftsutopie zusammengehalten, schält sich ein reiner Aktivismus der Tat aus der ideologischen Entwicklung heraus und verbindet sich mit dem unbedingten Willen zur Auflösung des Bestehenden, in erster Linie des Kapitalismus und seines wirtschaftlich-gesellschaftlichen Systems — und zwar mit der Absicht, in dieser Auflösung zu verharren und lediglich kleinere Gruppen als sozial und politisch zweckmäßige Lebensform anzuerkennen. Auch hier wird infolgedessen von „föderaler Dezentralisierung" gesprochen. Aber es handelt sich dabei recht eigentlich um einen absoluten Partikularismus und Separatismus, der jeden Zusammenschluß von Gruppen zu einem größeren, gegliederten Ganzen im Prinzip verwirft, und insofern um etwas grundsätzlich anderes als die dezentralisierende Tendenz des konservativen Denkens zur Abwehr des Zentralismus der modernen Denkform. Dezentralisierung ist hier ein rein technisch-rationaler Begriff und meint nicht wie dort die individualisierende Differenzierung einer Gesamtstruktur, sondern zielt letzten Endes auf bloße Destruktion in friedlicher oder gewaltsamer Weise. Jede größere und höhere Ordnung mit ihrem Stufengefüge aus institutionellen Einrichtungen erscheint vom Standpunkt dieser Lehren aus als schlecht und wert, aufgelöst zu werden. Deshalb stehen denn auch bei dem Versuch zu ihrer Verwirklichung so oft Putsch und Terrorakt, Aufstand und Generalstreik im Mittelpunkt. Deshalb wird das triebhafte Element der Gewaltsamkeit so sehr in ihnen betont. Und deshalb konzentrieren sich ihre Gedankensysteme auf die von der direkten Aktion zu verändernde Gegenwart, in der die Zukunft gewissermaßen aufgeht. Schon diese allgemeine Kennzeichnung der beiden Lehren deutet an, daß sie gewisse Anklänge an die bisher behandelten Ideologien aufweisen. Ihre Ablehnung des Staates erinnert an das mit seinen unitarischen Neigungen seltsam kontrastierende Mißtrauen des Liberalismus gegen den Staat. Ihre Ablehnung des Kapitalismus erinnert an den in der Erkenntnis seines großen Gegners zu sich selbst gekommenen Sozialismus. Und ihr Wille zur radikalen Aktion erinnert an den Kommunismus mit seiner Theorie der Revolution. Ebenso gemahnt ihre Zukunftsutopie einer freien Vereinigung

D. Anarchismus und Syndikalismus: Der theoretische Anarchismus

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von kleinen Produktionsgenossenschaften, so blaß sie bleibt, in ihrer abstrakten Wirklichkeitsferne unverkennbar an die Zukunftsvorstellungen des Liberalismus, Sozialismus und Kommunismus. Und tatsächlich sind auch in den verschiedenen Entwicklungsstadien des Anarchismus sowie des Syndikalismus immer wieder liberale, sozialistische und kommunistische Einschläge zu bemerken. Dies erklärt sich ohne weiteres daraus, daß für sie die Ideale, denen ihr Glaube gilt, ebenfalls Freiheit und Gleichheit und Brüderlichkeit heißen — Anarchismus und Syndikalismus sind ja gleichfalls Ideologien des technischen Zeitalters, dessen Denkform die Vorstellung von und den Drang nach Freiheit und Gleichheit zwangsläufig als zentrales Anliegen gebiert. Dennoch ist die Auslegung, die diesen Idealen hier im einzelnen zuteil wird, so eigenartig, daß die gedachte und erstrebte Form ihrer Verwirklichung auch zu anderen und selbständigen ideologischen Systemen führt, die den Rang säkularisierter Glaubenslehren gewinnen. Der Begründer des älteren, sogenannten theoretischen Anarchismus war gegen Ende des 18. Jahrhunderts W. Godwin, dessen Einfluß jedoch1 gering blieb. Sehr viel größeren Einfluß erlangten dagegen noch vor der Mitte des 19. Jahrhunderts P. J. Proudhon und etwa gleichzeitig M. Stirner. Ihre Lehre, deren bedeutendster und auch heute noch einflußreicher Vertreter Proudhon war, bezweckt eine radikale 'Sozialreform auf friedlichem Wege — sie ist so radikal, daß Proudhon selbst sie später als ein unerreichbares Ideal bezeichnet hat. Ihr wesentlicher Inhalt läßt sich folgendermaßen zusammenfassen: Das Wichtigste aller politischen Rechte des Menschen stellt das Recht auf freie Vereinigung und jederzeitige Wiederauflösung dieser Vereinigung dar. Denn der ideale Zustand der menschlichen Gesellschaft ist dann gegeben, wenn jedermann sich bloß durch seinen eigenen Willen in vollkommener Freiheit regiert. Um diesen Zustand zu erreichen, ist eine Abschaffung des Staates in all seinen religiösen, rechtlichen und sozialen Formen erforderlich. Erst dann vermag sich nämlich durch die freie Initiative freier Individuen eine freie Organisation von freien Gruppen zu bilden, in denen die Menschen friedlich zusammen leben und nicht mehr Gesetzen gehorchen müssen. Diese kleinen Gruppen sollen lediglich durch Verträge gebunden sein, die jederzeit durch einfachen Entschluß jedes Einzelnen für sich selbst wieder aufgelöst werden können — allerdings wird die Erfüllung solcher Verträge in der Praxis notfalls doch mit Gewalt erzwungen werden müssen, da ihre Norm nicht nur auf der Gerechtigkeit, sondern auch auf dem Willen der Mehrheit fußt.

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II. Die modernen Ideologien

Es geht diesem Anarchismus also prinzipiell um die Aufhebung sämtlicher Abhängigkeits-, Herrschafts- und Zwangsverhältnisse in der Gesellschaft, um eine völlige Loslösung des Individuums aus allen Bindungen, die seinen freien Willen einengen, um ein Heraustreten aus Geschichte und Gemeinschaft, Tradition und Konvention, Gesetz und Recht, Sitte und Brauch. Das heißt, es geht um einen ganz und gar konsequenten, bis zum letzten Extrem gesteigerten Individualismus im sozialen und politischen Leben. Dieses herrschafts- und obrigkeitslose System des individualistischen Anarchismus, dessen Vertragsdenken an das Naturrecht des Liberalismus erinnert, erhält nun bei Proudhon (1809—1865) seine Ausfüllung durch eine neue Gesellschaftsordnung, die auf zwei Säulen ruht: auf einer neuen Eigentumslehre und auf einer neuen wirtschaftlichen Wertlehre. Wirkliche Gleichheit unter den Menschen kann nach Proudhon weder in einer kommunistischen Gütergemeinschaft noch in einer sozialistischen Erwerbsgemeinschaft erzielt werden, sondern nur durch gleiche Arbeitsbedingungen und gleiche Arbeitslöhne, worauf alle Menschen den gleichen Anspruch haben. Erstere werden durch die Beseitigung des Prioritätsrechts des Besitzens, letztere durch die Beseitigung der Vorrechte des persönlichen Talents herbeigeführt. Zur Herstellung gleicher Arbeitsbedingungen für alle muß das Eigentum im alten Sinne abgeschafft werden — das ist der Inhalt seines bekannten Satzes „Eigentum ist DiebstahlEigentum darf nur als persönlich erarbeiteter Sonderbesitz bestehen, sonst ist es in Wahrheit nichts anderes als Diebstahl, der das Mittel zur Unterjochung fremder Menschen bietet. Wer eine Sache nicht selber bearbeitet, sondern anderen zur Bearbeitung übergibt oder überläßt, verliert daher seinen Besitz. Zur Herstellung der gleichen Arbeitslöhne für alle muß ferner der Wert der produzierten Güter aus dem Zufallsspiel von Angebot und Nachfrage herausgenommen und einem neuen Maßstab unterstellt werden. Diesen Maßstab bildet die bei der Produktion aufgewendete Menge an Zeit und Mühe, vor allem aber die Arbeitszeit. Denn der bestimmende Faktor aller Produkte der menschlichen Wirtschaft kann bloß die geleistete Arbeit sein — dies ist der Kern der Proudhonschen Wertlehre, die zu den Vorläufern der Mehrwerttheorie von Marx gehört. Der wahre Wert aller Produkte liegt nach dieser völlig unhistorisdien, ja antihistorischen Lehre allein in der Arbeit, die sie erfordern, und kann nicht etwa von der Qualität oder der Nachfrage abhängig sein. Jede andere Bewertung der Produktion als Zeit und Mühe benachteiligt den Arbeiter und

D. Anarchismus und Syndikalismus: Der revolutionäre Anarchismus

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führt durch die Ungerechtigkeit beim gegenseitigen Tausch der verschiedenen Arbeitsprodukte zur Ungleichheit, die die mächtigste Ursache allen Elends auf der "Welt ist. Die neue Gesellschaft hat darum die Aufgabe, die Tauschgerechtigkeit — auch hier taucht wieder die Vorstellung einer Tauschbank auf, die Anrechtsscheine für die eingelieferten Güter ausgibt — zu garantieren, indem sie die Preise aller Produkte und Leistungen nach dem Maßstab der Arbeitszeit öffentlich festsetzt und alle Einflüsse der Qualität oder der Nachfrage und überhaupt alle natürlichen Faktoren der Preisbildung ausschaltet. Und das um so mehr, als die menschlichen Talente nur der Art nach, nicht aber dem Grade nach verschieden sind, was eine Folge der Arbeitsteilung und der bisherigen Zivilisation ist. Das größere Talent kann deswegen auch bloß höhere Achtung in der Gesellschaft, jedoch keineswegs höhere Bezahlung für die Qualität seiner Arbeit erhalten. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts trat dann der neuere, revolutionäre Anarchismus auf. Seine bekanntesten Verfechter sind Bakunin (1814 bis 1876) und Krapotkin (1842—1921), und seine bedeutendste Organisation war der sogenannte Jurabund in der Schweiz, dessen weitverzweigter ideologischer Einfluß vor allem in den romanischen Ländern noch bis ins 20. Jahrhundert nachwirkte. Lag der Nachdruck der älteren Fassung der Ideologie auf der rationalen Konstruktion eines ganz abstrakt konzipierten Ideals der künftigen Gesellschaftsordnung, so rückte jetzt im Einklang mit der verborgenen geistig-seelischen Entwicklung der Epoche allmählich das Element der Gewalt, des Terrors, des Umsturzes, der Revolution in den Vordergrund. Anarchismus bedeutet nun im Vokabular der modernen Sprache der Politik: Zerstörung und Vernichtung, Bluttat und Mord, Attentat und Putsch, revolutionäre Geheimorganisation und dergleichen. Und ganz folgerichtig wird der strenge Individualismus der bisherigen Fassung aufgegeben und durch kollektivistische Gedankengänge ersetzt — das restlos entbundene Individuum geht in der amorphen Form des Kollektivs unter. Damit ist der Weg vorgezeichnet, auf dem sich an die Stelle des für jeden Menschen erstrebten Sondereigentums alsbald das kommunistische Ideal der Gütergemeinschaft schiebt. Doch ist dieser Wandel in den Anschauungen über das Eigentum nur ein Punkt in der Neufassung der Ideologie. Denn die gesamte Lehre erfährt nunmehr eine scharfe Akzentuierung nach dem Triebhaften hin: Jeder Staat, jede Herrschaft, jede Macht, jede Autorität sind ihrer Natur nach böse. Infolgedessen ist es Recht und Pflicht des Menschen, alle Formen der Autorität, 9 Mühlenfeld, Politik

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II. Die modernen Ideologien

der Macht, der Herrschaft und des Staates wo auch immer anzugreifen und zu zerstören. Wille, Denken und Tun des Menschen haben sich daher hauptsächlich auf dieses Recht und diese Pflidit zu konzentrieren, ohne viel danach zu fragen, was nachher kommt. Denn dieser Anarchismus glaubt an die Fruchtbarkeit der Zerstörung an sich. Für Bakunin, dessen Anschauungen gleich denen seines Landsmannes Krapotkin aus den Zuständen des damaligen späten Absolutismus in Rußland erwachsen waren, ist die Lust des Zerstörens ein schaffendes Erlebnis, ist Vernichtung ein schöpferisches Werk, ist Umsturz aus sich selbst heraus Geburt des Neuen, das von vornherein besser ist als das Alte. Gesetze und Verfassungen, Bräuche und institutionelle Einrichtungen sind unter solchem Aspekt sämtlich vom Übel und müssen als sinnlose Fesseln des menschlichen Lebens verschwinden, damit eine wahrhaft freie Welt zu entstehen vermag. Erst in der gänzlich gesetzlosen Gesellschaft kann sich der Mensch seinem eigentlichen Wesen gemäß verwirklichen, kann er echte Freiheit erlangen. Für Bakunin, dessen manischer Autoritätshaß ohne die Zurückführung auf die Selbstherrscherschaft in seiner russischen Heimat nicht zu verstehen ist, war im Gegensatz zu Marx nicht das Kapital, sondern der Staat das große Übel der modernen Gesellschaft und das große Hindernis für die Verwirklichung von Freiheit, Gleichheit Und Brüderlichkeit im buchstäblichen Sinne des Wortes. Denn der Staat ist die ältere, ursprüngliche Form sozialer und politischer Unterdrückung und Ausbeutung, das Kapital dagegen bloß die jüngere, abgeleitete Form, die mit jener zugleich verschwinden wird. Der Staat stellt in Wahrheit die Inkarnation des Bösen dar und wäre — einst von Eroberern zur organisierten Versklavung der Unterworfenen geschaffen — selbst in den Händen des revolutionären Proletariats ein Instrument, das alles mit seinem Zwang vergiftet. Seine letzte Wurzel aber liegt im Glauben an Gott, der gewissermaßen der Lehnsherr aller Autorität, aller Unterdrückung und Ausbeutung ist. Deshalb muß der radikalen Ablehnung des Staates auch die radikale Ablehnung der Religion zur Seite treten. Und das anarchistische Ziel heißt infolgedessen Zertrümmerung, nicht nur Besitzergreifung des Staates und außerdem Abschaffung Gottes, nicht nur der Kirche. Ist das auf dem Wege der Gewalt geschehen, dann beginnt vom ersten Tage an die wahre Gleichheit der brüderlichen Gemeinschaft der Menschen, deren Natur bloß von der Autorität verdorben wurde, an sich jedoch gut und auf freiwillige Solidarität angelegt ist. Daraus geht hervor, daß in der langdauernden Entwicklung der Zivili-

D. Anarchismus und Syndikalismus: Der revolutionäre Anarchismus

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sation auch der Anarchismus der zeitbedingten Korrespondenz zwischen Ratio und Trieb einen Ausdruck besonderer Art verleiht — er mischt gewissermaßen nur die Grundelemente, die ebenfalls den Liberalismus, Sozialismus und Kommunismus bilden, in neuer Weise. Aus den bis zum radikalen Ende gedachten Prinzipien der Freiheit und Gleichheit entsteht zunächst eine reformistische und später eine revolutionäre Lehre, die jede Sozialform erst friedlich und dann gewaltsam beseitigen will, um nur nodi die amorphe Gruppe übrig zu lassen. Aus der gänzlichen Unbedingtheit dieses Strebens, das die Einstellung gegenüber dem politisch-geschichtlichen Leben schließlich zur beispiellosen Schroffheit einer umfassenden Zerstörung des Bestehenden um ihrer selbst willen steigert, läßt sich denn auch die geringe Resonanz verstehen, die der Anarchismus bei den jeweiligen Zeitgenossen fand und findet. Sogar Marx, der doch in seinem ideologischen System selber der Gewalt einen bedeutenden Platz eingeräumt hatte, mußte Bakunin schließlich bekämpfen. Wo jede Macht und jede Autorität als böse verworfen wird, da können auch Sozialismus und Kommunismus als Organisationen der vom Kapitalismus ausgebeuteten Industriearbeiterschaft nicht hoffen, zur Herrschaft zu kommen und eine feste Zukunftsordnung der Gesellschaft zu errichten. Denn die klassenlose Gesellschaft kann doch keineswegs herrschaftslose Gesellschaft sein, obwohl in ihr nicht mehr konkrete Personen, sondern abstrakte Gesetze herrschen sollen. Audi Marx wollte einreißen und zerstören, aber ideologisch bloß mit der Absicht, neuere und bessere Einrichtungen und Regeln an die Stelle der alten und schlechten zu setzen, mit deren Hilfe die Menschen glücklicher als bisher zu leben vermögen. Vor dieser triebhaften Gewalt als Zerstörung und Vernichtung alles Bestehenden, das sich in der Herrschaft der besitzenden Schichten der modernen Gesellschaft verkörpert, verblaßte die rationale Zukunftsutopie der Begründer des Anarchismus in seiner zweiten Fassung immer mehr. War anfangs die revolutionäre Gewalttat noch vielfach: Mittel zur Propaganda für das eigentliche anarchistische Ziel einer herrschaftslosen Gesellschaftsordnung, so wurde sie doch bald zum tatsächlichen Programm der Ideologie. Die Zukunftsutopie aber geriet darüber schließlich ganz in den Hintergrund, um dort ein Dasein zu führen, das ebenso schemenhaft wie ihr abstraktes Menschenbild und ihre künstlich erdachte Form der sozialen Beziehung zwischen den Menschen blieb. Krapotkin, der neben Proudhon dieser unbestimmten und unklaren 9*

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II. Die modernen Ideologien

Utopie noch die eindringlichste Darstellung gegeben hat, faßt den Menschen als ein von Natur aus gutes und vernünftiges Wesen auf, dessen natürliche Fähigkeiten in den zahlreichen Formen der Herrschaft unterdrückt werden und daher verkümmern. Nur durch eine ganz im Zuge der unaufhaltsamen Flut des Fortschritts liegende Beseitigung dieser vom Staat bewirkten und unterstützten Unterdrückung und das heißt durch Abschaffung der Herrschaft der Besitzenden darf man hoffen, diese Verkümmerung wieder rückgängig zu machen. Erst wenn der Staat verschwunden ist, können sich die eigentlichen Anlagen des Menschen, die im Antrieb zur gegenseitigen Hilfe gipfeln, ungehemmt entfalten und auswirken. Gegenseitige Hilfe, so weist Krapotkin mit einprägsamen Beispielen nach, ist nämlich viel bezeichnender und wichtiger für das menschliche Leben als der Kampf ums Dasein — es gibt keine Schändlichkeit in der gesitteten Gesellschaft, im Verhältnis der Europäer zu den Kolonialvölkern oder in der Beziehung zwischen Starken und Schwachen überhaupt, so meint er, die nicht mit dieser ebenso falschen wie erbarmungslosen Formel Darwins entschuldigt worden wäre. Deshalb entwickelt sich aus der entgegengesetzten Grundauffassung des Mensdienwesens auch ganz zwanglos die Konzeption der zukünftigen Gesellschaftsordnung. Alle sozialen Beziehungen, von der Ehe bis zur Wirtschaftsordnung, müssen auf freiwilligen und jederzeit wieder lösbaren Vereinbarungen beruhen, um das größte menschliche Glück zu ermöglichen, dem höchstens noch Schiedsgerichte dienen können, niemals aber eine Regierung. In solch unverwechselbarer Eigenart seiner Verbindung von Triebhaftigkeit und Rationalität geht der Anarchismus dann ins 20. Jahrhundert, um nach jedem der großen Weltkriege eine andere Gestalt anzunehmen, deren Einfluß weit über ihre Ursprungsländer hinausreicht. In deutscher Sprache niedergelegt, entwickelte die anarchistische Ideologie nach dem ersten Weltkrieg etwa folgende Gedankengänge: Der Mensch muß alles zerstören, um gut sein zu können. Denn in der jeweils vorhandenen Seinsordnung — die unterschiedslos alle Variationen einer Regelung des menschlichen Zusammenlebens durch Autorität umfaßt: von der Monarchie bis zur Republik, vom Feudalismus bis zum Absolutismus, vom Polizeistaat bis zum Rechtsstaat, vom Kapitalismus bis zum Sozialismus — ist das Böse und Wertlose selbst Form geworden. Demgegenüber liegt alles Gute und Wertvolle in der radikalen Veränderung, im gewaltsamen Umsturz, in der Revolution beschlossen. Vor dieser alternativen Vereinfachung, die das geschichtliche Leben in utopischer Abstraktion von

D. Anarchismus und Syndikalismus: Der Neoanardiismus

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der Wirklichkeit als ein ruheloses Pendeln zwischen immer und von sich aus schlechten Seinsordnungen und immer und von sich aus guten Revolutionen begreift, verflüchtigt sich daher die Möglichkeit der Entwicklung überhaupt. Einzig die absichtliche Vertilgung des Bestehenden birgt den Fortschritt, ja die Destruktion ist in Wahrheit der Fortschritt selber — die letzte Konsequenz des rationalen Denkens, der unaufhörliche Fortschritt, fällt demnach mit dem höchsten Ausdruck der Triebhaftigkeit, der nackten Gewalt in Form dauernder Zerstörung aller Ordnung, zusammen. Bei jeder Seinsordnung liegen, wie sie auch beschaffen sein mag, die Kräfte des Fortschritts allein in der gewaltsamen Umwälzung, die nach ihrem Durdibruch nicht rasten darf, bis auch das letzte Gesetz und die letzte Institution vernichtet sind, die aus der Vergangenheit stammen und den Fortschritt aufhalten. Deshalb muß man der Vergangenheit mit tödlicher Feindschaft begegnen, wo man sie trifft, um die bessere Zukunft zu gewinnen. Jeder Terrorakt, jede Gewalttat, jede Zerstörung der vorhandenen Ordnung ist ein Schritt auf dieses Ziel hin, das in der Gesamtkonzeption der Heilslehre seinen Sinn findet und seine Rechtfertigung erfährt. Nach dem zweiten Weltkrieg aber war die Situation wie für die anderen Ideologien so auch für den Anarchismus, der allem Anschein nach eine ständige geistige Begleiterscheinung der modernen Zivilisation bildet, völlig anders. Die jüngste Version der anarchistischen Ideologie stellt denn auch eine ohne weiteres als solche erkennbare Reaktion auf die riesige Ballung von Gewalt und Zerstörung dar, die mit dieser Krise und Katastrophe die Menschheit heimsuchte. Vermochte der vorige Krieg noch Hoffnungen auf die Geburt einer neuen und besseren Gesellschaftsordnung aus den Trümmern der alten zu erwecken, so brachte dieser letzte Krieg den zwingenden Beweis, daß nicht schon aus der Zerstörung selbst zwangsläufig das bessere Neue erwächst. Dementsprechend kehrt nun der kleine Kreis von Intellektuellen, der einer aus den Fugen geratenen Welt in englischer Sprache die neueste Fassung der Ideologie verkündet, zum friedlichen Anarchismus der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts zurück — allerdings unter zeitgemäßer Anpassung der alten Zukunftsvorstellung an die veränderten Umstände der Gegenwart. Denn der revolutionäre Anarchismus der zweiten Hälfte des 19. und des ersten Viertels des 20. Jahrhunderts, der mit seiner Verherrlichung der Gewalt und seiner Entwertung jeder Seinsordnung auf Bakunin zurückgeht, hat bei diesen Neoanarchisten, die das Unheil des neuen Weltkrieges schon vor dessen Ausbruch kommen sahen, seine An-

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II. Die modernen Ideologien

ziehungskraft völlig eingebüßt. Nach den Erlebnissen und Erfahrungen des entfesselten technischen Großkrieges mit seinem alles verschlingenden Chaos der Verwüstung kann die Gewalt auf keinen Fall mehr als Geburtshelfer der Zukunft gelten. Die gedankliche Konzeption, die sich auf Piaton und Aristoteles, Rousseau und Burckhardt, Proudhon und Krapotkin als ihre geistigen Ahnen beruft, sieht infolgedessen jetzt, entkleidet man sie gewisser philosophischer Abwege in die Mystik des Ostens, folgendermaßen aus: Liberalismus und Sozialismus beschließen die Unterdriickung der Freiheit und damit Ungleichheit in sich. Denn der Liberalismus führt zur Sammlung der wirtschaftlichen und dann auch der politischen Macht in der Hand einer oligarchischen Minderheit, und der Sozialismus endet in der Diktatur einer Partei, die mit dem Staat identisch ist. Politische und geistige Freiheit wird deshalb unvereinbar mit einer vom Staat organisierten und exekutierten sozialen Gerechtigkeit, die immer zu der einen oder anderen Form von Totalitarismus neigt. W o eine große, wirtschaftlich und politisch zentralisierte Staatsapparatur besteht, da muß stets Unfreiheit und Ungerechtigkeit herrschen, in der der einzelne Mensch seine Persönlichkeit verliert und zu einem Atom der Masse wird. Den einzigen Ausweg aus solcher Lage bietet eine Beseitigung des zentralistiscben Einheitsstaates und die Errichtung von vielen kleinen Gemeinschaften, die sich dank des technischen Fortschritts selbst zu erhalten vermögen. Nur in dieser Gestalt ist eine Sozialordnung ohne Vorschriften und Diktate möglich. Bloß in der kleinen menschlichen Gemeinschaft läßt sich wahre Demokratie realisieren, ohne zur Gier nach Macht und Besitz zu führen, wie es in größeren Sozialgebilden notwendig der Fall sein muß. Deswegen ist der Anarchismus, der den Staat abschaffen will, die einzige Ideologie, die den Menschen der Gegenwart aus dem Dilemma herausführen kann, in das sich Ethik und Politik auf der Höhe des technischen Zeitalters verstrickt sehen. Das Moment der Gewalt, das den Anarchismus der vergangenen hundert Jahre so entscheidend bestimmte, ist also weggefallen, und übrig bleibt die zeitgemäße Ablehnung des hochzentralisierten Einheitsstaates mit dem alten Ziel einer Errichtung vieler kleiner Gemeinschaften, die selbstgenügsam ihren eigenen Bedarf produzieren. Diese blasse Konstruktion der anarchistischen Zukunftsutopie jedoch, die nach der Verabschiedung der gewaltrevolutionären Aktion in einer neuerlichen Akzentverschiebung wieder in den Vordergrund rückt, erfährt nun dadurch eine Aktualisierung, daß sie noch

D. Anarchismus und Syndikalismus: Der Neoanardiismus

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enger als einst mit dem rationalen Fortschritt gekoppelt wird. Die Wissenschaft soll nämlich die Hilfsquellen der Welt bis ins letzte erschließen, um den kleinen Produktionsgenossenschaften die Existenz zu ermöglichen. Gewalt und Fortschritt fallen mithin nicht mehr zusammen, sondern lediglich der wissenschaftlich-technisch-zivilisatorische Fortschritt wird unter Verstärkung und Beschleunigung seiner Tendenzen zentral in den Dienst der Zukunftsutopie gestellt. Damit aber bleibt im ideologischen System die grundlegende Korrespondenz von Ratio und Trieb im Menschen selber unberücksichtigt. Ihr wird nur mit dem Staat eine der mächtigsten Ausdrucksformen genommen. Die entscheidende Frage indessen, was mit der Triebhaftigkeit geschieht, die durch die wissenschaftlich-technisch-zivilisatorische Welt der modernen Rationalität entbunden wird, erhält keine Antwort, da sie gar nicht bemerkt wird. Aber auch1 abgesehen davon ist ja der gegenwärtige Staat entwidklungsgeschichtlich und entwicklungspsychologisdi nichts anderes als das Korrelat von Wissenschaft, Technik und Zivilisation. Er bildet überdies bevölkerungspolitisch und wirtschaftstechnisch die unerläßliche Voraussetzung des menschlichen Daseins im Zeitalter der Massen. Die Dogmatik der anarchistischen Ideologie schafft ihn zwar ab, ändert jedoch in der Tiefe nichts an derjenigen menschlichen Situation, die ihn erst zu einem alles verschlingenden Moloch werden ließ. So wird lediglich ein Weg der Triebbefriedigung vermauert, die Triebentbindung als die eigentliche Quelle des Unheils aber durch die verstärkte Betonung des rationalen Fortschritts um so mehr in Gang gehalten. Diese Blindheit für das eigentliche Wesen und die wahre Wurzel der großen Krise der modernen Zivilisation ist auch der Grund für den Irrtum, die Stichhaltigkeit und Durchführbarkeit der neoanarchistischen Zukunftsutopie mit der spärlichen Reihe von erfolgreichen Gründungen kleiner Lebensgemeinschaften beweisen zu können, die hier und da schon vorhanden sind oder waren — in Mexiko, USA, Palästina, Frankreich usw. All diese Gemeinschaften, deren Vorläufer die utopischen Gruppen der idealistischen Sozialisten wie etwa Owens „home colonies" waren, sind nur im Rahmen eines größeren staatlichen und wirtschaftlichen Gefüges möglich und stellen gewissermaßen experimentelle Versuche dar, die vom Vorhandensein eines hochorganisierten Laboratoriums abhängig bleiben, in dessen Gesamtbetrieb sie als Ausnahmefälle stattfinden. Sofern sie das anarchistische Ideal tatsächlich rein verwirklichen, sind sie Inseln der Utopie in der Wirklichkeit. Ihre Lebensform kann nicht zum Prinzip für diese Wirklichkeit als Ganzes

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II. Die modernen Ideologien

gemacht werden, weil der technische Fortschritt, der ihnen als Ausnahme von der Regel zum Dasein verhilft, eben das Maß an zentraler Organisation und Konzentration der Kräfte verlangt, das der Anarchismus mit dem ganzen Staat einfach abschaffen will, ohne die Art dieser Abschaffung näher zu erörtern. Obendrein erfordert schon die Aufrichtung der Inselform in der Sozialordnung Bedingungen, die höchstens mit Zwang und Gewalt allgemein durchzusetzen wären und damit wieder da enden, wo alle Ideologien der Freiheit und Gleichheit aus psychologischen Gründen unvermeidlich enden müssen. Verwirklichen solche Gemeinschaften dagegen das anarchistische Ideal nicht in voller Reinheit, das heißt sind sie nicht strikt partikularistische, sondern echt föderalistische Dezentralisierungsformen der Gesellschaft, so beanspruchen sie den Namen des Anarchismus zu Unrecht. Sie sind dann unwissentlich bloß Anwendungen einer Denkform, die dem eigenen Denken des Anarchismus entgegengesetzt ist, und damit Anzeichen für die gleiche Notwendigkeit zur Selbstwiderlegung und Selbstaufgabe des rationalen Denkens in der Politik überhaupt, der wir auch bei den anderen Ideologien schon als letztem Ausweg aus der Notlage des technischen Zeitalters begegneten. Ob allerdings der Anarchismus vor allem in den romanischen Ländern, den seine neuen Theoretiker als Bestätigung ihrer Gedankengänge ansehen möchten, die ihm von der Zeit aufgedrängte Wendung von der partikularistischen zur föderalistischen Dezentralisation, von der revolutionären zur evolutionären Form, vom utopisch-destruktiven zum realistischen Strukturdenken vollziehen wird oder kann, darf angesichts der Korrespondenz von Ratio und Trieb bezweifelt werden. Denn es ist nicht einzusehen, warum sich die entbundene Triebhaftigkeit des modernen Menschen in kleinen Gruppen weniger kraß ausleben sollte als in den großen Gliederungen des Staates, sofern das menschliche Dasein nach wie vor einseitig vom Denken des rationalen Fortschritts bestimmt bleibt. Der Syndikalismus ist, innerhalb der eingangs für beide Lehren gegebenen Kennzeichnung, die vornehmlich in romanischen Ländern verbreitete besondere Ideologie der „direkten AktionMit dem Sozialismus und dem Kommunismus verwandt, am meisten aber dem revolutionären Anarchismus ähnlich, steht auch im Mittelpunkt des syndikalistischen Sinnens und Trachtens die Gewalt. Hingegen fehlt dieser vergleichsweise jungen, aus der gewerkschaftlichen Bewegung stammenden Ideologie der sektenhafte Charakter und der chiliastische Einschlag der oft mit ihr verwechselten anarchistischen Lehre. Als solcher ist der Syndikalismus im Gegensatz zum

D. Anarchismus und Syndikalismus: Der Syndikalismus

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revolutionären Anarchismus eine typische Klassen- und Massenbewegung, deren letztes Ziel eine herrscbaftslose Gesellschaftsform mit genossenschaftlichem Besitz der Fabriken bildet. Zur Verwirklichung dieses Zieles taugt jedoch die meist indirekt und friedlich bleibende Aktion der Gewerkschaftsfunktionäre und Parlamentarier nicht. Denn der parlamentarische und gewerkschaftliche Sozialismus führt gern zu einer Praxis der Konzessionen und Kompromisse, mit dem die Berufspolitiker die Befreiung der abhängigen und unterdrückten Klassen vom Unternehmertum notwendig verfälschen und im Endeffekt verunmöglichen. Vielmehr kann dieses Ziel allein durch die dir.ekte, gewaltrevolutionäre Aktion der Arbeiter selbst erreicht werden — und dieser Aufgabe dient die syndikalistische Lehre mit einer unbedingten Radikalisierung des in den Fabriken arbeitenden Proletariats. Der bekannteste Theoretiker des Syndikalismus, Georges Sorel (1847 bis 1922), hat zu Beginn unseres Jahrhunderts eine ganze Philosophie der Gewalt entwickelt, die auf die beiden noch jüngeren Ideologien des Kommunismus und des Faschismus tief und untergründig eingewirkt und vor allen Dingen den letzteren in seinen verwickelten Anfängen entscheidend beeinflußt hat. Sorel war bei der Aufstellung seiner Ideen über Bedeutung und Rolle der Gewalt zweifellos weitgehend von Marx, doch noch stärker von Nietzsches Gedanken über die Macht und den Übermenschen beeindruckt. Unter seinem Einfluß wurde das Zentrum der syndikalistischen Lehre die Vorstellung vom Generalstreik als dem größten Mittel im wirtschaftlichen Kampf der ausgebeuteten Bevölkerungsschichten gegen das Unternehmertum. Das unmittelbare Ziel dieses Kampfes, der sich außerdem als geringerer Mittel noch der Sabotage und des Boykotts bedient, ist die unausgesetzte Störung des Wirtschaftsfriedens, insbesondere eine Unterbrechung des Produktions- und Verkehrsprozesses, die von syndikalistischen Gewerkvereinen durchgeführt werden muß. In der ideologischen Sicht des Syndikalismus wird der Generalstreik aber weit über seine eigentlich praktische "Wirkung und Aufgabe hinaus zu einem sozialen Mythos, der den Willen zur revolutionären Tat, zur direkten Aktion der Gewalt in den abhängigen Klassen hervorruft, wirksam macht und wachhält — sei es auch bloß als niemals voll zu erfüllendes Postulat. Der Generalstreik als sozialer Mythos trägt seinen lebendigen Sinn nämlich in sich selbst, ohne Rüdssicht auf einen möglichen Erfolg. Er gilt nicht oder doch nicht in erster Linie der Befriedigung von praktischen Forderungen, wie sie etwa Lohnerhöhungen darstellen, sondern in ihm werden Gewalt, Konflikt und Wagnis, in den Rang eines

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II. Die modernen Ideologien

eigenen Wertes erhoben, zum Selbstzweck. Gewalt, Konflikt und Wagnis sind — ähnlich wie der Zerstörung schon als solcher und von sich aus nach der Auffassung des revolutionären Anarchismus eine schöpferisch zeugende Fruchtbarkeit innewohnt — in Wahrheit nichts anderes als Geburtshelfer der sozialen Erneuerung, die die natürlichen und heroischen Tugenden des Menschen, nachdem sie in der bisherigen Entwicklung der Gesellschaft verschüttet worden sind, wieder freilegen und zu neuem Leben erwecken. Jenseits seines sozialen Mythos vom Generalstreik zeigt der Syndikalismus kein unmittelbares Interesse am politischen Geschehen des Tages, was ihn allerdings nicht hindert, gegebenenfalls mit den Anhängern anderer radikaler Ideologien gemeinsame Sache zu machen. Wie der revolutionäre Anarchismus alles weitere, was nachher kommt, der spontanen Schöpferkraft der Zerstörung überläßt, so vertraut der Syndikalismus der geheimnisvollen Trächtigkeit seines sozialen Mythos die spätere Entwicklung der Dinge an. Seine Vorstellung von der Zukunft ist denn auch noch farbloser und unbestimmter als die Zukunftsutopie des Anarchismus. Kleine genossenschaftliche Gruppen von Produzenten stellen den losen Rahmen seines rationalen Bildes von der weiteren Zukunft dar, dessen friedliche Idealität von der Gewaltsamkeit der direkten Aktion gewissermaßen erdrückt wird. Faßt man nun die Eigenart beider Lehren zusammen, so besetzen Anarchismus und Syndikalismus eine ganz bestimmte Stelle in der Entwicklungsgeschichte der modernen Ideologien: sie sind ihrem Wesen nach gewissermaßen die Endpunkte des ideologischen Denkens überhaupt. Die Rationalität der politischen Konzeption hat in ihnen die denkbar größte Ferne von der lebendigen Wirklichkeit des historisch gewordenen Reichtums der abendländischen Kultur und Zivilisation erreicht. Denn die Abstraktion der ZukunftsVorstellung kann nicht weitergetrieben werden als hier, w o jede übergreifende Ganzheit überhaupt verneint wird. Und die Triebhaftigkeit, jene andere Komponente des säkularisierten Denkens in Ideologien, hat alle übrigen Ausdrucksmöglichkeiten, alle verfügbaren Verkleidungen und möglichen Auswege hinter sich gelassen und ist nur noch diffuse Gewalt. Permanente Zerstörung und Vernichtung jeder Seinsordnung, direkte Gewaltaktion und Generalstreik als schöpferischer sozialer Mythos heißen ihre reinen Erscheinungsformen. Beide Komponenten sind dabei so eng, weil ausschließlich miteinander verklammert wie nirgends sonst: die Zukunftsutopie ist so abstrakt, daß ihr nur durch reine Gewalt in Permanenz der Boden bereitet werden kann.

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Als solche Endpunkte des ideologischen Denkens verkörpern Anarchismus und Syndikalismus eine äußerste Konsequenz der rationalen Fortschrittsidee in der Politik. Fortschritt und Gewalt fallen hier zusammen: Gewalt ist Fortschritt in konzentriertester Form, und höchster Ausdruck des Fortschritts ist die Gewalt. Infolgedessen wird die Gewalt und ihre politische Darstellung, das heißt die Triebhaftigkeit und ihre soziale Darbietung, mit den ethischen Attributen der Fortschrittsidee versehen. Sie ist das von allen Andersdenkenden verkannte Licht und die alle sonstigen Ideale überstrahlende Reinheit gegenüber der prinzipiellen Finsternis und Verderbnis der bis zum gegenwärtigen Augenblick reichenden Vergangenheit, der einzig H a ß und Rache gebührt, weil sie sich gegen den Fortschritt in seinen letzten und höchsten Folgerungen sträubt. Denn lediglich um der menschlichen Freiheit und Gleichheit willen, deren absolute Form ganz und gar radikal verwirklicht werden soll, muß ihr Gegenteil, der gewaltsame Zwang, in Tätigkeit treten und jede Ordnung der Vernichtung anheimfallen. So widerlegt das ideologische Denken in diesen beiden Lehren am eindringlichsten sich selber, indem Streik und Zerstörung auf die Dauer seine unausweichlichen Folgen sind. Die Ratio ruft in und mit ihnen den Trieb und entmannt sich mit seiner Befreiung selbst — Anarchismus und Syndikalismus sind geradezu extreme Schulbeispiele für die moderne Korrespondenz zwischen Ratio und Trieb im Bereich der Politik. Die rüdksichtslose Verneinung jeder aus der Vergangenheit stammenden oder doch auf ihren Fundamenten ruhenden Ordnung beraubt dadurch, daß sie die vielfältig verwobene Gesamtheit von Sitten und Bräuchen, "Werten und Anschauungen, Gesetzen und Regeln für absolut untergangsreif und vernichtungswürdig erklärt, den Menschen endgültig der organischen Einbettung seiner Triebwelt. Das Geheiß der bis zum äußersten abstrakten Zukunftsutopie, die die Verurteilung nicht bloß der gegenwärtigen, sondern jeder Seinsordnung schlechthin begründet, dient daher praktisch nur dazu, die ohnehin von der rationalen "Welt der Technik entbundene Triebhaftigkeit völlig zu entfesseln, dies Geschehen grundsätzlich zu legitimieren und damit zugleich zu maskieren. Denn in der Praxis herrschen allein Vernichtung und Gewalt unter dem Zeichen letzter Freiheit. Und nur in der Theorie erglänzt in weiter Ferne eine neue und bessere Form des menschlichen Zusammenlebens unter dem Zeichen einer höheren Sittlichkeit. Deshalb verleiht die Praxis dieser beiden Ideologien denn auch ihrer Theorie so leicht einen zynischen Anstrich: je größer der Aufwand an ideologischer Rechtfertigung wird, desto mehr

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II. Die modernen Ideologien

drängt sich die Diagnose von bewußtem, aber vor allem unbewußtem Machthunger, H a ß und Neid bei den Verkündern der Lehre und die Diagnose einer Verführung von Naivität oder Brutalität bei den namenlosen Anhängern der Lehre auf. Natürlich wird durch solche Diagnose die tiefe Tragik des geistig-seelischen Vorgangs jener zivilisationsbedingten Korrespondenz von Ratio und Trieb auf dem Felde der Politik nicht geschmälert. In diesen Vorgang gehören auch Anarchismus und Syndikalismus hinein, ja sie sind ohne ihn tatsächlich gar nicht wahrhaft zu verstehen, wenn man sich nicht mit Vordergrundserklärungen begnügen will. Solche Diagnose darf um so eher gestellt werden, als ja nicht bloß die abhängigen Bevölkerungsschichten in der modernen Zivilisation seit langem von jenem grundlegenden Vorgang im Innern des Gegenwartsmenschen ergriffen worden sind, sondern auch ein Großteil der anderen Schichten. Gerade die unmenschlichen Seiten des Kapitalismus etwa sind ein Beweis dafür, daß in der sozialen Oberschicht die Triebhaftigkeit nicht weniger übermächtig wurde als in der sozialen Unterschicht — bloß entsprechend der anderen Lagerung im Ganzen auch in anderer Erscheinungsform: weniger nackt, öfter versteckt und reicher verkleidet. Denn sogar noch der konservative Gedanke, also der äußerste Gegenpol anarchistischer und syndikalistischer Strebungen, ist von diesem Vorgang der rational-triebhaften Korrespondenz keineswegs unberührt geblieben, wie wir noch sehen werden. Mit anderen Worten: Angesichts der modernen Ideologien insgesamt jene Diagnose zu stellen, bedeutet keineswegs, eine persönlich1 verantwortbare Schuld zu behaupten. Vielmehr heißt das allein, eine Erklärung objektiver Art zu geben, die die eigentlich wirksamen Faktoren und Motive enthüllt. Und diese Erklärung kann deshalb von Sympathie oder Antipathie frei sein, weil der fragliche Sachverhalt derartigen Vorurteilen ohne weiteres übergeordnet bleibt.

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Als Faschismus im weiteren Sinne können diejenigen modernen Lehren bezeichnet werden, die den neuzeitlichen Kollektivegoismus in Gestalt des Nationalismus zu einem politischen Gedankensystem für breite Bevölkerungsmassen ausgebildet haben. Wenn auch in seinen beiden historisch

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folgenreichsten Fassungen an bestimmte Völker, das italienische und das deutsche, gebunden, stellt der Faschismus als solcher doch überall dort eine ideologische Möglichkeit dar, wo der moderne Parlamentarismus entweder aus materiellen Gründen nicht befriedigend funktioniert oder wegen teils partieller, teils totaler „Rückständigkeit" der Bevölkerung nicht genügend Fuß fassen kann. Er ist ebenso wie andere Ideologien eine ausgesprochene Krisenlehre, die aus dem Mißverhältnis zwischen den Antrieben des modernen Menschen und den nicht bewältigten Lagen und Einrichtungen der technischen Zivilisation entsteht. Auch hier treffen und vereinigen sich rationale und triebhafte Elemente, aber in einer schwer definierbaren und dennoch durchaus typisch anmutenden Form, die an Sprengkraft fast alle anderen Ideologien weit übertroffen hat. Wesentlich das Ergebnis dieser Ideologiengruppe, die doch selber nur die Folge des ersten Weltkrieges und seiner kurzsichtigen Friedensschlüsse bildete, war nämlich die Katastrophe des zweiten Weltkrieges: der politische Kollektivegoismus als revolutionärer Nationalismus und Imperialismus stürzte die ganze Welt mit der Blindheit seiner rational organisierten Triebhaftigkeit in einen Abgrund von unbekannter Tiefe. Soziologisch gesehen, ist die vom Faschismus genutzte Situation folgende: Die liberale Ideologie hatte, wie auch das eigene Geständnis später bewies, mit dem ersten Weltkrieg ihre Anziehungs- und Uberzeugungskraft eingebüßt. Damit befanden sich breite Teile des Bürgertums ohne ein wirksames politisches Gedankensystem in einer Lage der Schwäche und Ohnmacht gegenüber den radikalen Heilslehren. Diese indes, deren Ziele sich gegen die bürgerliche Welt richteten, waren nach dem Untergang der bisherigen Autoritäten nicht imstande, eine stabile neue Ordnung zu errichten. Das hierdurch entstandene Vakuum, das der zeitgenössische Parlamentarismus mit einem oberflächlichen Betrieb bloß verdecken, aber nicht beseitigen konnte, nutzte die zu diesem Zeitpunkt auftretende Lehre des Faschismus aus — und zwar dadurch, daß sie an den kollektiven Egoismus nicht mehr einer, sondern aller Volksschichten insgesamt appellierte, im übrigen jedoch den Rahmen des gewohnten ideologischen Denkens nicht verließ. Das heißt, der auch vorher schon vorhandene Nationalismus wurde nun zu einer regelrechten Ideologie, die trotz erheblicher Anleihen bei den Vorläufern durchaus eigene Züge offenbarte. Darin liegt zweifellos eine unumgängliche Konsequenz der Entwicklung des ideologischen Denkens überhaupt. Aus der jüngsten Gipfelung dieses

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II. Die modernen Ideologien

Denkens, wie sie die faschistische Lehre darstellt, darf denn auch die Vermutung abgeleitet werden, daß es sich hier zugleich um die letzte der modernen Ideologien überhaupt handelt. Denn wo der politisch-soziale Egoismus einzelner Schichten mehr oder weniger abgewirtschaftet hatte, blieb gleichsam nur noch der Kollektivegoismus aller Schichten eben in Gestalt des Nationalismus als letzte Möglichkeit ideologischen Verhaltens übrig. Mit seiner Hilfe war es möglich, die verschiedenen Vorläufer in ihrem Versagen gewissermaßen festzunageln und durch ein noch größeres oder höheres Anliegen aus ihrer politischen Stellung zu verdrängen. Vor allem gelang es aber mit der Parole von der nationalen Einheit und Größe, die Klassenkampfidee von der nationalen Ebene des eigenen Staates und der eigenen Gesellschaft auf die internationale Ebene der Rivalität von Staaten oder gar Rassen zu transponieren und damit scheinbar zu entgiften. Dies konnte geschehen, ohne daß die neue Heilslehre auf die erprobte Waffe der mitreißenden Leidenschaft in der politischen Auseinandersetzung zu verzichten brauchte — diese Waffe, die jeder Ideologie als besondere Form der Triebhaftigkeit eignet, erfuhr hier sogar eine letzte Verschärfung. Auf solchem Wege nahm der Faschismus die Gelegenheit wahr, sich gerade den bürgerlichen Schichten als eine neuartige Theorie aufzudrängen, die ein starkes Bollwerk gegen die Idee des Klassenkampfes zu sein versprach. Und es war zumal das sogenannte mittlere und kleine Bürgertum, das in größerer Breite dem verführerischen Ruf der faschistischen Lehre verfiel. Aus seiner Enge und Weltunkenntnis heraus und obendrein durch die lange Gewöhnung an ideologisches Denken in seinem Gefühl für die Wirklichkeit geschwächt, vermochte dieser Mittelstand nicht die Konsequenzen zu überblicken, die das neue Gedankensystem über allen idealistischen Firnis hinaus in sich barg. Von den modernen Ideologien seit Generationen auf die Begriffe von Freiheit und Gleichheit, Einheit und Nation, Größe und Macht gleichsam dressiert, mußte es beinahe widerstandslos und sozusagen über Nacht auf die Bahn einer Lehre geraten, die all diese idealen Forderungen neu zu erfüllen versprach — schon der Liberalismus hatte ja im 19. Jahrhundert den Nationalliberalismus mit denselben Idealen aus sich hervorgetrieben. Aber der Faschismus stützte sich bei seinem innerpolitischen Vordringen keineswegs nur auf das Bürgertum, dessen eigene Ideologie zerbrochen war, sondern kaum weniger stark auf breite Teile der sozialistisch denkenden Bevölkerung. Spielte er dort vor allem das nationalistische, so spielte er hier vor allem das messianische Element seiner Lehre aus, die ursprünglich aus

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dem syndikalistischen Sozialismus herkam. Trotz aller äußeren Feindschaft gegen den Marxismus geht denn auch durch sämtliche Fassungen der faschistischen Ideologie ein ausgesprochen sozialistischer Zug. Auch ihn kennzeichnet jene Verschwisterung mit dem „autoritären Prinzip", das ebenfalls die Herrschaft der zentralisierenden Bürokratie des sozialistischen Funktionärsstaates unter dem Motto des Gemeinwohls zu praktizieren neigt. Und schließlich gewann der Faschismus als dritte Säule seines Gebäudes gewisse Gruppen der ehemals konservativen Bevölkerung!Schicht durch Ausspielen seines antiliberalen Elements, das aus einer Kritik an den Schäden und Fehlern des Kapitalismus erwuchs und als solches der allgemeinen Enttäuschung über das Versagen der liberalen Demokratie entgegenkam. Nationalismus,!Sozialismus und Antiliberalismus sind demzufolge in einer äußerst verschlungenen Beziehung zueinander die bedeutendsten ideologischen Wurzeln der faschistischen Gedankensysteme. Dabei erhalten diese Wurzeln ihre Nahrung aus einem Boden, der voll und ganz von der zeitbedingten innermenschlidien Verfassung gebildet w i r d — a l s o von dem, was wir als Wechselspiel zwischen Ratio und Trieb erkannten. Erst dieser Boden gab, um im Bilde zu bleiben, den drei Wurzeln jene alles überwuchernde K r a f t aus triebhafter Leidenschaft und höchster Beherrschung der Mittel, die den zwei Hauptformen der neuen Ideologie ihre außerordentliche Wirkung ermöglichte. Denn erst diese seelisch-geistige Entwicklung des gegenwärtigen Menschen, die seit vielen Jahrzehnten in der Welt der Technik stattfand, ermöglichte es ihr in Italien und Deutschland, dank einer besonderen geschichtlichen und wirtschaftlichen, politischen und sozialen Konstellation weitere Gefolgschaft zu finden und schließlich auch die Herrschaft zu erlangen, um dann eine äußerst komplizierte Organisation des Daseins aufzubauen, die mit ihrer hohen Künstlichkeit als totalitäres Regime in den Dienst ganz triebhaft-rationaler Ziele gestellt wurde. Als ein System, das aus seinem politischen Schwung heraus eine Epoche permanenter Krisenhaftigkeit von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft zu meistern glaubt und die anderen Ideologien durch die Vereinigung von einzelnen ihrer Elemente zu überwinden hofft, bietet der Faschismus also in einem vulgären Sinne „jedem das seine": dem Bürger den Nationalismus, dem Arbeiter den Sozialismus, dem Bauern den Antiliberalismus. Und das heißt für seine Charakteristik als politische Theorie: hier gibt es nicht mehr wie bei anderen Ideologien einen linken und einen rechten Flügel, eine radikale und eine gemäßigte Richtung, eine revolutionäre und eine evolutionäre

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Seite, sondern hier gibt es nur mehr eine V i e l z a h l von einander widerstreitenden Gruppen mit Sonderzielen, die v o n der M a d i t des Regimes äußerlich eindruckvoll überwölbt werden. A u s dieser Eigenart, die sich mit der Dauer immer schärfer herausbildete und die Spannungen innerhalb seiner Lehre zu einem vielgliedrigen K a m p f um den maßgebenden K u r s werden ließ, erklärt sidi die erhebliche Schwierigkeit einer eindeutigen Darstellung des Faschismus. Seine ideologisch begründeten Regime sind unter der scheinbar stabilen Oberfläche der T o t a l i tät, deren K l a m m e r der politische Kollektivegoismus ist, von einer äußersten Unstabilität. Sie sind innerlich immer wieder aufs neue zerrissen von kaum verborgenen Macht- und Ideenkämpfen. Sie sind hinter der theatralischen Fassade ihrer Machtschaustellung von der ewigen Unruhe wechselnder Zielsetzungen erfüllt, die mit einer Fülle von rationalen Gegenbildern zur vorhandenen Wirklichkeit das ideologische Denken fast bis zur Unbestimmbarkeit auszuweiten scheinen. U n d dieser Mangel an Stabilität, diese innerliche Zerrissenheit, diese ewige Unruhe trieben denn auch seine beiden H a u p t formen in das Schicksal ihrer Maßlosigkeit hinein, das beispielhaft für die N a t u r der modernen Ideologien überhaupt ist. Der Prozeß der übersteigerten Veränderung alles Bestehenden brach mit ihnen in sich selbst zusammen und hinterließ am Ende das Chaos. Im Rahmen dieser Charakterbeschaffenheit ist der Faschismus im engeren Sinne die moderne Ideologie des nationalen Aktivismus, dessen Theorie nach dem ersten Weltkrieg unter mannigfachen Einflüssen und als Ergebnis höchst verwickelter politischer Umstände in Italien entstand. D e r Faschismus hat auch hier keine geschlossene D o k t r i n entwickelt. A n f a n g s waren es vor allem Gedanken Sorels, Bergsons und Paretos, die in einer eigenartigen V e r flechtung das ideologische Gerüst der neuen Lehre bildeten. Später dagegen traten mehr Gedanken Hegels und Nietzsches in den Vordergrund, die sich mit einzelnen Zügen aus der Ideenwelt Macchiavellis verknüpften. Dieser auffällige W a n d e l in der gedanklichen Fundierung des Faschismus hängt dabei offenkundig mit seiner Festigung als politisches System zusammen. Die ersten „fasci" bestanden aus syndikalistisch bestimmten Gruppen, ihr späterer Leiter Mussolini k a m aus dem Sozialismus und w a r Schüler Sorels. A u s dieser Quelle stammt, durch Bergsons Philosophie der Spontaneität gefärbt, das ursprüngliche Zentrum der faschistischen Ideologie: der Glaube an die Tat, an das reine Handeln, an das direkte Eingreifen, an die schöpferische Kraft der politischen Initiative. Daraus entstand ein unbedingter A k t i v i s -

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mus, der sich in der unübersichtlichen Verwirrung der Nachkriegszeit als entscheidenden Gegensatz zur Passivität einer parlamentarischen Handhabung der Politik begriff. Und er verband sich alsbald mit der Überzeugung von der ausschlaggebenden Bedeutung der Eliten im sozialen und historischen Geschehen, wie sie Pareto in seiner Geschichts- und Sozialtheorie vertrat, die aus der Kritik an der Unfruchtbarkeit der liberalen Demokratie erwachsen war. Nach jener damals viel beachteten Lehre der Soziologie bewirken Minderheiten die Veränderungen der Gesellschaft und nicht Mehrheiten, die vielmehr als Massen geführt werden müssen und audi wollen. Die Eliten sind deshalb die eigentlichen Träger der politischen Entwicklung, die aus ihren Einsichten und Wünschen heraus die Geschichte machen, indem sie die Masse im Vertrauen auf die zeugende K r a f t der unmittelbaren Tat beherrschen. Als aber der Faschismus — in den neuzeitlichen Industriestaaten offenbar ein Verfallsprodukt des sich selbst lähmenden Parlamentarismus, das unter den Bedingungen des Massenzeitalters als dessen bedrohliche Alternative gelten muß — die Herrschaft erlangt und sich in ihr eingerichtet hatte, traten die ihn anfänglich bestimmenden Gedanken Sorels, Bergsons und Paretos ganz folgerichtig allmählich zurück, ohne allerdings gänzlich zu verschwinden. Mit der zunehmenden Festigung seiner Macht rückten, rein ideologisch oft weniger sichtbar, bedeutende Einflüsse aus der Gedankenwelt Hegels und Nietzsches an ihren Platz. Damit wurden, vertieft durch die messianische Lehre Macchiavellis vom diktatorischen Führer, Staat und Macht zum Zentrum der faschistischen Theorie. Und wie schon die erste Fassung ihr Spiegelbild in der Praxis der Machteroberung und Machtergreifung fand, so fand dann diese zweite Fassung ihr Spiegelbild in der Herrschaftsapparatur der Einheitspartei, die kraft und namens ihrer Ideologie dem Staat und seinem Volk gebot. Ähnlich den anderen Heilslehren durchläuft mithin auch die faschistische eine von der Praxis ihrer Wirkung bedingte Entwicklung, die im diktatorischen Staatskapitalismus gemäßigter Art mündet. Aus dem syndikalistischen Sozialismus kommend, beginnt sie als nationalistische Protestbewegung gegen den Liberalismus und sein politisches Prinzip des Regierens und Verwaltens durch Diskussion und Kompromiß, das der realen Lage nicht mehr gewachsen zu sein schien. Und sie endet, wie die übrigen modernen Ideologien sich auf die Dauer selbst kompromittierend, in der erstarrten Form der Maßlosigkeit eines überheblichen und schließlich eroberungssüchtigen 10

Mühlenfeld, Politik

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II. Die modernen Ideologien

Machtsystems, das die Gestalt einer etatistiscben Elitenherrschaft annimmt. Das Wesen dieser herrschenden Elite, die weder aus einem einzigen Stand noch aus einer einzigen Klasse stammt, sondern sich aus allen sozialen Schichten rekrutiert, besteht darin, daß sie über dem Genuß der Herrschaft die sozialistischen Ursprünge ihrer Theorie so gut wie völlig vergißt. Sie will sich nur noch als neue führende Schicht an die Stelle der alten setzen und zeigt dadurch immer deutlicher, daß ihr eigentliches Ethos der Egoismus der selbstherrlich gewordenen Macht ist. Trotz der bitteren und schließlich tödlichen Feindschaft der übrigen Ideologien gegen den Faschismus läßt sich nicht leugnen, daß er voll und ganz in ihren Kreis gehört. Denn auch er ist, wie schon angedeutet, sowohl in der Theorie als auch in der Praxis bloß eine zeitbedingte politische Ausdrucksform jener Korrespondenz zwischen Ratio und Trieb, die das Zeitalter der technischen Zivilisation kennzeichnet. Auch er ist — in seiner frühesten Fassung allerdings mit einem seltsam hintergründigen Verhältnis zum Christentum — eine der säkularisierten Glaubenslehren der modernen Welt. Das gilt ebenso f ü r den eigentlichen, die ganze Ideologiengruppe begründenden Faschismus Italiens wie f ü r den Faschismus anderer Länder einschließlich Deutschlands. Die Gründe hierfür wurden bereits erwähnt, sollen aber auch f ü r den Fall des italienischen Faschismus noch näher aufgezeigt werden, um die oben gegebene allgemeine Charakterisierung am Beispiel zu erläutern. Die Gewaltlehre der neueren Zeit, auf Babeuf, Marx, Bakunin und Sorel fußend, wurde von der Machtlehre Nietzsches und der Trieblehre Paretos unterbaut und von der Lebensphilosophie Bergsons mit dem Kernbegriff des vitalen Elans legitimiert. D a ß sie als politischer Aktivismus in ihrer faschistischen Ausprägung aber nicht etwa in die Nachfolge der Romantik, sondern in den sich zuletzt selbst sprengenden Rahmen des Rationalismus der technischen Zivilisation gehört, beweist über ihre verschiedenen Anreger und Vorläufer hinaus am besten die betonte Geschichtslosigkeit, zu der sich der italienische Faschismus als moderne Theorie gerade in seinen Anfängen bekannte. Sein radikal übersteigerter Nationalismus entstammt nämlich keineswegs dem historischen Gefühl, sondern ist den inneren Impulsen nach die jüngste politische Erscheinungsform jenes triebhaften Kollektivegoismus, der sich auch anderwärts so gut mit der höchst rationalen Durchsetzung seiner Ansprüche verträgt. Die Bezugnahme auf die große Geschichte Italiens wie die Anknüpfung an die altrömische Symbolik, das Programm des kulturell-politischen Primats

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Italiens wie der eigenartig leidenschaftliche Kolonialimperialismus des faschistischen Staates sind denn auch bei all ihrer vitalen Darstellung äußerst bewußt gehandhabte Mittel der Herrschaftspraxis und nicht etwa echte Zeichen einer Wiederbelebung des Gefühls für die ferne Vergangenheit. V o n ihr distanzierte sich der Faschismus vielmehr ausdrücklich, als er seinen W e g begann. Einer derartig kühl-affektiven, das heißt rational-triebhaften Einstellung zur Geschichte entspricht es nur, wenn der Mythos der großen Nation, in dessen N a m e n der Faschismus rein machtpolitisch dachte und handelte, lediglich eine bewußte Fiktion darstellt. A l s solche ist er ganz zweckhaft als das größte Mittel der ideologischen Herrschaft geschaffen, dem man sich trotz des Wissens um seine Künstlichkeit doch als oberstem Gebot willig unterwarf. Denn hinter diesem Vernunftgebilde des faschistischen Mythos, das jede G e w a l t im N a m e n der großen N a t i o n rechtfertigte, stand in Wahrheit, als edle Begeisterung für die Größe Italiens verklärend angesprochen, die Leidenschaft der entbundenen Triebhaftigkeit des K o l l e k tivegoismus sowohl bei der Elite, die den Mythos schuf und verkündete, als auch bei der Masse, die ihn annahm und trug. W i e sehr es sich beim Faschismus um eine Ideologie handelt, deren rationale Theorie einer scharf berechnenden Sozialmechanik und Technik der Massenbeherrschung überall v o n triebhaften Elementen durchsetzt und ergänzt ist, das geht aber nicht bloß aus der Stellung hervor, die Macht und G e w a l t eingeräumt wird. Das zeigt insbesondere auch die skrupellose Korruption, die auf Schritt und T r i t t ihr W i r k e n als politisches System begleitete. U n d das zeigt schließlich auch die weit über romanische Darstellungsfreude hinausgehende ständige Sucht, Eindruck zu machen und sich theatralisch in Szene zu setzen. Dabei handelt es sich um Eigenschaften, die aus denselben Gründen ebenfalls die deutsche Form des Faschismus als hervorstechende Merkmale des entbundenen Geltungsdranges kennzeichneten. Die hochentwickelte Rationalität und Bewußtheit der modernen Denkform findet in der faschistischen Ideologie nicht weniger deutlich ihren Niederschlag als die entbundene Triebhaftigkeit. H i e r ist vor allem die bereits erwähnte Geschichts- und Sozialtheorie mit ihrer ganz bewußten Technik der Massenführung zu nennen, die der Faschismus unter V e r w e r tung der Erfahrungen sozialistischer Massenregie — Mussolini w a r ja ursprünglich Sozialist — mit einer bis dahin unerreichten Meisterschaft handhabte. Zusammen mit dem Glauben an die Rolle der Eliten und dem Mythos der großen N a t i o n hat v o r allen Dingen diese Technik der Massenführung 10»

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II. Die modernen Ideologien

zu dem typisch faschistischen Etatismus geführt, der sich mit der korporativen Gliederung des Staates zwecks Uberwindung des Klassenkampfes und mit dem totalitären Herrschaftsapparat ausbreitete — also zu jener Überschätzung und Überbetonung der staatlichen Regierungs- und Verwaltungsmaschine, in der das Individuum zum anonymen Bestandteil einer Masse gemacht wird und auf solche Weise dem Kollektivismus verfällt. Je länger die faschistische Lehre herrschte, desto mehr erstarrte ihre Praxis in der schematischen Leblosigkeit dieses Etatismus, der in einem so tiefen Gegensatz zu der Staatsfeindlichkeit des syndikalistischen Anfangsstadiums stand. Er wurde denn auch nur deshalb von der Masse der Bevölkerung ohne Rebellion ertragen, weil die durch ihn freigesetzte Vitalität auch handgreifliche Wege zum Ausleben erhielt — der Zunahme an Rationalität, die der Etatismus bedeutet, entspricht ja psychologisch auch eine Zunahme an Triebhaftigkeit, die befriedigt werden will. Diese ganze Entwicklung zum Etatismus — übrigens ein Merkmal beider aus der sozialistischen Ideologie sozusagen nach links und rechts entstandenen Neubildungen — war dem Faschismus nur dadurch möglich, daß er stets auf dem Boden des rationalen Denkens verblieb. Das war auch dort der Fall, wo er sich irrationaler Mittel bediente, da dieselben eben nicht der Gefühlssphäre, sondern der Triebsphäre entstammten. Sein leidenschaftlicher Aktivismus des Anfangs war der Ausdrudk jener Triebentbindung, die das technische Zeitalter mit sich bringt, und sein zunehmender Etatismus war dann die äußere Form, in der sie innerhalb des modernen Verhältnisses zwischen Elite und Masse, zwischen Führung und Volk rational eingefangen wurde. Hier, bei dieser Funktion des Etatismus im Wechselspiel der zivilisatorischen Korrespondenz zwischen Ratio und Trieb, setzt denn auch der Einfluß des Hegeischen Denkens mit seiner Verabsolutierung des Staates ein. Und von hier aus ist gleichfalls wesentlich das faschistische Verständnis Nietzsches zu sehen, dessen Machtlehre in der fernen Nachfolge Macchiavells und der politischen Theorie der Renaissance doch im Kern ganz materiell, ganz praktisch, ganz zweckhaft begriffen wurde. Mit der angedeuteten Akzentverlagerung vom Aktivismus zum Etatismus, von der Gewalt zur Macht, von den „fasci" zum Staat, von der Philosophie Sorels und Paretos zur Philosophie Hegels und Nietzsches, die der inneren Entwicklung der faschistischen Lehre im Verlauf ihrer Herrschaft das Gesicht gibt, stimmt auch die Veränderung überein, die ihre Fortschrittsvorstellung und ihr Zukunftsbild erfuhr. Wurde der Fortschritt, der als Gesamt-

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ziel jedem rationalen Denken mit Notwendigkeit eigen ist, anfangs in die direkte Initiative, in die eingreifende Tat hinein verlegt, so tritt er später ganz folgerichtig in der beständig fortschreitenden Stärkung und Festigung der faschistischen Macht, in der wachsenden Verwirklichung des Mythos der großen Nation zutage. Je mehr sich der Mythos als politische Macht in einem total durchkonstruierten Staatsapparat mit zentraler Wirtschaftsplanung und korporativ eingefangenem Klassenkampf verwirklicht, desto größer wird die Nation. Und je mehr sich der Staat mit neuen Grenzen ausdehnt, desto größer ist der Fortschritt. Das heißt, der faschistische Mythos vervollkommnet sich im allgegenwärtigen Fortschritt der nationalen Integration. Dieser nationalen Integration dient an hervorragender Stelle der Krieg, der die Aufgabe der Gebietsausdehnung und Machtvermehrung erfüllt. Als solcher steigert er nämlich nicht nur das messianische Bewußtsein der Elite und der Masse, die sich der faschistischen Ideologie und ihrem Mythos verschrieben haben. Sondern er steigert auch Wert und Rang des Staates, der in jedem Augenblick den Mythos gleichsam neu begründet und die Ideologie als Heilslehre bestätigt. Und die zweite Säule der nationalen Integration ist, in engster geistiger Verwandtschaft mit der Lehre des Aktivismus und des Etatismus, die Technik. Denn die moderne Technik, aus deren geistigseelischem Klima ja die ganze Ideologie mit ihren beiden Elementen praktisch erwachsen ist, verkörpert nichts anderes als Form gewordene Rationalität und Gestalt gewordenen Machttrieb. Indem man sie in den Mittelpunkt der Daseinspraxis rückt, indem man Staat, Land und Mensch in ihren Dienst stellt, schafft man nicht nur einfache Werke der Nützlichkeit und erhöht man nicht nur den Lebensstandard des Volkes. Man vollzieht damit zugleich auch eine ständige Machtsteigerung, die über allen tatsächlichen oder möglichen Nutzen weit hinausreicht in die geheimnisvoll unsichtbare Sphäre einer Steigerung des Erlebnisses der Macht an sich. Hier hebt sich infolgedessen für die kritische Betrachtung der Ideologien ein Zipfel des Schleiers vor dem Geheimnis der seltsamen und erschreckenden Hybris d,er Macht als solcher. Blind und taub für die Realitäten der menschlichen Daseinsordnung im Großen wie im Kleinen, lauert sie in allen modernen Heilslehren jederzeit als drohendes Gespenst und bildet die furchtbarste Anklage gegen das ideologische Denken im technischen Zeitalter überhaupt. Die italienische Fassung des Faschismus zeigt diese Hybris der Macht allerdings, der neueren Eigenart des Volkscharakters entsprechend, nicht so schrecklich wie die deutsche Fassung, die mit der machtpolitischen Heraus-

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forderung der ganzen W e l t schließlich in der Verblendung endete. Bezeichnenderweise w a r es das Verhältnis des italienischen Faschismus zum Christentum, das ihn vor solch letzter Überspitzung der ideologischen H y b r i s bewahrte. Durch die niemals gänzlich gelockerte Bindung der weltlichen Glaubenslehre an die Religion waren hier der vielfältig entfesselten Triebhaftigkeit nämlich immer noch gewisse Schranken gesetzt. Dies wirkte sich einmal darin aus, daß der moderne Gegensatz zwischen Staat und Kirche nicht in jenen stillen, aber erbitterten K a m p f gegen die Religion wie nördlich der A l p e n entartete, aber zum andern auch darin, daß der Faschismus Italiens der politischen Rassenlehre fremd gegenüberstand. Das heißt, sein T o t a l i tätsanspruch blieb, so o f t er auch hier erhoben wurde, allzeit relativ und offenbarte niemals jenen blinden Fanatismus wie dort. In solcher stillen Rückversicherung der rationalen, triebentbindenden Ideologie bei der Religion besteht das, w a s als hintergründiges Verhältnis des italienischen Faschismus z u m Christentum bezeichnet werden kann. Es bedeutet jedoch nicht nur eine stille Rückversicherung, die solche Exzesse wie beim deutschen Faschismus verhinderte, sondern auch eine ebenso stille Entwertung der ganzen Lehre als weltanschauliches System überhaupt. W a s man so o f t bei Vergleichen zwischen den Zuständen jenseits und diesseits der A l p e n bemerkt hat: die vielfach spielerische Note des Lebens im Zeichen der Ideologie hier im Gegensatz zu dem vielfach tödlichen Ernst dort, das sozusagen Uneigentliche ihrer jeweiligen Darstellung hier gegenüber der Neigung zur unbedingten Identifizierung mit den politischen Glaubenssätzen dort, die geschmeidige Praxis der Anpassung an die undogmatische Wirklichkeit hier und der immer massiver werdende Dogmatismus dort — dies alles geht, begünstigt durch den Volkscharakter, zweifellos gleichfalls auf die Stellung der Religion im italienischen Faschismus oder vielmehr hinter und über ihm zurück. Aus leicht verständlichen Gründen kommt die typisch moderne Drohung ideologischer H y b r i s nämlich erst da z u ihrer vollen Höhe, w o das rationale Denken auf seinem labyrinthischen P f a d zu Freiheit und Gleichheit bei der radikalen Irreligiosität anlangt. D e n n mit der Religion verschwindet das größte und höchste System v o n gefühlsmäßigen Bindungen und Fesseln der menschlichen Triebwelt, das der Menschheit seit Beginn ihrer Geschichte gegeben ist. W o die Religion noch gilt oder doch wenigstens stillschweigend in ihrer triebbindenden Funktion anerkannt wird, da bleibt jede Ideologie vor der tiefsten Besinnung uneigentlich, da behält sie trotz aller weitgehenden

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Entscheidungen über die Veränderung der Wirklichkeit doch den Charakter eines Spiels vor dem letzten Hintergrund, da ist ihr der starre Dogmatismus bis zur äußersten Konsequenz brutaler H ä r t e verwehrt. Die deutsche Fassung des Faschismus, der Nationalsozialismus, ist die moderne Ideologie des aggressiven Nationalismus, in der sich über die erwähnten Grundzüge hinaus die verschiedensten Einflüsse der neueren Geistesgesdiichte bis zur Unentwirrbarkeit verschlingen. Das Programm ihrer Partei, die sich wie in Italien schließlich auch in Deutschland zum alleinigen Herrn des Staates aufschwang, besteht aus einem nationalistischen und aus einem sozialistischen Teil. Aber der Inhalt dieses Programms, dessen gedankliche Dürftigkeit und theoretische Armut angesichts seiner späteren Folgen überrascht, verrät im einzelnen nur wenig von der eigentlichen nationalsozialistischen Ideologie, die ihren ganzen U m f a n g erst im Laufe langer Jahre erhielt. In ihr tritt der Kollektivegoismus und Kollektivhaß des Massenzeitalters offenbar in seiner spätesten Form auf. Mit dem politisdiwissenschaftlichen Begriff der Rasse erscheint eine neue Kollektivformel f ü r die Triebwelt an Stelle des politisch-wissenschaftlichen Begriffs der Klasse, der bisher das ideologische Denken weithin beherrschte. So groß allerdings die inhaltlichen Unterschiede dieser jüngeren zur älteren Fassung des Faschismus sein mögen, so unverkennbar wird doch die Verwandtschaft beider. Das ist ohne Frage auf das Zusammentreffen der weltpolitischen Situation beider Länder nach dem ersten Weltkrieg mit der seelisch-geistigen Grundsituation des Menschen zurückzuführen, die sämtliche modernen Ideologien über nationale Besonderheiten und geographische Grenzen hinweg zu einem Ganzen zusammenschließt. Die innere Verfassung der Zeit und die äußere Ohnmacht der Nachkriegslage ergaben den Faschismus als Lehre, wie immer man seine jeweiligen Bestandteile beurteilen mag. Auch hier bestimmen deshalb rationale und triebhafte Elemente das ideologische Bild. Sie steigern sich jedoch in dieser f ü r die tiefe, ja oft hoffnungslose innere Gefährdung des modernen Menschen kaum weniger als der Kommunismus exemplarisch gewordenen Ideologie wechselseitig bis zum Extrem, um Basis und Kontur f ü r eine politische Praxis abzugeben, die man in ihren letzten Wirkungen trotz zahlreicher anscheinend positiver Einzelzüge doch nicht anders als hybrid bezeichnen kann. Jene Hybris nämlich, von deren H e r k u n f t aus den unbewußten Einflüssen der Technik als Daseinsform bereits die Rede war, bildete das eigentliche Charaktermerkmal des höchst nationalistischen Staatswesens von zentralistisch-totalitärer und zu-

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gleich despotisch-kollektivistischer Prägung, das die neue Lehre nach der Beseitigung ihrer Gegner ins Leben rief. Die äußeren Erfolge dieser Ideologie, die zumindest am Anfang ihrer Herrschaft fast alle Welt einschließlich der eigenen Anhänger blendeten, entsprachen dabei nur dem Umfang der Triebhaftigkeit, die sie entband — dem Plus der Ratio korrespondierte das Minus des aus seinen natürlichen Bindungen herausgelösten Triebes. Er erschien als ungeheure Vitalität, die sich beim Auf- und Ausbau des Systems auch bald positiv wie negativ auswirkte. Wie schon beim italienischen Faschismus, so ist es erst recht beim deutschen Nationalsozialismus nicht möglich, in einer kurzen Darstellung seiner Ideologie all die Quellen zu nennen und zu zeigen, aus denen er geistesgeschichtlich gespeist wurde. Ähnlich wie in Italien fand auch in Deutschland, nachdem sich nach anfänglichem Zögern und aus den verschiedensten Motiven die Intelligenz in weiten Teilen zum Mitgehen bereit gefunden hatte, eine außerordentliche Ausweitung seiner Lehre statt. Schließlich wurde eine bedeutende Menge des geschichtlichen Gedankengutes der jüngeren und älteren deutschen Vergangenheit für die politischen Zwecke des Regimes usurpiert und annektiert — ein Vorgang, der vom Historismus der deutschen Geschichtsbetrachtung gleichsam längst vorbereitet worden war und vor allem für die heranwachsende Generation unabsehbare Folgen nach sich ziehen sollte. Denn nun konnte die Ideologie alsbald gerade der Jugend als legitime Vollstreckerin der überlieferten Ziele und >Sehnsüchte des deutschen Geistes erscheinen. Nun vermochte die absichtsvoll geförderte Verbindung politischer Tageserscheinungen mit dem altehrwürdigen Schatz der abendländischen Geistestradition zu entstehen — z. B. in der künstlichen Verflechtung des Nationalsozialismus mit der griechischen Antike, die nur der ebenso künstlichen Verflechtung des italienischen Faschismus mit der römischen Antike entsprach. Nun konnten aber andererseits auch die auffälligen Mängel ihrer Vertreter und Verkünder zu einer Art von Schönheitsfehlern in der werdenden Gestalt der Zukunft verharmlost werden. Diese geistige Kulisse einer Beziehung zur historischen Vergangenheit, hinter der die triebhaften Ziele des Systems ungehindert ihre Sprengkraft entfalteten, wurde der breiten Masse erst durch das auch anderswo verwendete Mittel der Mythologisierung verständlich gemacht. Die politische Rolle des modernen Mythos, der ja bereits in den anderen Ideologien eine künstliche Auferstehung erlebt hatte, wird hier ganz klar. Es geht eine deutliche Linie der politischen Mythologisierung — die recht eigentlich das an die

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Stelle der religiösen Wahrheit tretende weltanschauliche Moment des neuzeitlichen Säkularisationsprozesses abzugeben scheint — vom Sozialismus über den Syndikalismus und Kommunismus zum Faschismus. Und ihre Stationen, die gleichsam zu bildhaften Symbolen der politischen Fortschrittsvorstellung werden, tragen die Namen der klassenlosen Gesellschaft, des Generalstreiks, der Diktatur des Proletariats, des Vaterlands aller "Werktätigen und der großen Nation. Aber erst der Nationalsozialismus brachte diese ideologische Technik der Mythologisierung, die dem unhistorischen und geschichtsfeindlichen Charakter der modernen Heilslehren entspricht und als säkularisierte Praxis der Menschenführung in das Gesamtverfahren der modernen Massenbeherrschung hineingehört, ja als verdeckte „Rationalisierung" triebhafter Impulse dessen psychologisch bedeutsamsten Teil bildet, dadurch zur Vollendung, daß er die Fortschrittsvorstellung künstlich in große historisch-politische Bilder verlagerte, die ihre Macht und K r a f t ganz und gar aus dem Unbewußten schöpfen. Durch Literatur und Geschichtsschreibung untergründig vorbereitet, waren die zahlreichen nationalsozialistischen Mythen — vom tausendjährigen Dritten Reich oder vom ewigen Volkstum, vom geschichtlichen Auftrag oder vom germanischen Lebensraum, vom historischen Erbe oder von Blut und Boden, vom Schicksal oder vom heroischen Menschen, vom heilbringenden Führer oder von der nordischen Rasse und wie sie sonst heißen — nichts anderes als bewußt erzeugte, künstliche Herrschaftsmittel. Sie gebärdeten sidi romantisch, waren aber rationalistisch, wie nicht zuletzt ihre halbwissenschaftliche Begründung beweist. Auch hier bedient sich also wie in Italien ein nur,noch auf reine Zwecke eingestellter Rationalismus ganz selbstherrlich vor allem der Frühzeit der nationalen Geschichte, ohne Gefühl f ü r ihr wahres Wesen und dessen Forderungen, um elementaren Wünschen Ausdruck zu geben und Rechtfertigung zu verleihen. Es ist kein romantischer Irrationalismus, der in den ideologischen Mythen als visionäres Zukunftsprogramm auftritt und in der Vergangenheit verankert wird, sondern ein Irrationalismus der Triebhaftigkeit, der eben deshalb so hemmungslos war, weil er weithin des Gefühls entbehrte und es allenfalls nur als sekundäre Beimischung in der zivilisatorisch entstellten Form flacher Sentimentalität enthielt. W a s diesen nationalsozialistischen Mythen nämlich Wirkung verschaffte und Gefolgschaft einbrachte, das war nach Ausweis ihrer handgreiflichen Folgen die entbundene Leidenschaft der Masse, die von den anderen Ideologien enttäuscht ist und sich einer neuen Glaubenslehre an-

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schließt, weil dieselbe den Kollektivegoismus noch stärker anspricht und den Kollektivhaß gleichsam von innen nach außen projeziert — im revolutionären Nationalismus und im Rassenkampf. N u r die Abwesenheit editen Gefühls sowie die Anwesenheit alles durchdringender Triebtendenzen und unbewußter Affekte erklärt denn auch jene o f t geradezu tragische Beharrlichkeit der säkularisierten Glaubenskraft, mit der an den künstlichen Mythen bis zum blutigen Ende des nationalsozialistischen Herrschaftssystems festgehalten wurde, das schließlich seine Schöpfer selber zu einer direkt mythologischen Politik zwang. Die enge Beziehung von Ratio und Trieb innerhalb dieser Heilslehre läßt zumal ihr neuer politischer Kernbegriff erkennen: die Rasse. In ihm haben sich rationale und triebhafte Elemente fast ohne jeden Einschlag des Gefühls zu furchtbarer Explosivität verschmolzen. Wie vorher der ideologische Klassenbegriff mit ökonomischen Argumenten wissenschaftlich fundiert war und zu äußersten revolutionären Wirkungen führte, so ward nun auch der ideologische Rassenbegriff mit biologischen Argumenten wissenschaftlich fundiert und führte ebenfalls zu äußersten revolutionären Wirkungen. Wurden einst in Rußland ganze Klassen unter Berufung auf eine rationale Theorie im blutigsten Bürgerkrieg aller Zeiten ohne Bedenken vernichtet, so wurde jetzt unter ähnlicher Berufung auf eine rationale Theorie eine ganze Rasse ohne Bedenken der Vernichtung geweiht. Zwar geschah dies weniger offen, aber schließlich mit ebenso schrecklicher Systematik und ganz im Bann jener Hybris, die von Anfang an in den modernen Ideologien gleichsam als eine Art von politischer Erbanlage schlummert, immer wieder hervorbricht und hier wiederum im Kriege einen neuen Höhepunkt erreichte. Kollektivegoismus und Kollektivhaß, diese heute wichtigsten Ausdrucksformen der allgemeinen Triebentbindung in der technischen Zivilisation, fanden solcherart in dem als Vererbungslehre popularisierten Produkt rationaler Wissenschaft ihr größtes Mittel. Mit der politischen Vorstellung der Rasse, in der sich Wissenschaft als säkularisiertes Lebensgeheimnis und Politik als Nationalismus und Imperialismus treffen, vollendet sich das zivilisationsbedingte Wechselspiel von Ratio und Trieb erneut in einer unerhörten Vereinigung von höchster Kälte des Verstandes und elementarer, nackter Leidenschaft. Sie mutet auf dem Hintergrund der deutschen Kultur deswegen so besonders hybrid an, weil sie durch keine Gefühlsregung mehr gebunden wird und als solche ihren Trägern in der Regel völlig unbewußt geblieben ist. Die Rolle, die bei

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dieser ganzen, bekanntlich vom Panslawismus eingeleiteten und vorbereiteten Auswirkung der politischen Rassenvorstellung gegen ihren Willen die Wissenschaft in Gestalt zumal der Biologie gespielt hat, verdeutlicht mit unübertrefflicher Eindringlichkeit die gefühlstötende und trieb gebärende Funktion der Ratio innerhalb der geistig-seelischen Entwicklung des modernen Menschen. Mit den alten Bindungen, die sie als unvernünftig auflöst, beseitigt sie zugleich unerläßliche Fesseln des Herzens gegenüber dem Bösen, das schließlich wie ein düsterer Feuerbrand jede Menschlichkeit mit rein sachlichen und doch insgeheim brennend leidenschaftlichen Argumenten überwältigt. Aber es war nicht nur die Wissenschaft der Biologie, die, über die strengen Fachgrenzen hinausdringend, in solcher Weise auf die nationalsozialistische Ideologie wirkte, sondern auch die Geschichtswissenschaft und die Philosophie. Ob dies mit oder gegen ihren Willen der Fall war, bleibt sich angesichts der Folgen in der Realität gleich. Denn Biologie, Geschichtswissenschaft und Philosophie stellen mit ihren Lehren einschließlich der Möglichkeiten zum Mißverstandenwerden bloß Ergebnisse des großen Prozesses einer zunehmenden Rationalisierung dar, der die innere Entwicklung des technischen Zeitalters insgesamt bestimmt. Daher ist ihr Fortschreiten kulturhistorisch auch nur als Ganzes, das heißt gemeinsam mit ihrem Echo zu begreifen. So darf man in einer zusammenfassenden Auslegung denn auch sagen: Was etwa Darwin und Haeckel in der Naturwissenschaft leisteten, was die politische Historie des 19. Jahrhunderts verkündete, was Hegel und Nietzsche als letzten Ertrag ihres Denkens gaben — all dies wurde, indem es Ausdruck jenes großen Prozesses war, trotz der jeweiligen Idealität des Suchens und Genialität des Findens zur geheimen Wegbereitung dessen, was in den politischen Begriffen zuerst der Klasse und dann der Rasse als explosive geschichtliche Kraft in die Wirklichkeit des Daseins der Gegenwart trat. Diese Denker waren sämtlich auf ihre Weise ohne Absicht damit beschäftigt, überzeugende gedankliche Lehren auszubilden, die in die Ideologien jener beiden politischen Begriffe mündeten, sie stützten, nährten und auf mannigfache Art fundierten. Ihr Materialismus und Biologismus, ihr Nationalismus und Imperialismus, ihr Staatsdenken und Machtstreben dienten im Gewände wissenschaftlicher Systeme nicht allein der fortschreitenden Erkenntnis. Sondern all das bewirkte unwissentlich auch und vor allem eine Schwächung der Gefühlssphäre und eine Stärkung der Triebsphäre über-

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haupt — mittelbar durch eine entsprechend errichtete Formenwelt politischsozialer Art oder unmittelbar durch Anruf und Ausrichtung der Geister in ihrem Sinne. Es würde über den Zusammenhang unseres Themas weit hinausführen, diesen paradox anmutenden Aspekt genauer auszufüllen, der sich aus der Grundeinsicht in die geistig-seelische Verfassung des Gegenwartsmenschen unvermeidlich ergibt und den die modernen Ideologien als Gesamtheit vielfältig widerspiegeln und bestätigen. Deshalb kann hier bloß mit der gebotenen Kürze auf die Wirkung Nietzsches und Hegels in der nationalsozialistischen Ideologie näher eingegangen werden. Denn ihre Ideen sind es, die neben dem später noch an anderer Stelle ausführlich zu erörternden Nationalismus, wie ihn etwa Treitschke vertrat, wohl am tiefsten von allem historischen Gedankengut die Lehre des Nationalsozialismus beeinflußt haben. Dabei muß man sich allerdings für die kritische Betrachtung jederzeit bewußt bleiben, daß auch hier Saat und Boden erst zusammen die Ernte ergeben. Das heißt, gedankliche Lehren vermögen nur auf und bei Menschen Einfluß zu gewinnen, die ihnen infolge ihrer inneren Verfassung und äußeren Lage entgegenkommen. Ohne diesen Sachverhalt der unsichtbaren Kongruenz zwischen den Ideologien einer Epoche und ihren Menschen ist die ganze Ideengeschichte des technischen Zeitalters nicht wirklich zu begreifen, deren gleichsam unterstes Fundament die Wirklichkeit der modernen Tedinik selber als rational-triebhafte Ordnungs- und Machterscheinung bildet. Die Ideologien drücken die Tendenz des Zeitgeistes aus und setzen sie als seine politischen Werkzeuge in der Breite durch, sind aber niemals selber die eigentlichen Schöpfer des Zeitgeistes, der in tieferen Schichten des Verhältnisses zwischen Mensch und Welt beheimatet ist. Die außerordentliche Wirkung Nietzsches (1844—1900) als eines der bedeutendsten und vieldeutigsten geistigen Phänomene des 19. Jahrhunderts ist in ihrer höchst verzweigten Mannigfaltigkeit keineswegs auf die nationalsozialistische Ideologie beschränkt geblieben, hat jedoch zweifellos dort den historisch-politisch größten Ausdruck gefunden. Historisch-politisch gesehen, ist die lange erste Wirkungsperiode Nietzsches, die vor dem ersten Weltkrieg lag, mit der Schöpfung einer im Rahmen neuer Weltsicht begründeten neuen Psycholögie des Menschen nur Vorspiel gewesen für die kurze zweite Wirkungsperiode nach dem ersten und im zweiten Weltkrieg, in der seine Trieblehre zum unheimlichen Gebot der modernsten Ideologie wurde und ganz Europa in Mitleidenschaft zog. Im Vorspiel, dessen Grundmelodie schon der

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„Zarathustra" gibt, werden mit damals betörend wirkender Sprachgewalt die Motive angeschlagen, die dann das eigentliche Spiel auf der großen Bühne der Weltgeschichte mit überwältigender Dramatik und erschreckender Konzentration auf die geistig-seelischen Tendenzen der Zeit zur Darstellung bringt. Das Thema dieses eigentlichen Spiels ist der Inhalt der Nachlaßschrift vom „Willen zur Macht". Sie faßt das philosophische Werk Nietzsches in seinen prinzipiellen Absichten zusammen und bildet eines der einflußreichsten Bücher in der Geschichte der Ideologien überhaupt. Noch nach seinem Tode krönt hier Nietzsche sein Werk der Zerschlagung alter Werte und Formen, das die Jahrzehnte um die Wende des Jahrhunderts so faszinierte, mit einer Verherrlichung der menschlichen Triebhaftigkeit. Diese Philosophie des Triebes tritt in der Gestalt einer radikalen Theorie der reinen Macht, eines extremen Programms der vitalen Kraft, eines umfassend angelegten Lehrsystems der elementaren Leidenschaft auf, das sich in einem doch tatsächlich schon von ungeheuren Sprengstoffen der Triebsphäre bis zum Bersten erfüllten Zeitalter gegen die vermeintliche Erstarrung und Verknöcherung, Verweichlichung und Verzärtelung der gesamten menschlichen Welt in der technischen Zivilisation richtet. Mit dieser Theorie der Triebhaftigkeit erweist sich auch Nietzsche als einer der vom Drang nach Freiheit tragisch besessenen Vertreter des abstrakten Denkens mit seinem ebenso unaufhaltsamen wie unveräußerlichen Streben nach Veränderung der bestehenden Wirklichkeit. Doch er leitet geistesgeschichtlich schon das Ende der ideologischen Epoche ein. Denn er spürt und beschwört zwar mit durchdringendem Scharfblick die Apparatur des Zwanges und Druckes, in die der neuzeitliche Mensdi infolge der sich selbst widerlegenden Befreiung seiner Ratio von den Bindungen des Gefühls hineingeraten ist. Aber er ruft — selber Opfer dieses größten Geschehens der modernen Kulturentwicklung — nicht die Mächte des Gefühls zum Kampf gegen solche Versklavung durch den Verstand und ihre Folgen, sondern gerade diejenigen Mächte, die dieses Geschehen ohnehin immer schneller und umfangreicher freisetzt: das Elementare, die Vitalität, die Leidenschaft, die Gewalt, den Egoismus, die Skrupellosigkeit, das Böse, die Macht, die Triebhaftigkeit. Das heißt in der Sicht unserer Untersuchung: Nietzsche sieht nicht die geheime Korrespondenz von Ratio und Trieb, jene triebentfesselnde, weil die triebbindende Formen- und Wertwelt des Gefühls in immer erneuten

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Anläufen vernichtende Rolle des rationalen Denkens. Sondern er meint in merkwürdiger Blindheit vor der turbulenten Wirklichkeit, durch eine noch mehr vom Trieb beherrschte Welt das von der Ratio übermäßig bestimmte Dasein des Menschen erlösen zu können. In Wahrheit führt er aber durch die Betonung der Triebwelt nur die Welt der Ratio in ihrer ungesunden Einseitigkeit zu einer weiteren und letzten Steigerung. Denn die Triebhaftigkeit bedient sich nach der Zerschlagung der alten Formen und Werte immer ungehemmter der Rationalität zu ihrer Befriedigung, treibt sie hoch, baut sie aus und verschärft so den unheilvollen Zirkel zwischen Ratio und Trieb, in dem wir uns heute mittendrin befinden. Ohne es in der Abgeschlossenheit seiner eigenen Umwelt und in der Wirklichkeitsferne seiner persönlichen Zartheit zu ahnen und zu merken, erhält Nietzsche also trotz aller Genialität seiner psychologischen Deutungskunst und trotz aller Idealität seines ethischen Willens gerade denjenigen Prozeß, dessen Folgen er beseitigen helfen möchte. Er sieht nicht, daß der vermeintlichen Verknöcherung und angeblichen Erstarrung überall nur das übermächtige Drängen der Triebhaftigkeit hinter den alten Formen entspricht und zugrunde liegt. Die alten Formen und Werte sind weder verstaubt noch verlogen, sondern der moderne Mensch empfindet und sieht in ihnen nur deshalb Verknöcherung und Erstarrung, weil sein triebhafter Freiheitsdrang die Bindungen und Schranken von Sitte und Brauch nicht mehr erträgt, die sie in Wahrheit darstellen. Nietzsche merkt darum nicht, daß mit den alten Werten und Formen, mit Tradition und Konvention und vor allem mit der christlichen Religion grundsätzlich die Bindungen und Fesseln des Gefühls eingerissen und damit endgültig die Kräfte zerstört werden, die überhaupt erst das haltgebende Gerüst einer kulturellen Ordnung unter Menschen zu sein vermögen. Keine aus der modernen Ratio kommende Forderung — trete sie auch in noch so visionärer Fassung auf — vermag eine solche Ordnung von Dauer herbeizuzwingen, weil die mit ihr entbundene Triebwelt die Voraussetzungen zur Ordnung immer wieder überwältigt oder vielmehr von innen heraus vernichtet. Nietzsche wird mit anderen Worten in seiner Trieblehre, deren realer Kern der Wille zur Macht ist, zum gedanklichen Vollender der alles umfassenden Triebentbindung, die das technische Zeitalter im Grunde ebenso charakterisiert wie Rationalität und Bewußtheit. Die Reihe der großen Erfinder und Forscher der Naturwissenschaften des 19. Jahrhunderts findet, in einem allgemeinen Sinne entwicklungspsychologisch betrachtet, ihre Ergänzung und Entsprechung in der Reihe der großen Verkünder und Deuter der

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Gewalt und der Macht, die in Marx, Treitschke, Sorel und Nietzsche gipfelt. Und in unvermeidbarer Folgerichtigkeit mußte denn auch die Philosophie Nietzsches mit ihrem innersten, der Absicht des Schöpfers selbst entrückten Anliegen in eine Ideologie übergehen, um unter Abstreifung der meisten denkerischen Zutat praktische Handlungslehre und politische Wirkungslehre zu werden. Diese Ideologie wurde der Nationalsozialismus, in den mit seiner zunehmenden Erstarkung und Erweiterung nach dem ersten Weltkrieg das Gedankengut Nietzsches immer heftiger einströmte, bis es schließlich in zahlreichen Einrichtungen und Taten des nationalsozialistischen Staates greifbare und sichtbare Gestalt gewann — ganz anders, als sein Erzeuger es einst im Ringen um ein neues Menschenbild gedacht, aber doch eben Kind seines Geistes, Frucht seines Willens, Ernte seiner Saat. Was ging in diese neue Ideologie an einzelnen Forderungen, Geboten und Verheißungen Nietzsches ein? Schon aus der ersten Wirkungsperiode war es folgendes, was hier nur in gedrängter Kürze genannt werden kann: Die Idee des Übermenschen, der mit einem fanatischen Sendungsbewußtsein geladen ist und geboren wird aus der dionysischen Daseinssicht, die das Gegenteil der christlichen bildet. Die Auffassung des Lebens als Aneignung, Überwältigung des Fremden und Schwächeren, Unterdrückung, Härte, Aufzwingung eigener Form und Ausbeutung. Die an Macchiavelli erinnernde Anerkennung der Realität des Willens zur Macht als Urfaktum der Geschichte. Die Erkenntnis von dem zweitausendjährigen Irrweg der christlichen Moral, die eine Sklavenmoral sei und der modernen Massendemokratie den Weg bereitet habe, und die Überzeugung von der Notwendigkeit einer Herrenmoral. Die Lobpreisung des grausamen Krieges, des unbedenklichen Mutes und des blinden Gehorsams. Die Vorstellung von der Züchtung des Zukunftsmenschen jenseits von Gut und Böse, als des Trägers der großen Gesundheit. Die Prophetie vom Entspringen neuer Volker aus dem ungeheuren Zusammenbruch der alten, dekadenten Völkerwelt. Und die Verherrlichung der Selbstsucht! All diese verschiedenen Ideen, die vielfach ineinandergreifen, durchzieht die unbedingte Bejahung des Triebhaften, verkündet mit dem Pathos eines ganz diesseitigen Priestertums der Macht und der Gewalt. Nietzsches Lehre dient einem neuen Glauben an die vitale Kraft, das elementare Handeln. Er preist den Leib, in dem mehr Vernunft ist als in der besten Weisheit. Er preist das heftige Begehren, das Nächstenliebe und Mitleid als schwächlich ausschießt. Er preist das Raubtier mit dem unschuldigen Gewissen, die prachtvolle, nach Beute und Sieg lüsterne, schweifende blonde Bestie. Jeder soll in

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diesem neuen Glauben nach seinem Gesetz leben, das er selber schafft. Jeder soll hart werden und einen eigenen Willen haben. Jeder soll lieber böse als klein denken und seinen eigenen Teufel großziehen. Denn der Mensch muß stärker, böser und damit tiefer gemacht werden. Härte, Grausamkeit, Sklaverei, Gefahr, Versucherkunst, Teufelei jeder Art, alles Böse, Furchtbare, Tyrannische, Raubtier- und Schlangenhafte am Menschen dient ebensogut seiner Erhöhung wie das Gegenteil von all diesem. Denn das höchste Böse gehört zur höchsten Güte. Wer Schöpfer der neuen Zukunft sein will, der muß Vernichter sein und Werte zerbrechen. Dieser neue Glaube ist allerdings nur möglich, wenn der Mensch sich von allen Göttern und Anbetungen löst. Denn Gott ist nur eine Mutmaßung, die von der Denkbarkeit begrenzt wird. In dem nach Nietzsches T o d erschienenen „Willen zur Macht" werden dann die früheren Ideen in ein lockeres und doch einheitliches, innerlich geschlossenes System gebracht, das von der Politik der kommenden Epoche nur als Ganzes übernommen und, seines vordergründigen Charakters einer ästhetischen Provokation entkleidet, in die T a t umgesetzt zu werden brauchte. Der hierfür wesentliche Inhalt des Buches ist folgender: Es gibt kein Sein, sondern nur ein Werden, das ein unaufhörliches Ringen von Kraftquanten darstellt, von lauter Zentren des Willens zur Macht als des letzten Daseinsprinzips. Dieser Wille zur Macht, der jedes Lebensgebilde hierarchisch erfüllt, ist die primitive Affektform, die allen anderen Affekten zugrunde liegt — jeder Mensch will immer nur in unzähligen Verkleidungen ein Plus an Macht. Deshalb sind auch alle Werte bloß vom Menschen geschaffene Formen seines Willens zur Macht. Infolgedessen können Moralwerte lediglich Scheinwerte sein im Vergleich zu den physiologischen. Sämtliche bisher geltenden Werte und Ideale, die Ausstrahlungen des Christentums und seiner falschen Sittenlehre sind, teilen dies Schicksal und haben daher abgewirtschaftet — vor allem die Humanität. Denn die moderne Zivilisation, die von ihnen beherrscht wird, dient auf diesem Wege einzig der Desorganisation, der Schwächung der Spontaneität, der Müdigkeit, dem Verfall. Der Mensch verfällt bis zur Mißgeburt der Entartung durch Domestikation — die soziale Frage etwa ist eine Folge der zivilisatorischen Dekadenz. Inmitten dieses Verfalls aber gibt es hoffnungsvolle Anzeichen dafür, daß der Mensch sich nicht mehr wie früher seiner Triebe schämt: In der Moral sind Prinzipien lächerlich geworden. In der Politik werden die Probleme der Macht gesehen und die Rechte der Eroberung empfunden. In der Beurtei-

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lung des Menschen wird die Leidenschaft als Vorrecht gewertet und Größe dort gesehen, wo auch Verbrechen einbegriffen ist. Das gleiche drückt die militärische Entwicklung und die innere Anarchie Europas aus: Der Barbar und das wilde Tier in jedem Menschen wird bejaht, weil sie als männliche und kriegerische Tugenden vor dem drohenden Marasmus der Dekadenz schützen, auch wenn ungeheure Kriege als Kur zur großen Gesundheit der Zukunft in Kauf genommen werden müssen. Die künftige Gesellschaftsform dieser großen Gesundheit wird in strenger Abgeschiedenheit von einer höheren Kaste geschaffen werden, die als die Elite der starken Willensmenschen ihren Sinn allein im Besitz der Macht hat. Die übrige Menschheit ist als Überschuß der Mißratenen bloß Versuchsmaterial für sie, die als Führer keine Verantwortung vor der Herde der Geführten haben. Ihr Handeln darf kein anderes Gesetz kennen als reinen Macchiavellismus.Xübtrih.xcnKaaz in der sozialen Stufenleiter entscheidet das Quantum an Macht, das jeder verkörpert, während die Schwachen eine ungegliederte Masse bilden, deren Not kein Gefühl verdient. Eine tiefe Kluft soll Oben und Unten der neuen Gesellschaft trennen, die Mitte jedoch zerstören. Vorbedingung solcher neuen Gesellschaft und der sie schaffenden und führenden Herrensdiidit ist allerdings die Schaffung einer höheren Rasse jenseits von Gut und Böse. Dies letzte Ziel wird ganz naturalistisch gedacht: Vererbung, durch ärztlichen Rat bei der Auswahl des Ehepartners gelenkt, steht im Mittelpunkt der Zucht durch Züchtung. Unterstützt wird sie von technischer Berufsausbildung und Offiziersdienst der höheren Kaste, die durch Treue- und Entsagungsgelübde in Vereinen zusammengefaßt und als Auslese bestimmten Reifeprüfungen bis zum Erproben der Mitleidslosigkeit unterworfen wird, um vor allem Gehorchen und Befehlen zu lernen. Diese Herren der Erde werden dann in weiten Herrschaftsgebilden dem Willen philosophischer Gewaltmenschen und Künstlertyrannen über Jahrtausende hinweg Dauer verleihen, wobei sie sich des demokratischen Europa als eines Werkzeugs bedienen, um die Schicksale der Erde in die Hand zu bekommen. Ihren «Typus, den großen Menschen, kennzeichnet die Stärke seines Willens, die Größe seines Strebens, die Freiheit von jeder Uberzeugung, die Distanz zu allen anderen Menschen, die Bevorzugung der Lüge vor der Wahrheit, der Mangel an Teilnahme, die absolute Gefühllosigkeit gegenüber den Massen. Dieser große Mensch ist daher, indem er Übermensch ist, auch bewußt Unmgnsch. Es bedarf keiner Weiterführung und Ausfüllung des von Nietzsche enti i MOhleufeld, Politik

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worfenen Menschen- und Zukunftsbildes, das hier geboten wird, um darzutun, daß es sich bei all dem um eine rationale Fassung der reinen Triebhaftigkeit in höchster Ubersteigerung handelt, um ein nur aus dem Denken geborenes, aber nur dem Trieb dienendes und folgerichtig bei ihm endendes theoretisches Programm, angelegt auf den Bereich des sittlichen und geschichtlichen, sozialen und politischen Lebens. Und bloß in Nietzsches eigener Person, die von so viel Tragik erfüllt ist wie kaum eine andere der neueren Geistesgeschichte, liegt die Erklärung für den verwirrenden Umstand, daß diese rationale Vision der Triebhaftigkeit in einer Sprache dichterischer Bilder mitgeteilt wird, die nicht nur von Leidenschaft bebt, sondern auch und vor allem noch von Gefühl zittert. Ihr Schöpfer nämlich, der zugleich ein sensibler Dichter war, lebte sein persönliches Dasein noch ganz und gar in der alten Welt, die er vernichten wollte, und nicht einmal schon in derjenigen neuen Welt, die rings um ihn emporwuchs. Sein in einem tieferen Sinne weltfremdes persönliches Dasein ähnelt hierin nicht von ungefähr demjenigen Sorels, der ebenso bürgerlich lebte und ebenso zum Sprachrohr dessen wurde, was gleichsam unterirdisch in der inneren Verfassung des ganzen Zeitalters geschah. Verglichen mit Nietzsche, ist die Wirkung Hegels kaum minder außerordentlich gewesen. Aber sie bleibt bereits durch die Form des philosophischen Werkes, das sich so wenig zur Popularisierung eignet, weitaus verborgener. Demgemäß ist auch sein Einfluß auf die nationalsozialistische Ideologie, der zudem zeitlich viel weiter zurückweist, mehr im Hintergrund wirksam, dort jedoch aus mehrfachen Gründen ebenfalls ungemein folgenreich geworden. An sich scheint zwischen Hegel und Nietzsche eine unüberbrückbare Verschiedenheit zu bestehen: die Philosophie des Geistes steht der Philosophie des Triebes im üblichen Verstände fern und fremd gegenüber. Indessen hat schon Marx mit seinem System des materialistischen Sozialismus deutlich gezeigt, daß auch auf der gedanklichen Ebene in neuerer Zeit direkte Verbindungsfäden zwischen Ratio und Trieb hin und her laufen. Und die Hereinnahme der entscheidenden, gewissermaßen auf ihren nackten Kern reduzierten Gedanken Hegels und Nietzsches in die nationalsozialistische Ideologie zeigt dann vollends, daß beide Mächte in unserem Zeitalter tatsächlich wie nie zuvor in engster Beziehung zueinander stehen — das zivilisationsbedingte Wechselspiel zwischen Ratio und Trieb wird an der Wirkung Hegels und Nietzsches in dieser letzten und neuesten der modernen Heilslehren besonders offenkundig.

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Für Hegel, der alles Sein in reines Denken auflöste, war die Weltgeschichte die Selbstdarstellung des sich in immer neuen Formen entwickelnden Weltgeistes, der mit Gott gleichgesetzt wird. Der dadurch bewirkten Verweltlichung der Gottesidee entspricht folgerichtig eine Vergöttlichung der Welt, in deren zahllosen irdischen Formen und Gestalten sich der Geist, während seine Natur doch immer die gleiche bleibt, in einem unendlichen dialektischen Prozeß der Entzweiung und Vereinigung von Stufe zu Stufe fortschreitend gleichsam selber auslegt. Jede dieser Formen und Gestalten ist eine Manifestation und Dokumentation der Weltvernunft, die als Triebfeder alles Geschehens wirkt. Dabei bedeutet das Neue gegenüber dem Alten stets eine höhere Art ihrer Verwirklichung. Von diesem spekulativen Mythos aus, der als geistige Schöpfung unleugbar zu den1 großartigsten Zügen des in seinem Säkularisationsprozeß begriffenen neuzeitlichen Denkens gehört, erscheint dann als höchste Form der dialektischen Selbstverwirklichung des Geistes der Staat. Der Staat ist auf der jeweiligen Entwicklungsstufe des Weltgeistes das Vernünftige schlechthin, das an und für sich seiende Göttliche. Die von dieser Grundthese bestimmte Staatslehre gab, nach einem wechselvollen Schicksal ihrer Fortbildung und nach weitgehendem Wegfallen des spekulativen Hintergrundes schon im 19. Jahrhundert, schließlich im 20. Jahrhundert der nationalsozialistischen Ideologie das theoretische Fundament, auf dem ihr totaler Staat sich erheben konnte. Bot die hegelianische Staatslehre doch die gedankliche Stütze und Rechtfertigung für den Aufbau eines völlig durchrationalisierten Zwangsstaates, der nicht ohne Grund dem kommunistischen Rußland ähnelte und unter der Maske einer künstlichen, die noch vorhandenen Glaubenskräfte breitester Volksschichten zynisch ausnutzenden Mythologisierung alle und jeden zu Dienern, Knechten und Sklaven seiner Zwecke machte. Dabei ist aber bis zur Machtergreifung des Nationalsozialismus Hegels Staatsgedanke von den Theoretikern der Ideologie vor allem unter dem Einfluß Nietzsches direkt abgelehnt und erst später, als die praktische Durchführung und Sicherung der ideologischen Herrschafl akut wurde, mit einer weitgehenden Identifizierung von Staat und Volk tatsächlich anerkannt worden. Allerdings blieb diese Anerkennung Hegels im wesentlichen auch dann auf den engeren Kreis der maßgebend am Staatsaufbau Beteiligten beschränkt. Die Berufung auf seine Lehre blieb gewissermaßen eine Elitenphilosophie der Herrschaftspraxis, während man der geführten Masse nur die Institutionen und Organisationen nahebrachte, die ihrer Verwirklichung dienten, ii»

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Diese allmählich den ganzen Bereich des gesellschaftlichen Lebens teilweise bis zur Entleerung der privaten Sphäre ausfüllenden Formen der administrativen und ökonomischen, sozialen und politischen, wissenschaftlichen und erzieherischen, künstlerisdien und sportlichen Organisation atmeten sämtlich in der einen oder anderen Weise den rationalen Geist der Staatslehre Hegels. Sie glichen den Armen des völlig versachlichten Staates, in dessen mythisch verkleidetem Kollektivismus der einzelne Mensch verschwand und zur Masse wurde. Was aber Hegel einstmals unter vergleichsweise harmlosen Verhältnissen am Beginn des Säkularisationsprozesses der neueren Zeit zum Rang einer höchsten Darstellung der Weltvernunft erhoben hatte, den bürokratischen Beamtenstaat, das konnte nun, in der hochentwickelten technischen Zivilisation und am vorläufigen Ende der allgemeinen Säkularisierung des Lebens, zu der alles ergreifenden und durchdringenden zentralistischen Funktionär smaschine gemacht werden, die der nationalsozialistische Staat tatsächlich mit jedem Jahr seines Bestehens mehr wurde. Die Mittel dazu bot vor allem, ja eigentlich allein die moderne Technik in einer geheimen Verwandtschaft der Ziele. Die rationale Technik als größtes Ordnungs- und Machtinstrument, und das heißt mit ihren unerschöpflichen Möglichkeiten der Organisation und Expansion, der Normierung und Zentralisierung, verhalf nämlich dem rationalen Staat erst zur Vollendung seiner Totalität. Und durchaus folgerichtig führte dann die ideologische Herrschaftspraxis, bestimmt durdi die sozialistischen Einschläge ihrer vielfarbigen Doktrin, alsbald zum planwirtschaftlichen Denken: die ganz sachlich betriebene Organisation des Menschen im ganz materiell gesehenen Vernunftstaat, der zugleich ohne tatsächlichen Gegensatz ein mythologisch getarnter Staat äußerster individueller und kollektiver Triebentfesselung ist, wird durch die konsequente Technisierung und extreme Planung des Lebens überhaupt erst vollständig gemacht und besiegelt. Gerade diese mühelose, weil durch die hier wirksame Vorstellung vom Staate zwangsläufig bedingte Einverleibung des technischen Moments in die Heilslehre belegt am nachdrücklichsten ihren tief rationalen Charakter. Dieser Ideologie blieb denn auch bis zu ihrem Ende alle Romantik, trotz der vielen Mythen, lediglich fremder Zierat — die sogenannte irrationale Note des Nationalsozialismus war bis zu seinem Untergang zweifellos wesentlich triebhafter Art und hatte so gut wie nichts mit jenem Uberschwang der Gefühle zu tun, den man romantisch zu nennen pflegt. Indem Hegel den politischen Staat als die höchste Form des Geistes legiti-

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mierte, setzte er ihn ohne Willen und Wissen für die Zukunft zugleich von allen bisherigen Bindungen frei. Denn wenn der Staat als solcher das größte Maß an Vernunft in sich schließt, wenn er die letztmögliche irdische Selbstdarstellung des Weltgeistes bildet, dann ist er auf jeder Verwirklichungsstufe desselben risikolos frei und nur sidi selbst verantwortlich. Dann sind ebenfalls seine Äußerungen und Handlungen schlechthin vernünftig, wie auch immer sie beschaffen sein mögen. Wenn alles Wirkliche, wie Hegel mit seinem System bewies, vernünftig ist und umgekehrt, wenn mithin Denken und Sein identisch sind, dann müssen auch Recht und Macht in eins zusammenfallen, dann müssen die sittlichen Normen einerseits und die Willensäußerungen: und -handlungen des Staates andererseits identisch sein. Aus dieser unvermeidlichen Folgerung wuchs, weit über den Machtgedanken des aufgeklärten Absolutismus im 18. Jahrhundert hinausreichend, der gedanklidie Weg zum totalen Maditstaat des 20. Jahrhunderts. Sein Auftreten läßt denn auch nur die aus dem gleichen Denken stammenden Grundtendenzen des technischen Zeitalters auf der Ebene der Politik weithin sichtbar werden: die totale, sich selbst zur sittlichen Norm erhebende politische Staatsorganisation wird ohne Umweg von der totalen, nur der eigenen Befriedigung lebenden politischen Machtfülle ihrer Träger namens der Nation in Besitz genommen. Die höchste Form der Rationalität wird notwendig von der höchsten Form der Triebhaftigkeit ausgefüllt — die Ratio befreit und ermächtigt den Trieb. Tief in der Theorie verborgen, liegt hier der wahre Keim des Grundsatzes, der später den ideologischen Staat selbst zerstörte: Recht ist, was dem Volke dient. Der bereits durch und durch rational angelegte StaatsbegrifF Hegels zog, nadidem der moderne Säkularisationsprozeß sich in einem knappen Jahrhundert vollendet hatte, in der nationalsozialistischen Theorie und ihrer Praxis also dreierlei nach sich: die Übersteigerung des Staates bis zur Ausbildung seiner realen Totalität, die Verschmelzung von Technik und Staat bis zur übergangslosen Durchdringung beider im staatlichen Apparat, und die Ausnutzung des auf diese Weise allgegenwärtig gewordenen politischen Staates zur radikalen Verwirklichung des Machttriebes, der sich mit künstlich geschaffenen Mythen vor anderen und sich selbst maskiert. Damit wurde der Nationalsozialismus in Wirklichkeit zum Vollender des völlig säkularisierten Hegeischen Staatsdenkens, und zwar in seltsam plötzlicher Art mit einer erstaunlich kurzfristigen Kraft. Denn sicherlich waren die Elemente des Hegeischen Staatsbegriffs, zusammengefaßt in der Vor-

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Stellung von der Staatsräson als reiner Interessenpolitik, audi schon vorher wirksam geworden — in Deutschland am sichtbarsten etwa in der Politik Bismarcks. Aber diese gewissermaßen einleitende Wirksamkeit Hegels ging doch, wie billigerweise festgestellt werden muß, tatsächlich nicht wesentlich über den Rahmen hinaus, den auch die anderen großen und kleinen Völker Europas zu gleicher Zeit mit ihrer kriegerischen Politik der nationalen Konsolidierung oder des kolonialen Imperialismus absteckten. Und selbst der triebhafte Nationalismus, der langsam anschwellend das 19. Jahrhundert erfüllte und die im Gefühl beruhende Sittlichkeit gerade des öffentlichen H a n delns meist völlig unbemerkt verdrängte, war keineswegs auf den Umkreis der Philosophie Hegels beschränkt. Was den Staatsgedanken Hegels mit allen in ihm schlummernden Konsequenzen erst zu seiner hybriden Vollendung im Nationalsozialismus brachte, das war infolgedessen allem Anschein nach das Zusammentreffen mehrerer Faktoren. Die geschichtliche und geographische Situation, die Vollendung der Säkularisierung unserer Daseinswelt, die hochentwickelte Technik und vor allen Dingen die mit dem ersten Weltkrieg zu extremer Spannung gediehene innere Verfassung des Gegenwartsmenschen, jene einseitige Betonung der Rationalität und die damit verbundene Entfesselung der Triebhaftigkeit, mußten sich vereinigen, um das ideologische System hervorzubringen, das dann — indem es mit den anderen, auf derselben geistig-seelischen Bahn befindlichen Staaten zusammenstieß — die ganze Welt in die Katastrophe des zweiten Weltkrieges hineinzog. Fraglos war der Nationalismus, der in der deutschen Fassung des Faschismus mit ganz besonderer Heftigkeit zur Verkörperung kam und dessen aktivistische Eigenart erst aggressiv auf die Spitze trieb, seit langem vorbereitet. Schon mehrfach in unserer Untersuchung ist der moderne Nationalismus als eine im Gesamtzusammenhang der zivilisationsbedingten Triebentfesselung zutage tretende politische Ausdrucksform des Kollektivegoismus bezeichnet worden, den frühere Zeitalter gar nicht in dieser Weise kannten. Sehen wir hier einmal von den auch bei anderen Völkern unseres Kulturkreises im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts zahlreich auftauchenden Beispielen f ü r eine prinzipiell ähnliche Entwicklung zum politischen Kollektivegoismus ab, deren Erkenntnis auch außerhalb unserer Grenzen mit dem wachsenden Abstand zum zweiten Weltkrieg ständig zunimmt, so hat der Nationalismus in Deutschland bis zur Endphase offenbar vier große Stufen seiner zunehmenden Verschärfung durchgemacht:

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Die erste Stufe umfaßt den gewöhnlich als romantisch angesprochenen, in "Wahrheit aber idealistischen „Patriotismus" der Anfänge des 19. Jahrhunderts, der als Ergebnis der von Westen kommenden Freiheitsideen im gemeinsamen Kampf der europäischen Völker gegen den napoleonischen Imperialismus und den frühen Nationalismus Frankreichs entstand. Die zweite Stufe umfaßt den liberalen Nationalismus des Zollvereins und der Paulskirche, gekennzeichnet durch den realen Umschwung von der ständischen zur Klassenordnung, von der agrarisch-handwerklichen zur kapitalistisch-industriellen Wirtschaft, von der vortechnischen zur technischen Lebensform. Die dritte Stufe umfaßt den sozusagen geopolitischen Nationalismus des Kaiserreichs, der in einer Epoche der allgemeinen staatlichen Konzentration und Expansion, des Kolonial- und Wirtschaftsimperialismus sowie der Kulturpropaganda, der nationalen Einigungsbestrebungen und Großmachtbewegungen in Europa emporwuchs und dann im offiziell zwar ziemlich wirkungslosen, inoffiziell jedoch äußerst wirksamen Alldeutschtum oder später in der kaum minder folgenreichen These vom „Volk ohne Raum" gipfelte. Und die vierte Stufe bildet der grenz- und auslandsdeutsche Nationalismus der Zeit nach dem ersten Weltkrieg, die im Zeichen des strikten Nationalitätenprinzips stand. Dieser aus dem modernen Erlebnis der Fremde vor allem östlicher Prägung entstandene Nationalismus war es, der alle kollektivegoistischen Impulse, die noch unter den Resten der Konvention schlummerten, in heißer Leidenschaft zusammenfaßte und vielfach bis zu blinder Selbstüberschätzung steigerte. Ohne deutliche Übergänge zu zeigen, vollzog sich innerhalb Deutschlands unter der täuschenden Hülle der Vaterlandsliebe in diesen vier Stufen die erst langsame und bald immer schnellere Herausbildung des speziell politischen Kollektivegoismus, der bis auf den heutigen Tag für alle großen und kleinen Völker nicht nur Europas charakteristisch ist. Und wie derselbe dann, begünstigt durch die jeweilige geschichtliche und wirtschaftliche Lage, in der ganzen faschistischen Ideologiengruppe der Epoche scheinbar unversehens zum bestimmenden Faktor der Politik wurde, so wurde er auch in der deutschen Fassung überraschend kurzfristig die größte Kraft hinter allem zeitlichen Geschehen. Als solcher riß er schließlich in einer letzten, überhaupt nur noch entwicklungspsychologisch zu begreifenden Ubersteigerung mit sich selbst auch die anderen europäischen Völker, deren Politik nach dem ersten Weltkrieg sein Auftreten wie sein Großwerden mehr oder weniger stark mitverschuldet hatte, in den Abgrund des zweiten Weltkrieges hinein.

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Der verschlungene, aber dennodi in sich klare W e g zu diesem Schlußakt der Tragödie des modernen Nationalismus in Deutschland wird uns im weiteren Verlauf der Darstellung an anderer Stelle noch länger beschäftigen. Mit diesem als Nationalismus politisch auftretenden Kollektivegoismus, der in seiner fast uferlosen Ausbreitung ganz ähnlich wie der entfesselte Machttrieb eine eindrucksvolle Fülle von rationalen Argumenten aller Art zu seiner Begründung heranzog, verband sich in der nationalsozialistischen Ideologie ein sehr erheblicher Anteil sozialistischer Elemente, die als deutscher Sozialismus bezeichnet würden. V o n Anfang an wirkte dieser Sozialismus, so ernsthaft und ehrlich er von vielen Trägern und Anhängern der Lehre gemeint war, als eine dem Zeitgeist entsprechende Rechtfertigung der ideologischen Maßlosigkeit in der tatsächlichen Herrschaftspraxis. Es war der Sozialismus einer ganz abstrakt anmutenden Fürsorge für den Menschen nicht als Einzelnen, sondern als Typus des Volksgenossen. Als solcher diente er vor allem dazu, die Diktatur als System einer autokratischen Regelung aller Abhängigkeitsverhältnisse erträglich zu machen und ihren Widerspruch zum Gleichheitsdenken der modernen Zivilisation zu verdecken. Hinzu kam, daß in alle Herrschaft ein extrem nationales Ethos hineingelegt wurde. Der Appell an den politischen Kollektivegoismus erfolgte nämlich nicht nur im Hinblick nach außen, sondern auch mit nicht geringerer Stärke im Hinblick nach innen. Und auf ihm als vermittelnder Grundlage gelang es der Ideologie, eine Synthese zwischen dem sozialistischen Prinzip der Gleichheit, das als grundlegende Zeittendenz des hochausgebildeten rationalen Denkens auch den Nationalsozialismus bestimmte, und dem „autoritären Prinzip" einer strikten Unterordnung, das als genossenschaftliche Führung begriffen werden sollte, zu bewerkstelligen. Über ihre theoretische Einheit hinaus war diese Synthese, vor der allem Anschein nach jeder Sozialismus über kurz oder lang als Aufgabe steht, auch praktisch von erheblicher Leistungsfähigkeit. Die Erklärung hierfür liegt in diesem Falle wohl darin, daß eben die vermittelnde Grundlage des Nationalismus nach außen — in der allgemeinen Politik, die immer neue Erfolge verlangte und ohne Rücksicht auf das Risiko der möglichen Folgen herbeizwang — und nach innen — im Rassenkampf, der immer mehr verschärft wurde und am Ende während des Todeskampfes der Ideologie zum verborgenen Kollektivmord am Judentum führte — einen so bedeutenden Teil der entbundenen Triebhaftigkeit befriedigte, daß die großen Organisationen der Masse vollauf genügten, um dem Gleichheitsdrang ein Ventil zu geben und ihn

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nicht mit der offenen Darstellung der autoritären Praxis in eine endgültige Kollision geraten zu lassen. Die großen Massenorganisationen, die besonders in den Anfängen der nationalsozialistischen Herrschaft mit der ganzen Tyrannei der ideologischen Nivellierung einer Erfüllung des Gleichheitsstrebens dienten, waren jedoch offenkundig bloß der Vordergrund des sozialistischen Einschlags in der Ideologie. Im Hintergrund waren mit zwar weniger unmittelbaren, aber dafür um so tieferen Folgen zwei Programmpunkte wirksam, die aus derselben Geistesrichtung stammten: die soziale Vorstellung von der Volksgemeinschaft, in der als einheitlicher höherer Ordnungsform für alle mit der Zeit jeder Volksgenosse aufgehen sollte, und die ökonomische Vorstellung von der Planwirtschaft, die als zentrale Verwaltungswirtschaft dem freien Kapitalismus mit seinen Krisen ein Ende bereiten und auf dem Wege der Vollbeschäftigung das Recht des Einzelnen auf Arbeit allgemein verwirklichen sollte. Auch wenn der Gedanke der Planwirtschaft hier nicht aus dem direkten Willen zur radikalen Änderung der Eigentumsverhältnisse kam, so war seine Wendung gegen jegliche Freiheit in der Wirtschaftsauffassung doch durchaus geeignet, sozialistischen Erwartungen und Ansprüchen Nahrung zu geben — das heißt, de facto war auch diese im Zeichen sozialer Gerechtigkeit mit Befehl und Zwang arbeitende Planwirtschaft ein sozialistisches Experiment. Dabei wurde der aus der kompletten Planwirtschaft alsbald entstehende Staatskapitalismus mit seiner straff zentralisierenden Riesenbürokratie und seinem überall hinreichenden Druck auch hier durch den Hinweis verschleiert und gerechtfertigt, daß es sidi um ein Wirtschaftssystem des Volkes handele, an dem jeder Volksgenosse als gleichberechtigtes Glied der Nation Anteil und Besitzrecht habe. Gerade die Planwirtschaft war es außerdem, die zu der bezeichnenderweise an Lenins Forderung erinnernden Anschauung führte, daß eigentlich jedermann ein Arbeiter oder Angestellter des Staates sei. Das Heer der uniformierten und nichtuniformierten Beamten, die das ideologische System in der Praxis seiner Herrschaft als totale Verwaltung — vielfach in Ausübung affektiv betonter hoheitlicher Funktionen des Volksstaates — repräsentierten, stellte bildlich gesprochen nur so etwas wie die Reiterei dar, hinter der die übrige Volksgemeinschaft als eine Art Fußvolk hermarschierte. Das gesamte Volk war dann zum Schluß gewissermaßen ein kollektives Arbeitssyndikat geworden, das als solches zentral geführt und verwaltet wurde und sich schließlich auch mit

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einem spürbar sozialistischen Pathos so empfand, ohne daß dadurch der nationalistische Charakter aller Arbeit für die Volksgemeinschaft beeinträchtigt worden wäre. Spannte der Nationalismus in solcher Weise den Sozialismus als Planwirtschaft gleichsam in seine Dienste, ohne daß die Realität dieses gesamten vielschichtigen Vorgangs einen merklichen Bruch gezeigt hätte, so geschah das gleiche mit dem Mittel des zweiten Programmpunktes. Die Vorstellung von der Volksgemeinschaft trug in der nationalsozialistischen Ideologie unverkennbare Spuren jenes Ideals der klassenlosen Gesellschaft, das dem Sozialismus als letztes Ziel eines glücklichen, gerechten und spannungsfreien Zusammenlebens der Menschen vorschwebt. Auch hier trafen sich Nationalismus als politischer Kollektivegoismus und Sozialismus als leidenschaftlicher Gleichheitsdrang des Menschen in der rationalen Zivilisation auf derselben Ebene. Beide waren bloß verschiedene Ausdrucksformen ein und desselben Vorgangs, deren Vereinigung oder Verschmelzung deshalb auch so merkwürdig reibungslos gelang, zumal die äußeren Bedingungen dafür zu den inneren hinzukamen. So wurde die Volksgemeinschaft gleichsam eine nationalisierte Form der sozialistischen Zukunftsutopie von der klassenlosen Gesellschaft — mit derselben gleichmacherischen Vehemenz erstrebt wie jene, mit derselben gleichmacherischen Tyrannei durchgesetzt wie jene und im selben gesellschaftlichen Massenzustand endend wie jene. Denn die horizontale Gliederung, die den Schöpfern und Anhängern der nationalsozialistischen Zukunftsutopie einer Volksgemeinschaft als moderne Form der Ständeordnung vor Augen stand, blieb trotz aller Bemühungen und vieler guter Ergebnisse im einzelnen doch ein abstraktes Ziel, dem sich die Wirklichkeit nicht fügen wollte. Audi das Resultat der nationalisierten Gesellschaftsform des Sozialismus war letzten Endes lediglich die Einebnung der Gesellschaft zur Masse, die Nivellierung des Einzelnen zum Typus, die persönlichkeitsfeindliche Schaffung eines genormten Menschen, dessen Welt nur noch politische, soziale wie nationale Perspektiven eröffnete, aber nichts wesentlich Eigenes und Besonderes mehr zulassen wollte. Betrachten wir nunmehr auch die Fortschrittsvorstellung der nationalsozialistischen Lehre als Weltanschauung, so erhebt sie sich aus der Gesamtheit der ideologischen Überzeugungen in ganz maskierter Gestalt dennoch mit höchster Eindringlichkeit. Sie geht noch über das hinaus, was die italienische Fassung des Faschismus als Fortschritt erlebte. Es ist nicht mehr der vergleichsweise naive und leicht erkennbare Fortschrittsoptimismus der Auf-

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klärung oder des Liberalismus. Es ist auch nidit mehr der hauptsächlich auf Wissenschaft und Erziehung vertrauende Fortschrittsglaube des Sozialismus und des Kommunismus. Sondern es ist ein ganz und gar vom Trieb überwältigter, unter vielerlei historischen und aktuellen Masken verborgener Fortschrittsfanatismus, der bis zur äußersten Konsequenz die der Idee des Fortschritts innewohnende Absicht auf fortwährende Veränderung hin entwickelt. Die Fortschrittsidee wird hier nämlich endgültig zum Prinzip des ruhelosen Kampfes als Lebensmaxime, eines Kampfes, der willentliche Rationalität und das heißt völlige Berechenbarkeit des Daseins in Wahrheit als alleinige Bedingung der menschlichen Existenz annimmt und die stillwirkenden Kräfte der Wirklichkeit — die man, in blasphemischer Weise andere und sich selbst täuschend, dauernd im Munde führte — in Wahrheit lediglich als Kulisse für sein Handeln benutzt. Die Triebhaftigkeit ist mit anderen Worten völlig in die Grundkategorie des rationalen Denkens eingedrungen. Die Ratio wird, ihre Objektivität ganz und gar verlierend, gleichsam nur noch Triebwerkzeug, und der Trieb äußert sich, alle Gefühlsbindung ganz und gar abwerfend, gleichsam nur noch als nackte Zweckhaftigkeit. Auf diese Weise wurden dann in heimlicher Folgerichtigkeit die Ausdehnung der ideologischen Rassenidee über alle Grenzen hinweg, die Steigerung der nationalen Macht bis zur Konzeption der Weltherrschaft, die extreme Intensivierung der Planwirtschaft und der Volksgemeinschaft zu einem riesigen Experiment geschichtlichen Lebens, wurden die biologische Züchtung immer verwendungsfähigerer Artgenossen und dergleichen utopische Vorstellungen zusammen mit dem Ideal einer völligen Technisierung der menschlichen Welt zum Inhalt des Fortschritts. Wenngleich das wirkliche Leben dieser Ratio und Trieb bis zur Unkenntlichkeit vermischenden Fortschrittsvorstellung einer zivilisatorischen Barbarei immer wieder erhebliche Schranken entgegensetzte, wenngleich unterhalb und innerhalb ihrer hybriden Herrschaft immer wieder sozusagen weite Inseln der individuellen Bewahrung entstanden und mit ihren gegenläufigen Kräften keineswegs ein einheitliches Bild der von solcher Fortschrittsidee bestimmten Zustände aufkommen ließen, so waren das doch ihre eigentlichen Züge. Die historisch wohl einzigartige Lage der ideologischen Herrschaftspraxis dieser jüngsten der modernen weltlichen Heilslehren deckte sie gegen Ende ihres Weges immer unmißverständlicher auf.

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Ihre letzte Vollendung aber fand die Hybris dieser Ideologie in den Bestrebungen zur 'kultischen Vergottung ihrer Inhalte, das heißt zu einer regelrechten „Diesseitsreligion" von Volk und Rasse. Damit wandte sich die entbundene Triebhaftigkeit in einer unheimlichen Inversion zu sich selbst, um mit Hilfe des Verstandes und unter verschwommenen Rückgriffen auf kollektiv aufbewahrte Vorstellungen aus der germanischen Vorzeit einen neuen, noch nie dagewesenen Bereich von „Transzendenz" zu schaffen, dessen „Kult" auf mythologisierter Geschichte und Biologie aufbaute. Hatte die Große Revolution als die Mutter der modernen Ideologien einst die Vernunft als Göttin verehrt, hatte Hegel dann Gott in die Geschichte hineingezogen und die Menschheit zum werdenden Gott erhoben, so wurde hier der Mensch selber in Gestalt seines Volkes und seiner Rasse zum Gegenstand eines Glaubens, der allen Ernstes zur Religion des 20. Jahrhunderts gemacht werden sollte. Fraglos war diese Inversion, die eine der tiefsten Wurzeln der mythologischen Politik der ideologischen Herr schaftspraxis jedenfalls im engeren Kreise ihrer Träger bildete, die äußerste Ubersteigerung jener triebhaften Selbstsucht, die auch anderswo uneingestandenermaßen als ständige Tendenz in der Gegenwartsform der modernen Ideologien überhaupt schlummert. Aber sie war gerade im Falle des Nationalsozialismus noch viel mehr. Denn mit ihr wurden, in einer trotz des starren Fanatismus tatsächlich dodi furchtbaren Naivität, die Konsequenzen derjenigen Prinzipien bis zum Schluß gezogen, die aus allen modernen Ideologien in dieser jüngsten Heilslehre zusammengeflossen waren: die Freiheit wurde hier nicht nur zur Freiheit von Gott, die Gleichheit nicht nur zur Gleichheit mit Gott, die Brüderlichkeit nicht nur zur kollektiven Bruderschaft der reinen Physis, sondern sie wurden selber zu einem neuen Gott, der im Diesseits wohnte und als solcher verbunden war mit den schon in der Großen Revolution beispielhaft für den weiteren Weg des Zeitalters freigesetzten Triebregungen von Gewalt und Haß, Hochmut und Herrschsucht, ja der diese Regungen geradezu forderte und herbeizwang. In dieser neuen „Religion" des Volkes und der Rasse trat, nicht von ungefähr an vorchristliche Zeiten erinnernd, das der Menschheit in höchster Konzentration entgegen, was die modernen Ideologien auf ihrem gewissermaßen mit einem großen Tabu belegten Grunde als heimlichen Bodensatz enthalten: der Abfall vom Gefühl durch Hypostasierung der Ratio und Inthronisierung des Triebes. Am Ende seines langen Weges hatte sich also der Atheismus hier schließlich seine Religion gegeben

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und gleichsam selber zu einem Gott gemacht, der dem psychologischen Gesetz des Zeitalters entsprach. Wie der vorstehende Uberblick bereits erkennen läßt, ist der Nationalsozialismus hinsichtlich seiner eigentlichen Wurzel zwar auf die einfache Formel des politischen Kollektivegoismus zu bringen, als gedankliche Theorie aber, überblickt man seine Entwicklung vom Anfang bis zum Ende, so komplex wie keine andere der modernen Ideologien. Im Rahmen einer Gesamtbetrachtung steht er am vorläufigen und wahrscheinlich auch endgültigen Schluß jener Reihe von großen Heilslehren des Zeitalters der allgemeinen Säkularisation, in deren Bann die Menschheit seit Generationen lebt. Als solcher faßte er, je weiter sein Weg ging, Bestandteile fast aller Formen des politischen Denkens der Neuzeit zusammen, die je nadi Zeit und Gelegenheit ausgespielt wurden, wenn es der nationale Egoismus gebot. Dieser auffällige und anfällige Synkretismus seiner Theorie, die zumal während der späteren Jahre ihrer offiziellen Geltung eine wahre Farbenskala von verschiedenartigen Gedanken in sich vereinigte, dürfte denn wohl auch einer der wesentlichsten Gründe dafür sein, daß der Nationalsozialismus — ob man nun den Zusammenbruch seines Staates mehr unter außen- oder mehr unter innenpolitischen Aspekten sehen will — die kürzeste Lebensdauer in der Reihe der modernen Ideologien gehabt hat. Er wollte zuviel auf einmal, er handelte als letzte Ideologie auf dem Höhepunkt der allgemeinen Triebentbindung gleichsam zu blind aus seiner überladenen Wunschbild-Situation heraus und erhielt daher auch die härteste und schnellste Antwort der Wirklichkeit, die jemals einer großen weltlichen Heilslehre zuteil wurde. Mit diesen beiden Umständen, der relativ kurzen Lebensdauer und der Stellung am Ende der Geschichte weltlicher Heilslehren im technischen Zeitalter, dürfte es ferner zusammenhängen, wenn man beim Nationalsozialismus nicht in dem Sinne wie bei den übrigen Ideologien direkt von einer konservativen Wendung sprechen kann — von jener rettenden Wendung also, die aus den Widersprüchen und Sackgassen herausführen soll, in denen sich von einem gewissen Punkt ihrer Entwicklung ab bisher noch jede moderne Heilslehre verstrickt hat. Dennoch läßt sich auch hier geistesgeschichtlich ein ähnliches Phänomen beobachten — trotz der kurzen Lebensdauer, trotz der Stellung am Ende der ideologischen Reihe und trotz des Synkretismus der Theorie, in der ja von vornherein auch einzelne konservative Elemente vorhanden waren. Der Unterschied besteht im Vergleich zu den anderen Ideologien allerdings darin, daß diese Wendung sozusagen bloß posthum,

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das heißt erst nach dem historischen Tod der Lehre und ihres Staates eingetreten ist. Die noch übriggebliebenen Anhänger der gestürzten Lehre versuchen nämlich — dem Charakter dieser Wendung gemäß — dadurch eine Rechtfertigung und Ehrenrettung der Theorie vorzunehmen, daß sie gewissermaßen nachträglich den politischen Akzent ihres Bekenntnisses vor allem auf die konservativen oder pseudokonservativen Züge der synkretistisdien Idee legen, die Menge der sonstigen Züge dagegen entweder einfach ausklammern oder doch als nebensächlich mehr oder weniger bagatellisieren. Mit Hilfe dieses ideologischen Tricks wird dann unter Mißachtung des tatsächlichen Sachverhalts von einem echten Nationalsozialismus, der gut gewesen sei, und einem unechten Nationalsozialismus, der schlecht gewesen sei, gesprochen. Die Eigenart des geschichtlichen Schicksals dieser letzten der großen Heilslehren hat mithin dem systematisch wie historisch allem Anschein nach vorgeschriebenen Prozeß der Flucht vor den eigenen Konsequenzen ein spezielles Aussehen verliehen. Die unausbleibliche konservative Wendung, an der wenigstens ansatzweise keine moderne Ideologie von Gewicht und Belang vorbeizukommen vermag, ist infolge des katastrophenhaften Endes nach bloß kurzer Herrschaftsdauer gleichsam in eine posthume Phase der politischen Heilslehre hinausgeschoben worden. Wie irrig und falsch es jedoch ist, einen solchen Unterschied zu konstruieren und damit sich selbst oder andere über die Wahrheit in der Sache hinwegzutäuschen, das lehrt jeder Blick auf die übrigen modernen Ideologien, als einzelne und als Gesamtheit. Einmal nämlich beweisen die verschiedenen Regenerationsversuche bei diesen übrigen Ideologien, daß einzelne konservative Elemente — falls es sich nicht bloß um pseudokonservative Züge handelt — immer nur Episode bleiben müssen, wenn man eben an der Ideologie als solcher und damit am künstlich-abstrakten Ideal in der Politik festhält. Vollzieht man indes die konservative Wendung mit verbindlicher Folgerichtigkeit, so bedeutet das ein Heraustreten aus der Ideologie und der ganzen Wunschbild-Situation überhaupt samt allen Weiterungen für die wirkliche Lage. Prinzipiell ändert sich an solcher Konsequenz auch nichts, wenn man diese Wendung posthum vollzieht, obwohl dann praktisch natürlich noch viel weniger Aussicht auf eine Korrektur des Irrtums durcii die Realität besteht als sonst. Und zum andern beweist die Betrachtung jener Glaubenslehren als Gesamtheit, daß die Aufstellung und Durchsetzung politischer Wunschbilder gegen die natürlich-geschichtliche Entwicklung anscheinend immer bloß im Rahmen der innermenschlichen Korrespondenz

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zwischen Ratio und Trieb vor sich zu gehen vermag. Infolgedessen darf man sagen: je strahlender einem die Lichtseiten einer Ideologie vorkommen, desto dunkler müssen mit der Notwendigkeit eines psychologischen Gesetzes ihre Schattenseiten sein, mag die Praxis diesen Tatbestand auch noch so lange verhüllen. Denn je mehr sich das politische Ideal von der Wirklichkeit, also von den na türlich- geschieh tlich vorhandenen Bedingungen der wirklichen Lage entfernt, desto größer muß die Menge der dem Menschen H a l t gebenden Bindungen und Schranken sein und werden, deren Vernichtung und Zerstörung dies Ideal zu seiner Umsetzung in die Realität verlangt und erzwingt. Desto größer muß aber auch1 das Maß an Triebhaftigkeit sein und werden, das es zur Realisierung erfordert und entfesselt — und zwar Triebhaftigkeit im Sinne positiver wie negativer Wirkung. Als besonders eindrucksvolles Beispiel hierfür, für den Zusammenhang zwischen der scharfen Diskrepanz Wunschbild-Wirklichkeit einerseits und dem harten Gegensatz Licht-Schatten andererseits, dient nicht bloß der Nationalsozialismus in Deutschland, sondern audi der Kommunismus in Rußland, w o ebenfalls das politische Ideal auf ganz und gar andersartige Bedingungen der natürlichgeschichtlichen Lage traf und sich das Licht der Theorie dann höchst folgerichtig in die Nacht der Praxis verwandelte. Die jeweilige Erscheinungsform des Geschehens ist zwar überall verschieden, aber der prinzipielle Vorgang ist immer derselbe! Mit einem Wort: man begeht nach nunmehr anderthalb Jahrhunderten beweiskräftig gewordener Erfahrung vom Wesen und Wirken der modernen Ideologien ganz offenbar einen folgenschweren Denkfehler mit der Annahme, deren positive Seiten einfach von den negativen Seiten trennen und für sich nehmen zu dürfen. Vielmehr gehören bei dem historischen Auftreten jeder Ideologie beide Seiten aus den unwiderlegbaren Gründen der geistigseelischen Beschaffenheit des Menschen, von der auch alles Kulturwerk hintergründig bestimmt wird, untrennbar zusammen. Das heißt, es gibt bei keiner Ideologie eine wahre, echte, gute Form und eine falsche, unechte, schlechte Form nebeneinander, sondern es gibt stets bloß beides miteinander. Dabei entspricht der „Größe" des Ideals und damit seiner Ferne zur jeweils bestehenden Wirklichkeit zwangsläufig die Tiefe des Unheils, das es über kurz oder lang durch die Zersetzung der sichtbaren oder unsichtbaren Bindungen und durch die hiermit gegebene Entfesselung der Triebwelt insgesamt für den Menschen heraufbeschwört. Dies trifft ohne Zweifel auch und gerade für den Fall des Nationalsozialismus zu, selbst wenn man ihm

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den Kampf gegen den Osten als echte geschichtliche Leistung zugute halten will. Ja, solche historisch durchaus tragische Verkettung von Licht und Schatten ist bei dieser Ideologie womöglich noch sinnfälliger geworden als bei den anderen weltlichen Heilslehren der technischen Zivilisation. Denn das Schicksal verdichtete hier den verhängnisvollen Zusammenhang von Licht und Schatten mit höchster Anschaulichkeit in der Spanne eines kurzen Jahrzehnts und ließ damit die letzte große Heilslehre für das Diesseits zu einem weltgeschichtlichen Paradigma ideologischer Politik überhaupt werden.

III. D I E B E I D E N F O R M E N D E S K O N S E R V A T I V E N G E D A N K E N S Die Neubegründung der Theorie des konservativen Gedankens mit einer Darstellung der modernen Ideologien zu beginnen, kann nur dann befremdlich sein, wenn konservatives Denken lediglich von der Verkennung seines eigentlichen Wesens her begriffen wird. Solch Vorgehen folgt nämlich, wie schon eingangs bemerkt, mit Notwendigkeit aus der Natur der Sache, um die es hierbei geht. Denn das konservative Denken ist, sofern es seine Echtheit bewahrt, weder selbst ideologisch, noch bildet es von sich aus eine eigene Ideologie mit selbständigem Inhalt. Es ist gleidisam reaktives Denken, das auf das aktive Denken der modernen Ideologien antwortet — dies gilt sowohl hinsichtlich seiner geschichtlichen Entstehung als auch bezüglich seiner methodischen Eigenart. Als ein prinzipiell antwortendes Denken, das zu seinem Selbstbewußtsein immer wieder der Herausforderung bedarf, stellt es sich mit bestimmten Grundprinzipien stets auf neu entstehende Antwortsituationen ein und bleibt gerade hierin seinem Wesen treu. Es macht infolgedessen nicht selbständig ideologische Setzungen, sondern es reagiert bloß auf solche. Sein psychologischer Ort ist daher auch nicht in erster Linie Verstand und Trieb, sondern das Gefühl: in ihm wehrt sich das Gefühl für die Wirklichkeit, der der Mensch mit tausend Banden verwoben ist, gegen die unzulässige Vergewaltigung dieser Wirklichkeit durch Intellekt und Leidenschaft. Ohne Schwierigkeit läßt die Betrachtung der modernen Ideologien erkennen, was der konservative Gedanke nicht ist. Als sein Gegenteil ziehen sie, jede einzeln für sich und alle zusammen als Ganzes, eine Reihe von deutlichen Grenzlinien für das, was konservatives Denken außerhalb ihres Bereiches überhaupt sein kann und darf. Das trifft nicht allein für die verschiedenen Inhalte der Ideologien zu, sondern darüber hinaus auch und gerade für die gedankliche Einstellung, für die ganze Denkart, die sie charakterisiert und ihren Zusammenhang untereinander bildet. Auch wenn sie in den Geboten etwa der Menschlichkeit oder der Gerechtigkeit im konkreten Falle durchaus übereinstimmen können, vertragen sich also nicht bloß liberale, 12

Mühlenfeld, Politik

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III. Die beiden Formen des konservativen Gedankens

sozialistische, kommunistische usw. Überzeugungen und Forderungen nicht mit dem originalen Anliegen des konservativen Gedankens, sondern der tiefste Unterschied zwischen beiden besteht in der grundsätzlich anderen Einstellung, in der ihrem Stil nach völlig anderen Methode des Denkens, mit dem die Wirklichkeit jeweils ergriffen, verstanden und in ihren Problemen bewältigt wird. Im Vergleich zu den vorstehend erörterten Ideologien liegt hier das eigentlichste Wesen des konservativen Gedankens. Und das ist es, was die bisher betrachteten Geistesrichtungen eben als Ideologien insgesamt am tiefsten von der konservativen Geistesrichtung trennt, die keine Ideologie ist. Der Grund, weswegen konservatives Denken keine Ideologie im üblichen Sinne ist und sein kann, ergibt sich mit einfacher Beweiskraft aus der Erörterung der modernen Heilslehren. Vergegenwärtigen wir uns über ihre verschiedenartigen Inhalte hinweg nämlich1 ihre gemeinsamen Merkmale, so sind es hauptsächlich folgende: ihr unbedingtes Fortschrittsdenken, ihr mehr oder weniger bestimmtes Zukunftsprogramm und ihre wesentliche Verknüpfung mit dem Wechselspiel von Rationalität und Triebhaftigkeit. Das heißt, sie alle denken ausschließlich in den Kategorien des unaufhaltsamen Fortschritts, der ständigen Veränderung, der künstlichen Planung. Sie alle haben ein abstraktes Zukunftsbild, das als Gegenbild zu Natur und Geschichte wirkt, nach dem die Wirklichkeit gemodelt werden soll. Sie alle bringen in ihren theoretischen Systemen und praktischen Verfahren jene beiden Grundtendenzen des technischen Zeitalters zum Ausdruck, die als Ubersteigerung der Verstandeswelt und als Entbindung der Triebwelt zutage treten. Und sie stellen infolgedessen historisch wie systematisch sämtlich irdische Glaubens- und Heilslehren dar, die sich jedenfalls ihrer Intention nach nicht mit dem religiösen Glauben vertragen. Sind sie doch durchweg überhaupt erst relativ junge Erzeugnisse der neuzeitlichen Säkularisierung des menschlichen Daseins, die durch den modernen Zivilisationsprozeß ausgelöst worden ist. All diese unverwechselbaren Merkmale nun besitzt der konservative Gedanke nicht. Weder verwendet er die Kategorien des Fortschritts und der Planung als bestimmende Grundsätze seines Weltverhältnisses, noch entwirft er ein regelrechtes Zukunftsprogramm als verbindliches Ziel seiner Wirklichkeitsgestaltung. Weder bringt er die psychologische Korrespondenz von Ratio und Trieb methodisch zentral zum Ausdruck, noch distanziert er sich in seiner letzten Konsequenz bis zur Ausschließlichkeit von der Religion.

Der konservative Gegenpol der Ideologien

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Wo er das alles einzeln oder zusammen doch tut, da weicht er bewußt oder unbewußt von seinem eigentlichen Wesen ab und gerät selber auf die Bahn der modernen Ideologien. Im vollen Gegensatz zum konservativen stellt daher ideologisches Denken immer abgeleitetes, indirektes, künstliches und insofern wirklichkeitsfremdes oder doch wirklichkeitsfernes Denken dar. Denn es hat stets die Neigung und das Bedürfnis zu wissenschaftlicher Beweisführung seiner Forderungen und operiert gern mit abstrakten Vorstellungen. Es gebraucht mit Vorliebe theoretische Erwägungen und gefällt sich in begrifflichen Deduktionen und konstruktiven Systemen, die trotz und wegen aller Rationalität von der tiefen Leidenschaft des Willens zu ihrer Durchsetzung getragen sind. Ideologisches Denken wirft daher gleichsam von vornherein der Wirklichkeit, wie sie ist und wurde, ein Begriffsnetz über, nach dem sie sich zu richten hat und geändert werden soll. Die Vergangenheit um der Zukunft willen auslöschend, setzt es immer wieder einen neuen Anfang, gibt nie Ruhe und kennt in Wahrheit keine innere Versöhnung mit dem Alten, das es beseitigen will, weil es seine neuen Setzungen behindert. Aus diesen Eigenschaften rührt denn auch die Eindruckskraft und Überzeugungsmacht des ideologischen Denkens gegenüber dem konservativen Gedanken her, der ganz anders vorgeht und solche Eigenschaften nur unter Gefahr der Selbstpreisgabe übernehmen darf. Denn ein rationales Programm mit seiner willensmäßigen Geladenheit, seinem aggressiven Anspruch auf dauernde Neuerung und seiner Einsichtigkeit streng begrifflicher Formulierung wirkt ohne weiteres zugkräftiger und einleuchtender auf den modernen Menschen als wesensmäßige Programmabneigung, die in der Ahnung oder Kenntnis von den Gefahren des ideologischen Denkens nur aus wenigen Grundprinzipien heraus handelt und mit ihnen als Richtschnur die Wirklichkeit bloß im nächsten Schritt ergreift, ohne sich an einem künstlichen System zu orientieren, das auch und gerade für die fernere Zukunft gelten soll. Aus dieser Eigentümlichkeit eines unprogrammatischen Denkens erklärt sich die Schwierigkeit, den konservativen Gedanken als eine eigene politische Auffassung systematisch und historisch zu entwickeln. Systematisch bedeutet diese Eigentümlichkeit nämlich, daß jeder rationale Begriff, der zur Darlegung des konservativen Gedankens verwendet wird, das eigentliche Wesen desselben zu verdunkeln droht. Denn seine Absicht besteht ja gerade darin, die Rationalität von jedem Übergriff abzuhalten und der Wirklichkeit nicht jenes Netz von Begriffen überzuwerfen, das ihr wahres Bild in seiner Leben12*

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III. Die beiden Formen des konservativen Gedankens

digkeit trübt und deshalb auch ihr Verständnis beeinträchtigt oder gar zerstört. Bei aller konservativen Theoriebildung ist daher immer die Einschränkung zu machen, daß konservatives Denken als Gegenpol des programmatischen, konstruktiven, ideologischen, rationalen Denkens sich der theoretischen Begrifflichkeit nur als eines unvermeidlichen Hilfsmittels bedient, um zu allgemein verständlidien Aussagen über sich selbst zu kommen. Als ein gewissermaßen vorrationales Denken, das in viel höherem Maße als das rationale Denken noch Gefühlselemente in sich beschließt und eben hierin seine innerste Natur, aber gegenüber allen Begriffsnetzen auch seine Rechtfertigung zur sinngemäßen Erfassung der Wirklichkeit hat, kann es mit rationalen Begriffen nur umschrieben und beschrieben, nur angedeutet und erläutert werden. Sein unmittelbarer Erlebniskern aber vermag mit begrifflicher Rationalität nicht vollkommen erfaßt zu werden. Damit in engstem Zusammenhang steht die Schwierigkeit, den konservativen Gedanken historisch zu erfassen und zu entwickeln — der systematische Vorbehalt bedingt mit logischer Folgerichtigkeit audh einen historischen Vorbehalt. Wenn nämlich der konservative Gedanke, um sich selbst auszudrücken und darzustellen, der rationalen Hilfsmittel begrifflicher Festlegung bedarf, diese Hilfsmittel jedodi seiner innersten Natur nicht entsprechen, dann folgt aus dem Zwang zu ihrer Anwendung zweierlei: Einmal muß das konservative Denken, weil es zu einet vorrationalen Darstellung seiner Gehalte neigt, vor aller streng rationalen Darstellung eine natürliche Scheu haben. Und zum andern muß es, sobald seine Träger zu dem Versuch einer systemhaften Selbstdarstellung schreiten, in die Gefahr geraten, sein Wesen teilweise oder ganz aufzugeben und zu verlieren. Das heißt aber, der konservative Gedanke wird aus seiner Eigenart heraus zu einer im weitesten Sinne poetischen Darstellung seiner selbst drängen. Sie kann vom rationalen Denken aus immer als ungenau, unsachlich und allzu gefühlsmäßig abgelehnt und überdies als Verschleierung rationaler Ziele mißverstanden oder verdächtigt werden. Denn für das einseitig rationale Denken ist alles vorrationale Denken aus entwicklungspsychologisch wohl begreiflichen Gründen bestenfalls Poesie und schlimmstenfalls Heuchelei. Das heißt ferner, der konservative Gedanke wird ganz im Gegensatz zu den modernen Ideologien nicht eine Fülle, sondern bloß eine recht spärliche Anzahl von Darstellungen seiner Absicht hervorbringen. Und das heißt schließlich, der konservative Gedanke wird in der Regel mit Darlegungen auftreten, die nicht in der dort, bei den Ideologien üblichen Art exakt das

Systematische und historische Schwierigkeiten

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Thema abhandeln, sondern in verstreuten Bekundungen überhaupt ohne Systematik vorgehen und höchstens stellenweise zu größerer begrifflicher Klarheit vordringen. Oder der konservative Gedanke wird, falls er dennoch eine systematische Theorie gewinnt, mit ihr in die Gefahr eines Abirrens vom Wege geraten, so daß nur noch Teile oder Splitter seines Inhalts im Resultat des Unternehmens vorhanden sind, das ohne Willen und Wissen auf die Ebene des ideologischen Denkens abgleitet. Wie es gar nicht anders sein kann, bestätigt die geschichtliche Wirklichkeit diesen aus der Eigenart des konservativen Denkens zwangsläufig folgenden Sachverhalt vollauf. Es gibt in der deutschen Geistesgeschichte der letzten zweihundert Jahre, in denen das ideologische Denken und damit als sein Gegenpol auch das konservative Denken entstanden ist, gegenüber der überwältigenden Fülle von Darstellungen der modernen Ideologien nur eine geringe Anzahl von Darstellungen des konservativen Gedankens. Man kann sie tatsächlich beinahe an einer Hand herzählen. Und es sind nicht so sehr Darstellungen im gewohnten Sinne, sondern viel mehr einzelne Bekundungen, verstreute Stellen, hier und da auftauchende kürzere oder längere Bemerkungen zur Sache. Eben als solche Fragmente aber zeigen sie gemeinsam, daß da hinter der umfangreichen und imponierenden Front der Ideologien noch etwas anderes, jenen Fremdes und Entgegengesetztes steht. Dies andere ist immer nur Antwort und Abwehr seines aktiven Gegenpols und ringt in fast tragischer Weise um angemessenen Ausdruck, um ihn nur selten zu finden. Dennoch hält es sich bei aller Verkennung und Mißachtung im Wissen um seine Eigenart zäh und trotzig aufrecht und beweist damit, daß es tief in der menschlichen Natur wurzelt und nicht bloß einem Interesse, sondern einem Bedürfnis entspricht. Wenn es indessen Darstellungen im gewohnten Sinne sind, Systeme und Theorien, dann bleiben sie vergleichsweise doch Torso und werden mehr oder weniger offenkundig zu ideologieartigen Gebilden, die ihre Eindruckskraft einer allzu weitgehenden Annahme rationalen Denkens verdanken und das echt konservative Anliegen deshalb allzusehr zurücktreten oder gänzlich verschwinden lassen. Den Entwicklungsgang des konservativen Denkens aufzuspüren und aus seinen Zeugnissen das Wesen des konservativen Gedankens herauszuheben und festzulegen, führt somit von Anfang an zu einer doppelten Schwierigkeit, ohne deren dauernde Beachtung nichts zu erreichen ist. Einerseits ergibt sich aus der natürlichen Scheu des konservativen Gedankens vor einer rationalen Darstellung und aus der vorrationalen Natur seines ganzen Wesens ein

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empfindlicher Mangel an Zeugnissen überhaupt sowie eine unübersichtliche Verstreutheit seiner Bekundungen. Und andrerseits ergibt sich aus denselben Gründen eine bloß beschränkte Brauchbarkeit der systemhaften Versuche zur Aufstellung konservativer Theorien, weil sie meist zuviel Ideologisches enthalten und nicht mehr reine Zeugnisse edit konservativen Denkens sind. Diese doppelte Schwierigkeit, die man ohne Bezugnahme auf die tiefere geistig-seelische Entwicklung des modernen Mensdien im Verlauf des technischen Zeitalters und ohne Besinnung auf die in dieser Entwicklung begründete Ursprungssituation des konservativen Denkens gar nicht erkennen und nach ihrer wahren Bedeutung würdigen kann, rechtfertigt es denn auch, von einer richtig und einer falsch verstandenen A r t des konservativen Denkens, von einer echten und einer unechten Form des konservativen Gedankens zu sprechen. D a sich verstreute Bemerkungen zur Sache einer Untersuchung, die der Neubegründung der konservativen Theorie dienen will, naturgemäß weitgehend entziehen, können hier nur diejenigen historischen Zeugnisse als Unterlage herangeholt werden, die die an zweiter Stelle genannten Quellen ausmachen. Es wird sich also um jene Entwürfe zur Theoriebildung und um jene Ansätze zur systemhaften Darstellung handeln, die durch Geist und Bildung, Wissen und Können ihrer Verfasser einen Platz in der Geistesgeschichte der Vergangenheit erlangt haben, deren Wert zwar nicht unbestritten, deren Rang aber seit langem und bis heute anerkannt ist. A n diesen theoretischen Zeugnissen läßt sich zudem in einer Weise, die für die Einsicht in das Wesen des konservativen Gedankens und der ihm jederzeit drohenden Gefahren eines ideologischen Abirrens vom Wege äußerst lehrreich ist, seine echte und seine unedite Form gerade infolge der meist bei ihnen erfolgten Verschmelzung heider besonders einprägsam feststellen — die echte Form ist gewöhnlich mehr oder minder deutlich in der unechten enthalten und kann von der systematischen Erkenntnis aus ohne Mühe auch historisch belegt werden. Die geschichtliche Betrachtung des konservativen Gedankens schafft auf diese Art dann die besten Voraussetzungen für das Ziel unserer ganzen Untersuchung: die Neubegründung einer zeitgemäßen, von Irrtümern und Mißdeutungen soweit wie irgend möglich freien Theorie desjenigen politischen Denkens, das heute von der Zeit selbst herbeigerufen wird, wie sogar seine alten Gegner, die modernen Ideologien, unfreiwillig bestätigen. Bei solcher Betrachtung, die in großer Spannweite das technische Zeitalter

Vorwegnahme des Resultats der Betrachtung

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samt seiner Vorbereitungsepoche umfassen muß, wird eine in sich einheitliche eigene Linie sichtbar werden. Sie ist trotz ihrer zahlreichen Brechungen unverkennbar und soll gleich zu Beginn umrissen sein, um das Verständnis der folgenden Ausführungen zu erleichtern. Der konservative Gedanke vermag sich nämlidi auf seinem langen Weg von den frühen Anfängen bis zur Gegenwart trotz aller Abwehr des einseitig rationalen Denkens doch nicht dem allgemeinen Schicksal des modernen Menschen zu entziehen: teilweise verfällt auch er der grundlegenden Korrespondenz zwischen Ratio und Trieb mit ihren unheilvollen Folgen. Und zwar geschieht dies keineswegs nur aus der Notwendigkeit zur Theoriebildung, die im Kampf mit den modernen Ideologien entsteht, sondern auch und noch viel mehr aus dem inneren Zwang der zivilisatorischen Verhältnisse selber, in die seine Träger durch die Zeit gedrängt werden. Es sind vor allem die führenden Vertreter und Kreise dieser Geistesrichtung, die in der Auseinandersetzung mit den Ideologien und unter dem geistig-seelischen Einfluß der technischen Zivilisation unwissentlich fremde Elemente in ihr Denken und Handeln aufnehmen und dadurch den konservativen Gedanken einerseits in seiner Ursprünglichkeit entstellen und verlassen, andererseits eben infolge ihrer offiziellen Stellung oder Funktion weithin in Mißkredit bringen und damit verraten. Diese Entwicklung setzt in ihrer ersten Phase bereits mit dem Erstarken des Liberalismus während der frühen Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts ein. Bezeichnenderweise aber tritt sie erst in ihrer zweiten Phase klar hervor, als um die Mitte des Jahrhunderts endgültig der Sozialismus auf der politischen Bühne erscheint und den bisher immerhin noch gemäßigten Willen zur Veränderung des Bestehenden in einen radikalen Willen zur Umwälzung umbildet. Unter dieser keineswegs nur politisch, sondern auch und zumal seelisch erregenden Drohung übernimmt, wie dann weiter zu zeigen sein wird, der Konservatismus in seiner sozial führenden Schicht gewissermaßen von neuem das rationalistische Staats- und Machtdenken, das ein halbes Jahrhundert früher unter der ähnlichen Drohung der Französischen Revolution bereits zum sogenannten Legitimismus geführt hatte. Und außerdem übernimmt er zögernd und wider seinen Willen den ihm ursprünglich ebenso fremden Nationalismus, der aus liberal-idealistischen Quellen kommt und auch noch lange sichtbar von dorther gespeist wird. Von der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts ab verliert der offizielle Konservatismus im Banne dieser Einflüsse mehr und mehr und schließlich endgültig die eigentliche

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Intention des konservativen Gedankens aus den Augen und erliegt dadurch selber jenen Übergriffen des rationalen Fortschritts, zu deren Abwehr er einst entstand. Er wird auf solche Weise zu einer Quasi-Ideologie, in der sich nationalistische mit zentralistischen Elementen bis zu einer ständisch verbrämten Machtlehre verbinden. Das ist jedoch nur die eine Seite der erwähnten Entwicklung — die andere enthüllt ein durchaus gegenteiliges Gesicht. Soweit es sich nämlich um denjenigen Konservatismus handelt, der nicht politisch führend ist, bleibt er, getreu seinem ursprünglichen Anliegen, im Kern unberührt von dem Geschehen dieses Vordergrundprozesses, der zwar das staatliche Geschick entscheidend beeinflußt, doch nicht in die Tiefe des breiten gesellschaftlichen Lebens dringt. Unterhalb der offiziellen Pseudoform und ohne wahre Verbindung mit ihr führt dieser echte Konservatismus sein Leben ruhig weiter, ohne größeren Zusammenschluß seiner Träger und von den Anhängern der modernen Ideologien als unmodern oder altmodisch geringgeschätzt oder verspottet, aber in der Pflege von Brauch und Sitte, von Volkskultur und Heimattradition immer wieder neue Kraft zur Erhaltung seines Wesens findend. Über alle Zeiten hinweg gleichsam im Hintergrund der einzelnen deutschen Landschaften aufbewahrt, bildet er denn heute auch, gestützt auf Erfahrung und Erlebnis der gegenwärtigen Situation, jene weitverbreitete Schicht von Menschen, die — bewußt oder unbewußt Träger der echten Gehalte und der zeitüberlegenen Wahrheit des konservativen Gedankens — den noch uneingestandenen, doch offenkundigen Bankrott der modernen Ideologien zum Anlaß einer Besinnung auf ihre Aufgabe im Ganzen nehmen und daraus den Mut zum lange verwehrten oder abgedrängten politischen Bekenntnis schöpfen, daß die weltlichen Heilslehren für den sozialen Bereich unseres Daseins allesamt abgewirtschaftet haben.

A. D I E E N T S T E H U N G D E S

KONSERVATISMUS

Geschichtlich gesehen, ist der Konservatismus älter als sein Name, der erst zu Anfang des 19. Jahrhunderts aufkam, als sich auch die Namen der ersten modernen Ideologien wie Liberalismus, Sozialismus und Kommunismus herausbildeten und einbürgerten. Als solcher stammt der Konservatismus aus einer sehr viel älteren Geisteshaltung, die man als Traditionalismus

A . Die Entstehung des Konservatismus

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bezeichnen kann. Ihre Wurzeln verlieren sich in der Ferne einer Zeit, w o man noch nicht ideologisch dachte und das Werden in Geschichte und K u l tur, Sozial- und Staatsordnung ganz allgemein als natürliche Entwicklung und ohne besondere Reflektion erlebte. Dieser Traditionalismus besitzt daher als eine durchgängige Einstellung zum Leben, die am Althergebrachten festhält und allen plötzlichen Änderungen der gewohnten Ordnung der Dinge, allen künstlichen Neuerungen des Bestehenden abgeneigt ist, keinen besonderen politischen oder weltanschaulichen Akzent — weder nach' rückwärts noch nach vorwärts. Er gehört als geistig-seelische Haltung des noch nicht von der modernen Zivilisation ergriffenen Menschen dem vorrationalen Denken an, dem jene scharfe bewußtseinsmäßige Trennung zwischen Vergangenheit und Zukunft überhaupt fehlt, die der moderne Mensch mit dem neuen Denken und seiner alles bestimmenden Aufteilung der Lebensvorgänge in Ursache und Wirkung, in Grund und Folge übernommen hat. Erst der langsam wachsende Individualismus, das mächtig werdende rationale Denken, das auch auf das Zeiterlebnis in Geschichte und Kultur, Sozial- und Staatsordnung ausgedehnte Kausalitätsprinzip verwandelte den Traditionalismus, zwang ihn zum Bewußtsein seiner selbst, ließ ihn zur Reflexion über sich kommen. Und aus diesem Prozeß, der teilweise auch heute noch nicht völlig abgeschlossen ist, entstand dann das, was man als konservativen Gedanken bezeichnet und was in politischer Form als Konservatismus auftritt. Konservatives Denken ist infolgedessen immer ein seiner selbst bewußt gewordenes traditionales Denken und Konservatismus ein speziell politisch gewordener Traditionalismus, wobei aber beides durchaus nicht mit einem starren Festhalten an den Zuständen der Vergangenheit verbunden sein muß. Vielmehr handelt es sich, da der Traditionalismus eben aus seiner unreflektierten Einstellung zum Leben heraus auch eine ganz selbstverständliche Beziehung zur natürlichen Entwicklung der Dinge als Ausgangslage hat, um ein Wurzeln in tieferen Schichten der Vergangenheit als den äußeren geschichtlichen und kulturellen, sozialen und staatlichen Zuständen für sich'. Es ist daher das noch nicht von rationaler Kausalität gleichsam aufgespaltene und aufgerissene enge Verhältnis zwischen Vergangenheit und Zukunft, ihr Ineinanderüberfließen, ihre unauflösliche Verflechtung, ihr Aufeinanderangewiesensein, was das Zeiterlebnis des Traditionalismus bestimmt und im Weltverständnis des konservativen Denkens und des Konservatismus die traditionale Grundlage ausmacht. Dies kann nur vom Stand-

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punkt jenes einseitig rationalen Denkens her mißverstanden und verkannt werden, das unter dem Einfluß des Prinzips der Kausalität jene enge Beziehung zwischen Vergangenheit und Zukunft nicht mehr kennt und deshalb audi die innere Bindung an das Alte nicht mehr erlebt, sondern Altes und Neues nur noch in seinem sachlichen Gegensatz von Einst und Jetzt sieht. Stellt konservatives Denken ein bewußt gewordenes traditionales Denken dar und Konservatismus einen speziell politisch gewordenen Traditionalismus, so ist mit diesem Sachverhalt auch der Zeitpunkt seines historischen Auftretens gewissermaßen vorbestimmt. W o der tatsächliche, weil weithin wirkende Übergang zwischen Mittelalter und Neuzeit stattfand, da mußte der bis dahin geltende Traditionalismus sich in Konservatismus verwandeln. W o der neuzeitliche Individualismus das rationale Denken so weit ausgebildet hatte, daß es mit breiterer K r a f t in die Wirklichkeit vor allem des sozialen und staatlichen Lebens übergreifen konnte, da mußte das traditionale Denken sich in Reaktion auf die hiermit einsetzenden künstlichen Neuerungen in Staat und Gesellschaft seiner selbst zur Abwehr bewußt werden. W o der Begriff der modernen Zivilisation als eines Zeitalters des Fortschritts zum erstenmal mit Folgerichtigkeit nicht nur gedacht, sondern auch praktiziert wurde, da mußte sich konservatives Denken entwickeln und schließlich zum politischen Konservatismus werden. Und zwar konnte es weniger dort entstehen, w o Zivilisation und Fortschritt infolge beruflicher Umstände wesentlich als angemessene Entwicklung verstanden wurden, als vielmehr gerade dort, w o sie als künstliche Neuerung erlebt wurden. Das heißt, konservatives Denken mußte vorwiegend nicht von den aktiven Kräften der städtischen Bevölkerung, die Handel und Gewerbe treibt, sondern von den aktiven Kräften der ländlichen Bevölkerung entwickelt und getragen werden, ohne daß damit allerdings eine scharfe Grenze zwischen Stadt und Land gezogen wäre — auch' städtische Menschen empfinden bis weit ins technische Zeitalter hinein noch konservativ. Als dann die lange Zeit, fast ein Jahrhundert über noch wenig zusammenhängende und dünne Linie des Fortschritts zu einer regelrechten Front mit einer festen und breiten Menge von Anhängern zumal aus dem Bürgertum geworden war, folgte auch das konservative Denken dem damit vorgeschriebenen Wege gleichsam im Gegenzug durch die Bildung eines politischen Konservatismus. Das geschichtliche Bild entspricht dieser aus der Sache selbst hervorgehenden Lage: das konservative Denken tritt zuerst um die Mitte des 18. Jahr-

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hunderts und der politische Konservatismus zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf. Es war der sogenannte aufgeklärte Absolutismus mit seinen bürokratisch-zentralistischen Tendenzen, mit seiner Staatsräson und seinem Machtprinzip, der das konservative Denken auf den Plan rief. Und es war die Französische Revolution mit den naturrechtlichen Prinzipien von Freiheit und Gleichheit, die den politischen Konservatismus hervorrief. Beide Bewegungen, der bürokratische Zentralismus des absolutistischen Machtstaates wie die Revolution des liberalen Naturrechts, stellen die ersten großen und politisch wirksamen Stufen des rationalen Fortschritts dar, gegen dessen Übergriffe sich der konservative Gedanke gemäß seiner eigentlichen Intention wendet. Hierbei leitete ihn von Anfang an und im Gegensatz zum optimistischen Fortschrittsdenken ein höchst lebendiges Gefühl für die tatsächlichen und möglichen Schattenseiten der neuen Entwicklung, das die sie tragenden Schichten selber nicht verspürten. Das Studium der konservativen Schriften des 18. und des 19. Jahrhunderts vermittelt heute, nachdem der rationale Fortschritt mit all seinen Errungenschaften die Menschheit vor den bodenlosen Abgrund der Gegenfür wart geführt hat, den Eindruck einer außerordentlichen Hellsichtigkeit die Größe der Gefahr, die sich aus den Ubergriffen dieses Fortschritts ergeben mußte. Es heißt die wahre, in der seelischen Tiefe und Fülle des Menschen beschlossen liegende Natur des konservativen Denkens deshalb vollständig falsch einzuschätzen, wenn man es — wie das so gern in unzulässiger Unterschiebung moderner Betrachtungsweisen geschieht — mit den gerade von ihm wesensmäßig abgelehnten Maßstäben des rationalen Denkens mißt. So spärlich seine literarischen Bekundungen auch im Vergleich mit denen seines Gegenpols sind, so lassen sie doch klar erkennen, daß selbstsüchtige Zwecke im handgreiflich kausalen Sinne einer bloßen Interessenpolitik keineswegs den wirklichen Antrieb des konservativen Gedankens bilden. Die geschichtlichen Quellen zeigen vielmehr unzweideutig, daß er von der ständig wachsenden Sorge um die Erhaltung der dem Menschen gemäßen Lebensbedingungen, um die Bewahrung seiner seelischen Grundlagen, um die Rettung der in Brauch und Sitte, Wertwelt und Religion verwurzelten und gehaltenen Daseinsart bestimmt wird, die dem gesunden Menschsein durch seine wesensmäßigen Bedürfnisse selber vorgeschrieben sind. Erst in diesem ganz existentiellen Verstände eines aus innerstem Zwang geborenen Drängens zur Sicherung der eigenen Lebensform und Lebensweise, die über materielle Interessen hinaus Weltbild und Weltord-

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nung als Voraussetzungen des persönlichen Daseins in ihrer ganzen Weite mehr fühlend als wissend umfaßt, kann das konservative Denken auch soziologisch gedeutet werden, ohne daß man es als historische Erscheinung schon in seinen Ursprüngen vergewaltigt. Das beweisen ganz klar seine theoretischen Bemühungen um Selbsterkenntnis, in Sonderheit die frühen Zeugnisse. Und wo später eigensüchtige Zwecke auftauchen, da handelt es sich nachweislich immer auch sofort um Einflüsse des rationalen Denkens, die allerdings so mächtig werden können, daß sie den echten Kern verhüllen oder vernichten. Der bedeutendste unter den frühen Vertretern des konservativen Denkens in Deutschland ist ahne Zweifel Justus Moser (1720—94), den man den Vater sowohl der historischen Nationalökonomie als auch der historischen Rechtsschule genannt hat und den Goethe zeitlebens als den deutschen Patriarchen verehrte. Der große Niedersadise war einer der lebendigsten und tiefsten Geister des 18. Jahrhunderts, dessen Gesamtbild mit vielen Zügen an Goethe selber gemahnt. In den zahlreichen Abhandlungen und Aufsätzen, die er hinterlassen hat und die insgesamt eine Art von natürlicher Philosophie der Politik darstellen, tritt zum erstenmal das konservative Denken mit seiner Grundintention als eine eigene Form politischer Betrachtungs- und Handlungslehre deutlich in Erscheinung — seinem Wesen entsprechend selbstverständlich nicht systematisch-begrifflich vorgetragen, doch trotz manchen Tributs an den modischen Wortschatz des Zeitalters gerade in der Gebundenheit an den konkreten Anlaß ihrer Betätigung mit einer Reinheit und Festigkeit, die später kaum mehr erreicht wird. Wenn auch der politische Konservatismus im strengen Sinne erst nach der großen europäischen Revolution als eine Antwort auf den Fortschritt in seinen groben Übergriffen entstand, so enthält doch schon Mosers Werk die grundlegende Erkenntnis des konservativen Denkens als einer eigenen Denkweise, die zwar noch keinen Namen besitzt, aber dennoch ganz entschieden dem einseitig rationalen Denken entgegengesetzt wird, das sich damals zum ersten Male als eine selbständige Form des Weltverständnisses konstituiert hatte. Das konservative Denken ist also bei Moser bereits aus seinem Urzustand des Traditionalismus herausgetreten und bildet das, was man den frühen Konservatismus nennen darf. Für seine Eigenart liefern die Schriften des westfälischen Staatsmannes, der die Entwicklung der Zeit mit wachen Augen und nüchterner Klugheit beobachtete und die Ergebnisse seines Denkens mit den Erfahrungen seiner Tätigkeit als Regent im kleinen

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Staat des Hochstifts Osnabrück kritisch verband, vielfältige Unterlagen. Sie sollen im folgenden aus der charakteristischen Gegenständlichkeit seines Werkes, das aus einer Fülle von einzelnen Bausteinen der Wirklichkeitsbetrachtung besteht, herausgehoben und nach ihrem wesentlichen Ertrag zusammengefaßt werden. Mosers Einstellung ist alles andere als eine ideologische Setzung, als rationale Theorie oder abstrakte Systematik. Sie erwächst unmittelbar anschaulich, empirisch und konkret aus der Praxis des Regierens und Verwaltens, erweitert und bestätigt durch einen unbestechlich klaren Blick über die eigenen Grenzen hinaus in die Weite des Zeitalters und seiner Bildung. Vor allem war es England, das klassische Land ständisch aufgebauter Freiheit, das ihn vor und nach einem langen Aufenthalt auf der Insel nachhaltig in seiner historisch-sozialen Vorstellungswelt anregte — übte es doch schon seit der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts einen erheblichen geistigen Einfluß auf Deutschland aus, ehe es dann am Ende des Jahrhunderts, als sich die Ideen der Französischen Revolution überallhin ausbreiteten, auch den Anstoß zur vollen Ausbildung des politischen Konservatismus auf dem europäischen Festland gab. Mosers Einstellung erhält denn auch erst ihren höchst natürlichen Sinn, wenn man sie vor dem Hintergrund des damals herrschenden Absolutismus sieht, dessen ganzer Charakter ihr gleichsam die zeitgemäße Begründung gibt — gerade das konservative Denken, das der Realität nicht ideologisch und ohne streng begriffliche Systematik entgegentritt, sondern in unmittelbarer Fühlung mit ihr steht, wird nur vor seinem jeweiligen zeitlichen Hintergrund überhaupt voll verständlich. Mit dem um sich greifenden Rationalismus hatte die absolute Monarchie im 16. und 17. Jahrhundert unter bedeutenden Erschütterungen die sogenannte ständische Monarchie abgelöst. Zuerst im Westen und dann auch in der Mitte Europas setzte sich das aus der Renaissance stammende rationale Prinzip der Staatsräson, das sowohl den Impuls der Macht als auch die Idee der Ordnung in spannungsreicher Verbindung enthielt und entfaltete, in den europäischen Dynastien durch, die mit seiner Hilfe das politische System des modernen Absolutismus schufen. Zentralistische und bürokratische Tendenzen sind die wesentlichen Kennzeichen dieses Systems, das nur im engsten Zusammenhang mit dem Herrschaftsantritt des rationalen Denkens auch im sozialen und staatlichen Bereich begriffen werden kann. Erstmals werden hier Sozial- und Staatsleben, die bisher ineinander übergingen und fortan mehr und mehr auseinandertreten, zum Objekt einer groß-

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angelegten und weitreichenden Planung der Macht und zugleich der Ordnung. Von hier aus ergreift der rechnende und planende Verstand auch das Wirtschaftsleben und führt mit einer bisher unbekannten Blüte des Handels und mit den ersten Anfängen der Industrie zur Ausbildung des merkantilistischen Wirtschaftssystems. Regieren, Verwalten und Wirtschaften werden in dieser Epoche des tatsächlichen Ubergangs vom Mittelalter zur Neuzeit mit anderen Worten immer mehr zu einer Technik der Herrschaft über Mensch und Ding, deren dauernde Vervollkommnung sowohl der Machtpolitik als auch dem zivilisatorischen Aufschwung des menschlichen Daseins dient. Dabei ergänzen sich rationale Regierungs- und Wirtschaftstechnik und absolutes Machtstreben, indem sie wechselseitig zusammenwirken. Und ihr Ergebnis zeigt hier schon deutlich jene später so ausschlaggebende Korrespondenz von Ratio und Trieb in der Frühform erster Reife. Zentralismus und Bürokratismus dieses in vielem bereits recht modern anmutenden Staatssystems der absoluten Monarchie des 17. und vor allem des 18. Jahrhunderts richten sich in selbstverständlicher Konsequenz gegen die frühere Ordnung der Dinge, die ihren umfassenden Ausdruck im Ständewesen besaß. Denn der Ausdehnung und Festigung der dynastischen Gewalt in der Person des Herrschers, der nur sich selbst und dem religiösen Sittengesetz verantwortlich ist, war die altständische Ordnung mit ihren zahllosen Rechten und Pflichten, Bräuchen und Sitten am meisten im Wege. Als ein sozialer Kosmos, von dessen wahrer Natur einer festen Verankerung des einzelnen Menschen in der gestuften Fülle einer lebendigen Gliederung des Ganzen man sich heute nur noch schwer eine richtige Vorstellung zu machen imstande ist, konnte sie vom rationalen Staatsprinzip der absoluten Monarchie zwar noch nicht beseitigt werden — dazu war sie zu sehr Fundament der realen Voraussetzungen des damaligen Absolutismus. Aber ihr Existenzrecht konnte mit der Abdrängung der Stände von der Regierung und Verwaltung durch das Instrument einer Beamtenschaft, die vom Staatsoberhaupt direkt abhängig war und damit die Staatsgewalt gleichsam als isolierte Macht vertrat, handgreiflich und sichtbar in Frage gestellt werden. Nun büßen die Stände, ohne vorerst zu verschwinden, zunehmend ihren bisherigen Anteil an der Staatsgewalt ein und verlieren solcherart ihre entscheidende Funktion eines Ausgleichs der Macht, was nicht ohne dauernde und sich gegenseitig steigernde Kämpfe vor sich geht. Damit geht ferner eine folgenreiche Veränderung der Stellung Hand in Hand, die der einzelne Mensch innerhalb jenes sozialen Kosmos der alten Ständeordnung ein-

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genommen hatte: der Mensch wird jetzt allmählich zum Untertan in einer ständischen Ordnung, der Zug um Zug ihr sozialgeschichtlicher Sinn und das heißt mit dem ausgleichenden Anteil an der Macht auch ihre Sittlichkeit und hierdurch wieder ihre innere Berechtigung abhanden kommt. Der rationale Absolutismus läßt auf diese Weise das Ständewesen langsam zu einer leeren Hülse werden, weil er dessen unsichtbare Bindungen auflöst und auch in diese alte Ordnung jene Triebentbindung hineinträgt, die dann ihr Bild bald trüben und schließlich verzerren sollte. Doch der Rationalismus zerstörte nicht nur von oben, sondern ebenso von unten her die alte Ständeordnung in ihrem ursprünglichen Gleichgewicht, womit er die Bahn für eine allgemeine Entbindung der Triebhaftigkeit freimachte, aber auch hier wiederum neben der Emanzipation, vor allem der Macht, doch neuen zivilisatorischen Aufschwung begründete. "Wie der rationale Absolutismus nämlich von oben her die alte Ständeordnung auflöste, den Menschen seiner bisherigen Bindungen allmählich beraubte und ihn zum Untertan vereinzelte, so löste das rationale Naturrecht von unten her die alte Ständeordnung auf, trieb den Menschen aus seinem gewohnten Halt heraus und setzte ihn als Individuum frei. Die Entbindung der Triebhaftigkeit der Macht bei den Herrschenden erhält in diesem Prozeß ihre Parallele durch die Entbindung der Triebhaftigkeit der Freiheit bei den Beherrschten. Beides ist, in verschiedenartige und doch um dieselbe Problematik kreisende rationale Argumente gehüllt, ein innerlich zusammengehörender Vorgang im Menschen. Ihm fällt Sinn und Recht der altständischen Ordnung zum Opfer und damit auch ihre Leistung, das Gleichgewicht der Macht überhaupt. Von Hugo Grotius im 17. Jahrhundert erstmals als neue Lehre gefaßt, ergriff das naturrechtliche Denken mit seiner Fortbildung besonders durdh Pufendorf, Locke und Kant immer weitere und breitere Kreise und gipfelte zuletzt bei Rousseau in der Idee der Volkssouveränität. Im Verlauf seiner Entwicklung wird denn auch folgerichtig die Macht unter dauernden Kämpfen von beiden Seiten beansprucht — von den Regierenden im Namen eines aufgeklärten Gottesgnadentums und von den Regierten im Namen der menschlichen Grundrechte. Während sich der Fürst unter dem Einfluß des rationalen Denkens und mit rationalen Argumenten von der überlieferten Beschränkung seiner Gewalt aus der ständischen Bindung befreit, befreit sich auch der Untertan unter demselben Einfluß und mit entsprechenden Vernunftargumenten aus seiner bisherigen Abhängigkeit im ständischen Ordnungsgefüge. Der Fürstwird imSinne der Vernunft selbständig und selbstver-

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antwortlich, und auch der Untertan wird selbstbewußtes Individuum, das von der Vernunft aus beweist, wie alle Obrigkeit nur durch gesellschaftlichen Vertrag zustande kommt und Freiheit die wahre Bestimmung des Menschen ist. Diesen Prozeß, der zwei Jahrhunderte mit stets zunehmendem Drude von beiden Seiten erfüllt, bringt dann die Französische Revolution mit dem vollen Durchbruch der Machtsäkularisierung zum ersten äußeren Abschluß. Hatte das rationale Denken den Machttrieb bei den Regierenden entfesselt und den Absolutismus hervorgebracht, so brachte das rationale Denken mit der Idee einer auf menschlichen Grundrechten beruhenden individuellen Freiheit bei den Regierten die Volkssouveränität als eine neue Form der Macht hervor, die alsbald ihren triebhaften Charakter nicht weniger, sondern noch mehr als jener enthüllte. Denn die Große Revolution in Frankreich zeigte im Ablauf ihrer verschiedenen Stadien vor allem die wachsende Entfesselung des Machttriebes. Unter dem Zeichen der vom Naturrecht geschaffenen Vernunftideale von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit führte sie, in unaufhaltsamer Steigerung zu immer radikalerem Ausdruck ihrer Impulse drängend, paradigmatisch alle die Möglichkeiten vor Augen, die in dem nunmehr offenkundig ideologisch werdenden Denken über das Verhältnis zwischen dem einzelnen Menschen und der menschlichen Gemeinschaft keimhaft schlummerten. Nacheinander wird und ist die Französische Revolution daher gleichsam in der Urform Liberalismus, Sozialismus, Kommunismus, Anarchismus und Faschismus. Wie ein welthistorischer Zeitraffer nimmt sie, in den kurzen Zeitraum weniger Jahre gepreßt, mit ihren einander ablösenden Phasen sämtliche ideologischen Entwicklungen des kommenden Zeitalters vorweg und vereinigt in unentwirrbarem Miteinander von Rationalität und Triebhaftigkeit jene Kräfte in sich, die Richtung und Umriß der Zukunft bestimmen. Mitten in dieser Entwicklung steht nun als eine der wichtigsten geistesgeschichtlichen Erscheinungen Deutschlands im 18. Jahrhundert Justus Moser. Denn er ist in dem großen Prozeß einer ISinnentleerung der alten Ständeordnung durch den aufgeklärten Absolutismus und das säkularisierte Naturrecht der um diesen Prozeß wissende und sein Wesen klar erkennende Vertreter der altständischen Lebenseinstellung. Sein umfangreiches "Werk bildet aus dieser Situation heraus die erste Stufe einer Selbstfindung des traditionalen Weltverständnisses und das heißt jenes Bewußtwerden des Traditionalismus zum frühen Konservatismus, das einem Erwachen zur politischen Mündigkeit gleichkommt.

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Ohne diesem Wissen und Erkennen eine systematische Fassung zu geben, lassen Mosers Schriften dennoch keinen Zweifel darüber, daß er eine sehr deutliche Vorahnung von den Gefahren des Weges besaß, den das Denken und Handeln seiner Epoche eingeschlagen hatte. Aus dieser Vorahnung wurde er in seiner politischen Philosophie zum Verteidiger desjenigen Handelns und Denkens, das in langen Zeiträumen die ständisch bestimmte Welt als einen sozialen Kosmos des Gleichgewichts der Macht zwischen den Menschen und als ein Sicherheit wie Halt gebendes Gefüge von seelischen Bindungen aufgebaut hatte. Er verteidigte aber nicht nur alte und gehaltreiche Formen und Verhaltungsweisen einer Lebensordnung, die ihm gewohnt und teuer war, sondern er entwickelte aus dieser Verteidigung auch im Vertrauen auf die unendlich schöpferische Fülle der Natur ein Menschenbild der wahren Gesundheit von Seele und Leib sowie ein Bild des menschlichen Zusammenlebens, das Staat, Kultur, Gesellschaft und Wirtschaft ohne trennende Gegensätze fruchtbar ineinander übergehen läßt. Von diesem Menschenbild aus, das über jede Zeitgebundenheit hinweg in bezeichnender Weise jenseits aller Ideologie erwächst, drang Moser bis zum Grunde des vor seinen Augen stattfindenden säkularen Geschehens vor und erkannte dort als den eigentlichen Vorgang schließlich das Ringen zweier wesentlich verschiedener Denkweisen. Dank dieser grundlegenden Einsicht wandte er sich voller Uberzeugung gegen den dynastischen Rationalismus mit seinen zentralistisch-bürokratischen Tendenzen und zugleich gegen den bürgerlichen Rationalismus mit seinen freiheitlich-gleichheitlichen Tendenzen. Denn beide Mächte waren ihm trotz ihrer scheinbar unterschiedlichen Ziele und trotz ihres äußeren Gegensatzes, der sie in immer heftigere Opposition zueinander brachte, letzten Endes doch nur Vertreter ein und derselben geistigen Bewegung, deren Resultat nichts anderes sein konnte als die fortschreitende Herauslösung des Menschen aus seiner geschichtlichen Welt, aus seiner durch unaufhebbare Bedürfnisse vorgeschriebenen natürlichen Seinsordnung mit ihrer wohltätigen Bindung und Fesselung des Trieblebens. Das Hauptgewicht von Mosers Abwehr richtete sich' naturgemäß gegen den bürokratischen Zentralismus der absoluten Monarchie, da die andere Spielart des Rationalismus, das naturrechtliche Denken, vor der Französischen Revolution noch nicht voll zum Zuge gekommen war. Moser griff aber nicht die Monarchie an, sondern nur den Geist, mit dem sie im Zeitalter der Vernunft ihr Geschäft des Regierens und Verwaltens begriff und ausübte. Die absolute Monarchie, der aufgeklärte Despotismus, der büro13

Mühlenfeld, Politik

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kratische Zentralismus will um der Macht und des zivilisatorischen Fortschritts willen alles in wenige, übersichtliche, rational-kausale Regeln zwingen und aus dem Staat eine Maschine der Staatsräson, ein mechanisches Werkzeug der Staatskunst, eine Apparatur der Kabinettspolitik machen. Die Bürokratie dieses staatlichen Systems hat die Neigung wie die Aufgabe, generalisierend vorzugehen, das heißt individuelle Unterschiede zu überspielen und sich mehr um das Allgemeine als um das Besondere zu kümmern. In diesem Besonderen aber, in den individuellen Unterschieden, in der jeweiligen geschichtlich gewordenen Eigenart liegt in bunter Fülle die eigentliche Lebendigkeit des Menschen, sein wesentlicher Wert und damit auch die innere Voraussetzung des menschlichen Daseins in größeren Gruppen. Deshalb erkennt Moser in der Individualität, die sich in langer Entwicklung ein geschichtliches Recht auf ihre Existenz erworben hat, den wahren Gegenpol des bürokratischen Zentralismus — ohne ihr allerdings schon den später gebräuchlichen Namen eben der historischen Individualität zu geben. Und in der auf ihre Erhaltung und Bewahrung zielenden Bemühung erlebt er, lange bevor die Frühromantik den Individualitätsgedanken zum Programm erhob, den Sinn seines Kampfes gegen den vordringenden Rationalismus der Zeit, gegen die drohende Einförmigkeit der Theorien der zeitgenössischen Philosophie, gegen den allgemeinen Plan, gegen die „Herren vom General département". Dabei führt Moser diesen Kampf um das Recht der Individualität in jedem Betracht — als Mensch, als Ding, als Institution, als Sitte, als Brauch usw. — weder mit selbstsüchtigen Affekten noch mit rückständigen Ressentiments. Er will nicht Herrschaft, Abhängigkeit oder Ausbeutung verteidigen, indem er die altständische Lebensordnung vor der Auflösung zu retten versucht. Vielmehr will er ihren sozialen Kosmos in seiner ganzen Vielgestaltigkeit als eine natürlich gewachsene und geschichtlich gewordene Grundlage des gemeinsamen Lebens vor der Nivellierung bewahren, in der der Mensch seinen alten festen Platz mit all seinen Vorteilen verlieren muß, und vor dem Zerfall schützen, in dem der Mensch wurzel- und bindungslos verelenden und zur Beute der freiwerdenden Leidenschaften werden muß. In diesem Bestreben irgendwelche romantisierende Verteidigung des Alten gegenüber dem Neuen zu sehen, das verbietet die ganz und gar unsentimentale, nüchtern auf das Praktische beschränkte Einstellung, die Mosers Schriften offenbaren — von Romantik, wie sie später auftaucht, findet sich bei ihm noch keine Spur. Dabei ist es aber nicht nur allgemein

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diese jeder Phrase abholde kluge Nüchternheit, die das konservative Denken bei Moser in der frühen Reinheit seiner eigentlichen Intention gegen die despotischen Übergriffe des rationalen Fortschritts zeigt und vor dem Vorwurf des Romantischen oder des ständischen Egoismus behütet, sondern es ist vor allem der Inhalt seiner Verteidigung der bestehenden Lebensordnung. Moser wird aus einem ganz natürlich wirkenden Traditionalismus, den ein kräftiges und gesundes Lebensgefühl speist, zum Anwalt des Bestehenden, das nur organische Entwicklung zuläßt und durch die hohe Künstlichkeit des rationalen Fortschritts gefährdet wird. Dies Bestehende, das er rings um sich erblickt und in seinen konkreten Bezügen erlebt, ist ihm und denen, für die er stellvertretend spricht, nie und nimmer etwas nur Gegenwärtiges, das man aus der Erwägung reiner Zweckmäßigkeit heraus ohne weiteres beseitigen und durch Neues ersetzen darf, das größere zivilisatorische Vorteile verspricht. Vielmehr weiß er aus dem unmittelbaren Erlebnis gerade der nächsten Wirklichkeit mit unbedingter Sicherheit, daß alles jetzt Bestehende in einer geschichtlichen Vergangenheit wurzelt, daß an seinem besonderen Werden Generationen und Jahrhunderte aus der Weisheit ihres Gefühls mitgewirkt haben und daß dadurch auch der zukünftigen Entwicklung eine Bahn gewiesen ist, die nicht ohne Gefahr verlassen wird. Die Vergangenheit ist in den Formen der Gegenwart auf solche A r t immer mitgegeben, stets noch mitgegenwärtig — vor allem in den Sitten und Bräuchen, im Recht und im Wertkanon, deren Gestalt nicht bloß den materiellen Bedürfnissen, sondern auch der inneren Natur des Menschen entspricht. Vernichtet man sie plötzlich' zugunsten einer neuen, künstlichen, schematischen Ordnung, so reißt man den Menschen gleichsam aus seinem natürlichen Wurzelgrund heraus, was nicht ohne tödliche Drohung für die Stabilität seiner gesamten individuellen und kollektiven Lebensordnung geschehen kann. Denn in der stufenreichen Gliederung der alten Ordnung, in Sitte und Brauch, Recht und Wertkanon ist der Mensch nicht nur gehalten, sondern auch gebunden. Dies beweist ihm obendrein das eingehende Studium historischer Quellen, in denen er das eigentliche Wesen der Geschichte als fortlaufenden Lebensstrom entdeckt. Was Moser mit diesem Bestehenden und der in ihm gegebenen Gegenwärtigkeit der Vergangenheit meint, wie er den einzelnen Menschen hier und jetzt in diesem Bestehenden als einem Halt und Schutz gewährenden Gefüge lebendiger Wechselbeziehungen von realen Personen, Sachen, Sitten 13»

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und Einrichtungen gleichsam eingebettet weiß, und warum er deshalb die altständische Lebensordnung seiner Zeit als organische Realität, in der jedermann einen festen Platz hat, gegen die Mächte und Kräfte ihrer Sinnentleerung und Auflösung verteidigt — das alles läßt mit eindrucksvoller Klarheit die Erörterung erkennen, die er dem Wesen des Eigentums gewidmet hat. Im Gegensatz zum abstrakten Begriff des von der Person abgelösten und beliebig übertragbaren Eigentums, dem der fortschreitende Rationalismus zur Geltung verhalf, weiß er um die Bedeutung der alten, vorrationalen, in der ständischen Lebensordnung beheimateten Eigentumsvorstellung. Sie kennt noch eine besondere innere Beziehung zwischen Besitz und Besitzer, ja sie gewinnt durch diese Eigenschaft erst ihren wahren Sinn und Rang eines konstitutiven Faktors auch der sozialen Ordnung. Jedes Eigentum wird hier in der lebendigen Bezogenheit zu seinem Besitzer erlebt und gewertet — es ist tatsächlich ein Teil seines Selbst, mit dem er weit über den handgreiflichen Wert hinaus seelisch verbunden ist. Nicht nur ein rein materieller Wert, der beredinet werden kann, kommt dem ererbten oder erworbenen Eigentum im Rahmen dieses traditionalen Weltverständnisses zu, sondern ihm wohnen auch als unablösbare Eigenschaft ideelle Werte inne. Der Besitz von Grund und Boden etwa gibt seinem Eigentümer die soziale Stellung, Stimmrecht in staatlichen Angelegenheiten, Schöffen- und Jagdrechte. Und solche mit bestimmten Pflichten verbundenen Rechte wieder bilden in ihrer vielfältigen Verteilung bei dui einzelnen Ständen das Gerüst des sozialen Gebäudes. Sie sind gleichsam die Pfosten und Balken des größeren Hauses der in die Landschaft als Heimat eingesenkten Gemeinschaft, in der jeder Mensch sein Dasein führt. A n den Beispielen, die Moser für diese altständische Eigentumsvorstellung mit einfacher Deutlichkeit zum Beleg heranzieht, wird unmittelbar ersichtlich, welcher Reichtum an sprachlich kaum faßbaren seelischen Beziehungen konkret-seinsmäßiger Art damals noch mit dem Besitz verbunden war. A n diesen Beispielen, die sich durch viele Stellen seines Gesamtwerkes ergänzen lassen, ist aber außerdem auch noch zu ermessen, was Ding und Sache überhaupt in der seelischen Tiefe und Fülle der menschlichen Beziehung zu ihnen, der die Sprache der rationalen Zivilisation keinen rechten Ausdruck mehr zur Verfügung stellt, für ein traditionales Welterleben bedeuten. Dinge und Sachen stehen noch in einem ganz anderen Verhältnis zum Menschen als bloß in rationaler Kausalität, in materiellem Wert, in ökonomischer Funktion. Sie sind auch ein vielfältig ins Soziale hinüberreichender Bestand-

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teil der individuellen Person. Ihr Verlust zieht nicht allein die Verkümmerung des Einzelnen nach sich, sondern ebenso die Beeinträchtigung des zwischenmenschlichen Zusammenhangs. Und als solche bilden Ding und Sache ganz -wesentlich die innere Welt des Menschen mit, so daß jede Störung des Verhältnisses zu ihnen von tiefen Folgen auch für die seelische Beschaffenheit der sozialen Beziehungen begleitet sein muß. V o n dieser Einstellung zum Eigentum, zu Ding und Sache, zur geschichtlichen Individualität des Bestehenden her ist schließlich auch der Staat zu sehen, dem Mosers besonderes Interesse galt. Je einfacher die Gesetze und je allgemeiner die Regeln werden, desto despotischer, trockener und armseliger wird ein Staat. Denn der Staat ist nicht ein Regierungsapparat und Verwaltungsmechanismus, er ist kein bürokratisches Schaltwerk, das sich auf einen Druck von oben her in Gang setzt, sondern sein wirkliches geschichtliches Medium ist Grund und Boden, aus dem das ineinander greifende Geflecht von menschlichen Beziehungen und Einrichtungen, Rechten und Pflichten, Sitten und Bräuchen als lebendige Ordnung erwächst. In dieser lebendigen Ordnung, die ihrer Natur nach an jedem Ort anders beschaffen ist und darin ihren inneren und äußeren Reichtum hat, lebt der Mensch als unverwechselbare Persönlichkeit erst in seiner wahren Freiheit eines Gleichgewichts zwischen Verstand, Gefühl und Trieb. Daher liegt der Sinn der persönlichen Freiheit denn auch für das konservative Denken Mosers gerade in der Achtung vor dieser ganz individuellen, eng an die jeweilige Umwelt in ihrem geschichtlichen Werden gebundenen Besonderheit — jeder Eingesessene sollte am besten nach Recht und Gewohnheit seiner örtlichen Gerichtsbarkeit beurteilt werden, um seine eigenste Freiheit zu erhalten. Das Staatsdenken Mosers vollzieht sich auf solcher Grundlage — trotz seines durch die Wortwahl irreführenden Vergleichs des Staates mit einer Aktiengesellschaft — ganz außerhalb des Rahmens, den die naturrechtliche Staatslehre der Aufklärung festgelegt hat, das heißt jenseits der Scheidung zwischen Gesellschaft und Staat. Moser fragt nicht oder doch kaum nach Zweck, Ursprung und Form des Staates — diese rationalen Fragen, aus denen die Vorstellung des Staates als Apparat, Maschine, Technik und Theorie entsteht, haben in seinem Denken keinen Platz. Denn Moser ist kein Theoretiker des Staates im üblichen Verstände. Seine ganz andere Staatslehre kreist mit ihrer tief lebendigen Begründung, die ein ausgewogenes Verhältnis zwischen dem Besonderen und dem Allgemeinen zeigt, vielmehr um eine neue und zugleich alte, vorrationale und doch durchaus vernünftige

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Vorstellung des staatlichen Lebens, das gleichzeitig soziales und kulturelles, wirtschaftliches und religiöses Leben ist. Die Elemente dieser Lebendigkeit heißen Stamm und Familie, Gemeinschaft und gegenseitige Hilfe ihrer Glieder, Freiheit und Eigentum. Stammesordnung ist die Urform des Staates, Familie ist die Urform der Gemeinschaft, und Eigentum ist gewissermaßen die Urform der persönlichen Freiheit — ohne Stamm kein Staat, ohne Familie keine Gemeinschaft und ohne Eigentum keine echte Freiheit. Die Bedeutung des Mösersdien Staatsdenkens, das trotz seiner entschieden geschichtlichen Fundierung nicht als Romantik mißverstanden werden kann, besteht also darin, daß es im Gegensatz zum absolutistischen Staatssystem und zum naturrechtlichen Staatsbegriff, die beide Staat und Gesellschaft auseinanderreißen und den Staat vorwiegend als rational-technische Apparatur ansehen und verwirklichen, den politischen Willen in die verschiedenen Körperschaften und kleineren Gemeinwesen des Volkes selbst hineinlegt. Dieser Staat ist mit voller Absicht und aus klar empfundener Überlegung auf Volkstum und Gemeinsinn aufgebaut. Er wird nicht auf einen Herrschaftszweck hin, sondern von der Natur seiner selbständig freien Glieder her aufgebaut. Ihm liegt der natürliche Gedanke von dem allein fruchtbaren Eigenleben der verschiedenen Volksschichten zugrunde. Er ist Landesstaat und Stammesstaat, der erst zusammen mit anderen zu dem lockeren Gebilde eines Nationalstaates wird, ohne letzterem das größere Gewicht zuzugestehen und die Kraft der Beharrung und Bewahrung seiner Grundlagen aufzugeben, die seine Dauer verbürgen. Gerade hieraus erwächst in diesem konservativen Staat — der sich für alle seine Glieder verantwortlich fühlen muß, weil er sonst seine eigenste Idee verletzt und verrät — eine strenge Regelung des allgemeinen Daseins durch Sitte und Brauch. Es ist eine Regelung, die nie einförmig werden kann, da sie in der Anerkennung des Besonderen und seiner natürlichen Entwicklung beruht, die gleichsam den Kitt des staatlichen Gebäudes bildet — sowohl des kleineren wie des größeren, zusammengesetzten. Daß es sich bei all diesem nicht einfach um den Ausdruck eines bloßen Traditionalismus handelt, der aus Liebe zum Althergebrachten, aus dem Hang zum Gewohnten, geschichtlich Gewordenen und Gewachsenen oder gar aus egoistischen Motiven eigensinnig am Alten festhält, sondern daß es sich hier vielmehr um eine zu echtem Selbstbewußtsein gelangte frühe Form des konservativen Denkens handelt, das zeigt sich dann mit voller Klarheit in Mosers Auseinandersetzung mit Kant, dem bedeutendsten Vertreter des Ra-

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tionalismus seiner Zeit und philosophischen Vollender des Natur- und Vernunftrechts. In dieser Auseinandersetzung geht es Moser um den Kampf gegen die Ubergriffe eines rein normativen und konstruktiven Denkens aus „gar zu hohen Prämissen" und um die Betonung eines diesem entgegengesetzten Denkens, das sich anschaulich und praktisch an die lebendig gegebenen Umstände hält. Kants Auffassung über den Theoretiker genügt Moser nicht: entwickelt man sein Wesen aus der reinen Vernunft, deren despotische Gefahren für Mensch, V o l k und Staat unverkennbar sind, so kommt es statt zur Einheit bloß zur Scheidung zwischen Theoretiker und Empiriker. Aber Betrachtung und Handlung gehören im Menschen zusammen. Denn die Erfahrung durch Anschauung der Dinge in einem lebendigen Totaleindruck ist nicht minder wichtig als alle theoretische Erkenntnis. Aus wirklichen Begebenheiten schließt sich, so argumentiert er als Anwalt der Besonderheit jeder Lebenserscheinung und der Formenfülle des individuellen und kollektiven menschlichen Daseins, o f t richtiger als aus allzu hohen Vordersätzen. Und er versucht deshalb durch den Aufweis der Unterschiede zwischen Theorie und Praxis — dies ist das Thema seiner unvollendet gebliebenen Abhandlung — zu zeigen, daß der Wert einer Sache aus allgemeinen Prinzipien niemals voll und gerecht erfaßt werden kann, sondern daß vielmehr jedes Ding seinen eigenen Gesichtspunkt in sich selbst trägt, von dem aus es betrachtet und erklärt sein will, um das Wesentliche nicht zu verkennen. So stellt Moser hier, kaum daß das konservative Denken in und mit ihm geboren ist, auch1 gleich den für dessen Hervortreten und Fortdauern entscheidenden Gegensatz zwischen zwei Denkweisen als die eigentliche Bedingung des Konservatismus fest und bezeichnet damit die fundamentale Problematik, der sein ganzes Bemühen überhaupt gilt. Dem abstrakt-rationalen, normativ-konstruktiven, zentralistisch-generalisierenden Denken steht das konkret-praktische, individuell-geschichtliche, anschaulich-lebendige Denken als eine eigene, vom Leben selbst geforderte und gebildete Denkweise gegenüber, die kein geringeres Recht auf Beachtung beansprucht als jene. In all seinen Schriften hat Moser denn auch in der einen oder anderen Form die ebenso spannungs- wie folgenreiche Verschiedenheit zwischen diesen beiden Arten des Weltverständnisses beschäftigt, mag es sich um Staat oder Wirtschaft, Recht oder Sitte, Vergangenheit oder Gegenwart handeln. Denn ihr tiefer Gegensatz trat ihm in seiner Epoche hauptsächlich in Gestalt des bürokratischen Zentralismus, der der altständischen Lebensordnung ihren Sinn

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nahm, immer mehr als deren größtes Ereignis entgegen, das mit wahrhaft revolutionärer Wirkung von unabsehbaren Konsequenzen begleitet war. Und er erlebte diesen Gegensatz unausgesprochen, aber dennoch stets spürbar vor allen Dingen als eine unzulässige Entfesselung der Leidenschaften und zumal der Macht, die das Gleichgewicht der alten Ordnung ins Wanken brachte. Durch ihre Auflösung wurden Kräfte entbunden, die sich zunehmend als eine unheilvolle Verletzung des menschlichen Wesens auswirkten. Die Vorteile dieser Auflösung wogen nach seiner Erfahrung keineswegs die Nachteile auf, mit denen sie verbunden war. Um solcher Nachteile willen, die er — ohne ihnen von seiner damaligen Situation aus jene Namen geben zu können, die dann seine Nachfolger in der weiteren Entwicklung des konservativen Denkens fanden — im einzelnen mehr spürte als sah und mehr ahnte als wußte, verteidigte er ständisches Gedanken- und Sittengut. Und im Hinblick auf sie nahm er sich dann ganz besonders der Denkweise der bodenständigen altbäuerlichen Schicht an, in der er das festeste Bollwerk gegen jene Nachteile erblickte. Denn der Bauer in seiner heimat- und erdgebundenen Besonderheit war ihm als der am meisten natürlich-geschichtlich bestimmte Mensdi das kräftigste Beispiel des Gegensatzes zum zeitlos-allgemeinen Menschenbild, das den Ausgang für den dynastischen wie für den naturrechtlichen Rationalismus der Zeit bildete. Studiert man heute seine Schriften, so wird im Rückblick ohne weiteres deutlich, was Moser damit in der geistig-seelischen Entwicklung der Neuzeit überhaupt verteidigte und nach Möglichkeit erhalten wissen wollte. All seine Bemühungen, so erkennt man ohne Schwierigkeit, gelten nämlich letztlich der Abwehr ideologischer Weltsicht und damit der vollen Lebendigkeit der Gefühlssphäre des Menschen, die mit und in ihren überlieferten Formen durch den rationalen Staat und seine Wirtschaft sowie durch die einseitige Herrschaft des Verstandes im Leben des Einzelnen verdrängt, verkümmert oder vernichtet wird und solcherart den Weg freimacht für die Entbindung der Triebwelt. Diesem Schicksal des Menschen soviel wie möglich Einhalt zu gebieten, die damit drohenden Gefahren soweit wie möglich abzuwehren, war die Absicht seines ganzen Werkes, die zeitbedingte und in ihrer Zukunftsbedeutung doch zeitüberlegene Aufgabe seiner vielgestaltigen politischen Philosophie. Moser konnte aber dieser umfassenden Aufgabe, die ihm seine Zeit als dem Stellvertreter des damals weitaus überwiegenden Teils ihrer Menschen zuwies, nur auf eine Weise und auf einem Wege gerecht werden. Das heißt,

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er mußte die Grundidee derjenigen Lebensordnung als Mittel zur Abwehr benutzen, deren Erfolge er noch selber vor Augen hatte. Diese Grundidee ergab sich aus den Gedanken des Gegengewichts, des Ausgleichs und des Gleichgewichts, denen das Ständewesen seine Funktionsfähigkeit und seine Leistungen verdankte, ehe es selber vom Rationalismus ergriffen, entstellt und schließlich' zerstört wurde. Mit diesen Gedanken verhalf Moser, ganz in Einklang mit seinem Erlebnis von der geschichtlich gewordenen Individualität in der konkreten Fülle ihrer natürlichen Bezüge sowohl innerhalb des sozialen Kosmos als auch innerhalb der lebendig beseelten Dingwelt, einem später auch als solchen erkannten und benannten Prinzip des konservativen Denkens zum Leben: der Vorstellung von der im Zeitalter der zentralisierenden Ratio als Gegengewicht und zum Ausgleich nötigen Dezentralisation. Was er dem bürokratischen Zentralismus gegenüber verteidigte und empfahl, war ja, in vielerlei Form gekleidet, das Eigenrecht des in höchst konkreter Beziehung zu seiner Umgebung stehenden Einzelfalls, und das heißt begrifflich gefaßt nichts weiter als das Gegenteil des Zentralismus: lebendige Vielfalt als Gesetz der Lebensordnung. Schon in Mosers frühkonservativem Denken meldet sich, wie wir gesehen haben, unverkennbar dieses Prinzip der lebendigen Aufgliederung, das in seiner organisch das Ganze bejahenden Natur nicht mit medianischer Teilung verwechselt werden darf. 'Es stellt nichts anderes dar als eine natürliche Antwort des Willens zur Bewahrung des Bestehenden auf das unzulässige, weil zu abstrakte Denken sowohl des dynastischen Absolutismus als auch des modernen Bürgertums, das damals unter der Decke des Absolutismus geistig und sozial erstarkte und mit Hilfe des Naturrechts aus der ständischen Welt herausdrängte. Das Denken der Bürokratie und des Naturrechts löst auf, setzt isolierend frei und fügt dann mechanisch-generalisierend die isolierten Teile mit dem Ergebnis der Gleichförmigkeit wieder zusammen. Das Denken dagegen, dessen Gesetz Moser ohne Namenstaufe ans Licht hebt, enthüllt mit dem Ergebnis des gegliederten Zusammenhangs organisch-individualisierend Sinn und Wert der menschlichen Gebundenheit und erfaßt die persönliche Freiheit in der Anerkennung einer unendlichen Ungleichheit des überall sichtbar und unvertausdibar Besonderen. Der Begriff der Dezentralisation, unter dem sich Mosers Gesamtanliegen gegenüber der Zeittendenz zusammenfassen läßt, bedeutet mithin nicht etwa Vernichtung oder gar Zerschlagung eines Ganzen oder auch bloß Auflösung eines großen Funktionszentrums zugunsten klei-

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nerer Funktionszentren. Sondern er bedeutet den lebendigen Bau einer vielfältig in sich gegliederten und in ihren einzelnen selbständigen Gliedern wechselseitig und vielsdiichtig verflochtenen Welt, deren Zentralisierung ihre Vielfalt, Gliederung, Mehrschichtigkeit und Verflochtenheit gefährdet und damit den wahren Plan der Natur, deren Reichtum eben in ihrer Mannigfaltigkeit besteht, zerstört und einem abstrakten Despotismus den Weg bahnt. Fassen wir den Ertrag der Erkenntnisse und Überzeugungen Mosers zusammen, so läßt er sich folgendermaßen ausdrücken: Es gibt in Wahrheit nichts Isoliertes im Zusammenspiel allen menschlichen Lebens. Vielmehr bilden Recht und Wirtschaft, Sozialordnung und Volkstum, Kunst und Bildung, Sitte und Religion eine große, lebendige Einheit von Besonderheiten — wobei der geoffenbarten Religion die Rolle einer unerschöpflich bindenden Kraftquelle für alle diese Besonderheiten zukommt. Und solche lebendige Einheit, deren Wachstum keine unterbrechende Neusetzung erlaubt, gründet im geschichtlichen Werden, das Achtung vor der Tradition und Pflege der natürlichen Entwicklung erfordert. Achtung vor dem Gewordenen und Pflege des Gewachsenen nehmen aber eben aus der Eigenart des Individuellen die Erfahrung von der Natur der größeren Zusammenhänge und gewinnen das Bild des Volkes als organisches Ganzes nicht aus abstrakten Teilen, sondern aus konkreten Gliedern. Die Vorstellung der Dezentralisation, die Moser allerdings weder benennen kann noch will, hängt dabei offensichtlich eng zusammen mit der Vorstellung vom unvertauschbaren Eigentum, die allem einseitig rationalen Denken unverständlich und daher verdächtig ist. Und diese wiederum gründet, wie wir sahen, in der vorrationalen Vorstellung von Ding und Sache überhaupt. Ihre letzte Wurzel aber liegt ohne Zweifel in einem Verhältnis zwischen Mensch1 und Wirklichkeit, das noch nicht von jener tiefen Subjekt-Objekt-Spannung bestimmt wird, die auf dem Grunde der Verlorenheit des modernen Menschen, seines Herausfallens aus der Welt und seiner Selbstentfremdung anzutreffen ist — jener Spannung, die ihm seine neue Denkweise immer mehr aufgezwungen hat, je rascher sich die technische Zivilisation vervollkommnete. Die Stellung Mosers in der Entwicklungsgeschichte des konservativen Gedankens ist also, wie sein Werk insgesamt zeigt, fundamental. Mit seinem Auftreten sind auch gleich die grundlegenden Bestimmungen geboren, in denen das konservative Weltverständnis mit seinem ganzen Wesen ruht.

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Aus ihrer Beachtung und Einhaltung ergibt sich fortan seine Gesundheit und Echtheit, aus ihrer Verkennung und Verletzung folgen später all seine Entstellungen und Verirrungen. Wie das Zeitalter der Aufklärung mit dem zentralistisch-bürokratischen Absolutismus und dem freiheitlich-gleichheitlichen Naturrecht die Geburtsepoche der modernen Ideologien ist, so ist es auch die Geburtsepoche der geistigen Gegenbewegung, des aus dem Traditionalismus zum Selbstbewußtsein erwachenden Konservatismus. Die ganz Europa mit ihren Ideen überflutende Französische Revolution bringt dann am Ende des 18. Jahrhunderts beide zum Durchbruch. Das Naturrecht entthront die rationale Idee der dynastischen Staatsräson mit seiner Frucht der nicht minder rationalen Idee der Volkssouveränität, aus der sich alsbald die modernen Ideologien entwickeln. Und der seiner selbst bewußt gewordene Traditionalismus ringt sich aus seinem frühen Stadium hervor, um zum politischen Konservatismus zu werden. Aber beide verlieren nach diesem Durchbruchsprozeß, der das neue Zeitalter der Zivilisation recht eigentlich eröffnet, sehr bald ihre ursprüngliche Reinheit — und in diesem Verlust der ursprünglichen Reinheit liegt, wie wir bemerken werden, die ganze Tragik der kommenden Generationen beschlossen. Denn nicht nur die modernen Ideologien erlebten, indem sie die tatsächliche Führung des menschlichen Lebens an sich rissen, mit ihren künstlichen Gedankensystemen den Bankrott, der in der psychologisch bedingten Korrespondenz von Ratio und Trieb vorgezeichnet ist. Sondern auch der Konservatismus erlebte, indem er unter dem Einfluß derselben innermenschlichen Bedingungen ohne sein "Wissen immer mehr von den Elementen jener Ideologien in sich aufnahm und soweit er dann offiziell die politische Führung beanspruchte oder sich doch an ihr beteiligte, ebenfalls eine Niederlage. Die Geschichte des konservativen Denkens seit der Französischen Revolution zu verfolgen, heißt infolgedessen, zugleich mit der Entstehung des voll bewußten politischen Konservatismus auch sein Abirren von dem Wege festzustellen, den Moser als Sprachrohr für das noch kaum aussprechbare Anliegen seiner Zeitgenossen gewiesen hatte. Dies gilt allerdings nur für denjenigen Konservatismus, der politisch oder geistig führend auftrat und daher versuchen mußte, sich mit den modernen Ideologien auf einer Ebene auseinanderzusetzen. Es gilt nicht oder doch nur ganz sekundär für die breite Menge derjenigen Menschen, die in dem noch lange und zumal bei der ländlichen Bevölkerung bis heute bestehenden Zwischenreich von traditionalem

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und konservativem Denken lebten und leben — das heißt dort, wo der Konservatismus in Wahrheit und primär noch gar kein ausdrücklich politisches Bekenntnis war und ist, sondern eine einfache Lebenshaltung ohne viel Reflektion, die aus Instinkt konservativen Empfindungen in ihrem Verhalten folgt. Diese breite Schicht mit traditional-konservativer Einstellung bewahrt, wie bereits betont, unterhalb des politisch als führend hervortretenden und im Laufe der Zeit immer ideologischer werdenden offiziellen Konservatismus die ursprüngliche Reinheit des konservativen Gedankens, wie sie einst Moser offenbar gemacht hatte, um sie trotz aller umwälzenden Veränderungen der wirtschaftlichen, sozialen und staatlichen Welt mit zäher Beharrlichkeit bis in die Gegenwart zu erhalten. Der Bankrott der modernen Ideologien bringt diese Schicht oder vielmehr ihr Denken nach zwei Weltkriegen in der Mitte des 20. Jahrhunderts schließlich wieder zu einer höchst aktuellen Bedeutung. Selbst die modernen Ideologien müssen heute, obwohl sie immer noch weithin die maßgebenden Herren unserer Gegenwart sind, beim konservativen Gedanken ihre Zuflucht suchen, um mit seinen alten Ursprungselementen das restlos verlorengegangene Gleichgewicht des sozialen, staatlichen und wirtschaftlichen Lebens der Zivilisation wieder herzustellen. Unsere Gegenwart steht mit anderen Worten trotz des langen, seither zurückgelegten Weges einer fortwährenden Verwandlung der ganzen Welt letztlich doch vor derselben Grundaufgabe wie das Zeitalter der Aufklärung. Denn auch sie muß, wenngleich in unendlich viel dringenderer Art und ausgedehnterer Weise, die Synthese zwischen den beiden Denkweisen finden, die im 18. Jahrhundert nicht gefunden wurde. Von der Restaurationszeit nach der Französischen Revolution hat die liberale Geschichtslegende — worunter die Gesamtheit der herkömmlichen Geschichtsbilder im Zeichen des Liberalismus verstanden werden soll, deren gründliche Revision heute auf der geistigen Tagesordnung unserer Zeit steht — in einem zwar verständlichen, aber durchaus ideologisch bestimmten Idealismus ein übermäßig dunkles Bild entworfen, dessen Schatten auch noch viel weiter zurück bis zum aufgeklärten Absolutismus reichen. Dieses Bild, das uns erst heute in seinen wahren Hintergründen psychologisch verständlich wird, ist in einer doppelten Weise falsch. Einmal sieht es als die verwerflichsten Gegner nämlich Mächte an, die unverkennbar Geist von seinem Geiste sind. Denn gerade die Entartung der Macht im vorrevolutionären Absolutismus gehört zu dem gleichen rationalen Denken wie die liberale Ideologie mit ihrem einseitigen Geschichtsbild selber. Und die Ent-

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artung der Macht im nachrevolutionären Legitimismus ist, wo man überhaupt von einer solchen sprechen muß, ebenfalls wesentlich Produkt des rationalen Denkens, wie wir erkennen werden. Zum andern aber ist dieses Bild, das hartnäckig weitergeschleppt wird und einen der verhängnisvollsten Riegel vor dem rechten Verständnis auch der Gegenwartslage darstellt, deshalb falsch, weil die liberale Geschichtslegende hier ohne jeden historischen Zusammenhang mit der späteren Realität ihrer eigenen Ideologie operiert. Wie sie die Schrecken der Großen Revolution entweder einfach unterschlägt oder doch, zu bloßen Exzessen einzelner Individuen und wildgewordener Gruppen isoliert, in ihrem wirklichen geschichtlichen Gewicht und ihrem wahren geistig-seelischen Sinn bagatellisiert, so unterschlägt oder bagatellisiert sie audi die unstreitig viel schlimmeren Folgen ihrer Ideologie, die der Kapitalismus als System und die aus seiner Welt stammenden ideologischen Gegensysteme gezeitigt haben. So verkennt die liberale Geschichtslegende die ganze folgenreiche Triebentfesselung, die sie durch ihre rationalen Freiheits- und Gleichheitsprinzipien selbst erst mit wachgerufen hat. So klagt sie einen Gegner an, der sie in Wahrheit selber ist — noch der moderne Nationalismus stellt samt seinem maßlosen Machttrieb, wie ihn die jüngste Ideologiengruppe des Faschismus verkörpert, ein psychologisch legitimes Kind des Liberalismus und seiner Befreiung oder besser Entbindung des Individuums dar. Und deshalb ist auch der von der liberalen Geschichtslegende so hartnäckig verfemte „reaktionäre Polizeistaat" des höchstens zur Hälfte konservativen, zur anderen und entscheidenden Hälfte aber auf rationalem Gedankenboden errichteten Legitimismus vom heutigen Standort aus kaum mehr als eine Attrappe ideologischer Geschichtsbetrachtung. Das Zwangssystem, in das die modernen Ideologien mit Monopolkapitalismus, Klassenkampf, Rassenkampf, Planwirtschaft, Diktatur, Terror und Bürgerkrieg schließlich den Menschen der Gegenwart hineingetrieben haben, läßt die sogenannte Zeit des „Kampfes gegen die Reaktion" in den Anfängen des vorigen Jahrhunderts fast zu einem ehrwürdigen Schemen verblassen — ehrwürdig wegen des damals vermeintlich der Freiheit dargebrachten Idealismus, schemenhaft aber wegen der relativen Geringfügigkeit der damals gegen den Liberalismus gerichteten Aktionen. Der Vergleich mit der Gegenwart läßt jene Epoche insgesamt vielmehr als eine Zeit der Ruhe und der Ordnung, des Friedens und der Geborgenheit erscheinen. Davor werden die verhältnismäßig wenigen Ausnahmen von dieser Regel mehr oder weniger unerheblich. Denn die

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große Mehrheit der Menschen führte in jener Epoche ein vergleichsweise geborgenes Leben. Und nur eine Minderheit litt N o t und Elend, was zudem überwiegend zu Lasten des liberalen Kapitalismus ging und erst in zweiter Linie zu Lasten des verfemten Polizeistaats. Dieser Polizeistaat, dessen Auswirkungen für den einzelnen Menschen jener Tage die liberale Geschichtslegende aus ideologischen Motiven so erfolgreich übertrieben hat, war als staatlicher Apparat mit seinen bürokratischen Methoden ein Produkt derselben Ratio, mit der auch der Liberalismus seine naturrechtlichen Grundvorstellungen entwickelt hatte. Als Ausdrucksform der absolutistischen Staatsräson war er nicht konservativ, sondern pseudokonservativ, was auch daraus hervorging, daß seine aus Furcht vor den Folgen der Französischen Revolution geborenen Maßnahmen von einer großenteils bürgerlichen Bürokratie getragen waren — das heißt von einem Element, zu dessen Abwehr sich der konservative Gedanke gerade erst gebildet hatte. Die polizeilichen Schikanen richteten sich überdies wesentlich gegen die sehr dünne Bildungsschicht von damals, nachdem auf der Wartburg offen gegen den bestehenden Staat demonstriert und immerhin erstmals ein politischer Mord in der neuen Zeit verherrlicht worden war. Aber selbst diese Schikanen sind, so zweifelhaft sie als vorbeugende Mittel zur Erhaltung des äußeren und inneren Friedens auch gewesen sein mögen, immer nur vor dem Hintergrund des noch lange und tief nachwirkenden Geschehens der Umwälzung in Westeuropa richtig zu verstehen und verblassen vor den späteren Methoden der ideologischen Zwangsstaaten des 20. Jahrhunderts. Die früheste geistig bedeutende Antwort auf das Geschehen der Französischen Revolution kam, noch vor der Vollendung ihrer paradigmatischen Vorwegnahme aller ideologischen Möglichkeiten, aus England. Dort schrieb Edmund Burke (1729—97) als Streitschrift gegen die mit den Vorgängen in Frankreich sympathisierenden Klubs seine „Betrachtungen über die Französische Revolution". Diese Schrift, die alsbald auch im übrigen Europa erschien, übte einen außerordentlichen Einfluß aus — jeder politische Konservatismus der Folgezeit geht denn auch mit auf diesen Einfluß des bedeutenden Briten zurück, den der englische Konservatismus noch heute als einen seiner Väter anerkennt. Burke erinnert in der praktischen Nüchternheit seiner aus reicher Erfahrung schöpfenden Argumentation oft an Moser. Doch ist sein Hauptgegner nicht wie bei jenem der dynastische, sondern der naturrechtliche

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Rationalismus, den die Aufklärung auf die Spitze getrieben hatte. Und wie jener sucht und findet Burke ebenfalls seine große und mächtige "Waffe für diesen Kampf in der Geschichte, im rechten Verständnis der historischen Individualität als dem natürlich Gewachsenen und zugleich geschichtlich Gewordenen. Auch er verteidigt mit echter Überzeugung die alte Lebensordnung. Aber er wendet sich nicht gegen den bürokratischen Zentralismus, den England als das klassische Land ständischer Uberlieferungen ebensowenig aufkommen ließ wie den festländischen Absolutismus, sondern gegen die radikale Traditionsfeindschaft der egalitären Demokratie, wie sie die Französische Revolution hervorgebracht hatte. Gegenüber dem revolutionären Freiheitsprinzip betont er die bestimmt begrenzten und geschichtlich gewordenen Rechte und Pflichten der ständischen Welt seines Landes, die ausgewogen in ihrer bunten Gliederung ruht. Gegen den abstrakten Eigentumsbegriff der liberalen Auffassung, der zur Kommerzialisierung allen Besitzes führt, hält er die konkrete Vorstellung vom Eigentum, das persönlich und räumlich durch Überlieferung gebunden ist. Und dem Willen zur Vernichtung des alten und vielverzweigten Autoritätsgefüges zugunsten formaler Gesetzesautorität und geschriebener Verfassungen stellt er das Lob der Festigkeit und Stetigkeit der bisherigen Einrichtungen entgegen. Tradition und Sitte, so argumentiert er, gilt es in ihrer höheren Zweckmäßigkeit zu sehen, um ihren Sinn zu erkennen. Denn dem in langen Zeiten Gewachsenen gebührt Achtung und Liebe nicht nur aus dem Respekt vor dem Erbe der Vergangenheit als solchem, sondern auch und vor allem deshalb, weil es dem Menschen seinen festen Ort in der Welt gibt. Das geschichtlich gewordene positive Recht, das mit seiner Mannigfaltigkeit den im Großen wie im Kleinen überquellenden Reichtum des sozialen und politischen Lebens ausmacht, ist in diesem Verstände auch das eigentlich Natürliche, nicht aber das, was das rationale Naturrecht in seinem Radikalismus fordert. Und das gleiche gilt für die ganze Fülle der Institutionen, die über Jahrhunderte hinweg in oft unmerklichem Werden aus dem Wurzelgrund der Vergangenheit herausgewachsen sind und den wahren Bedürfnissen der Menschen besser gerecht werden als völlig neue, andere Formen. Dabei begründet Burke seine Politik gegen die Grundabsichten der Revolution und die mit Notwendigkeit aus ihnen erwachsenden Folgen ganz wie Moser mit einem bezeichnenden Mangel an begrifflicher Schärfe, aber

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III. Die beiden Formen des konservativen Gedankens

stets aus der unmittelbaren Erfahrung, die ihm als Politiker und Staatsmann zur Verfügung stand. Ganz in Einklang mit diesem konkreten, praktischen Denken verwirft er Revolutionen auch nur dann, wenn sie Anwendung und Ergebnis eines künstlichen Grundsatzes, eines rationalen Prinzips und das heißt, sofern sie ideologischer Herkunft sind. Er erkennt jedoch, äbhold jeder Theorie, die Berechtigung einer Rebellion durchaus dort an, wo sie geschichtlich motivierter Einzelfall ist. So hängt er auch nicht wie später der Legitimismus an einer bestimmten Staatsform: Republik oder Monarchie gelten ihm gleich, wenn sie nur hergebracht sind und nicht einem künstlichen Bruch in der natürlichen Entwicklung ihr Dasein verdanken.. Denn der Staat, dessen Lebendigkeit ihm als oberstes Ziel am Herzen liegt, ist kein Zweckverband, sondern eine Lebensgemeinschaft, deren Sinn die Einheit zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bildet. Gerade diese Indifferenz hinsichtlich der Staatsform, die der spätere Legitimismus an ihm verurteilte, weil er selbst schon ideologisch dachte, ist ein typischer Zug ursprünglichen, rein konservativen Denkens. Es kam Burke, wie sich hierin deutlich zeigt, bei seinem Angriff auf die Französische Revolution nämlich nicht auf die Erhaltung von Herrschaft und Macht in den alten Händen an, sondern auf eine Bewahrung der geschichtlichen Kontinuität, die Vergangenheit und Gegenwart ohne künstlichen Bruch miteinander verschmilzt. Denn Staat und Gesellschaft erscheinen ihm als „eine Partnerschaft in aller Wissenschaft, eine Partnerschaft in aller Kunst, eine Partnerschaft in jeder Tugend und in aller Vollendung. Da die Zwecke einer solchen Partnerschaft nicht in einigen Generationen erreicht werden können, so wird es eine Partnerschaft nicht nur zwischen denen, die leben, sondern auch denjenigen, die tot sind, und denen, die noch geboren werden sollen." In diese Welt der Partnerschaft zwischen Toten, Lebenden und Kommenden ist der Mensch mit zahllosen Abhängigkeiten hineingeboren, die eben als solche nicht Ketten, sondern Schutz, Halt und Hülle seiner Schwächen, Mängel und Blößen darstellen. Das ist der tiefere Sinn „jener gegenseitigen Abhängigkeit, die die Vorsehung für alle Menschen, je eines vom anderen, angeordnet hat." Solche weltfromme Einordnung in das Dasein, die nichts Schwächliches oder Schwärmerisches hat, erwächst Burke aus der gefühlsmäßigen Ehrfurcht vor der Natur der Dinge, aus der Pietät vor ihrem inneren Gesetz, aus der Liebe zu ihrem langsamen Wachstum, das viel brauchbarere Gebilde ergibt als die plötzlich und ohne Verbindung mit dem Bestehenden vor-

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genommene Konstruktion des Neuen. Und er verleiht dieser Einsicht in die historische Entwicklung, die ihn neben Moser stellt, einen im Wesen ganz und gar unromantischen Ausdruck, der überall in Europa verstanden wurde und Widerhall fand. Der weite Widerhall der Schrift Burkes und das erst durch sie unmittelbar hervorgerufene Auftreten eines politischen Konservatismus in den Anfängen des 19. Jahrhunderts ist nur wirklich zu verstehen, wenn man die schon erwähnte liberale Geschichtslegende in ihrer ideologischen Natur durchschaut. Man muß sie als eine zeitbedingte Sicht hinter sich lassen, um sich zu vergegenwärtigen, wie die tatsächliche Lage damals war. Das kann bloß geschehen, indem man jene Epoche nicht aus dem Gesamtzusammenhang des modernen Zeitalters herausreißt und den Blick vor dem, was vorher war und was nachher wurde, verschließt oder einseitig verengt. Vielmehr muß man den neuzeitlichen Rationalismus ohne Beschönigung durch seine außerordentlich positiven Ergebnisse eines beispiellosen zivilisatorischen Aufschwungs auch in seinen außerordentlich negativen Ergebnissen einer unheilvollen Triebentbindung sehen, die er nach sich zog. Dann erhält jene Epoche mit einem Schlag ein gänzlich anderes Gesicht, als wir es bisher gewohnt sind und in gutem Glauben für wahr gehalten haben. Sie entschleiert sich dann, über all ihre begleitenden Fehler und Schwächen hinaus, als eine Zeit tiefster Vorahnung dessen, was dereinst aus den modernen Ideologien entstehen sollte, die damals ihren Siegeszug antraten. Zahlreiche Zeugnisse aus berufenem Munde, die man keineswegs der sozialen Befangenheit zeihen kann, zeigen jedenfalls, daß breiteste Menschenschichten damals bei aller anfänglichen Begeisterung für die „Ideen von 1789" als solche doch gerade durch den weiteren Verlauf der westlichen Revolution von einem ratlosen Schrecken vor ihren Folgen ergriffen wurden. Alle Anzeichen weisen darauf hin, daß es sich hierbei im Grunde um dasselbe Empfinden handelte, das mehr als ein Jahrhundert später in noch viel höherem Maße die Menschheit auf dem so hohen Berg ihres zivilisatorischen Fortschritts vor den beiden großen Weltkriegen als der endgültigen Frucht jener Triebentfesselung erfüllte, die ihren ersten welthistorischen Ausbruch im Pathos und Chaos der Ideologien am Ende der Revolution fand. Und nur von diesem, die ganze menschliche Existenz umfassenden, als ungeheure Bedrohung sämtlicher vorhandener Lebensgrundlagen empfundenen und darum wie nichts zuvor aufwühlenden Kollektiverlebnis aus ist die dem politischen Konservatismus zugeschriebene Epoche 14

M(Ihlenfeld, Politik

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der sogenannten Restauration in ihrem eigentlichen, zeitüberdauernden Sinn überhaupt wahrhaft zu begreifen. Die liberale Geschichtslegende hat in ihrem kurzsichtig optimistischen Harmonieglauben hundert Jahre lang dies säkulare Erlebnis ganzer Generationen in seiner bis in letzte Tiefen reichenden Erschütterung voll bester Absicht, doch mit verderblichen Konsequenzen verharmlost und seine Umstände verklärt. Aber die ob ihrer besinnlichen Ruhe so viel geschmähte Zeit des „Biedermeier" hätte mit der gelungenen Synthese von konservativen und idealistischen Zügen nicht den letzten echten Stil allgemeingültiger Lebensform bilden können, wenn die Restauration damals nicht wenigstens in einem beträchtlichen Teil ihrer Uberzeugungen weit mehr als bloß die Angelegenheit einer kleinen Oberschicht gewesen wäre, wie es die liberale Geschichtslegende hinzustellen neigt, um die Revolution demokratisch zu entlasten. So kann es nicht Wunder nehmen, wenn das Kollektiverlebnis dieser Zeit auch durch eine Kollektivreaktion beantwortet wurde, deren Umfang jenem entsprach. Burke, dessen aufsehenerregende Schrift noch vor dem Ende der Französischen Revolution und damit vor der eigentlichen Schockwirkung ihrer ideologischen Konsequenzen auf ganz Europa geschrieben war, gab mit seinen Argumenten nur eine Antwort auf den ersten Teil der Vorgänge in Frankreich. Der zweite und für die gesamteuropäische Zukunft, wie wir heute wissen, ungleich bedeutsamere Teil der Revolution fand seine Antwort in mehr als nur einem einzigen Buch. Eine ganze Reihe von Werken, die sich alle die Aufgabe einer Eindämmung der mit den idealen Forderungen und Ansprüchen des naturrechtlichen Denkens gleichzeitig hervorbrechenden und entfesselten Triebhaftigkeit zum Ziel setzen, war nur Symptom für eine sehr viel breiter und tiefer gelagerte Antwort aus allen Bevölkerungsschichten und voran selbstverständlich aus denjenigen, die seit dltersher politisch führten. Die Notwendigkeit einer Stellungnahme zu dem erschütternden Geschehen jenseits der Grenzen, das die gewohnte Welt einriß und mit dem drohenden Verlust des Alten die dumpfe Furcht vor der unbekannten Zukunft des Neuen wachrief, konnte auf zwei Wegen erfüllt werden, die denn in der Folge auch eingeschlagen wurden. Eine Gruppe der um Sinndeutung und Abwehr der neuen Welt der modernen Ideologie bemühten Denker, die deren Wesen schon damals ganz bewußt als gefährliche Triebentbindung erlebten und erkannten, schlug den W e g in ein mehr oder weniger dem Gefühl gewidmetes, romantisches Weltverständnis ein. Hierher gehören

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unter anderen vor allem Adam Müller, Savigny und die sogenannte Historische Schule. Diese konservativen Romantiker empfanden ganz richtig, daß sich eine Verteidigung des Bestehenden vom Schlage Burkes oder Mosers nicht gegen den leidenschaftsgetragenen Idealismus der „Ideen von 1789" durchzusetzen vermochte. Sie empfanden aber andererseits auch, daß dem konservativen Denken, wollte es seinem "Wesen und seiner Grundintention nicht untreu werden, die Ausbildung einer theoretischen Programmatik in Gestalt eines rationalen Systems zur Vergewisserung und Beweisführung seines Standpunktes verwehrt war. Daher blieb ihnen lediglich übrig, mit Hilfe einer Verinnerlichung jene Stärke der Argumentation zu gewinnen, die die neuen Ideen und ihre Träger, vor allem die Europa überflutenden Revolutionsarmeen, zur Abwehr erforderten. Diese Gruppe wurde deshalb romantisch, weil sie sehr klar sah, daß der Rationalismus „von unten", nämlich im Naturrecht der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, ähnlich zügellose Regungen der Macht und des Egoismus entband wie der Rationalismus „von oben", nämlich im Absolutismus. Zwischen Szylla und Charybdis dieser beiden Formen des rationalen Denkens stand dem konservativen Denken deshalb nur der Weg in eine weitere Vertiefung derjenigen Elemente offen, die schon Moser als die Grundlage der alten gegenüber der neuen Art des Weltverständnisses entdeckt oder vielmehr gefunden hatte — in erster Linie der Individualität und der Geschichte. Und mit solcher Vertiefung erwuchs dann aus der Auflösung der alten Lebensordnung zwangsläufig auch eine Übersteigerung ihrer Tendenzen. Das romantische Bild der geschichtlichen Vergangenheit büßte mit dem Verlust der Nüchternheit, wie sie Moser und Burke noch besessen hatten, allmählich auch seinen Realitätscharakter ein und mündete schließlich im entscheidungslosen Historismus, der sich so gut mit der Libertinage des späteren Liberalismus vertrug. Der romantische Weg des Konservatismus ist also ein Resultat der auf sich selbst zurückgeworfenen Abwehrintention des konservativen Gedankens, der infolge wachsender Dringlichkeit des zeitbedingten Anliegens seine Gehalte intensiviert und bei diesem Bemühen dann die eigentlich romantische Note empfängt. In diesem besonderen Schicksal des konservativen Gedankens liegt dabei nur ein Teilaspekt der geistig-seelischen Bedingtheit der Romantik als Gesamtbewegung überhaupt vor. Denn die Romantik stellt in ihrem Ursprung nichts anderes dar als eine umfassende Reaktion des alten Weltgefühls auf »4*

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III. Die beiden Formen des konservativen Gedankens

die tiefe Erschütterung des Gesamtgefüges der vertrauten Lebensordnung durch den Herrschaftsantritt der modernen Rationalität — eine Reaktion allerdings, deren Bild neben all ihren Herzens- und Gemütskräften, Liebesund Andachtskräften doch zugleich auch schon, eben weil das ganze Gefüge der alten Welt brüchig wurde, Elemente des neuen, rationalen Geistes in verwandelter Form enthält und dadurch seine oft so eigenartig schillernde Widersprüchlichkeit empfängt. Die andere Gruppe des politischen Konservatismus erkannte ungefähr zu gleicher Zeit, daß die romantische Argumentation mit ihrer immer wesentlich poetisch anmutenden Weltauslegung nicht zureichte, um jene Kräfte abzuwehren, deren zerstörerischen Charaktergrund der zweite Abschnitt der Großen Revolution so furchtbar hinter allem Idealismus enthüllt hatte. Um den politisch-philosophischen Ideologien, die in gewissen Umrissen bereits alle vorhanden waren und im System des Naturrechts ihr mächtiges Fundament hatten, mit gleicher K r a f t begegnen und etwas Besseres an ihre Stelle setzen zu können, bildete diese Gruppe alsbald selber eigene Gedankensysteme aus. Ihre Schöpfer waren vor allem Haller, Hegel und Stahl, deren vielfach zerstreute und gebrochene Einflüsse dann teilweise bis zur Gegenwart lebendig geblieben sind. Diese Systeme, deren geistiges Niveau von äußerster Unterschiedlichkeit war, gingen letztlich allesamt aus der Bemühung hervor, den konservativen Gedanken in eine feste Fassung zu bringen oder doch ein brauchbares Instrument gegen die drohende Triebentbindung der Zukunft zu finden. Aber obwohl sie zahlreiche Bestandteile konservativen Denkens enthielten, war der Pakt mit dem Gegner, den sie unwissentlich durch die Übernahme rationaler Systematik und theoretischer Programmatik schlössen, von unbeabsichtigten Folgen ganz entscheidender Art begleitet. Der Konservatismus wurde dadurch nämlich selber gewissermaßen ideologisch infiziert und entwickelte in dem Zwitter des sogenannten Legitimismus, der das politische Produkt jenes geschichtlichen Paktes war, vielfach ähnliche Züge wie die Ideologien selbst. Diese ideologischen Einschläge waren es denn auch, die — in einer unorganischen Verbindung mit den echten Elementen des konservativen Denkens — nach außen hin der ganzen Bewegung des politischen Konservatismus für die Zukunft das offizielle Gesicht gaben. Vor ihnen traten die konservativen Bekundungen der ersten Gruppe, je weiter die Zeit voranschritt, desto mehr zurück und gingen vorwiegend im wissenschaftlichen Leben des Jahrhunderts unter. Der Konservatismus der zweiten

B. Die konservativen Romantiker

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Gruppe aber wurde — mit einer von ihm selbst unbemerkten, gleichsam charakterlichen Anpassung an die großwerdenden Ideologien — in seinem Verhalten praktisch immer stärker von den Grundtendenzen des technischen Zeitalters, Rationalität und Triebhaftigkeit, ergriffen und geformt.

B. D I E K O N S E R V A T I V E N

ROMANTIKER

Das auffälligste Kennzeichen der ersten Gruppe, der konservativen Romantiker, bildet ihre Systemlosigkeit. Diese Eigenschaft, die ihnen allen stärker oder schwächer gemeinsam war, ist aber weder auf persönliche Abneigung noch auf sachliche Unfähigkeit zurückzuführen. Vielmehr stellt sie offenbar ein Ergebnis der Konsequenz ihres Standpunkts und das heißt eine natürliche Folge der Einsicht in die Bedingungen des konservativen Denkens dar, auch wenn sie dem keine theoretische Begründung gewidmet haben. Dennoch entwickelt diese Gruppe mit sicherem Gefühl ihre Auffassungen und Anschauungen nicht ohne einen methodischen Rahmen, der in seiner besonderen Offenheit gleichsam die Stelle des Systems vertritt. Die konservativen Romantiker sehen nämlich im geschichtlichen Walten der Vergangenheit, die sie mit einer emphatischen Hingabe an die Reinheit und Weisheit des irdischen Werdens erfüllte, überall göttliche Wirkung. Tiefe Frömmigkeit gibt ihren Ausführungen eine religiöse Fundierung, die alles wie eine große Klammer zusammenhält und mit einer eigenen Logik von hoher Uberzeugungskraft und innerer Lebendigkeit versieht. Durch dieses, das Zentrum ihres Welterlebens einnehmende Medium des christlichen Glaubens erscheint ihnen ganz natürlich auch das Werden der Zukunft, in dem die jeweilige Gegenwart nur ein Punkt ist. Wenn Gott selber in der und durch die Geschichte regiert, dann bedeutet alle künstliche, plötzliche, revolutionäre Neuerung der geschichtlich gewordenen Zustände im staatlichen und sozialen, aber auch im wirtschaftlichen Leben nichts anderes als menschliche Selbstherrlichkeit — der zweite Teil der Französischen Revolution bewies das mit seiner Maßlosigkeit damals unmittelbar anschaulich. Auf solche Art findet der konservative Gedanke dieser Gruppe und durch sie auch der folgenden Generationen in einer Zeit, die noch weithin und tiefreichend vom christlichen Bekenntnis bestimmt war, eine religiöse Sanktion von bleibender Kraft. In ihr liegt die tiefste Erklärung und Rechtfertigung

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III. Die beiden Formen des konservativen Gedankens

für das gläubige Vertrauen des konservativen Menschen zu einem rational auf keine Weise faßbaren Sinn der Entwicklung, die nicht änderungssüchtiger Fortschritt ist und vielmehr jenen stillwirkenden Kräften des Lebens folgt, die sämtlich im göttlichen Willen enden. Denn Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind unter dem unerforschlichen Willen Gottes ein Ganzes, das der Mensch weder als Willkür noch als Planung zu begreifen vermag, weil der letzte, größte, göttliche Plan weder irrationale Willkür noch rationale Planung sein kann, sondern überrational ist und als solcher einfach anerkannt und hingenommen werden muß. Die Bedeutung dieser ersten Gruppe besteht also darin, daß hier über Moser und Burke hinausdringend die enge systematische Beziehung des konservativen Gedankens zur Religion, zum christlichen Glauben entdeckt, ausgeschöpft und festgehalten wird. Die religiöse Bindung wird von diesen Denkern, deren Werk ohne großen spekulativen Rang und im Vergleich zu den gedanklichen Leistungen des philosophischen Idealismus von äußerster Schlichtheit und Unoriginalität ist, in ihrem ganzen Gewicht für Ordnung und Festigkeit der menschlichen Zustände erlebt. An der zeitüberlegenen Wahrheit solcher Erkenntnis, die sich ihrer Natur nach der Diskussion entzieht, ändert auch die Tatsache nichts, daß ihre Verkünder als Kinder jener Zeit auf dem Wege, den diese Entdeckung ihnen eröffnete, zu Folgerungen kamen, die nur damals sinnvoll waren — das konservative Denken ist ja reaktiv, es antwortet ohne feststehendes eigenes Programm auf die jeweilige Zeitlage und stellt sich als solches immer wieder neu auf neue Situationen ein. So ist die von dem gewonnenen Ort der religiösen Sanktion aus vorgenommene Verherrlichung der damaligen fürstlichen Autorität denn auch eine durchaus zeitgemäße Folgerung gewesen, an der sie unter den gegebenen Umständen ebensowenig vorbeikonnten wie an der heute im Rückblick ähnlich historisch anmutenden Verherrlichung des Adels. Das heißt: den erwähnten Inhalten ihres Denkens hat die Wirklichkeit mittlerweile längst den Boden entzogen, doch das Prinzip, das sie mit der religiösen Bindung vertraten, hat seine Gültigkeit ganz ohne Rücksicht auf die historisch gewordenen Inhalte von einst bewahrt. Hatte Moser den Hauptgegner des konservativen Denkens im bürokratischen Zentralismus der absoluten Monarchie gefunden, so ließ das ganz Europa erschütternde Geschehen in Frankreich nunmehr das naturrechtliche Denken der Volkssouveränität zum hauptsächlichen Gegner des konservativen Gedankens werden. Denn wenn schon der fürstliche Absolutismus

B. Die konservativen Romantiker

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die menschliche Triebhaftigkeit als Herrschsucht, Machtgier und Willkür entbunden hatte, so waren doch im Zeichen der Volkssouveränität unvergleichlich viel größere Regungen der Triebwelt entfesselt worden, unter denen die gesamte bisherige Lebensordnung einzustürzen drohte. Dort waren es immerhin nur wenige Menschen gewesen, von denen eine unmittelbare Drohung der Maßlosigkeit ausging. Hier aber wurden viele, vielleicht oder wahrscheinlich sogar mit der Zeit alle von ihr ergriffen — und die Ideologie, unter deren Einfluß solche Entwicklung vor sich ging, war zweifellos naturreditlicher Herkunft. Vor diesem Angriff verwandelte sich in den Augen der Zeitgenossen, die Furcht und Schauder angesichts des Ergebnisses der „Ideen von 1789" befiel, das Königtum deswegen in eine Institution, die schon um ihrer Altehrwürdigkeit willen einen der größten Dämme gegen alle gefährlich radikalen Neuerungen zu bilden geeignet schien. Und dies Königtum, dessen absolute Form bisher in offener oder geheimer Opposition zu der altständischen Ordnung gestanden hatte, wurde nun seinerseits unter dem Druck der Ereignisse in eine nahe Verbindung mit den Ständen getrieben. Königtum, Adel, Geistlichkeit und Bauerntum traten folglich' zu einem Wall gegen das revolutionäre Bürgertum zusammen, den es mit allen Kräften zu stützen und zu befestigen galt. Dabei wurde aber die Bedeutung dieses unter dem Zwang der Lage stillschweigend erfolgenden Zusammenschlusses, der in Wahrheit auch ein Bündnis mit dem bisherigen Gegenpol des konservativen Denkens in sich enthielt und hiermit die Gefahr eines Abirrens vom Wege seiner Echtheit heraufbeschwor, sehr wohl in ihrem ganzen Umfang bemerkt. Davon zeugt der alsbald einsetzende Versuch, das Königtum dadurch mit einem neuen oder vielmehr alten geschichtlich-religiösen Inhalt zu erfüllen, daß man eine enge geistig-seelische Beziehung zum christlichen Mittelalter herstellte, von dessen Reich man in schwärmerisch-romantischer Verinnerlichung träumte. Dieser Versuch zurUmschmelzung des Absolutismus in einen Legitimismus, und das heißt in eine historische Begründung der fürstlichen Autorität, der aus der Abwehr des größeren Gegners erwuchs, barg einen Frontwechsel des konservativen Gedankens von unabsehbaren Folgen in sich. Geistesgesdiichtlich gesehen, liegt denn auch hier sozusagen die erste falsche Weichenstellung in der Entwicklung des konservativen Gedankens. Dennoch kann man ihr nicht die geschichtliche Berechtigung absprechen. Denn es zwar zweifellos eine äußerlich naheliegende, ja zwingend gebotene Entwicklung auf der da-

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maligen Stufe des konservativen Denkens, daß es ganz im Banne der Schockwirkung jener großen Revolution seinen früheren Gegner, den dynastischen Rationalismus, mit H i l f e einer romantischen Historisierung und religiösen Interpretation in die eigene Front einzubeziehen versuchte, um sich mit voller K r a f t gegen seinen viel bedrohlicheren neuen Gegner, den naturrechtlichen Rationalismus, wenden zu können. U n d mahnende Worte über den sozialen Übermut, mit dem Königtum und Adel einst begonnen hätten, zeugen weiter davon, daß es ihm höchster Ernst mit diesem Versuch war und um viel mehr als bloß um feudalständische Interessenpolitik ging, die eher zur zweiten Gruppe, den konservativen Systematikern, paßte. Unverkennbar spricht aus den Schriften der konservativen Romantiker eine achtunggebietende Uberzeugung von der ihnen aus dem Schicksal ihrer Zeit zuwachsenden A u f g a b e eines moralischen K a m p f e s gegen das naturrechtliche Denken der heraufziehenden neuen Epoche. Im Schoß dieser Epoche sahen sie bereits all das als Anlage vorgezeichnet, was dann nach langer unterirdischer und immer wieder vom Glanz des zivilisatorischen Fortschritts verdeckter Vorbereitung auch tatsächlich in unserer Gegenwart mit furchtbarer Gewalt über die Menschheit hereinbrechen sollte. D a ß sich das naturrechtliche Denken selber aus dem Christentum entwickelt hatte, wußten oder ahnten auch sie. Aber eben deshalb lehnten sie als gläubige Christen, die zwischen Diesseits und Jenseits unterschieden, auch die radikalen Säkularisationstendenzen der revolutionären Ideologie, die ja in der Leugnung eines Jenseits gipfelten, ab. U n d deshalb strebten sie danach, die j a damit unvermeidlich fortschreitende Entfesselung des Menschen durch eine Wahrung religiöser Bindungen zu verhüten oder doch einzuschränken. Es ist in der Entwicklung des konservativen Gedankens vor allem das Verdienst Adam Müllers (1779—1829), den neuen und größeren Gegner deutlich erkannt und den Abwehrkampf gegen das säkularisierte naturrechtliche Denken in eine klare Form gebracht zu haben. T r o t z seiner zahlreichen Gegner war Müller in den ersten Jahrzehnten nach der Wende des J a h r hunderts als bedeutender politisch-philosophischer Schriftsteller, dessen Interessen hauptsächlich auf staatswissenschaftlichem und volkswirtschaftlichem Gebiet lagen, weithin bekannt. D i e historische Richtung der N a t i o nalökonomie vor allem widmete seinen Gedanken später besondere A u f merksamkeit — w a r er doch einer der heftigsten Gegner von A d a m Smith, gegen den er in seinen Schriften eine schon recht modern anmutende Kritik der kapitalistischen Wirtschaftsauffassung entwickelte.

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Erst nach dem Sieg des Liberalismus geriet Adam Müller, nachdem seine Lehren nachhaltig gewirkt hatten, in Vergessenheit. Der Kapitalismus und das ideologische Denken eroberten immer mehr die Praxis des Lebens und drängten den konservativen Gedanken entweder in den Hintergrund oder verwandelten ihn in seine unechte Form. Sie konnten dies um so mehr, als seine damals wichtigsten Anliegen, Königtum und Adel, schon bei Müller in einer extrem romantisch erscheinenden Zurückführung auf das Mittelalter nur noch zeitbedingt waren. Der methodische Ertrag von Müllers Besinnung auf Staat, Gesellschaft und Wirtschaft war für sich allein nicht eindrucksvoll genug, um sich1 auf die Dauer sichtbar und wirksam zu erhalten. Stahl, der in der nächsten Generation den Beschluß jener zweiten Gruppe macht und der politisch bekannteste Theoretiker des Konservatismus im 19. Jahrhundert wurde, verkennt denn auch Müllers Leistung in ihrem eigentlichen Kern ebenso wie das Wesen des konservativen Gedankens überhaupt, wenn er von ihm eine idealtypische Anweisung erwartet, wie ein Staat einzurichten und zu regieren sei. Die romantische Staatslehre war, als unmittelbarer Vorschlag für die Praxis der Epoche aufgefaßt, zum guten Teil bloß zeitbedingter und daher vergänglicher Inhalt des konservativen Denkens. Müllers erfolgreiche Leistung bestand dagegen gar nicht in der Apologie des Mittelalters mit seinem Lehnswesen, sondern darin, daß er an Hand seiner polemischen Auseinandersetzung mit dem säkularisierten Naturrecht die Prinzipien des konservativen Gedankens aus der frühen Form, die sie bei Moser gefunden hatten, zur Reife der vollen Bewußtheit brachte. Sein Werk wächst nämlich, wenn das auch von jenen zeitbedingten Inhalten seiner Staatslehre vielfach verdeckt und überspielt wird, in der ganzen Denkhaltung unverkennbar aus der altständischen Gedankenwelt Mosers hervor. Aber es formt sie entsprechend der veränderten geistigen Situation, die eben infolge der oben geschilderten Umstände romantisch geworden war, noch bewußter als eine prinzipielle Erlebnis- und Denkweise aus. Daß er hierbei Moser keinmal, Burke aber oft erwähnt und sogar mit bestimmten Ideen übernimmt, hängt einfach mit der zeitlichen Nähe des letzteren zusammen. Es handelt sich bei der geistigen Verwandtschaft Müllers mit Moser, die um vieles größer und enger war als etwa die rein systematisch gegebene mit Stahl, über den Zeitraum einer Generation hinweg um die Ähnlichkeit einer zu Mosers Lebzeiten alltäglichen, selbstverständlichen, überall vorhandenen und dann zu Müllers Lebzeiten immer noch weitver-

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III. Die beiden Formen des konservativen Gedankens

breiteten, in Sitten und Bräuchen noch vielfältig lebendigen, von der Religion noch breit fundierten Art menschlichen Erlebens, Fühlens wie Denkens. Diese Erlebnisart wird erst im neuen Jahrhundert entmachtet und bald in die Anonymität gedrängt. Und zwar geschieht dies in einer doppelten "Weise: einmal durch den Liberalismus und zum andern durch jene unechte Form des politischen Konservatismus, der durch die Hereinnahme fremder Denkelemente entstand. Müllers Stellung innerhalb der Entwicklungsgeschichte des konservativen Gedankens ist also gegenüber Moser durch das weitere Vordringen des naturrechtlichen Denkens bestimmt, das zu ideologischer Ausbildung neigt. Die Reflektion, zu der der Rationalismus allenthalben den Traditionalismus zwingt, wird dadurch auf ihre Höhe gebracht, daß das soziale Leben nicht nur durch den bürokratischen Zentralismus der absoluten Monarchie von oben her bedrängt, sondern unter dem Einfluß des neuen Geistes durch eine tatsächliche Wandlung seiner Formen gleichsam von innen heraus und von unten her, nämlich durch seine einzelnen Glieder und Bestandteile selber, merklich verändert wird. Der Absolutismus sieht sich' auch im legitimistischen Gewände genötigt, der Volkssouveränität Zugeständnisse zu machen: das Bürgertum tritt in genannten und ungenannten Reformen der Gesellschaft als unmittelbarer Mitspieler auf, freiheitliche Regungen werden überall wach, die Wirtschaft zeigt ihre ersten Anläufe zum modernen Kapitalismus. Und beide Mächte, der eine wie die andere als Träger des rationalen Denkens, entziehen der immer noch bestehenden ständischen Lebensordnung, die schon durch den Absolutismus des vorigen Jahrhunderts ihres Sinns für das soziale Ganze entleert worden war, vollends Saft und Kraft. Was übrigbleibt an gesellschaftlicher Gliederung, hat zwar immer noch vieles vom alten Aussehen. Aber im Verborgenen klaffen Risse über Risse in dem gewohnten Gebäude und deuten darauf hin, daß vor allem dort, wo die politischen Entscheidungen getroffen werden und fallen, dereinst nur noch eine Ruine stehen wird. Denn der neue Geist, der rücksichtslos und triebhaft in einem unentwirrbaren Gemisch von Idealismus und Egoismus den Vorteil des freien Individuums und seiner kollektiven Gruppen will, ergreift jede Bevölkerungsschicht — die großen und kleinen Fürsten, den hohen und niederen Adel, das Groß- und Kleinbürgertum — mit der unwiderstehlichen Gewalt einer schicksalhaft bedingten Entwicklung, die niemand aufzuhalten vermag. Schon ist abzusehen, daß er alle verschlingen wird: entweder offen und dann mit dem begeisternden Geschenk völliger

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Freiheit und Gleichheit die Menschen betörend, oder heimlich und dann noch bei seiner Abwehr gewissermaßen hinterrücks das vermeintliche Geschäft des "Widerstands mit eben derselben Triebentbindung verknüpfend wie dort. Für-all dies gibt das frühe und zumal das späte Werk Adam Müllers eine überaus eindringliche Vorstellung. Sie kann auch dadurch nicht getrübt werden, daß sein Schöpfer im politischen Tageskampf der Zeit trotz Kenntnis der dynastischen und feudalen Mitschuld am ganzen Geschehen immer mehr zu jenen Mächten überging, denen die liberale Geschichtslegende so erfolgreich den Stempel der „finsteren Reaktion" aufgedrückt hat, obwohl doch hinter ihren politischen Anschauungen damals praktisch der Großteil der deutschen Bevölkerung stand, vor allem die ländlichen Schichten und das Beamtentum. Auch die späteren Schriften, die Müller im Dienste Österreichs und der sogenannten Restauration schrieb, zeigen — wenn man gleichsam eine legitimistische Schicht mit ihrer romantischen Zielsetzung jener Umschmelzung des absoluten Fürsten in einen Herrscher vermeintlich mittelalterlichen Gepräges abhebt — deutlich den konservativen Grundcharakter seines gesamten Denkens. "Wo jedoch früher Romantik vorherrschte, steht später vorwiegend Religion, und die zeitbedingte Verherrlichung des legitimen Herrschers wird von der soziologisch-politischen Verteidigung der altständischen Lebensform sowie von der hellsichtigen Kritik am Kommenden, zumal in wirtschaftlicher Hinsicht, durchaus übertönt. Betrachtet man Müller, nachdem man sich von der affektiven Voreingenommenheit und der daraus folgenden ungerechten Vernachlässigung historischer Bedingungen durch die liberale Geschichtslegende freigemacht hat, unterhalb jener legitimistischen Tagesschicht in seinem eigentlichen Anliegen, so sind seine entscheidenden Gedanken also weder altmodisch noch reaktionär im üblichen Sinne der Rückständigkeit. Vielmehr stellen sie angesichts des hundert Jahre später beginnenden Bankrotts der modernen Ideologien das erstaunliche Zeugnis der Einsicht und Weitsicht eines konservativen Denkers von unbestreitbarem Rang dar, der seine Zeit und die Zukunft aufs tiefste gefährdet sah und mit einem hohen, nicht allein religiös, sondern auch menschlich begründeten Ethos vor den Ubergriffen des rationalen Fortschritts zu bewahren versuchte. Gerade die Spätschriften Müllers beweisen jedenfalls demjenigen, der sie unbefangen zu würdigen versteht, daß man die Restauration nicht einfach als Ganzes in Bausch und Bogen verdammen kann, ohne sich gleichzeitig auch den Zugang zu den eigentlichen

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Grundlagen der Problematik unserer Gegenwart zu verbauen. Denn diese Problematik führt uns durch sich selbst wieder zum Erlebnis der unvergänglichen Bedeutung jener Aufbauprinzipien der menschlichen Daseinsordnung, die schon Moser gefunden und dann Müller bewußt als solche ausgebildet hat — sind wir doch durch die Gesetze des Lebens viel stärker mit der Vergangenheit als Wurzelgrund der Zukunft verbunden, als es ideologisches Denken zugestehen will und kann. Die unsystematische Form, die Müller seiner auch Wirtschaft und Wissenschaft, Kunst und Moral umfassenden Anschauung des politischen Lebens gegeben hat, erschwert ihre Darstellung. Der konservative Gedanke ist, wie auch sein Werk lehrt, in der T a t eine Idee, die jeder strengen Systematik von sich aus abhold bleibt. Mit wenigen lebendigen Prinzipien meldet er sich in beinahe eintöniger Wiederholung wie eine immer gleiche Grundmelodie der Entwicklung des Lebens selber zu Worte, so umfangreich der jeweils behandelte Problemkreis sein mag. Hierin liegt denn auch der Ansatz für Adam Müllers Wirken. Bestand der bürokratische Rationalismus der absoluten Monarchie wesentlich in der nicht über einen relativ engen Bereich hinausgehenden Aufhebung der ständischen und territorialen Unterschiede und Eigentümlichkeiten, und das heißt sozusagen in einer partiellen Gleichmacherei, so beansprucht der naturrechtliche Rationalismus des Bürgertums nunmehr gewissermaßen die gesamte gesellschaftliche Welt mit ihren verschiedenen Gebieten in einem geheimen Streben, ja Zwang zur Totalität. Sie soll von einem neuen systematischen Anfang her durchdrungen und rationalisiert werden. Der in lebendiger Entwicklung gewordenen und gewachsenen Welt wird von diesem Denken aus, das alles um einer geschichtlich leeren Individualität und einer abstrakten Freiheit willen generalisiert und damit normiert, ein schematisches. System der Staats-, Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung gegenüberstellt, das die Gestalt von allgemeingültigen Verfassungen, formalen Grundrechten und freien Konkurrenzen hat. So kommt es zu dem Paradox, daß der revolutionäre Fortschritt aus seiner Gesetzlichkeit heraus die starre Systematik gegen die natürliche Bewegung, die abstrakte Programmatik gegen die lebendige Entwicklung vertritt. Dem konservativen Weltverständnis fällt daher mit dem Festhalten an Bewegung und Entwicklung in Wahrheit gerade diejenige Aufgabe zu, die ihm seine Widersacher abstreiten. Denn das revolutionäre Denken bezieht seine umwälzende K r a f t aus dem unbedingten Streben nach Durchsetzung eines

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rationalen Gegenbildes zum bestehenden Zustand der Dinge und muß folglich bei Gefahr der Preisgabe seiner Forderungen das langsame Werden mit seinen natürlichen Bedingungen übersehen oder doch geringschätzen. Damit wird aber das Hauptziel des konservativen Gedankens auf dieser Stufe seiner Geschichte nunmehr der Widerstand gegen das rationale Denken in seiner Eigenschaft als statisches System. Und aus diesem Hauptziel erwächst dann in selbstverständlicher Folgerichtigkeit die Bemühung um ein entgegengesetztes Denken, das der lebendigen Bewegung und organischen Entwicklung Ausdruck zu geben und gerecht zu werden vermag. Es erscheint denn auch bei Müller als ein dynamisches Denken, das vornehmlich seinen späteren Schriften bei aller Zeitgebundenheit und jenseits dogmatischer Überspitzungen, die schließlich sogar in der losen Form einer theologischen Staatslehre auftraten, den Charakter echter Lebensnähe verleiht. Mit Hilfe dieses dynamischen Denkens betrachtet Müller vor allen Dingen Staat und Wirtschaft. Fassen wir kurz das Wesentliche seiner Erfahrungen und Überlegungen zusammen, so erkennt er folgendes: Der Mensch ist in seiner jeweiligen Lage, seinem besonderen Zustand oder Stand nichts anderes als Staat im Staate — indem er als Fürst, Gutsherr, Hausvater, Eigentümer oder „Disponent" eines auch noch so kleinen Wirkungskreises Stand ist und Stand hat, ist er auch ein Staat im Staate. Im Gegensatz zu der „Schimäre" des absoluten Staates, des absoluten Gesetzes, der absoluten Vernunft, die die Wirklichkeit ihrer wesentlichen Eigenschaften entkleiden, ergibt nämlich nur die Würdigung des Konkreten echte und gültige Erkenntnis. Konkret genommen, ist jeder Mensch zugleich Haupt und Glied eines Staates, eines Standes: als ersterer ist er frei, als letzterer abhängig. Zerstört man das aus diesen Häuptern und Gliedern, diesen Ständen und Staaten in bunter Vielfalt von Körperschaften, Innungen, Zünften, Provinzia'l- und Städteverfassungen, Gerechtsamen usw. gebildete komplizierte Ganze, das den großen Staat bildet, um einen egalitären und nivellierenden, bürokratischen und zentralistischen Einheitsstaat zu errichten, so nimmt man dem Menschen seine eigentliche Natur, Staat im Staate zu sein, und gibt ihm zur Entschädigung all dieser positiven Güter bloß den Trost einer abstrakten Mitgliedschaft am Gesamtstaat. Die Fürsten haben diesen Prozeß einer Entgliederung der altständischen Ordnung — Müller spricht hier schon in durchaus moderner Auffassung von einem „Dismembrieren" — begonnen. Und die Völker vollenden ihn im Zeichen einer Freiheit, die ganz unanschaulich und unwirklich ist, weil

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wahre Freiheit eben durch die Möglichkeit besteht, in der konkreten Eigentümlichkeit des jeweiligen Standes und Staates sein besonderes Dasein als selbständige Individualität zu leben. Denn das menschliche Dasein ist lebendige Bewegung, Besonderheit, Formenreichtum, Vielfalt, Verschiedenartigkeit und nicht starres Schema, System, Gleichförmigkeit, Einerleiheit. Darum stellt diese lebendige Verschiedenheit, in deren Erhaltung die wahre Freiheit des Menschen von Natur aus beschlossen liegt, das Urfaktum aller Politik dar, von dem aus deshalb auch der wahre Begriff des Staates gewonnen werden muß, der sich keiner starren Systematik fügt. Der Staat ist also keine mechanische Apparatur aus gleichen Teilen, kein „Allerwelts- und metaphysischer Staat", keine „eingebildete Totalität", die auf dem unbedingten Egoismus der Einzelnen und dem ebenso unbedingten Despotismus des Ganzen beruht. Sondern er ist ein höchst lebendiger, geistig-seelischer Verband voll Verschiedenheiten und auf einem bestimmten Grund und Boden, in dem die Menschen als Generationen wurzeln. Als solcher umfaßt er nicht nur die jetzt lebenden Zeitgenossen, sondern als „Raumgenossen" auch die dahingeschiedenen Geschlechter, die in Einrichtungen und Rechten gleichsam fortleben und das jetzige Leben dadurch noch mitbestimmen und lenken. „Der Staat ist eine Allianz der vorangegangenen Generationen mit den nachfolgenden und umgekehrt." Damit ganz in Einklang bedeutet nach Müllers Auffassung das Volk „die erhabene Gemeinschaft einer langen Reihe von vergangenen, jetzt lebenden und noch kommenden Geschlechtern, die alle in einem großen innigen Verbände zu Leben und T o d zusammenhängen". Und die Grundlage von Staat und Volk, der Mensch, ist ihm das „nach allen Seiten in die Natur eingesponnene, an tausend physischen und moralischen Fäden mit Vorzeit und Nachzeit zusammenhängende Wesen". Gelangt Müller auf solche Weise mit Hilfe eines dynamischen Denkens, das in konkreter Betrachtung der Wirklichkeit die zwischenmenschlichen Beziehungen als allzeit lebendige Bewegung erfaßt, zu der Tatsache des föderalen Aufbaus als Prinzip des staatlich-sozialen Lebens, so bestätigt ihm das Bild des wirtschaftlichen Lebens den Wahrheitsgehalt seiner Erkenntnis ebenso unbezweifelbar. Hier nimmt er in großartiger Fernsicht die ganze spätere Kritik am Kapitalismus vorweg — so geht z. B. die Kritik des abstrakten Charakters der zwischenmenschlichen Beziehungen in der kapitalistischen Wirtschaftswelt, wie sie sich bei Marx findet, auf diesen Ertrag des altständischen Denkens zurück.

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V o m Beispiel eines landwirtschaftlichen Haushalts aus, in dem sich als Grundlage echten staatlichen Lebens Personen und Sachen zu einem lebendig mit- und ineinander wirkenden seelischen, sozialen und wirtschaftlichen Ganzen verbinden, entwickelt Müller seine Kritik am „Staat des Adam Smith und der heutigen Theorien". Dieser Staat besteht als „die eine, große, einförmige Schimäre des Nationalstaates" nur aus Sachen. Er läßt nämlich Personen lediglich1 um der Arbeit und das heißt wegen der Produktion von immer mehr Sachen vorhanden sein, womit sie zu bloßen Kräften, Ziffern oder Dingen werden. Und daher hält er den sachlichen Reichtum für seinen wesentlichen Zweck überhaupt. Die Arbeitskraft des Menschen und die Erzeugungskraft des Bodens bilden hier als vom eigentlichen Leben abstrahierende Kräfte und Zahlen folglich ein mechanisches Problem, das wie ein Rechenexempef gelöst wird — jenes bisherige Ganze, in dem Gesetze, Einrichtungen und Sachen lebendig sind, wird zu einer rationalen Maschine, die einzig dem vernünftigen Kalkül untersteht. Wenn der Zweck der Wirtschaft in all ihren Zweigen solcherart der reine Ertrag ist, so entsteht gegenüber dem freien und persönlich-sachlichen Betrieb wirtschaftlichen Tuns eine rein sächliche Tätigkeit des wirtschaftenden Geschäfts. Durch die fabrikmäßige Teilung der Arbeit lösen sich außerdem die seelischen Bande der beteiligten Menschen. Und auch die alte Eigentumsvorstellung einer engen inneren Beziehung des Besitzers zum Besitz wird zunehmend vernichtet. W o das ganze öffentliche Verhältnis der Menschen zueinander bloß auf Sachen, Ertrag und Geld gerichtet ist, da erhebt sich infolgedessen überall Sklaverei, ja Wechselsklaverei als ein Zustand gemeinsamen Elends, wie das Verhältnis des europäischen Manufakturherrn zu seinen Tagelöhnern oder des souveränen Fürsten zu seinen Untertanen zeigt. Dadurch, daß bei allem — Staats-, Lehr- und Kriegsdienst, Landwirtschaft, Handel und Kunst — auf den bloßen Ertrag, Lohn, Pension, Einkommen und Geld abgesehen wird, ist aber auch die wahre Freiheit und alle Würde des Menschen durch Egoismus aus der Welt vertrieben. „Es ist ein unnatürlicher Zustand, und das europäische Geldwesen in der absoluten Gestalt, wie es dermalen schon besteht, hat die ganze Natur der Dinge und die gesamten Ordnungen Gottes gegen sich. Welcher Fürst, Gutsherr, Industrie- und Handelsmann oder Hausvater bloß auf einen Ertrag von Besitz, Glück, Genuß, Reichtum, verkäufliches Produkt, kurz Geld ausschließlich hinarbeitet, der organisiert an seinem kleinen oder größeren Orte nichts anderes als doppelte und gegenseitige Sklaverei, um so verderblicher

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als dann unbedingtes Gewährenlassen gerade von diesem verblendeten Geschlechte für die höchste Stufe der Freiheit geachtet wird. Durch eine solche Veranstaltung wird der Status des einzelnen Menschen, sein edelstes Eigentum, seine Persönlichkeit ein unnützes Beiwesen, welches für die unermeßliche Geldkompanie, die nunmehr Staat genannt wird, keinen Wert hat. Nur Teile des Menschen, nur einzelne Kräfte sind in der großen Fabrik zu gebrauchen, nicht der ganze Mensch, der zugrunde gehen möge, wenn das Sachliche an ihm, das Geldes- und Tagelohn Werte an ihm durch Alter, Krankheit oder irgendeine der unzähligen Wendungen der europäischen Bedürfnisse und Moden in der großen Geldmaschine unbrauchbar würde." Auf diese Weise entsteht die unsoziale Geldsklaverei als die schlimmste Art der Sklaverei, weil sie mit der Lüge vermeintlicher Freiheit verknüpft ist, ohne für den Versklavten auch tatsächlich in vollem Umfang zu sorgen, wie das bei den anderen Formen der Sklaverei der Fall ist. Jetzt nimmt man nur die reine Arbeitskraft des Leibes „und überläßt mir den Rest des unnützen Gerippes hohnlachend zur freien Disposition". Dadurch wird aus der Abhängigkeit von Personen „die schlimmere Sklaverei gegen Sachen, Bedürfnisse und Geld". Solche vermeintliche Emanzipation muß denn auch unvermeidlich zu einer Zwingherrschaft führen, die den Menschen in eine tiefere Knechtschaft versinken läßt als je vorher. Die liberalen Ideen bringen deshalb nur neue und härtere Ketten hervor, von denen auch kein noch so großer Drang zu beständiger Veränderung der Zustände befreit. Demgegenüber stellt nun Müller jenen Zustand des wirtschaftlichen Lebens, aus dem Produktivität und Reichtum früherer Jahrhunderte stammen. Sein eigentliches Wesen bildet, ganz im Gegensatz zum rationalen Denken in Sachen, Ertrag und Geldgewinn, die Liebe zum Werk, der liebevolle Dienst an der jeweiligen Aufgabe. „Je mehr das Werk selbst der Zweck des Menschen ist, je mehr er die Kunst um ihrer selbst willen betreibt, je mehr die Liebe zur Sache den Menschen zum Arbeiten und Dienen bestimmt, um so freier und edler nennen wir ihn, ganz abgesehen von der Größe oder der Geringfügigkeit seines Geschäfts." Nicht der rationale Zweck und das triebhafte Gewinnstreben, sondern das Gefühl für das Werk und die Aufgabe — hier unter der Formel „Liebe" begriffen — bewirkt die Freiheit des Menschen in seiner Arbeit. „Jedes große und kleine, leichte und schwere Werk mit Liebe zu tun, ist aber nur möglich, insofern alle besondere Liebe zur Sache aus einer allgemeinen Liebe zur Hauptsache hervorgeht und alle besonderen Werke zu einem Hauptwerke zusammenwirken." Das heißt, die

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Religion als der höchste Ausdruck gesunden Gefühls gibt auch dem wirtschaftlichen Tun, der sachlichen Arbeit des Menschen die beste Grundlage, ohne die sie bald zur Last, zur Sklaverei, zum Fluch werden. Es ist infolgedessen das Übel in der nächsten N ä h e und letztlich in der eigenen Brust, das auch die Übelstände in der größeren, allgemeinen Verfassung der Dinge unserer Welt hervorruft. Nicht die Sachen sind schuld an der Verwirrung, sondern der Mensch, der sich unter dem Einfluß der neuen Theorien falsch zu ihnen verhält. Daher muß es das Ziel der natürlichen Entwicklung sein, den alten Zustand mit dem neuen zu versöhnen und ein lebendiges Gleichgewicht zwischen beiden herzustellen, statt das Alte um des Neuen willen zu vernichten. U n d in diesem Sinne schließt Müller seine Kritik am heraufkommenden Kapitalismus mit folgenden mahnenden "Worten, die in all ihrer zeitgebundeen Formulierung doch den Geist des konservativen Denkens in seiner stillen Natürlichkeit und einfachen Gläubigkeit ganz unideologisch widerspiegeln: „Warum aber besteht nichtsdestoweniger eine gewisse Ordnung der Dinge? Weil der Knochenbau des alten Europa, der sie trägt, noch nicht in Staub zerfallen, weil dreißig Jahre der Zügellosigkeit das alte Kapital dieses Weltteils nicht zu verschwenden vermocht haben und weil die Macht der Gewohnheit, der Liebe, der Anhänglichkeit an Stand und Staat ewig mächtiger ist als alle Liberalität der Theorien. Sie überwindet schweigend das Konstitutions- und Gleichheitsgeschrei des Jahrhunderts. Der einfache Landmann unter dem täglichen Einfluß der Jahreszeiten und des Segens Gottes, der stille Handwerker, die unscheinbaren Teilnehmer des gemeinen Wesens sind der Erhalter unserer Stände und Freiheiten, retten die Gesinnung, welche Europa großgemacht. Die Weisen im Lande aber und ihre Wissenschaften und die Mächtigen, Gebildeten und Großen sind es, welche gegen jene wahren Freiheiten mit ihrer Liberalitätsgleisnerei, ihrem reinen Ertrage, ihrer Geldphilosophie und allen Trugbildern der Begierde ankämpfen." Aus solcher Einstellung zu Staat und Wirtschaft, Eigentum und Arbeit folgt mit Selbstverständlichkeit dann eine dazugehörige Vorstellung von dem, was Freiheit f ü r den Menschen bedeutet. Man hat deshalb auch mit Recht von einem konservativen Freiheitsbegriff gesprochen, der zuerst aus dem Erlebnis der altständischen Lebensordnung hervorgewachsen ist. D a r über hinaus aber gründet er wohl mit seinen letzten Wurzeln in der lebendigen seelischen Wechselbeziehung zwischen dem Menschen und seinem angestammten Grund und Boden als Besitz und Heimat. Dieser konser15

Mülüenfeld, Politik

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vative Freiheitsbegriff umschließt in vollstem Gegensatz zu dem ideologischen Freiheitsbegriff so gut wie alle Strukturprinzipien des konservativen Denkens: er ist nicht abstrakt, sondern konkret, existiert nicht im allgemeinen Gesetz, sondern in der Besonderheit von Sitte und Brauch, beruht auf historisch-praktischer Individualität statt auf zeitlos-theoretischer, wurzelt in Heimat und eigenem Recht statt in der leeren Mitgliedschaft einer gedachten Totalität und kommt nicht in der unbedingten Unabhängigkeit eines für sich bleibenden Einzelnen zur Geltung, sondern in der Bindung und wechselseitigen Abhängigkeit innerhalb einer festgefügten, gegliederten Gruppe, die den Menschen trägt und hält. Der ideologische Freiheitsbegriff ist also überall und immer gleich, der konservative aber überall und immer verschieden — jener ist, wie man gesagt hat, quantitativ und dieser qualitativ. Denn dort ist innerhalb der gleichen Möglichkeiten des Lebens für alle die eigene Freiheit bloß durch diejenige der Mitbürger beschränkt, hier aber liegt die persönliche Freiheit schon in der jeweiligen Individualität beschlossen, deren höchst besonderes Wachstum die Möglichkeiten und Grenzen des Einzelnen jedesmal wieder anders festsetzt. Von diesem qualitativen Freiheitsbegriff aus wird der quantitative Freiheitsbegriff der Ideologien daher zu einem abstrakten Schemen. Trotz aller dogmatischen und doktrinären Setzung kann er in Wahrheit seinen Irrealitätscharakter niemals abstreifen, weil ihm die Wirklichkeit stets von neuem widerspricht, die niemals für alle und jeden gleiche Verhältnisse schafft. Die revolutionär-egalitäre Vorstellung der Freiheit wird denn auch für das konservative Denken vor allem deswegen unannehmbar, weil ihre Voraussetzung nicht die Natur mit ihrer Verschiedenheit darstellt, sondern eine künstliche Welt der Gleichheit, die bloß rationale Abstraktion von der Wirklichkeit ist. Dieser Einsicht gibt Adam Müller einen unzweideutigen Ausdruck, wenn er sagt: „Nichts kann der Freiheit mehr widersprechen als der Begriff einer äußeren Gleichheit. Wenn die Freiheit nichts anderes als das allgemeine Streben der verschiedenartigsten Naturen nach Wachstum und Leben ist, so kann man keinen größeren Widerspruch ausdenken, als indem man mit Einführung der Freiheit zugleich die ganze Eigentümlichkeit, das heißt Verschiedenartigkeit dieser Naturen aufhebt." Wie nach dem Vorstehenden verständlich wird, verhilft das dynamische Denken Müller zu einem natürlichen Wissen vom Leben jenseits aller ideologischen Vereinfachung. Und mit Hilfe solchen Wissens wieder wird eine

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brauchbare Lösung der Daseinsprobleme jenseits aller naturrechtlichen Programniatik möglich, die mit einer weiteren Vertiefung und Festigung der altständischen Denkweise in der Nachfolge Mosers steht. Im Mittelpunkt dieser erfolgreichen Klärung des konservativen Denkens steht denn auch bei Müller, jetzt aber schon klar erkannt und bezeichnet, die Kategorie des Ausgleichs, der Vermittlung, des Gleichgewichts, des Gegengewichts. Sie deutet letzten Endes wie schon vorher bei Moser, aber ebenso unbenannt auf den Begriff der Dezentralisation im organischen Sinne hin. Hierdurch wird die oben bereits in anderem Zusammenhang festgestellte Bedingtheit der Romantik, die ja das Denken in Polaritäten und Antithesen bevorzugt, in ihrem geschichtlich-seelischen Grund noch deutlicher sichtbar. Die alte Lebensordnung mit ihrer natürlichen Entwicklung des fließenden Seins sieht sich zugunsten einer neuen Lebensordnung mit ihren künstlich-plötzlichen Fortschritten, die in unaufhörlicher Veränderung dem ideologischen Denken strenger Systematik entspringen, verdrängt und verdeckt. Und vor solchem fremden Druck gewinnt das konservative Denken an dieser Stelle seiner Entfaltung ein waches Bewußtsein der eigenen methodischen Mittel. Das geschieht bei Müller noch durchaus lebensnah und endet nicht, wie bei der Historischen Schule, in direkter Vernunftfeindschaft. Wie in der gefährdeten Lebensordnung selber ein ständiger Ausgleich zwischen den als geschichtliche Individualität gewachsenen Gruppen und Einzelnen stattfindet, so gelangt auch das konservative Denken durch vermittelnden Ausgleich des Gegeneinandergespanntseins seiner Gegenstände dazu, die lebendige Bewegung in der Wirklichkeit zu erfassen. Es wird eben dadurch, verglichen mit dem abstrakt generalisierenden und starr systematischen Denken der aggressiv heraufdrängenden neuen Lebensform, dynamisch. Und diesem dynamischen Denken erscheint jede konkret gegebene Situation deshalb nicht als Spezialfall allgemeiner Begriffe oder Regeln, sondern als Ausgleich lebendig bewegter Momente und als Vermittlung zwischen geschichtlichen Entwicklungsfaktoren, die weder als Summe noch durch Subsumption angemessen begriffen werden können. Dies meint Müller, wenn er als Ausgangsbasis seines Denkens „das Neben- und Ineinanderbestehen und -wachsen aller Kräfte" bezeichnet, wenn er als Ziel seines Denkens „das unendliche Ausgleichen des Ungleichen" erkennt, und wenn er als Voraussetzung seines Denkens „weder die Ungleichheit noch den Zwiespalt entbehren kann", weil erst all dieses die echte Wirklichkeit ausmacht. Ohne Zweifel ist es der Zwangslage zwischen dem Rationalismus „von 15*

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oben", wie ihn die absolute Monarchie, und dem Rationalismus „von unten", wie ihn das bürgerliche Naturrecht verkörperte, zuzuschreiben, wenn die sogenannte Historische Schule der romantischen Geisteswissenschaft in ihrem Bemühen um das Individualitätsprinzip den Anschluß an die konkrete Wirklichkeit allzusehr verlor. Müller hatte ihn noch besessen, denn er kannte trotz seines Kampfes gegen die Übergriffe des rationalen Denkens im säkularisierten Naturrecht noch keine Vernunftfeindschaft als solche. U n d er besaß über alle Romantik seiner Anfänge hinweg noch ein gut Teil der praktischen Nüchternheit Mosers. Dies zeigt etwa seine ganze Vorwegnahme der späteren Kritik am Kapitalismus überhaupt oder insbesondere seine Einschätzung des modernen Fabriksystems, dem er durchaus sein Recht zugestand. Je mehr sich1 aber die Risse im Gebäude der alten Lebensordung vertieften, je mehr alle Schichten der Bevölkerung in der einen oder anderen Weise von dem neuen Geist der Zeit berührt oder ergriffen wurden, je mehr sich das rational-zweckhafte Denken, zumal im Bereich der materiellen Lebensfragen, unaufhaltsam ausbreitete, desto einseitiger reagierte auf dieses Geschehen die erste Gruppe derjenigen Denker, die sich aus der Einsicht in die Gefahr des neuen Weges eine möglichst weitgehende Bewahrung und Erhaltung der alten Lebensfundamente zur Aufgabe gemacht hatten. Im Zuge dieser Entwicklung, die nur als eine Antwort auf den Fortschritt der Gegenseite sowohl innerhalb Deutschlands als auch vor allem im gesamten Westen Europas verständlich wird, kam es alsbald in eigentümlicher Verinnerlichung, ja beinahe Verkrampfung zu einer romantischen Flucht vor der Wirklichkeit des Tages. Das Bestreben nach natürlicher Entwicklung war hier bald nicht mehr Verteidigung des Bestehenden in seiner Funktion als Grundlage der Zukunft, sondern wurde zur kaum verhüllten Predigt eines Stillstands der Dinge, die in ihrer gegenwärtigen Form immer noch besser zu sein schienen als jedes Neue überhaupt. U n d die ganz andere geistige H e r k u n f t der Historischen Schule aus der Kritik am Rationalismus vermochte nichts daran zu ändern, daß ihr Werk und ihre Argumente dann vom offiziellen Legitimismus derZeit als willkommene Waffe verwendet und damit in den Dienst von Tendenzen gestellt wurden, die dem eigentlichen Anliegen des konservativen Gedankens fremd sein und bleiben mußten. Denn der Legitimismus ließ sich zwar jenen obenerwähnten Umschmelzungsprozeß gefallen, blieb aber trotz der Annahme romantisch-christlicher Elemente doch als Herrschaftssystem nach wie vor wesentlich absolutistisch. „Sinn und Gefühl f ü r die Größe und Eigentümlichkeit anderer Zeiten

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sowie für die naturgemäße Entwicklung der Völker und Verfassungen, also alles, was die Geschichte heilsam und fruchtbar machen muß, war verloren: an die Stelle getreten war eine grenzenlose Erwartung von der gegenwärtigen Zeit, die man keineswegs zu etwas geringerem berufen glaubte als zur wirklichen Darstellung einer absoluten Vollkommenheit." Mit solchen Worten wandte sich Friedrich Carl von 'Savigny (1779—1861), der Begründer der Schule, gegen die ebenso hochmütigen wie übertriebenen und daher falschen Ideale der aufgeklärten Despoten und klugen Gesetzgeber, um die Illusion abstrakter Gesetze zu zerstören, die entweder als ganz willkürliche Vorschriften der Staatsräson auftraten oder als ewige Vernunftrechte und allgemeine Wahrheiten, die angeblich für alle Zeiten, Völker und Zustände galten. Beides, der despotische wie der naturrechtliche Eingriff, war dem Organismus einer lebendigen Ordnung gleichermaßen schädlich — und aus dieser Wendung gegen den Rationalismus „von oben" wie „von unten" entwickelte die Historische Schule, ohne daß man ihre Uberzeugungen in ein regelrechtes System bringen könnte, eine ganze Weltanschauung, die im negativen Erleben des Zeitgeistes ihre Grundlagen gewann und doch weit über ihn hinauswies. Aber die außerordentliche Fruchtbarkeit, die im Verfolg dieser Wendung die Historische Schule mit der Vertiefung und Verfeinerung des geschichtlichen Bewußtseins zumal innerhalb der Geisteswissenschaften des 19. Jahrhunderts entfaltet hat, kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß mit ihr und durch sie der konservative Gedanke in eine Sackgasse geriet. Auch über der tiefen, sozusagen gemüthaften Schönheit, die die aus ihrem Kreise stammenden Werke besitzen, läßt sich nicht übersehen, daß hier aus der Absicht, den Menschen vor den Übergriffen der Ratio zu retten, in einseitiger Weise nunmehr das Gefühl auf einen imaginären Thron gesetzt wird. Das heißt, das eine Extrem wurde durch ein anderes beantwortet. Damit war das konservative Denken, das ja gerade im konkreten Erfahren des menschlichen Daseins seinen echten Sinn empfängt, gleichsam von der Wirklichkeit abgehoben. Und damit wurde ferner das Prinzip des Ausgleichs, das ja auch die Entwicklung zur Zukunft in sich einschloß, in seinem Kern aufgegeben und die dynamische Erfassung des Lebens aus der Bewegung der Zeit herausgelöst. Schon bei Müller hatte sich hier und da eine Neigung geregt, den Menschen allzusehr zugunsten Gottes gewissermaßen zu verabschieden. Aber erst Savigny und die Historische Schule taten dies in vollem Umfang, indem sie

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den Sinn für Tradition und Konvention in einer extrem romantisch wirkenden Vorstellung vom allein herrschenden Volksgeist aufgehen ließen, aus dem allein göttliches Wirken sprach. Sie erweiterten die historische Kontinuität zu einer Vorstellung von der Geschichte, in der alles Gewordene einen unvertauschbaren und unveränderlichen Stellenwert hat. Sie verliehen dem romantischen Organismusgedanken eine umfassende Geltung und führten alles Werden in Geschichte, Sozialordnung und Kultur auf die geheimnisvolle Entfaltung stillwirkender, das heißt unbewußt schaffender innerer Kräfte zurück. So schalteten sie den Willen und den Verstand des Menschen gleichsam vom Recht der Mitbestimmung an seinem Schicksal über Gebühr aus, um lediglich auf die Vergangenheit zu schauen, in der sie mit frommer Scheu das Walten göttlicher Fügung erblickten, aber den realen geschichtlichen Prozeß aus den Augen verloren. Dabei entstand nun eine paradoxe Beziehung zur Wirklichkeit auf dieser Stufe des konservativen Denkens, die eben das bildet, was als seine Sackgasse bezeichnet wurde. Indem die Historische Schule jedes geschichtlich gewordene „Institut" mit ihrer konservativen Pietät bewahrt und pflegt, gewinnt sie zwar die Wirklichkeit in einem bisher unbekannt tiefen Sinn für das natürlich-geschichtliche Wachstum des Lebendigen in der Schönheit seines Seins. Indem sie aber aus ihrer „Andacht zum Unbedeutenden" eine unbedingte Scheu vor allem rationalen Zutun, allem selbständigen Eingriff, aller späteren Änderung schlechthin entwickelt, büßt sie die lebendig gegenwärtige Wirklichkeit auch wieder ein und entfernt sich von der natürlichen Entwicklung, die doch aus dem Zusammenklang von unbewußt und bewußt schaffenden und wirkenden Kräften besteht. Sie verliert sich', indem sie alles Gemachte und Künstliche, alles Mechanische und abstrakt Formale als böses Prinzip ansieht und im Bann einer „neptunistischen" EntwicklungsVorstellung das bewußte Handeln und die entscheidende T a t entwertet, gleichsam an das Werden und Wadisen der Erscheinungen und verkörpert durch den Realitätsverlust, den sie bei der hingegebenen Wendung zu den einzelnen Erscheinungen der Geschichte erleidet, nur eine Seite des konservativen Gedankens. Dies ist denn auch der Grund, weswegen sie trotz unleugbar fruchtbarer geisteswissenschaftlicher Leistungen schließlich im Historismus mit seiner Verflüchtigung aller festen Maßstäbe endete und das konservative Denken zu ihrem Teil in die Anonymität führte. Dort jedoch ist ihr moralischer Ertrag, wie trotz manchen Mißbrauchs nicht verkannt werden darf, vielfach wirksam geworden und geblieben: tiefe

C. Die konservativen Systematiker

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Ehrfurcht vor dem Bestehenden und besonders vor dem geschichtlichen Recht als Quelle des überlieferten Empfindens für wahre Ordnung und Sicherheit, tiefe Bescheidenheit vor dem Dasein bewährter Zustände und tiefer Respekt vor einer höheren Macht, die das menschliche Leben als göttliches Walten durchwirkt, sind die wertvollen Resultate ihrer so oft vom Rationalismus geschmähten Arbeit. Mit ihnen hat sie dem konservativen Gedanken insgesamt doch unverlierbar zur Fülle und Weite seines Selbstbewußtsein verholfen.

C. D I E K O N S E R V A T I V E N

SYSTEMATIKER

Die zweite Gruppe jener konservativen Systematiker, von denen bereits die Rede war, steht ganz offenkundig unter dem Einfluß eben des Rationalismus, dessen naturrechtlich-revolutionäre Auswirkungen sie bekämpft. Mit ihrer maßgebenden Unterstützung bildete sich der Legitimismus als das Staats- und Herrschaftssystem der sogenannten Restauration, die — mit dem Namen des Wiener Kongresses und der Heiligen Allianz verbunden — den fürstlichen Absolutismus des 18. Jahrhunderts in das 19. Jahrhundert hinüberträgt. Mit Hilfe romantischer Ideen und christlicher Vorstellungen wird hier ein dynastisch-feudales Regime errichtet, das sich mit Polizei- und Zensurmaßnahmen gegen den neuen Geist, wie ihn die Französische Revolution auch in Deutschland hervorgerufen hatte, zur Wehr setzt. Obgleich in die Gedankensysteme der verschiedenen Theoretiker, die dieser deutschen Restauration die geistigen Grundlagen lieferten und dem Absolutismus eine Verwandlung in den Legitimismus ermöglichten, ein gut Teil von Zügen des konservativen Denkens mit verarbeitet oder eingeflossen war, so überwiegt doch bei weitem das rationale Moment in ihnen. Als Ganzes genommen, stellen sie deshalb Zeugnisse pseudokonservativen Denkens dar und sind unechte Formen des konservativen Gedankens, was ohne viel Schwierigkeit erkennbar wird, wenn man sich der von Moser und Burke, Müller und Savigny geleisteten Beiträge zum Heraustreten des konservativen Denkens aus dem unreflektierten Traditionalismus bewußt bleibt und an den von ihnen gefundenen oder ausgebildeten Prinzipien und Elementen als seiner echten Form festhält. An dem deutlichen Gegensatz zwischen echtem und unechtem konservativen Denken, wie ihn ein Vergleich des vorromantischen und romantischen

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III. Die beiden Formen des konservativen Gedankens

Konservatismus mit dem legitimistischen Pseudakonservatismus offenbart, zeigt sich mit aller wünschenswerten Klarheit, daß der konservative Gedanke mit dem Legitimismus nur eine allerdings sehr langdauernde Phase durchlief, aber keineswegs mit ihm identisch war. Es zeigt sich daran ferner, daß der konservative Gedanke bloß unter dem Zwang der geschichtlichen und geistigen Situation eine Verbindung mit der Restauration einging und in Wahrheit gar nicht einseitig an irgendwelche Feudalismen gebunden ist. Und es zeigt sich' schließlich, daß der konservative Gedanke vielmehr im Legitimismus unwissentlich seinem Gegenpol des rational-triebhaften Denkens und Handelns erlag. Daher muß sein weiterer Weg fortan gleichsam auf zwei Ebenen gesucht werden: Einmal auf der sichtbaren Ebene des politisch führenden, aber unechten, weil in seinem Wesenskern verlassenen Konservatismus. Und zum andern auf der meist unsichtbaren Ebene eines in die unpolitische Anonymität des gesellschaftlichen, wissenschaftlichen, künstlerischen und religiösen Lebens zurücktretenden Konservatismus, der darum echt bleibt, weil er an seinen ursprünglichen Intentionen festhält. Der Legitimismus der Restaurationszeit zu Beginn des 19. Jahrhunderts ist mit anderen Worten der Ort, wo der kaum zu sich selbst gekommene konservative Gedanke dank der äußeren Lage sogleich von seinem älteren Gegner, dem dynastischen Rationalismus, in eine durchaus unorganische Verbindung hineingezogen wird. Die gröbste und geistig unbedeutendste Gestalt dieser unorganischen Verbindung zwischen abstrakt-rationalem und konkret-konservativem Denken verkörpert die „patriarchale Staatslehre" des Schweizers Haller. Die feinste und geistig bedeutendste Gestalt dieser Verbindung ist in dem großen philosophischen System von Hegel enthalten. Und die konservative Theorie von Stahl erhebt sich durch' ihren Wert ebenso weit über die erstere, wie sie in ihrem Rang hinter der letzteren zurückbleibt. In seinem umfangreichen Werk von der „Restauration der Staatswissenschaft" niedergelegt, übte die Lehre Carl Ludwig von Hallers (1768—1854) jahrzehntelang einen sehr erheblichen Einfluß auf den deutschen und vor allem auf den preußischen Legitimismus aus. Dieser Einfluß ist in Anbetracht ihres Inhalts ein sicheres Zeichen dafür, daß diejenigen Kreise und Schichten, die die patriarchale Staatslehre zur Grundlegung eines staatlichen Regimes verwendeten und schließlich auf ihrem gedanklichen Boden eine Art von politischer Schule bildeten, innerlich schon weit mehr vom rationalen Geist der neuen Zeit und der ihm insgeheim folgenden Triebentbindung erfaßt waren, als es äußerlich den Anschein haben mag. Hallers theo-

C. Die konservativen Systematiker: Carl Ludwig von Haller

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retisdie Lehre ist nämlich tatsächlich nichts anderes als eine konservative Ideologie, weil sie den in sich widerspruchsvollen Versuch unternimmt, das konservative Ziel einer möglichst weitgehenden Erhaltung des Bestehenden mit besonderen Mitteln einer naturrechtlichen Begründung zu erreichen. Das praktische Ergebnis dieses Versuches war denn auch die unvermeidliche Entstellung des konservativen Gedankens. Denn das rationale System dieser pseudokonservativen Lehre vernichtete alsbald die natürliche Beweglichkeit des dynamischen Denkens mit allen Konsequenzen. Das heißt, es ließ eine Herrschaftsform entstehen, die in der liberalen Geschichtslegende zum Symbol starrer Unlebendigkeit und damit Rückständigkeit des Staates werden konnte. Dem bürgerlichen Rationalismus und Liberalismus, der sich auf abstrakte Grundrechte berief und mit ihnen Materialismus und Egoismus weckte, trat hier in Theorie und Praxis ein dynastisch-feudaler Rationalismus entgegen, der sich auf ein ebenso abstrakt gehandhabtes Naturgesetz berief und gleichfalls stark materialistische und egoistische Züge zeigte. Der über Generationen anhaltende Erfolg dieses Herrschaftssystems beweist, insgesamt gesehen und nüchtern beurteilt, daß die breite Masse der Bevölkerung in jenen Jahrzehnten nur zögernd Staat und Herrschaft als das begriff, was sie offenbar immer mehr wurden: rational ausgeübte, aber triebhaft erlebte Macht. Und es erklärt sich vorwiegend aus zwei Gründen, daß der Widerstand der Bevölkerung gegen das legitimistische Regime in Deutschland damals im großen und ganzen so gering blieb. Einmal waren nämlich weiteste Schichten des Volkes und jedenfalls die Mehrheit — was die liberale Geschichtslegende gewöhnlich hinter der kleinen Schar namhafter Opfer der sogenannten Demagogenverfolgungen jener Jahre zu verbergen strebt — noch wesentlich und echt konservativ. Denn sie standen wie die Regierenden selbst tief unter dem schockartigen und noch sehr lange nachwirkenden Eindruck der Großen Revolution jenseits der westlichen Grenzen. Und zum andern verhalf das noch überall trotz der Aufklärung in der Tiefe des Volkes vorhandene religiöse Gefühl der Romantik als Epoche dem christlichen Argument des Legitimismus zu einem höchst lebhaften, wenn auch naturgemäß ziemlich verborgen bleibenden Echo. Echt konservative Gesinnung und religiöses Empfinden der Bevölkerung gaben so dem pseudokonservativen Regime und seiner Ideologie die Möglichkeit, sich allen Stürmen gegenüber zu halten und eine lange Periode des Friedens zu schaffen, die von vergleichsweise großer Geborgenheit für den einzelnen Menschen erfüllt war.

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III. Die beiden Formen des konservativen Gedankens

HalLers Lehre beruht auf zwei Grundgedanken, die mit logischer Strenge durchgeführt werden. Den Anstoß zu ihnen gab die naturrechtliche Auffassung von der Übertragung der herrschenden Gewalt an die bestehenden Obrigkeiten durch stillschweigenden Vertrag. Aus dieser Auffassung folgte die Rückforderung der Gewalt, wie sie die Große Revolution in Frankreich vorgenommen hatte. Aber aus ihr folgten auch das Gericht über den König und die Greueltaten des weiteren Geschehens. "Worauf es daher ankam, das war eine andere Begründung der obrigkeitlichen Gewalt als die offenbar unheilvolle einer Übertragung durch das Volk. So begründet denn Haller in unmittelbarer Antwort auf die Französische Revolution vor allem in ihrem zweiten Teil den Staat und seine Einrichtungen nicht auf Willen und Überlegung des Menschen, sondern auf dem Naturgesetz, wonach der Stärkere herrscht und der Schwächere gehorcht. Denn Ubergewicht auf der einen und Bedürftigkeit auf der anderen Seite bestimmen sämtliche Beziehungen und Verhältnisse zwischen den Menschen — die Beziehung und das Verhältnis von Vater und Kind, Lehrer und Schüler, Arzt und Patient, doch auch von Herrscher und Untertan. Alle Herrschaft ist demnach dadurch entstanden, daß die Herrschenden ursprünglich' einmal in irgendeiner Hinsicht die Stärkeren waren und sich über die anderen als die Schwächeren erhoben: das Recht der Herrschaft wurzelt in Unterwerfung, Eroberung oder Schutz. Diesem ersten Grundgedanken schließt sich, da er allein noch keine sichere Widerlegung revolutionärer Tendenzen bedeutet, als zweiter Gedanke der eigentliche Grundsatz an, der den Kern der Restaurationslehre Hallers ausmacht: die staatliche und besonders die fürstliche Gewalt hat keinen öffentlichen, sondern einen privatrechtlicken Charakter. Das heißt, die durch eigene Stärke erworbene Herrschaft bildet ein persönliches, erbliches Recht. Sie ist ein Privatrecht der Herrschenden und zumal des Fürsten, dem der Staat wie ein privates Eigentum gehört, über das er nach Belieben zu seinem Zweck verfügen kann wie über jeden anderen Erwerb. Daher sind alle Staatsangelegenheiten private Sache des Fürsten. Das Territorium ist sein Land, die Beamten sind seine Diener oder Angestellten, die Steuern sind seine Einkünfte, der Krieg ist seine Fehde. Und weil die ganze Regierung des Staates zwar sein Recht, aber keinesfalls seine Pflicht ist, kann der Fürst folglich auch nicht verpflichtet sein, seine Gewalt zum öffentlichen Wohl zu gebrauchen — z. B. seinen Untertanen Rechtspflege zu gewähren.

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Aber dennoch ist diese Lehre vom privaten Charakter der fürstlichen Gewalt, zu der Haller durch ein falsches Verständnis der mittelalterlichen Zustände kam, durchaus keine Rechtfertigung eines unbegrenzten Despotismus. Denn dasselbe Prinzip einer strikt privatrechtlichen Auffassung menschlicher Beziehungen kommt auch1 den Untertanen zugute. Da die Herrschaft des Staates und damit das Privatrecht des Fürsten längst nicht alles umfaßt, hat nicht nur er, sondern auch jeder Untertan seine Sache für sich. "Wie der Untertan die private Rechtssphäre des Fürsten nicht verletzen darf, so darf auch der Fürst die private Rechtssphäre des Untertans nicht verletzen — beide Sphären des privaten Rechts haben grundsätzlich denselben moralischen Rang und denselben Anspruch auf Achtung, auch wenn die Untertanen der Regierungsgewalt des Fürsten unterworfen sind. Die Untertanen brauchen deshalb keine direkten Steuern zu entrichten und keine Kriegsdienste zu leisten, falls sie nicht wollen. Sie sind zu freier Auswanderung befugt und können, sofern der Fürst ihre Rechte verletzt, sogar bewaffneten Widerstand leisten, da jedes Privatrecht gegen jeden Privatangriff durch Selbstverteidigung geschützt werden muß. Dem unbedingten Recht des Fürsten steht somit das ebenso unbedingte Recht des Untertans gegenüber. Und das gesamte soziale Leben bildet daher eine Menge wesensmäßig gleicher, bloß graduell verschiedener Rechtsbeziehungen privater Art — der Fehler des Naturrechts und der Revolution liegt bloß darin, daß sie Staat und Herrschaft mißverstanden und ihnen einen öffentlichen Charakter zugeschrieben haben. In dieser Lehre Hallers vereinigen sich, wie man sieht, konservative und naturrechtliche Züge zu einem eigenartigen Ganzen. Aus zwei abstrakten Prinzipien, dem Naturgesetz des Stärkeren und dem privatrechtlichen Charakter der fürstlichen Gewalt, wird in streng rationaler Folgerichtigkeit ein logisches System abgeleitet. Das erste Prinzip entsteht dadurch, daß die vorhandene Naturrechtslehre verworfen und statt dessen in Gestalt eines anderen allgemeingültigen Gesetzes ein neues Naturrecht konstruiert wird, das gleichfalls auf der Annahme eines isolierten Individuums beruht. Individuelle Stärke und Schwäche des für sich seienden Einzelmenschen begründen allein das überlieferte Wesen der sozialen Beziehung, die in ein privates Rechtsverhältnis aufgelöst wird. Denn das zweite Prinzip, der privatrechtliche Charakter aller Herrschaftsverhältnisse, führt ebenso auf einen reinen Individualismus zurück, demzufolge sich die verschiedenen Rechtssphären wie Inseln gegenüberstehen. Fürsten, Grundherren und Untertanen werden

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in ein unveräußerliches System erblicher Rechte versetzt, zwischen denen es keine Ubergänge gibt. Das konservative Denken verliert auf diese A r t , indem es sich in ein logisch konstruiertes System begibt, seinen eigentlichen Sinn: es wird starr und unlebendig durch eine ähnlich rationale, wirklichkeitsferne und geschichtlich leere Ursprungskonstruktion, wie sie das Naturrecht mit seiner Vertragstheorie sonst vornimmt. Es dient nur dem Festhalten, lenkt den Blick einseitig in die Vergangenheit und verneint die natürliche Entwicklung. Der patriarchale und patrimoniale Staat, den Haller nach dem Bilde seiner Schweizer H e i m a t als das bestimmende Moment der mittelalterlichen Zustände Deutschlands ansieht und erhalten b z w . wiederherstellen will, wird seiner lebendigen N a t u r entkleidet und, rational übersteigert, in ein zweckhaftes Rechtssystem umgedeutet, das den Einfluß Rousseaus nicht verleugnen kann. Sitte und Brauch verengen sich damit zu abstrakten Rechten des privaten Individuums, durch deren Forderung dem persönlichen Egoismus und Machttrieb freie Bahn gegeben wird. "Wenn alles soziale Leben p r i v a t ist, so entfällt jede Rücksicht des Individuums auf die öffentlichen Belange — zumal natürlich bei der herrschenden Schicht, der dann diese konservative Ideologie ihre Herrschaft als ein privates Eigentum erscheinen läßt, das nur den eigenen Interessen dient. D e r bei Haller immer wiederkehrende Bezug auf die Geschichte hat also trotz seines romantischen Beiwerks lediglich die A u f g a b e , ganz zweckhaft einen angegriffenen Besitztitel zu begründen. Die altständische Lebensordnung, die Müller und Moser noch als sozialen Kosmos erlebten und verteidigten, w i r d damit gewissermaßen zu einer bloßen Hülse für reine P r i v a t interessen ohne echte Verpflichtung gegenüber dem sozialen Ganzen und seiner Idee des öffentlichen Wohls. "Wie das liberale Naturrecht v o r allem das beherrschte Individuum befreit hatte, so befreit auch das pseudokonservative Naturgesetz nicht minder abstrakt vor allem das herrschende Individuum mit denselben Folgen der Triebentbindung aus der bisherigen A b hängigkeit von öffentlich-sittlichen Verpflichtungen. Die abstrakte Eigentumsvorstellung des rationalen Denkens greift hier demnach auch auf die herrschende Autorität über und reduziert das lebendige Verhältnis zwischen den Menschen auf sachlich-private Besitzrechte. Das Gottesgnadentum, wie es der Absolutismus des vorigen Jahrhunderts noch zu seiner Rechtfertigung erlebt hatte, ist der z w a r romantisch verbrämten, in Wahrheit aber rein rationalen A u f f a s s u n g der Herrschaft als eines vererbbaren Sachbesitzes von

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Privatpersonen gewichen. Damit ist die Herrschaft völlig säkularisiert. U n d der Staat ist jetzt gleichsam nur noch eine Summe legitimer Rechte. Jede Entwicklung seiner gegebenen Ordnung verletzt daher das Recht gerade der herrschenden Individuen genau so, wie es die Verletzung sonstigen Eigentums bei jedem anderen Menschen auch tun würde. Hallers Lehre bildet mit der direkten Verteidigung und Rechtfertigung des Legitimismus eine leicht durchschaubare Kombination konservativer und naturrechtlich-rationaler Elemente. Sie galt als Reaktion auf die revolutionären Folgen des Prinzips der Volkssouveränität hauptsächlich dem Ziel einer Machtfestigung des nach wie vor bestehenden Königtums und grundherrlichen Adels. Vor diesem Ziel verblaßte die Bemühung, die ständische Lebensordnung zu erhalten, tatsächlich ebenso wie das Bestreben, der Macht überhaupt Fesseln anzulegen, bis zum inneren Widerspruch. Haller sah zwar, daß der absolutistische Machtstaat wesensmäßig der Vorgänger des revolutionären Macht- und Nationalstaats war, der auf den Grundlagen des Liberalismus erwuchs. Aber er sah nicht, daß sein Patrimonialstaat, den er mit einer rationalen Theorie rechtfertigte, in diesem geschichtlichen Stadium kaum weniger Machtstaat war und sein konnte als jene beiden anderen Staatstypen. Wohl war Hallers Scheu vor dem Begriff der modernen Nation, in dem die ganze Triebkraft des ideologischen Denkens schlummerte, genau so begründet wie seine Abneigung gegen den modernen Großund Einheitsstaat, der mit dem triebhaften Drang zur Selbstbestätigung schon von sich aus den Frieden der alten Staatenwelt mit ihrem Gleichgewicht bedrohte. Aber er begriff nicht, daß seine Lehre durch ihren historisch verbrämten Materialismus und Egoismus gerade dem die Wege ebnete, was sie verhindern wollte. So verlor er als ein unfreiwilliges Kind der neuen Zeit mit der echten Intention des konservativen Gedankens auch die grundlegenden Prinzipien des konservativen Denkens. Und mit ihm teilten auch diejenigen Kreise und Schichten, denen die patriarchale Staatslehre zum geistigen Fundament ihrer Politik wurde, diesen Verlust, um damit unwissentlich einem Pseudokonservatismus zu huldigen, der in wesentlichen Teilen Ideologie war und blieb. Im großen System der Philosophie Hegels (1770—1831) tritt uns ein gänzlich anderes geistiges Gebilde entgegen, das nur bezüglich seines historischen Orts und seiner zeitgeschichtlichen politischen Wirkung den Namen Hallers neben sich duldet. Wie dieses System — das man grandios und tiefsinnig, gewaltsam und abstrus in einem nennen durfte — den Legitimismus

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der Epoche weniger direkt als vielmehr indirekt stützt, so gibt es auch die wesentlichen Prinzipien des konservativen Denkens und damit den konservativen Gedanken selbst weniger sichtbar auf, als daß es dessen eigentliche Intention vielmehr durch1 eine methodische Überhöhung seines Inhalts verläßt. Es würde weit über den Rahmen unserer Untersuchung hinausgehen, wollten wir den Versuch unternehmen, in den Einzelheiten auseinanderzulegen, was in Hegels spekulativem System konservativer und was revolutionär-idealistischer Herkunft ist. Stattdessen soll hier in der gebotenen Kürze gezeigt werden, wie gerade Hegel ohne Absicht der geistesgeschichtlich bedeutendste Faktor dafür wurde, daß der konservative Gedanke in seinen politisch führenden oder maßgebenden Vertretern schon vor der Mitte des 19. Jahrhunderts endgültig auf die Bahn ideologischen Denkens geriet und seine ursprüngliche Rolle, den Übergriffen des Fortschritts zu wehren, mehr und mehr einbüßte. Das Werk Hegels, dessen geistiger Rang hier ebensowenig zur Debatte steht wie der philosophische Inhalt als solcher, spiegelt mit seinen weitläufigen Teilen insgesamt den Zwiespalt zwischen dem konservativen Denken und seinem Gegenspieler in vieldeutiger "Weise wieder. Dieser zwiespältige Charakter des Systems aber entspricht nur der zeitlichen Situation seines Schöpfers, der von der Absicht beseelt war, die "Wirklichkeit einer Übergangsepoche in ihren tiefen Spannungen philosophisch zu versöhnen und gleichsam in Einklang mit sich selbst zu bringen. Und es ist lediglich einer schlechterdings einzigartigen theoretischen Fähigkeit zur Synthese zu verdanken, daß das Produkt solcher Absicht nicht unter dem Druck der großen Gegensätze auseinanderbrach, die es auf gedanklichem Wege in sich band. "Wie Hegel als Mensch der damaligen Zeit das allgemeine Schicksal teilte, zwischen der Anhänglichkeit an die alte Ordnung der Dinge und dem mächtigen Reiz einer neu heraufziehenden "Welt wählen zu müssen; wie er als geistige Persönlichkeit, die dem Zwang zur Entscheidung unterliegt, zwischen der Bedingtheit des konservativen Denkens und der Unbedingtheit des rationalen Denkens stand, so wurde auch sein philosophisches W e r k zum Ausdruck einer Zeitwende. Denn es war der Gegensatz zwischen dem überall siegreich vordringenden Rationalismus und seinem Widerpart, zwischen selbstherrlichem Fortschritt und natürlicher Entwicklung oder wie immer man den Unterschied der Erlebnis- und Denkarten, der Verhaltungsund Gestaltungsweisen bezeichnen mag, der die menschliche Einstellung zur

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Wirklichkeit gerade in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts bestimmte. Und der Ausgang dieses großen Ringens zweier Formen des Weltverständnisses war damals noch vielfach unentschieden, oder zumindest war der volle Sieg des neuen Geistes noch keineswegs endgültig sicher. Ist schon Hallers Lehre ein vergleichsweise allerdings simples, ja oft plumpes Zeichen für diese innere Situation der damaligen Zeit, so gibt ihr doch erst Hegel jenen gedanklich vollendeten Ausdruck, der seine Philosophie so unmittelbar bedeutend sein läßt. Denn Hegel macht den in der Tiefe des geistig-seelischen Zeitgeschehens mit unübersehbaren Folgen stattfindenden Kampf zwischen altem und neuem Erleben und Denken tatsächlich zum eigentlichen Zentrum seiner "Weltauslegung und zwingt die in der Realität unversöhnlichen Kräfte auf dem Wege begrifflicher Bewältigung wenigstens theoretisch zusammen. Man hat die Philosophie Hegels als intensivste Synthese alter und neuer, historisierender und absolutierender Ideen bezeichnet. Und hierin liegt denn auch, geschichtlich gesehen, ihre für das politische Leben seiner und der späteren Zeit wirksam gewordene Bedeutung. Denn diese Philosophie, deren Charakter zugleich Bewegung und System ist, vereinigt in sich die beiden Grundideen ihrer Epoche, die Individualitätsidee und die Identitätsidee. Die Individualitätsidee entspricht dem nach der Französischen Revolution und in geheimer Antwort auf sie damals mächtig hervorbrechenden Drang nach einer wahrhaft geschichtlichen Betrachtung des Lebens, nach einer Verteidigung des Gewachsenen und Gewordenen — die Versenkung in die Fülle geschichtlicher Individualität ist ja auch das Merkmal der Romantik in dem oben geschilderten Sinne. Die Identitätsidee dagegen entspricht dem Streben nach vernünftiger Einheit zwischen Natur und Geist, Wirklichkeit und Denken, Sein und Sollen — in dem Bedürfnis, alles Erfahrbare einer rationalen Idee unterzuordnen und aus ihr zu entwickeln, gewannen die Uberzeugungen der Aufklärung gleichsam eine neue Gestalt. Hegel bindet nun, und darin eben besteht der bereits erwähnte Zwiespalt, in dem genialen Bau seines philosophischen Werkes diese beiden einander widerstreitenden Hauptideen seiner Zeit ineinander und erzielt gerade hierdurch den Eindruck einer fast unheimlichen Gewalt seines Denkens. Aber in dieser Verkettung der Identitätsidee mit der Individualitätsidee erwies sich die erstere als weitaus überlegen: auch die historische Individualität, das Besondere in der Geschichte, wurde unter dem Einfluß des radikalen Identlitätsdenkens rationalisiert und damit, trotz aller Anerkennung seiner

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Eigenart, tatsächlich des "Wesens, der Seele, des Kernes beraubt. Die Bewegung, die seine Philosophie in ihren Teilen durchzieht, erstarrt nämlich letzten Endes und auf den Effekt hin betrachtet doch im System. Die lebendig warme Geschichte wird sozusagen nachträglich leblos im kalten, starren Denken, und die Individualität erstickt gleichsam im herrischen Griff der Identität. Denn Bewegung, Individualität und Geschichte werden nach der Berücksichtigung ihrer Eigentümlichkeit wieder aufgehoben und dem System, dem abstrakten Denken und dem Absoluten dienstbar gemacht. "Wir brauchen von unserer Themenstellung aus bloß diesen Vorgang innerhalb der Hegeischen Philosophie auf die Ebene der Politik zu übertragen, um dort dasselbe Geschehen wiederzufinden. Individualitätsidee, Bewegung und Geschichte sind die konservativen Elemente, während Identitätsidee, System und Absolutes die rationalen, revolutionär-naturrechtlichen Elemente des Hegeischen Denkens sind. Und wie letztere, indem sie die ersteren verwenden, den Sieg im philosophischen Gedankengebäude davontragen, so trägt auch in der politischen Wirklichkeit der Rationalismus in Gestalt des ideologischen Denkens den Sieg über die echte Form des konservativen Gedankens davon. Denn dieser konservative Gedanke wird als politischer Konservatismus von Hegel an unwiderruflich unecht, indem er sich zu einer Ideologie der Herrschaftspraxis ausbildet, deren romantischreligiöses Gewand immer mehr und immer offener zur Verkleidung von rationalen Zwecken wird. Das neue Denken ergreift nämlich auf den vielen Wegen seiner sichtbaren und unsichtbaren Möglichkeiten zur Einflußnahme auch' und vor allem die politisch führenden Träger des konservativen Gedankens und zieht sie in den von ihm bewirkten Prozeß im Menschen selber hinein, den wir als zivilisatorisch bedingte Korrespondenz von Ratio und Trieb erkannten. Egoismus wie Machtstreben werden auch hier, ganz im Widerspruch zum Ursprung des konservativen Denkens, zu bestimmenden Charakterzügen der Wirklichkeit und prägen sich auf der politischen Ebene aus. Und diese reale Folge des Zivilisationsprozesses findet ebenfalls ihre theoretische Entsprechung in Hegels philosophischem System: Staatsräson und Machtstaat werden dort, durchaus in Übereinstimmung mit dem Ganzen seiner Weltauslegung, nicht nur stillschweigend sanktioniert, sondern ausdrücklich als Notwendigkeit anerkannt und gefordert. Hegel verwendet den konservativen Gedanken, will ihn stützen und vernichtet dabei ohne Wissen und Willen doch zugleich seine Echtheit, indem er ihn durch Systematisierung rationalisiert und auf solche Weise mit eben den

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Schwächen und Fehlern belastet, die das konservative Denken vermeiden will. Haller hatte, wie wir sahen, schon dasselbe auf einem ungleich niedrigeren Niveau getan — und ihm wieder war der Absolutismus auf demselben Wege begegnet, als er sich mit Hilfe des konservativen Gedankens in den Legitimismus verwandelte. Aber sicherlich hat Hegels Philosophie den in der weiteren Geschichte des konservativen Denkens größten Anteil an dieser ideologischen Entstellung. Gerade die imponierende Großartigkeit des Systems verlieh dem Geschehen, das sich da unbemerkt im Innern der Menschen abspielte und nach Verwirklichung in der Außenwelt drängte, durch gedankliche Fundierung eine Kraft, gegen die alle Rückversicherung bei der Religion auf die Dauer ohnmächtig blieb. Denn nun war der politische Konservatismus, der auf Generationen hinaus in der geistigen Atmosphäre dieses eben durch seine Großartigkeit so verführerischen philosophischen Systems lebte, heimlich mit demselben Stigma einer Entbindung der Triebweit gezeichnet wie die Ideologien, die ihn bekämpften. Von Hegel ab, dessen Werk in seinen politischen Konsequenzen der Zeittendenz des 19. und auch des 20. Jahrhunderts so untergründig entgegenkam und vorarbeitete, datiert denn auch erst eigentlich nachhaltig die falsche Gleichsetzung des konservativen Gedankens mit absoluter Herrschaft, Machtstreben, Staatsallmacht, Feudalismus, Standesinteresse, sozialreaktionärem Egoismus und wie die Vorwürfe heißen mögen, die in Wahrheit nichts mit dem konservativen Denken zu tun haben und alles mit seinem Gegenpol, dem neuen ideologischen Denken, das die moderne Entfesselung der menschlichen Triebhaftigkeit im politisch-sozialen Bereich hervorgerufen hat. Die Verbindung der Individualitätsidee, die gleichsam das philosophische Gefäß der konservativen Elemente in Hegels Denken war, und der Identitätsidee, die den rationalen Widerpart mit seinen ideologischen Elementen in sich enthielt, war indessen mit der überlieferten Logik nicht zu vollziehen. Dieselbe erwies sich als zu starr und fest, um die in diesen beiden Elementen vorhandene Gegensätzlichkeit zu lockern und ihre gedankliche Verschmelzung zu erlauben. Zu diesem Zweck mußte der Begriff der Vernunft, wie ihn die Aufklärung mit und in ihren Normen geschaffen und gebraucht hatte, deshalb umgedeutet und sozusagen flüssig gemacht werden. Das Mittel hierzu bot sich Hegel in dem dynamischen Denken der Romantiker — und infolgedessen beginnt denn audi die Umbildung des konservativen Gedankens bereits mit der Form, die Hegel diesem Denken gibt. War Müllers Denken in engem Anschluß an die jeweilige Wirklichkeit 16

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gebunden, weil er die Polaritäten und Antithesen des fließenden Lebens je für sich sah und dann in einer konkret bleibenden Vermittlung ihrer Besonderheit zum lebendigen Ausgleich brachte; und waren die Romantiker der Historischen Schule vor der gradlinigen Konstruktion der Entwicklung aus einem rationalen Prinzip heraus, das ganz folgerichtig zur Vorstellung des allgemeinen Fortschritts führte, vollends in eine recht subjektiv wirkende Verinnerlichung des Besonderen in seiner Geschichtlichkeit ausgewichen, so verwandelte Hegel das dynamische Denken in eine abstrakte Methode, die auf rationale Einheit und allgemeine Objektivität zielt. Das starre und unlebendige, abstrakte und statische Denken, gegen das sich der konservative Gedanke richtet, und das dynamische Denken, das er stattdessen als Instrument seiner eigenen Art von Wirklichkeitserfassung und Weltverständnis ausgebildet hatte, wurden in Hegels Hand eingeschmolzen, um die Legierung einer neuen Denkmethode zu ergeben, die die Vorzüge beider — Bewegung und System, Besonderheit und Allgemeinheit, Geschichte und Norm — umfaßt. Diese neue Denkmethode ist die Dialektik: das flüssig und geschmeidig gemachte rationale Denken im ständig durch Überhöhung erneuerten Dreitakt von These, Antithese und Synthese. Das heißt, die Flüssigkeit und Geschmeidigkeit dieses Denkens erwächst aus der Aufhebung zweier Gegensätze in einem beide verklammernden und versöhnenden dritten Denkschritt, der dann seinerseits das Schicksal der Auflösung in der Synthese eines neuen Gegensatzes erfährt. Mit Hilfe dieser Dialektik, die somit beweglich gewordenes systematisches Denken ist, war es möglich, das fließende Leben, das sich der starren Begrifflichkeit des Aufklärungsdenkens entzogen hatte, und vor allem den großen Bereich der Geschichte, der einer rationalen Durchdringung bisher unüberwindliche Widerstände entgegengesetzt hatte, in ihrer ganzen Weite und Tiefe zu erfassen. Dank der Dialektik konnten Leben und Geschichte einer Rationalisierung unterzogen werden, ohne die unbestreitbare konservative Entdeckung der Bewegtheit des historischen Lebens aufzugeben. Und zumal das geschichtliche Werden vermochte nunmehr in der bunten Gegensätzlichkeit seiner individuell besonderen Erscheinungen doch von der Vernunft aus voll durchleuchtet und allgemein begriffen zu werden. Denn die Dialektik stellt eben eine neue Methode der denkenden Bewältigung der Wirklichkeit dar, die das konservative Element des Seins gerade in seiner Lebendigkeit zum Gegenstand systematischer Rationalisierung macht und dadurch das der Vernunft zugängliche Gebiet ungemein erweitert. Die noch

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ganz in das konkrete Erlebnis des wirklichen Werdens versenkte Auffassung der Bewegtheit des Lebens, wie sie dem konservativen Denken eigen ist, wurde mittels der Dialektik gewissermaßen abgehoben und in eine abstrakte Form gezwungen, die das gedankliche Vermögen der Aufklärung weit übertraf. Mit dem dialektischen Denken war das Mittel gefunden, um die konservative Idee der historischen Individualität mit der revolutionären Idee der rationalen Identität zu verketten und ein System der begrifflichen Welterfassung auf- und auszubauen, das alle Gegensätze und Widersprüche des bewegten Lebens und seines unendlichen Formenreichtums in einem logischen Ganzen zu vereinigen erlaubte. In dem kühnen und gewaltigen Gebäude, das Hegel mittels seiner Dialektik errichtete und das als gedankliche Leistung unstreitig zu den unvergänglichen Monumenten der abendländischen Philosophie gehört, ja in gewissem Sinne als ihr Höhepunkt gelten kann, ging aber, eben weil es rationales System war, der konservative Gedanke mit seiner eigentlichen Intention und das konservative Denken überhaupt unter. Dies große Gedankengebäude konnte wegen seiner deduktiv-systematischen Gesamttendenz, die Ausfluß des rational-revolutionären „Idealismus" seiner Zeit war, tatsächlich von vornherein nicht mehr echt konservativ sein. Das verbot schon die Umbildung des dynamischen Denkens zur Dialektik — und der Inhalt dieser Philosophie bestätigt es dann im einzelnen. Was im weiten Komplex des Hegeischen Systems dank der Individualitätsidee noch konservativ zu sein scheint, was zumal an seiner Wirkung auf die Zeit und die Zeitgenossen konservativ anmutet, das ist doch kein echter Konservatismus mehr. Vielmehr gehört es in Wahrheit trotz aller geistigen Rangunterschiede seines Schöpfers in dieselbe Richtung, die in entsprechendem Abstand auch Haller mit seiner patriarchalen Staatslehre eingeschlagen hatte. Daß dem so ist, daß Hegels Denken trotz der romantischen Einschläge in seinem wesentlichen Gehalt dem Rationalismus entspringt und nicht dem Konservatismus; daß sich in seinem Werk der endgültige Sieg des neuen über den alten Geist ankündigt; daß schließlich aus seiner Philosophie später in geheimer Verwandtschaft die beiden letzten großen modernen Ideologien mit ihrem rational-triebhaften Radikalismus hervorgehen konnten — das alles beweist am einfachsten das Fundament, auf dem er sein System einer totalen Weltauslegung errichtet hat. Dieses Fundament bildete, als unvermeidliche Folgerung des auch die Individualitätsidee in sich aufnehmenden Identitätsdenkens, die Fortschrittsvorstellung, die Hegel mit der Über16«

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zeugung von der Macht der Vernunft aus dem Aufklärungsdenken übernahm. Indem er zu ihrer Ausgestaltung die konservative Entwicklungsvorstellung heranzog, verfeinerte und durchgeistigte er sie in unerhört eindringlicher Weise zur alles umfassenden Grundkonzeption seiner faszinierenden Philosophie, die das kommende Jahrhundert bewußt oder unbewußt in ihren Bann schlug. Die Idee eines in unaufhörlicher und unaufhaltsamer Bewegung vorwärtsdrängenden Fortschritts, derzufolge sich in allem Geschehen immer wieder die Geburt des Neuen in dem rationalen Dreiklang von These, Antithese und Synthese vollzieht; derzufolge die Entwicklung zu immer höheren Stufen der Selbstverwirklichung des Geistes auf dem Wege vom Subjektiven über das Objektive zum Absoluten führt; derzufolge auch die menschliche Geschichte eine restlos fortschreitende Selbstentfaltung der Vernunft und des Denkens ist — diese ganz abstrakt-rationale Grundkonzeption des Hegeischen Denkens, auf der das gesamte System ruht, ist als ein großer intellektueller Mythos ohne Zweifel alles andere als konservativ. Bietet sie doch die begriffliche Handhabe zu einer außerordentlichen Ubermächtigung der lebendigen Wirklichkeit. Denn mit ihr wird eine ungeheure Aneignung, aber auch eine ungeheuerliche Vergewaltigung des blutvollen Lebens in seiner ganzen Fülle durch den Verstand möglich. Mit einem lückenlosen Begriffsnetz wird hier durch reines, abstraktes Denken in noch viel freierer und zugleich doch wieder härterer Art über die Welt verfügt, als es der Rationalismus der Aufklärung mit seinen gradlinigen Konstruktionen des Weltbildes tat, die im Vergleich zur dialektischen Philosophie Hegels beinahe naiv wirken. Der überall in dem herrischen Zugriff des theoretischen Willens spürbare Zug zur gedanklichen Zentralisation; die fortwährende Auflösung des Konkreten ins Abstrakte, des Anschaulichen ins Begriffliche, des Besonderen ins Allgemeine; die bei aller fließenden Bewegung doch stets triumphierende Starrheit des unerbittlichen Systems; die im Fortschreiten des Geistes nicht zur Ruhe kommende Veränderung des Bestehenden; und die schließlich doch aus aller Veränderung resultierende strenge und statuarische Unbewegtheit des zu sich selbst kommenden Absoluten — all das sind als grundlegende Eigenschaften des Hegelsdben Denkens durchaus Kennzeichen des Gegenpols und Widerparts konservativer Einstellung. Und sie beherrschen diese Philosophie so entscheidend, daß man ihren Schöpfer höchstens im Sinne der oben gemachten Einschränkung noch' zu den konser-

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vativen Denkern rechnen darf. Denn echt konservatives Denken ist aus seinem eigenen Gesetz heraus immer und mit Notwendigkeit unfähig zur Ausbildung eines rationalen Systems, weil es in mehr gefühls- als verstandesmäßiger Einsicht weiß, daß jede rationale Systematik die Wirklichkeit des Lebens mit unübersehbaren Folgen vergewaltigen muß — Hegel bildet mit seiner grandiosen und tiefsinnigen, aber gewaltsamen und abstrusen Philosophie eines der bewegendsten Beispiele für die zeitlose Wahrheit solcher Einsicht. Wenn nun Hegels Philosophie trotz ihres eindeutig rationalen Grundcharakters vielfach und immer wieder als konservativ angesprochen und zum Beweis der Schädlichkeit oder Uberlebtheit des konservativen Gedankens angeführt wird, so hängt das fraglos mit der Verkennung des konservativen Denkens überhaupt und insbesondere mit der daraus folgenden Mißdeutung des Legitimismus zusammen, wie sie die liberale Geschichtslegende begründet und gepflegt hat. Wie wir bereits sahen, ist der Legitimismus als einseitiges Machtsystem, das er unbeschadet seines romantisch-christlichen Auftretens war, im Grunde ohne Zweifel ebenso rationalen Ursprungs wie der ihm voraufgehende Absolutismus. Seine konservativen Bestandteile sind praktisch lediglich Einschläge aus der geistig-seelischen und geschichtlich-gesellschaftlichen Situation der Romantik als Epoche. Die unorganische und als solche keineswegs gleichgewichtige Ehe zwischen Absolutismus und Konservatismus stellt dabei, aus dem erzwungenen Zusammenschluß gegenüber dem realpolitisch stärkeren Gegner des Naturrechts und der Volkssouveränität erwachsend, trotz ihrer langen Dauer nichts anderes als ein Produkt der Zeitlage dar. Der Konservatismus verband sich in der Hoffnung, den Partner durch Historisierung veredeln zu können, mit dem Absolutismus, weil ihm ohne dessen Hilfe allzusehr Wirkungslosigkeit und Anonymität drohten. Und der Absolutismus bediente sich in der Hoffnung, durch den Partner eine auch gegen die Argumente seines stärkeren Gegners brauchbare und haltbare Rechtfertigung zu gewinnen, des Konservatismus, weil dort für ihn die einzige Hilfe in seiner Bedrängnis zu finden war. Beide, Konservatismus und Absolutismus, wollten die alte Ordnung gegen eine neue mit ihren bereits in der Französischen Revolution handgreiflich erlebten Gefahren der allgemeinen Triebentbindung bewahren. Aber jeder Partner der ungleichen Ehe verstand unter dem Alten etwas anderes — der eine den sozialen Kosmos der altständischen Lebensordnung mit dem Gleichgewicht der Macht,

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der Interessen und Rechte, und der andere die hergebrachte Herrschaftsordnung der absoluten Monarchie mit dem zentralistisch-bürokratischen Staat. Was Hegel in dieser historischen Lage, der unverkennbar eine tiefe seelische und geistige Bedingtheit zukam, mit seiner Philosophie bewirkte, das war die indirekte Rechtfertigung des legitimistischen Zustands durch die Lehre von der Identität zwischen Vernunft und Wirklichkeit. Speziell durch ihr Kernstück, seine Geschichts- und Staatsphilosophie, beeinflußte er das gedankliche Leben in den damals maßgebenden Kreisen so nadihaltig, daß Philosophie und Politik, Denken und Handeln hier ineinander übergingen, ja sich schließlich deckten. In der Geschichts- und Staatsphilosophie Hegels vollzieht sich nämlich folgerichtig derselbe Vorgang wie im Gesamtsystem: die Entstellung des konservativen zugunsten des rationalen Elements und damit indirekt auch die Grundlegung einer pseudokonservativen Lehre, die als Ideologie die vorhandene Herrschaft legitimiert. Wenn die Geschichte nichts anderes ist als der dialektische Gang der Selbstverwirklichung des Geistes in der jeweils höchstmöglichen Stufenform, dann ist der historische Augenblick mit seiner realen Verfassung immer „richtig". Dann sind auch die Widersprüche und Gegensätze des geschichtlichen Lebens bloß notwendige Vehikel des Fortschritts in seiner von Steigerung zu Steigerung drängenden Entfaltung. Dann jedoch sind auch die negativen Seiten der Geschichte, ihre Abgründe, ja das Schlechte und Böse im staatlich-politischen Leben der Völker als Elementares eingeordnet in das letzten Endes und im vernünftigen Ziel immer sinnvolle und daher richtige große Ganze der Wirklichkeit. Denn der Weltgeist, in dem die einzelnen Volksgeister als rationale Stufen der Geschichte nur die Vollbringer seiner fortschreitenden Verwirklichung sind und darin ebenso ihre Wahrheit wie ihre Bestimmung haben, bringt die verschiedenen Kulturen in organischem Wachstum zum Aufstieg und zieht sich dann wieder aus ihnen zurück, um in seinem unaufhörlichem Gestaltwandel ein neues, höheres Sein aufzusuchen und anzunehmen. Die Staaten, Völker und Individuen bilden dabei nur die bewußtlosen Werkzeuge auf seiner weltgeschichtlichen Wanderung zum Bewußtsein der Freiheit. Diese Wanderung, die die geschichtslosen Völker als bloße Naturreiche gar nicht berührt, geht vom Orient über Hellas und Rom bis zur christlich-germanischen Welt. Und sie erreicht dort ihren Gipfel, w o der einzelne Mensch sich aus dem Geist des Ganzen bestimmt und die allgemeinen Gesetze als die seinigen anerkennt und befolgt.

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In dieser Geschichtsphilosophie, nach der die Weltgeschichte nichts anderes ist als der Prozeß einer sich zum Selbstbewußtsein durchringenden Weltvernunft als Absolutes und das heißt die Verwirklichung des allgemeinen Geistes, wird also zwar die historische Individualität anerkannt, dann aber wieder aufgehoben im rationalen System des Fortschritts der Weltvernunft. Und diesem System zufolge ist die wirkliche Welt auf der jeweiligen Entwicklungsstufe notwendig immer so, wie sie sein soll — wobei noch ihre Schattenseiten von der „List der Vernunft" in den Weltprozeß des Geistes als Funktion des Fortschritts einbezogen werden. Das Besondere kämpft sich, wie Hegel sagt, aneinander ab, während die Vernunft im Hintergrund des Geschehens immer unbeschädigt bleibt und deshalb siegt. Denn „was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig". Die Staatphilosophie steht in engstem Zusammenhang mit dieser Geschichtsphilosophie — sie stellt gewissermaßen das als Zustand dar, was jene als Bewegung entwickelt. Der menschliche Geist verwirklicht sich in den objektiven Daseinsformen der gesellschaftlichen Ordnung, der sittlichen Freiheit und der politischen Gemeinschaft, das heißt als Recht, Moral und Staat. Der Staat ist für Hegel das in Recht und Sitte gegründete, ständisch gegliederte und staatlich geformte Dasein des Volkes. Staatsphilosophie hat deshalb nicht die Aufgabe, einen Staat zu konstruieren,«wie er sein soll, sondern sie muß den bestehenden Staat als ein in sich Vernünftiges begreifen. Denn der Staat ist eine Art von Organismus, der als solcher tiefere Eingriffe in sein Gefüge ausschließt. Ist er doch in seiner jeweiligen Form nur eine der Stufen, auf denen sich die Vernunft in der Notwendigkeit ihres geschichtlichen Selbstverwirklichungsprozesses richtig, weil nicht anders möglich darstellt. So wird der Staat zur „Einbildung der Vernunft in die Realität", zur „Wirklichkeit der sittlichen Idee", zum „göttlichen Willen als gegenwärtiger, sich zu wirklicher Gestalt und Organisation einer Welt entfaltender Geist", zur „absoluten sittlichen Totalität", zum „an und für sich seienden Göttlichen". Der Staat ist somit der Gipfel der Entwicklung des sittlichen Geistes, der im Volk seine Wirklichkeit gewinnt und hat. Familie und bürgerliche Gesellschaft sind die beiden Momente des dialektischen Entwicklungsweges der sittlichen Substanz, die dann im Staat ihre Aufhebung finden. Ohne ihn entwickeln sich die in der bürgerlichen Gesellschaft angelegten Kräfte zu einer Aufspaltung in Arme und Reiche, was Desorganisation und keine wahre Ordnung bedeutet. Denn dann löst sich die Familie auf, dann werden

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die Stände der bürgerlichen Gesellschaft zu Klassen, und dann wird die staatliche V e r w a l t u n g zu einer dem Ganzen fremd gegenüberstehenden O r ganisation der Macht. Daher weisen Familien und Stände auf ein Höheres, Drittes: die absolute T o t a l i t ä t des Staates als den in der Wirklichkeit dargestellten Geist eines Volkes, als höchste Form der sittlichen Idee. A l s solcher ist der Staat einmal das Ethos, die Sitte, die Gewohnheit des Lebens im V o l k e . U n d zum andern ist er das politische Selbstbewußtsein, der politische W i l l e und das politische Handeln des Volkes. W i e der substanzielle W i l l e des Staates daher seiner Wirklichkeit in dem zum Allgemeinen erhobenen Selbstbewußtsein erlangt, so erlangen auch die einzelnen Menschen erst im Verhältnis zum Staat ihre Wahrheit, Sittlichkeit und Freiheit — um frei zu sein, muß der Mensch den Willen des Staates in sich aufnehmen. D e m höchsten Recht des Staates auf den einzelnen Menschen entspricht damit die höchste Pflicht des Einzelnen, Mitglied des Staates zu sein — das Individuum hat nur als Glied eines Volkes und Staates Wirklichkeit und Sittlichkeit. So bildet der Staat, indem er den Individuen ihre persönlichen Rechte in der Familie und in der bürgerlichen Gesellschaft beläßt, eine „selbständige Gewalt, in der die einzelnen Individuen nur Momente sind". Denn er ist in Wahrheit eben der „ G a n g Gottes in der W e l t " . U n d als solcher stellt er sich dem Individuum dar als „äußerliche N o t w e n d i g k e i t " und zugleich als „höhere Macht", deren Ausdruck die Gesetze und deren Wesen die Herrschaft ist. Auch hier, in der Staatslehre, siegt mithin die absolutierende Idee über die historisierende, der neue Geist über den alten, das rationale über das konservative Element. Hegel erkennt z w a r den Einzelnen in der Familie und in der bürgerlichen Gesellschaft als Ständeordnung an, aber er hebt ihn nach dieser Anerkennung dialektisch wieder auf, um ihn der Macht und Notwendigkeit des Staates zu unterstellen, dem als absoluter T o t a l i tät des Sittlichen im V o l k e ein erdrückendes Übergewicht verliehen wird, w o v o n nichts Individuelles verschont bleibt. U n d ganz folgerichtig entspricht der Verkettung von Individualitätsidee und Identitätsidee, die das Gesamtwerk bestimmt, auch hier in der Staatsphilosophie das Vorhandensein etwa der Ständelehr.e mit ihrer Betonung der Besonderheit, Natürlichkeit und Stetigkeit einerseits und die Stellung des Prinzips der Staatsräson oder des Machtstaatsgedankens andererseits. Staatsräson und Machtstaat, denen Hegel aus der Eigentümlichkeit seines doppelpoligen Denkens heraus zu einer philosophisch legitimen Begründung verhilft, überspielen dabei gleich-

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sam, der rationalen Tendenz im Gesamtwerk entsprechend, die aus der konservativen Komponente stammende Ständelehre. Die bürgerliche Gesellschaft, die als Ständeordnung in Erscheinung tritt und das Volk in der Welt des Besonderen zeigt, geht zusammen mit der Familie als Moment in der dialektischen Entwicklung zum Staat auf. Dieser Staat Hegels aber ist Machtstaat und handelt nach dem Prinzip der Staatsräson, ohne sich viel um die Belange des Individuums zu kümmern — stellt er doch den „Gang Gottes in der Welt" dar und das heißt die höchste irdische Form des Weltgeistes, der Weltvernunft, der absolut gesetzten Ratio. Es ist nun vor allem diese Einstellung Hegels zum Prinzip der Staatsräson und sein Machtstaatsgedanke, die in der Regel gemeint sind, wenn man ihn als konservativen Denker hinstellt und ablehnt oder verurteilt. Und gerade diese beiden Prinzipien, die unleugbar den praktischen Kern der politischen Wirkung seiner Staatsphilosophie bilden, gehören offenkundig nicht auf die Seite der Individualitätsidee und der konservativen Komponente seines Denkens, sondern auf die Seite des rationalen Gegenpols des konservativen Gedankens. Denn das Prinzip der Staatsräson wie der Machtstaatsgedanke sind ihrer modernen Herkunft und Ausbildung nach Bestandteile der Theorie des aufgeklärten Absolutismus als rationaler Herrschaftspraxis, ihrer einstigen Entstehung und Entwicklung nach aber Produkte der Anfänge des europäischen Rationalismus in der Hochrenaissance, dem Zeitalter des sich mit Hilfe der Ratio selbst entdeckenden Individuums. Beide Prinzipien waren und blieben denn auch in Deutschland lange Zeit auswärtiger Import, der durchaus als solcher empfunden wurde. Mit ihnen ohne weiteres den konservativen Gedanken zu belasten, ist also ebenso unzulässig, wie Hegel gerade ihretwegen als konservativen Denker zu bezeichnen. Sowohl das Prinzip der Staatsräson als auch der Machtstaatsgedanke sind als Ausdruck von Rationalität und Triebhaftigkeit dem konservativen Denken von sich aus völlig fremd und direkt entgegengesetzt. Das geht schon daraus hervor, daß ja gerade sie es sind, gegen die sich dieses Denken von Anbeginn wendet, an denen es sich entzündet hat und von denen es immer wieder in seiner echten Form auf den Plan gerufen wird. Es heißt das konservative Wesen deshalb gänzlich mißzuverstehen, seine gesamten historischen und systematischen Vorausetzungen gründlich zu verkennen und die geistig-seelische Entwicklungsgeschichte der modernen Zivilisation überhaupt zu verfälschen, wenn man den konservativen Gedanken in eine ur-

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sächliche Beziehung zu Staatsräson und Machtstaat bringt. Vielmehr gilt es zu sehen, daß es sich gerade in dieser Hinsicht bei Haller, bei Hegel wie beim gesamten Legitimismus um den inneren Vorgang einer Übermächtigung der Originalität des konservativen Denkens durch den offen oder heimlich vordringenden Rationalismus der Epoche handelt. Und dadurch1 enthüllen sich dann des weiteren auch all die Kämpfe der legitimistischen Monarchie mit den modernen Ideologien in erregender Konsequenz als der tragische Konflikt der triebentbindenden Ratio mit sich selbst — daraus erst erwächst nämlich der Charakter einer ausweglosen Feindschaft, der diesem geheimen Bruderkampf eignete. Bezeichnenderweise gebrauchte Hegel den Begriff der Staatsräson, die durch die Kabinettspolitik des Absolutismus so diskreditiert worden und dann in der Französischen Revolution namens der Volkssouveränität mit ungleich viel schrecklicheren Folgen auch in das neue Zeitalter eingetreten war, nicht. Vielmehr bediente er sich zur Benennung derselben Sache eines erst von der naturrechtlichen Aufklärung geschaffenen Begriffs. Das „Prinzip des allgemeinen Besten", das der nicht minder despotische Nachfolger der Staatsräson wurde, durfte sich wie jene ebenfalls zugunsten allgemeiner Zwecke über die privaten Rechte des Individuums hinwegsetzen. Hegels Auseinandersetzung mit den Lehren Macchiavellis, des italienischen „Entdeckers" der Staatsräson und des Machtstaates, zeigt denn auch unmißverständlich, daß beide Begriffe denselben Inhalt besitzen. Geschichtliche Erfahrung und philosophische Spekulation treffen sich hierbei, um diesen Inhalt in verwandelter Gestalt aufs neue hervorzubringen. Da das Identitätsdenken mit dem Bestreben, alles einer rationalen Idee unterzuordnen, Hegel zu der Auffassung geführt hatte, daß die Vernunft sich in der Geschichte offenbare und der wirkliche Staat auch der vernünftige Staat sei, konnte und mußte auch der „Macchiavellismus" in diese Geschichts- und Staatslehre aufgenommen werden. Ohne Zweifel leistete der Staat unter der Leitung der Staatsräson die bedeutendsten Beiträge zur Verwirklichung des Weltgeistes in der Geschichte. War er doch als die große Klammer zur Verkettung der Individualitätsidee mit der Identitätsidee im philosophischen System eben das Mittel zur Verbindung zwischen dem subjektiven Besonderen und dem absoluten Allgemeinen. Fehlte es dem Staat nun an Macht, deren schärfste Waffe die Staatsräson ist, dann war es auch um sein Schicksal schlecht bestellt. Dies lehrte tiefwirkend der damalige Zusammenbruch des Reiches und das Schauspiel der Herr-

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schaft Napoleons über Europa. Schon in der frühen Schrift über die Verfassung Deutschlands erkennt daher Hegel, daß vor allem die Fähigkeit zur Selbstbehauptung und also Macht zum "Wesen des Staates gehört. Denn die höchste Pflicht des Staates ist die Selbsterhaltung. Und deshalb bekennt er sich zu Macchiavelli und der kühnen Rationalität des Humanisten aus Florenz, der gleichfalls in einer Epoche des politischen Zusammenbruchs gelebt und „mit kalter Besonnenheit die notwendige Idee der Rettung Italiens durch Verbindung desselben in einen Staat" konzipiert hatte. Vor der Notwendigkeit dieser Idee mußten alle Bedenken schweigen, ihr mußten alle Mittel dienen. Auf der Grundlage solcher Erlebnisse, Erfahrungen und Erkenntnisse entwickelte sich in Hegels Denken der Machtstaatsgedanke. Der Machtstaat war mit geheimnisvoller Übereinstimmung von Staatsgeschichte und Denkgeschichte sowohl Ausdruck seines Wunsches nach Rettung und staatlicher Einigung Deutschlands wie Ergebnis seiner Spekulation im philosophischen Gesamtsystem. Als solcher fand er in der Staatsphi'losophie eine endgültige Gestalt: Die überindividuelle Wesenheit des Staates erschien hier auf der höheren Verwirklichungsebene der Vernunft wiederum als besondere Individualität, die wie das einzelne Individuum eigene Rechte hatte. Der Staat war in Wahrheit individuelle Totalität mit einem speziellen Lebensgesetz, für das die allgemeinen Moralgebote nicht mehr gelten. Infolgedessen hat er seine eigentümliche Sittlichkeit für sich, die ein übergeordnetes Recht von alles bezwingender K r a f t begründet. Und dies Recht spricht sich am sichtbarsten im Staatsinteresse, in der Staatsräson aus. Damit ist der reale Staat dann wirklich der vernünftige Staat geworden, damit ist aber auch die Staatsräson samt ihren abgründigen Möglichkeiten zum Bösen sanktioniert. Denn auch der elementare Machttrieb wird durch die List der Vernunft in den Dienst des Weltgeistes gestellt, der letztlich immer Gutes aus allem Bösen hervorgehen läßt. Diese Anerkennung und Erneuerung des Machtstaatsgedankens und des Prinzips der Staatsräson durch Hegel hat im Fortgang des in seiner Philosophie schon so nachdrücklich angelegten Prozesses der modernen Säkularisation zu außerordentlichen Folgen geführt, die uns bei der Betrachtung des modernen Nationalismus noch genauer beschäftigen werden. Hegel selbst hat allerdings, wie schon seine Grundkonzeption von der Weltgeschichte als Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit zeigt, nicht eigentlich die Macht, sondern die Kultur mit der Ausbildung von Kunst und Wissenschaft als

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das höchste Ziel des Staates gesehen. Und wie schon seine Staatsphilosophie aus dem gesamtdeutschen Erlebnis der napoleonischen Zeit erwachsen ist, wie er die durchaus modern gefaßte Nationalität als Grundlage alles lebendigen Lebens beurteilte, so weist auch sein Machtstaatsgedanke über die engen Grenzen des damaligen Preußen hinaus bereits deutlich auf den deutschen Nationalstaat hin. Infolgedessen kann er, der wie das preußische Fürstenhaus aus dem schwäbischen Süddeutschland stammte, auch nur mit gewissen Einschränkungen als preußischer Staatsphilosoph bezeichnet werden. Wenngleich Hegel nämlich der preußische Staat als geeigneter Boden für seine Begriffe von Recht, Sittlichkeit und Staatsleben erschien — eine direkte Verteidigung des damaligen Legitimismus in Preußen wollte sein System keineswegs geben, wie die heftige Ablehnung der „Restauration der Staats Wissenschaft" Hallers durch ihn deutlich beweist. Sah er sich' doch sogar auf seinem Berliner Lehrstuhl lange Zeit hindurch unliebsamen Verdächtigungen wegen des „unseligen Mystizismus" seiner Lehre ausgesetzt, blieben doch er und seine Freunde nicht unbehelligt von der „Demagogenschnüffelei" des legitimistischen Regimes. Hegel hat also die staatliche "Wirklichkeit des damaligen Preußen nicht einfach als das Vernünftige schlechthin betrachtet, trotzdem sie hier und da — wie in der Vorrede zur Rechtsphilosophie, die er als erstes großes Werk zwei Jahre nach seiner Berufung an die Berliner Universität veröffentlichte — bejaht wird. Wenige Jahre nach Hegels Tode wurde seine Staatslehre überdies wegen ihrer „antipreußischen Richtung" öffentlich angegriffen, was ein Hinweis dafür sein mag, daß schon ihre Zeitgenossen sie keineswegs schlechthin als direktes Vorbild für den Staat der Restauration begriffen, wie es die liberale Geschichtslegende später in ungerechtfertigter Vereinfachung des wahren Sachverhalts glauben machen wollte. Die ganze Anlage des umfassenden philosophischen Systems Hegels drängte trotz mancher Konzessionen an Ort und Stelle seines Wirkens vielmehr ganz offensichtlich in größere Weiten, wie die Zukunft bestätigt hat. Und erst insofern war und wurde er dann der preußisch-deutsche Staatsphilosoph, der einen verhängnisvollen Einfluß auf das künftige machtpolitische Denken in Deutschland gewann, indem er verkündete: „Die Philosophie verklärt das Wirkliche, das unrecht scheint, zu dem Vernünftigen" und jene verderbliche Lehre von der List der Vernunft schuf, die sich ihm als logisches Ergebnis aus der Identitätsphilosophie ergeben hatte. Da er mit seinem philosophi-

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sehen Denken noch wesentlich in dem ethischen Idealismus wurzelte, den auch die anderen großen Denker seiner Zeit vertraten, vermochte er selber die realen Folgen gerade seiner Staatsphilosophie und ihr weiteres Geschick allerdings nicht zu ermessen. Er ahnte nicht, daß sie schließlich selbst zu einem Instrument jener List der Vernunft werden sollte, mit dem dann der triebentbindende Rationalismus, in ein durchsichtiges pseudokonservatives Gewand gehüllt, seinen Sieg vorbereiten konnte. Wie wenig Hegel allgemein zu seiner Zeit als echt konservativer Denker angesehen wurde, das bestätigt der dritte derjenigen Systematiker, die den konservativen Gedanken auf die abschüssige Bahn des Pseudokonservatismus führten: Friedrich Julius Stahl (1802—61). Als Stahl zwei Jahre nach Hegels Tod seine eigenen Vorgänger auf dem Wege der konservativen Theorie aufzählt und kritisch bespricht, nennt er Burke, Müller, Haller, Savigny und die Historische Schule, aber Hegel nicht. Im Gegenteil erkennt und verwirft er den extrem rationalistischen Charakter der Hegeischen Philosophie in denkbar scharfer und ironischer Weise. Stahl setzt sich von Anfang an ausdrücklich gegen Hegels abstraktes Denken und die „Unwahrheit seines aufs äußerste getriebenen Systems" ab, das ihm als Gipfel des Rationalismus erscheint. Und folgerichtig nimmt er den Faden Müllers wieder auf und bekämpft das säkularisierte Naturrecht, in dem jener den größeren Gegner des konservativen Gedankens erstmals klar erfaßt hatte — das Denken Hegels, dessen Ergebnisse ihm zu „Produkten der mechanischen Abwindung einer Formel" werden, unterschied sich für Stahl nur durch noch größere Willkür von dem älteren, gewohnten Naturrecht. Insofern war Stahl der Träger eines echt konservativen Elements, wie wir noch sehen werden. Aber wenn er auch kein Hegelianer gewesen ist, so hat ihn nach seinem eigenen Bekenntnis doch Schelling und dessen Identitätsphilosophie frühzeitig tief beeinflußt. Dieser Einfluß bestimmte auch seine spätere Lehre, mit der er den konservativen Gedanken weiter sich selbst entfremdet und, obwohl in anderer Weise als Haller oder Hegel, ebenfalls in eine unechte Form gebracht hat. Wenngleich er sein System als ein „Anschauen der Totalität" bezeichnete, so wurde es doch nur ein weiterer Schritt auf dem Wege zum Pseudokonservatismus, in den sich mühelos allerlei fremde Bestandteile einfügen ließen. Bereits im Ansatz ist Stahls endgültiges System nicht mehr echt konservativ. Er sieht den konservativen Gedanken nämlich lediglich als Legitimität und seinen Gegenpol als Revolution. Hiermit faßt er den vorhandenen

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Gegensatz zwar wesentlich politisch und gibt eine den damaligen Zuständen gemäße Antwort auf die Zeitlage. Denn nach wie vor bestimmte das Erlebnis der Französischen Revolution mit ihrem Machtrausch fanatisierter Massen, durch die ihr folgenden Revolutionen immer wieder von neuem beschworen, die fortschreitende Entwicklung des Jahrhunderts. Aber Stahl faßt den vorhandenen Gegensatz, wie sich dann bei der Ausführung seines politischen Systems zeigt, mit dem Begriffspaar Legitimität—Revolution praktisch doch zu eng oder zu kurz und verliert darüber die eigentliche Intention des konservativen Gedankens, der nur noch in einzelnen Elementen und Prinzipien erhalten bleibt. Revolution als System, die es dem Begriff und der Sache nach vollständig erst seit 1789 gibt, bedeutet für Stahl eine Umkehrung des bestehenden Herrschaftsverhältnisses, so daß Obrigkeit und Gesetz grundsätzlich und dauernd nicht über, sondern gewissermaßen unter dem Menschen stehen. Deshalb heißt Revolution in diesem Sinne: die Souveränität des Volkswillens, die Entgliederung der historisch gewachsenen Gesellschaft und die Unterordnung der überlieferten Einrichtungen unter die Menschenrechte statt einer Bemessung der Menschenrechte nach den überlieferten Einrichtungen. Sie ist mithin nicht notwendig Empörung gegen den Herrscher, Vertreibung der Dynastien oder Umwandlung von Monarchien in Republiken und kann durchaus in friedlich-legaler Weise, ohne Blutvergießen und mit Belassung der Fürsten durchgeführt werden. Die Parteien der Revolution sind demnach nicht etwa nur Organisationen des Umsturzes und der Empörung, sondern insgesamt bestimmte Gruppen, die die Prinzipien der Revolution in solchem Verstände verwirklichen wollen. Demgegenüber stehen die Parteien der Legitimität. Sie erkennen über dem Volkswillen und den Zwecken der Herrschaft etwas Höheres und unbedingt Bindendes in Gestalt einer gottgesetzten Ordnung an. Das heißt, sie lassen neben und außer dem Recht und Nutzen des Menschen und der Freiheit des Volkes oder der mechanischen Sicherung der Gesellschaft noch einen anderen Grund und Maßstab der Staatsordnung gelten — vor allem gegebene Autorität, geschichtliches Recht und natürliche Gliederung des Ganzen. Aus dieser Auffassung wächst deshalb eine Ablehnung aller Revolutionen, und auf ihr beruht auch die Scheidung der politischen Parteien in eine „Rechte" und eine „Linke". Als solche bilden sie zusammen die eine Seite der eigentlichen Signatur des Zeitalters. Ihre andere Seite bilden die „kirchlichen Parteien" des Glaubens und des Unglaubens, wobei beide, die politischen und die kirch-

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liehen Parteien, ihrem Wesen nach jeweils ein untrennbares Ganzes darstellen. In ausführlicher Schilderung entwirft nun Stahl nach den Stidiworten des Liberalismus, des Konstitutionalismus, der Demokratie, des Sozialismus und des Kommunismus ein scharf umrissenes Bild der verschiedenen Parteien der Revolution, wie sie sich bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelt hatten. Sie wurzeln sämtlich im Rationalismus, aus dem der ganze Ideenkreis hervorging, dessen letzte Vollendung eben die Revolution ist. Die Große Revolution in Frankreich hat der Vorstellung, daß die Aufgabe des mit ihr eröffneten neuen Zeitalters der Fortschritt zur Freiheit sei, zum allgemeinen Leben verholfen. Aber der unbedingte Freiheitswille, dem sie politischen Ausdruck gab, führt in seiner Konsequenz, wie schon die Ereignisse im Westen Europas gezeigt haben, gar nicht zur wahren Freiheit des Friedens, der Ordnung und der Sittlichkeit, sondern zu einer falschen Freiheit des Unfriedens, der Unordnung und der Unsittlichkeit. Und zwar deshalb, weil er die alten Bindungen des Menschen unter Berufung auf die Vernunft lockert und löst, indem er die fortwährende Steigerung der individuellen Rechte zu seinem alleinigen Ziel macht. Diese Freiheitsbestrebung „entledigt den , Menschen detf Fesseln und Bande, aber sie versetzt ihn in die sittliche Wüste" — das zeigt ihm lange vor dem Beispiel Frankreichs schon das Schicksal der alten Römer in den letzten Zeiten der Republik, wo gleichfalls jene völlige Freiheit herrschte und sich infolgedessen der Untergang in Unfrieden, Unordnung und Unsittlichkeit anmeldete. Denn die Revolution als Träger des absoluten Freiheitsstrebens zerstört wegen der Radikalität ihres gänzlich voraussetzungslosen Denkens die Ehrfurcht und Achtung der Menschen untereinander und vernichtet dadurch den innersten Lebensgrund der Gesellschaft. Sie entgliedert den Gesellschaftsorganismus durch eine nivellierende Entwurzelung ihrer Mitglieder und führt durch die Verachtung der überlieferten Sittlichkeit eine gefährliche Abstumpfung des privaten und vor allem des öffentlichen Bewußtseins herbei. Als solches entstammt dies Streben aber zweifellos dem rationalen Naturrecht, dem großen Instrument des modernen Individualismus, dessen jüngste politische Erscheinungsform die Lehre von der Volkssouveränität ist. Die Parteien der Revolution stehen trotz ihrer oft tödlichen Feindschaft untereinander doch alle auf einem Fundament: Gegensatz und Kampf gegen die ganze natürliche Entwicklung der früheren Jahrhunderte und damit gegen die alten Grundlagen der Gesellschaftsordnung. Eine genaue Prüfung

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ihrer Gedanken und Überzeugungen, ihrer Ziele und Programme ergibt deshalb letzten Endes auch durchweg dasselbe Resultat. Ein unbedingter Freiheitswille treibt im Verlauf der Entwicklung alsbald einen ebenso unbedingten Gleichheitswillen aus sich hervor. U n d dieser Gleichheitswille ist nichts anderes als die logische Folge jenes Freiheitswillens. Welche Partei man auch nimmt, überall setzt der. rationale Fortschritt, indem er die alten Bande und Fesseln vor dem Forum der menschlichen Vernunft verurteilt und vernichtet, den Freiheits- und Gleichheitsdrang frei und endet in einer verhängnisvollen Maßlosigkeit des egoistischen Begehrens, sowohl der einzelnen Individuen als auch der kollektiven Gruppen innerhalb des politischen Lebens. So muß denn der Fortschritt zur Freiheit aus seinem eigenen Gesetz heraus, das von innen her kein Einhalten auf dem einmal eingeschlagenen Wege zu erlauben scheint, zum Schluß notwendig bei der Verneinung und Zerstörung der gesellschaftlichen Grundlagen überhaupt enden. Oder er muß, wenn solche Parteien wie der Sozialismus oder der Kommunismus ihre Ziele mit Zwang und Gewalt gegen die Andersgesinnten durchsetzen, zu neuer Unfreiheit führen. Dabei verkennt Stahl keineswegs die natürliche Entwicklung. Das heißt, bei seiner Schilderung der Parteien der Revolution, die an unwiderleglidhen, weil inzwischen längst bestätigten Beobachtungen so reich ist, werden ausdrücklich die auch von seinem Standpunkt aus sichtbaren Wahrheiten des Liberalismus und des Sozialismus anerkannt. Beim Liberalismus ist das, gegen den Absolutismus gerichtet, die Forderung nach politischem Einfluß des Mittelstands und der Schutz der persönlichen Freiheit. Beim Sozialismus dagegen ist es, gegen den liberalen Kapitalismus gerichtet, die Verwerflichkeit der unbeschränkten Konkurrenz, der Wert der wirtschaftlichen Assoziation sowie die Notwendigkeit einer Verbindung zwischen dem Sozialen und dem Politischen. Doch die damit zugegebenen Mängel und Übel des vorhandenen gesellschaftlichen Zustandes sind nach Stahls Ansicht nicht, wie der rationale Radikalismus aus seiner Sicht heraus meint, in den Einrichtungen der bestehenden Lebensordnung begründet. Denn sie wurzeln in Wahrheit einzig und allein im menschlichen Herzen. Alles nur institutionelle Denken beseitigt die Kälte des Herzens nicht, die den wirklichen Grund für jene Mängel und Übel bildet. Und damit sieht Stahl nicht nur den Gegenpol des konservativen Gedankens so klar, wie es ihm zu seiner Zeit möglich war, sondern er dringt auch schon bis zur Grenze des inneren Sachverhalts vor, der dem späteren

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Bankrott der modernen Ideologien und ihrer politischen W e l t psychologisch zugrunde liegt. A b e r die Erfassung des konservativen Gedankens in seiner echten K o n sequenz ist Stahl dennoch dadurch verwehrt, daß er ihn nur als Legitimität begreift. Dadurch bleibt er nämlich alsbald in der ganzen Problematik stecken, die den politischen Legitimismus mit seiner pseudokonservativen Lehre begleitet. U n d dieser Problematik fällt hier der konservative Gedanke in seiner Reinheit genau so zum O p f e r w i e bei den Vorgängern. Stahls politische Lehre erweist sich daher trotz seiner richtigen Einsichten nur als eine ständische Herrschaftsideologie von beschränkter Geltung. Unter dem Druck der Zeitverhältnisse verflüchtet sich die eigentlich konservative Intention wieder, weil sie mit Zwecken v e r k n ü p f t wird, die ihr von sich aus weder eigen noch zuträglich sind. Dieser Vorgang, der in der W e n d u n g zum System schon vorgezeichnet ist, kommt im einzelnen folgendermaßen zustande. Die Anhänger der Legitimität haben sich im Gegensatz zur Revolution als eine Partei gebildet, die nicht bloß auf dem Negativum der A b w e h r , sondern auf dem Positivum des ganzen Gehalts der natürlichen und geschichtlichen Ordnung beruht. A l s solche ist diese Partei in ihrem Programm älter als die Revolution. Denn ihr Programm ist in Wahrheit so alt wie die menschliche Gesellschaft selber, weil es nicht v o n einer eigens begründeten Theorie abgeleitet w i r d und die vorgefundene Ordnung als religiöse, sittliche und rechtliche Tradition zum Inhalt hat. „Es ist nicht ein scharf durchgeführtes System, seine Forderungen sind nicht logische Konsequenzen eines Satzes, nicht die Mittel für einen bestimmt vorgesetzten Z w e c k . " Es hat vielmehr „die Fülle und Totalität der sittlichen W e l t mit ihren mannigfaltigen und ins Unendliche verschränkten Prinzipien und Zwecken" zur Grundlage. D e n Ursprung dieser Legitimität sieht nun Stahl aber — und auf solche A r t wird der konservative Gedanke, der mit der Einsicht in die Gefahren des naturrechtlichen Denkens gegeben ist, sogleich entscheidend abgelenkt — einzig in den Bestrebungen zur Erhaltung der angegriffenen königlichen Autorität, wie sie sich in der englischen, französischen und schließlich auch in der deutschen Geschichte gezeigt haben. D a m i t bringt er den konservativen Gedanken tatsächlich schon im K e i m gerade mit seinem frühesten Gegner, dem Absolutismus als rationaler Herrschaftspraxis, in eine ursächliche Beziehung. Er stellt den Konservatismus, der sich doch als Gegensatz zum bürokratischen Zentralismus der absoluten Monarchie ent17

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wickelt hatte, in den Dienst seines ersten Widersachers und bildet auch seinerseits den Absolutismus ideologisch zum Legitimismus um, wie das vor ihm aus der bereits erörterten Zwangslage gegenüber dem größeren Gegner des Naturrechts schon andere taten. Doch bei Stahl wird das eigentlich konservative Element jetzt, um die Jahrhundertmitte, aus naheliegenden Gründen noch weitaus schwächer als etwa bei Müller, wo unter dem legitimistischen Firnis ja eine äußerst wirksame konservative Schicht maßgebend war, die die legitimistische Lehre veredelte. Diese Veredelungstendenz des konservativen Elements findet sich zwar auch noch bei Stahl, dessen ganzen Werk unbestreitbar von sittlichem Ernst getragen ist. Aber das politische System Stahls wirkt im Rückblick bedeutend enger und flacher als die Lehren seiner Vorgänger, weil es noch weit mehr einem ganz ideologischen Ziel dient. Das rationale Zweckdenken der fortschreitenden Zivilisation hat hier, wie sich ohne Schwierigkeit erklärt, auch seinen Widersacher gleichsam hinterrücks so sehr ergriffen, daß die alten Argumente demselben unter der Hand bloß zur Verhüllung ähnlicher Antriebe werden, wie sie der Gegner zeigt. So kann alle eindrucksvolle Ausbreitung konservativer Argumente nicht verbergen, daß das Ziel der ganzen Theorie Stahls und die Absicht seiner gesamten Lehre nichts anderes ist als der Legitimismus als Herrschaftssystem, und das heißt als eine bestimmte Machtordnung, die aus dem Absolutismus kommt und dessen Erben den Besitz der Macht sichert. Daß Stahl diesen Mangel einer Ideologisierung seines politischen Ziels selber empfunden oder zumindest doch ahnungsweise gespürt hat, ist angesichts seiner Kritik an den verschiedenen Gruppen der Legitimitätspartei und vor allem einer Warnung vor dem Irrweg des „Junkertums" daraus zu schließen, daß er seinem System eine betont religiöse Grundlage gegeben hat. Er knüpft hierbei offensichtlich nicht so sehr bei den Romantikern der Historischen Schule an, die die nahe systematische Beziehung des konservativen Denkens zur Religion überhaupt erkannt und mit tiefer sittlicher Frömmigkeit ausgeschöpft hatten, als vielmehr bei Müllers spätem Entwurf einer theologischen Theorie der Staatswissenschaften. Aber diese religiöse Grundlage des Systems, die von dem Wunsch nach einer christlichen Wissenschaft und Staatslehre getragen ist, bereitet trotz aller subjektiven Uberzeugung doch nur den Boden für eine Formel vor, unter deren Schutz der politische Konservatismus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts endgültig zur rationaltriebhaft bestimmten Ideologie wurde — die Formel von „Thron und Altar".

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Entsprechend dem historischen Ursprung der Legitimität sind für Stahl die vorherrschenden Träger der gleichnamigen Partei die Fürsten, der Adel, die Armee sowie die Geistlichkeit. Ihr weiterer Boden aber ist die ganze menschliche Gesellschaft, da alle Menschen von Natur aus an die Grundsätze derselben gebunden sind. Das oberste und eigentlich einzige Prinzip dieser Partei der Legitimität besteht daher in der göttlichen Sanktion der Obrigkeit, ohne Rücksicht auf die besondere Staatsform. Dabei kann die königliche Gewalt durch eine Verfassung beschränkt sein, die auch das Recht zum passiven Widerstand enthalten mag. Mit jener Formel von „Thron und Altar", mit der er sein pseudokonservatives System wesentlich begründet, konnte sich Stahl auf eine lange und alte Tradition stützen, die von erheblicher Bedeutung nicht nur für den damaligen Legitimismus, sondern auch für die politische Entwicklung in Deutschland überhaupt war. Die Politik der norddeutschen Landesfürsten war nämlich jahrhundertelang vom Geist der Reformation bestimmt, die die weltliche Obrigkeit von Gott eingesetzt glaubte. Als ihre Aufgabe galt es, eine feste Rechtsordnung herzustellen, die Guten zu schützen, die Schlechten zu strafen und die Menschen zu Gerechtigkeit und Wahrheit zu erziehen. In diesem Geiste war, solange die religiösen Impulse noch alles Leben beherrschten, der protestantische Fürstenstaat auf deutschem Boden, wo die neuen Probleme der Machtkonzentration und des Machtkampfes längst nicht so stark wie im Westen Europas auftraten, vor allen Dingen ein christlicher Erziehungsstaat. Als solcher hat er die deutsche Bevölkerung zumal in ihren bürgerlichen und bäuerlichen Schichten damals zu einer strengen Rechtlichkeit, ganz unpolitischen Ehrbarkeit und nüchternen Arbeitsamkeit erzogen. Derartige Eigenschaften waren auch gleichsam das geistig-seelische Klima, in dem die gläubige Verehrung für die geschichtlich gewachsene Autorität des angestammten Fürstenhauses in der Bevölkerung emporwachsen konnte, ohne von dem allmählich vordringenden Prinzip der Staatsräson behindert zu werden, das Religion und Sittlichkeit unberührt ließ, da das fürstliche Gewissen noch lange an die Schranken von Glaube und Recht gebunden blieb. An solch tiefwurzelnde Tradition konnte der deutsche Legitimismus — hierbei in gänzlich anderer Lage als etwa der französische, der denn auch bald unterging, oder der russische, der in einem düsteren Despotismus entartete — mit bedeutendem Erfolg anknüpfen, als die Französische Revolution die dämonischen Gewalten der Tiefe ans Licht rief und mit einem 17*

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explosiven Ausbruch nationalen Machttriebes das neue Zeitalter eröffnete. Auf dieser Tradition baute auch Stahl auf, wenn er seine Staatslehre auf das „göttliche Recht der Obrigkeit", auf die „Hingebung unter ein höheres Walten und das, was von Gott gefügt und nicht von Menschen gemacht wurde" begründete, den „König von Gottes Gnaden" in Gegensatz zum „König durch Volkswillen" stellte und als das wesentliche Kennzeichen der Legitimitätspartei nicht die „Herrschaft von unten", sondern die „Herrschaft von oben" erklärte. Von diesem Grundsatz des göttlichen Rechtes der Obrigkeit aus unterscheidet Stahl im weiteren Ausbau seines Systems drei Richtungen innerhalb der Legitimitätspartei: die absolutistische, die feudalistische und die konstitutionelle oder die Anhänger der absoluten, der ständischen und der verfassungsmäßigen Monarchie. Die zahlenstärkste Gruppe ist hierbei diejenige der absoluten Monarchie, was auf alte Anhänglichkeit und Gewöhnung an überkommene und vorhandene Zustände zurückgeht — ihre meisten Anhänger hat sie unter der bäuerlichen Landbevölkerung. Die Vertreter des Ideals der ständischen Monarchie dagegen stehen auf dem Boden der Theorien Hallers. Ihr Hauptgewicht liegt auf der Patrimonialobrigkeit, und sie erstrebt als durchgehende Gliederung des Staates eine Art von „Unterlandeshoheit". Die Verwirklichung dieses Ideals erscheint Stahl jedoch als unmöglich, weil es gegen den Sinn der Entwicklung gerichtet ist, obwohl ihm der Widerstand gegen die fortschreitende liberale Entgliederung und Nivellierung der Gesellschaft auch eine positive Seite gibt. Die dritte Gruppe schließlich ist diejenige der institutionellen Legitimisten, das heißt der verfassungsmäßigen Monarchie, die Stahl selber als Standpunkt und Lehre vertritt. Sie stellte das Programm der parlamentarischen Rechten in Preußen um die Mitte des Jahrhunderts dar. Als wichtigste Punkte dieses Programms seien hier in Stahls Formulierung nicht nur der Vollständigkeit halber, sondern auch weil in ihnen die Anpassung des politischen Konservatismus an die Zeitentwicklung und damit zugleich die Brücke zu seiner Zukunftsform deutlich zutage tritt, folgende angeführt: Obrigkeit von Gott, historisches Recht, natürliche Gliederung der Gesellschaft. Fortbildung der bloß persönlichen Abhängigkeitsverhältnisse zu öffentlichen Institutionen von innerer Gesetzmäßigkeit. Überführung der selbständigen geschichtlichen Herrschaften in ein ungeteiltes, in sich gegliedertes Reich, und daher Anerkennung des Staatsgedankens mit der Umwandlung aller persönlichen Herrschaft überhaupt in institutionelle — so

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auch der Patrimonialobrigkeit in die Funktion einer einigen, alleinigen Staatsobrigkeit. Wesentliche Gemeinschaft und Gleichheit aller Staatsgenossen — mit Vorrang vor den Ständen — in einem Volke, einem Staat, einer Nation. Als Regierungsform die ständisch-konstitutionelle Monarchie mit Einheit des Staates, Einheit der Nation und Herausbildung des öffentlichrechtlichen Charakters. Ständisch-aristokratische Landesvertretung und selbständige Regierungsgewalt des Königs, ausgedrückt im absoluten Vetorecht der Krone. Angesichts dieser aus der spannungsreichen Zeitsituation erklärlichen Programmpunkte, die mit ihren verschiedenartigen einzelnen Inhalten Absolutismus, Konservatismus und Liberalismus in eine harmonische Synthese zu bringen versuchten und auch für lange Jahre tatsächlich eine praktische Verwirklichung fanden, konzentriert sich das konservative Element bei Stahl vornehmlich auf das, was er als historisches Recht und natürliche Gliederung bezeichnet. Das historische Recht ist ebensowenig das abstrakte Natur- oder Vernunftrecht wie das positive Recht, das durch den Staat als formell geltendes Gesetz geschaffen wurde. Vielmehr ist es das überlieferte Recht in seiner natürlich gewordenen Geschichtlichkeit, das „ursprünglich auf Herkommen und Gewohnheit, das auf einzelnen Gesetzen aus verschiedenen Zeiten ruht, aber dessen erster Stamm und Fundament nicht die Wirkung menschlicher Reflektion und menschlicher Einführung, sondern die Wirkung von Natur und Geschichte ist". Denn die Ehrfurcht der Menschen knüpft sich nicht an das künstlich eingeführte Gesetz, sondern an das gegebene, gewordene, überkommene Recht in seinem bindenden Gehalt als Norm über den Menschen — ersteres ist gemacht, wird formell anerkannt und befolgt, letzteres aber ist gewachsen und wird in seinem inneren Wert um so lebendiger erlebt, je mehr es, wie zum Beispiel die ungeschriebene englische Verfassung, den reinen Gesetzescharakter verloren hat. Daher ist die Kontinuität des Rechts, das heißt die Stetigkeit der Rechtsentwicklung das Ziel dieser Auffassung vom Wesen des Rechts, aus der als Programmpunkt die Bejahung der historischen Verfassung und die Ablehnung der oktroyierten oder der konstituierten Verfassung folgt — auch für diese Kontinuität des Rechts ist wieder England das große Vorbild, weil dort keine Institution ganz über Bord geworfen, sondern das Bestehende im Verlauf der natürlichen Entwicklung nur fortgebildet wird. Und die natürliche Gliederung des Volkes bedeutet für Stahl eine „Gliederung nach den natürlichen Unterlagen, Bedürfnissen und Auflagen der

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Gesellschaft, nach den Mächten, welche die Gesellschaft bestimmen, also nach Besitz, Erwerbszweig, Lebensberuf im Gegensatz gegen den Aggregatismus der Revolution". Das erfordert „Korporationen, genossenschaftliche Verbände der Stände, Gemeinden, Kreise, Provinzen; und will Autonomie (Selfgovernment) dieser Korporationen". Das aber heißt „Dezentralisation. Die Provinzen sollen ihre provinziellen Interessen versorgen, die Städte ihre städtischen, die Gewerbe- und Grundbesitzergenossenschaften ihre Interessen der Nahrung, des Besitzes, der Standesehre. Es soll also nicht die Zentralregierung die ganze Verwaltung an sich ziehen und so auf sich nehmen, was besser die Gemeinden, die Kreise für sich versorgen, und soll auch nicht die allgemeine Landesvertretung allein alle Gesetze beraten, sondern die Provinzialgesetze sollen den Provinzialständen zukommen. Sie will also . . . die Selbstregierung der verschiedenen Kreise für ihre besonderen Verhältnisse im Gegensatz zu der ungemessenen Zentralisation. Sie will damit die Erhaltung und Pflege der Eigentümlichkeit in allen diesen Kreisen, daß jede Provinz, jede Stadt usw. ihre besonderen hergebrachten Einrichtungen, Gerechtsame (immer auf Grundlage der allgemeinen Gesetzgebung) behalte. Sie steht damit im Kampfe gegen die Bürokratie, will deren Ermäßigung und steht im Kampfe gegen die Uniformität, gegen das Überwachen nach allgemeinen Schemas administrativer Bequemlichkeit". Erst auf solche Weise entsteht eine echte und natürliche Gliederung der Gesellschaft, deren Gegenteil die Nivellierung ist, und bleibt die menschliche Qualität sowie das wahre Bedürfnis der Sache samt dem inneren Sinn der Institution gewahrt. Aus diesem Geiste folgt denn auch die Ablehnung des absoluten Staates. Denn „der absolute Staat ist der Staat, der durch Beherrschung des ganzen menschlichen Lebens, der ganzen Aufgabe der menschlichen Gesellschaft, durch Zentralisation alles selbst versorgt und ordnet, die Gemeinden, die Stände, die Kirche; der die Gewalt über alle Rechte hat, demgegenüber keine Unabhängigkeit und Freiheit besteht". Aber diese konservativen Intentionen, die an Moser und Müller gemahnen und vor allem mit dem Begriff der Dezentralisation das echte Stichwort gegen die einseitig zentralisierende Ratio geben, bleiben in der Lehre Stahls nur Element. Die legitimistische Grundkonzeption, in der ein gemäßigter Absolutismus den Ton angibt, verweist den konservativen Gedanken zuguterletzt doch auf die zweite Stelle. Denn in ihr herrscht, ganz abgesehen von der Rolle des Königs, nicht die konservative Idee des Machtausgleichs, sondern die Vorstellung von der überragenden Rolle des Grund-

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adels im Konzert der Stände. So bekommt das Stahlsche System unter dem Einfluß der Zeit und ihrer innermenschlichen Verfassung den Charakter einer unorganisch zusammengesetzten Ideologie und ist in besonderem Maße Pseudokonservatismus. Denn es begünstigt einerseits die Entwicklung vom ständischen Sonderinteresse zum regelrechten Klassenegoismus und verhüllt denselben andererseits noch entschiedener, indem es dessen Rechtfertigung durch die Ausnutzung der engen systematischen Beziehung des Konservativen zum Religiösen anstrebt. Diese Rechtfertigung ist allerdings, wenn man sie aus dem legitimistischen Gesamtaspekt herauslöst und für sich nimmt, von der Überzeugungskraft subjektiver Ehrlichkeit getragen, wie nicht verkannt werden soll. Zudem wird die Problematik des Glaubens im Gange des rationalen Fortschritts eben als „religiöse Frage" ganz deutlich gesehen und begriffen. Das heißt, Stahl erkennt klar, daß der neue Geist, der in den Parteien der Revolution seinen politischen Ausdruck gefunden hat, hier seinen Ausdruck im Unglauben, in der Glaubensleugnung und in der Kirchenfeindschaft findet. Die apodiktische Gewißheit des neu heraufgekommenen Zeitalters der Vernunft, die ihr "Weltbild auf den Naturgesetzen aufbaut, muß das Christentum mit seinem Glauben an Offenbarung, Erlösung und Jenseits als Anstoß und Ärgernis empfinden. Vor allen Dingen aber bildet die christliche Vorstellung von der Sündhaftigkeit des Menschen den äußersten Gegensatz zur Einstellung einer Epoche, die mit der Voraussetzung lebt, daß der Mensch von Natur aus gut und edel sei und kraft seiner eigenen Tugend bestehen könne, und die eben aus solcher Voraussetzung ihr hohes Selbstbewußtsein schöpft. Zwischen diesen beiden Gegensätzen gibt es keine Annäherung, keine Mitte, keinen Ausgleich, sondern nur ein Entweder-Oder, ein J a oder ein Nein. So richtig dies alles auch' gesehen und so ehrlich es ganz offensichtlich empfunden wird — Stahls religiöse Fundierung bleibt indes im Rahmen seiner gesamten Theorie viel mehr als etwa Müllers ähnliche Argumentation doch überwiegend eine zweckhaft-rationale Veranstaltung. Dies geht noch in Sonderheit daraus hervor, daß er seine konservative Lehre gerade in ihrer religiösen Fundierung auf den Standpunkt eines konfessionellen Bekenntnisses verpflichten will. Bei der Erörterung der Parteien des Glaubens endet er nämlich in einer zwar maßvollen, aber doch engen und kurzsichtigen Polemik gegen den Katholizismus. Indem er die angeblichen Vorzüge des Protestantismus darlegt, indem er das Werk Luthers verteidigt, indem er die Partei der Legitimität auf die religiöse Tradition des norddeutschen

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III. Die beiden Formen des konservativen Gedankens

Fürstenstaates festlegt, betreibt er lediglich eine ganz unzulässige Einengung der über den Gegensatz der christlichen Konfessionen erhabenen, weil auf einer anderen Ebene beheimateten systematischen Beziehung des Konservativen zum Religiösen. Wie Stahl nicht merkt, daß sich aus dem konservativen Gedanken keine ständische Klassenideologie entwickeln läßt, ohne seine echten Intentionen zu verlassen, so merkt er also auch1 nicht, daß der konservative Gedanke über aller konfessionellen Verschiedenheit stehen muß, wenn seine ursprüngliche Reinheit gewahrt bleiben soll. Eins hängt mit dem anderen zusammen und zeigt, daß Stahl selber trotz aller Gegnerschaft gegen die Übergriffe des rationalen Fortschritts, die seine Theorie in vielem bezeugt, doch der Zeitentwicklung seinen Tribut zollen mußte — und zwar in zweifacher Weise: psychologisch und historisch. Denn hier verrät sich einmal die im Hintergrund des ganzen Zeitgeschehens wirksame Korrespondenz von Ratio und Trieb mit ihrer einseitigen Zweckbestimmtheit und starken Getriebenheit, zum anderen jedoch der zeitgeschichtliche Standort im realen politischen Zwiespalt der beiden miteinander konkurrierenden deutschen Großmächte jener Tage, des protestantischen Preußen und des katholischen Österreich. Dabei überwiegt allerdings das prinzipielle Bekenntnis zum christlichen Glauben und die Betonung des religiösen Moments überhaupt im Vergleich' zur konfessionellen Polemik so, daß das allgemeine Fundament seiner Lehre keineswegs die ethische Bedeutung im Ganzen des Werkes völlig einbüßt. Und dies um so mehr, als das Abirren vom Wege des echten Konservatismus tatsächlich ungleich nachhaltiger durch seine gundsätzliche Verteidigung der Vorrechte des Adels bestimmt wird. Stahls gesamtes Werk, von der frühen Rechtsphilosophie bis zu dem posthum veröffentlichten Buch über „Die Parteien in Staat und Kirche", durchzieht nämlich die fast apologetische Beurteilung des Adels. Und gerade dieser Zug ist es, der seinem ganzen System so sehr den Charakter einer Klassenideologie verleiht. Daran kann keine Betrachtung seiner christlichen Rechtsstaatslehre vorbeikommen. Deshalb ist denn auch hier der Ort, um im Zusammenhang der bisherigen Ergebnisse unserer Untersuchung das Problem von Adel und Konservatismus zu erörtern, das in der Geschichte des konservativen Gedankens oder vielmehr bei der Ausbildung des Pseudokonservatismus eine erhebliche Rolle spielte und so viel dazu beigetragen hat, das konservative Denken überhaupt in Mißkredit zu bringen. Betrachtet man sie von der Einsicht in die Grundlinien des unverfälscht

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konservativen Denkens aus, so ist die Beziehung zwischen Adel und Konservatismus dadurch bedingt, daß nicht allein in Deutschland, sondern auch anderswo der Adel als soziale Schicht gleichsam eine natürlich-historische Durchgangsstufe für den konservativen Gedanken auf seinem Wege von der Entstehung bis in die Gegenwart darstellt — nicht mehr und nicht weniger. "Weder ist adlig von sich aus gleich konservativ, noch ist konservativ von sich aus gleich adlig. Stattdessen entspricht der ursprünglichen Intention des konservativen Denkens als richtige, weil natürliche Gleichsetzung: bodenständig gleich konservativ und umgekehrt. Der Adel verdankt es innerhalb dieser durch die Sache selbst gegebenen Gleichsetzung lediglich der überall ähnlichen Konstellation der geschichtlichen Lage, daß er in einer langdauernden, wenn auch nicht scharf abgegrenzten, so doch als Ganzes durchaus bestimmten Entwicklungsperiode der modernen Gesellschaft zum weithin sichtbaren Träger und offiziellen Vertreter konservativer Ziele wurde. Als diese Periode unter dem Einfluß mannigfacher Faktoren abgeschlossen war, trat seine Nachfolge in dieser Funktion ganz folgerichtig, doch den neuen sozialgeschichtlichen Umständen und der überlieferten Eigenart gemäß weit weniger sichtbar, dafür aber oft klarer und reiner das Bauerntum an. Denn das Bauerntum wuchs während des 19. Jahrhunderts erst langsam in die Reife eines politischen Bewußtseins hinein und hat sich dann, ohne wesentlich der Gefahr des Pseudokonservatismus zu erliegen, als einziger Stand im alten Sinne dieses Begriffs vielfach die volle Bodenständigkeit bis zur Gegenwart erhalten. Selbst Stahl kann nicht umhin, schon bei seiner frühen Darstellung der besonderen Rolle des Adels den politischen Unterschied zwischen Grundadel und Geburtsadel zu machen, zu welch letzterem er auch den Militäradel rechnet. Das heißt aber, er betont die Bodenständigkeit auf Grundbesitz als den entscheidenden Faktor für die soziale Rolle. Er mißt dem Adel wesentlich wegen seines Grund und Bodens solchen Wert bei der Mitwirkung am Schicksal des Staates, eine ganz besondere Art des unmittelbar gebundenen Interesses an der Handhabung der Regierung und Verwaltung im Sinne der Stetigkeit, eine durch unvergleichlich tiefe und enge seelische Beziehung zum räumlichen Eigentum bedingte Anteilnahme an den öffentlichen Dingen zu — der Geburtsadel ist ihm bezeichnenderweise vor allem darum so wichtig, weil er wieder zum Grundadel werden kann. Auch hieraus wird mithin ersichtlich, was angesichts der ganzen Problematik — die von vielen, schon in der ideologischen Grundtendenz des modernen Zeitalters

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III. Die beiden Formen des konservativen Gedankens

mit seinem triebhaften Freiheits- und Gleichheitsdrang beschlossenen Ressentiments belastet ist und daher eine unbefangene Erörterung des konservativen Gedankens überhaupt oft erschwert hat — eine logische Folgerung aus den ursprünglichen Bedingungen und Voraussetzungen des konservativen Denkens ist: konservatives "Wesen hängt seiner Eigenart nach mit der Tatsache des Grund und Bodens, des Landbesitzes, der ländlichen Lebensform, der Landarbeit und letzten Endes mit der Natur selbst organisch zusammen. Und nur insoweit der Adel Grundbesitz hat, sich die ländliche Lebensform tatsächlich oder als traditionelle Einstellung auch in anderem Lebensmilieu bewahrt und im spezifischen Wortverstande nicht verstädtert, also die ländliche Einstellung zur Wirklichkeit nicht auch innerlich vollkommen gegen eine andere eintauscht, ist er Träger konservativen Denkens geblieben. Primär in der Geschichte des konservativen Gedankens ist mit anderen Worten die Bindung an Grund und Boden, das über Generationen hinweg gefestigte Erlebnis des natürlichen Eigentums und der selbstverständliche Wunsch, dies beides entweder de facto oder virtuell durch Sitte und Denkweise zu bewahren und damit sich selbst in der überlieferten Form zu erhalten. Und erst sekundär wird es wichtig, welche soziale Schicht innerhalb der gesellschaftlichen Entwicklung als maßgebender Träger der ihr entsprechenden Art des Erlebens und Verstehens der Welt in diese Beziehung zu Grund und Boden eintritt. Ersteres ist eine existentielle Gegebenheit, letzteres jedoch eine soziale — jenes ist systematisch bedeutsam, dieses aber historisch. Der immer gleichbleibende systematisch-existentielle Gehalt der hier vorliegenden Beziehung des Menschen zu Grund und Boden, den der Begriff der Bodenständigkeit meint, wird von ihrem wechselnden historisch-sozialen Inhalt gar nicht berührt, weil er als vorgegeben von letzterem unabhängig ist. Der Adel hat nun während der vergangenen Jahrhunderte zumal in seiner führenden Schicht eine Entwicklung durchgemacht, die durchaus den äußeren und inneren Vorgängen jener wahrhaft totalen Umwandlung der menschlichen Daseinswelt gleichläuft, als deren Ergebnis schließlich das Zeitalter der Technik mit seinen charakteristischen Zügen anzusprechen ist. Denn alle Stände — Adel, Bürgertum, Arbeiterschaft und später in gewissem Umfang sogar das Bauerntum — gerieten im Fortgang jener Umwandlungsprozesses der Welt unter den Bann des neuen Geistes, der triebentbindenden Rationalität. Und jeder Stand reagierte, indem er sich mehr oder weniger

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konsequent zur Klasse emanzipierte, je nach seiner besonderen Lagerung im gesellschaftlichen Ganzen verschieden auf diesen neuen Einfluß — ohne ihn in der Regel als solchen zu bemerken. Der Adel wurde schließlich weitgehend legitimistisch, das Bürgertum weitgehend kapitalistisch und die Arbeiterschaft weitgehend sozialistisch, wenn nicht sogar kommunistisch oder anarchistisch. In jedem einzelnen Falle nahm die Korrespondenz von Ratio und Trieb nacheinander eine der besonderen sozialen Lagerung entsprechende Ausdrucksform an: Vom Zustand des großen Landbesitzes her und aus der konkreten Situation der Ortsgewalt und Grundherrschaft heraus bedeutete das die Ausbildung einer wie auch immer begründeten Regie rungs- und Herrschaftslehre seitens des Adels. Vom Zustand des Kapitalund Güterbesitzes her und aus der konkreten Situation der wirtschaftlichen Tätigkeit heraus bedeutete es die Ausbildung einer Erwerbs- und Besitzlehre seitens des Bürgertums. Und vom Zustand des lediglich auf die physische Arbeitskraft beschränkten Nichtbesitzens von Land, Kapital oder Gütern her und aus der konkreten Situation der industriellen Handarbeit heraus bedeutete es die Ausbildung einer Kraft- und Gewaltlehre seitens der Arbeiterschaft. Jedesmal führte das rationale Zweckdenken der fortschreitenden Zeit bei der betreffenden sozialen Schicht also in der wirklichen Lage eine andere, und zwar im Gesamtzusammenhang des inneren Geschehens im Gesellschaftskörper sinngemäße und verständliche Formung der von ihm entbundenen Triebregungen herbei, die dann als Klassenideologie auftrat und auch als solche begriffen wurde. Die Ausbildung der aus der Grundherrschaft entwickelten Herrschaftslehre des Adels, der die Romantiker im Zuge ihrer Reaktion auf die Französische Revolution erstmals eine historisch-ideologisierende Fassung gaben, setzte mit ihren Anfängen schon früh ein, und zwar in engster Berührung mit dem Geist des erstarkenden Absolutismus. Je mehr sich der dynastische Absolutismus gegen die Stände durchsetzte, desto mehr zog er auch den widerspenstigen Adel allmählich in seine Dienste. In diesem Dienst lernte der Adel die rationale Regierungspraxis und das reine Herrschaftsdenken gewissermaßen an der Quelle kennen und entwickelte vielfach selbst ähnliche Tendenzen — die Leibeigenschaft und das Bauernlegen, die in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts ihren höchsten Grad erreichten, gehören trotz all ihrer wirtschaftlichen Gründe zu den dunkelsten Seiten solchen Einflusses. Und je mehr sich die symbiotische Verflechtung der Stände in dem sozialen Kosmos der altständischen Lebensordnung, die Moser teilweise

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noch in voller Lebendigkeit gekannt hatte, unter der Einwirkung des vorwärts drängenden Individualismus und seiner Emanzipation der einzelnen Bevölkerufigsschichten lockerte, desto stärker wurde auch der Wunsch, diesem Vorgang Einhalt zu gebieten. Das alte, einst selbstverständliche Führungsrecht des Adels, der nicht mehr durchweg Grundadel war, schwand in der gegenseitigen Emanzipation der Stände durch den fortschreitenden Individualismus dahin, und das Beispiel der Fürsten mit ihrer landesherrlichen Gewalt sowie die Tätigkeit in ihren Diensten legte es nahe, die entstehende K l u f t durch eine ähnlich rationale Betonung der langsam verblassenden adligen Autorität zu überbrücken. Aber dieses Mittel verbreitete nur noch mehr eben den Geist, aus dem es selber stammte: die rationale Herrschaftslehre weckte zu ihrem Teil bei den Betroffenen eine rationale Freiheitslehre. Ihr verlieh dann, nach langdauernder Zuspitzung der damit gegebenen Spannung, die Revolution in Frankreich offenen Ausdruck. Dort war die Verbindung des Absolutismus mit den hoch ausgebildeten Herrschaftsansprüchen des Adels, wie sie etwa bei Maistre ihre späte Darstellung erfuhren, besonders eng. In Deutschland dagegen wirkte der oben erwähnte christliche Erziehungsstaat noch durch das ganze 18. Jahrhundert nach und erlaubte trotz der Übernahme französischer Vorbilder nicht solch breite Ausbildung und schroffe Wirksamkeit des adligen Interessenstandpunktes wie dort. Hier brachte erst die Reaktion auf die Ereignisse jenseits der westlichen Grenzen am Ende des Jahrhunderts den Adel, in einem heftigen Widerstreit mit den herüberflutenden neuen Freiheitsbestrebungen, zum vollen Bewußtsein seiner latent längst vorhandenen Herrschaftslehre. Dies geschah im Rahmen des Legitimismus, der von den Fürsten und ihrer Bürokratie ausging und den Adel seinerseits wiederum und noch mehr als früher mit dem Geist des rationalen Absolutismus, mit Staatsräson und herrschaftlichen Ideen gleichsam durchtränkte — die Wirkung Hallers etwa auf die Berliner Hofkreise ist dafür kennzeichnend. Hinzu kam, daß nach den Reformen zu Beginn des 19. Jahrhunderts allmählich das Bürgertum in breiterem Maße ländlichen Grundbesitz erwarb und, zumal mit neuen und zeitgemäß verbesserten Verwaltungs- und Bewirtschaftungsmethoden, aber auch mit rein ökonomischen Wertmaßstäben überhaupt, ebenfalls die rationale Lebensauffassung in den Adel hineintrug und damit dessen natürlichen Konservatismus auch seinerseits verdrängte und entstellte. Müller und Haller hatten diese aristokratische Herrschaftslehre, die bis

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dahin weniger theoretisch als vielmehr praktisch von Bedeutung gewesen war, direkt und Hegel hatte sie dann indirekt auch auf dem Wege der philosophischen Theorie fundiert und zu einer eigentlichen Lehre werden lassen. Doch erst Stahl gab ihr, indem er sie der politischen Staatstheorie zugrunde legte, mit seinem legitimistischen System die endgültige, durch religiöse Rückversicherung gefestigte Fassung, die dann auf lange hinaus für die Zukunft des offiziellen Konservatismus bestimmend blieb. Wie schon bemerkt, ist indes Stahls politische Doktrin nicht allein wegen dieser legitimistisch motivierten Klassenlehre des Adels wesentlich Pseudokonservatismus. Denn in diesem System mischten sich ja tatsächlich Absolutismus und Konservatismus, Feudalismus und Liberalismus und nicht zuletzt auch schon deutliche Keime des Nationalismus in einer Weise, daß das Resultat dieser höchst unorganischen Vereinigung ohnehin nur einer zwar vielfältig schillernden, aber im Grunde überwiegend rationalen Ideologie gleichkam. Sie steht in ihrer Wirkung sicherlich neben und hinsichtlich der unmittelbar politischen Praxis des anhebenden parlamentarischen Lebens im größten Staat Deutschlands sogar über der Wirkung Hallers oder Hegels. Galt Stahl doch der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht bloß als Gründer der konservativen Partei, sondern auch und gerade durch seine Schriften als der bedeutendste konservative Theoretiker überhaupt. Unter der traditionsreichen Formel von „Thron und Altar" bildeten seine Anschauungen daher noch bis ins 20. Jahrhundert hinein den Ideenkern der konstitutionellen Monarchie in Deutschland.

D. D I E E N T S T E H U N G

DES

NATIONALISMUS

Wenngleich erst selten auftauchend, gewann doch bereits bei Stahl unverkennbar ein neues Moment des politischen Lebens an Boden, das sich als ausgesprochen ideologisch erweisen sollte: der moderne Nationalismus. Seine Aufnahme und damit Anerkennung in der offiziellen konservativen Theorie, die in der Hand des Legitimismus immer mehr zur pseudokonservativen Lehre wurde, vollzog sich etwa von der Mitte des 19. Jahrhunderts ab nicht ohne erheblichen Widerstand. Denn jener Nationalismus war der Nachfolger des Patriotismus und stand zu diesem in demselben Verhältnis wie der neue Geist zum alten. Das heißt, er war seiner Herkunft und Be-

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schaffenheit nach ein Kind der neuen Geisteswelt, die politisch unter dem Namen des Liberalismus auftrat, und damit der alten Geisteswelt, die der Konservatismus vertrat, von Haus aus völlig fremd. Solchem Verhältnis entspricht denn auch eine tiefe Abneigung des Konservatismus selbst in seiner unechten Form gegenüber allen nationalistischen Bestrebungen und Bekundungen, die viele Jahrzehnte anhielt. Dachte man dort, beim Patriotismus, noch an das angestammte Fürstenhaus als Symbol der Zusammengehörigkeit, so hier beim Nationalismus schon an die Menschenrechte des souveränen Volks in seiner Freiheit und Gleichheit. Sprach man dort noch von der Treue zur Heimat in ihrer geschichtlichen Vergangenheit, so hier schon von der Nation als Einheit in der Zukunft. Lebte man dort noch in der liebevollen Pflege des Besonderen, so hier schon in der begeisterten Hingabe an die Belange des Allgemeinen — wobei naturgemäß gerade die Bildungsschicht Anhänger und Verkünder dieser zweiten Form des Denkens, Sprechens und Lebens war, die den Zug des Zeitalters verkörperte. Der Unterschied zwischen dem ursprünglichen Sinn des konservativen Gedankens und dem neuen Geist, den diese Antithesen andeutend umschreiben, ist mit einem Wort der eines fundamentalen Gegensatzes, der das jeweilige Verhalten der Menschen ganz von innen heraus bestimmte. "Wenn überhaupt, so war dieser fundamentale Gegensatz deshalb nur dadurch aus der "Welt zu schaffen, daß seine beiden Seiten sich bekämpften: aus der Situation ihres Ursprungs mußten Nationalismus und Konservatismus miteinander ringen, bis einer von ihnen Sieger blieb. Hatte der neue Geist der Zeit auf derselben Linie der Auseinandersetzung schon den konservativen Gedanken zum Pseudokonservatismus umzuwandeln vermocht, so konnte es nicht zweifelhaft sein, wer von den beiden Gegnern am Ende auch hier das Feld behaupten würde. Und es gehört fraglos zu den bedeutendsten und folgenreichsten Ereignissen der neueren Ideengeschichte, daß der Nationalismus seinen großen alten Gegner, obwohl derselbe nach außen hin noch an der Herrschaft blieb, binnen eines halben Jahrhunderts besiegte und unterwarf. Ja, er unterwarf ihn sich' gleichsam von innen her sogar derart gründlich, daß man später im 20. Jahrhundert beide nur noch in einem Atem zu nennen pflegte, weil man sie für prinzipiell miteinander verwandt hielt. Vieles hat zum Zustandekommen dieses heute entscheidend werdenden Irrtums von der nationalistischen Natur des konservativen Gedankens beigetragen: die allgemeine Unklarheit über den wahren Charakter der moder-

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nen Ideologien insgesamt, die Wandlung von der echten zur Pseudoform des Konservatismus, die liberale Gesdiiditslegende, die bewußt oder unbewußt den Kapitalismus entlasten will, das vielfach im liberalen Fahrwasser bleibende Geschichtsbild des Sozialismus, und nicht zuletzt die durch inneres Wesen und äußere Lage bedingte stille Zurückhaltung jener echt konservativen Opposition, von der bereits mehrfach die Rede war. Aber erst das Auftreten der faschistischen Ideologiengruppe, deren Zentrum der Nationalismus in seiner Extremform ist, hat den Irrtum über die Beziehung zwischen Konservatismus und Nationalismus wirklich offenbar werden lassen. Und fortan erhält die Klarheit darüber in der fast ausweglosen Verwirrung der Gegenwart eine unmittelbare aktuelle Bedeutung, die von den Regenerationsversuchen der wichtigsten Ideologien noch nachdrücklich unterstriechen wird. Der tatsächliche historische Sachverhalt ist also anders, als man gewöhnlich annimmt: nach' langer Anlaufszeit eines offenen oder geheimen Kampfes, der die erste Hälfte des vorigen Jahrhunderts ausfüllt, gelang es dem Nationalismus, seinen konservativen Widersacher zu durchdringen, sich ihm vor allem mit Hilfe eines Wandels der wirtschaftlichen Lebensformen aufzunötigen und ihn schließlich zu einer Vereinigung mit sich zu zwingen. Das Gegenteil anzunehmen und von einer Aneignung des Nationalismus durch den Konservatismus zu sprechen, ist in Anbetracht der äußeren Zustände und der inneren Umstände, unter denen dieser Vorgang stattfand, nicht angängig, wie wir noch sehen werden. Denn indem der Konservatismus im Verlauf der deutschen Einigungsbestrebungen, die auf das Drängen des Liberalismus zurückgingen, mehr und mehr nationalistisch1 wurde, vollendete er tatsächlich die Preisgabe seines eigentlichen Wesens — diese Gefahr wurde in seinen eigenen Reihen schon zur Zeit der Freiheitskriege deutlich empfunden. Daß Konservatismus und Nationalismus entgegen der üblichen Meinung ursprünglich nicht zusammengehören und in Deutschland erst durch die besondere geschichtliche Konstellation in eine enge Verbindung getrieben wurden, das lehrt obendrein ein Blick über die Grenzen auf die anderen europäischen Länder. Dort ist der Nationalismus nämlich keineswegs eine so enge Gemeinschaft mit seinem alten Widersacher eingegangen, sondern verbündete sich ganz im Einklang mit seiner Herkunft vielmehr aufs engste mit dem liberalen Kapitalismus, um weithin sichtbaren Ausdruck im modernen Kolonial- und Kulturimperialismus zu finden. Auch hieraus geht mithin hervor, daß der Nationalismus in Deutschland eine ganz eigen-

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tümliche Ausbildung aufweist, die nicht dazu berechtigt, den konservativen Gedanken wesensmäßig mit ihm zu belasten. Beharrt man angesichts des immer hoffnungsloser zutagetretenden Bankrotts der modernen Ideologien auch heute noch auf diesem Irrtum, so wird damit einer der wichtigsten Wege ins Freie überhaupt verbaut. Denn der Nationalismus stellt gleichsam das politische Klima her, in dem sich gegenwärtig das einseitige Souveränitätsdenken zum Schaden einer echten Gemeinschaft der Völker mit blinder Hartnäckigkeit zu halten versucht. Lokalisiert man ihn falsch, so bleibt jeder Anlauf zu seiner Uberwindung vergeblich1: die falsche Zuweisung führt dann bloß zur Ächtung des Namens, während die Sache selbst weiterbesteht, ohne in ihrem wahren Ursprung erkannt zu werden. Dieser wahre Ursprung des Nationalismus aber weist unzweifelhaft auf die modernen Ideologien als psychologische Gesamterscheinung zurück — sie haben ihm direkt oder indirekt, gewollt oder ungewollt sämtlich vorgearbeitet. Und als solcher ist er, wie seine auch heute noch nicht abgeschlossene Geschichte immer wieder zeigt, nichts anderes als ein überall dort entstehendes Produkt der Zivilisation, wo große oder kleine Völker mit den Ideen des säkularisierten Natutrechts und der Vorstellung von der Volkssouveränität in Berührung kommen und zugleich' mit den rationalen Prinzipien der Freiheit und Gleichheit auch die entsprechende Triebentbindung erleben, die sich in einem auf die eigene Gesamtexistenz bezogenen und daher politisch werdenden Kollektivegoismus ausdrückt. Diese seine ideologische Natur erweist sich' vor allen Dingen in der ausgesprochen fortschrittlichen, aggressiven und areligiösen Note, die ihn unverwechselbar von allem echten Patriotismus unterscheidet. Die Anfänge des deutschen Nationalismus liegen denn auch1, der angedeuteten Herkunft gemäß, in der Frühzeit des 19. Jahrhunderts dort, wo das naturrechtliche Denken und die Ideen von 1789 Fuß faßten. Und es waren sehr handgreiflich die Revolutionskriege, die napoleonischen Eroberungskriege und die Befreiungskriege, die ihn als unmittelbar auslösende Faktoren auch in Deutschland hervorriefen und heimisch machten. In einer verborgenen Parallelität mit den modernen Ideologien, die kurz vorher in ganz ähnlicher Art die große Bühne der Geschichte bestiegen hatten, trat der Nationalismus damit in Aktion und Reaktion gleich zum ersten Male als Macht und Gewalt auf, die von einem ideologischen Fanatismus getragen waren. Das heißt, er erschien als eine der neuen Formen bisher unbekannter, unter idealistisch-rationaler Begründung stattfindender, kollektiver Triebent-

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fesselung. Und er war, ähnlich wie Jahrhunderte früher das Prinzip der Staatsräson, offenkundig fremder Import, der ebenfalls noch lange Zeit auch als solcher empfunden wurde. Nur wenn man diese historische und psychologische Tatsache beachtet, wird es möglich, die Geschichte der Entwicklung und Wirkung des Nationalismus in Deutschland richtig zu beurteilen und auch sein Verhältnis zum konservativen Gedanken überhaupt sowie zumal seine spätere Symbiose mit dem Pseudokonservatismus im rechten Lichte zu sehen. Befangen in ihrer einseitigen Sicht der Französischen Revolution, verschließt sich die liberale Geschichtslegende der "Wahrheit dieser beiden Tatsachen und verriegelt hierdurch sich und anderen in folgenreicher "Weise den Zugang zu den Voraussetzungen einer echten Erkenntnis der wirksamen Kräfte und Mächte in der geschichtlichen Entfaltung der neueren Zeit. Die liberale Geschichtslegende, deren Uberwindung gerade in dieser Hinsicht zum Erfordernis einer wirklichen Neuordnung des politischen Denkens der Gegenwart wird, steht dem modernen Nationalismus im Grunde deshalb so hilflos gegenüber, weil er das eigene Kind ihrer Ideologie ist, das sich schließlich gegen seinen Erzeuger empört hat. "Wie sie das andere Kind ihrer Ideologie, die kapitalistische Monopolwirtschaft, einfach durch Abrücken und Verbannung erledigen zu können vermeint, so glaubt sie auch den Nationalismus als Problem dadurch erledigen zu können, daß sie von einem guten, richtigen Nationalbewußtsein und von einem schlechten, falschen Nationalismus spricht. Und den letzteren schiebt sie dann dem konservativen Gedanken zu, den sie überhaupt so gern höchst summarisch als „Reaktion" für all das verantwortlich machen möchte, was die Geschichte der letzten hundertfünfzig Jahre an Fehlläufen und Nachtseiten hervorgebracht hat. Aber die historische und psychologische Entwicklung widerspricht diesem Versuch, den Kopf vor den Folgen der eigenen Ideologie in den Sand zu stecken und den Gegner mit den eigenen Sünden zu belasten. Die historischen Umstände wie die psychologische Gesetzlichkeit der Entstehung des Nationalismus beweisen nämlich die innere und äußere Kontinuität zwischen dem angeblich guten Nationalbewußtsein und dem offenbar schlechten Nationalismus — der letztere ist tatsächlich die Konsequenz des ersteren, ohne daß beide klar voneinander zu trennen sind. Auch wenn man die nationalen Regungen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor dem begeisternden Hintergrund der deutschen Einigungsbestrebungen und in dem idealen Licht 18

Mühlenfeld, Politik

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III. Die beiden Formen des konservativen Gedankens

der Forderungen nach Freiheit und Gleichheit beschönigend als Nationalbewußtsein bezeichnet, so zeigt dieses doch schon ganz deutlich' die kräftigen Keime des zum totalen Machtstaat drängenden politischen Kollektivegoismus. Und das heißt, es zeigt die im Gefolge des Liberalismus hervorbrechenden leidenschaftlichen Triebregungen, die später in einer neuen Form alle anderen Ideologien überwältigen und schließlich zum maßgebenden Inhalt einer Heilslehre werden sollten, unter deren Herrschaft die Welt in eine erdumspannende kriegerische Krise stürzte. Gerade dies endgültige Ergebnis der einst für lange Jahrzehnte fast ausschließlich unter liberalem Aspekt entstandenen Entfesselung des politischen Kollektivegoismus, der dann als reiner Nationalismus auftritt, läßt es heute vor den Trümmern des zweiten Weltkrieges so wichtig werden, historisch wie psychologisch die Wahrheit über seine Herkunft festzustellen und sich jenseits aller ideologischen Ressentiments, die der liberalen Geschichtslegende den Blick trüben, darüber klar zu werden, wo die eigentlichen Gründe für den verhängnisvollen Verlauf unseres gemeinsamen Schicksals liegen. Denn erst wenn man über alle Verkettung in ideologische Denkgewohnheiten hinaus, die ja insgeheim durchaus triebbesetzt sind, nach dem wahren Zusammenhang der einzelnen Faktoren dieses Schicksals fragt, ergibt sich ein verläßlicher Standpunkt, um in wirklich neuer, weil gänzlich anderer Art als bislang politisch zu handeln. Drei Namen der deutschen Geistesgeschichte sind es vor allem, die den fraglichen Vorgang innerhalb der geistig-seelischen Entwicklung des modernen Zeitalters mit ihrem Werk spiegeln und seinen Ablauf in Deutschland zu verfolgen erlauben: Fichte, Hegel und Treitschke. Sie sind sämtlich nicht originale Vertreter des konservativen Gedankens, sondern Vertreter des neuen Geistes, die in den Reihen der Schöpfer und Träger des sogenannten Idealismus die konservative Idee der historischen Individualität der rationalen Identitätsidee dienstbar machten. Bei Fichte und seinem subjektiven Idealismus war es die Idee der nationalen Freiheit, bei Hegel und seinem objektiven Idealismus war es die Idee des nationalen Staates, und bei Treitschke, dessen historisch-politisches Werk auf Fichte und Hegel aufbaut, war es die Idee der nationalen Macht, die die Zeit selber zum fortwirkenden Zentrum ihrer jeweiligen Lehre machte. Aus diesen Elementen, denen die drei Denker als den grundlegenden Fragen ihrer Zeit Ausdruck verliehen und Wirkung verschafften, entstand in einer unlösbar werdenden Verschmelzung der Inhalt des modernen Begriffs der Nation in seiner

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deutschen Fassung. Und mit ihnen wurde audi der Geist geboren, der die Vorstellung der Nationalität im technischen Zeitalter erfüllt: der moderne Nationalismus. Als solcher stellt nun der Nationalismus ohne Zweifel die jüngste und wichtigste Erscheinungsform des politischen Lebens in der technischen Zivilisation der Massengesellschaft und ihrer Eroberung der Erde durch Weltwirtschaft und Weltverkehr dar. Im Rahmen des ungeheuren äußeren und inneren Geschehens, das mit der Umgestaltung der modernen Welt stattgefunden hat, verkörpert er als ein Ergebnis der innermenschlichen Entwicklung letztlich nur die Umbildung der Liebe und des Stolzes auf das Vaterland zur Leidenschaft und zum Hochmut auf die eigene Nation. Wie alles sich in der Zivilisation ausweitet und intensiviert , so auch die Einstellung des Menschen zu dem, was er als seinesgleichen erlebt. Da die Errichtung der gesamten Zivilisation als ein Welt und Leben umspannender Prozeß nur Ausfluß einer größeren Leidenschaft, das heißt einer zugleich mit der Rationalisierung des Daseins erfolgenden Akzentverlagerung vom Gefühlsmäßigen zum Triebhaften ist, so wird auch die Einstellung zu den anderen Menschen von größerer Leidenschaft als früher bestimmt. Aus der Vaterlandsliebe wird allmählich der vitale Nationalismus, und das alte Mißtrauen gegen den Fremden verwandelt sich ganz folgerichtig allmählich in den Fremdenhaß, die Nationalfeindschaft. Unter dem Einfluß der entbundenen Triebhaftigkeit wird das natürliche Gefühl für die eigentliche Heimat in ihrer Besonderheit gleichsam blind oder taub. Und an seine Stelle tritt ein kollektiver Egoismus, der unter der idealen Maske des Gemeinwohls aller im großgewordenen Ganzen jedes Handeln nur noch auf dessen Belange bezieht und daher stärker und heftiger als je zwischen Freund und Feind unterscheidet. Der moderne Nationalismus entspricht mit anderen Worten durchaus dem folgenreichen Denken seiner Epoche, der technischen Zivilisation. Er schweißt auf der überindividuellen Ebene der Politik die Menschen zu neuer, größerer Einheit zusammen. Aber er löst auch das bisherige Empfinden einer wechselseitigen Partnerschaft der Völker untereinander zugunsten einer ganz einseitigen, affektiven Schätzung des eigenen Volkes auf, was alsbald zu neuen Formen crer friedlichen oder kriegerischen Konkurrenz zwischen den Staaten führt. Wie schon das rationale Denken den kleineren Kosmos der altständischen Sozialordnung triebhaft zerstört hatte, so zerstörte es auf der nächsten Stufe seines unaufhörlichen Vorwärtsdrängens i8»

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ebenso triebhaft auch den größeren Kosmos der alten Staatenordnung. Und hierbei halfen ihm in verborgener Gleichsinnigkeit sowohl der moderne Kapitalismus mit Industrie, Handel und Verkehr als auch die modernen Ideologien, die demselben Geist entstammten. Denn Wirtschaft, Politik und Diesseitsglauben entsprachen sich ja in der Unbedingtheit des freien Wettbewerbs, des nationalen Interesses und des ideologischen Heilsanspruches. Der unter diesen Bedingungen auflebende Nationalismus hat von sich aus weder früher noch später etwas mit Romantik zu tun, die er höchstens als nachträgliche Beimischung enthält — etwa durch die Übertragung der Individualitätsidee auf den Staat. Sein eigentlicher Boden kann, erkennt man ihn erst einmal in seiner wahren Natur als politischen Kollektivegoismus, psychologisch nur das rationale Denken sein, das in und mit der industriewirtschaftlichen, wissenschaftlich-technischen Zivilisation breite Schichten der Bevölkerung hauptsächlich in den Städten ergreift und in ihrem Verhalten bestimmt. Daher fällt sein Erwachen in die ausgedehnte Anlaufsperiode dieser Zivilisation, sein Erstarken in ihre kaum minder lange Wachstumsperiode während des 19. Jahrhunderts und seine umfassende Herrschaft in die Periode ihrer Vollendung, die unsere Gegenwart im 20. Jahrhundert bildet. Denn die Voraussetzung des Nationalismus ist die Nation, die als allgemein geltende Vorstellung ihrerseits ein Denken voraussetzt, das in abstrakt-begrifflichem Vorgehen die einstigen kleineren Länder- und Stammeseinheiten zu einer größeren und großen Einheit zusammenschließt; das eigentümliche Unterschiede und frühere Grenzen zugunsten eines formal höheren Ganzen überspringt und einebnet; das besondere Merkmale und trennende Eigenschaften übersieht und überspielt, um allen Nachdruck auf allgemeine Kennzeichen und gemeinsame Züge zu legen. Und eben dieses Loslösen von den alten Formen des Zusammenlebens, dieses Verlassen des Besonderen und Unterscheidenden, dieses Heraustreten aus dem Begrenzenden und Trennenden setzt die bislang von solchen Bindungen gehaltene und gefesselte Triebhaftigkeit des Menschen frei — sowohl individuell als auch kollektiv. Individuell bedeutet das eine ungeahnte Steigerung der Aktivität durch eine ebenso ungeahnte Entbindung der Vitalität des einzelnen Menschen, wie sie vor allem im unaufhörlichen Aufbau des modernen Wirtschaftslebens, im unersättlichen Ausbau des persönlichen Selbstbewußtseins und in dem absoluten Freiheitswillen des neuzeitlichen

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Ich zum Ausdruck kommt. Kollektiv aber bedeutet das eine ebensolche Steigerung bei den zu Nationen werdenden Völkern der modernen Zivilisation, wie sie vornehmlich im Aufbau eines speziell politischen Staatslebens innerhalb der ausgeweiteten Grenzen, im WirtschaftsKolonialund Kulturimperialismus der jeweiligen Nationalstaaten, in der steten Zunahme des einseitigen Souveränitätsdertkens und im uferlos werdenden, überall nationale Interessen entdeckenden oder findenden Ausbau des kollektiven Selbstbewußtseins überhaupt zum Ausdruck kommt. Als solche ist die moderne Nation — und dieser Vergleich erst macht ihren unverwechselbaren Charakter einer rein zivilisatorischen Erscheinung im geschichtlichen Leben der Völker ebenso deutlich, wie er ihr gleichzeitig auch den Ort in der psychologischen Entwicklungsgeschichte des modernen Menschen zuweist — grundverschieden von der großartigen Erscheinung des mittelalterlichen Reiches. Dessen Einheit war nicht rational, sondern transzendental begründet, nicht begrifflich-kausal, sondern erlebnismäßig-metaphysisch gerechtfertigt und gehört deshalb einer ganz anderen Entwicklungsepoche des menschlichen Geistes an. Darum hat dieses Reidh auch keinerlei Nationalismus bei seinen Menschen hervorgerufen. In ihm führten Länder und Völker, Stämme und Stände ihr selbständiges Eigenleben. In ihm blieb das Besondere und Eigentümliche ebenso erhalten wie gewordene Grenzen und gewachsene Bindungen, weil das Allgemeine und Verbindende all dies bestehen ließ und nur von einer höheren Ebene aus gleichsam überwölbte, nicht aber aufsog und vernichtete. So war es in jenen früheren Jahrhunderten keine rational-triebhafte, sondern eine Glaubenseinheit, die den Menschen band und nicht löste. Infolgedessen war auch die eigentliche Vorbedingung für die Entstehung des Nationalismus als einer der unheilvollsten Früchte des rationalen Denkens die Entchristlichung der europäischen Welt. Erst als sie nach langer unterirdischer Vorbereitung vollendete Tatsache geworden und mit ihr auch der moderne Säkularisationsprozeß bis zum Ende vollzogen war, entstand im 20. Jahrhundert mit der faschistischen Ideologiengruppe die Reifeform des Nationalismus als regelrechte weltliche Heilslehre. Aus diesen Gründen liegen die frühesten Wurzeln des Nationalismus auch nicht etwa, wie man angenommen hat, schon in der noch ganz vom religiösen Glauben bestimmten Reformation, sondern vielmehr dort, wo zuerst weltliche Einheit bewußt vom Staat aus geschaffen wurde. Nicht der religiöse Reformator Luther ist deshalb im 16. Jahrhundert sein ver-

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III. Die beiden Formen des konservativen Gedankens

borgener Geburtshelfer gewesen, sondern der Staatsmann Richelieu, unter dessen politischem Regiment Frankreich im 17. Jahrhundert — der großen Epoche der Mathematik, des Merkantilismus, der Staatsräson und der Machtpolitik — zum ersten Male in der neueren Geschichte der europäischen Völker gewisse Züge aufweist, die einer Vorform jenes Nationalismus gleichkommen, der dann auf demselben Boden in und nach der Französischen Revolution offen zutage tritt. Von da ab zeigt die neuere Geschichte jedem tiefer dringenden Blick unverkennbar, daß Machtstaat, Staatsräson, Zentralismus und Nationalismus mit ihren geistigseelischen Ursprüngen in ein und dieselbe Entwicklungslinie innerhalb des europäischen Schicksals hineingehören. Und erst wenn man den modernen Nationalismus in diesem Zusammenhang sieht, wird auch klar, warum er trotz aller immer noch üblichen Verharmlosung wohl in Wahrheit das größte weltpolitische Problem im Zeitalter der technischen Zivilisation war und ist. Der früheste und bekannteste Herold des modernen Nationalismus in Deutschland war Joh. Gottl. Fichte (1762—1814). Nicht zu Unrecht hat man gesagt, daß der berühmte Vertreter des philosophischen Idealismus deshalb zum leidenschaftlichen Patrioten wurde, weil er überzeugter Weltbürger war. Denn der enge Zusammenhang zwischen Weltbürgertum und Nationalismus, den Fichte bereits in seinen frühen „Dialogen über den Patriotismus" als notwendig erkannte, bildet in Wirklichkeit bloß die psychologisch notwendige Konsequenz jenes grundsätzlichen Rationalismus, in dem die ganze Gedankenwelt seiner politischen Philosophie wurzelte. Die triebhafte Leidenschaft, die seinen Idealismus bestimmte und in einem schon ganz modern anmutenden Nationalismus gipfelte, entsprach nur der umweglosen Radikalität seines Vernunftdenkens. Gerade die Klarheit, in der ihm das rationale Ziel der Zukunft vor Augen stand, bedingte auch die Stärke des dynamischen Willens zu seiner Verwirklichung. Als Philosoph des subjektiven Idealismus, der die Welt der freien sittlichen Persönlichkeit unterordnete, trug Fichte zeit seines Lebens das begeisternde Bild eines auf Recht und Freiheit beruhenden Vernunftreiches in sich — „gegründet auf Gleichheit alles dessen, was Menschengesicht trägt". Von diesem Reiche kündet seine Utopie des „Geschlossenen Handelsstaates", die eine merkwürdige und doch folgerichtige Vorwegnahme des nationalistisch auftretenden, planwirtschaftlichen Zwangsstaates darstellt, wie ihn später das 20. Jahrhundert als Realität hervorbrachte. Der große

D. Die Entstehung des Nationalismus: Johann Gottlieb Fidite

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Naturhasser entwirft in diesem Zukunftsbild den ganz abstrakten Plan eines reinen Vernunftstaates, der sich autarkisch gegen seine Umwelt abschließt, ein hochorganisiertes Arbeitssystem aus menschlichen Urrechten ableitet und einen nationalen Sozialismus entwickelt, der eine allgemeine Ordnung wahrer Gerechtigkeit gewährleisten soll. Die freie Konkurrenz ist in dieser staatssozialistischen Vision ebenso abgeschafft wie der offene Markt. Und Produktion und Fabrikation werden schon in der Grundlage dieses Staates berechnet, um dann von den drei arbeitenden Hauptständen unter Aufsicht der Regierung durchgeführt zu werden. Hier schlägt also der ethische Individualismus, was man übrigens bereits gegen Ende des vorigen Jahrhunderts bemerkt hat, voller Vorahnung für das Kommende in einen ökonomischen Sozialismus um, weil er sich' in der Praxis durch die liberale Wirtschaftsgesinnung bedroht sieht. Und zwar geschieht das bezeichnenderweise unter durchaus nationalistischen Vorzeichen. Denn was diesen Staat Fichtes, der einer Verwirklichung der Freiheit und Sittlichkeit des einzelnen Menschen dienen sollte, im Kern trägt und führt, ist wesentlich politischer Kollektivegoismus, der in einem rationalen Ideal gefaßt wird. Schon diese Utopie seines Vernunftstaates zeigt unmißverständlich, daß ihr Verfasser mit dem Ausgang seines ganzen Denkens nicht auf die Seite der konservativen Kräfte der Epoche gehört, sondern auf die Seite ihres Gegenpols, der ideologischen Kräfte. Fichte, der als einer der ersten dem berühmten Buch Burkes über die Französische Revolution widersprach, gewährte denn auch der romantisch-konservativen Individualitätsidee nur selten und gleichsam bloß mit einzelnen Bruchstücken Einlaß in sein philosophisches System. Vielmehr lag ihm als einem der kühnsten Identitätsdenker alles daran, Idee und Wirklichkeit, Geist und Natur zur Einheit zu bringen und das Ergebnis solcher Bemühung in den unmittelbaren Dienst seiner Zeit zu stellen. Dabei genügte ihm die kontemplative Haltung, wie sie etwa Hegel besaß, keineswegs, sondern er erstrebte mit kämpferischem Willen die Umgestaltung des Lebens nach1 dem Ideal der Vernunft. Was bei Hegel zur kalten Leidenschaft des Denkens wurde, das die ganze Welt in einem totalen System theoretischer Begrifflichkeit beherrschen wollte, das wurde bei Fichte zur heißen Leidenschaft des Denkens, das die Welt nach theoretischen Maßstäben zu einem praktischen Herrschaftsbereich der Vernunft verändern wollte, wie er noch' nie dagewesen. Solche Atmosphäre des Denkens war wie alle insgeheim triebentbindende, weil Bindungen und Schranken vernichtende Rationalität gleichsam dazu

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disponiert, alsbald in der politisch-historischen Praxis einen Nationalismus von ganz ähnlicher Beschaffenheit hervorzubringen und auszubilden, wie ihn die Große Revolution jenseits der westlichen Grenzen unter denselben gedanklichen Voraussetzungen gezeitigt hatte. Es fehlte bloß die äußere Situation als Anlaß und Anstoß, um ihn auszulösen und jene Überzeugungskraft gewinnen zu lassen, die er zu seiner Wirksamkeit benötigte. Diesen Anlaß und Anstoß gab die napoleonische Fremdherrschaft, deren Einfluß auf Deutschland von so außerordentlichen Folgen begleitet war. Denn einmal brachte sie das Erlebnis der Unterjochung, das überall durch einen natürlichen Patriotismus beantwortet wurde. Zum andern aber brachte sie mit ihren fremden Volksarmeen und Besatzungstruppen auch das Erlebnis des neuen Denkens in den ideologischen Kategorien des Fortschritts, den Prinzipien von Freiheit und Gleichheit, der Volkssouveräriität und der Menschenrechte. Und dieses Erlebnis wurde mit einer ganz neuen politischen Empfindung beantwortet, die sich in ihrer starken Leidenschaftlichkeit eben als Nationalismus offenbarte. Beide Antworten, der alte Patriotismus und der neue Nationalismus, flössen damals zwar vielfach ineinander über, weil man letzteren oft nur für die Steigerung des ersteren hielt. Lehrreiche Beispiele hierfür bieten E. M. Arndt, der „Sänger der Freiheitskriege", und F. L. Jahn, der „Turnvater". In ihnen kreuzten sich gewisse Elemente des alten Patriotismus unverkennbar mit starken Einflüssen Herders und Fichtes. Und daraus erwuchs schließlich eine von leidenschaftlichem Fremdenhaß erfüllte Vaterlandsliebe, die weit mehr Nationalismus war als Patriotismus und trotz ihres oft sentimentalen oder derben Gewandes gerade in dieser Mischung eine langdauernde Wirkung ausübte. Aber beide, der alte Patriotismus und der neue Nationalismus, waren einander doch in Wahrheit von Grund auf fremd, wie sich sehr bald erwies. Unlöslich mit dem neuen Empfinden verknüpft waren nämlich aus der Tiefe des Unbewußten strömende Wünsche nach einer größeren Einheit der deutschen Stämme, nach einem Wegfall der bisherigen Unterschiede und nach staatlicher Macht der Deutschen überhaupt. Vor allem jedoch ging unter dem Stichwort der nationalen Freiheit ein höchst politisches Sendungsbewußtsein mit ihm Hand in Hand, ein heftiges Verlangen nach kollektiver Selbstbestätigung, das dem alten Patriotismus völlig fern lag, weil er seine K r a f t nicht aus einem forderndem Zukunftsbild erhielt, sondern aus dem Gefühl für die geschichtliche Vergangenheit und ihre besonderen Grenzen.

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Bei allen Kundgebungen und Bekundungen der Vaterlandsliebe, die in der napoleonischen Zeit Deutschlands laut wurden, wird man daher stets zwischen den beiden Inhalten unterscheiden müssen, die dieser Begriff deckt: alten Patriotismus und neuen Nationalismus. Denn erst aus dem radikalen Vernunftdenken der Freiheit und Gleichheit entstand damals, wie die uns überlieferten Quellen trotz aller Vermischung des einen mit dem andern deutlich zeigen, die radikale Liebe zum eigenen und der radikale H a ß auf das fremde Volk. Bewiese nicht schon das Beispiel der Französischen Revolution, daß der moderne Nationalismus ein originales Produkt des ideologischen Denkens ist, so gäbe die gesamte Diskussion über Nation und Nationalstaat, die Deutschland zu Anfang des 19. Jahrhunderts als Folge des Hereinströmens liberaler Ideen aus dem Westen Europas ergriff, den unmißverständlichen Beleg für diese Herkunft. Und ganz im Einklang hiermit war es denn auch kein konservativer Romantiker und nicht einmal ein pseudokonservativer Legitimist, der unter dem Eindruck des Zusammenbruchs der deutschen Staatenwelt und der Macht des französischen Imperators die erste glühende Predigt des Nationalismus jener Tage hielt. Sondern es war ein Verkünder des Idealismus der Freiheit, ein Vertreter des konsequenten Rationalismus, ein Jünger des Naturrechts und der Menschenrechte, ein Optimist des Fortschritts und der Zukunft. Fichtes „Reden an die deutsche Nation" stehen zweifellos an der Wiege des modernen Nationalismus in Deutschland. Aber sie sind nicht Geist vom alten, sondern vom neuen Geiste in seinen lichten Höhen, doch auch in seinen dunklen Tiefen. Denn sie hielt ein Mann, der schon bei seiner Beschäftigung mit Macchiavelli gezeigt hatte, daß der leidenschaftliche Zukunftsoptimismus des reinen Vernunftsdenkens sich ohne weiteres mit der Bejahung rücksichtslosen Zwanges vereinbaren läßt, ja die Anerkennung des politischen Kollektivegoismus und damit der selbstherrlich nackten Macht direkt hervorruft. Im Zusammenhang mit den Gedanken des großen Florentiners gelangte Fichte nämlich zu der Überzeugung, daß der Machttrieb des Nationalstaates ein ebenso natürlicher wie heilsamer Lebensdrang sei. Seine Sicherheit gründet demnach auf allem, worauf er seinen Einfluß erstrecken und womit er sich vergrößern kann, weil es im Verhältnis der Staaten untereinander außer dem Vorrang des Stärkeren kein Gesetz gibt. Hieraus aber folgt dann notwendig Recht und Pflicht des Staates zur bedenkenlosen Sdbsterhaltung. Und Fichte rechtfertigt diese Feststellungen mit einem Satz, in dem sich auf überaus charakteristische Weise Ratio und Trieb

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III. Die beiden Formen des konservativen Gedankens

miteinander verschränken: „Überdies will jede Nation das ihr eigentümliche Gute so weit verbreiten, als sie irgend kann, und so viel an ihr liegt, das ganze Menschengeschlecht sich einverleiben zufolge eines von Gott den Menschen eingepflanzten Triebes, auf welchem die Gemeinschaft der Völker, ihre gegenseitige Reibung aneinander und ihre Fortbildung beruht." K u r z nach diesem Bekenntnis zur energischen Machtpolitik des Nationalstaates werden die „Reden an die deutsche Nation" gehalten. Hier ist das deutsche V o l k in seiner Gesamtheit das auserwählte Volk, das als einziges Urvolk der Zivilisation und daher wahrhaft als Menschheitsnation dem Ideal des Vernunftreiches am besten dienen kann, sobald es erst mit Hilfe einer „gänzlichen Umschaffung" des Menschen durch Erziehung zu einer allgemeinen Nation geworden sein wird. Zu diesem Zweck muß „die deutsche Nationalliebe selbst an dem Ruder des deutschen Staates" sitzen, vor allem aber im deutschen Staatsleben eine geistige Einheit der Gesinnung aller seiner Angehörigen herrschen, die nötigenfalls mit Zwang hergestellt werden mag. Der alte Patriotismus mit seiner Anhänglichkeit an den Einzelstaat kann dies nicht bewirken, sondern nur ein nationaler Geist überhaupt, der in dem Fernziel einer „Republik der Deutschen ohne Fürsten" seine letzte Form gewinnt. Der Patriotismus der Sachsen, Österreicher oder Preußen ist demgegenüber nur „versessener Bauernstolz" und muß infolgedessen ebenso überwunden werden wie die deutschen Einzelstaaten selber, um den rechten Nationalgeist zu ermöglichen. Denn dieser neue Geist ist, da die Deutschen bisher recht eigentlich ohne Geschichte gewachsen sind, gar kein Ergebnis geschichtlicher Faktoren, sondern eine reine Forderung und Schöpfung der Vernunft und ihrer Freiheit. Gerade in dieser rationalen „Ursprünglichkeit" und dieser übergeschichtlichen Unbedingtheit des deutschen Wesens, die nichts mit der natürlichen Ursprünglichkeit und Bedingtheit des geschichtlichen Wachsens und Werdens zu tun haben, sieht Fichte die große Chance eines Glaubens „an ein absolut Erstes und Ursprüngliches im Menschen selber, an Freiheit, an unendliche Verbesserlichkeit, an ein ewiges Fortschreiten unseres Geschlechts", die die Voraussetzung für die Errichtung des Vernunftstaates und die Schaffung der Vernunftnation sind. Die Dialoge über den Patriotismus, der Handelsstaat, die Auseinandersetzung mit Macchiavelli, die Reden wie die späte Staatslehre Fichtes lassen sämtlich dasselbe erkennen: Aus dem rationalistischen Boden seines Denkens entsteht in selbstverständlicher Folgerichtigkeit die unheimliche Dynamik des modernen Nationalismus. Die Vernunft erfaßt mit ihrem

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freien "Willen ohne Rücksichtnahme auf das Bestehende auch den Staat, der ganz rational begriffener, ungeschichtlicher Einheitsstaat sein soll. Und dieser Wille der freien Vernunft wird auf solcher Ebene dann zur politischen Leidenschaft und erfüllt den Staat mit einem gänzlich neuartigen Geist, der seine Träger als Erlebnis eines Wunders der Zukunft überwältigt. Fichte ist der erste große Zeuge für diese Überwältigung auf deutscher Erde, und als solcher wird er hier der Herold des modernen Nationalismus sowohl in seinen Lichtseiten als auch mit seinen Schattenseiten. Denn der Preis für die Verwirklichung der nationalen Freiheit im neuen Sinne der größeren Einheit ist die Entfesselung der Macht als kollektives Begehren. Die mächtige Glut der „Vaterlandsliebe", als triebhafte Regung unter dieser idealistisch klingenden Bezeichnung bloß oberflächlich verhüllt, verträgt sich schon bei ihm im Grunde widerspruchslos mit der besonderen Moral des nationalen Interesses, das sich als eine neue Form der Staatsräson selber bestimmt. Dieser glühenden Liebe, die nicht mehr Gefühl, sondern nur noch Leidenschaft ist, wird die politisch geeinte Nation zur Erscheinung des „Göttlichen in der Welt" und des „Ewigen in der Zeit". Als höchstes Symbol der menschlichen Freiheit erhält sie eine sittliche Würde von so hohem Rang, daß auch die in ihrem Namen geforderte und geübte Macht eine Verklärung erfährt, die jedes Bedenken überstrahlt und alle Vergleiche mit den Schranken individuellen Tuns hinfällig werden läßt. Erst von dieser neuen Basis nationaler Leidenschaft aus, die ganz typisch und ähnlich wie bei Hegel auch zu einer eigenen Lehre von der List der Vernunft und damit zur Rechtfertigung des Zwanges und der Gewalt führte, wird nunmehr die reale geschichtliche Vergangenheit gesehen. Sie ist deshalb nicht mehr Geschichte im alten Verstände, sondern wird in Wahrheit zu einem ideologischen Mittel, dessen sich Ratio und Trieb zur Begründung und Durchsetzung ihrer Ziele selbstherrlich bedienen. Dies hängt damit zusammen, daß der innere Blick des Menschen im Dunstkreis des ideologischen Nationalismus wesentlich auf die Zukunft fixiert ist und die Geschichte vornehmlidi durch das Brennglas der Leidenschaft sieht. Schon bei Fichte begegnet diese seltsame Ungeschichtlichkeit der politischen Geschichtsbetrachtung, um dann über ein Jahrhundert später endgültig zum folgenreichen Charakterzug der Ideologien des modernen Nationalismus zu werden. Das Ende der faschistischen Ideologiengruppe in einer direkt mythologischen Politik war das letzte Resultat dieser eigenartig zwanghaften Ungeschichtlichkeit des modernen Nationalismus, der ganz

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und gar fortschrittlich gestimmt ist und daher auch die Vergangenheit ideologisch verzeichnet. Dies Resultat, dessen psychologische Herkunft immer wieder verkannt wird, wurde allerdings in seiner ganzen Unwirklichkeit erst dadurch möglich, daß das für Fichte noch maßgebende Erlebnis einer an höhere Sittlichkeit gebundenen Freiheit allmählich bis zum letzten Rest in dem Prozeß der allgemeinen Säkularisierung des Daseins unterging, den das 20. Jahrhundert vollendete. Zwar ist auch bei Fichte der moderne Nationalismus schon als Fortschrittsideologie angelegt, aber er ist hier doch zugleich gehalten durch ein Ethos, das noch wirksame Elemente der überkommenen Glaubenswelt enthält und erst später langsam verblaßte. Wir sehen also, daß der so gern konstatierte Bruch zwischen dem jüngeren Fichte, der für die Universaldemokratie und die Freiheit der Französischen Revolution schwärmte, und dem älteren Fichte, der den nationalen Freiheitsund Machtwillen verkündete, in Wirklichkeit gar nicht stattgefunden hat. Vielmehr liegen Rationalismus und Nationalismus historisch untrennbar beieinander und entwickeln sich psychologisch ohne Bruch auseinander — der ältere Fichte ist, im übertragenen Sinne, tatsächlich nur der konsequente Vollender des jüngeren. Der Anteil nun, den der konservative Gedanke an dem seit Fichtes Tagen großwerdenden Nationalismus hat, ist durchaus sekundär — das trifft sogar auch noch lange Zeit für seine legitimistisdie Pseudoform zu. Denn die Idee der historischen Individualität wurde von dem neuen Geist, der alles zur Einheit binden und die Identität auch1 der Menschen in einem von Freiheit und Gleichheit erfüllten Nationalstaat zum Ausdruck bringen wollte, nur in dienender Funktion verwendet. So wird der Volksgeist mit seinen still wirkenden und unbewußt schaffenden Kräften unter dem gleichen Namen zur selbstbewußten sittlichen Substanz der Nation umgebildet, die an den Generalwillen der liberalen Vorstellung von der Gesellschaft erinnert. So wird die organisch-geschichtliche Anschauung von Recht, Sprache und Sitte des Volkes, die absichtslos von der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft wachsen, vom rationalen Zugriff des neuen Geistes in die abstrakte Auffassung von objektiven Formen der Kultur verwandelt, die als Ausdruck der höheren Einheit einer Nation gelten. So wird der romantische Traum vom Kaiserreich des Mittelalters ganz zweckhaft dazu benutzt, das in der Phantasie bestehende Bild vom mächtigen deutschen Nationalstaat mit einer überzeugenden historischen Rechtfertigung zu versehen.

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Aber zu einer wirklichen Verschmelzung selbst der pseudokonservativen Gedankenwelt mit dem liberalen Nationalismus konnte es trotzdem noch auf lange hinaus nicht kommen. Besonders in seinen Anfängen besaß der Legitimismus nämlich noch so viel an echt konservativem Gehalt, daß er bei allem Verständnis für die organische Entwicklung, der er mit der Gewährung von sozialen Reformen, Ständevertretungen und Verfassungen Rechnung trug, doch nicht mit dem jungen Nationalismus paktierte. Denn den neuen Nationalgedanken vermochte er nicht zu bejahen, da dies die Preisgabe all dessen bedeutet hätte, was er vertrat — und zwar keineswegs bloß im Sinne eines dynastischen und ständischen Egoismus vertrat, den die liberale Geschichtslegende so gern allein für das harte Nein des Legitimismus vor dem Nation algedanken verantwortlich macht. Vielmehr galt dieses Nein in erster Linie einer Abwehr jener Kräfte der Tiefe, denen die Französische Revolution vor kurzem unter deutlich nationalistischem Vorzeichen zur maßlosen Entbindung verholfen hatte. Eine Bejahung des Nationalgedankens hätte deshalb nicht bloß die Vielzahl der kleinen und großen legitimen Fürstenhäuser gefährdet — wenn auch, wie die Zukunft nachher bewies, noch keineswegs endgültig. Sondern diese Bejahung hätte auch1 und vor allem zu einer Beseitigung der aus richtigem Gefühl heraus gesetzten Schranken gegen die ideologische Triebentfesselung geführt, die der Legitimismus unter Verwendung des konservativen Denkens als Staats- und Sozialordnung errichtet, wiederhergestellt oder erhalten hatte. Daß dem Legitimismus für eine Spanne von mehreren Generationen die Bändigung der revolutionären Ideologien gelang, und zwar mit dem entscheidenden Ergebnis allgemeinen Friedens, ist für die nüchterne Betrachtung zweifellos ein Beweis dafür, daß der moderne Nationalismus jedenfalls damals nur erst von einer Minderheit getragen war. Die Mehrheit der deutschen Bevölkerung dagegen wußte oder ahnte nach dem Beispiel im Westen, daß im Schoß des idealistisch auftretenden Nationalismus, den die Anhänger des neuen Geistes so leidenschaftlich predigten, explosive Mächte schlummerten, die das feste Fundament der alten Lebensordnung zugunsten einer höchst ungewissen und unsicheren Zukunft sprengen oder doch unheilbar erschüttern würden, sobald man ihnen Raum gab. Barg sich doch, wie vorher schon in Frankreich offenbar geworden war, unter seinem breiten Dach nicht nur die Vaterlandsliebe, die in den deutschen Kriegen zur Befreiung von der Fremdherrschaft eine Probe ihrer alten Kraft gegeben hatte, sondern auch die Idee der Macht in einer viel größeren und schlim-

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meren Gestalt als beim mehr oder minder engräumigen deutschen Absolutismus und Legitimismus. Und diese immer ungebärdige Gestalt der Macht war nicht mehr wie dort durch landesväterliche und religiöse Vorstellungen im Zaum gehalten, sondern stand in ihrer ideologischen Form bloß noch für sich als Ausdruck und Ausbruch des kollektiven Egoismus, der sich sein Maß selber vorschreibt. Diese entscheidende Eigenschaft des Nationalismus, in dessen Gefolge das ganze Ideengut des revolutionären Denkens mit triebhafter Gewalt herandrängte, war es denn in der Hauptsache auch, die die Träger weithin bekannter Namen damals in hellsichtiger Vorausschau des Kommenden zu einer Ablehnung der neuen Erscheinung im politischen Leben ihrer Zeit veranlaßte. Und auch von konservativer Seite aus erkannte man bereits in dieser ersten Jugendzeit des modernen Nationalismus ganz deutlich1 und ohne Täuschung durch die ja auch noch aus anderen Quellen gespeiste Begeisterung der Freiheitskriege den tief dämonischen Charakter der nationalen Regungen und damit ihr im Kern doppeldeutiges Wesen. So darf man in Anbetracht der Gesamtstruktur der Bevölkerung jener Epoche, in der Deutschland noch völlig aus Agrarländern bestand, mit Recht annehmen, daß jene Ablehnung und diese Erkenntnis nur das bewußt aussprachen, was die große Menge der Menschen damals mehr unbewußt empfand. Höchstens für die west- und süddeutschen Rheinbundstaaten, die lange Jahre dem französischen Einfluß unmittelbar ausgeliefert waren, mag solche Annahme nicht in vollem Umfang zutreffen. Hatte Fichte dem neuen Zeitalter die klarste Vorstellung von der nationalen Freiheit gegeben, so gab vor allem Hegel ihm die klarste Vorstellung vom nationalen Staat. Vergleicht man den Anteil beider an der Entstehung des Nationalismus in Deutschland, so erscheint Hegels Einfluß denn auch keineswegs als geringer. Doch ist er, wie schon die Verschiedenartigkeit des Ansatzes und vollends das hinter ihm stehende philosophische System zu schließen erlaubt, auf ganz andere Weise wirksam geworden. Hegel wirkte nämlich nicht als der laute Herold des Nationalismus, sondern als sein stiller Wegbereiter. Fichtes subjektiver Idealismus war von einem leidenschaftlichen Willen zur Veränderung des Bestehenden nach dem Bilde der Vernunft erfüllt und von einem gläubigen Zukunftsoptimismus getragen. Und auf dieser gleichsam nach allen Seiten offenen Grundlage eines unbedingten Fortschrittsglaubens und -willens erwuchsen seine Reden an die deutsche Nation mit

D. Die Entstehung des Nationalismus: Georg Wilhelm Friedrich Hegel

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dem Bekenntnis zur nationalen Freiheit als dem höchsten Gut des Menschen. Hegels objektiver Idealismus dagegen führte zu einer Geschichts- und Staatsphilosophie, deren streng geschlossener Bau Ausdruck eines gleichsam nach innen geschlagenen Willens zur Herrschaft des reinen Denkens war und eine kühle, sachliche Gewißheit vom bewußten Fortschritt der Menschheit bezeugte. Das Feuer, das hier entzündet wurde, loderte deshalb auch nicht heiß und leuchtend auf wie dort, sondern brannte kalt, still und beharrlich. Und dieser Art des Denkens entsprach die Form des Einflusses, den seine Geschichts- und Staatsphilosophie ausübte. Es war ein mehr untergründig wirkender, längsam in die Tiefe dringender Einfluß, der sich in den folgenden Generationen immer weiter ausbreitete und erst im 20. Jahrhundert den späten Gipfel seiner Kraft erreichte. Hegels Staatsbegriff, der den einzelnen Menschen nach einer anfänglichen Anerkennung doch gänzlich in einer größeren und höheren Einheit aufgehen ließ und damit im Endeffekt entrechtete, war durchaus nicht bloß unter dem Eindruck des gesamtdeutschen Zusammenbruchs oder der Befreiungskriege entstanden. Denn diese Ereignisse weckten ein patriotisches Gefühl, das alle Zeitgenossen teilten. Vielmehr war der eigentliche Boden, auf dem sich der folgenreiche Staatsbegriff Hegels bildete, jene gedankliche Bemühung um die Einheit zwischen Vernunft und. Wirklichkeit, die der Identitätsidee der Epoche als Ziel zugrunde lag. Erst indem er von dieser Idee aus auch das staatliche Leben begriff, gelangte Hegel zu der Auffassung von der geistig-sittlichen Totalität des Staates. Solche Auffassung aber vollzog in der Welt des Denkens nur dasselbe, was zu gleicher Zeit auch in der Welt des Empfindens geschah. Das heffit, sein Staatsbegriff bot dem erwachenden Drang zum politischen Selbstbewußtsein, der sich in dem Verlangen nach der Nation aussprach, sozusagen den sinngemäß vorbestimmten Ort, wo er Realität werden konnte und mußte. Staat und Nation waren und wurden mit anderen Worten jetzt verschiedene Erscheinungsformen ein und derselben Sache. Was dieser Staat meinte, war im Grunde genommen die Nation als sein Inhalt. Und was die Nation wollte, war im Grunde dieser Staat mit seiner Staatsräson und seinem Machtgedanken als die ihr gemäße Form. Beide gaben in ihren letzten Absichten nur dem Wunsch und Willen nach größerer und höherer Einheit Ausdruck — die Nation als allgemeine Erlebnisform und der Staat als allgemeine Lebensform des von der Vernunft beherrschten Menschen. Wie der Mensch bei Fichte erst in der Nation seine wahre Freiheit

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I I I . Die beiden Formen des konservativen Gedankens

gewann, so verwirklichte der Mensch bei Hegel seine wahre Bestimmung erst im Staate, der eben um seiner Totalität willen nichts anderes sein konnte als Nationalstaat. Hegels Staatsbegriii endete mithin ähnlich wie Fichtes Freiheitsbegriff mit Notwendigkeit in der Vorstellung von der Nation. Indem beide soldierart den Willen zu ihr weckten, dienten sie ihr gleichzeitig auch. Doch Hegels Beitrag hierzu war auf die Dauer gesehen noch größer und nachhaltiger, obwohl er weniger unmittelbar zutage trat. Denn hinter ihm stand die ganze Weite eines umfassenden und überzeugenden philosophischen Systems. Und dieses System verwendete obendrein nicht allein die Identitätsidee, sondern auch die Individualitätsidee — es enthielt neben den rationalen außerdem noch gewichtige konservative Elemente. Dadurch gelang es der Gedankenwelt Hegels, sich auf dem Wege einer offen oder heimlich erfolgenden Umgestaltung der Denkmittel und Denkgewohnheiten selbst dort auszubreiten, w o Fichtes Denken ohne Widerhall blieb, weil es so gut wie ausschließlich auf der Identitätsidee beruhte. Die Staatsphilosophie Hegels vermochte also, weil sie den neuen Geist auf faszinierende Weise mit dem alten verknüpfte, auch in den politischen Konservatismus einzudringen und hier sogar, w o man ihrem eigentlichen Anliegen von Haus aus widerstrebte, der Vorstellung von der Nation und damit auch dem Nationalismus allmählich eine immer breitere Bresche zu schlagen. Indem man den neuen Staatsbegriff übernahm, bereitete man ohne Wissen in sich selbst die inneren Voraussetzungen für die Leidenschaft zur Nation, den Willen zur nationalen Selbstbestätigung, den Drang nach einem größeren Reich, worin die menschliche Persönlichkeit zum Träger der nationalen Kultur und Macht werden konnte. Wenn man diesen Staatsbegriff auf solche Weise auslegte, so war auch die Unterwerfung zu verstehen, die sein Inhalt forderte. Denn dann ging der individuelle Egoismus, den die Zeit fortlaufend mehr entband, in einer sittlich verklärten Fassung des kollektiven Egoismus auf, ohne doch völlig unterdrückt zu werden. Dann war die Nation eigentlich bloß die politische Steigerung der Person, die ihre höhere und höchste Form im Staate fand. In dieser eigenartig verdeckten Wirkung Hegels liegt ohne Zweifel eine wesentliche Erklärung für die gedankliche Möglichkeit zur späteren Überwältigung des pseudokonservativsn Legitimismus durch seinen einstigen Gegner, den Nationalismus. D a Hegels Staatsbegriff letztlich in der Vorstellung von der Nation als politischer und kultureller Einheit gipfelte,

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nimmt es denn auch nicht Wunder, wenn schließlich das Denken der an der nationalen Einheitsbewegung führend beteiligten Geister um die Mitte des Jahrhunderts in einem kaum bestimmbaren Maße von ihm ergriffen war. Und dies wurde um so mehr der Fall, als sich die geschichtliche und kulturelle Lage ganz im gleichen Sinne entwickelte. Denn geschichtlich drängte die Lage um die Jahrhundertmitte zur Auseinandersetzung zwischen Preußen und Österreich, wobei jede der beiden Mächte auf eine größere Einigung unter den deutschen Staaten zielte und damit das Thema der Nation trotz aller Zwietracht vertiefte. Kulturell aber begünstigten die rationalen Tendenzen des zivilisatorischen Fortschritts, wie sie mit der seit 1830 kräftig aufblühenden "Wirtschaft gegeben waren, die Ausbreitung und Verstärkung eines allgemeinen Nationalbewußtseins weit über den Kreis seiner bisherigen Anhänger hinaus. Nachdem die allgemeine Begeisterung der Freiheitskriege abgeklungen war, ist das Schicksal des Nationalismus an die dünne Schicht der jungdeutschen Liberalen innerhalb des gebildeten Bürgertums geknüpft gewesen — weitere Kreise trugen ihn bloß in West- und Süddeutschland, wo sich der direkte Einfluß Frankreichs nachhaltiger ausgewirkt hatte. Als die Fremdherrschaft mit ihren Sdirecken und Nöten, mit ihrer schematischen Aufteilung des Landes zu Verwaltungszwecken und mit ihrer ganzen revolutionären Mißachtung der alten Lebensordnung vorüber war, begann die Epoche des Biedermeier. Als eine Zeit der bürgerlichen Ruhe und des politischen Friedens, der rechtsstaatlichen Ordnung und der menschlichen Geborgenheit war sie die letzte Stille vor dem Sturm dauernder Umwälzung, den die moderne Zivilisation innerlich und äußerlich für die Menschen ihres Zeitalters bedeuten sollte. Sie ist insgesamt dadurch gekennzeichnet, daß es während ihrer ganzen Dauer dem Legitimismus gelang, den neuen revolutionären Geist, der Liberalismus und Nationalismus miteinander vereinte, vorbeugend an der weiteren Ausdehnung zu hindern und somit die ideologischen Explosivstoffe des politischen Lebens nicht zur Wirkung kommen zu lassen. Wenngleich insgeheim von zahlreichen tiefen Rissen durchzogen, blieb die alte Lebensordnung jedenfalls in ihrer äußeren Realität eines konservativen Rechtsstaates doch noch weitgehend erhalten. Und mit ihrem Gleichgewicht wurde auch noch einmal das triebhafte Moment der Macht, dessen Entfesselung die neue Heilslehre mit sich brachte, für längere Zeit gebannt. Das Biedermeier hätte, wie schon erwähnt, keinen echten Stil von so klarer Ruhe ausbilden können, wenn seine seelisch-geistige 19

Mühlenfeld, Politik

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Verfassung nicht doch noch fest auf dem Fundament der alten Lebensordnung gegründet gewesen wäre, wenn seine Menschen schon in der Mehrzahl vom rationalen Denken des Fortschritts, von der ruhelosen Unzufriedenheit und Veränderungssucht der modernen Ideologien ergriffen gewesen wären. Das Bild, das die liberale Geschichtslegende von dieser Epoche als ein allgemeingültiges entwirft, gilt denn auch in Wahrheit bloß für jene dünne Schicht der jungdeutschen Liberalen, keineswegs aber für die deutsche Bevölkerung in ihrer Breite. Denn wie sich der Abwehrdruck des Legitimismus unter der Führung Metternichs in weiser Voraussicht kommenden Unheils primär gegen diese dünne Schicht als Träger des ideologischen Denkens richtete, so ging auch die in jenen Tagen erfolgende Auswanderung Deutscher ins Ausland und nach Ubersee primär gar nicht auf politische, sondern auf wirtschaftliche Gründe zurück. Das wirtschaftliche Elend der damaligen Zeit, vor allem in den Kreisen des Handwerks, war aber durch den mit Industrie und Handel langsam aufblühenden Kapitalismus mit seiner Krisenanfälligkeit verursacht, also durch den Herrschaftsantritt des ökonomischen Liberalismus, den wie ein Schatten schon der Sozialismus begleitete. Ähnliches gilt für die Revolution von 1848, die im Februar des Jahres von Paris aus ganz Europa ergriff und den dreißigjährigen Frieden des Wiener Kongresses unterbrach, hinter dem der gleiche Wille Englands und Rußlands gestanden hatte. Wie ihr Anfang, ihr Verlauf und ihr Ausgang beweist, ist diese Revolution in Deutschland durchaus das Werk einer Minderheit gewesen und hat ihren eigentlich revolutionären Kern weniger im sozialen als im nationalen Element gehabt. Denn sie besaß bis auf geringe Ausnahmen und trotz der vorhandenen Spannungen keinen echten Rückhalt in der Bevölkerung als Ganzes, ihr fehlte eine größere soziale Grundlage — sie war ein Ausbruch ideologischer Bestrebungen des Bürgertums, wie denn auch ihr großes Vorbild 1789 hieß. Weder stand die Masse der ländlichen Bevölkerung Deutschlands, die damals noch mehr als drei Fünftel seiner Gesamtzahl ausmachte, noch das Beamtentum in seiner Breite hinter ihr. Dies spiegelte auch die Zusammensetzung der Paulskirche, des zentralen Vollzugsinstruments der verschiedenen revolutionären Erhebungen in den einzelnen deutschen Ländern, sichtbar genug wider. Und wie die noch wenig zahlreiche Industriearbeiterschaft über die ganze Bewegung dachte, dem gab Karl Marx beredten Ausdruck, als er die Paulskirche eine Angelegenheit rein bürgerlicher Interessen nannte. Von einer allgemeinen, in einer einigen Richtung verlaufenden politi-

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sehen Unzufriedenheit des gesamten Volkes kann also trotz der wirtschaftlichen Krisen der vorhergehenden Jahre tatsächlich ebensowenig die Rede sein wie von einem allgemeinen Nationalbewußtsein aller oder doch weiterer Schichten, das die Revolution von 1848 hervorgerufen oder getragen hätte. Trotzdem direkt oder indirekt beides zu behaupten, heißt einen ideologischen Mythos aufzustellen, der die klare Sicht auf den wirklichen Vorgang — soviel echte Begeisterung in der überaus schmalen Bildungsschicht mit ihm verbunden sein mochte — verhindert und das politischgeschichtliche Geschehen vorher wie nachher in ein falsches Licht bringt. Betrachtet man die Ereignisse von 1848 ohne Rücksicht auf diesen einseitig idealisierenden Mythos, der nur auf den Schultern des größeren liberalen Mythos von der Französischen Revolution steht, so gewahrt man bei der vergleichsweise kleinen Schicht ihrer Träger neben und hinten« den ideologischen Freiheits- und Gleichheitstendenzen schon sehr deutlich die Umrisse des modernen Nationalismus in seiner Eigenschaft als politischer Kollektivegoismus. Denn der Hauptakzent der Paulskirche lag, obwohl sie so lange über die menschlichen Grundrechte verhandelte, tatsächlich auf dem leidenschaftlichen Willen zur größeren Einheit, auf dem Wunsch nach dem kraftvollen Nationalstaat. Und dieser Wille und Wunsch war sogleich, wie es psychologisch gar nicht anders sein konnte, mit der schweren Hypothek des entbundenen Machttriebes belastet. Die Tribüne der Paulskirche wurde deshalb nicht bloß zum Forum für die Ideale und Interessen des liberalen Bürgertums, sondern sie wurde auch zur Kanzel für nationalistische Äußerungen über die alte Vormachtstellung, die dem deutschen Reith gebühre, und für heftige Ausfälle gegen die Staaten des Auslands, vor denen man sich benachteiligt glaubte. Dieses ganz folgerichtige Auftreten eines aggressiven Nationalismus, der mit dem Freiheitswillen und Gleichheitsdrang auch den Machttrieb in sich trug, hatte bereits mit der seit 1828 vorbereiteten und 1834 vollzogenen Gründung des deutschen Zollvereins gleichsam seine Ouvertüre erlebt, was man damals auch im Ausland hellhörig bemerkte. Und die ideologische Atmosphäre, aus der dann die Paulskirche kam, war mit ihren hochgespannten Erwartungen auf nationale Größe und Macht, die aus dem Ziel der deutschen Einheit erwuchsen, zweifellos nur eine kräftige Fortsetzung und Steigerung der Melodie jener Ouvertüre — das heißt einer teils idealistisch und teils ökonomisch begründeten Triebhaftigkeit, deren tiefe Verflechtung mit dem rationalen Denken schon in jenen Tagen ganz unver19*

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kennbar ist. Der Historiker Dahlmann, eine der wichtigsten Figuren der Paulskirche, rief nicht ohne tieferen Grund im Frankfurter Parlament: „Die Bahn der Macht ist die einzige, die den gärenden Freiheitstrieb befriedigen und sättigen wird. Denn es ist nicht bloß die Freiheit, die der Deutsche meint, es ist zur größeren Hälfte die Macht, die ihm bisher versagte, nach der es ihn gelüstet. Deutschland muß als solches endlich eintreten in die Reihen der politischen Großmächte des Weltteils". Und ein knappes Jahrzehnt nach der Revolution bekannte er im Rückblick auf ihr Mißlingen obendrein, daß den Deutschen Macht viel nötiger sei als Freiheit. So bedurfte es im allgemeinen Säkularisationsprozeß der Zivilisation, dessen stärkster Antreiber der idealistisch-ökonomische Liberalismus war, auch nur noch des Umschlagens vom Idealismus zum Materialismus, um die Idee der Macht endgültig auf den abschüssigen Weg zum Nationalismus zu treiben. Sie brauchte nur den Schleier philosophisdi-ethiscfoer Begründungen, ihre sittlichen Bezüge und idealistischen Hüllen zu verlieren, um offen als das zu erscheinen, was sie in Deutschland bisher erst im Verborgenen gewesen war: politischer Kollektivegoismus. Die Zeit von der Jahrhundertmitte ab war, wenngleich die ersten Jahre nach der Revolution noch heftige pseudokonservative Reaktionen gegen den Liberalismus gebracht hatten, mehr und mehr vom aufstrebenden Kapitalismus bestimmt. Der Übergang zur neuen Wirtschaftsform der technischindustriellen Zivilisation vollzog sich nun in Deutschland auf voller Breite. Und damit waren audi die politischen Ziele des ökonomischen Liberalismus zum Zeichen der Zeit geworden: die territorialen und geographischen Grenzen mußten ebenso zugunsten einer größeren staatlichen Einheit und Straffheit fallen wie die sozialen und ökonomischen Schranken zugunsten einer größeren individuellen Freiheit. Geht man den verwirrend hin und her wogenden Ereignissen der Epoche Bismarcks, die eine verständliche Begeisterung über die erfolgreiche deutsche Einigung in einen erst viel später fragwürdig gewordenen Glanz getaucht hat, unbefangen auf den Grund, so zeigt sich als ihr entscheidendes politisches Geschehen folgendes: Dem Vordringen des Liberalismus auf allen Gebieten des damaligen Lebens entsprach die Überwältigung der Pseudoform des Konservatismus durch den nationalen Liberalismus. Dabei spielte die absolutistische Komponente des Legitimismus die Rolle einer ideologischen Brücke. Mit ihrer Hilfe übernahm die preußische Militärmonarchie nämlich unter dem vielfältigen Einfluß der allgemeinen zivilisatorischen

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Entwicklung das Einheitsstreben des Liberalismus, um es in drei Kriegen zu verwirklichen. Das heißt, die Idee der Macht, die der Legitimismus bislang einzig und allein an die Monarchie geheftet sah, wurde nach wiederholtem Zögern nunmehr auch offiziell mit der Nation verbunden und erlangte dadurch eine moderne Gestalt, die dann im nächsten Jahrhundert ihre monarchische Form wie ein altes Kleid abwerfen konnte, um nur noch Erscheinungsform der reinen Volkssouveränität zu sein. Über diese ideologische Brücke der zur nationalen ausgeweiteten und umgebildeten fürstlichen Gewalt hinweg stellte sich die Militärmonarchie, die selber in einem äußerlich zwar verwickelten, innerlich aber durchaus klaren Prozeß immer nachdrücklicher vom rational-triebhaften Geist der Zeit ergriffen wurde, in den Dienst der neuen Machtidee der größeren Einheit. Der Nationalismus der Bismarck zeit tritt zwar äußerlich als preußische Machtpolitik auf, gehört aber seinem ganzen, nur als triebhaft zu begreifenden Wesen nach innerlich schon unleugbar in die geistige Atmosphäre des liberalen Kapitalismus, der unter der Parole des Fortschritts nicht nur die bisherige Wirtschaftsform, sondern auch die ganze Lebensform der Epoche von Grund auf veränderte. Denn beide, Kapitalismus wie Nationalismus, verkörperten in gar nicht zu trennender Weise den Triumph eines individuellen und kollektiven Egoismus von bis dahin unbekannter Stärke und Konsequenz, der in tausend Formen wirksam wurde. Die ständig wachsende Kraft dieser beiden liberalen Mächte war denn auch1 so groß, daß aller Widerstand gegen ihr Ubergewicht nicht nur von Seiten konservativer Bevölkerungsschichten, sondern auch von Seiten des ganz anders gearteten Sozialismus wenig fruchtete. Und nicht zuletzt das Auftreten eben dieses Sozialismus, der die bestehende Ordnung überhaupt radikal ablehnte, war es dann, was den legitimistischen Pseudokonservatismus in seine verschiedenen und keineswegs nur parlamentarischen Bündnisse mit dem Liberalismus trieb, der sich fortan nationalliberal nannte und gebärdete. Schon Stahls letzte, posthum veröffentlichte Schrift läßt dieses Motiv im Hintergrund der Entwicklung deutlich1 erkennen. War Fichte der Herold und Hegel der Wegbereiter, so wurde Treitschke gewissermaßen der Apostel des Nationalismus in Deutschland. Auch in einem tieferen Sinne steht Heinrich von Treitschke (1834—96) mit seiner überaus einflußreichen historisch-politischen Lehre in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Denn er gehört nicht mehr dem Idealismus der ersten Hälfte und noch nicht dem Materialismus der zweiten Hälfte des Jahrhunderts an.

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Vielmehr wird er, in einer Art von idealistischem Realismus, zwischen diesen großen Formen des Weltbegreifens hin und her gerissen, die doch beide nur Stufen zur völligen Säkularisierung des modernen Denkens sind. Geis'tesgeschichtlidi baut Treitschkes gedankliches Werk vornehmlich auf dem subjektiven Idealismus auf, wie ihn Fichte gelehrt hatte. Aber es zeigt gleichzeitig auch überragende Einwirkungen des objektiven Idealismus, wie ihn Hegel als Philosoph und Ranke als Historiker vertreten hatten. Demgegenüber besteht Treitschkes eigene Leistung, deren verhängnisvolle Konsequenzen er als Anhänger eines sich noch wesentlich idealistisch gebärdenden Liberalismus nicht überblickte, in der Hauptsache darin, daß er das geistige Erbe Fichtes und Hegels bis hart an die Grenze des Materialismus, des Naturalismus und des Biologismus heran-, ja über sie hinausführte. In dieser Rolle ist er neben Marx und Nietzsche denn auch in Deutschland trotz seines ungleich geringeren geistigen Ranges der größte politische Bahnbrecher jenes säkularen Umschlags vom Idealismus zum Materialismus geworden, der den endgültigen Durchbruch der zivilisatorischen Korrespondenz von Ratio und Trieb bezeichnet. Derartige Umstände erklären den vielfach uneinheitlichen, ja im Grunde verworrenen Charakter der politisch-historischen Lehre Treitschkes, deren Zentrum die Vorstellung der nationalen Macht bildete. Dieser Charakter kam vor allem in dem letztlich ungeklärten Verhältnis zwischen Zweck und Mitteln zum Ausdruck, das sein Werk bestimmte und mit einer tiefen Fragwürdigkeit belastete. Es gab nämlich geringeren Geistern alsbald die Möglichkeit, seinen Idealismus mit seinem Realismus zu verwechseln und, indem sie ihn als Kronzeugen anriefen, seine Machtlehre materialistischnaturalistisch zu vergröbern. Auf solche Weise zeigt gerade die Wirkung Treitschkes besonders beispielhaft die ganze Gefährlichkeit der engen Verbindung des modernen Denkens mit der Triebhaftigkeit, die es notwendig freisetzt. Die unbestreitbar hohe Sittlichkeitsauffassung, von der die Gedankenwelt des einst so berühmten Historikers durchzogen ist, entstammt und entspricht durchaus der besten Tradition des subjektiven Idealismus mit seinem Glauben an Freiheit, Würde und Recht des Menschen und mit seinem ganzen rationalen Optimismus überhaupt. In dieser Tradition wurde Treitschke denn auch, wie gar nicht verkannt werden darf, der überzeugte Verkünder der liberalen Menschheitsideale. Aber aus dem idealistischen Rationalismus als geistiger Gesamtatmosphäre erwächst zugleich jene

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glühende Vaterlandsliebe, die kein Patriotismus mehr ist, sondern moderner Nationalismus. Und mit dieser leidenschaftlichen Glut für die größere Einheit aller deutschen Menschen und Länder, die bereits Fichte von ganz derselben Grundlage aus zum Verkünder der nationalen Freiheit hatte werden lassen, wurde Treitschke zum überzeugten Vertreter der nationalen Macht, die in Wahrheit politischer Kollektivegoismus ist. Wie Fichte, so wurzelt also auch Treitschke wesentlich in der Welt der größten modernen Ideologie, im Liberalismus. Aus dieser Welt kommt das doppelsinnige und gerade deshalb so wirksame Pathos seiner Sprache mit dem idealistischen Überschwang, hinter dem das Feuer der Leidenschaft brennt. Aus ihr kommt das Erlebnis absoluter Unbedingtheit, das den modernen Nationalismus so unverkennbar prägt und mit einem vermeintlichen Fortschrittsethos versieht. Aus ihr rührt die von keinen Zweifeln getrübte triebhafte Heftigkeit der ganz realistisch erscheinenden Ansprüche und Forderungen her, mit denen der Nationalismus schon hier auftritt und dann später auch seine eigene ideologische Gestalt gewinnt. All dies will zwar die liberale Geschichtslegende, die den modernen Nationalismus auf das Konto des Konservatismus setzt, nicht wahrhaben. Aber dennoch zeigt gerade sein Apostel Treitschke auf Schritt und Tritt, daß der deutsche Nationalismus wesentlich aus liberalen Elementen erwuchs. Die konservativen Elemente spielten selbst in ihrer Pseudoform tatsächlich eine völlig untergeordnete Rolle bei seiner Heraufkunft — erst Treitschkes geistesgeschichtliche Funktion war es, die tiefe Abneigung auch des Pseudokonservatismus gegen den modernen Nationalismus in der Breite zu überwinden und schließlich, ganz in Einklang mit dem Zeitgeist, in ihr Gegenteil zu verkehren. Doch ehe Treitschke mit seinem ideologischen Programm der nationalen Macht hervortrat, hatte er nicht nur in Fichte und Hegel längst historisch gewordene Vorgänger, sondern er hatte auch unmittelbare Vorläufer. Ihre Namen sind heute verklungen, doch ihre Wirkung auf die Zeitgenossen war trotzdem nicht gering: der Wille, das Handeln, die Tat traten jetzt ganz offen an die Stelle des Glaubens, der Metaphysik, der Spekulation und begründeten ein neues Weltbild, das entschieden politisch und das heißt triebhaft-willensmäßig orientiert war. Wie schon Dahlmanns späterer Ausspruch zeigt und die Schriften anderer Zeitgenossen bestätigen, hatten die Macht- und Einheitsbestrebungen der Paulskirche trotz und wegen ihres Scheiterns eine weitere Verstärkung und Vertiefung des Verlangens

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nach der Nation zur Folge. Die Schicht derjenigen, die den engen Zusammenhang zwischen Herrschaft und Macht als Schlüssel zur Geschichte ansahen und den Vorrang des Machtprinzips als eine Bedingung der nationalen Einigung betrachteten, nahm ständig zu, so daß Treitschke einen wohlvorbereiteten Boden vorfand, als er mit seinen Lehren auftrat. Aber nicht allein Politiker und Historiker bereiteten die Gedanken vor, die Treitschke dann mit solch zwingender Offenheit aussprach. Vielmehr drängte eben die Zeitströmung selber das Denken der Menschen in eine Richtung, die den Historiker bloß zum Exponenten der ganzen Entwicklung seiner Epoche machte. Denn die äußeren und inneren Verhältnisse des damaligen Lebens kamen der "Wandlung des Liberalismus zum Nationalliberalismus überall entgegen, ja sie bewirkten sie in "Wahrheit. Je mehr nämlich die zivilisatorische Ausgestaltung des Daseins vervollkommnet wurde; je mehr "Wissenschaft und "Wirtschaft fortschritten und zugleich mit ihren Errungenschaften auch die Fortschrittsidee in immer größere Schichten hineintrugen; je mehr der industrielle Kapitalismus an Boden gewann, desto stärker und weiter breitete sich' auch das rationale Denken aus, das all diesem zugrunde liegt. Und der Verfall der zahlreichen alten Bindungen, den die Errichtung einer neuen, freieren Lebensordnung zwangsläufig herbeiführte, zog eine Freisetzung der menschlichen Vitalität nach sich, deren ungeheures Ausmaß damals noch fast völlig hinter dem Glanz des äußeren Fortschritts verschwand, weil sie zum größten Teil in seinem Dienst aufging. Denn alles, was dem Fortschritt diente, erschien den Menschen jener Tage als gerechtfertigt — das galt auch für die Macht, deren kollektive Erscheinungsform sie vor jeder ernsthaften Kritik des individuellen Gewissens schützte. Erst durch diese Lage, die das persönliche wie das allgemeine Selbstbewußtsein mit Hilfe des idealistischen Pathos der liberalen Ideen so unwiderstehlich emporschießen ließ, erklärt sich der überwältigende Eindruck, den Treitschke auf seine Zeit machte. Er war damals gleichsam der "Wortführer der gesamten Zeitstimmung jener Epoche eines endgültigen Übergangs von der Pflege des Bodens zur Herrschaft der Maschine, von der Agrar- zur Industriewirtschaft, vom eng- zum großräumigen Handel und Verkehr, von der Anlaufs- zur Reifeperiode der modernen Zivilisation. Insbesondere wurde er zum geistigen Führer des Bürgertums, das aus äußeren und inneren Gründen eben nationalliberal wurde. Denn dieses Bürgertum war ja in seinen immer breiter werdenden klein- und großbürgerlichen

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Teilen der eigentliche Träger und Nutznießer jenes säkularen Übergangs von der alten in die neue Lebensform, und als solches erlebte es denn auch am frühesten und nachhaltigsten die psychologischen Folgen der neuen Lebensform an sich selber. Der Einfluß Treitschkes auf diejenigen Bevölkerungsschichten, die noch konservativ fühlten und dachten, war dagegen anfänglich nur gering und wuchs erst allmählich, als auch sie von der seelisch-geistigen Flut der Zeit ergriffen wurden. War doch all das, was Treitschke vertrat, dem Wesen des konservativen Gedankens im Kern durchaus fremd und entgegengesetzt. Was mit ihm und durch ihn wie der strahlende Glanz eines neuen Zeitalters an Gedanken und Wünschen heraufkam, das gehörte um seiner heftigen Veränderungssucht, um seines unstillbaren Neuerungsdranges, um seiner leidenschaftlichen Fortschrittlichkeit willen nicht dem alten, sondern dem neuen Geist an. Das war in Wahrheit bloß Geist vom Geiste jener Kräfte der Tiefe, die sich schon am Ende des vorigen Jahrhunderts auf die Nation berufen und zuletzt ganz Europa vom Westen her so erschüttert hatten, wie sie es im nächsten Jahrhundert von der Mitte des Erdteils her wiederum und noch furchtbarer tun sollten — nach anderer historischer Entwicklung und in anderer sozialer Lagerung, aber doch aus den gleichen inneren Quellen hervorbrechend wie jene. Als Preußen die kleindeutsche Lösung herbeiführte und damit die Sehnsucht des Nationalliberalismus erfüllte, verlieh Treitschke nur dem weitverbreiteten Empfinden der Dankbarkeit Ausdruck, als er die siegreiche Militärmonarchie mit dem idealen Glanz des nationalen Machtstaates umkleidete und zum leibhaften Symbol für den Glauben an den lSegen der Macht überhaupt erhob. Die absolutistische Komponente des Legitimismus, die ja dem gleichen zweckhaften Geist entstammte, wurde vor den Augen aller fortschrittlichen Deutschen damals dadurch gerechtfertigt und gleichsam legalisiert, daß die langersehnte Einigung auf ihrem Boden endlich gelang. Und dadurch erst konnte die konservative Komponente des Legitimismus, die ohnehin unter der aushöhlenden und auskältenden Wirkung der großwerdenden Zivilisation immer schwächer geworden war, der verführerischen Erscheinungsform des neuen Geistes noch mehr als bisher erliegen. Das heißt: auch diejenigen, die sich als Jünger Stahls jetzt Konservative nannten, begannen im Sinne des von Treitschke gepredigten Nationalismus zu denken, die Liebe zum Althergebrachten und die Treue zum Monarchen mit Wunsch und Willen zur nationalen Macht zu verwechseln

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und sich damit dem konservativen Gedanken in seiner ursprünglichen Absicht endgültig zu entfremden. Es lag dabei in der Natur der Sache, daß die preußischen Konservativen diesem Prozeß viel eher und viel mehr unterlagen als die Konservativen in den anderen deutschen Ländern. Fiel doch bei ihnen die Liebe zum Althergebrachten, die sich vor allem in der Treue zum Landesfürsten verkörperte, scheinbar widerspruchslos mit dem neuen Ziel der nationalen Macht zusammen. Denn es war Preußen, das 1866 die deutsche Einigung vollbrachte und 1871 durch die Gründung des neuen Kaiserreiches festigte. Legitimismus und Nationalismus konnten hier infolgedessen viel leichter als anderswo ineinanderfließen und zu einer für Deutschland neuen ideologischen Legierung führen. In ihr verschmolz die alte Machtidee mit der neuen, wobei die letztere aber, dem Zeitgeist gemäß, durchaus Farbe und Qualität des Produkts bestimmte. Deshalb entwickelte der preußische Pseudokonservatismus, indem er gerade in seinen führenden Kreisen vor der faszinierenden Pracht dieser neuen Legierung die letzten Elemente des echt konservativen Gedankens aufgab, am Ende einen machtpolitischen Nationalismus von ganz eigener Stärke, die Disziplin mit Leidenschaft vereinigte. Und seine ideologische Herkunft erweist sich noch besonders darin, daß er dann später auch ganz folgerichtig die Monarchie überdauerte — er war also gar nicht primär an Fürsten und Adel gebunden, sondern an das moderne Denken und seine fortschreitende Triebentbindung. In den anderen deutschen Ländern dagegen befanden sich die konservativen Schichten in einer gänzlich verschiedenen Lage. Dort konnte die Liebe zum Althergebrachten, das im angestammten Fürstenhaus sein sichtbares Sinnbild hatte, nicht mit dem Ziel des neuen Nationalismus zusammenfallen. Es widersprach ihm im Gegenteil und vor allem dann, als das deutsche Kaiserreich unter der preußischen Monarchie errichtet worden war. Diesem Umstand ist es zuzuschreiben, wenn die Konservativen außerhalb Preußens der Überwältigung durch den Nationalismus jenen heftigen, wenngleich vergeblichen Widerstand entgegensetzten, wie er sich etwa in Hannover oder auch in Bayern deutlich gezeigt hat. Ihnen wurde es in Anbetracht dieses Umstandes auch viel leichter, den konservativen Gedanken trotz aller entstellenden Einflüsse der Zeit in einer relativen Reinheit zu bewahren. Auf solche Weise erklärt sich das besondere Schicksal des politischen Konservatismus in Deutschland mithin ohne Zwang als eine naheliegende,

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ja notwendige Folge der eigentümlichen geschichtlichen Entwicklung. Seine Überwältigung durch den liberalen Nationalismus erfolgte — allerdings auch im konservativen Rechtsstaat Preußen zumal während der Regierungszeit Bismarcks nicht ohne erhebliche Proteste aus dem Kreis der alten Konservativen gegen die „neupreußische Macht- und Eroberungspolitik", gegen die „gottesleugnerische Staatsomnipotenz", gegen den „patriotischen Egoismus" als höchstes Gesetz, gegen die Lehre vom völlig freien Eigentum, gegen die „gott- und rechtlose Raubgier" des „frevelhaften großen Abenteurers" Bismarck und seine grundsatzlose revolutionäre Machtpolitik — nur da, wo die Treue zum Landesfürsten in dem nationalen Ziel des neuen Geistes aufgehen konnte. W o das nicht möglich war, unterblieb sie stattdessen weitestgehend. Diesen f ü r die Geschichte des konservativen Gedankens in seiner neueren Phase maßgebenden Sachverhalt gilt es zu berücksichtigen, wenn man die Wirkung Treitschkes nicht nur auf das deutsche Bürgertum, sondern auch auf die führende Schicht des politischen Konservatismus in Preußen beurteilen will. Dort machte der Pseudokonservatismus im Zuge der kapitalistischen Entwicklung eine ganz ähnliche Ausbildung zur Klassenideologie durch wie der Liberalismus. Dies gedankliche Gebilde, in dem einerseits die neue Machtidee den alten Machtgedanken gleichsam mit frischem Leben erfüllte und andererseits der neue Nationalismus den alten Patriotismus unbemerkt in sich aufsog, war mit seinen wesentlichen Charakterzügen deshalb in Wahrheit alles andere als konservativ. Schon in der Bismarckzeit hatte sich das klar genug herausgestellt, wie die Proteste der alten Konservativen gegen den neuen Lauf der Dinge bewiesen. Aber seine Träger bezeichneten sich dennoch als Konservative und vermochten dank solcher Namensgebung auch jene noch echt konservativen Teile der Bevölkerung willig oder unwillig hinter sich herzuziehen, die von den zivilisatorischen Einflüssen des Zeitalters gar nicht oder doch kaum tiefer berührt wurden. Da jedoch die Deckung durch Stahls Lehre bald nicht mehr genügte, um sich gegen die anderen und eigentlichen Ideologien zu wehren; da vor allen Dingen die bisher erst schwache Ideologie des Sozialismus in der zweiten H ä l f t e des Jahrhunderts mit ihrer marxistischen Fassung immer stärker auf den Plan trat, war Treitschkes Lehre in dieser Situation eine willkommene Stütze. Die Übernahme des Nationalismus festigte denn auch, als sie auf das Drängen des Liberalismus hin nach langem Zögern schließlich einmal statt-

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gefunden hatte, die politische Stellung des Pseudokonservatismus auf lange hinaus, ja bis ins 20. Jahrhundert hinein. Als das reale Fundament dieser Stellung entwickelte sich dabei der Militarismus, der ein geistiges Kind sowohl des alten Machtstaates der rationalen Staatsräson wie vor allem des neuen Nationalstaates der Volkssouveränität ist. Wo die nationale Freiheit so leidenschaftlich betont wurde wie bei Fichte, wo die nationale Macht so glühend verherrlicht wurde wie bei Treitschke, da mußte sich nämlich der Gedanke der allgemeinen Wehrpflicht, der unlösbar mit dem Prinzip von der Volkssouveränität verknüpft ist, mit dem Nationalismus verbinden und dort zum Ausgang für den modernen Militarismus werden, wo eine starke soldatische Tradition vorhanden war. Das war schon im Frankreich der Revolution und Napoleons der Fall, und das war dann auch im preußisch-deutschen Kaiserreich ebenso. Denn hier schuf der Fortschritt sozusagen über Nacht alle äußeren und inneren Bedingungen für die Aufstellung und Ausbildung eines Volksheeres sowie für die Rüstung und Führung eines Nationalkrieges. Auch bei der psychologischen Herkunft des Militarismus in Deutschland handelt es sich also — entgegen allen Versuchen der liberalen Geschichtslegende in neuerer und neuester Zeit, diesen wahren Sachverhalt zu verwischen — wiederum um die Frucht einer langdauernden Überwältigung durch die liberalen Ideen samt der ihnen unvermeidlich folgenden Triebentbindung. Ohne den modernen Nationalismus wäre die Entstehung dieses Militarismus, der ja auch keineswegs auf Deutschland beschränkt war, zweifellos gar nicht möglich gewesen, so groß die Rolle der sozialen Struktur Preußens bei dem ganzen Prozeß auch immer veranschlagt werden mag. Denn der Geist der alten Militärmonarchie, die Deutschland und Europa vor dem Osten beschirmte, war trotz und wegen ihrer aus dem Absolutismus stammenden Machtidee durchaus engräumig. Der Legitimismus hatte eine natürliche Scheu vor dem Kriege und bewahrte auch dann, wenn er als Militärmonarchie auftrat, nach Möglichkeit den Frieden. Die weitere Geschichte des deutschen Militarismus als einer Art von ideologischer Gesinnung bestätigt mit ihren Etappen des Alldeutschtums und des Nationalsozialismus nur diese geistig-seelische Herkunft. Der Kampf der verschiedenen Ideologien um den maßgebenden Einfluß im Staate hat gerade in neuerer Zeit die Einsicht in den wahren Sachverhalt immer wieder dadurch verhindert, daß das Instrument des Militarismus, die Armee, mit dem politischen Geist verwechselt wurde, der sie und ihre Menschen offen

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oder heimlich ergriff. Und erst der Bankrott der Ideologien läßt erkennen, daß es der Nationalismus war, der die Armee als das Instrument seiner Machthoffnungen teilweise mit dem Geist des Militarismus erfüllte — und nicht etwa umgekehrt. Daß aber der deutsche Nationalismus dies tat und auch mit Erfolg überhaupt tun konnte, lag wohl vor allem in der politischgeographischen Situation Deutschlands begründet, die einerseits dem Staat von vornherein die Funktion eines Bollwerks gegen den Osten zuwies und andererseits kein anderes Ventil für die im zivilisatorischen Fortschritt zwangsläufig freigewordene kollektive Triebhaftigkeit offen ließ. Der Kernsatz des Nationalismus, den Treitschke mit solch weitreichenden Folgen verkündete, stellt in pathetischer Unbedingtheit fest, daß „das Wesen des Staates zum ersten Macht, zum zweiten Macht und zum dritten nochmals Macht ist". Allerdings sah Treitschke diese Macht nicht als Selbstzweck an. Das tut seine Kritik an der Lehre Macchiavellis dar, deren größte Schwäche er nicht in der Unsittlichkeit der Mittel, sondern in der Inhaltslosigkeit des bloß um seiner selbst willen bestehenden Staates erblickte. Denn erst die sittlichen Zwecke der Herrschaft, der Schutz und die Förderung der höheren Güter des Menschen wie Religion und Kultur, Freiheit und Recht geben der physischen Macht ihre Rechtfertigung. Doch auch in anderer Hinsicht setzte Treitschke den subjektiven Idealismus Fichtes fort. Ganz in Einklang mit der psychologisch vorbestimmten "Wendung der Zeit zum Ideal des Handelns, zu Tat und Willen mündet seine Auffassung der Geschichte nämlich in einer neuen Bewertung des tätigen Menschen, der starken Persönlichkeit — schon Hegel hatte ja in Napoleon den Weltgeist reken gesehen. Nach Treitschkes Auffassung machen die großen Männer die Geschichte. Die historischen Machtkämpfe sind daher eine Auseinandersetzung der großen handelnden Personen, über die dann die Geschichtswissenschaft ein Sitt'engericht hält. So wird nicht wie bei Ranke, der im Sinne Hegels mehr die allgemeine Bewegung der säkularen Machtkämpfe verfolgte, die Universalgeschichte der umfassenden Weltverhältnisse sein Thema, sondern Nationalge schichte als das Wirken der freien persönlichen Kräfte im Sinne Fichtes. Nation und Staat galten ihm dabei als das natürliche Mittel zur Ausbildung einer freien sittlichen Persönlichkeit. Sie waren notwendig das Zentrum des neuen politischen Weltbildes, das, während es an den überkommenen klassischen Humanitätsidealen noch festhielt, doch immer mehr Trieb und Leidenschaft, Wille und Wunsch als Motor und Maßstab des menschlichen Geschehens

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begriff. N u r w o volle persönliche Freiheit ist, so erkannte und bekannte der Historiker, kann auch politische Freiheit gedeihen und umgekehrt. Beide sind tatsächlich untrennbar voneinander und beruhen als solche auf dem Idealismus der Freiheit und Sittlichkeit, dem Treitschke durch die V e r w e n dung des Individualitätsgedankens einen eindrucksvollen Farbenreichtum zu geben wußte, doch audi einen Enthusiasmus, der ähnlich mitreißend wie einst bei Fichte wirkte. A b e r gerade aus seinem ethischen Bedürfnis nach einem absoluten Fundament erwächst Treitsdike nun — wie bei Fichte und Hegel folgerichtig die mit dem Rationalismus gegebene Korrespondenz zwischen R a t i o und Trieb bis zum Schluß bestätigend — auch- seine Machtlehre. U n d ihr praktischer Effekt ist eine Überschattung, je Verdunkelung des idealistischen Liberalismus, der damit gewissermaßen aus sich selbst heraus überwältigt wird. W i e es absolut wahre sittliche Ideen gibt, so steht auch die absolute Wahrheit fest, daß der Staat wesentlich Macht ist — und hier beginnt der Einfluß Hegels und des objektiven Idealismus. Treitschke v e r w i r f t z w a r den übersteigerten Staatsbegriff und die Staatsvergottung Hegels ebenso wie die inhaltslose Machtlehre des Macchiavelli, indem er den Staat unter das Sittengesetz stellt. Doch er verwischt mit H i l f e des Identitätsgedankens alsdann den Unterschied zwischen individuellem und kollektivem Handeln und erklärt: da das Wesen des Staates Macht ist, muß die Sorge für seine Macht die höchste sittliche Pflicht des Staates sein. Sie hat allen anderen Verpflichtungen voranzugehen — „sich selbst z u behaupten, das ist für ihn absolut sittlich". D a m i t deutet er die Nahrhaftigkeit des staatlichen Machtstrebens in Sittlichkeit um und sanktioniert die Staatsräson wiederum in ähnlicher, bloß noch leidenschaftlicherer Weise als Fichte und Hegel. Diese erneute Sanktionierung der Staatsräson mußte indessen jetzt, in der neuen Situation der größeren politischen Einheit, noch ganz andere Folgen nach sich ziehen als früher. Verglichen mit der Staatsräson in der Epoche des frühen Legitimismus w i r k t denn auch die Staatsräson in der Epoche des neuen Nationalismus w i e ein gewalttätiger Riese gegenüber einem vorsichtigen Zwerg. D e r Legitimismus hatte sie nicht nur dazu benutzt, um seine Herrschaft zu stabilisieren, sondern auch um den inneren und äußeren Frieden im Rahmen eines Rechtsstaates geordneter Freiheiten zu erhalten. D e r Nationalismus hingegen verwandte sie, um immer mehr Macht zu gewinnen und Kriege zu entfesseln

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— denn anders war sein größeres Ziel nicht zu erreichen. So wurde die Staatsräson auf der neuen Ebene des größeren Ganzen, in dem mit den alten Schranken auch die alten Bindungen der allzeit in der Tiefe des Menschen lauernden Triebhaftigkeit aufgelöst wurden, in Gestalt einer rücksichtslosen Interessenpolitik zu einem der wirksamsten Werkzeuge, die einem zügellosen Machtnationalismus die Bahn frei machten. Denn erst aus dieser neuen Situation erwuchsen ihr die soviel größere K r a f t und die soviel größeren Mittel, aber auch die leidenschaftliche Unbedingtheit, mit der sie sich fortlaufend mehr zur Geltung brachte. Betrachtet man den inneren Zustand Deutschlands vom letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts ab unter dem Aspekt der zivilisatorischen Korrespondenz von Ratio und Trieb, und das heißt in Bezug auf das Auftreten der mit der vordringenden Technik überall entbundenen Triebregungen, so ist fraglos die Ausbildung und Reife des industriellen Kapitalismus der weithin entscheidende Faktor. Es war die Epoche, in der Deutschland zum größten Industriestaat des europäischen Festlandes wurde, in der die Industriereviere mit ihren Menschenmassen auf engem Raum entstanden, in der ein wahrer Taumel des kapitalistischen Geschäfts so gut wie alle Teile der Wirtschaft ergriff und Lebensgefühl wie Lebensstil der Menschen prägte und formte. Damit erklomm die materialistische Form des Liberalismus den ersten Gipfel ihrer Blüte, den die Zeit selbst in fast ungetrübtem Optimismus erlebte und unter dem Zeichen des unaufhaltsamen Fortschritts begriff, ohne von den drohenden Schattenseiten des zivilisatorischen A u f schwungs — verkörpert vor allem in der sozialen Frage und anschaulich unterstrichen von der Kunst des Naturalismus — mit wirklichen Konsequenzen Notiz zu nehmen. Das allgemeine Fortschrittsdenken verklärte und verhüllte die ebenso allgemeine Triebfreisetzung, die in jeder sozialen Schicht ihren besonderen Ausdruck gewann — im Adel entsprechend seiner Herrschaftslehre, im Bürgertum entsprechend seiner Erwerbslehre und im Arbeitertum entsprechend seiner Kraftlehre, die in Form der entsprechenden Ideologien dem politischen Leben immer tiefer ihren Stempel aufdrückten. Alle drei Lehren, in denen die freiwerdenden Triebregungen Gestalt annahmen, sind letztlich bloß verschiedene, durch die jeweilige Stellung im sozialen Organismus bestimmte Fassungen des kollektiven Egoismus und Machtstrebens, dem sie in tragischer Verkennung der Gemeinsamkeit des Schicksals aller dienten. Hierbei hatte die letztgenannte Gruppe sicherlich

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III. Die beiden Formen des konservativen Gedankens

noch am meisten Grund, ihr Recht auf ein neues Dasein zu betonen. Denn der liberale Kapitalismus zeigte gegenüber den unmittelbaren H e l f e r n an seinem W e r k den Egoismus und Machtdrang am nacktesten und blindesten. U n d sein Geist, die durch und durch triebhaft bestimmte Zweckrationalität, erfüllte denn auch zuerst heimlich und bald offen die gesamte Atmosphäre der Zeit wie ein schleichendes G i f t , das überall Gegensätze verschärfte, Widersprüche vertiefte und unter der Decke der zivilisatorischen Errungenschaften K l ü f t e aufriß, die nicht mehr zu schließen waren. Die Reste der alten staatlichen und zwischenstaatlichen Lebensordnung, deren weise politische und wirtschaftliche Arbeitsteilung nichts mehr galt, wurden immer heilloser zerrüttet. Die Menschen wurden gewissermaßen g a n z von innen heraus einander immer tiefer verfeindet, bis sie schließlich unfähig zum friedlichen Zusammenleben wie bisher waren. U n d im Gewände von V i t a lität, A k t i v i t ä t und Energie traten alsbald nicht bloß auf staatlichem und sozialem Gebiet, sondern auch sonst überall die Nacht- und Schattenseiten des menschlichen Lebens mehr und mehr hervor. Dies alles bildete das den meisten Zeitgenossen verborgen bleibende geistig-seelische Milieu, aus dem in einem tieferen Sinne der erste Weltkrieg erwuchs, f ü r dessen Ausbruch dann vor allem R u ß l a n d und der Panslawismus verantwortlich waren. Daraus entstand das gewitterschwangere K l i m a in den europäischen Ländern, das feinfühlige Beobachter schon in langen Jahren vor seinem Ausbruch hinter dem trügerischen G l a n z des Fortschritts die N ä h e einer Katastrophe ahnen ließ. D e r wirksamste Ausdruck dieses Milieus und dieses Klimas auf deutscher Seite aber w a r bezeichnenderweise der imperialistische Nationalismus, den das sogenannte Alldeutschtum mit einer durchaus typischen Maßlosigkeit entwickelte. Er offenbarte mit seinen Auswirkungen und Begleitformen nur eine andere Seite des liberalen K a p i talismus und stellte, bis er sich später von seiner ursprünglichen Basis ablöste und gleichsam zum Sammelbecken aller kollektiven Triebhaftigkeit schlechthin wurde, in Wahrheit dessen charakteristischste politische Erscheinungsart in Deutschland dar. Die Geburt dieses zivilisatorisch-technischen, industriell-kapitalistischen Nationalismus, der mit seiner engen Bedenkenlosigkeit und seiner triebhaften Ungeduld auch der spezielle Geburtshelfer des modernen Militarismus als Gesinnung wurde, hängt primär mit dem Geist des liberalen Kapitalismus zusammen und bloß höchst sekundär mit dem pseudokonservativen Legitimismus, der bei all seiner historisch begründeten Staatsräson

D. Die Entstehung des Nationalismus: Heinrich von Treitschke

305

doch niemals die bedenkenlose U n g e d u l d zeigte, w i e sie f ü r jenen

so

typisch ist. A l s solcher gehört mithin auch der alldeutsche Nationalismus wesentlich auf die Seite des Fortschritts

und nicht e t w a auf die Seite der

bewahrenden und erhaltenden K r ä f t e des politischen Lebens. Dieser N a t i o nalismus mit seiner überheblichen P r e d i g t v o m deutschen nicht bewahren und erhalten, sondern gewinnen

Herrenvolk

und erobern.

nicht M a ß und Bescheidung, vielmehr kennzeichneten ihn die heit und die Anmaßung

wollte

Er k a n n t e Unzufrieden-

des rational-triebhaften Fortschritts. U n d es ist

lediglich der allerdings o f t weitgehenden K o r r u m p i e r u n g v o r allem des offiziellen Konservatismus

durch

den

Fortschritt

zuzuschreiben,

wenn

späterhin die öffentliche Meinung im Banne der liberalen Geschichtslegende — die aus ihrer ideologischen Befangenheit heraus das w a h r e Verhältnis der K r ä f t e in Deutschland wie anderswo nicht sehen k a n n und w i l l —

einen

gegenteiligen Eindruck erhalten hat. D e n n die wirklich bewegenden K r ä f t e des Alldeutschtums w a r e n eben „kapitalistischer"

und nicht konservativer,

ja nicht einmal pseudokonservativer A r t . Jene stellten diese in ihren Dienst, w i e schon die Geschichte der Entstehung des Alldeutschtums beweist, und nicht e t w a umgekehrt. V e r k e n n t oder unterschlägt man diese psychologischen Umstände, so gerät die Erkenntnis und B e w ä l t i g u n g des modernen Nationalismus auch hier in eine Sackgasse. D e r Pseudokonservatismus bildete, so sehr er schließlich mit seinen verschiedenen A u s p r ä g u n g e n als H a n d l a n g e r zum Unheil zu werten ist, immer nur das Werkzeug

der zivilisatorischen Triebfreisetzung

durch den industriellen Kapitalismus, dessen Machtstreben nicht nur viel größer, sondern gleichsam auch reinerer H e r k u n f t ist. W e i l dieses größere und

neue

Machtstreben

aber

im

Zeitalter

des rationalen

Fortschritts

zugleich durch die Z i v i l i s a t i o n selbst v e r k ö r p e r t w u r d e und deshalb den meisten Menschen mehr oder weniger unsichtbar blieb, konnte das "Werkzeug so lange f ü r den Urheber ausgegeben werden, um diesem ein A l i b i zu ermöglichen. Mit

anderen W o r t e n :

Deutschlands

In

der geographischen

und

führte jene moderne Triebentbindung,

historischen

Lage

die anderswo

auf

der Basis längst erfolgter nationaler Einigung in ökonomischen und kolonisatorischen Bahnen weitgehend Gestalt und Befriedigung gewinnen konnte, z u einem immer leidenschaftlicher

werdenden sozialen und nationalen

Egois-

mus, der sich in zahlreichen politischen Wunschbildern ausdrückte. Sein gleichsam eingesperrter Hochdruck sprengte dann am Ende jede K o n t i ao

Mühlenfeld, Politik

306

III. Die beiden Formen des konservativen Gedankens

nuität von Tradition und Konvention, da die praktischen Möglichkeiten zur Auflösung dieser Stauung und das heißt zur Befriedigung ihrer unwiderstehlichen Gewalt sowohl wirtschaftlich als auch politisch nicht zu-, sondern abnahmen, je mehr sich der Besitzstand der anderen Staaten in der Welt konsolidierte. Hier liegt für das psychologische Verständnis die eigentliche Wurzel zu der unglücklichen staatspolitischen wie welthistorischen Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert — und nicht etwa nur in den persönlichen Fehlern einzelner Staatsmänner, die in den anderen Ländern ebenfalls gemacht wurden, ohne zu derartigen Katastrophen zu führen. Die einzelnen Schichten und Glieder des deutschen Volkes aber waren nur Organe dieses Gesamtvorganges in der Tiefe der geistig-seelischen Zeitentwicklung überhaupt — Organe, die je nach ihrem sozialen Ort eine dialektische Rolle im verwickelten und verwirrenden Ganzen des modernen Schicksals spielten. Was im 19. Jahrhundert Fichte begonnen und Treitschke fortgesetzt hatte, das vollendete dann im 20. Jahrhundert mit eben derselben Funktion, Sprachrohr für Zeittendenzen und zugleich Wegweiser für Zeitfragen zu sein, vor allem Spengler in einer für den fortschreitenden Zeitgeist symptomatischen Weise. Bei ihm waren die Tendenzen, die diesseits wie jenseits der Grenzen mit einer durchaus schicksalhaften Folgerichtigkeit zum ersten Weltkrieg geführt hatten, in einprägsamer Form weitergebildet. Hier wurde die Machtidee des Legitimismus — in straffer historischer Rückführung auf Preußen, aber ohne Sinn für die realen Mängel und die Fragwürdigkeit ihrer wahren geistigen Herkunft — mit der Machtidee des liberalen Nationalismus, dem Politik und Wirtschaft schon seit Bismarcks Tagen ganz materialistisch ineinandergeflossen waren, noch einmal verschmolzen. Dies geschah auf eine Art, die überaus bezeichnend für die Blindheit des rationalen Denkens gegenüber seinen eigenen Voraussetzungen und Folgen ist. Aber diese Blindheit entsprach nur der Gesamtlage der Epoche, die den endgültigen Bankrott der modernen Ideologien schon deutlich erkennen ließ. Wie bereits der erste Weltkrieg seine tiefsten Quellen im größten Problem der technischen Zivilisation, im entfesselten Kollektivegoismus hatte, so brachte nämlich auch sein Ende durch die völlig wirklichkeitsfremden, alle Lehren der Vergangenheit mißachtenden und darum tief ideologischen Friedensverträge, die Haß, Neid und Selbstsucht in einem künstlichen, doch kunstlosen Neubau der internationalen Ordnung versteckten, keinen echten Frieden hervor. Ihr dilettantisches Ergebnis, das auf der geschichtslosen

D. Die Entstehung des Nationalismus: Heinridi von Treitsdike

307

Formel vom Selbstbestimmungsrecht der Völker beruhte, war vielmehr bloß eine neue Verstärkung der nationalistischen Regungen. Trotz aller Erfahrung aus der ersten großen Katastrophe der Gesamtzivilisation blieb der menschliche Ertrag des rationalen Fortschritts in diesen beiden Jahrzehnten vor der zweiten, noch weit größeren Katastrophe also nichts anderes als eine weitere Zunahme des politischen Egoismus. Und damit trat das Massenzeitalter unter dem Zeichen der reif gewordenen Technik nunmehr in das Stadium seiner akuten Gefährdung. Uberall in Europa schoß der Nationalismus, durch eine Vielzahl von demokratischen Masken nur oberflächlich und doch für Täuschung und Selbsttäuschung äußerst wirksam verhüllt, mit der ganzen explosiven Wucht der hochzivilisatorischen Triebentbindung empor und bediente sich wirtschaftlicher oder kultureller, politischer oder militärischer, wissenschaftlicher oder künstlerischer Mittel, um Ausdruck und Befriedigung zu erlangen. Wohl versuchte man sich in allerlei großen und kleinen Unternehmungen der Abwehr, der Beschwichtigung und Ablenkung. Aber in einer tragisch wirkenden Paradoxie war das Resultat dieser Bemühungen tatsächlich nichts anderes als die Verschlimmerung des Übels, an dem das Zeitalter krankte, ohne es zu wissen. Denn beinahe all diese Bemühungen erfolgten vom Boden des ideologischen Denkens aus und riefen daher doch nur wieder eine weitere Entbindung hervor, statt neue Bindung zu schaffen oder alte wiederherzustellen. Die modernen Ideologien, die nach dem Krieg gerade in Deutschland insgesamt noch einmal ihre große Stunde als weltliche Heilslehren erlebten, lösten mit ihrem einseitigen Denken und der daraus folgenden Ohnmacht gegenüber der Zeitproblematik, die ja mit ihnen selbst identisch war, eine wahre Flut zusätzlicher Triebhaftigkeit aus. Sie zerstörte in allen Lebensbereichen bloß noch mehr alte Bindungen und riß nur noch mehr alte Schranken nieder, ohne irgendeinen brauchbaren Ersatz an deren Stelle setzen zu können. Und von diesen inneren Umständen, die gleichzeitig einen entsprechenden äußeren Zustand der heillosen Unordnung und Unsicherheit herbeiführten, wurde auch die Endphase des Pseudokonservatismus bestimmt. Mit einer Reihe von Gebilden, die von sehnsüchtiger Romantik über schwärmerische Mythosgläubigkeit bis zum leidenschaftlichen Radikalismus reichten und sämtlich doch bloß Sonderformen des modernen Nationalismus waren, die ihr eigentliches Wesen gerne hinter einer Überspitzung einzelner konservativer Elemente verbargen — in Gestalt solcher Gebilde tat er in dieser Zeit die letzten Schritte auf seinem 20*

308

III. Die beiden Formen des konservativen Gedankens

langen Irrweg, bis er schließlich an dem Widerspruch zerbrach1, eine konservative Ideologie zu sein. Oswald Spengler (1880—1936) war fraglos der bedeutendste Vertreter der letzten Phase des deutschen Pseudokonservatismus, der mit ihm an den eigenen Folgen unterging. Als Philosoph der Geschichte stand er in der populären Nachfolge nicht nur Fichtes und Treitschkes, nicht nur Hegels und Rankes, sondern kaum weniger auch Darwins und Nietzsches, deren Naturalismus und Biologismus ihn nachhaltig beeinflußten. In seinem Werk, das trotz des spürbaren Rangunterschiedes in der kalten Leidenschaft des Denkens so sehr an Hegel und in der stolzen Menschenverachtung so oft an Nietzsche gemahnt, trafen sich also die verschiedensten älteren und jüngeren Einflüsse, um zu einem höchst eigenartigen und modernen Ganzen zu verschmelzen. Es hat mit einer Menge von faszinierenden, aber leicht schiefen Vergleichen vor allem in Form historischer Symbolerscheinungen eine politisch verhängnisvolle Wirkung auf seine Zeit und besonders auf breite Teile der deutschen Bildungsschicht ausgeübt. Diese Wirkung wurde um so gefährlicher, als sein extremer Pseudokonservatismus im Gewände eines geschichts- und kulturphilosophischen Systems auftrat, das dank seines enzyklopädischen Umfangs und durch die spekulative Geschlossenheit einer unleugbar künstlerischen Darstellung dem unkritischen Blick die gedankliche Brüchigkeit seines Inhalts verbarg, der sich aus Idealismus und Realismus, Romantik und Naturalistik zusammensetzte. Mit suggestiver Kraft entwickelte Spengler gleichsam vor dem Prospekt seiner weltgeschichtlich umfassenden Schau der menschlichen Kultur, bei der er in vielen Einzelheiten ungewöhnliche physiognomische Hellsichtigkeit bewies, eine durch und durch ideologische, bis zum Rand mit Affekten geladene Auffassung der neueren deutschen Geschichte. Sie gipfelte im reinen Machtgedanken des modernen Nationalismus und verklärte obendrein in zwielichtiger Weise das Preußentum als seinen besten, weil vermeintlich echt sozialistischen Träger. Das moralische Zentrum dieser ebenso ideologischen wie pathetischen Geschichtsauffassung bildete dabei die Anbetung, ja geradezu Vergötzung des Staates und des Krieges. Und ganz folgerichtig erhielten dann Rücksichtslosigkeit und Bedenkenlosigkeit im Streben nach historischer Größe, die als edle Form noch in der Barbarei gesehen wurde, die Namen von Kraft und Strenge, wodurch alle Menschlichkeit nur noch als verächtliche Schwäche und Dekadenz erschien. Diese im Grunde naturalistischen Forderungen an eine angeblich wahr-

D. Die Entstehung des Nationalismus

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h a f t historische Existenz waren in einer seltsam bannenden Mischung von Schicksalsmystik und Geschichtsfatalismus verbunden mit den Begriffen der Pflicht, des Dienstes, der Disziplin, des Opfers, der Askese und ähnlicher Beitaten eines nur noch dem Machttrieb dienenden und daher geradezu pervers anmutenden Idealismus. In der kühlen Rationalität seines Systems wirkten sie lediglich als Idole eines triebhaft versachlichten Ethos und besaßen nichts mehr von jenem Feuer, das in ähnlichem Zusammenhang noch in Fichte und Treitschke geglüht hatte. Der einstige Optimismus des rationalen Denkens, das am Ende seiner langen Entwicklung allein die blanke Leidenschaft zur Macht zuließ, hatte sich längst in eisigen Pessimismus und düsteren Determinismus verwandelt. Wie bei Hegel und Treitschke, begegnet auch bei Spengler — und das hat ihn irrtümlich als konservativen Denker erscheinen lassen — die Verwendung der romantischen Individualitätsidee, um die Einseitigkeit von Ratio und Trieb zu verhüllen oder abzumildern. Der Mensch als Raubtier und die führende Schicht als machtbewußte Herrenkaste, der rationale Beamten- iund Militärstaat und das sozialistische Beamtenprinzip überhaupt sowie das moderne technische T u n als „faustischer Drang zur Unendlichkeit" werden in seinem Weltbild mit einer romantisch wirkenden, in Wahrheit aber naturalistischen Auffassung von Geschichte, Kultur und Staat bloß umhüllt. Und auch hier siegt ähnlich wie bei Hegel die rationale Komponente über die konservative, die bloß Vehikel f ü r die radikale Unbedingtheit ihres ideologischen Gegenpols ist. Doch die bis zur Verwirrung reiche Fülle und die bis zur Glätte flüssige Eleganz der Darbietung verbargen diese gedankliche Unvereinbarkeit der Elemente seiner Philosophie und ermöglichten ihr jene verführerische Wirkung auf das politische Denken der Zeit. Die Größe dieser Wirkung allerdings ist bloß dadurch zu begreifen, daß Spenglers Ansichten auf Menschen trafen, die psychologisch von dem prinzipiell gleichen inneren Geschehen bestimmt waren wie er selbst. Die Hauptgedanken Spenglers wurden dann in minder anspruchsvoller Form und verschiedenster Ausprägung von zahlreichen kleinen und kleinsten Geistern in die Breite und Weite des politischen Lebens nach dem ersten Weltkrieg getragen. Was sie in solcher Nachfolge noch übrigließen von der einstigen Gestalt des konservativen Gedankens, das konnte dann etwa, begünstigt durch die allgemeine Lage Deutschlands, ein als typisch moderner Spezialist höchst befähigter, aber als politisch-historischer Kopf engstirniger

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I I I . Die beiden Formen des konservativen Gedankens

und von persönlichen Ressentiments verzehrter Mann wie Ludendorff in seinen mit Irrtum und Haß erfüllten Schriften bis auf die Neige zerstören. Blinder Nationalismus machte hier in vollem Ernst für alles Unglück der deutschen Geschichte überstaatliche Geheimmächte verantwortlich; blinder Militarismus sah nur durch die Brille der eigenen Berufstätigkeit das Heil der Zukunft; blinder Machtglaube versuchte die Jugend mit Hilfe mythologischer Vorstellungen zu fanatisieren. Das alles geschah in der pathologisch wirkenden Pose eines „Weltrevolutionärs", der bedenkenlos das ganze Gewicht eines einst weitbekannten, aber lediglich als Spezialist der modernen Kriegführung erworbenen Namens für seine Lehre einsetzte, die alsbald eine Art von politischer Sekte hervorbrachte. Doch dieser Weltrevolutionär wurde solcherart bloß zu einem der Steigbügelhalter der bisher letzten weltlichen Heilslehre der technischen Zivilisation. Und diese neue Heilslehre, der Faschismus, entschleierte sodann auf ihrem Weg durdi die Geschichte vor aller Welt unmißverständlich den wahren Charakter des Nationalismus, seine ganz und gar den echten Intentionen des konservativen Gedankens entgegengesetzte Maßlosigkeit, seine tief ideologische Natur, sein auf unersättlich revolutionären Fortschrittserwartungen beruhendes, jeder echten Tradition und Kontinuität feindliches, weil deren Formen zweckhaft mißbrauchendes Wesen. Wie groß der Gegensatz zwischen dem konservativen Gedanken und dem modernen Nationalismus war, das zeigte dabei insbesondere noch der Umstand, daß sich dieser Nationalismus stellenweise sogar mit dem Nihilismus verbinden konnte. Denn der Nihilismus bildet, ohne eine selbständige Ideologie geworden zu sein, doch gewissermaßen das Endergebnis des „ideologischen Sündenfalls*' der modernen Menschen — es gibt keinen tieferen Gegensatz als denjenigen zwischen nihilistischem und konservativem Denken, sofern letzteres sich selber treu bleibt. Mit dem machtpolitischen Nationalismus Spenglers und Ludendorffs — die hier nur stellvertretend für eine ganze Reihe weiterer Namen und Richtungen seit Treitschkes Tagen erwähnt werden — war die Geschichte des deutschen Pseudokonservatismus, die durch seine verschiedenen Masken vor allem im 20. Jahrhundert so verwickelt zu sein scheint und doch in ihrer psychologischen Entwicklungslinie bis hin zur Vergötzung von Gewalt und Zerstörung so überaus klar ist, beendet. Er hat sich im Verlauf seines ideologischen Denkens selbst widerlegt und ist schließlich auf dem Wege von der Schwärmerei zur Leidenschaft in der Umarmung jener Kräfte der Tiefe erstickt, gegen die er sich zu Anfang des 19. Jahrhunderts als Legiti-

D. Die Entstehung des Nationalismus

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mismus herausgebildet hatte. Das politische Pathos der modernen Wunschbilder, die theoretisch und praktisch gleichsam zum Motor des Zeitalters der dauernden Veränderungen, Umstürze und Revolutionen wurden, ist auch ihm zum Verhängnis geworden. Wie die Tatsache der nationalistischen Vergiftung des Konservatismus durch den Liberalismus, doch auch der gegenwärtige Versuch der modernen Ideologien zur Regeneration zeigt, wird der konservative Gedanke aber in seiner eigentlichen Absicht, und das heißt als ein politisches Denken jenseits aller Ideologie, gar nicht von den vorstehend geschilderten Irrwegen seiner zeitbedingten Entstellung berührt. Vielmehr dauert er als eine Denkweise von tatsächlich überzeitlicher Geltung fort, nachdem die Irrwege ausgeschritten sind. Dies wird nicht zuletzt dadurch bestätigt, daß er gleichsam von der geschichtlich-kulturellen Entwicklung selbst wieder herbeigerufen werden muß, weil er das natürliche Gegengewicht und den unentbehrlichen Ausgleich für alle politische Einseitigkeit des technischen Zeitalters darstellt. Als solcher ist der konservative Gedanke denn auch in weiten Kreisen und Schichten, die bisher mehr Objekt als Subjekt des politischen Lebens gewesen sind, allzeit als eine selbstverständliche Einstellung zu Welt und Leben bewahrt worden — nämlich dort, wo man sich von den Einflüssen des zivilisatorischen Fortschritts und seines einseitig rationalen, triebentbindenden Denkens mehr oder weniger freihalten konnte. Wie groß diese im Grunde konservative Schicht heute tatsächlich ist, läßt sich allerdings weder mit Zahlen angeben noch mit Rückschlüssen auf die politische Parteiung erforschen. Denn ihre Spuren sind noch vielfach in den überlebten Formen der politischen Gegenwartswelt befangen, die sie wie Kulissen verdecken. Unter dem harten Druck der Zeitnöte werden diese Spuren jedoch heute so spürbar, daß sie nicht bloß eine Bereinigung der seit langem bestehenden Irrtümer über den konservativen Gedanken und damit eine Korrektur in der Auffassung seiner geschichtlichen Entwicklung nahelegen, sondern auch das Wagnis eines Versuchs zur Neubegründung seiner Theorie rechtfertigen, die im Erlebnis der Gegenwart und ihrer Problematik wurzelt.

IV. DIE KONSERVATIVE THEORIE. Die beiden bisher vollzogenen Schritte unserer Untersuchung enthalten bereits die grundlegenden Bestandteile der konservativen Theorie. Das heißt, sie sind schon Teile dieser Theorie selbst und stellen gewissermaßen ihre ersten Glieder dar, denen sich die zusammenfassende Ausführung als drittes Glied anschließt. Denn mit der von einem prinzipiell anderen Standpunkt aus vorgenommenen Schilderung der modernen Ideologien wurde dasjenige politische Denken in seinen charakteristischen Zügen erkennbar, dessen Gegenpol das konservative Denken bildet. Alles, was jenen angehört, ist diesem ursprünglich fremd und gehört wesentlich nicht zu ihm — die Darstellung der Ideologien grenzt den geistigen Raum ab, der dem konservativen Gedanken zukommt. Mit der Geschichte des Konservatismus aber, die Ereignis und Inhalt seiner Entstellung zur ideologischen Pseudoform zeigt, wurden in diesem Raum die Grundprinzipien und Strukturelemente sichtbar, die das konservative Weltverständnis begründen und ausmachen. Ohne diese Prinzipien und Elemente, in und mit denen es jenseits aller Entstellung sein Fundament hat und Gestalt gewinnt, ist konservatives Urteilen und Verhalten weder vorzustellen noch zu begreifen. Und sie konstituieren denn auch die nunmehr in einem dritten Schritt der gedanklichen Besinnung in Frage stehende Neubegründung der konservativen Theorie. Ihre zeitüberlegene und doch zeitgemäße, weil durch die zivilisatorische Entwicklung selbst geforderte Form braucht also gleichsam nur aus den beiden einleitenden Untersuchungsschritten herausgehoben zii werden, da die maßgebenden Bestimmungen dort schon verborgen liegen. Die Beziehung [zur Gegenwart ergibt sich dann, wie wir sehen werden, sozusagen von selber — sie ist in Wahrheit lediglich'die zeitliche Folge der konservativen Intention überhaupt. Vergegenwärtigen wir uns nach der Kenntnis der Geschichte des Konservatismus hier nochmals den entscheidenden Ertrag aus der Einsidit in das Wesen seines ideologischen Gegenpols, so besteht er aus folgenden systematischen Merkmalen:

Ergebnisse und Folgerungen

313

Da konservatives Denken das Gegenteil ideologischen Denkens darstellt, ist es nicht auf ständige Veränderung im Sinne eines unaufhaltsam vorwärtsstürmenden und im Grunde durchaus künstlichen Fortschritts aus, sondern auf möglichst stetige Entwicklung im Sinne einer Bewahrung und Erhaltung des Bestehenden. Der Wirklichkeit wird kein abstraktes Begriffsnetz übergeworfen, nach dem sie gleichsam sprunghaft neu geformt und das heißt gegen ihre Natur geändert werden soll, sondern sie wird hingenommen, wie sie ist, um lediglich in ihren natürlichen Bahnen weiterentwickelt zu werden. Daher wird hier auch kein verbindliches Zukunftsbild aufgestellt, dem die Vergangenheit mehr oder weniger bewußt zum Opfer fällt. Daher wird hier keine rationale Systematik entworfen und keine theoretische Konstruktion errichtet, um von dort aus das Dasein zu erfassen und zu bewältigen, wie es die Ideologien mit ihren verschiedenen Gegenbildern des irdischen Heils tun. Vielmehr erwägt der konservative Gedanke, weil er aus Grundsatz alle künstlichen Gegenbilder zu Natur und Geschichte ablehnt und keine total durchrationalisierte und endgültige Gesamtplanung des Geschehens auf lange Sicht kennt, in absichtlicher Beschränkung und mit selbstverständlichem Vertrauen auf die lebendige Entwicklung immer nur den nächsten Schritt. Denn er weiß um die Fragwürdigkeit aller bloß rationalen und darum einseitigen Kalkulation, der sich das Leben als Ganzes niemals mit glatter Rechnung fügt, da ihr letztlich ein selbstherrlicher Bruch mit der göttlichen Schöpfung zugrunde liegt. Deswegen vermag aus solcher Einstellung auch kein begrifflich ausgearbeitetes politisches Glaubensbekenntnis nach Art einer weltlichen Heilslehre zu entstehen. Deshalb kommt es hier, sofern die Reinheit des Ursprungs gewahrt bleibt, nicht einmal zu dem Versuch, einen ideologischen Mythos auszubilden, von dem man das Wunder der Vollkommenheit erwartet. Und aus diesem Grunde kann vom konservativen Denken her auch kein genaues Schema der sozialen, politischen und ökonomischen Formen gefolgert werden: es gibt in diesem geistigen Raum keine dogmatische Gesellschafts-, Staats- und Wirtschaftslehre, so gut doch ganz bestimmte Vorstellungen über Gesellschaft, Staat und Wirtschaft als Daseinsformen des und der Menschen vorhanden sind. Während demnach das Schwergewicht der modernen Ideologien in der strengen Rationalität ihrer programmatischen Konzeptionen und der durch sie ebenso geweckten wie verlangten Vitalität des Forderns und Erwartens liegt, beruht das Schwergewicht des konservativen Gedankens in der Ver-

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I V . Die konservative Theorie

meidung einseitiger Rationalität und Vitalität und das heißt im Gefühl für die natürliche Wirklichkeit, an deren Bedingungen der Mensch1 unentrinnbar gebunden ist. D o r t herrscht mit allen Konsequenzen das Bewußtsein der Unbedingtheit, wie es das leidenschaftlich z u absoluten Ergebnissen drängende rationale Denken vorschreibt. H i e r aber erwächst alles Denken und Handeln prinzipiell aus dem Empfinden der Bedingtheit des Lebens, wie es das noch wesentlich vom Gefühl bestimmte, ganz und gar undogmatische Erlebnis der "Wirklichkeit in der Fülle ihres Reichtums schenkt. Die Basis der Ideologien ist mit anderen W o r t e n trotz ihrer so verschiedenen Erscheinungsformen durchweg Ratio und Trieb, die Basis ihres konservativen Gegenpols jedoch1 ist, obwohl auch hier gedacht und überlegt, gewollt und gestrebt wird, vorwiegend Anschauung und Erfahrung, Begegnung und Erlebnis der Realität in ihrer Natürlichkeit. Daher sind jene als Ausdruck v o n Ratio und Trieb wesentlich aggressiv in ihrem W o l l e n und Planen dauernder Veränderung. Dieser jedoch ist infolge seiner gefühlsmäßigen H e r k u n f t vergleichsweise passiv. Ihr beiderseitiges Verhältnis zueinander offenbart den Gegensatz v o n Offensive und Defensive: der konservative Gedanke antwortet in bewahrender und erhaltender Absicht auf die im Laufe der Geschichte immer wieder wechselnden und doch im K e r n gleichbleibenden Situationen, die aus dem unaufhörlichen Zusammenstoß der organischen Entwicklung mit dem mehr oder weniger radikalen V e r änderungsdrang der Ideologien entstehen. A u s solcher grundsätzlichen Antwortstellung heraus w i r d und ist konservatives Denken systematisch wie historisch das in der psychologischen Entwicklung der neuzeitlichen Menschheit vorbestimmte Gegengewicht gegen das Ubermaß und die Übersteigerung des rationalen Denkens und seines Fortschritts. D e n n alle Übergriffe dieses Fortschritts können, streng genommen, überhaupt nur v o m konservativen Weltverständnis her als solche bemerkt werden. Ihre rational-triebhafte Eigenart zu sehen und festzustellen, ist nur von diesem Standpunkt aus möglich und schließt, wie die Regenerationsversuche der Ideologien unmißverständlich zeigen, tatsächlich allemal schon den wissentlich oder unwissentlich vollzogenen Übergang von ideologischem zu konservativem Denken in sich ein. Das Denken, das die Ideologien politisch praktizieren, vermag nämlich immer bloß im Sinne des rational-triebhaften Fortschritts vorzugehen und kann infolgedessen auch v o n sich aus keine Übergriffe desselben erkennen, da es aus Prinzip die gesamte Wirklichkeit seinem Gesetz unterstellt. Es gewahrt

Ergebnisse und Folgerungen

315

statt der Übergriffe des Fortschritts stets nur Fehler in der vernünftigen Kalkulation des Lebens und zerreibt sich in der vergeblichen Bemühung, dieselben durch Methoden zu beseitigen, die gerade mit deren Quelle identisch sind. Darum bleibt ihm auch die wahre N a t u r der Krisis, in der sich die moderne Zivilisation befindet, trotz aller Katastrophen verborgen oder zumindest nicht erreichbar. Ergeben sich auf diese "Weise aus der Abgrenzung des geistigen Raumes, der dem konservativen Gedanken vorbehalten ist, bereits zahlreiche maßgebende Bestimmungen f ü r den Aufbau seiner Theorie, so folgen aus der Erkenntnis der Charaktermerkmale des ideologischen Denkens aber auch noch wichtige Anhaltspunkte f ü r die Wirkung dieser Theorie und f ü r den Eindruck, den sie auf so viele Menschen macht. Wir führen nur frühere Betrachtungen tiefer schürfend fort, wenn wir nunmehr feststellen, daß der konservative Gedanke an sich weder sensationell noch interessant im Sinne der modernen Ideologien sein kann und daher grundsätzlich der erregenden und mitreißenden Eigenschaften bei der politischen Einflußnahme entbehrt, die jene ohne weiteres besitzen. Denn solche Eigenschaften erwachsen erst aus der künstlichen, selbstherrlichen und willkürlichen Art, mit der sich das ideologische Denken über die W i r k lichkeit hinwegsetzt und ganz rational-triebhaft dem gegebenen Zustand der Dinge jeweils ideale Gegenbilder vorhält, um nach ihnen die Welt zu verändern. Es ist nämlich die Spannung zwischen konkreter Wirklichkeit und abstraktem Gegenbild, der scharfe Unterschied zwischen dem gewohnten und vertrauten Sein einerseits und dem durch seine Kühnheit f r a p pierenden oder bestechenden Wunschbild andererseits, was die Sensation erzeugt und mitreißend wirkt — wo dieser Gegensatz fehlt, bleiben auch derartige Folgen aus. D a der konservative Gedanke die vorhandeneWirklidikeit nicht nach einem rationalen Gegenbild verändern will, finden sich bei ihm deshalb auch nicht jene Eigenschaften. Der Bruch mit der bekannten Wirklichkeit ist um seiner erregenden Neuartigkeit willen stets interessant, während der enge Anschluß an sie stets einfach und schlicht bis zur Simplizität wird. Dem natürlichen Wachstum des Lebens zu vertrauen und der stetigen Entwicklung der Dinge nachzugehen, das vermittelt keine Sensationen des Denkens und Wollens. Derlei Erlebnisse vermögen überhaupt bloß aus dem gedanklichen Widerstreit mit N a t u r und Geschichte zu entstehen, wie ihn die Entschleierung ihrer Geheimnisse und die Veränderung ihrer Zustände im Zeichen der Perfektionsidee mit sich bringt.

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I V . Die konservative Theorie

A l l dies aber, das die Aufstellung von systematischen Gegenbildern in sich einschließt, ist dem konservativen Gedanken nicht allein fremd, sondern er hat in dessen Abwehr gerade sein Wesen. Auf seinem Grunde liegt denn auch folgerichtig nicht die aus der natürlichen Entwicklung herausdrängende Maßlosigkeit des Ersinnens und Erstrebens, die erregt und mitreißt. Vielmehr ruht er im Maß, das in der Bejahung der natürlichen Verhältnisse Ruhe schafft und schenkt — selbst noch das Harmoniestreben der liberalen Ideologie gehört in diesem Verstände zu jener Maßlosigkeit, die nichts mit dem Maß des konservativen Gedankens zu tun hat. Denn die Harmonie des Liberalismus beginnt dem Gesetz des ideologischen Denkens gemäß jenseits der gegebenen Wirklichkeit, die sich der idealen Vernunft noch nicht gefügt hat und darum überwunden werden muß. Daher kommt es, daß der konservative Gedanke als politische Theorie vergleichsweise uninteressant ist, still und unauffällig wirkt, ja einen beinahe langweiligen Eindruck auf den modernen Menschen in seiner zeitbedingten geistig-seelischen Verfassung machen muß. Hierin liegt, oberflächlich betrachtet, seine unvermeidliche Schwäche in der Auseinandersetzung mit den Ideologien. Aber andererseits liegt darin auch seine unverkennbare Stärke inmitten der Realität zumal der gegenwärtigen Situation, die den einstigen Nachteil in einen Vorteil verwandelt. Denn es ist die Schwäche der fraglosen Selbstverständlichkeit alles Natürlichen, die doch tatsächlich nichts anderes als eine natürliche Stärke darstellt: nämlich die Kraft, die aus der Übereinstimmung mit dem Leben selber fließt. In diesem Sinne ist die konservative Theorie ohne Zweifel näher an der Wirklichkeit als jede andere, sobald man nicht bloß auf den faszinierenden Eindruck politischer Argumente blickt, sondern auf ihren Gehalt an lebendiger Wahrheit. So gesehen, ist sie den neuen und kühnen Gegenbildern, mit denen die Ideologien begeistern und erheben, nicht unter-, sondern überlegen — und zwar heute mehr denn je, weil die Herrschaft dieser Wunschbilder schließlich direkt oder indirekt das Trümmerfeld der Gegenwart herbeigeführt hat. Die heillose Unnatur in unserer Daseinswelt, wie sie vor allem die soziale und politische Unordnung und Unsicherheit nach dem zweiten Weltkrieg zeigt, hat jedenfalls für die Ordnung und Regelung des menschlichen Zusammenlebens unleugbar die prinzipielle Unzulänglichkeit der Gegenbilder bewiesen und so auch die Fehlerhaftigkeit jenes Bruches mit Natur und Geschichte dargetan, den sie bedingen. Damit aber hat sich unversehens der paradoxe Zustand eingestellt, daß

Ergebnisse und Folgerungen

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der konservative Gedanke heute trotz und wegen seines Charakters in einer überraschenden Vertauschung der Akzente zur geistigen Sensation zu werden verspricht, selbst wenn man das vielfach noch nicht zugeben will, weil man ihn nach wie vor mit seiner Pseudoform verwechselt. Auf dem vorläufigen Gipfel letzter Komplizierung des irdischen Daseins, dessen schier hoffnungslose Verfahrenheit dem ideologischen Denken und Wollen nachgerade Hohn spricht, erscheint nämlich' auf einmal entgegen aller bisherigen Praxis das Einfache als interessant und das Schlichte als erregend. Die Katastrophe der letzten Generation hat gleichsam den Vorhang vor einem lange geahnten, doch erst jetzt klar erkannten Sachverhalt plötzlich zerteilt: das Natürliche ist im Verlauf eines durch und durch von Künstlichkeit bestimmten Zeitalters gleichsam zum umgekehrten Gegenbild vollkommen unnatürlicher Zustände geworden. Hiermit sind also die Rollen des ideologischen und konservativen Denkens tatsächlich von der Zeit selber vertauscht. Sensation entsteht fortan nicht mehr aus dem heimlichen oder offenen Bruch mit Natur und Geschichte, der zur verderblichen Regel geworden ist, sondern aus deren Anerkennung, die sich' als einziger Ausweg aus der realen Bedrängnis und als einzige Rettung aus der ideologischen Ratlosigkeit herausstellt. Das bestätigen sogar die wichtigsten Ideologien mit ihren Versuchen zur Regeneration, in denen unter dem Druck der unmittelbaren Not konservatives Gedankengut hervorbricht. Denn was könnte dies anders bedeuten, als daß der moderne Mensch die ideologische Gegenbild-Situation aufgeben und verlassen muß, wenn er nidit im Chaos der triebentbindenden Rationalität zugrunde gehen soll? Solch neue Rolle des konservativen Gedankens, die der zweite Weltkrieg endgültig sichtbar gemacht hat, bringt auch seine Theorie in eine völlig neue Lage der Bewährung und Verantwortung. Indem sie ohne ihr Zutun zum natürlichen Gegenbild für die ideologisch verzerrte und deshalb unnatürliche Gestalt des gegenwärtigen Daseins geworden ist, gerät sie alsbald in die Gefahr aller Gegenbilder, lediglich als Technik aufgefaßt zu werden. Vor dem bewußten Bruch mit der Natur bleibt sie zwar durch sich selbst, durch ihren Inhalt und ihr Ziel behütet. Aber vor der Auffassung bloß als Instrument schützt sie in einer überall zum Künstlichen drängenden und vom Künstlichen beherrschten Zivilisation nichts. Im Bann der Atmosphäre dieses Zeitalters kann sie daher auch gegen ihren Willen leicht zum reinen Mittel erstarren, zur glatten Mechanik, zur berechnend gehandhabten Methode des Verhaltens.

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I V . Die konservative Theorie

Wie sich diese Gefahr einer Erstarrung zur reinen Technik auswirkt, dafür ist die Verwendung des konservativen Elements in den Regenerationsversuchen der Ideologien ein lehrreiches Beispiel. Ist doch bei ihnen auch in ihrer neuesten Fassung nach wie vor das rationale Denken so mächtig, daß die abstrakte Zukunftsvorstellung trotz aller Absagen an die Fortschrittsidee insgeheim weiter in K r a f t bleibt und die ideologische Zielsetzung daher lediglich mit einem anderen Verfahren angestrebt wird. Die konservative Intention rückt hier also mit dem Verfahren der Dezentralisierung, in dem sich alle Regenerationsversuche zuletzt treffen, nur scheinbar ins Zentrum der erneuernden Besinnung, während sich das ideologische Ziel trotz aller Widerlegung durch seine Resultate tatsächlich behauptet. Wie infolgedessen hier der neue Weg der Ideologien in der alten Sackgasse der Korrespondenz von Ratio und Trieb enden muß, so auch bei der konservativen Theorie, falls sie der Rolle eines umgekehrten Gegenbildes nicht Herr wird und bleibt. Sobald sie zum technischen Instrument, zum mechanischen Verfahren, zum rationalen Mittel einer Wiedergutmachung der zivilisatorischen Gebrechen degradiert und damit der Perfektionsidee dienstbar gemacht wird, kann sie nicht mehr als eine neue Form von Pseudokonservatismus bilden, der ja die gestellte Aufgabe nicht zu lösen vermag. Dann nützt weder die Kritik der modernen Heilslehren noch die Beseitigung der historischen Schlacken etwas, weil die natürliche Lebendigkeit, deren Anwalt das konservative Denken ist, wiederum im Würgegriff der triebentfesselnden Rationalität erstickt. Machte der erste Untersuchungsschritt klar, was konservatives Denken nicht ist, so machte der zweite Untersuchungsschritt klar, was der konservative Gedanke ist. Dort wurde aus dem Gegensatz umrissen, was konservativ in systematischer Hinsicht bedeutet, und hier trat in Erscheinung, was konservativ in historischer Hinsicht bedeutet. Die formale Besinnung wurde auf solche Weise durch die inhaltliche Betrachtung ergänzt, um die Gestalt eines ganz anderen Welterlebens und Weltbegreifens anschaulich werden zu lassen, als es die modernen Ideologien verkörpern. W a r zur formalen Bestimmung des konservativen Denkens aber die breite Schilderung der Ideologien unumgänglich und konnte dann ihr systematischer Ertrag in aller Kürze zusammengefaßt werden, so liegen die Bedingungen für den Aufbau der Theorie bei der inhaltlichen Bestimmung nicht so einfach. Die Herauslösung ihres systematischen Ertrags aus dem historischen Material verlangt eine größere Breite und kann nicht auf wenige knappe Formeln gebracht

Ergebnisse und Folgerungen

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werden, so sehr es sich auch hier um allgemeine Sätze und Regeln des Denkens und Verhaltens handeln muß, damit die Erfordernisse einer politischen Theorie erfüllt werden. In diesem Sinne ergibt sich aus dem zweiten Untersuchungsschritt folgendes für die Neubegründung der konservativen Theorie: In der Geistesgeschichte der neueren Zeit erhebt sich der konservative Gedanke dort und dann, wo und wenn sich das rationale Denken nach langem Anlauf ernsthaft anschickt, die überlieferte Lebensordnung der Menschen in Frage zu stellen und nach seinen Ansprüchen zu verändern. Im gefühlsmäßigen Widerstand wie in der gedanklichen Abwehr dieses Angriffs der selbstherrlich gewordenen Rationalität auf die lange gewachsene und gewordene Ordnung des Verhältnisses der Menschen untereinander und zum Weltganzen überhaupt, einschließlich der Beziehung zur Transzendenz, kommt konservatives Denken zu seinem Selbstbewußtsein. Dieser Angriff nämlich, der die vorhandenen Lebensformen aufzulösen und durch neue, in abstrakter Freiheit künstlich gemachte Formen zu ersetzen strebt, verwandelt den Traditionalismus des bisher üblichen Verhaltens und Denkens zunehmend in bewußten Konservatismus, der seine Intention im Schutz der natürlichen Entwicklung und seine Funktion im Bewahren und Erhalten der gewordenen Ordnung als Fundament der Zukunft hat. Solche Funktion und solche Intention drücken sich in der Verteidigung des Bestehenden und im Festhalten am Gewohnten gegenüber den neuen Formen aus, die das rationale Denken dem Dasein des Menschen in Umwelt und Mitwelt aufzuzwingen versucht. Deshalb tritt der Konservatismus in stillem, aber beharrlichem Kampf den verschiedenen politischen Lehren der Rationalität entgegen, die als Ideologien das Geschäft der künstlichen Neusetzung und radikalen Veränderung besorgen. Wie konservatives Denken das ist, was rationales Denken nicht ist, so verteidigt der konservative Gedanke mithin das, was die rationalen Ideologien angreifen. Da die konservative Ausgangslage die Verteidigung des Bestehenden und das heißt die Erhaltung des Vorhandenen in ihrer Eigenschaft als Gewachsenes und Gewordenes bildet, werden die Sinnprinzipien und Strukturelemente der Abwehr eben aus dem Angriff auf die jeweils gegebene Seinsordnung bestimmt, solange dieselbe den Maßstäben der natürlichen Entwicklung entspricht. Dadurch entsteht ein doppeltes Bild konservativen Verhaltens: Einmal und gleichsam im Vordergrund des geschichtlich-kulturellen Geschehens ver-

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IV. Die konservative Theorie

teidigt der konservative Gedanke die ganz konkrete Realität einer hier und jetzt vorhandenen Ordnung des Lebens, deren Zustand er auf allen Gebieten vor künstlichen Änderungen zu bewahren strebt. Zum andern jedoch und gleichsam im Hintergrund dient er der Erhaltung einer höheren und tieferen Ordnung, deren Realität sozusagen in jenen aktuellen Zustand versenkt und eingelagert ist. Beruht die aktuelle Ordnung, die der konservative Gedanke zu bewahren sucht, in den historischen Bedingungen und zeitlichen Bedürfnissen des Menschen, so beruht die höhere und tiefere Ordnung dagegen in den existentiellen Bedingungen und überzeitlichen Bedürfnissen des menschlichen Daseins überhaupt, wie sie sich aus der Erfahrung langer Jahrhunderte ergeben haben. Verteidigung des Vorhandenen und Erhaltung des Bestehenden bedeutet demnach immer zweierlei: im Kampf um die gegenwärtige Lebensform wird auch und in Wahrheit ein Kampf um die menschliche Lebensform als solche geführt, das heißt um die Möglichkeit des Menschseins schlechthin, die durch die Künstlichkeit rationaler Gegenbilder gefährdet ist. Denn dem konservativen Weltverständnis stellt die jeweils gegebene aktuelle Lebensform, sofern sie noch nicht allzusehr vom abstrakten Denken in zivilisatorischen Gegenbildern verändert und zersetzt ist, nichts anderes dar als einen Niederschlag der viele Jahrhunderte langen Erfahrung eines Volkes, eines Stammes, eines Standes oder einer sonstigen Gruppe über die ihrem Wesen jeweils gemäßen Voraussetzungen der menschlichen Existenz. Als solche bildet sie ihm die zur Gestalt gewordene zeitliche Erscheinung jener Möglichkeit des Menschseins schlechthin, deren Verlust um jeden Preis vermieden werden muß, wenn der Mensch nicht von seinem vorgezeichneten Wege abirren will. In der natürlich gewachsenen und historisch gewordenen Lebensform werden ihm also hinter aller Zeitbedingtheit jene existentiellen Bedingungen und überzeitlichen Bedürfnisse, dem Formenreichtum der Natur entsprechend vielgestaltig gefaßt, sichtbar und greifbar, in denen die Fähigkeit zum Menschwerden und Menschbleiben beschlossen ist. Wird diese innere Fähigkeit verletzt und zerstört, so schwindet auch die äußere Möglichkeit mehr und mehr dahin, ein menschenwürdiges Dasein zu führen. Aus solcher Überzeugung, deren Gewißheit dem konservativen Weltverständnis nicht aus dem Intellekt, sondern aus Gefühl und Instinkt kommt, erwächst der stille, aber beharrliche Kampf gegen die künstlichen Gegenbilder mit ihrem Bruch zur Natur, gegen die abstrakten Zukunftsund Menschenbilder mit ihren geschichtlich leeren und daher unwahren

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Freiheits- und Gleichheitsforderungen, gegen das einseitige Denken der rationalen Zivilisation, gegen den maßlosen Fortschritt, gegen die Perfektionsidee und das heißt gegen die modernen Ideologien, von denen jene jahrhundertelange Erfahrung mit ihrer natürlichen Beweiskraft mißachtet oder doch vernachlässigt wird. Indem dieselben nämlich die aktuellen Formen und Gebilde der jeweils bestehenden Ordnung um der Gegenbilder willen bedenkenlos beseiteschieben oder vernichten, mißachten und zerstören sie auch die in ihnen gewissermaßen niedergeschlagenen und aufbewahrten tieferen Voraussetzungen und Ansprüche des menschlichen Seins jenseits aller zeitlichen Erscheinungsform — und die Katastrophe der modernen Zivilisation, die in den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts zutage trat, scheint diesen Sachverhalt mit zwingender Logik zu erhärten. Da wir heute vorwiegend in einer ideologischen "Welt der künstlichen Gegenbilder zu Natur und Geschichte leben, kann es nun nicht die Aufgabe der konservativen Theorie in der Gegenwart sein, dies doppelte Bild konservativen Verhaltens systematisch widerzuspiegeln. Die konkrete Realität des Vordergrunds, die einst noch weitgehend natürlich war und deshalb verteidigt werden konnte, ist längst so zusammengeschrumpft, daß nur noch Reste des früheren Zustands in die Gegenwart hineinragen. Und diese Reste einstiger Natürlichkeit sind ihrerseits schon oft so verdeckt und zerstückelt von der hohen Künstlichkeit und tiefen Unnatur der modernen Zivilisation, daß es heute fast nur noch um den Hintergrund, um jene existentielle Ordnung, um jene überzeitliche Realität geht, wenn konservativ gedacht und gehandelt wird — darin eben erweist sich ja die neue Situation eines umgekehrten Gegenbildes, in die sich der konservative Gedanke von der Zeit selbst versetzt sieht. Wie wir aus der abgrundtiefen Verwirrung des sozialen und politischen, wirtschaftlichen und moralischen Lebens der gegenwärtigen "Welt ablesen mögen, ist in den aktuellen Formen unseres Daseins nur noch wenig und oft schon gar nichts mehr von den Fähigkeiten und Möglichkeiten zum wahrhaften Menschsein enthalten. Deshalb darf deren Bewahrung und Erhaltung auch nicht mehr bevorzugter Gegenstand der neuen konservativen Theorie sein. Stattdessen muß ihr Hauptthema heute die Summe von Erfahrungen und Einsichten, von Überlegungen und Überzeugungen sein und werden, deren Wahrheit aus dem Erlebnis und Bewußtsein jenes Hintergrundes fließt und einerseits von den Resten früherer Ordnung, andererseits durch die Geschichte des konservativen Gedankens bestätigt 21

Mühlenfeld, Politik

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IV. Die konservative Theorie

wird. Mit anderen Worten: der existentielle Hintergrund vermag nicht mehr aus den aktuellen Formen des Vordergrunds erschlossen zu werden, sondern bloß noch aus den Resten einstiger Zustände, auf denen dann Erinnerung und Besinnung, historisches Wissen und zeitüberlegener Instinkt aufbauen müssen, um dem Empfinden für eine echte und natürliche Gestalt des menschlichen Lebens Ausdruck zu verleihen. Den Resten von einst kommt dabei allerdings insofern eine große Bedeutung zu, als sie das historische Wissen um den konservativen Gedanken anschaulich belegen — wie umgekehrt das historische Wissen seinerseits auch wieder Sinn und Recht der Reste von einst bestätigt, deren Verteidiger überall dort noch zu finden sind, wo sich ein Gefühl von der unveräußerlichen Notwendigkeit jenes Hintergrundes lebendig erhalten hat. Die Art und die Form eines Angriffs schreiben seit je Art und Form der Verteidigung vor. In diesem einfachen Sachverhalt liegt es beschlossen, wenn die Sinnprinzipien des konservativen Gedankens und die Strukturelemente des konservativen Denkens mit logischer Strenge aus dem Auftreten und dem Wesen der modernen Ideologien hervorgehen. Dem hartnäckigen, weil aus der seelisch-geistigen Verfassung des Gegenwartsmenschen fließenden Glauben an die Möglichkeit zur Verwirklichung des absolut Richtigen und daher Guten steht die Erfahrung von der Unmöglichkeit solcher Verwirklichung mit all ihren weit- und tief reichenden Konsequenzen gegenüber: hier wird vom Seienden als lebendiger Tatsache ausgegangen, dort vom Sein-Sollenden als der vermeintlich höheren Realität, der sich die mangelhafte Wirklichkeit der augenblicklichen Zustände zu beugen hat. In diesem Sein-Sollenden verbindet sich unauflöslich ein rationales Moment, nämlich der abstrakte Entwurf des Gegenbildes zum Seienden, mit einem triebhaften Moment, nämlich dem Willen zur Durchsetzung des Gegenbildes gegen alle Widerstände des wirklichen Lebens. Und die Ideologien, in denen sich im Verlauf ihrer Geschichte das Willensmoment ganz offensichtlich mehr und mehr nach vorn schiebt, sind letztlich nichts anderes als die politischen Fassungen jenes Sein-Sollenden in seiner unverlierbar rational-triebhaften Bestimmtheit — jenes prinzipiellen Gegenbildes, gegen dessen Ubermacht sich der konservative Mensch von der psychologisch einzig möglichen dritten Position aus, vom Gefühl für das wirkliche Leben her mit einer Verteidigung des Seienden samt seiner eigentlichen Bedingungen zur Wehr setzt. Das gedankliche Verhältnis, das beide Seiten in ihrer gegensätzlichen

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Beziehung zueinander beherrscht, heißt denn auch Veränderung oder Neusetzung und Bewahrung oder Wachstum — die Ideologien wollen verändern oder neusetzen, der konservative Gedanke dagegen will bewahren oder wachsen lassen. Nach diesem Verhältnis entwickeln sich in schlechtweg umfassender Folgerichtigkeit alle Bestimmungen sowohl des ideologischen als auch des konservativen Verhaltens. Denn es ist der Gegensatz von künstlichem Fortschritt und natürlicher Entwicklung, von Perfektion und Pflege, von Machen und Wachsen, von Aktualität und Kontinuität oder wie immer man den Unterschied zwischen den zwei Weisen des Welterlebens und -begreifens bezeichnen will, der überall mit der Problematik des konservativen Gedankens auftaucht und seine Erscheinung jederzeit systematisch wie historisch bestimmt. Infolgedessen bedarf es zum weiteren Aufbau seiner Theorie auch bloß der konsequenten Durchleuchtung dieses gegensätzlichen Verhältnisses, um sogleich auf ihre wesentlichen Prinzipien und grundlegenden Elemente zu stoßen. Die Geschichte des Konservatismus bildet dann einschließlich ihres Abirrens vom Wege gewissermaßen nur die Exemplifizierung für den Ertrag solcher theoretischen Besinnung. Im Zentrum des Angriffs, den die Ideologien mit der Hilfe ihrer rationalen Gegenbilder unternehmen, steht unzweifelhaft der Mensch, wie er von sich aus ist — das heißt der Mensch1 in seiner durch lange Jahrhunderte natürlich-geschichtlich gewordenen Form. Dieser in der Vergangenheit gewachsenen und darum auch verwurzelten Form, die als solche immer den idealen Forderungen der Vernunft widerspricht, tritt in den Gegenbildern als ihr Kern ein abstraktes Menschenbild gegenüber, nach dem der lebendige Mensch in Zukunft gemodelt werden soll. Der Mensch soll künftig anders sein und werden, als er war und ist — und zwar soll er ausschließlich der Vorstellung entsprechen, die sich die Vernunft von ihm entwirft. Das ist der radikale Anspruch des ideologischen Denkens, seine letzte Konsequenz, seine eigentliche Intention, auch wenn sie keineswegs stets mit unbedingter Schroffheit geäußert wird und oft sogar im ungewissen Zwielicht äußerer Kompromisse verborgen bleibt. Und diese Intention ruft dann, wenn sie handelnd in die Wirklichkeit übergreift, alsbald eine andere Intention hervor. Wo nämlich nicht derartig einseitig von der Vernunft her gelebt und gefordert wird, dort vermag solche Vorstellung nicht jene ausschließliche Geltung zu erlangen, da muß jenes abstrakte Menschenbild mit seinen Ansprüchen vielmehr abgewehrt werden. Das aber kann nur durch eine gegenteilige Vorstellung vom Menschen ai«

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geschehen, die seine gewachsene und gewordene Form schützt. Ihr Inhalt ist durch die Verteidigung eben dessen vorgeschrieben, was angegriffen wird. Wie das abstrakte Menschenbild gleichsam die Geschichte ablehnt, indem es die historisch gewordene Form des Menschen verwirft und bekämpft, so muß dieses gegenteilige Menschenbild die Geschichte bejahen und den historisch gewordenen Menschen betonen. Denn nach dieser Auffassung, die dem unmittelbaren Erlebnis der natürlichen "Wirklichkeit entspricht, hat der Mensch in der Geschichte seine Vergangenheit, seine Herkunft, seine "Wurzel, seine Grundlage, seinen festen Standort und seinen Halt. Deshalb kann er sich nicht von ihr loslösen, ohne haltlos, grundlos, wurzellos, zeitlos und das heißt seiner Natur untreu werden. Die Vorstellung von der natürlich-geschichtlichen Individualität, die der konservative Gedanke in solchem Verstand entwickelt und die ihn unverlierbar trägt, ist demnach die vom Gefühl erteilte Antwort auf die zeitlos-abstrakte Vorstellung vom Menschen, die das ideologische Denken hervorgebracht und im Lauf der modernen Zivilisationsentwicklung schließlich auch' mit dem Ergebnis einer völligen Erschütterung der Grundlagen des menschlichen Daseins weithin durchgesetzt hat. Als solche Antwort umfaßt der Gedanke der natürlich-geschichtlichen Individualität in voller Breite und Tiefe die lebendige Fülle des geschichtlichen Daseins. Er meint nicht etwa bloß die staatliche, sondern auch die soziale und kulturelle Geschichte, die Entwicklung von Kunst und "Wirtschaft, das "Werden von Moral und Politik, das "Wachstum von Sitte und Brauch, bezogen auf den einzelnen Menschen hier und jetzt. In ihrem tausendfältigen Reichtum, der ohne ihr Werden gar nicht zu verstehen ist, erscheinen aber nicht einfach Tatsachen und Sinnzusammenhänge, die registriert und vor dem Forum der Vernunft begutachtet werden wollen. Sondern dieser Reichtum ist weit darüber hinaus in seiner Gesamtheit gleichsam nur Symbol der Wirklichkeit für jene existentiellen Bedingungen und Bedürfnisse der Menschen, deren Erfüllung und Befriedigung ihr wahres Wesen erfordert. Darum ist dox Mensch nur dann wirklich' Mensch, wenn er in solchem Sinne natürlich-geschichtliche Individualität ist und hat — das heißt, wenn er sich in seinem natürlichen Wachsen und geschichtlichen Werden begreift und als Träger natürlich-geschichtlichen Lebens begriffen wird, wenn ihm seine Geschichte in ihrer organischen Entwicklung nicht beschnitten oder geraubt wird, wenn er die seelische Verbindung zu seiner gesamten Vergangenheit bewußt oder unbewußt behält. Denn erst im ge-

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schichtlichen Sein kommt der Mensch zu sich selbst, erhält er Wert und Achtung, besitzt er Würde und Stolz, erfährt er Sicherheit und Geborgenheit, wird er Persönlichkeit, die hoch oder niedrig an einem eigenen Ort steht. Was mit der Herausnahme des Menschen aus seinem eigenen geschichtlichen Raum, wie sie durch die Ideologien und ihre künstlichen Gegenbilder vorgenommen wurde, in Wahrheit geschehen ist, das kann deshalb in seiner ganzen Tragweite immer nur angedeutet, niemals aber exakt rational beschrieben werden. Denn es ist tatsächlich die jeder begrifflichen Festlegung spottende Vielfalt des quellenden Lebens selber in seiner fruchtbaren Natürlichkeit, um die der Mensch damit in der Vorstellung von sich selbst verkürzt und betrogen wird. Das geschichtliche Sein im Banne kausaler Rationalität zu verlieren, wie es weithin das Schicksal des Gegenwartsmenschen unter dem Einfluß des modernen Fortschritts geworden ist, bedeutet daher die Vertreibung aus der wirklichen Welt in eine imaginäre, nur abstrakt begründete Welt, die trotz ihrer materieflen Realität im Sinne jener Bedingungen und Bedürfnisse irreal ist. Diese Grundvorstellung von der natürlich-geschichtlichen Individualität, die im Gegensatz zu der geschichtlich leeren und darum unnatürlichen Individualitätsvorstellung der Ideologien das konservative Menschenbild bestimmt, entläßt nun aus sich1 eine Reihe von weiteren Vorstellungen, die sämtlich untrennbar mit ihr verbunden sind, weil sie erst in ihnen lebendig wird. Indem dieselben gewissermaßen der Auslegung ihres Inhalts dienen, bezeichnen diese Vorstellungen jene inneren und äußeren Bedingungen und Bedürfnisse, deren Erfüllung und Befriedigung der Mensch bedarf, um seinem Wesen nicht untreu zu werden. Zusammen mit ihr bilden sie denn auch ein Ganzes, das als ein festes Gerüst der grundlegenden Voraussetzungen menschlichen Daseins erlebt wird und die konservative Lebensauffassung zutiefst prägt und hält. Ihre Eigentümlichkeit besteht deshalb darin, daß sie nicht in einer logischen Folge entwickelt werden können, sondern sich wechselseitig bedingen — das eine Prinzip erklärt und vertieft, erhält und befestigt das andere. Und erst indem man sie in einem Totaleindruck des Erfassens und Empfindens gemeinsam erlebt, erhalten sie ihre einander ergänzende lebendige Wahrheit. Schon hieran erweist sich, daß diese Vorstellungen aus einer anderen Denkform stammen als aus derjenigen der Ideologien: sie bilden keine fortlaufende Kette der Kausalität, sondern einen Kreis von unmittelbaren Formen und Weisen der inneren und äußeren Beziehung zur Wirklichkeit

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IV. Die konservative Theorie

— von Formen und Weisen, die ihrem vorrationalen Wesen gemäß nur durch das Mitdenken ihres Gegensatzes, und das heißt ihrer Auflösung und Zerstörung durch die ideologisch entstellte Realität, rational faßbar gemacht werden können. Weil es keine logische Reihenfolge unter ihnen gibt, muß ihre Darstellung denn auch nach Art eines Kreises erfolgen, von dessen Mittelpunkt alle Glieder gleich weit entfernt sind, da sie der Grundvorstellung von der natürlich-geschichtlichen Individualität gleichmäßig zur Verwirklichung verhelfen. Die Schwierigkeit, sie in Gestalt einer Theorie darzustellen, rührt dabei aus dem schon erwähnten Umstand her, daß die konservative Intention als Ganzes, weil gegen das rationale Denken der Ideologien gerichtet, von sich aus der Auslegung in einer Theorie widerstrebt. Diese Intention ist ja ihrer Natur nach gegenideologisch und deshalb vergleichsweise vorrational — und daraus ergibt sich hier auch eine ungewöhnliche Form der Theorie. An der Deutlichkeit und Uberzeugungskraft ihrer einzelnen Bestandteile jedoch vermag dieser Umstand nichts zu ändern. Denn jedes konservative Prinzip und Element enthält dank seiner Eigenart sozusagen einen Keim der Grundvorstellung in sich und weist damit lebendig auf die Gesamtintention hin. Bei der Neubegründung der konservativen Theorie müssen nun der klaren Einsicht halber zwei Gruppen von Bestimmungen unterschieden und getrennt aufgeführt werden, die bisher wegen ihres engen Zusammenhangs meist synonym gebraucht wurden — der konservative Gedanke mit seinen Sinnprinzipien und das konservative Denken mit seinen Struktur elementen. Beide gehören zueinander: die Prinzipien verdeutlichen die Inhalte der konservativen Auffassung von der Wirklichkeit des Menschen, und die Strukturelemente zeigen, auf welche Weise das konservative Begreifen dieser Wirklichkeit erfolgt. Als die zwei Seiten des konservativen Verhaltens zur Welt bilden sie dann insgesamt jenen Kreis von Bestimmungen, der sich um den Mittelpunkt der Grundvorstellung von der natürlich-gesdiichtlidien Individualität bewegt, um ihr vom Denken wie vom Handeln aus Geltung zu verschaffen. Die erste Gruppe von Bestimmungen, die den konservativen Gedanken nach dem Zeugnis seiner Quellen inhaltlich ausmachen, umfaßt in vertauschbarer Reihe folgende Prinzipien: Heimat, Grund und Boden, Eigentum; Familie, Sitte und Brauch, Tradition; Freiheit, Recht und Religion. Mit ihnen ist, wie die historische Entwicklung des konservativen Gedankens bereits erkennen ließ, durchweg eine besondere Vorstellung verknüpft, deren

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eigentlicher Gehalt von der jeweils entsprechenden Vorstellung der Ideologien entleert und zersetzt wird — sie sind denn auch bloß von dorther ganz zu verstehen, weil ihre Konturen erst aus der Situation einer Verteidigung des ursprünglichen Inhalts gegen Angriffe voll und klar hervortreten. Dasselbe ist der Fall bei der zweiten Gruppe von Bestimmungen, den Strukturelementen, die das konservative Denken als Methode des "Weltbegreifens und -erfassens charakterisieren. Für diese Methode lauten nach Ausweis seiner Quellen die entscheidenden Stichworte: Anschauung und Erfahrung, natürliche Entwicklung, Wachsen und Werden; Unterschied und Mannigfaltigkeit; Konkretes, Besonderes und Eigentümliches; Ausgleich und Vermittlung. Der Sinn der verschiedenen Prinzipien des konservativen Gedankens besteht im Schutz der natürlich-geschichtlichen Individualität des Menschen, die durch die zentralisierende und gleichzeitig nivellierende Wirkung der Ideologien gefährdet wird. Man kann das Wesen dieser den Menschen gerade in seinen sozialen Belangen schützenden Prinzipien vielleicht am besten dadurch begreifen, daß man sie, nach einem Wort aus der neuesten Psychologie, mit einer Art von archetypischen Bedingungen vergleicht, die jedenfalls für unseren europäischen Kulturhorizont allem Anschein nach umfassende Geltung in der Politik beanspruchen dürfen. Damit ist in einem Vorgriff auf das Gesamtergebnis der Untersuchung folgendes gemeint: Der Mensch lebt physisch wie psychisch innerhalb von materiellen und ideellen Ordnungen, die durch bestimmte Grundtatsachen gebildet werden, auf die hin er wesensmäßig angelegt ist. Insgesamt stellen diese Ordnungen, eingelagert in die historischen Formen der kulturellen Entwicklung durch Jahrtausende hinweg, ein ganzes System von typischen Beziehungen und Verhältnissen zur dinglichen Umwelt und menschlichen Mitwelt dar, das auf der Ebene des Instinkts im Laufe ungezählter Generationen als ein vererbtes Gefüge von inneren und äußeren Bereitschaften zum Handeln und Fühlen, Denken und Empfinden entstanden ist. Niemand vermag aus diesem Gefüge von Bereitschaften, das zugleich ein System von Grundtatsachen bildet, herauszutreten, ohne die vorgegebenen Linien seines Daseins zu verwirren und damit einer folgenreichen Entwurzelung seiner Existenz anheimzufallen. Das trifft nicht nur für das individuelle, sondern auch für das kollektive Leben zu und daher nicht bloß für den privaten, sondern auch für den sozialen Bereich. Wie es für das private Leben des Individuums solche existentiellen Grundbedingungen gibt, die gleichsam vom Hinter-

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grund der Einzelseele aus gestellt werden und nach Erfüllung verlangen, so auch im politischen Leben des aus Individuen zusammennwachsenden Kollektivums und vom Hintergrund der aus Einzelseelen zusammenfließenden Massenseele aus. Von der langen Generationenkette der Vergangenheit als wichtig und richtig erfahren, werden dieselben unbewußt als die fundamentalen Voraussetzungen menschlicher Gemeinschaft überhaupt weitergegeben, die erst dann bewußt werden, wenn sie durch einen umfassenden Angriff auf ihre allgemeine Geltung in Frage gestellt sind. Die Träger dieses Angriffs wurden die modernen Ideologien mit ihren künstlichen Daseinsplänen und ihren abstrakten Wunschbildern, unter deren Einfluß der Mensch nicht mehr auf das achtet und hört, was sein Instinkt als natürlich-geschichtliches Lebewesen fordert, das sich seiner Anlage gemäß verwirklichen will und muß. Infolgedessen wird aber, je künstlicher jene Daseinspläne und je abstrakter jene Wunschbilder werden, desto mehr natürliche und geschichtliche Lebenswahrheit vernachlässigt und verletzt, deren letztgültige Grundsätze tief im Innern des Menschen durch den Instinkt aufgezeichnet und aufbewahrt sind. Ganz folgerichtig sprechen wir denn auch von der zunehmenden Instinktunsicherheit, ja dem bestürzenden Instinktverlust des Lebens in der technischen Zivilisation — ihre Rastlosigkeit erzeugt immer mehr Sinnlosigkeit als seelisches Leiden des Einzelnen wie der Gruppen, weil die ererbten Grundbedingungen der menschlichen Existenz, gleichgültig wie deren Weitergabe von Generation zu Generation vor sich gehen mag, in ihrer zeitüberlegenen und von allem zivilisatorischen Fortschritt unabhängigen Bedeutung verkannt werden. Für diese Bedeutung ist nichts besser zum Beweis geeignet als eben der Umfang und Tiefgang derartigen Leidens in einer Zeit, deren zahlreiche Anläufe zur Rettung und Heilung deshalb gewollt oder ungewollt fast sämtlich zu dem konservativen Weg drängen — auch wenn dessen Prinzipien noch nicht allgemein als solche begriffen und erfaßt sind, weil das seelische Schicksal des modernen Menschen sie trotz aller Dringlichkeit seiner Notlage immer wieder verstellt und verschleiert. Schiebt man diesen Schleier jedoch beiseite, so zeigt sich die Reihe der konservativen Prinzipien folgendermaßen: Der Ort des Menschen als natürlich gewachsene und geschichtlich gewordene Persönlichkeit ist allemal zuerst seine Heimat im engeren und weiteren Verstände einer ganz und gar eigenen Umwelt, die mit einer unübersehbaren Fülle lebendig erlebter Beziehungen dinglicher Art das elementare Bedürfnis

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nach Geborgenheit und Halt befriedigt. Nur der Mensch, der eine Heimat hat, kann sich in ihrer Geborgenheit voll und ganz zur Persönlichkeit mit festem inneren Halt entwickeln. Als tiefste Beziehung von solcher Beschaffenheit darf dabei ohne Zweifel das nahe und innige Verhältnis zu Grund und Boden gelten, in dem der Mensch ähnlich einer Pflanze wurzelt, solange ihn der Einfluß der Zivilisation noch nicht entwurzelt hat. Der Besitz von Grund und Boden liefert darum auch die eigentliche seelisch-geistige Grundlage für das wahre Erlebnis der Heimat. Auf ihm erst entwickelte sich der Mensch als ein Kulturwesen im abendländisdhen Sinne, dessen ursprünglicher Gehalt aus der Seßhaftigkeit erwächst — der Nomade hat eine ganz andere Lebens- und Kulturform und kennt deshalb auch keine derartige Heimatvorstellung und kein solches Verhältnis zu Grund und Boden. Das Streben nach Besitz von Grund und Boden, um dort Wurzel zu schlagen, ist daher stets ein unverkennbares Zeichen für jenes dem seßhaften Menschen eingeborene Verlangen nach natürlich-geschichtlicher Individualität, dessen oberste Bedingung das Heimaterlebnis darstellt. Als solche bilden aber Grund und Boden auch die für den seßhaften Menschen gültige Urform des Eigentums, dessen zentrale Bedeutung für konservatives Wesen gar nicht übersehen werden kann. Denn persönliches Eigentum in seiner ursprünglich erlebten Form verkörpert recht eigentlich die engste Beziehung des Menschen zur Umwelt, zur Dingwelt, zur Wirklichkeit. Indem Eigentum erworben und besessen wird, entsteht nämlich eine unverwechselbar eigene Verbindung zwischen Mensch und Ding, Mensch und Sache, Mensch und Welt, die keineswegs bloß Not fernhält, Genuß gibt oder Macht verleiht, sondern vor allen Dingen auch Halt, Stetigkeit und Festigkeit gewährt. Wer ohne Eigentum in der oder jener Gestalt lebt, der ist nicht allein der Not ausgeliefert, sondern er ist vor allem auch ohne den rechten Halt, weil er keine dingliche Verbindung mit der Wirklichkeit hat, die ihm ganz persönlich eignet und sein unmittelbares Verhältnis zur Welt, seine Einigkeit mit ihr begründet. Indem der Mensch Eigentum hat, wird er der Wirklichkeit in einer je besonderen Weise inne, vergewissert er sich greifbar und sichtbar eines persönlichen Anteils an ihr, ist er erst voll und ganz ein organisches Glied ihres natürlichen Zusammenhangs. Durch Eigentum verankert sich der Mensch gewissermaßen in seiner Heimat, die ihm damit unvertauschbar als Teil und Stück der Welt mitgehört — und deswegen sind Grund und Boden gleichsam als intimste Heimat eben die Urform des Eigentums für unseren Kulturhorizont.

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Aber der O r t des Menschen ist nicht nur die Heimat, die in Grund und Boden und im Eigentum am tiefsten, weil unmittelbarsten als Bedingung des persönlichen Daseins in der Umwelt der Dinge ergriffen wird. Sein natürlicher O r t ist auch und zugleich in der Mitwelt der Menschen die Familie, aus der er stammt, in der er lebt und die er fortsetzt. Ihr engerer und weiterer Zusammenhang in Vergangenheit, Gegenwart und Z u k u n f t ist das eindrucksvollste und einfachste Beispiel f ü r die Notwendigkeit lebendiger Kontinuität des Menschenlebens, f ü r seine geschichtliche Existenz, die sich aus einem Früher zu einem Später entwickelt. Deshalb ist volle natürlich-geschichtliche Individualität ohne Familie als Voraussetzung nicht denkbar — je lebendiger, fester und stärker sie erscheint, desto sicherer kann der Mensch als gewachsene und gewordene, doch auch als wachsende und werdende Persönlichkeit in der Umwelt und Mitwelt sein. Denn indem sie ihm Schutz gibt, gibt ihm die Familie auch H a l t , da sie seine Entfaltung und Ausbildung zum ganzen Menschen ermöglicht, wenn sie ihn als Glied in eine lange Kette des Denkens und Handelns, des Empfindens und Verhaltens einfügt. Hier lernt der Mensch denn auch an erster Stelle den großen Schatz von Regeln und Gesetzen kennen, die das Leben als Sitte und Brauch ordnen. In den Sitten und Bräuchen, die ihm Vater und Mutter oder die Geschwister und Verwandten beibringen und erklären, erhält der einzelne Mensch am ersten seine innere und äußere Form, die von den Werten der Uberlieferung vorgebildet ist und lebendig übernommen wird. Das Leben in der Familie lehrt dort, wo Sitten und Bräuche in dieser oder jener Prägung noch geachtet werden und wirksam sind, den Menschen auf dem Wege von Liebe und Ehrfurcht, sich selbst eine Form zu geben, seine Triebe zu beherrschen und seine Leidenschaften zu zügeln. Am Bilde und im Kreise der Familie erfährt er wie nirgendwo sonst, welche Folgen eine Verletzung von Sitte und Brauch nach sich zieht. U n d die ganz ursprüngliche Neigung zur Familie als Ganzes, die zugleich seinem Interesse entspricht, läßt ihn die Verursachung solcher Folgen möglichst vermeiden — dieser Folgen, die sich dann später im größeren Bereich der Tradition bei einer Verletzung der Regeln und Gesetze des Verhaltens innerhalb der sozialen Gemeinschaft gleichsam nur wiederholen. Wenn der Mensch aus der Familie heraustritt, findet er in der sozialen Gemeinschaft seiner Heimat einen weiteren Kreis von Regeln und Gesetzen, Vorschriften und Gepflogenheiten vor, in denen er der Tradition begegnet.

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Sie ist als Überlieferung die angesammelte Weisheit von Generationen, die das Wissen und Ahnen der vor ihm lebenden Geschlechter aufbewahrt hat, wie das gemeinsame Leben beschaffen sein soll und muß, um dem menschlichen Wesen gerecht zu werden. U n d sie ist als Geschichte das Bild des Werdegangs einer größeren Gemeinschaft im Wandel der Zeiten, dessen Anblick in der Rückschau mit Stolz erfüllt und jenes Vertrauen zur eigenen Art schafft, das ohne solche H e r k u n f t im freien R a u m des Zufalls bleibt, statt auf dem festen Boden der Gewißheit zu ruhen. Indem der Mensch also Tradition zu erhalten trachtet, soweit es die natürliche Entwicklung zuläßt, erhält er sich selbst die Voraussetzungen, die in langer Erfahrung als die für menschliche Existenz überhaupt wesentlichen erprobt sind. Achtung und Pflege der Tradition bedeuten in diesem Sinne, daß der Mensch sich nicht der Möglichkeit und Fähigkeit zum Wurzelschlagen begibt, daß er des Heimaterlebnisses ganz und gar teilhaftig wird, daß er der Lehren des sozialen Verhaltens, wie sie ihm Sitte und Brauch in der Familie und in der größeren Gemeinschaft gezeigt haben, eingedenk bleibt, und daß er seine innere und äußere Form im Blick auf die Geschichte und ihre Werte immer wieder neu gewinnt und kräftigt. D a s ungeschmälerte Erlebnis von Heimat und Familie als natürlicher O r t seines Daseins verlangt jedoch, daß der Mensch in Freiheit, Recht und Religion lebt. Denn ohne das Erlebnis echter Freiheit, wahren Rechts und religiösen Glaubens erhalten auch Heimat und Familie nicht ihren vollen Sinn, ihre ganze Tiefe und hilfreiche Festigkeit als Schutz und H a l t . Wird die Vorstellung von der natürlich-geschichtlichen Individualität ernstgenommen, so hat sie ihr eigentliches Wesen in der besonderen Eigentümlichkeit, mit der der Mensch als eine eigene Persönlichkeit gewachsen und geworden ist. Deshalb kann auch sein Erlebnis der Freiheit nicht überall dasselbe sein. Vielmehr besteht Freiheit gerade darin, daß der Mensch sich in seiner überall verschiedenen Eigenart bewahrt und erhält — es ist also zuinnerst seine eigene Freiheit, die sich von der Freiheit anderer Menschen nach Form und Inhalt unterscheidet, weil jeder Mensch ein unvergleichbares Individuum für sich darstellt. Alles, was ihm seine Eigenart nimmt oder schmälert, vernichtet oder beeinträchtigt seine natürliche Freiheit, diejenige Persönlichkeit zu werden und zu sein, die unter den bereits genannten Bedingungen zustandekommt. Alles, was seine Eigenart stützt und schützt, dient seiner natürlichen, weil der persönlichen N a t u r angemessenen Freiheit. Zu ihr und in sie hinein gehört deshalb auch und gerade das Gefüge

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an Bindungen, das der einzelne Mensch als seine innere und äußere Form mit Sitte und Brauch in der Tradition übernommen hat. Denn erst an und in diesen Bindungen erfuhr und erhielt er Kultur, wurde er Kulturwesen, das sich nicht einfach seinen Trieben überläßt, sondern im Maß einer Kulturordnung lebt. Diese Bindungen jedoch können gar nicht anders sein als besondere, weil sie eben seine Persönlichkeit in ihrer einzigartigen Lage und Verfassung meinen und treffen, die durch Fähigkeit und Leistung, Zufall und Schicksal in jedem Fall höchst individuell bedingt ist. Wenn aber diese Bindungen besonderer Art sind und sein müssen, dann ist und muß die Freiheit, in die sie als Element hineingehören, jeweils verschieden aussehen. W o dagegen Freiheit unterschiedslos gleich ist oder als gleich gefordert wird, dort verliert der Mensch, wie Nivellierung und Vermassung unter dem Zeichen abstrakter Freiheit und Gleichheit unmißverständlich gezeigt haben, seine Eigentümlichkeit und damit auch die Möglichkeit, eigenartige und einzigartige Persönlichkeit zu werden und zu sein — diese Möglichkeit, in der seine wahre Freiheit als eigener Weg zur Entwicklung individueller Form beruht. Und erst die Gesamtheit aller persönlichen Freiheiten mit ihren mannigfachen Unterschieden bildet dann die Freiheit des Ganzen als Stamm oder Volk, wiederum in seiner Eigenart als eine größere historische Individualität unter den anderen Völkern leben zu können, ohne in dieser besonderen Lage und Verfassung unterdrückt und nivelliert zu werden. Der besonderen Freiheit des einzelnen Menschen als geschichtlich gewordener und natürlich gewachsener Persönlichkeit entspricht also die besondere Freiheit eines Volkes als größerer natürlich-geschichtlicher Individualität, die auch hier gleichermaßen gefährdet ist, wenn sie mit Gleichheit gekoppelt wird. Wie beim einzelnen Menschen, so ist deshalb auch bei den Völkern die Gleichheit der Feind wahrer Freiheit, die erst in der Anerkennung der jeweiligen Unterschiede zu ihrer wahren Verwirklichung kommt, durch1 Verleugnung der Unterschiede aber in Anarchie oder Vergewaltigung enden muß. Ähnlich verhält es sich mit dem Erlebnis des Rechts, das ursprünglich immer eigenes und engräumiges Recht ist, wenn es unmittelbar als Gerechtigkeit anerkannt und das heißt als die Stimme des eigenen Wesens erkannt werden soll, die sagt, was rechtens ist. N u r wenn das Recht in einer Beziehung zum einzelnen Menschen an einem bestimmten Ort und in einer lebendigen Tradition besteht, bleibt es persönliche Gerechtigkeit. Löst es sich gerade in seinen weiteren Teilen, die über die Verdammung der all-

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gemeinen und großen Übel hinaus das engmaschige Geflecht von einzelnen rechtlichen Bestimmungen bilden, von seiner historisdien Grundlage ab, so wird es formal und verliert dabei allmählich die innere Beziehung zum jeweiligen Fall, zum jeweiligen Menschen, der in seiner Heimat und in ihrer besonderen Geschichte wurzelt. Wie die konservative Freiheitsvorstellung wohl eine allgemeine Freiheit anerkennt, aber gleichsam bloß als eine Wiederholung der individuellen Freiheit auf der höheren Ebene überindividueller Gebilde, so auch die konservative Rechtsvorstellung. Das allgemeine Recht, das als eine größere natürlich-geschichtliche Rechtsindividualität jener allgemeinen Freiheit entspricht, kann das besondere Recht nicht verdrängen und entkräften, ohne die Idee der Gerechtigkeit notwendig ihrer lebendigen Beziehung zum Menschen zu berauben. W i r d der Freiheitsgedanke durch die Koppelung mit der Gleichheit gewissermaßen entleert und zur Verkleidung von Zwang und Unfreiheit entwertet, so gerät auch der Rechtsgedanke durch die Koppelung mit der Gleichheit in die Gefahr einer solchen Entleerung und Entwertung, die dann ihrerseits ebenso Unrecht und Ungerechtigkeit heraufbeschwört. Beidemal verschwindet mit dem historischen Element auch das eigentümlich Besondere, das erst die innere Lebendigkeit hier des Rechts und dort der Freiheit ausmacht, weil es an das Werden und Wachsen in einem bestimmten landschaftlichen Raum und in einer bestimmten geschichtlichen Tradition gebunden ist. Alle diese Prinzipien ruhen nun schließlich mit ihrem Wertkanon, den sie in sich einschließen, auf dem Boden des religiösen Glaubens, der höchsten menschlichen Beziehung, die in der Wahrheit Gottes liegt. Er ist die Macht, die all das in seiner bunten Mannigfaltigkeit wachsen und werden läßt, was den Menschen erst innen und außen zur Persönlichkeit macht. Die göttliche Schöpfung ist darum der einzige Plan, das einzige Unbedingte, die einzige Einheit, worin alle Besonderheit, alle Bedingtheit und alle Vielfalt aufgehen, weil sie gewissermaßen über der Welt steht. W o der Mensch noch nicht Gott mit der Vernunft gleichstellt, wo er noch nicht die rationale Kausalität auf den Thron hebt und sich ein eigenes Bild der Z u k u n f t zurechtmacht, wo er also seine Erkenntnis noch nicht selbstherrlich an die Stelle Gottes rückt und sich selber absolut setzt, indem er einen Plan gegen das Leben entwirft und eine Einheit gegen die N a t u r bestimmt —• dort war und ist immer religiöser Glaube der letzte, größte H a l t und Gott die letzte, höchste Instanz.

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Deshalb ist die Religion der Väter, der geschichtlich gewordene und gewachsene Glaube die größte und tiefste Bestimmung für das konservative Weltverständnis, die es gibt. Mag dieser Glaube, das Christentum, auch noch so viele Wandlungen durchmachen, um der Entwicklung zu folgen — seine Grundlagen und Kernsätze bleiben das Fundament, aus dem die Prinzipien des konservativen Gedankens erst ihre wahre Kraft gewinnen. Der Verzicht des Verstandes auf ein ideales Zukunftsbild dieser Welt setzt dabei ebenso gläubiges Vertrauen in einen göttlichen Lenker des Lebens voraus, der allein über den nächsten Schritt hinaus plant und lenkt, wie die instinktmäßige Einsicht in die Unzulänglichkeit der immer einseitig bleibenden Vernunft, des rationalen Denkens, das mit seinen Plänen die natürlichgeschichtliche Entwicklung zugunsten des Fortschritts im Sinne dauernder Perfektion beiseiteschiebt. Die ganz von innen strömende Liebe zur Mannigfaltigkeit des Daseins führt aus sich selbst heraus ebenso zur Vorstellung des göttlichen Schöpfers wie die Besinnung auf den Reichtum des Besonderen, das gerade in seiner Eigenart erst das Geheimnis lebendigen Seins offenbart und deshalb das ewig erneuerte Geschenk eines letzten Gebers, eines höchsten Urhebers sein muß. Die Welt als Gewachsenes zu erleben, bedeutet stets, über ihr einen Schöpfer zu ahnen und zu wissen, der alles blühen, gedeihen und vergehen läßt, während die Welt als Gemachtes anzusehen heißt, sie als ein Schaltwerk von Regeln zu begreifen, die aus einer farblosabstrakten Weltvernunft fließen. Mit einem Wort: der konservative Gedanke ist den Bedingungen seines Wesens zufolge untrennbar an die Vorstellung Gottes, an die historische Religion, an das Christentum gebunden, mag auch die zivilisatorische Umwelt seiner Träger den Glauben im Einzelfall noch so sehr verdecken und in die Verborgenheit des persönlichen Bekenntnisses treiben. Gerade weil das konservative Menschenbild nicht abstrakt ist wie das ideologische, muß es seine tiefste Rechtfertigung im religiösen Glauben finden. Denn wenn der Mensch als natürlich-geschichtliche Individualität durch Jahrtausende hin religiös gewesen ist, dann kann er nur innerhalb einer Abstraktion von seiner echten Wirklichkeit Gott leugnen, dann kann er nur durch die ideologische Fiktion eines Heraustretens aus Natur und Geschichte das innerste Bedürfnis seines Wesens, an Gott zu glauben, vergessen oder gar als nichtig erklären. Bereits diese kurze Aufzählung der konservativen Prinzipien als natürlich-geschichtlicher Existenzbedingungen des Menschen zeigt, daß sie ratio-

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nal nicht vollkommen und endgültig zu kennzeichnen sind. Sie können nämlich immer nur angedeutet und umschrieben werden, da mit ihnen jedesmal die ganze tiefe und breite Fülle der Wirklichkeit in einer ihrer Seiten gemeint ist, die sich vom abstrakten Begriff niemals befriedigend erfassen und ausschöpfen läßt. Als solche sprechen sie deshalb nicht bloß den Verstand, sondern auch das Gefühl an — darin beruht ja gerade ihr Wesen und darin besteht auch ihre Aufgabe im Rahmen des konservativen Weltverständnisses, das jeder Einseitigkeit der Betrachtung abgeneigt ist. Wegen dieser Eigenschaft wird ideologisches Denken stets unzufrieden mit ihnen sein, wird sie ob ihrer vermeintlichen Ungenauigkeit immer als unzulänglich ansehen und daher ihre Geltung als Richtschnur für eine umfassende Ordnung des menschlichen Lebens bestreiten. Und ferner: ganz ebenso umschreibt das Fehlen dieser existentiellen Grundbedingungen wie zum Beispiel Heimatlosigkeit stets die rational nie völlig erfaßbare Menge von menschlichen Beziehungen äußerer und innerer Art zur Welt, die abhanden gekommen sind. Da nur das Gefühl um solchen Mangel restlos Bescheid weiß, weil es sich hier zu allererst um Totalerlebnisse des Menschen handelt, bleibt auch die begriffliche Bezeichnung der heute fehlenden oder verkümmerten Grundbedingungen immer und mit Notwendigkeit unzulänglidh und unbefriedigend für denjenigen, der lediglich ideologisch denkt. Das Erlebnis nun, das die mehr oder weniger vollständige Verwirklichung dieser Grundprinzipien dem Menschen gibt, schafft das Empfinden der Geborgenheit und Sicherheit in der Welt. Geborgenheit und Sicherheit der persönlichen und gemeinschaftlichen Existenz — danach geht das Streben des konservativ denkenden und fühlenden Menschen, ohne daß damit etwa auch nur ein Anklang an irgendwelche ideologischen Schemata verbunden wäre, mit denen ein bestimmter und allgemeingültiger Status der individuellen oder kollektiven Lage innerhalb des staatlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens festgelegt würde. Geborgenheit und Sicherheit des Daseins in der Welt schließen darum als umfassende Zielsetzungen ganz unideologischer Art den Anspruch und die Forderung der Grundprinzipien in sich ein. Denn erst wo ihr Anspruch und ihre Forderung ganz oder teilweise erfüllt sind oder werden, vermag der Mensch natürlich-geschichtliche Individualität zu sein und sich in solchem Sein geborgen und sicher zu fühlen, weil sein Wesen damit nicht unterdrückt, sondern anerkannt wird. Es gehört hierbei aus guten Gründen zur Natur des konservativen Welt-

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Verständnisses, daß die Geltung der Grundprinzipien keineswegs auf das materielle Vorhandensein ihrer verschiedenen Inhalte beschränkt ist. Das heißt, konservativ ist und kann man auch sein, wenn Heimat oder Grund und Boden oder Eigentum, wenn Familie oder Sitte und Brauch oder Tradition, wenn Freiheit oder Recht oder Religion nicht mehr in dieser oder jener Form unmittelbar sichtbarer oder faßbarer Besitz des Einzelnen sind und nur noch ihr Sinn und "Wert bejaht wird, indem sie in der warmen Tiefe des Herzens als die eigentlichen Güter des menschlichen Daseins lebendig bleiben — in tröstlicher Erinnerung oder im hoffnungsvollen Wunsch, immer aber mit unverrückbarer Gewißheit. Daß dem so ist, bedeutet keinerlei Annäherung an das ideologische Weltverständnis und verführt keinesfalls zur Aufstellung von Gegenbildern nach Art der Ideologien, weil es sich dabei ja gerade um eine willige Einfügung in die natürlichen und geschichtlichen Bedingungen des Menschenlebens handelt, wie sie die Erfahrung als maßgebend erhärtet hat, und nicht um ein rational-triebhaft bestimmtes Heraustreten aus ihrem Kreis. Daß dem so ist, folgt vielmehr mit zwingender Selbstverständlichkeit aus dem reaktiven Charakter des konservativen Weltverständnisses, dessen Anliegen der Verteidigung um so dringender wird, je mehr der dauernde Angriff der Ideologien die natürlich gewachsene und geschichtlich gewordene Lebensordnung auflöst und zerstört, um schließlich nur noch Ahnen oder Wissen um ihre wahren Erfordernisse übrigzulassen. Das konservative Welterleben erfährt seine letzte Erfüllung zwar erst dort, wo die Grundprinzipien sämtlich in voller Reinheit verwirklicht sind. Doch es ist in seiner Lebendigkeit nicht von der jeweiligen äußeren Situation abhängig, sondern besteht in dem Streben nach Geborgenheit und Sicherheit in der Welt auch dann, wenn die Grundprinzipien nur mehr als eine innere Realität erlebt werden — entweder alle zusammen oder jedes einzeln für sich. Wäre es nicht so, dann könnte es streng genommen gar keine konservative Intention mehr in der harten und kalten Welt der technischen Zivilisation geben, die eine äußere Realität von vorwiegend rationaltriebhafter Beschaffenheit herbeigeführt und durchgesetzt hat. Mit anderen Worten: Der konservativ denkende und fühlende Mensch wird zwar der Grundprinzipien seiner natürlich-geschichtlichen Existenz mit dem letztlich instinktiven Streben nach Geborgenheit und Sicherheit in der Welt inne. Aber er ist bei diesem Innewerden dessen, was seiner persönlichen Existenz als Bedingung ihres unveräußerlichen Wesens frommt, nicht auf die materielle Verwirklichung der Grundprinzipien als tatsächliches Statt-

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finden angewiesen — er bleibt konservativ auch dann, wenn er keine Heimat, keinen Grund und Boden, kein Eigentum usw. mehr hat. Er weiß oder ahnt nämlich mit unverlierbarer Uberzeugung, daß ihm diese Voraussetzungen des menschlichen Daseins nur auf Zeit abhanden gekommen sind und dennoch zu seinem echten Wesen als Mensch gehören. Er ahnt oder weiß aber daher auch, daß ihn jede Ideologie, der er sich allenfalls zuwenden könnte, unvermeidlich von der "Wiedergewinnung seines Verlustes wegführt. Denn selbst wenn er mit Hilfe irgendwelcher Heilslehre die eine oder andere dieser Voraussetzungen materiell wiedergewänne, so würde ihn die Übernahme des ideologischen Denkens doch an ihrem auch innerlichen Besitz hindern und damit um das Erlebnis von Geborgenheit und Sicherheit in der Welt bringen, das nun einmal dort nicht zu entstehen vermag, wo die Unruhe, Unzufriedenheit und Ungeduld ständiger Veränderung zum Gesetz des Welterlebens werden, wie das durch die modernen Heilslehren mit ihrem unbedingten Fortschrittsglauben geschieht. Denn die Übernahme des ideologischen Denkens würde ihn selbst dann des rechten Erlebnisses der Heimat usw. berauben, wenn er sie rein materiell hätte — und zwar dadurch, daß jene rational-triebhafte Orientierung die innere Fähigkeit zu ihrem echtcn Erlebnis unmöglich macht. Die Strukturelemente des 'konservativen Denkens bilden das Gegenstück zu den Sinnprinzipien des konservativen Gedankens. Jene bezeichnen den Inhalt der Wirklichkeit, der bewahrt und erhalten werden muß, damit der Mensch er selbst sein und bleiben kann. Diese jedoch bestimmen den Weg, auf dem die Wirklichkeit zu diesem Zweck begriffen und erfaßt werden muß. Greifen die Ideologien mit ihren Programmen den Menschen in künstlichen Gegenbildern an, indem sie durch ihr abstrakt-rationales Denken seine natürlich-geschichtliche Daseinswelt und seine innere wie äußere Form in angeblichem Fortschritt unaufhörlich zu verändern suchen, so verteidigt ihr konservativer Gegenpol diese Daseinswelt und diese Form auf dem Boden und mit Hilfe eines ganz anders strukturierten Denkens. Seine Prinzipien verlangen dabei zu ihrer Verwirklichung dies Denken, und umgekehrt drückt sich dies Denken in den Prinzipien aus — beides bedingt einander. Infolgedessen kann man nicht im Sinne der Prinzipien handeln, ohne dieses anders strukturierte Denken zu verwenden, aber infolgedessen kann man auch nicht solcherart denken, ohne entsprechend zu handeln, sofern Denken und Tun in Einklang miteinander sind. Konservatives Denken ist deshalb systematisch und historisch ursprüng22

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lieber als rationales Denken, weil das Denken hier viel unmittelbarer mit dem Handeln zusammenhängt als dort. Das Denken ist hier noch, wie man sagen kann, unmittelbare Funktion des praktischen Lebens und nicht schon wie bei den Ideologien theoretischer Vorgriff, der die Praxis nach einem abstrakten Entwurf mißt und künstlich ändert. Daher zeigt sich dieses Denken denn auch in einer besonderen "Weise auf Anschauung und Erfahrung der Wirklichkeit begründet, wie sie ist. Denn diese Wirklichkeit erscheint ihm stets vor und über allem voraufeilenden Sollen als natürliche Entwicklung, die willkürliche und selbstherrliche Eingriffe verbietet. Anschauung und Erfahrung bedeuten hier also nicht dasselbe wie im rationalen Denken der Ideologien. Dort wird die Wirklichkeit in ihren verschiedenen Formen zwar auch angeschaut und erfahren, aber in der Abstraktion kausaler Betrachtung und rein zweckhafter Einordnung abgerückt und dabei gleichsam verfremdet. Hier jedoch bleibt sie jeweils als Teil oder Glied der natürlichen Entwicklung in ihrer ganzen Lebendigkeit und Nähe bestehen. Das konservative Denken ist darum immer konkretes Denken, das von der Kontinuität des Wachsens und Werdens ausgeht, weil ihm nur darin die volle Wirklidikeit und das echte Leben entgegentreten, während sie durch einseitige Rationalität sichtbar oder unsichtbar in ihrer Bewegung gebrochen und in ihrer Wahrheit verfälscht werden. Der Tendenz zum abstrakten System beim ideologischen Denken steht daher die Tendenz zum konkreten Einzelfall beim konservativen Denken gegenüber. Und der Neigung zur Spekulation dort entspricht eine Abneigung gegen alles Spekulative hier. Denn System und Spekulation sind die Voraussetzungen des Denkens zum Überspielen des Einzelfalls, zur Veränderung und Neusetzung der aus lauter ineinander greifenden Einzelfällen als ein Ganzes gebildeten Wirklichkeit. Systematisches und spekulatives Denken beschwören immer die Gefahr eines Bruches mit der Natur und der geschichtlichen Vergangenheit herauf, die doch Grundlage und Bedingung der menschlichen Individualität als des Einzelfalles größter Gewißheit darstellen. Der Mensch, der sich in seiner gewachsenen und gewordenen Eigentümlichkeit durch eine neue Denkweise angezweifelt und angegriffen sieht, wird sich von den genannten Kategorien aus allmählich seiner Situation bewußt. Unter der Drohung der systematisch-spekulativen Gegenbilder des neuen Denkens prüft er seinen Standort auf Verläßlichkeit und Widerstandskraft hin und erblickt dabei überall in seiner Umwelt und Mitwelt alsbald Individualität, Einzelfälle, Besonderheit — also das Gegenteil der allgemein-

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gültigen Zukunftsform, in die er hineingezwungen werden soll. Anschauung und Erfahrung zeigen ihm bei jedem unbefangenen Blick in die Wirklichkeit seines Daseins, daß das Wachsen und Werden der natürlich-geschichtlichen Entwickjung nicht Gleichheit, sondern Unterschied und nicht Einerleiheit, sondern Mannigfaltigkeit zum Ergebnis hat. Die Fülle der Natur offenbart sich ihm in der Verschiedenheit ihrer unzähligen Formen, und der Reichtum der Geschichte tritt ihm in der Vielfalt ihrer eigentümlichen Erscheinungen entgegen, die sich ohne Preisgabe ihrer individuellen Besonderheit zur höheren Einheit eines Ganzen verbinden. Darum kann das konservative Denken, das der Abwehr einer Vergewaltigung des Lebens durch übermäßige Abstraktion, Allgemeingültigkeit und Gleichheit dient, nur die Aufgabe haben, diesem unmittelbar als wahr erkannten und erlebten Zustand der Wirklichkeit gerecht zu werden. Das heißt: Element dieses Denkens muß das Konkrete, das Besondere, das Eigentümliche werden und sein. Denn mit diesen Bestimmungen erst dringt das Denken zum eigentlichen Ort der Lebendigkeit des Daseins vor, während Abstraktion, Allgemeinheit und Gleichheit sich von ihm entfernen. Nur im Konkreten, Besonderen, Eigentümlichen bleibt daher das Bestehende so erhalten, daß es in eigener Freiheit seiner natürlichen Entwicklung zu folgen vermag. Aus diesem Grunde ist denn auch das Besondere für dieses Denken immer dem Allgemeinen vorgeordnet bei der Sorge um und für den Bestand des Lebens und seines Kerns, der Lebendigkeit. Das Allgemeine verliert auf die Dauer seinerseits unausweichlich jede feste Grundlage, wenn das Besondere als innerster Sitz der Lebendigkeit vernachlässigt oder unterdrückt wird, wie das beim ideologischen Denken mit seinem Hang zum starren System und zur abstrakten Spekulation geschieht, die in den allgemeinen Gegenbildern wirksam werden. Auf solche Weise wird das Verhältnis zwischen dem Besonderen und dem Allgemeinen sowohl systematisch als auch historisch zum Angelpunkt des konservativen Denkens, an dem sich sein Realitätswert und das heißt die Möglichkeit zur Verwirklichung der Prinzipien des konservativen Gedankens erweist. Die extreme Bejahung oder Verneinung des Besonderen wie des Allgemeinen ist, systematisch betrachtet, gleichermaßen irreal, daes weder bloß Besonderes noch bloß Allgemeines gibt. Deswegen darf es sich, trotz der grundsätzlichen Vorordnung des ersteren, bei allen theoretischen Erwägungen und praktischen Entscheidungen bloß darum handeln, einen mittleren Weg zwischen dem konkreten Besonderen und dem abstrakten 22*

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Allgemeinen zu finden. Das Wachsen und Werden der natürlich-geschichtlichen Entwicklung des Lebens verlangt daher, will man es nicht ideologisch vergewaltigen, den Ausgleich der Gegensätze und Unterschiede in der menschlichen Wirklichkeit, die sich aus der Spannung unter ihren einzelnen Faktoren ergeben. Das rationale Denken, wie es die Ideologien bestimmt, ordnet das Besondere als Spezialfall dem Allgemeinen als Gesetz unter und läßt es darin aufgehen wie den Teil in der Summe. Seine Methode der gedanklichen Bewältigung der Wirklichkeit ist Subsumption und Summierung, in denen das Besondere seine Qualitäten vor dem Allgemeinen einbüßt. Das konservative Denken dagegen kann das Besondere nicht in dieser Art zugunsten des Allgemeinen aufgeben, sondern muß es gerade in seiner Eigentümlichkeit erhalten, weil Anschauung und Erfahrung darin die eigentliche Quelle für die Lebendigkeit der konkreten Realität im natürlich-geschichtlichen Weltzusammenhang erkennen lassen. Deshalb erscheint ihm das Ganze immer nur als das Resultat eines Ausgleichs zwischen seinen Teilen oder besser Gliedern, denen ihre eigene Qualität verbleibt. Seine Methode der gedanklichen Bewältigung der Wirklichkeit ist aus diesem Grunde auch Vermittlung statt Unterordnung, Vereinheitlichung und Gleichheit. Es begreift die Wirklichkeit nicht als fortschreitende Herrschaft des Allgemeinen über das Besondere und als Abhängigkeit der Einzelfälle von einem Gesetz, sondern als das Miteinander von Gegengewichten in der dauernden Bewegtheit ihrer Spannung und als ständig sich entwickelndes Wechselspiel eines lebendigen Gleichgewichts. Will man den inneren Widerstreit des Denkens, der in diesen Strukturelementen beschlossen liegt, begrifflich klar erfassen, so kann man ihn am einfachsten als das Verhältnis von Zentralisation und Dezentralisation begreifen. Das rationale Denken ist aus seiner Gesetzlichkeit heraus auf Zentralisation des menschlichen Lebens aus, während das konservative Denken eben als Antwort auf diese Tendenz, ohne die es überhaupt nicht als solches entstanden wäre, eine Dezentralisation des Lebens erstrebt. Der offensiven Tendenz zur Zentralisation entsprechen als Strukturelement des Denkens dabei Subsumption und Summierung, der defensiven Tendenz zur Dezentralisation aber entsprechen Ausgleich und Vermittlung. Nimmt man in diese beiden Begriffe all das als ihren Inhalt mit hinein, was Geschichte und Wesen der Ideologien einerseits und des konservativen Gedankens andererseits als Angriff und Verteidigung gezeigt haben, so

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läßt sich mit ihnen der ganze Gegensatz zwischen diesen beiden großen Weisen des modernen Weltverständnisses, die in Aktion und Reaktion das Gesamtbild der zivilisatorischen Entwicklung in unendlicher Verzweigung beherrschen, gewissermaßen in einen Griff bringen. Denn sie erweisen ihre Geltung nicht bloß formal beim ideologischen und konservativen Denken, sondern auch inhaltlich bei den Ideologien und dem konservativenGedanken. Zentralisation oder Subsumption und Summierung verwirklichen sich nämlich auf der Ebene der politischen Praxis durch' die modernen Ideologien, denen die Technik mit ihrem Zwang zur Rationalität meist unerkannt eine überall wirksame Hilfestellung leistet, in der ständig zunehmenden Zentralisierung und Generalisierung, Nivellierung und Normierung des sozialen und politischen Lebens, der staatlichen und wirtschaftlichen Zustände. Dezentralisation oder Ausgleich und Vermittlung dagegen verwirklichen sich unter den realen Verhältnissen des gleichen Lebens und der gleichen Zustände in dem Streben nach Auflockerung, nach Erhaltung der natürlichen Mannigfaltigkeit und geschichtlichen Vielfalt, nach Bewahrung des Bestehenden in seiner Besonderheit. Denn nur dort, wo das Besondere nicht im Allgemeinen aufgeht und das heißt, wo statt Zentralisation das beharrliche Streben nach Dezentralisation wach ist, kann der konkrete Einzelfall, die natürlich-geschichtliche Individualität und damit die echte Lebendigkeit des Lebens gewahrt bleiben. Jede Absicht zur Generalisierung, Normierung und Nivellierung macht sich mithin von dieser Position des natürlich-geschichtlichen Denkens her eines Anschlags gegen das Leben selbst in seinen Quellen verdächtig. Jeder Versuch zur Beseitigung von Unterschieden, Schranken und Grenzen wird hier ungeachtet aller Vernunftsgründe als ein Angriff auf die Voraussetzungen menschlichen Daseins überhaupt fragwürdig. Jede Tat des Verwischens und Einebnens der Mannigfaltigkeit in der Welt ist dem Zweifel ausgesetzt, im tieferen Verstände eine Untat zu sein, die sich gegen die innere Ordnung dieser Welt für den Menschen richtet. Daß solcher Zweifel nicht zu einem letztlich uferlosen Relativismus führt, in dem jede Individualität nur noch auf ihren eigenen Wert und ihr Eigenrecht pocht — vor dieser immer wieder gern von seinen Gegnern beschworenen Gefahr wird das konservative Denken dabei durch drei Tatsachen bewahrt: durch die technische Welt als menschliches Daseinsmilieu, durch den Antwortcharakter des konservativen Gedankens gegenüber den Ideologien und durch die Verankerung im religiösen Glauben. Diese drei Tat-

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Sachen verhindern von vornherein eine Verabsolutierung des Besonderen und Geschichtlichen durch den konservativen Gedanken, sofern er echt bleibt und sich nicht in Abwege verirrt. Denn die Gebote des Glaubens an Gott und sein Sittengesetz bilden ebenso eine unübersteigbare Schränke vor jener Verabsolutierung wie der Umstand, daß der konservative Gedanke grundsätzlich nur eine Antwort auf die Ideologien darstellt und überhaupt bloß im Abwehrkampf gegen ihre normativen Gegenbilder, die dem Menschen seine gewachsene und gewordene Lebensbasis nehmen, als Anwalt der natürlichen und geschichtlichen Besonderheit auftritt. Und schließlich ist die gesamte technische Welt, die das alltägliche Milieu des modernen Menschen in der Zivilisation ausmacht, eine Welt des Allgemeinen, die so mächtig ist, daß sich das Besondere immer nur gegen sie wehren, aber sie nicht seinerseits überwältigen kann. Das Schicksal des Menschen, der in seiner durch lange Jahrhunderte gewordenen Form angegriffen wird und verteidigt werden muß, strahlt also gewissermaßen in das Denken hinein und formt dort, während bestimmte Grundprinzipien als Bedingungen dieser Form erlebt und erkannt werden, nach einem inneren Bildungsgesetz auch bestimmte Bahnen und Wege, auf denen die überlieferten und in der Überlieferung evident gewordenen Bedürfnisse der menschlichen Existenz gewahrt und gesichert werden können. Wie die Zukunftsprogramme und Gegenbilder der Ideologien nicht ohne das rationale Denken möglich sind, so sind auch die Inhalte und Ziele des konservativen Gedankens gar nicht möglich ohne die andere Denkweise. Die natürlich-geschichtliche Individualität des Menschen ist mit ihren Voraussetzungen, die die Sinnprinzipien des konservativen Gedankens wiedergeben, nur dann zu erhalten, wenn die Strukturelemente dieser Denkweise zur Anwendung kommen. Und diese Denkweise wiederum ist es, in der die natürlich-geschichtliche Individualität des Menschen erst als solche Gestalt gewinnt. Beide, der konservative Gedanke und das konservative Denken, bedingen somit einander, wie schon gesagt, ohne daß ersterer oder letzteres den Vorrang beanspruchen dürfte oder je für sich verwendet werden könnte. Denn der konservative Gedanke bleibt ohne das entsprechende Denken ebenso wirkungslos wie das konservative Denken ohne die ihm entsprechenden Sinnprinzipien als seine selbstverständliche Folgerung. Erst wenn Sinnprinzipien und Strukturelemente ineinandergreifen, vermag der natürlich gewachsene und geschichtlich gewordene Mensch tatsächlich geschützt zu werden. Berechtigung und Rechtfertigung des konservativen Gedankens wie des

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konservativen Denkens, die sich in den Prinzipien und Elementen darstellen, erwachsen nun mit einer geradezu überwältigenden Überzeugungskraft aus dem modernen Schicksal des Menschen, das mit den Krisen und Katastrophen des 20. Jahrhunderts den vorläufigen Gipfel seiner Vollendung erklommen hat. Die menschliche Lage der Gegenwart ist in ihren entscheidenden Grundzügen nämlich durch eine Verdrängung, Verkümmerung oder Vernichtung gerade derjenigen Existenzvoraussetzungen bestimmt, die das letzte Ziel der konservativen Intention bilden. Am Ende eines beispiellosen zivilisatorischen Aufstiegs, in dessen Verlauf die Perfektionsidee der Aufklärung bis zum heutigen Tage eine Kette von strahlenden Triumphen erlebte, sieht sich der Mensch zwar im Besitz unerhörter Fähigkeiten und Hilfsmittel. Aber zugleich entbehrt er zu seinem Erstaunen doch immer mehr der Befriedigung jener existentiellen Bedürfnisse, die der konservative Gedanke mit seinen Prinzipien meint und zu denen das konservative Denken hinleitet. Vielmehr hat jedes einzelne dieser Prinzipien seine alte Geltung im Laufe des technischen Zeitalters bei der überwiegenden Menge der Menschen in den Ländern der modernen Zivilisation auf die eine oder andere Weise eingebüßt. Das heißt, der Mensch ist binnen einer verhältnismäßig kurzen Spanne von wenigen Generationen tatsächlich immer heimatloser, wurzelloser, haltloser, traditionsloser, rechtloser und glaubensloser geworden. Eigentum, Familie, Sitte und Brauch geben ihm, weil sie entwertet oder beseitigt worden sind, keinen festen Ort mehr, wo er sich noch sicher und geborgen fühlen kann. Und seine Freiheit ist, obwohl alle Welt sie im Munde führt, bis auf klägliche Reste verschwunden oder doch heillos gefährdet. Entsprechend hat auch das konservative Denken seine Geltung eingebüßt und mit seinen Strukturelementen einem künstlichen Denken Platz gemacht, das trotz scheinbarer Naturnähe durch Forschung und Lehre doch in Wahrheit den Bruch mit der Natur auch innerhalb der menschlichen Welt zum Gesetz erhebt. Mitten in einer strotzenden Fülle zivilisatorischer Errungenschaften, die noch unaufhörlich wächst, ist die menschliche Welt damit gerade hinsichtlich ihrer grundlegenden Bedingungen in eine abgrundtiefe Verwirrung und Unordnung geraten, deren maßgebende Kennzeichen eben die Ächtung oder Zerstörung des Inhalts der konservativen Prinzipien und die Verkennung oder Verleugnung der konservativen Denkelemente bilden. Selbst die modernen Ideologien, unter deren geistigem Einfluß die Entwicklung der

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letzten zweihundert Jahre stattgefunden hat, erkennen die Tatsache dieses so beschaffenen und bewirkten Zustands abgrundtiefer Verwirrung und Unordnung an. Auch sie sprechen zu seiner Kennzeichnung von Entpersönlichung, Entwurzelung, Entfremdung, Entrechtung, Entseelung und Entbindung des Menschen, wenngleich sie nicht zugeben wollen oder nicht sehen können, daß es sich bei all diesen Vorgängen in der Tiefe der mensdilichen Welt um das Ergebnis einer Nichtbeachtung der konservativen Intention handelt. Deshalb bleiben auch1 ihre Regenerationsversuche trotz richtiger Ansätze in der künstlichen Gegenbild-Situation befangen, die überall das Dasein seiner Natürlichkeit und Geschichtlichkeit zu berauben neigt. Der innere und äußere Zustand der Gegenwartswelt des Menschen zeigt dem prüfenden Blick allerorten dasselbe Bild, dessen Charakterzüge schon wiederholt angedeutet wurden und nun hier zusammengefaßt werden müssen, um die unmittelbare Beziehung der konservativen Theorie zur Gegenwart darzutun. Auf der einen Seite der modernen Zivilisation türmen sich die Beweise höchstentwickelter Rationalität, verkörpert vor allem durch Technik und Industrie, Wissenschaft und Organisation, Verkehr und Nadirich tenwesen, aber auch durch die umfassende Herrschaft der reinen Zweckhaftigkeit in den zwischenmenschlichen Beziehungen und durch die alles ergreifende Bewußtheit der Lebensvorgänge im individuellen Dasein. Das besondere Merkmal dieser Verfassung der Gegenwartswelt des Menschen ist dabei die Tatsache, daß jedermann, ganz ohne Rücksicht auf Begabung, Wissen oder Können, unvergleichlich viel rationaler denkt und handelt als jede frühere Generation. Denn audi der Unbegabte, Unwissende und Ungelernte ist, unabhängig von seinen intellektuellen Fähigkeiten, zu einem extrem zweckhaft-bewußten Lebewesen geworden. Und auf der anderen Seite der modernen Zivilisation türmen sich ganz ähnlich die Beweise einer entfesselten Triebhaftigkeit, die sich infolge ihrer Wirkungen immer mehr als das eigentliche Signum der Zeit offenbaren. Durchdringt man die Hüllen der konventionellen Betrachtung, um festzustellen, was eigentlich ist, so zeigt sidi mit kaum mehr zu überbietender Deutlichkeit, daß dem Vordringen der Ratio in allen Bereichen unseres Daseins auch ein Vordringen des Triebes korrespondiert. Das gilt, wie jede nüchterne Beobachtung der konkreten Wirklichkeit lehrt, sowohl für den Einzelnen als auch für die Völker der Zivilisation. Denn beim einzelnen Menschen wird der Drang nach Geltung und Madit, die Gier nach Besitz und Genuß, der Impuls zu Neid und Haß, die Neigung zu Roheit und

Stellung und Aufgabe der konservativen Theorien in der Gegenwart

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Grausamkeit in tausend Verkleidungen und entgegen allem ideologischen Perfektionsglauben von Jahrzehnt zu Jahrzehnt immer stärker und entspricht in geheimer psychologischer Kausalität nur dem ständigen Fortschreiten der bewußten Rationalität bei hoch und niedrig, reich und arm, klug und dumm. Bei den Völkern aber wachsen ebenso Kollektivegoismus und Kollektivhaß, ausgedrückt in Nationalismus und Imperialismus, Klassenkampf und Rassenkampf, Terror und Diktatur, Barbarei und Tyrannei in vielerlei Gewandung und entsprechen auf der überindividuellen Ebene des sozialen und politischen, staatlichen und wirtschaftlichen Lebens gleichfalls in geheimer psychologischer Kausalität nur dem ständigen Fortschreiten rationaler Organisation und bewußter Planung des Lebens in größeren Gruppen. Verlängert man gleichsam den prüfenden Blick nach rückwärts, um in die Vergangenheit unserer Zivilisation hinabzuschauen, so hat dieser erschütternde Befund aus der Diagnose der Gegenwart vollends nichts Erstaunliches. Dann enthüllt die Entwicklungsgeschichte des technischen Zeitalters auch die zahlreichen Etappen und Stadien des tragischen Prozesses, der aus der Verkennung der naturgegebenen und dem Bewußtsein meist verborgen bleibenden Korrespondenz von Ratio und Trieb entsteht. Dann werden auch die Gründe für das in dieser Korrespondenz beschlossene Verhängnis des modernen Menschen, um die Erfüllung seiner existentiellen Ansprüche gebracht zu werden, unmittelbar einsichtig. Die Vitalität nämlich, die zur Erringung der strahlenden Siege erforderlich war, mit denen Naturwissenschaft und Ingenieurkunst, Wirtschaft und Handel, Organisation und Verkehr in den letzten anderthalb Jahrhunderten die moderne Zivilisation errichteten — diese neue oder besser zusätzliche Vitalität konnte unter den Lebensumständen der alten Ordnung der Dinge überhaupt nicht aufkommen oder gewonnen werden. Dazu bedurfte es vielmehr der Auflösung dieser alten Lebensordnung, in der ja die Triebwelt des Menschen durch ein erfahrungsgesättigtes Gefüge von großen und kleinen Formen, Regeln und Bräudien vielfältig gebunden war. Die Beseitigung all dieser Formen mit Hilfe des rationalen Denkens, das unter dem Zeichen von Freiheit und Gleichheit unermüdlich ihre Überlebtheit und Unbrauchbarkeit bewies, stellt daher ohne Zweifel ebenso die Voraussetzung für das Freiwerden zusätzlicher Vitalität dar, wie dieses Freiwerden seinerseits wieder die Bedingung für das Erringen jener strahlenden Siege bildete, von denen die Errichtung der modernen Zivilisation in ihrer ganzen imponierenden Höhe und Breite abhing.

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Aber mit solcher allgemeinen Entbindung der Triebwelt wurde ja, wie ohne weiteres einleuchtet, Vitalität überhaupt frei — und das heißt nicht nur für positive, sondern gleichzeitig auch für negative Zwecke. Denn die Triebhaftigkeit des Menschen ist von sich aus weder auf begrenzte Zwecke noch auf bestimmte Werte festgelegt. Der Machttrieb etwa kann sowohl aufbauend als auch zerstörend wirken, wobei ihn beide Ergebnisse in derselben Weise befriedigen. Und diese Indifferenz der menschlichen Triebwelt hinsichtlich ihrer Richtung war denn auch für das Schicksal der technischen Zivilisation entscheidend. Denn ihr zufolge mußte die mit dem rationalen Denken freigesetzte Vitalität zwangsläufig aufbauende und zugleich zerstörende Wirkungen nach sich ziehen. Die zivilisatorische Wirklichkeit mußte doppelsinnig sein und ein zwiespältiges Janusgesicht von strahlenden Fortschritten und finsteren Zerrüttungen zeigen — sie mußte im Aufbau zerstören. In den neuen Formen der Zivilisation vermochte sich also die Triebhaftigkeit nützlich wie schädlich auszuwirken — die Elektrizität zum Beispiel konnte Licht und Wärme spenden, aber auch Haß und Verderben senden. Hand in Hand mit der Errichtung der modernen Zivilisation, bei deren Aufbau sich die entbundene Vitalität in Gestalt unerhörter Energie, Aktivität und Intensität als positiv erwies, ging daher die Zerstörung der existentiellen Grundlagen des Menschenlebens, worin sich die entbundene Vitalität als negativ erwies. Dabei scheint die historische Entwicklung dieser Zivilisation zu Beginn durchaus mehr positive als negative Züge zu zeigen — und zwar offenbar deshalb, weil sie erst den weltweiten Kreis ihrer geographisch-politischen Möglichkeiten ausschreiten konnte, ehe die in ihr zutage tretende Triebhaftigkeit gleichsam mit sich selbst in Konflikt geriet, indem sie auf ihren eigenen Raum zurückgeworfen wurde. Als der Erdkreis- jedoch erschlossen, erobert, verteilt und ausgebeutet war, und als die zivilisatorische Vitalität damit auf ihre eigene Ursprungsebene beschränkt wurde, begannen allmählich die negativen Züge zu überwiegen, um am Ende gleich einer Lawine dämonischer Kräfte über die Menschen herzufallen und sie in ratlosen Schrecken zu versetzen. Beide Seiten des rational-triebhaften Prozesses, der die moderne Zivilisation unverlierbar ausmacht, gehören mithin psychologisch zusammen: der fortschreitenden Perfektion des zivilisatorischen Daseins auf der Grundlage höchstentwickelter Rationalität entspricht eine fortschreitende Destruktion oder Deformation des menschlichen Lebens auf der Grundlage einer Ent-

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bindung der Triebhaftigkeit. Anfangs verschwindet die letztere gewissermaßen in der Errichtung des Zivilisationswerkes, das ungeheure Energien freisetzt, aber auch verschlingt. Je mehr sich dieses "Werk jedoch seiner Vollendung nähert, desto mehr Triebhaftigkeit bleibt für negative Wirkungen gleichsam übrig, da die Zivilisation bloß noch in Gang gehalten zu werden braucht. Diese Situation drückt sich in dem rätselhaft wirkenden Auftreten immer größerer Kriege und Unterjochungen, immer schärferer sozialer Gegensätze und Spannungen, immer häufigerer politischer Unruhen und Kämpfe, immer härteren Elends und Unrechts, immer schlimmerer Greuel und Grausamkeiten, immer weiterer Ausbeutung und Versklavung, immer frecheren Betrugs und Diebstahls, immer verletzenderer Rücksichtslosigkeit und Unhöflichkeit — kurz, in einer nicht mehr abreißenden, langsam anschwellenden und von ständigen Eruptionen berstenden Folge ungehemmter Triebregungen individueller und kollektiver Art aus. Solch bestürzende Folgen des Heraustretens und Herausbrechens der menschlichen Vitalität aus den Bindungen der alten Lebensordnung, dessen Produkt doch gleichzeitig die faszinierende Erscheinung der Zivilisation war und ist, sind schließlich so tief und umfassend geworden, daß alle geschichtlichen Vergleiche vor ihnen verblassen. Und die befremdliche Blindheit des technischen Zeitalters für diese seine eigenste Natur, aus der auch die Ohnmacht gegenüber seinem Schicksal herrührt, findet eben allein darin ihre Erklärung, daß die entbundene Triebhaftigkeit rund hundert Jahre Zeit zur Verfügung hatte, um sich überallhin auszudehnen und ohne endgültigen Rückschlag auszuleben. Erst als die Welt in ihrer ganzen Weite in Besitz genommen und in ihrer ganzen Tiefe in Dienst gestellt, erst als die Mehrzahl der Menschen aus ihrer alten Lebensordnung vertrieben war, mußten die schon längst vorhandenen Krisen, die aus der Ubermächtigung der alten durch die neue Lebensordnung hervorgingen und das heißt aus der Vernichtung der natürlich-geschichtlichen Bindungen und Schranken des Menschen, in das nächste Stadium der dauernden Gefährdung umschlagen, in dem sich die Zivilisation jetzt befindet. Vergangenheit und Gegenwart beweisen also dasselbe: der immer krassere Gegensatz von Licht und Schatten, Sieg und Niederlage, Aufbau und Zerstörung im Gesamtbild der technischen Zivilisation ist nicht anders zu begreifen, als daß die einseitige Betonung und Ausbildung der Ratio und das auffällige Hervortreten und Freiwerden der Triebhaftigkeit psychologisch in geheimer Verbindung miteinander stehen. Dieser einfache Schluß,

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IV. Die konservative Theorie

der allem ideologischen Weltverständnis ins Gesicht schlägt, mutet zweifellos unsere gewohnte Vorstellung, wonach1 doch gerade umgekehrt der Verstand dem Trieb gebietet und Fesseln anlegt, fremd und widersinnig an. Auch wissen wir, streng genommen, nicht, ob die überkommene Annahme vom Wächteramt des Verstandes über den Trieb früher, als sie unter gänzlich anderen Umständen als heute entstand, von der damaligen Wirklichkeit tatsächlich bestätigt wurde. Vielleicht haben wir es hier mit einem dialektischen Vorgang in der Entwicklungspsychologie der Menschheit zu tun, in dessen langem ersten Abschnitt die Rationalität über eine Verfeinerung des Gefühls hinweg triebbindend und in dessen vergleichsweise kurzem letzten Abschnitt sie über eine Verflachung und Verkümmerung des Gefühls hinweg tr'uebentbindend wirkt. Aber wie dem immer sei: alles Geschehen in unserer gegenwärtigen Wirklichkeit zwingt uns zu der Einsicht, daß jene überkommene Annahme von der triebbindenden Funktion der Ratio jedenfalls heute nicht mehr zu Recht besteht. Denn längst werden alle dahingehenden Behauptungen durch die unter unzähligen Masken übermächtig gewordene Triebhaftigkeit des und der modernen Menschen Lügen gestraft — wobei Haß und Neid, Egoismus und Machtdrang auf der individuellen Ebene sowie Klassenkampf und Rassenkampf, Nationalismus und Imperialismus auf der kollektiven Ebene am gefährlichsten für die Menschheit sind. Anschauung und Erfahrung, Erlebnis und Erkenntnis zwingen uns dazu, jene im ideologischen Weltverständnis gründende Annahme vom Wächteramt der Rationalität über die Vitalität aufzugeben und aus den furchtbaren Niederlagen neben den glorreichen Siegen, aus dem alle Grenzen vertrauter Existenzsicherung überflutenden Strom von Nachteilen neben den zahlreichen Vorteilen der modernen Zivilisation einen gegenteiligen Sachverhalt herauszulesen und willig oder unwillig als Regel unserer Welt, unserer Zeit, unseres Lebens anzuerkennen. Und infolgedessen hat denn auch hier, in der zivilisationsbedingten Korrespondenz zwischen Ratio und Trieb, jedes Nachsinnen einzusetzen über Ordnung, Friede und Ruhe, über Sicherheit, Festigkeit und Geborgenheit, über Glück, Vertrauen und Liebe unter den Menschen, denen all dies so gut wie verlorengegangen ist. Setzt die Diskussion über die Problematik unserer Zeit nicht in der einen oder anderen Weise an diesem Grundsachverhalt der seelisch-geistigen Situation des modernen Menschen an und verschiebt sie diese Problematik gar, wie das gern geschieht, vom Menschen in die Dinge,

Stellung und Aufgabe der konservativen Theorien in der Gegenwart

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so bekommt man höchstens Symptome und nicht die Quelle des Unheils zu Gesicht, unter dem das gesamte Dasein des Einzelnen wie der Völker heute von Jahr zu Jahr mehr leidet. In solcher Korrespondenz von Ratio und Trieb liegen nun, wie jetzt ohne weiteres verständlich wird, auch die Übergriffe des Fortschritts beschlossen, gegen die sich der konservative Kampf um die Erhaltung des Bestehenden von Anbeginn an richtet. Es ist nicht der Fortschritt als solcher, der bei diesem Kampf als Widersacher aufgefaßt wird, sondern es sind erst seine Übergriffe auf die menschliche "Welt und letzten Endes auf den Menschen selber als natürlich-geschichtliche Individualität, denen in immer erneuten Reaktionen auf die ständig wechselnde Zeitlage die Abwehr gilt. Dabei kann es fortan nicht mehr zweifelhaft sein, worin und woraus diese Ubergriffe bestehen — nämlich in und aus der Verwässerung, Zersetzung oder Beseitigung der nach aller Erfahrung unentbehrlichen Bedingungen der menschlichen Existenz, die in den Sinnprinzipien des konservativen Gedankens und den Strukturelementen des konservativen Denkens umschrieben und ausgedrückt sind. Das heißt, ein Übergriff des Fortschritts ist für das konservative "Weltverständnis überall da gegeben, wo dem Menschen des technischen Zeitalters auf irgendeine Art seine Heimat, Grund und Boden, Eigentum, Familie, Sitte und Brauch, Tradition, Freiheit, Recht und Glauben geschmälert oder genommen werden. Und ein Übergriff findet überall dort statt, wo das menschliche Leben nicht mehr als natürliches Wadisen und geschichtliches Werden angesehen und gewertet wird, das seine lebendige Ordnung im Ausgleich und durch Vermittlung der Gegensätze gewinnt, ohne ihre Besonderheit zu vernichten. Denn wo das geschieht, da werden mit diesen existentiellen Voraussetzungen seines Daseins auch und gerade die Bindungen gelockert und gelöst, in denen der Mensch seinen Halt innerhalb der Wirklichkeit der Welt und Schutz vor sich und seinesgleichen erfährt. Da wird er vor allem der in diesen Bindungen enthaltenen Schranken und Fesseln seiner eigenen Triebhaftigkeit beraubt, ohne daß ein wirksamer Ersatz an deren Stelle träte, um ihm neue Geborgenheit statt der alten zu schenken, deren er verlustig geht. Da entsteht deshalb auch immer die Gefahr, daß die vom rationalen Denken und seinen Gegenbildern freigemachte Triebhaftigkeit sich nicht mehr nur an der Natur und den Dingen befriedigt, wie es im Gesamtgeschehen des modernen Zeitalters noch zu Anfang bei der Errichtung der Zivilisation weitgehend der Fall war, sondern daß sie auf den Menschen

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I V . Die konservative Theorie

selbst zurückschlägt, wie es dem Anschein nach im Reifezustand der Zivilisation der Fall zu sein droht. Egoismus und Machtdrang sowie Neid und Haß, die es schon immer gab, werden dann in ihren individuellen und kollektiven Formen allzu mächtig und überschwemmen ungehemmt, weil nicht mehr gebunden, das Dasein des Einzelnen wie der Völker mit ihrer elementaren Kraft, ohne daß ihnen der Verstand Einhalt gebieten kann. Denn die Mauern und Wälle, die Deiche und Dämme, die jene Kräfte früher immerhin in eine vergleichsweise fest umrissene und begrenzte Ordnung der Tradition und Konvention zwangen, sind ja ohne Ahnung und Wissen um deren unsichtbare Funktion im menschlichen Leben allmählich durch die Ratio abgetragen, eingeebnet, niedergerissen und zerstört worden. Die gesamte Geschichte des Konservatismus ist, wenn man in die Tiefe ihrer eigentlichen Antriebe blickt, von solcher Auffassung des Kampfes um das Bestehende bestimmt. Schon Mosers ganzes Werk läßt sie, betrachtet man es ohne ideologische Befangenheit, als Ausgang und Basis erkennen, obwohl die Grundbedingungen der menschlichen Existenz, deren Rettung das konservative Anliegen ist, damals noch in schwer zu trennender Weise mit der bestehenden Lebensform ineinanderflössen, ja vielfach direkt identisch mit ihr waren. Und selbst noch bei Stahl ist diese Auffassung, wenngleich gebrochen durch den Irrweg in den Pseudokonservatismus, mit hoher Deutlichkeit vorhanden. Das in den konservativen Schriften immer wieder auftauchende Wort von den Kräften oder Mächten der Tiefe will und muß daher auch vorwiegend in solch psychologischem Sinn und nicht etwa vorwiegend soziologisch verstanden werden, um der geschichtlichen Wahrheit seines Inhalts gerecht zu werden. Diese Wahrheit hat ursprünglich nichts sozial Diffamierendes an sich, sondern meint eben die triebentbindende Eigenschaft des einseitig rationalen Weltverständnisses — sie konnte nicht zuletzt deshalb so leicht mißverstanden werden, weil die realen Lebensbedingungen der damaligen Zeit noch vielfach' mit den existentiellen Grundbedingungen zusammenfielen. Und es ist lediglich der wesensgemäßen A b neigung des konservativen Denkens gegen alle theoretisch-systematische Begrifflichkeit sowie dem Schwergewicht der geistesgeschichtlichen Entwicklung überhaupt zuzuschreiben, wenn der Konservatismus dieser Auffassung keinen begrifflich scharfen Ausdruck verliehen hat. Er verwendete höchstens die Formel von den „Kräften der Tiefe", umschrieb sonst aber mit immer anderen Wendungen die gemeinte Sache vielmehr in der konkreten Ziel-

Stellung und Aufgabe der konservativen Theorien in der Gegenwart

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Setzung selber. Erst die immer stärkere Hereinnahme ideologischer Elemente in sein Denken hat dann später den Kampf um das Bestehende zunehmend rationalisiert und damit vielfach ganz materiell zu einem Ziel ständischer Interessen werden lassen, die von den übrigen Ideologien als egoistisch angeprangert werden konnten. Der Kampf um das Bestehende erstarrte mit anderen Worten erst im Pseudokonservatismus zum Zerrbild eines Stillstands der Dinge, der wiederum ein Bruch mit N a t u r und Geschichte war, weil mit ihm die lebendige Entwicklung aus den Augen schwand. Indem der Konservatismus eine Ideologie wurde, änderte sich folgerichtig auch der Inhalt dessen, was als Bestehendes Gegenstand und Ziel der Bestrebungen zum Bewahren-und Erhalten war: an die Stelle der in die fließende natürliche Entwicklung jeweils eingelagerten und hineinversenkten Grundbedingungen der menschlichen Existenz, denen die konservative Intention von Haus aus gilt, trat eine bestimmte historische Ordnung, die nur noch als solche verteidigt oder wiederhergestellt werden sollte. Die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts haben diesen Irrweg des Pseudokonservatismus ebenso beendet, wie sie dem Mangel an begrifflicher Schärfe, der die eigentliche Intention des konservativen Gedankens und Denkens gleichsam in der konkreten Zielsetzung verbarg, seine letzten Gründe entzogen haben. Denn einmal bewiesen sie als die großen Katastrophen der modernen Zivilisation mit unzweifelhafter Deutlichkeit, daß der heutzutage keinerlei Identität mehr zwischen den Grundbedingungen menschlichen Existenz und der herrschenden Lebensordnung besteht. Damit entfällt künftig die Gefahr eines Pseudokonservatismus im alten Sinne, der beide miteinander verwechselt und vertauscht. U n d es bleibt einzig die Gefahr jenes sozusagen instrumentalen Pseudokonservatismus übrig, von dem bereits die Rede war. Damit entfällt aber hinfort auch die Möglichkeit, daß der Konservatismus zur Klassenideologie entstellt wird. Die Gegenwartslage ist stattdessen so beschaffen, daß konservatives Weltverständnis überhaupt nicht mehr wesentlich sozial gebunden ist, sondern in Menschen aller Schichten erwacht. Wer nämlich die zivilisatorische Entwurzelung, Entseelung, Entpersönlichung und das heißt die moderne Bindungs- und Haltlosigkeit an sich selbst erlebt, ohne von der Triebhaftigkeit in seinem Kern völlig überwältigt zu werden, der kommt in der Abwehr dieses Schicksals auf die eine oder andere Weise zu konservativem Denken und Handeln, um sich in seinem Menschsein zu erhalten. Wie zwangsläufig dieser innere

352

IV. Die konservative Theorie

Prozeß wird, das, bestätigen die Ideologien heute mit ihren Regenerationsversuchen, in denen konservative Motive den eigentlichen Angelpunkt zur neuen Form der Lebensvorstellung und Daseinsbewältigung bilden. Zum andern jedoch haben die Kriege des 20. Jahrhunderts der konservativen Theorie erstmals die Möglichkeit eröffnet, ohne die Gefahr solcher Verwechslung zwischen Vordergrund und Hintergrund weit klarer und entschiedener als bisher ihr eigentümliches Anliegen zu erfassen. Damit ist der Weg frei, auf dem die Theorie ihre endgültige Form gewinnen kann. Denn bis zu diesen beiden Katastrophen, in denen das rational-triebhafte Wesen der Ideologien und des ideologischen Denkens seinen unleugbaren Bankrott vor aller Welt erlebt hat, war das Schicksal des modernen Menschen in der Zivilisation noch wie unter einem Schleier verborgen, den der Glanz der Technik und der Schimmer des Fortschrittsoptimismus gewoben haben. Jetzt aber und zumal mit dem zweiten Weltkrieg, der die Krankheit der Zivilisation noch viel mehr bloßlegte als der erste, ist dieser trügerische Schleier unerbittlich zerrissen. Und hinter dem schimmernden Glanz des zivilisatorischen Fortschritts tritt das Drama des modernen Menschenschicksals in seinen wahren Linien hervor: als die Vernichtung eben der existentiellen Grundbedingungen des menschlichen Daseins durch die dauernde Verschärfung eines geheimen Wechselspiels zwischen Ratio und Trieb. Die Folgen dieses Vorgangs hinter und über allem Vordergrundsgeschehen sind in den beiden großen Katastrophen wie auf einen Schlag so gewichtig geworden, daß sie als solche nicht mehr übersehen oder geleugnet werden können. Vielmehr sind sie überall mit Händen zu greifen und sprechen eine vernehmliche Sprache zur Rechtfertigung der konservativen Einstellung. Sie bestätigen aber auch mit ihrer grausamen Härte ganz unmittelbar die begrifflich schärfere Fassung der konservativen Intention, die nun angesichts solcher Tatsachen vor sich selbst nicht mehr das Odium der Spekulation zu fürdhten braucht. Denn jetzt ist keine Spekulation mehr nötig, um das Drama des modernen Menschen in seiner grundsätzlichen Problematik zu erkennen und zu benennen, sondern lediglich eine nüchterne Uberwindung des ideologischen Standpunkts, der seinerseits auch nach den beiden großen Katastrophen die Erkenntnis jenes Vorgangs immer wieder zu verhindern neigt. Das heißt, die früher nur erst bildlich zu erfassende Drohung der Triebfreisetzung durch den rationalen Fortschritt ist mittlerweile so sichtbar und greifbar geworden, daß auch das konservative Denken keine Scheu mehr davor empfindet, jene Kräfte und Mächte der Tiefe begrifflich scharf

Stellung und Aufgabe der konservativen Theorien in der Gegenwart

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bei Namen zu nennen, die die wirklichen Zerstörer der menschlichen Ordnung waren und sind. Und deshalb ist alle Begrifflichkeit, mit der das Drama des Menschen in der Gegenwart heute von der konservativen Theorie dargestellt werden muß, wenn seine wahre Natur erfaßt und verstanden sein soll, nur noch reines Hilfsmittel, das dem konservativen Wesen nichts anzuhaben vermag. In Anbetracht dieser geänderten Umstände kann und muß die konservative Theorie, wie nunmehr einleuchtet, bei aller Dauer ihrer grundlegenden Intention ein anderes Aussehen haben als früher. Da die Grundbedingungen der menschlichen Existenz, die nach wie vor ihr Ziel bleiben, heute nicht mehr mit der bestehenden Lebensordnung übereinstimmen und Vordergrund und Hintergrund der Daseinsordnung sich also nicht mehr decken, sondern da vielmehr die herrschende Lebensordnung, weil wesentlich zivilisatorisch bestimmt, den Grundbedingungen offen zuwiderläuft und Vordergrund und Hintergrund also unverkennbar auseinandergetreten sind — aus diesen Gründen darf der Hauptakzent der konservativen Theorie auch nicht mehr auf dem Kampf um Bewahrung und Erhaltung des Bestehenden, sondern er muß auf dem Ringen um eine Wiederbeschaffung des Verlorenen liegen. Denn tatsächlich sind die eigentlichen Voraussetzungen, unter denen der Mensch seinem natürlich-geschichtlichen Wesen gemäß leben soll, bis auf geringe Reste in den Ubergriffen des Fortschritts verlorengegangen. Jeder Vergleich der gegenwärtigen Wirklichkeit unseres Daseins mit den Prinzipien des konservativen Gedankens und den Elementen des konservativen Denkens, die jene Voraussetzungen bezeichnen, beweist das ohne weiteres. Infolgedessen heißt denn auch die primäre Aufgabe der konservativen Theorie, die früher Bewahrung und Erhaltung der Grundbedingungen innerhalb und mit der bestehenden Lebensordnung hieß, fortan: Wiederherstellung der dem menschlichen Wesen entsprechenden Voraussetzungen des Daseins im Kampf gegen die naturwidrige Künstlichkeit der herrschenden Lebensordnung, gegen die in ihr Gestalt gewordenen Übergriffe des rationalen Fortschritts, gegen die schädlichen Wirkungen und Einflüsse der technischen Zivilisation. Und die Tendenz zum Bewahren und Erhalten, die allem konservativen Weltverständnis unverlierbar innewohnt, fügt sich erst sekundär in diese größere Aufgabe eines Kampfes gegen die Zivilisationsschäden ein, die der ideologische Fortschritt seinem konservativen Gegenpol als eine neue Antwort auf die Zeitlage abfordert und aufzwingt. 23

Mühlenfeld Politik

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IV. Die konservative Theorie

Denn diese Tendenz findet ihr Objekt nur noch in jenen geringen Resten, die das Bestehende im alten Sinne verkörpern und deshalb lediglich V o r bilder oder Modelle zur Lösung der größeren Aufgabe darstellen, aus deren Anblick K r a f t und Zuversicht für den rechten W e g geschöpft zu werden vermag. Die solcherart gegebene neue Rangfolge der konservativen Aufgaben innerhalb der erneuerten und mithin zeitgemäß gewandelten Theorie ist daher keine Vergewaltigung ihrer ursprünglichen Intention, sondern nur das Ergebnis

ihrer

Anpassung

an den

Fluß

der lebendigen

Entwicklung,

bloß die konkrete A n t w o r t des konservativen Menschen an die jetzt vorgefundene Lage. Schon zwischen Moser und Müller fand eine ähnliche Wendung

statt, als der dynastische vor dem naturrechtlichen Rationalismus

an Bedeutung zurücktrat und der konservative Gedanke seinen größeren Gegenpol in diesem neuen T r ä g e r ideologischer Weltsicht erkannte. Nichts anderes geschieht im Grunde mit der hier vorgenommenen Neubegründung der Theorie und ihrer der Zeitlage entsprechend gewandelten Orientierung: der W e n d u n g vom K a m p f gegen den bürokratischen Absolutismus zum K a m p f gegen das revolutionäre Naturrecht folgt mit lebendiger Logik die Wendung v o m K a m p f um das Bestehende zum K a m p f um das Verlorene, während das Ziel — der natürlich-geschichtlich lebende Mensdi — in beiden Fällen dasselbe bleibt. Diese Neubegründung der konservativen Theorie zeigt indes fraglos einen doppelten

Aspekt.

Sie ist einerseits leichter und andererseits schwerer

zu bewerkstelligen als frühere Versuche zur Theoriebildung. Denn zum einen liegt heute, auf der H ö h e des technischen Zeitalters, jene Entwicklung in relativer Vollendung v o r uns, die früher immer nur stückweise erfahren und in ihrem weiteren Verlauf als Ganzes höchstens geahnt werden konnte. Die früher in der Zivilisation angelegten Motive und v o r allem ihre Antriebe

inneren

sind inzwischen zur Reife gekommen. U n d dadurch ist eine ganz

andere Klarheit des Uberblicks und Durchblicks möglich geworden, als sie einst bestanden hat, w o ihre positiven Züge so oft zu überwiegen schienen, weil die entbundenen Triebkräfte sich noch nicht so furchtbar gegen den Menschen selbst gekehrt hatten. Z u m andern aber ist das Bestehende im Sinne der konservativen Intention bis auf geringe Reste beseitigt, so d a ß jeder K a m p f gegen die herrschende Lebensordnung Gefahr läuft, in eine A r t von

Gegenbild-Situation

werden.

abzugleiten

und

damit sich selbst untreu

zu

Stellung und Aufgabe der konservativen Theorien in der Gegenwart

355

Doch kann diese Gefahr den Wunsch nicht ernstlich beirren, dem heute aus guten Gründen mehr denn je notwendigen konservativen Weltverständnis eine Form zu verleihen, die der gegenwärtigen Wirklichkeit gerecht wird. Denn konservativ fühlende und denkende Menschen sind nach wie vor da und zeugen auch dann, wenn sie ihrem Fühlen und Denken nur unvollkommen Ausdruck zu geben vermögen, lebendig für den Sinn der konservativen Intention, die ihnen als eine innere Richtschnur des Verhaltens und Erlebens ebenso vom Schöpfer aufgegeben worden ist wie ihren Gegenspielern die Versuchung der ideologischen Absichten. Ja, das Erlebnis der modernen Zivilisation läßt sogar, je mehr die Zeit vorwärtsschreitet, den Kreis der konservativ fühlenden und denkenden Menschen oft ohne Wissen der Beteiligten immer größer werden, wie nicht nur die Vorgänge im Lager der Ideologien selbst bestätigen, sondern auch die allgemeine Abkehr von jeder ideologisch bestimmten Politik überhaupt, die die Reaktion der Zeitgenossen auf die Ohnmacht aller bisherigen Politik widerspiegelt. Von hier aus gesehen, gehört denn auch alle Bemühung, die einer Abwehr der schädlichen Einflüsse der technischen Zivilisation auf den und die Menschen und einer Überwindung der Zivilisationskrise überhaupt gewidmet ist, dem Prinzip nach ohne Zweifel in den Bereich des konservativen Grundanliegens — Rettung des Menschen vor seiner Beeinträchtigung oder Vernichtung als natürlich-geschichtliches Wesen — mit hinein. Allerorten wird heute nicht nur über die schädliche Einseitigkeit des rationalen Denkens ebenso geklagt wie über die verderbliche Herrschaft, die die Triebregungen des Menschen erlangt haben, sondern es wird auch der Versuch unternommen, dementsprechend zu handeln. Hiermit wird aber in Wahrheit nichts anderes getan als der erste Schritt zur Anerkennung der alten konservativen Formel von den gefährlichen Mächten der Tiefe, die die moderne Politik immer wieder zu entfesseln droht. Doch darin liegt auch eine Bestätigung der — wie wir jetzt sagen dürfen — neuen konservativen Formel von der Korrespondenz zwischen Ratio und Trieb. Es ist deshalb nicht die letzte der Aufgaben der konservativen Theorie, von diesem ersten Schritt zu dem zweiten zu führen und der Zeit gewissermaßen die Augen über die enge Verbindung zwischen der Einseitigkeit ihres rationalen Denkens und der unheilvollen Triebherrschaft in der Menschenbrust selbst zu öffnen. Liegt doch in diesem Sachverhalt, der sich mit unbestreitbarer Folgerichtigkeit nachgerade überallhin auswirkt, offenbar der Schlüssel für das rechte Verständnis der Krisen und Katastrophen unserer Gegenwart verborgen. 23*

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IV. Die konservative Theorie

Die moderne Zivilisation nämlich — und mit dieser Feststellung schließt sich der Kreis von Argumenten zur Neubegründung der konservativen Theorie — schafft als ein durch und durch rationales Gebilde keine neuen, Halt und Schutz gebenden Bindungen für den Menschen, nachdem sie die alten zerstört oder entleert hat. Denn was der einseitigen Ausbildung der Rationalität im Menschen selber sowie in seiner technischen Umwelt und der Entbindung der Triebhaftigkeit im individuellen wie im kollektiven Bereich immer mehr zum Opfer fällt, das ist insgesamt die Gefühlssphäre des Menschen und der ganze große Reichtum an objektiven Formen, in denen das menschliche Gefühl Gestalt angenommen hat. Mit ihrer zunehmenden Verkümmerung und Verdrängung geht der Mensch innerlich und äußerlich nicht nur der eigentlichen Lebendigkeit seines Daseins verlustig, sondern auch aller Halt und Schutz gewährenden, weil seine Persönlichkeit festigenden Bindungen, um schließlich1 nur noch Ratio und Trieb in ihren zahlreichen Erscheinungsformen ausgeliefert zu sein, die keinerlei echte Bindung abzugeben vermögen, wie die Katastrophen der Gegenwart endgültig gelehrt haben. Daß dem so ist, dafür liefert insbesondere all das, was man als die modernen Zivilisationsschäden geistig-seelischer Art bezeichnen kann, unwiderlegliche Beweise in Hülle und Fülle. Und es sind gerade die großen Manifestationen des menschlichen Gefühls wie etwa der religiöse Glaube, Autorität oder Liebe, deren Schicksal im technischen, Zeitalter die verhängnisvolle Rolle der Korrespondenz von Ratio und Trieb mit höchster Deutlichkeit erkennen läßt, weil in ihnen individuelle und kollektive Belange miteinander verwoben sind. Der Prozeß der Säkularisierung des religiösen Glaubens, dessen Produkt die modernen Ideologien als weltliche Heilslehren darstellen, besteht im Kern aus der fortschreitenden Verunmöglichung derjenigen Gefühlserlebnisse im Menschen, die nach alter Erfahrung psychologisch die Grundlage einer Beziehung zur Transzendenz und das heißt einer Bindung an Gott bilden. Die Vorherrschaft der Ratio zersetzt und verflacht wie jedes Gefühl so auch das religiöse und wirft den Menschen in den unlösbaren Konflikt zwischen Wissen und Glauben — unlösbar deswegen, weil die Gefühlssphäre nicht mehr stark genug ist, um den Menschen trotz aller Zweifel dennoch seinem Empfinden vertrauen und mit schlichter Gewißheit glauben zu lassen. Ganz ähnlich ist das neuere Schicksal der Autorität. Je rationaler das menschliche Leben in der Zivilisation wurde, desto hoffnungsloser wurde

Stellung und Aufgabe der konservativen Theorien in der Gegenwart

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das Erlebnis der Autorität verunmöglicht, weil Autorität im Geben wie im Nehmen ausschließlich im lebendigen Gefühl wurzelt. Die ganze Flut abstrakter Gesetze, mit denen der Mensch des technischen Zeitalters immer wieder versucht, Autorität zu schaffen oder doch ihre früheren Formen lebendiger -Bindung zu ersetzen, vermögen nicht jene innere und äußere Ordnung zu erhalten oder wiederherzustellen, die einst so weitgehend Sicherheit und Geborgenheit gewährte. Der moderne Mensch erträgt, weil er vorwiegend rational-triebhaft geworden ist, keine konkrete Autorität mehr, die von einer gefühlsmäßigen und nicht nur sachlichen oder gewalthaften Beziehung der Menschen untereinander getragen ist. Doch er findet in der abstrakten Autorität von Gesetzen, Kontrakten und Organisationen, zu der ihn das rationale Denken drängt und zwingt, weder Ruhe noch Festigkeit. Und wiederum ähnliches spielt sich in der Geschlechter- und Menschenliebe ab. Auch dort ist das Gefühl zugunsten von Ratio und Trieb verdrängt und entthront, um zunehmend Zweckhaftigkeit und Leidenschaft übrigzulassen. Sie prägen, trotz aller verbalen Beschwörung einstiger Liebesbeziehung zum Du und zum Wir, unverkennbar das wahre Gesicht des menschlichen Verhältnisses zum anderen Geschlecht wie zu den anderen Menschen überhaupt immer mehr und berauben den Einzelnen wie die Gruppe mit der echten Bindung an Du und Wir auch ihrer größten Glücks- und Kraftspender. Diese Natur der geistig-seelischen Zivilisationsschäden — deren weitere Kennzeichnung im Rahmen der konservativen Theorie überflüssig ist, weil sie sich aus der gesamten Untersuchung ohnehin mühelos ergibt — läßt somit erkennen, daß der Konservatismus seit seinem Auftreten mit gutem Recht um den1 Bestand der natürlich-geschichtlichen Grundlage der menschlichen Welt kämpft. Denn in den Formen und Werten dieser Grundlage ist die Ratio noch nicht übermächtig geworden wie in den Formen und Werten der Zivilisation. Durch sie werden die Triebregungen des Menschen auch nicht unheilvoll freigesetzt und entfesselt wie im technisch bestimmten Dasein der Gegenwart. In ihnen überwiegt, wo sie wirksam geblieben sind, noch das Gefühl vor Ratio und Trieb und hält den Menschen mit seiner Welt in der Geborgenheit echter Ordnung. Und gerade die Analyse der geistig-seelischen Zivilisationsschäden, die ein Ergebnis der neuesten Psychologie ist, liefert denn auch ohne jede politische Absicht eine dem Zeitgeist speziell zusagende, weil seiner Neigung zum wissenschaftlichen Weltbegreifen entsprechende Bestätigung und Recht-

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IV. Die konservative Theorie

fertigung der konservativen Intention. Die Pioniere der heutigen Medizin, die aus dem Gesetz der kulturellen Entwicklung heraus und ohne Verbindung mit der konservativen Theorie seit Jahren immer mehr zu Entdeckern und Hütern alter Weisheit werden, stellen mit der Forderung nach einem sinngemäßen "Weiterleben des Vergangenen im Gegenwärtigen, und das heißt mit dem Ideal einer natürlich-geschichtlichen Kontinuität des Lebens, ungewollt dem konservativen Weltverständnis äußerst zeitgemäße Argumente zur Verfügung. Denn was meint dieses Ideal der Kontinuität, in der der einzelne Mensch als Schöpfer und Träger auch der kollektiven Gebilde leben soll und muß, um die Grundbedingungen seines Wesens zu erfüllen, anders als die Vermeidung eines künstlichen Bruches mit N a t u r und Geschichte in seinem eigensten Bereich? Was bedeutet dies Ideal anders als eine Mahnung, nicht selbstherrlich und willkürlich aus der lebendigen Entwicklung herauszutreten? Was ist es deshalb anders als der Ruf zur Absage an rationale Gegenbilder vom Menschen wie seiner Z u k u n f t und zum Festhalten an den Bindungen natürlich-geschichtlicher H e r k u n f t ? Die Menschen haben, so stellt die wissenschaftliche Seelenkunde heute jenseits allen ideologischen Denkens in einer bezeichnenden Hinwendung zur geschichtlichen Besonderheit des Einzelfalles und obendrein auf Grund lange überprüfter praktischer Erfahrungen fest, eine seelische Instanz in sich, die in aller Natürlichkeit historische Kontinuität fühlt und verlangt. Gewisse seelische Erkrankungen in der Zivilisation entstehen beispielsweise überhaupt erst dadurch, daß die religiösen Ansprüche des menschlichen Innern nicht mehr wahrgenommen werden können, weil Rationalität und Bewußtsein dies in ihrer hohen Einseitigkeit verhindern. Dabei handelt es sich gar nicht um Dogmen und Glaubensbekenntnisse, sondern um die religiöse Einstellung schlechthin, die als seelische Funktion von unabsehbarer Bedeutung unerläßlich der historischen Kontinuität bedarf — und das heißt, es handelt sich um eine jener existentiellen Grundbedingungen, die den Inhalt des konservativen Gedankens bilden. Fassen wir abschließend den Ertrag unseres drittenUnter suchungsscbrittes, der aus dem Versuch zur Neubegründung der konservativen Theorie notwendig mit dem Bezug auf die gegenwärtige Situation erwächst, kurz zusammen, so ergibt sich folgendes: Ziel der konservativen Intention ist nach wie vor die natürlich-geschichtliche Individualität des Menschen. Aber das in diesem Sinne erfolgende politische Streben kann sich nicht mehr in erster Linie auf Erhaltung und

Stellung und Aufgabe der konservativen Theorien in der Gegenwart

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Bewahrung des Bestehenden vor den Übergriffen des rationalen Fortschritts und, als dessen politische Ausdrucksformen, der modernen Ideologien richten. Sondern es muß entsprechend der gegenüber früher veränderten Zeitlage in erster Linie auf die Grundbedingungen der menschlichen Existenz gerichtet sein, die als natürlich-geschichtliche Bindungen des Einzelnen wie der Völker bis auf geringe Reste verlorengegangen sind. Neben und vor den Kampf um das Bestehende, wie er einst das konservative Verhalten bestimmte, tritt damit der Kampf um das Verlorene. Und die Grundbedingungen der menschlichen Existenz, die in Wahrheit dies Verlorene ausmachen, bilden deshalb den Inhalt der „neuen" Grundrechte unserer Zeit, die nach dem Bankrott des ideologischen Denkens unaufhaltsam an die Stelle der „alten", bisher von den Ideologien verkündeten und praktizierten Grundrechte rücken, weil deren Herrschaft sich nach Ausweis der tatsächlichen Erfahrung schließlich weithin selber widerlegt hat. Dieser Kampf um die verlorenen echten Grundrechte des Menschen, die den Inhalt des konservativen Gedankens darstellen, vermag indessen nur mit Aussicht auf Erfolg geführt zu werden, wenn die geistig-seelischen Zivilisationsschäden der Gegenwart in ihrem ganzen Umfang und Tiefgang klar erkannt und mit entschlossener Gegenwehr überall dort angegangen werden, wo sie als Übergriffe des Fortschritts wirken. Zu solcher Erkenntnis ist die Einsicht in den inneren Sachverhalt erforderlich1, den die frühere konservative Formel von den Kräften der Tiefe meint und die heutige konservative Formel von der Korrespondenz zwischen Ratio und Trieb begrifflich schärfer ausdrückt. Und zu solcher Gegenwehr ist, soll sie sich nicht in den Fehlern und Fallstricken des ideologischen Denkens verlieren und damit selbst entkräften, die Verwendung der Methode des Ausgleichs und der Vermittlung erforderlich, die das konservative Denken seit je vorschreibt. Denn nur indem das Besondere vor dem Allgemeinen anerkannt wird, wird auch die wahre Lebendigkeit und echte Ordnung des menschlichen Daseins gewahrt. Konservatives Denken dient schon an sich, seinem ganzen Wesen zufolge, als Gegengewicht gegen die Einseitigkeit des rationalen Fortschritts und der Ideologien. Doch es muß mit seinen Intentionen auch für sich durch Ausgleich und Vermittlung wirken, um ein Gleichgewicht zwischen Vergangenheit und Gegenwart herbeizuführen, das allein feste Fundamente für die Zukunft zu schaffen geeignet ist.

V. KONSERVATIVE T H E O R I E U N D PRAXIS Gleicht die konservative Theorie, nachdem sie von ihren historischen Schlacken gereinigt ist, weder im Inhalt noch in der Form der politischen Theorie der modernen Ideologien, so muß auch die konservative Praxis ein anderes Gesicht haben. Bereits das Verhältnis zwischen Theorie und Praxis, das für alle Politik unter neuzeitlichen Bedingungen entscheidend wird, ist hier nicht dasselbe wie dort. Dort bleibt die Praxis, eben weil sie ideologisch bestimmt ist, bloß Anwendung der abstrakten Theorie auf die konkrete Wirklichkeit, die mit einem systematischen Begriffsnetz an einem künstlichen Gegenbild gemessen und dementsprechend verändert wird. Hier aber gibt es kein künstliches, fernes Gegenbild zur natürlichen "Wirklichkeit, sondern die Theorie wird gerade aus dem nahen Erlebnis des Konkreten in seiner Besonderheit durch Anschauung und Erfahrung gewonnen und steht dadurch in einem unmittelbaren Verhältnis ständiger Wechselwirkung und Ergänzung zur Praxis. Die Theorie dient hier nur der Vergewisserung und Festigung der Praxis statt der Neufindung und Wegweisung. Das Denken erhebt sich in ihr nidit über die Realität des Lebens, indem es sich diesem vorordnet. Sondern es ist Funktion des Lebens als fließender Entwicklung, der es sich einordnet, weil Erkennen und Handeln in diesem Weltverständnis dauernd ineinanderübergehen und nidit von der Realität abgehoben sind. Konservative Praxis wird nämlich — und das macht ihren grundlegenden Unterschied zu aller ideologischen Praxis aus — noch wesentlich vom Gefühl her bestimmt, das Wissen und Tun in einer unaufhörlichen Verbindung zusammenfaßt, und nicht schon von Ratio und Trieb in ihrer einseitigen Hervorkehrung, wie sie die geistig-seelische Verfassung des modernen Mensdien kennzeichnet. Das Handeln konservativer Orientierung erfolgt mit anderen Worten nidit aus rein zweckrationaler Bewußtheit oder in der Abhängigkeit von der zivilisatorischen Triebfreisetzung, was immer eine tiefe Spannung zur Welt und einen offenen oder verborgenen Bruch mit der Natur bedingt.

D a s besondere Verhältnis zwischen T h e o r i e und P r a x i s

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Vielmehr kommt es aus dem Empfinden eines selbstverständlichen Einklangs mit der Welt, das ohne Bruch mit der Natur lebt. Das aber bedeutet: Konservative Praxis ist über allen Traditionalismus hinaus auch ohne Theorie möglich, weil sie im Gefühl wurzelt, während ideologische Praxis ohne Theorie unmöglich ist, weil sie als Verwirklichung rationaler Gegenbilder nur durch1 deren Vorhandensein überhaupt entstehen kann. Daher ist die konservative Theorie von sich aus immer nachträgliche Rechtfertigung eines auch ohne sie stattfindenden Handelns und Verhaltens, während die ideologische Theorie immer erst die ihr gemäße Praxis hervorbringt. Ideologische Politik bedarf mithin von vornherein der Theorie, um als Praxis überhaupt in Erscheinung treten zu können. Konservative Politik dagegen kann als solche betrieben werden, ohne daß ihre Absichten in einer regelrechten Theorie bewußt gemacht zu werden brauchen. Denn sie ist nicht Ausfluß künstlicher, rationaler, normativer Neusetzung des Lebensbildes, sondern einfach Pflege und Schutz der natürlich-geschichtlichen Entwicklung in der Welt. Daher wird auch alle Theorie vom Standpunkt konservativer Politik aus, die sich ihres Zieles in und an der Praxis gewiß wird und von dorther ihre K r a f t holt — was bei den Ideologien niemals der Fall ist, die sich im Gegenteil immer in und an der Theorie ihres Zieles vergewissern und von dorther ihre K r a f t holen, mit gutem Grund so oft voller Mißtrauen oder gar Geringschätzung angesehen. Mit gutem Grund — denn hier wittert das Gefühl aus richtigem Instinkt heraus das ihm Fremde und Feindliche, hier ahnt es die Drohung des Ubergriffs der Ratio in einer möglichen Umkehrung des ihm angemessenen Verhältnisses zwischen Theorie und Praxis, hier fürchtet es den unzulässigen Herrschaftsanspruch des Abstrakten über das Konkrete, des Allgemeinen über das Besondere, der Utopie über die Geschichte, des Sollens über das Sein, dessen Verteidigung eben die konservative Aufgabe ist. Aber wie schon für die Theorie als solche, sö hat auch hinsichtlich ihres Verhältnisses zur Praxis mittlerweile die Vollendung der technischen Zivilisation und der in ihr beschlossene Sieg des ideologischen Denkens, die beide ein beispielloses Fiasko der menschlichen Beziehung zu sich selbst herbeigeführt haben, eine Lage geschaffen, die gegenüber früher völlig anders ist. Diese andere Lage verleiht dem Verhältnis zwischen konservativer Theorie und Praxis, ohne seine grundsätzliche Beschaffenheit zu berühren, einen neuen Akzent, der künftighin für alle konservative Politik von kaum zu

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V. Konservative Theorie und Praxis

unterschätzender Wichtigkeit zu werden verspricht. Der Irrweg des Pseudokonservatismus hat nämlich gezeigt, daß der Einfluß der triebentbindenden Rationalität unserer Zivilisation auch konservative Menschen ergreifen kann, ohne daß sie sich dessen recht bewußt werden. Und daraus folgt: Konservative Praxis vermag in Anbetracht der ungeheuren Verwirrung, der der moderne Mensch inmitten aller Pracht seiner zivilisatorischen Umwelt anheimgefallen ist, für sich allein heute nicht mehr stets und ohne weiteres den geraden Weg ihrer ursprünglichen Intention einzuhalten. Sie bedarf in solchem Falle, um nicht von diesem Wege abzuirren, gleichsam über den Magnet in der eigenen Brust hinaus fortan auch noch eines Kompasses, der sie immer wieder auf die rechte Richtung hinweist und festlegt. Infolgedessen empfängt die Theorie in diesem Stadium der Entwicklung des konservativen Gedankens ihren bedeutsamen Akzent als Richtschnur des praktischen Verhaltens im Sinne eines ständigen Mittels zur Besinnung auf das, was das Ziel in der Gegenwart sein muß und darf. Das meint: Je mehr Druck und Zwang der Korrespondenz zwischen Ratio und Trieb zunehmen, desto mehr wird der konservativen Theorie die Rolle einer Korrektur für die Praxis zugewiesen. Desto mehr erhält sie die Funktion eines Maßstabs, an dem man ablesen kann, ob die konservative Praxis nicht unversehens unter den Einfluß jener Korrespondenz gerät und sich damit unwissentlich selbst verrät. Nur unter diesem Vorbehalt ist es zu verstehen, wenn sich die konservative Praxis in strenger Folgerichtigkeit aus der im dritten Untersuchungsschritt dargelegten Theorie ergibt. Konservative Praxis ist insgesamt nichts anderes als das zum Ganzen einer lebendigen und das heißt natürlich-geschichtlichen Daseinsordnung hinstrebende Miteinander und Ineinander von lauter Versuchen, die Grundprinzipien des 'konservativen Gedankens gegen eine ganz oder teilweise ideologisch bestimmte Daseinsordnung zu verwirklichen — ob mit oder ohne Kenntnis der konservativen Theorie. Und die Methode, nach der diese Praxis verfährt, kann dann allein durch die Strukturelemente des konservativen Denkens bestimmt sein. Bloß insofern konservative Politik diese Grundprinzipien soweit wie irgend möglich in die Tat umzusetzen strebt, besitzt sie ein „Programm", und bloß insofern sie das mit Hilfe dieser Strukturelemente tut, besitzt sie ein „Verfahren", die mit Programm und Methode der Ideologien verglichen werden können. Die bisherige Untersuchung hat zur Genüge gezeigt, warum man höchstens in übertragenem Sinne von einem konservativen Programm und einer

Das besondere Verhältnis zwischen Theorie und Praxis

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konservativen Methode sprechen darf. Denn hier wird kein Zukunftsgemälde unter dem Zeichen der Perfektionsidee aufgerichtet und kein künstlich-zeitloses Gegenbild wider die natürlich-geschichtliche Entwicklung gestellt. Hier wird auch nicht um eines unermüdlichen Fortschritts willen ein Bruch mit der organisch gewachsenen Natur und der lebendig gewordenen Geschichte vorgenommen. Sondern hier ist Natur und Geschichte gleichsam selbst Programm, und hier ist die Entwicklung als Wachsen und Werden gleichsam selber Methode. Dieses Programm und diese Methode, die sich nicht wie die ideologischen Programme und Methoden der Natur, der Geschichte und ihrer Entwicklung gewissermaßen gegenüberstellen, verlangen zu ihrer Erfassung und Aneignung denn auch mit Notwendigkeit weniger Ratio und Trieb als vielmehr unverfälschtes, starkes und tiefes Gefühl, das einzig aus dem Erlebnis des Einklangs mit Natur, Geschichte und Entwicklung fließt. Darin liegt einmal die Klippe jeder konservativen Parteibildung auf dem Felde der Politik begründet. Denn alle konservative Parteiung ist, sofern sie echt bleibt, wesentlich Gefühls- und Erlebnisgemeinschaft, nicht aber in erster Linie rational-triebhafte Interessengemeinschaft in der Art, wie sie von den ideologischen Parteien der Politik gebildet wird. Das, was konservative Mensdien aneinander bindet, ist primär das gleiche Gefühl für die Wirklichkeit in ihrer lebendigen Entwicklung als Natur und Geschichte, und sind erst sekundär bestimmte gemeinsame Interessen, die dann bewußt oder unbewußt nur dem Ausdruck und der Darstellung dieses Gefühls dienen. Und hieraus erwächst naturgemäß die Schwierigkeit, sie in der politischen Interessengemeinschaft einer Partei zu vereinigen. Darin liegt zum andern das Mißverständnis begründet, dem konservative Politik immer wieder bei den Ideologien begegnet und von der ideologischen Position her auch begegnen muß. Wo nämlich ausschließlich ideologisch gedacht und gehandelt wird, da regieren maßgebend Ratio und Trieb das Verhalten der Menschen und verhindern eine andere Sicht auf das Leben. Infolgedessen bleibt auf dieser Ebene das vorwiegend im Gefühl beruhende Weltverständnis auch stets unbegreiflich und muß daher verkannt werden. Die Ideologien, die alle Politik rationalisiert und das heißt in eine rein zweckhafte Veranstaltung verwandelt haben, können im konservativen Verhalten mithin bloß Interessenpolitik sehen, die sich unter mehr oder weniger poetisch klingenden Formeln versteckt und doch letztlich aus nacktem Egoismus lediglich materielle Ziele verfolgt. Sie können nicht verstehen,

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V. Konservative Theorie und Praxis

daß es außerhalb der eigenen ideologischen Position und als ihr im Spiel des Ganzen vorbestimmtes Gegengewicht noch eine ganz andere Position des Weltbegreifens gibt, für die auch ganz andere Gesetze gelten, obwohl dort mit derselben Realität umgegangen wird wie bei ihnen. Und darin liegt zum dritten das von außen her immer wieder seltsam anmutende und trotz vieler Anläufe stets von neuem vergebliche Tasten und Suchen der konservativen Politik nach einem Programm begründet, mit dem man im Zeitalter der Masse die von den Ideologien irregeführten Menschen zu beeindrucken und zu erfassen imstande wäre. Der Wunsch nach einem derartigen Programm, das die Ratio mit schlagender Begrifflichkeit und im selben Atem auch den Trieb mit erregenden Zielen anspricht, vermag nämlich nur aus dem Nichtwissen um die theoretischen Voraussetzungen der konservativen Position heraus zu entstehen. Ein Programm im üblichen Sinne kann hier immer bloß gesucht, aber tatsächlich niemals gefunden werden. Denn solch Programm, das inhaltlich und formal nach der Art ideologischer Programme gebildet wäre, könnte das konservative Grundanliegen gar nicht wiedergeben, weil es demselben in seiner rational-triebhaften Beschaffenheit widerspräche. Daher kommt es, daß alles Tasten und Suchen konservativer Politik nach einem handlichen und wirksamen Programm, mit dem sie ihren politischen Widersachern in gleidher Münze zu zahlen vermöchte, von vornherein zur Erfolglosigkeit verurteilt ist — andernfalls würde diese Politik gegen ihre eigenen Absichten und Ziele zu Felde ziehen. Muß der politische Konservatismus auf ein Programm im Verstände der Ideologien aus dem Wesen seiner Sache heraus verzichten, so hat er dennoch Mittel und Wege genug, um seine Absichten und Ziele in der Praxis darzustellen und zu vertreten, durchzuführen und zu verwirklichen. Entwickelt man, unter voller Beachtung des oben erwähnten Vorbehalts über das hier herrschende Verhältnis zwischen Theorie und Praxis, aus den Grundprinzipien und Strukturelementen der konservativen Theorie die Folgerungen für die konservative Praxis, so erhält man eine politische Handlung!- und Verfahrenslehre, die sich trotz ihrer Andersartigkeit sehr wohl mit den ideologischen Programmen und Methoden messen kann und dieselben obendrein an Tiefe und Weite des Sinnes noch übertrifft, sobald man sie nur in die Problematik der modernen Zivilisation hineinstellt. Denn die Prinzipien des konservativen Gedankens drücken ja eben diejenigen Grundbedingungen der menschlichen Existenz aus, die in der Zivilisation immer

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mehr verlorengegangen sind, und die Strukturelemente des konservativen Denkens zeigen denjenigen Weg an, auf dem der Mensch nach Ausweis langer geschichtlicher Erfahrung diese Grundbedingungen zu erfüllen vermag. Es erklärt sich also aus dem konservativen Grundanliegen, dessen Gegenstand der Mensch als natürlich-geschichtliche Individualität ist, wenn es kein konservatives Idealbild des Staates, der Gesellschaft und der Wirtschaft gibt. Denn ein solches Idealbild würde in seiner zeitlosen Künstlichkeit gleichsam Natur und Geschichte beiseiteschieben und damit gerade das verneinen, worauf es dem konservativen Weltverständnis prinzipiell ankommt: das Besondere in seiner Lebendigkeit, von Zeit und Raum bestimmt. Wie Natur und Geschichte bewiesen haben, sind ja durchaus verschiedene Formen des staatlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens möglich, in denen trotz ihrer Verschiedenheit dennoch die existentiellen Bedingungen des menschlichen Daseins weitgehend gewahrt bleiben können. Deshalb ist vom konservativen Standpunkt aus auch kein Idealbild von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft denkbar, das als allgemeine Norm jenseits von Zeit und Raum anzusehen wäre. Die Handlungslehre der konservativen Praxis beruht infolgedessen nicht auf einem bestimmt gezeichneten Bild der Staats-, Gesellschafts- und Wirtschaftsform. Vielmehr tritt diese Praxis sowohl aus Instinkt als aus Uberlegung allein mit der durch Anschauung und Erfahrung gewonnenen Vorstellung von den Grundprinzipien an die Aufgaben einer politischen Ordnung des Lebens heran, um überall in der gegebenen Wirklichkeit das zu schützen oder wieder zu wecken, was den Inhalt dieser Prinzipien ausmacht. Das heißt, es ist ihr Ziel, in der jeweils bestehenden Form des Staates, der Gesellschaft und der Wirtschaft die Grundbedingungen der menschlichen Existenz als eine Art von archetypischen Funktionsvoraussetzungen gesunder Gemeinschaft überhaupt zu wahren oder aufs neue in ihre alten Rechte einzusetzen. Und demgemäß richtet sich ihr J a oder Nein zu den mannigfachen Erscheinungsformen des hier und jetzt vorhandenen staatlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens nach dem Maß, in dem sie sich mit diesem Ziel vertragen oder nicht. Wenn die konservative Praxis keine Vorschriften von einem ideologischen Zukunftsbild empfängt, aus dem sich ein rationales Programm ableiten läßt, so erwächst ihr dodi jederzeit aus der erlebten Vorstellung der Grundbedingungen, die zugleich Grundprinzipien ihrer Theorie sind, eine Fülle von

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V. Konservative Theorie und Praxis

Weisungen für das realpolitische Verhalten in den konkreten Situationen, auf die im Tagesgeschehen geantwortet werden muß. Diese Fülle von Weisungen kommt dadurch zustande, daß jede einzelne ihrer Grundvorstellungen, mit denen sie den lebendigen Vorgang der Politik begreift und erfaßt, in sämtliche Sphären des politischen Lebens hineinwirkt. Denn jedes konservative Prinzip bezeichnet einen Teil dessen, was zum Leben des Menschen als natürlich-geschichtliche Individualität nötig ist, und kann als solches nicht für sich genommen werden, da es das Ganze mitkonstituiert. So will beispielsweise die Vorstellung von der Heimat, die dem in der Zivilisation mit unabsehbaren äußeren und inneren Folgen heimatlos gewordenen oder werdenden Menschen erhalten bleiben oder wieder beschafft werden soll, nicht bloß im staatlichen oder gesellschaftlichen oder wirtschaftlichen Leben, sondern in allen drei Sphären zugleich beachtet oder verwirklicht sein, um ihren vollen Sinn zu erfüllen. Und daraus folgt dann alsbald eine Reihe von politischen Forderungen, Regeln und Maßnahmen, die zwar äußerlich für ganz verschiedene Gebiete gelten, aber innerlich in Wahrheit untrennbar zusammengehören. Genau dasselbe ist bei den übrigen Grundvorstellungen der Fall. In der konkreten Verfassung des politischen Lebens, wie sie hier und jetzt besteht, ergibt sich deshalb für das Ziel, dem Menschen jeweils seine Heimat, Grund und Boden, Eigentum, Familie, Sitte und Brauch, Tradition, Freiheit, Recht und Glauben zu erhalten oder wiederzuverschaffen, aus jedem einzelnen dieser Grundrechte eine ebensolche Reihe von Forderungen, Regeln und Maßnahmen der Praxis, die alle an der Konstituierung des menschlichen Lebens als Ganzes beteiligt sind. Und diese Formen der Praxis greifen notwendig ebenfalls in die verschiedenen Sphären der Politik hinein. Mit anderen Worten: Jedes konservative Prinzip entläßt gewissermaßen aus sich eine Reihe von Weisungen, mit deren Hilfe es praktisch zur Verwirklichung kommt. Aber diese Weisungen sind nicht in abstrakter Programmatik zu fassen und ein für allemal niederzulegen, sondern sie werden nur im und am konkreten Fall wirklich sichtbar und faßbar — am konkreten Fall, dessen Entscheidungen durch die ständig wechselnde Lage bestimmt werden. Auf solche Weise entsteht zwar, indem alle jene Einzelhandlungen in der konservativen Praxis schließlich zu einer Gesamtheit des politischen Tuns zusammenfließen, kein dem Fortschritt verpflichtetes Zukunftsprogramm im Sinne der Ideologien. Stattdessen aber entsteht ein äußerst reichhaltiges „Programm des nächsten Schritts", das um so reicher sein muß, je größer

Die konservative Staats-, Gesellschafts- und Wirtschaftsauffassung

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und weiter die Übergriffe des Fortschritts auf die verschiedenen Bereiche des Lebens werden und das heißt, je einseitiger die politische Ordnung tatsächlich nach rationalen Zielen auf lange Sicht geformt wird. Es ist also kein abstraktes, sondern ein konkretes „Programm", das nicht als forderndes Gegenbild der Wirklichkeit gegenübertritt, sondern gewissermaßen aus ihr herauswächst, während und indem sie bewältigt wird. Praxis und Theorie durchdringen sich hier: indem in der konkreten Situation gehandelt wird, offenbart sich erst das jeweilige Prinzip im praktischen Ziel, das die existentiellen Grundrechte des Menschen als natürlich-geschichtliche Individualität zeigen und weisen. Denn die Theorie ist ja nicht Gesetz, das in der Praxis ausgeführt wird, sondern sie resultiert aus dem Erlebnis der Praxis, die der Theorie erst zu ihrem Bewußtsein verhilft, stets Programm ad hoc zu sein, das das Leben selber vorschreibt. In diesem Sachverhalt liegt, wie wir wissen, die sachliche Kraft der konservativen gegenüber aller ideologischen Praxis. Aber darin liegt auch die Schwierigkeit, ja Unmöglichkeit beschlossen, ein konservatives „Programm des nächsten Schritts" in systematischer Darstellung so zu formulieren, daß es über den Augenblick und seine Aufgaben hier und jetzt hinaus als allgemeine Norm gelten könnte. Weil jedes der Grundprinzipien in sämtliche politische Sphären hineingreift, um dort zu einer Auseinandersetzung mit den Maßnahmen der ideologischen Praxis zu führen, ist jedesmal die Erörterung des betreffenden Einzelfalles und der jeweiligen Lage erforderlich, wenn seine Verwirklichung vollzogen werden soll. Da unsere Untersuchung nicht Werkzeug für eine spezielle politische Lage oder Parteiung sein will, sondern der systematisch-historischen Klärung der Grundfragen konservativer Politik gewidmet ist, kann hier aus der angedeuteten Einsicht in die Bestimmungen der konservativen Praxis mithin von der Theorie her auch kein „Programm des nächsten Schritts" entwickelt werden — dazu bedarf es der konkreten Namen, Einrichtungen und Orte selber, in denen die politischen Zustände eines Staates oder Landes zu einer bestimmten Zeit und in einem gegebenen Raum Gestalt annehmen. Was deshalb im Zusammenhang unserer Fragestellung geschehen kann, ist nur die kurze Darstellung derjenigen Staats-, Gesellschafts- und Wirtschaftsauffassung, mit der heute die konservative Praxis stattfinden muß, um sich selbst und das heißt der sich in ihr offenbarenden Theorie treu zu bleiben. Weil es im Gegensatz zu den Programmen der Ideologien kein rational ausgearbeitetes konservatives Programm von zeitloser Gültigkeit

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V. Konservative Theorie und Praxis

gibt, das nicht ideologisch werden würde, wird es sich bei der Darstellung dieser konservativen Staats-, Gesellschafts- und Wirtsctaaftsauffassung denn auch lediglich um die Kennzeichnung der grundlegenden Problematik in jeder der drei politischen Sphären und damit um die Angabe der Richtung handeln, in der alle Verwirklichung der Grundbedingungen, Grundprinzipien und Grundrechte des menschlichen Daseins in der Zeitlage erfolgen muß. Die Einzelheiten einer Lösung dieser Problematik hingegen bleiben Gegenstand jenes „Programms des nächsten Schritts", das bloß in engster Fühlung mit Zeit und Ort aufgestellt zu werden vermag. Die konservative Auffassung vom staatlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben kann grundsätzlich nicht von einem überall und immer verbindlichen Ideal über dessen rationale Regelung und formale Einrichtung erfüllt sein, sondern nur von bestimmten Ansichten über die Stellung des Menschen in solchen Regelungen und Einrichtungen, die ihrerseits erst insofern eine sekundäre Bedeutung erhalten, als sie die erforderliche Stellung ermöglichen oder verhindern. Der Nachdruck der konservativen Staats-, Gesellschafts- und Wirtschaftsauffassung liegt somit weniger auf bestimmten Gesetzen und Verfassungen als vielmehr auf der Stellung des Menschen in seiner Beziehung zur Umwelt und Mitwelt. Wo der Mensch natürlich-geschichtliche Individualität zu sein vermag und das heißt, wo die existentiellen Ansprüche und Bedürfnisse seines Wesens befriedigt werden, da sind Staat, Gesellschaft und Wirtschaft gesund. Wo das nicht der Fall ist, da herrschen nach konservativer Auffassung ungesunde Zustände, die wie eine Krankheit zu betrachten und zu behandeln sind, indem man die Grundprinzipien des konservativen Gedankens als Ziel und die Strukturelemente des konservativen Denkens als Verfahren der Heilung verwendet, um Natur und Geschichte ihr bestrittenes oder verletztes Redit wiederzugeben. Bei dieser Heilung, die mithin eine Abkehr von aller ideologischen Programmatik und Methodik verlangt, kommt es vor allem darauf an, daß der natürlich-geschichtliche Mensch im Mittelpunkt aller Bemühungen bleibt und nicht auf Kosten ideologischer Vorstellungen verdrängt wird, wie das heute in der Regel geschieht. Das heißt: Wenn Staat, Gesellschaft und Wirtschaft, wie die Vergangenheit gezeigt hat, ihr Wesen in der rechten Wahrung der menschlichen Existenzbedingungen haben, dann können sie in Wahrheit nicht eines Tages Gebilde sein, die sozusagen ohne den Menschen bestehen oder sich von ihm freimachen. Da sie zu jeder Zeit und an jedem

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Ort an den Mensdien als ihren Schöpfer und Träger gebunden sind, sind sie folglich auch nicht Mächte, Gewalten oder Kräfte eigener Herkunft, sondern bilden nur die größten objektiven Ausdrucksformen für die jeweilige Verfassung, in der sich der Mensch innerlich befindet. Den Staat, die Gesellschaft oder die Wirtschaft als Urheber der Zivilisationskrisen und auch der Gegenwartsnöte anzuklagen, ist deshalb durchaus irreführend und ruft allzuleicht die Annahme hervor, daß der Kampf um die Gesundung der heutigen Welt sich wesentlich gegen selbständige Gebilde eigener Art richten müsse, während doch diese Gebilde tatsächlich nur Produkte des modernen Menschen sind, die seiner geistig-seelischen Entwicklung entsprechen, indem sie dieselbe widerspiegeln. Den modernen Staat, die moderne Gesellschaft oder die moderne Wirtschaft heute als anonymen Moloch anzusehen, der den Menschen verschlingt — diese ideologische Gepflogenheit verrätselt nur ganz formal das wahre Geschehen im Alltag und verschleiert die reale T a t sache, daß der Mensch immer und überall Schöpfer und Träger des Staates, der Gesellschaft und der Wirtschaft in ihrer zeitbedingten Form ist und bleibt. Daher drückt sich auch in ihnen nichts anderes aus als eben dieser Mensch: er hat das geschaffen, was dem rationalen Denken als Moloch erscheint, er trägt, ob individuell oder kollektiv, diesen Moloch und erfüllt ihn mit Leben, das sich gewissermaßen selbst verschlingt. Und darum sieht die konservative Auffassung, weil sie die Wirklichkeit nicht aus der Gegenbild-Situation heraus betrachtet, hinter Staat, Gesellschaft und Wirtschaft stets den Menschen, der sich selber zum Feind wurde, weil er der Rationalität verfallen ist und damit die „Mächte der Tiefe" in der eigenen Brust heraufgeholt hat. Alle konservative Praxis des Kampfes gegen das, was die Ideologien als Moloch ansprechen und was doch von ihrem politischen Gegenpol her nur als geistig-seelische Zivilisationsschäden begriffen werden kann, führt demnach auf den Menschen selbst zurück und nicht etwa auf Dinge oder Sachen — nur unter diesem Vorbehalt darf überhaupt von echt konservativer Staats-, Gesellschafts- und Wirtschaftsauffassung die Rede sein. Sie kreist auch heute einzig um das zivilisatorische Problem, das die alte Formel von den Kräften der Tiefe meinte und die neue Formel von der Korrespondenz zwischen Ratio und Trieb bloß mit einem zeitgemäß schärferen Ausdruck bezeichnet. Denn die Krisis des Staates, der Gesellschaft und der Wirtschaft bleibt allemal eine Krisis des Menschen in seiner inneren Verfassung. Anonym ist in Wahrheit bloß der Mensch geworden, der an der Hand der modernen Ideologien aus Natur 24.

Mühlenfeld, Politik

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V. Konservative Theorie und Praxis

und Geschichte herausgetreten ist und mit seinem Gefühl auch die Besonderheit seines Wesens aufgegeben hat — und sie allein vermag ihn einst wie jetzt vor dem Untergang im Chaos der Triebhaftigkeit zu bewahren. In solchem Sinne ist der Staat der Gegenwart, wie unzählige Beispiele beweisen, unter der Herrschaft der Ideologien zu einem der bedeutendsten, weil wirksamsten Vehikel derjenigen zivilisatorischen Tendenzen geworden, mit denen sich der Mensch aus seiner natürlich-geschichtlichen Existenz selbst vertreibt. Mit der Hilfe der modernen Technik vollzieht sich diese Vertreibung vor allen Dingen im bürokratischen Apparat von riesigen Ausmaßen, im ungeheuren Mechanismus der Zentralisation, der mit geradezu unheimlicher K r a f t überall hindringt, um Normierung und Niveilierung durchzusetzen. Denn dieser moderne Staat läßt ja alles Besondere immer rettungsloser in Allgemeinem untergehen und ebnet dadurch Zwang und Gewalt, Unfreiheit und Ungeborgenheit immer mehr die "Wege. Der moderne Planstaat ist, baut man keine gegenläufigen Elemente in sein zentralistisch-bürokratisches Gefüge ein, ebenso wie früher sein Vorläufer, der Staat des alten Absolutismus, hinter allem rationalen Schaltwerk notwendig stets ein Staat entbundener Triebhaftigkeit, weil seine Planung mit der Zeit alle Schranken und Bindungen des Triebes vernichtet. Und Bürokratie wie Zentralismus sind es denn auch, gegen deren offene und verdeckte Formen aller Art sich die konservative Praxis jetzt wie einst durch unmittelbare Abwehr oder durch den Aufbau von geeigneten Gegengewichten zur Sicherung der Gefühlssphäre und zur Wahrung der menschlichen Besonderheit in einem Rechtsstaat wenden muß. Im Vergleich zu ihren Anfängen im 18. Jahrhundert sieht sich dabei diese Praxis aber heute, im 20. Jahrhundert, in einer Lage von viel größerer, ja verzweifelter Schwierigkeit. Denn tatsächlich reichen die zivilisatorischen Tendenzen der Bürokratisierung und Zentralisierung, die letztlich miteinander identisch sind, in der vollkommen technisch werdenden Daseinswelt des modernen Menschen weit über das eigentlich staatliche Gebiet hinaus und werden in ungleich höherem Grade als je zuvor von der Verfassung gestützt und verstärkt, in der sich Gesellschaft und Wirtschaft nach der Zerstörung ihrer alten Form befinden. Die Gesellschaft der Gegenwart ist nämlich, als soziale Gesamtheit der Bevölkerung verstanden, in breitesten Teilen längst bis an die Grenzen einer wahren Atomisierung entgliedert — der entscheidende gesellschaftliche Prozeß auf dem Höhepunkt des technischen Zeitalters wird daher mit Recht

Die konservative Staats-, Gesellschafts- und Wirtschaftsauffassung

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als Vermassung bezeichnet. In ihrem Zeichen verliert der Mensch als soziales Wesen endgültig seine natürliche und geschichtliche Besonderheit, um der zeitlos-abstrakten Allgemeinheit riesiger Interessenblöcke anheimzufallen, in der er sich schließlich selbst aufgibt, weil er gleichsam nichts Eigenes mehr ist, sondern nur noch Teilchen einer Summe. Wie die konservative Praxis im Bereich des Staates der Bürokratisierung und Zentralisierung wehren muß, so muß sie deshalb im gesellschaftlichen Bereich die nivellierende Vermassung abwehren und durch entsprechende Gegengewichte einer sozialen Gliederung ausgleichen, die der menschlichen Besonderheit dient. Und wie dort beim Staate, so weisen auch hier bei der Gesellschaft die Grundprinzipien des konservativen Gedankens, deren Inhalte zugleich die Grundbedingungen und die Grundrechte des modernen Menschen an der Schwelle der Zukunft darstellen, ohne die Möglichkeit irgendwelcher Zweifel darauf hin, welcher Art die Maßnahmen solcher Praxis im einzelnen sein müssen. Die Wirtschaft der Gegenwart schließlich, die sich im Verlauf der modernen Entwicklung über Staat und Gesellschaft hinaus immer mehr zum Herrn des menschlichen Lebens aufgeschwungen hat, ist tatsächlich die Vollenderin des großen zivilisatorischen Vorgangs geworden, in dem das Besondere vom Allgemeinen erdrückt, erstickt und vernichtet zu werden droht. Deshalb wird es heute zur dringendsten Aufgabe der konservativen Praxis, nach Möglichkeit die verderbliche Vorherrschaft der Wirtschaft zu brechen und die menschlichen Belange in ihrem Kreise wieder mehr zur Geltung zu bringen, indem sie die Arbeit des Menschen aus ihrem Charakter als Ware und damit den Einzelnen aus seiner ökonomischen Knechtschaft erlöst. Die Stichworte für diesen größten Kampf, den das technische Zeitalter der konservativen Politik aufnötigt, sind im wirtschaftlichen Gebiet keine anderen als im staatlichen oder gesellschaftlichen, aber sie erlangen hier eine noch höhere Bedeutung. Denn die gewaltigsten Impulse zur rationalen Zentralisation, in der der Mensch als ein Wesen der Besonderheit am Ende zugrundegehen muß, bringt fraglos die Wirtschaft als Technik, Industrie, Handel und Verkehr hervor, während Staat und Gesellschaft ihre einst führende Rolle an sie abgegeben haben. Das heißt: die mächtigste Ausdrucksform der geistig-seelischen Verfassung, in die der Mensch durch seine Denkweise der triebentbindenden Rationalität geraten ist, stellt ohne Zweifel die moderne Wirtschaft in ihrem materiellen Sein und in ihrer organisatorischen Form dar. Und daher muß auch sie der wichtigste Ort eines Kampfes gegen die Schäden solcher Denkweise sein. Das Ziel dieses Kampfes besteht 24a Mühlenfeld, Politik

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V. Konservative Theorie und Praxis

dann vor allem darin, dem Menschen möglichst viel wirtschaftsfreie Sphären zu verschaffen, in denen er ohne den bewußten oder unbewußten Sog der ökonomischen Zweckhaftigkeit als Wesen individueller Besonderheit in freier Partnerschaft mit den anderen Menschen zu leben vermag. "Will man die konservative Staats-, Gesellschafts- und Wirtschaftsauffassung demnach auf eine knappe Formel bringen, so kann man sagen: der Mensch ist nicht um des Staates, der Gesellschaft und der Wirtschaft willen da, sondern IStaat, Gesellschaft und Wirtschaft sind in ihrer Allgemeinheit um des Menschen in seiner Besonderheit -willen da. Nur wenn sie in solchem Sinne wirken, befindet sich die menschliche Welt in der rechten Ordnung. Und das große Anliegen der konservativen Praxis besteht darin, den Menschen in dieser Besonderheit auf allen drei Gebieten seiner Politik zu schützen oder wieder zu befestigen. Dabei ist die Neigung des technischen Zeitalters zum Allgemeinen so umfassend und tiefreichend, daß jeder konservative Kampf für die Belange des Besonderen keine Gefahr läuft, die Belange des Allgemeinen über Gebühr einzuschränken. Dafür sorgen nicht nur die Ideologien, die trotz ihres Bankrotts immer noch weiter herrschen, sondern dafür sorgt auch schon das Vorhandensein der Technik als menschliche Umwelt, die ja in Wahrheit Gestalt gewordene Rationalität und Form gewordene Zentralisation ist, was nichts anderes heißt als wirkende Allgemeinheit, die der Besonderheit feind ist. Wogegen sich das konservative Streben richtet, das sind zudem immer bloß die Ubergriffe des rationalen Fortschritts auf die Welt des Menschen, nicht aber der Fortschritt selber in der Welt der Sachen. Und die konservative Politik zielt deshalb in Theorie und Praxis auch nicht auf die Beseitigung dieses Fortschritts, soweit er sich als Entwicklung in Staat, Gesellschaft und Wirtschaft auswirkt, sondern bloß auf die Einhaltung seiner Grenzen gegenüber dem Menschen. Diese Grenzen des Fortschritts, um deren Berichtigung es sonach für die Gegenwart geht, sind nicht in einem abstrakten Generalschema nach Art der Ideologien festzulegen. Aus diesem Umstand stammt einmal, wie wir wissen, die naturgegebene Schwäche jeder konservativen Politik hinsichtlich ihrer Werbe- und Überzeugungskraft im trügerischen Raum des sogenannten gesunden Menschenverstandes, der allzuoft bloß Vordergründe und Oberflächen kennt. Zum andern aber liegt in diesem Umstand, wie schon angedeutet, gleichzeitig auch die unversiegliche Lebendigkeit des konservativen Gedankens beschlossen. Sie folgt mit Selbstverständlichkeit aus dem dauernden Abwehrkampf gegen die Tendenz der technischen Zivilisation

Die konservative Staats-, Gesellschafts- und Wirtschaftsauffassung

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und ihres einseitig rationalen Denkens zum Übergriff, weil solch Kampf immer wieder von neuem ganz konkrete Entscheidungen fordert — und zwar jenseits aller begrifflichen Erstarrung, wie sie den politischen Programmen der Ideologien jederzeit als Gefahr des bewußten oder unbewußten Dogmatismus und Doktrinarismus droht. Ihre eigentliche Note empfängt diese Lebendigkeit der konservativen Praxis, die ja nicht bloß Handlung ist, sondern auch Verfahren sein muß, in der Wirklichkeit des Tagesgeschehens dabei aus der Methode, mit der allein das konservative Anliegen in die T a t umgesetzt werden kann. Denn es sind Ausgleich und Vermittlung zwischen Altem und Neuem, zwischen Vergangenheit und Gegenwart, die erst ein wirklich lebendiges, weil lebensgerechtes Verhalten zur natürlich-geschichtlichen Entwicklung ermöglichen. Nicht die starre Unbedingtheit künstlicher Setzungen, die alle ideologische Praxis bedingt und trotz mancher Kompromisse letztlich zur Unversöhnlichkeit zwingt, stellt den Menschen als gewachsene und gewordene Individualität mitten in die Entwicklung des Lebens und der Welt hinein, sondern nur die durch Erfahrung gewonnene Anerkennung der vielfältigen Bedingtheit des Lebens und der Welt — eine Anerkennung, die gerade der konservativen Praxis aus der Achtung und Beachtung der Grundbedingungen menschlicher Existenz erwächst. Diese prinzipielle Anerkennung der Bedingtheit des Lebens mit seinen zahllosen Besonderheiten, in denen der Mensch sein Wesen hat und findet, verlangt für das Handeln in der Praxis deshalb notwendig das versöhnliche Verfahren des Ausgleichs und der Vermittlung. Anders kann sich weder der konservative Gedanke noch das konservative Denken treu bleiben und selbst verwirklichen, ohne in Ideologie abzugleiten: die Wahrung der Grundbedingungen erfordert eine Pflege des Besonderen, und das Besondere wieder erfordert Ausgleich und Vermittlung, um erhalten zu werden. Und darum sind auch die Grenzen des Fortschritts nicht im vorhinein mit unbedingter Gültigkeit zu bestimmen, sondern müssen in der jeweiligen konkreten Situation immer wieder neu gesteckt werden. Ein Generalschema dafür aufzustellen, das hieße das Besondere dem Allgemeinen zu unterwerfen und damit seine individuelle Lebendigkeit zu vernichten, in der doch das Geheimnis der Existenz beschlossen ist. Denn nicht dem Fortschritt überhaupt gilt die echt konservative Abwehr, sondern lediglich seinen Übergriffen auf die menschliche Welt. Es besteht mithin im Verhältnis zwischen konservativer Theorie und 24a*

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V . Konservative Theorie und Praxis

Praxis ein tiefer Einklang von Ziel und Verfahren. W i l l man diesen Einklang in den letzten Bestimmungen, die hier walten, erfassen und ausdrücken, so darf abschließend folgendes gesagt werden: Mehr als die existentiellen Bedingungen seines "Wesens z u wahren, ist dem Menschen nicht beschieden. Alles, was über das Streben nach einer Erfüllung dieser A u f g a b e hinausgeht, ist im Rahmen der konservativen Beziehung zur Schöpfung nichts anderes als Hybris, mit der sich' der Mensch gegen und über Gott erhebt. Die beiden Jahrhunderte, in denen die Ideologien solcher H y b r i s dadurch zur Geltung verhalfen, daß sie in Staat, Gesellschaft und Wirtschaft selbstherrlich entworfene Gegenbilder zu N a t u r und Geschichte zu realisieren versuchten, haben denn auch mit einem unermeßlichen Bankrott geendet, der offenbar eine Katastrophe des menschlichen Wesens selber darstellt. Im Zeichen dieser ideologischen H y b r i s , die das individuelle und kollektive Schicksal nicht mehr als göttliche Fügung a u f f a ß t und hinnimmt, sondern es selber planen, lenken und machen will, hat der Mensdi z w a r imposante Staaten errichtet, aber darüber seine Heimat und das heißt seinen festen O r t im Dasein verloren. Er hat z w a r ein engmaschiges Netz von sozialen Gesetzen und politischen Verfassungen geschaffen, in denen sich das ideologische Bild von der besten Gesellschaft triumphierend spiegelt. Aber er ist darüber unfähig zur mitmenschlichen Liebe geworden und hat das Erlebnis echter Gemeinschaft mit dem D u und dem W i r um so mehr eingebüßt, je mehr rationale Regeln er zu dessen Garantie ersann. Er hat z w a r ein Riesengefüge der Wirtschaft aufgebaut, das die ganze Erde umspannt. A b e r diese Wirtschaft dient nicht mehr ihm, sondern dies Verhältnis scheint sich ins Gegenteil verkehrt zu haben, indes sich Not und Leid, Hunger und Elend in überraschender Häufigkeit nicht verringern, sondern ausbreiten. M i t anderen W o r t e n : der Mensch hat selber wie nie z u v o r Schicksal gespielt und ist trotz aller äußeren Erfolge immer schmerzlicher an diesem größten Abenteuer der bisherigen Menschheitsgeschichte innerlich zerbrochen. O b im staatlichen, gesellschaftlichen oder wirtschaftlichen Bereich — dem Menschen wurde der Geist des rationalen „Machens" seines Schicksals, den die Ideologien als politische Lehre vertreten, zum Verhängnis. Denn mit diesem Geist, der im Prinzip keine göttliche Schickung mehr anerkennen w i l l und ertragen kann, setzte sich1 der Mensch, geblendet von seinen rationalen und vitalen Fähigkeiten, an die Stelle Gottes: er machte selbst den

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Plan des menschlichen Schicksals, der doch Gott vorbehalten ist. Nach Ausweis aller Erfahrung, und vor allem nach dem Zeugnis der Krisen und Katastrophen der technischen Zivilisation auf ihrem Gipfelpunkt, hat Gott den Menschen mit bestimmten Grundbedingungen geschaffen, die sein Wesen begründen und begrenzen — und diese Grenzen seines Wesens straflos zu überschreiten oder zu verändern, bleibt dem Menschen genau so für alle Zeit verwehrt wie ein Wandel seiner äußeren, leiblichen Form. Deshalb sind die ideologischen Menschenbilder eben als künstliche Entwürfe gegen die Voraussetzungen natürlich-geschichtlichen Lebens, mögen sie motiviert sein wie immer, ohne Zweifel das größte Sakrileg gegen den Sinn der göttlichen Schöpfung, dessen sich die modernen Menschen schuldig gemadit haben. Indem die Ideologien mit ihren künstlichen Gegenbildern von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft grundsätzlich die natürliche und geschichtliche Wirklichkeit in Frage stellten, weil sie ihnen als unzulänglich erschien, stellten sie nämlich in letzter Konsequenz wissentlich oder unwissentlich auch Gott selber als den Schöpfer des Welt- und Lebensplanes in Frage. Die Katastrophe des menschlichen Wesens, die sich in unübersehbarer Verzweigung vor den Augen der Gegenwart abspielt, ist denn auch nur als die Antwort auf dieses Sakrileg der ideologischen Hybris zu begreifen. Und sämtliche Versuche, der Verantwortung dafür unter Verkennung oder Verleugnung ihrer Gründe mit einer noch stärkeren Betonung und Ausbildung ideologischer Ziele und Verfahren zu entgehen, müssen unweigerlich das Sakrileg vertiefen und damit das Unheil verschärfen. Alle Ideologie kommt nicht um die Urtatsache einer Unveränderlichkeit der Grundbedingungen menschlicher Existenz herum, auch wenn sie gegen deren natürlich-geschichtliche Darstellung jeweils noch so leidenschaftlich mit idealen Staats-, Gesellschafts- und Wirtschaftslehren rebelliert. Das Ergebnis solcher Rebellion, die tatsächlich und für je ein Aufstand gegen Gottes Wahrheit ist, kann letzten Endes immer bloß neue Vergewaltigung des Menschen als gewachsene und gewordene Persönlichkeit und neue Verfälschung seines zeitlich-räumlichen Schicksals sein. Denn der göttliche Plan hat mit der Schaffung des Menschen auch die Grundlinien des menschlichen Wesens ein für allemal festgelegt und erlaubt keine Wandlung von Umwelt und Mitwelt, die nicht mit ihnen übereinstimmt. Die Erfahrung von zweihundert Jahren beweist selbst dem hartnäckigsten Zweifel, der nicht aus Ubermut oder Bosheit, Blindheit oder Torheit stammt: niemand vermag dem Menschen sein Schicksal, das nach unerforsdi-

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V. Konservative Theorie und Praxis

lichem Ratschluß hier Glück und dort Unglück, heute Freude und morgen Leid bringt, abzunehmen — auch nicht die Ideologien mit ihren utopischen Idealbildern des Staates, der Gesellschaft und der Wirtschaft, die dem Menschen die vermessene Möglichkeit eines Heraustretens aus seinen vorgegebenen Grundbedingungen vorgaukeln und ihn damit doch nur immer hoffnungsloser sich selbst entfremden, weil sie ihn über die Voraussetzungen der natürlich-geschichtlichen Ordnung seines Lebens in der Welt täuschen. Denn was die selbstherrlich ersonnenen Pläne des rationalen „Machens" der Lebensordnung auf der einen Seite als offenen Fortschritt der Zivilisation schenken, das nehmen sie auf der anderen Seite durch die verborgene Entfesselung der Trieb weit, die eine Entmenschlichung des Menschen bis zur Gefahr der Selbstvernichtung heraufbeschwört. Diese Gefahr der Selbstvernichtung inmitten allen rationalen Fortschritts ist die Strafe Gottes für die Ersetzung seines Schöpfungsplanes durch die ideologischen Pläne der Menschen. Die konservative Theorie weiß und die konservative Praxis empfindet den fundamentalen Anlaß für jene Antwort, die sich in den Krisen und Katastrophen der modernen Zivilisation ausspridit und nichts anderes ist als ein Gericht über den Menschen — ein Gericht, dessen Strenge alle historischen Beispiele übertrifft. Wer dieser Theorie folgt und in dieser Praxis steht, der gehorcht darum bewußt solchem Wissen oder unbewußt solchem Empfinden, wenn er das Ziel der Grundbedingungen und das Verfahren des Ausgleichs gegen die ideologischen Staats-, Gesellschafts- und Wirtschaftsbilder und ihre Methoden der Unbedingtheit stellt. In der Überzeugung solchen Wissens und in der Sicherheit solchen Empfindens kümmert es ihn nicht, ob man das konservative Anliegen in tragischem Irrtum über seine unveräußerliche und mit dem zivilisatorischen Fortschritt immer noch zunehmende Aktualität altmodisch nennt oder eines Mangels an Großzügigkeit und Kühnheit bezichtigt. Denn seine angebliche Kurzsichtigkeit ist in diesem Verstände, das heißt von den Krisen und Katastrophen der Zivilisation her gesehen, sein eigentlichster Weitblick, und seine vermeintliche Schwäche ist gerade seine wirkliche Stärke. Konservativ zu sein und in Theorie wie Praxis konservative Politik zu treiben, sagt mit einem Wort: auf die Welt als Schöpfung hin zu denken und zu handeln, in Ziel und Verfahren letztlich religiös bestimmt zu sein, als oberste Instanz einzig und allein Gott anzusehen und anzuerkennen. Die konservative Theorie führt also, konsequent zu Ende gedacht, mit Not-

Die religiöse Fundierung konservativen Denkens und Handelns

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wendigkeit zur religiösen Fundierung. Und ebenfalls mündet die konservative Praxis auch dann, wenn sie nicht auf dem Wege des Denkens zu ihrer Theorie vordringt, aus der Tiefe des ungebrochenen Gefühls heraus in die religiöse Sanktion ihres Tuns und empfängt von dorther immer wieder K r a f t und Mut, Geduld und Beharrlichkeit. Das "Welt- und Lebensbild, dessen sie als Erfahrung der Wirklichkeit im Handeln inne wird, wurzelt ohne Umwege im Glauben an das jeweils eigene Recht und den jeweils besonderen Sinn aller Werke in der Schöpfung, deren ewigen Ansprüchen sich der Mensdh beugen und anvertrauen muß, wenn er nicht an sich selbst zugrundegehen will.

VI. SCHLUSS Zum Abschluß des Versuches einer Neubegründung der konservativen Theorie muß noch einmal zusammenfassend auf die Schlüssigkeit der Erkenntnisschritte und Argumente hingewiesen werden, die seiner Durchführung dienten. Denn nur die klare Einsicht in den Zusammenhang, der die einzelnen Teile der Theorie miteinander verbindet, gibt dem mit ihrer Hilfe gewonnenen Standpunkt die Gewißheit, deren er in der politischen Auseinandersetzung bedarf. Ob die in unserer Untersuchung vorgelegte Beweisführung für Sinn und Wert des konservativen Weges in der modernen Politik im einzelnen überall in der gleichen Weise gelungen ist oder noch unvollkommen bleibt, weil dieser Weg allzulange von eigenem und fremdem Mißverständnis verdunkelt war — die Logik der Sache, um die es hier geht, schreibt von vornherein den Gang der Erörterung vor. Dieser Gang der Erörterung läßt sich nicht abändern oder umkehren, ohne die Uberzeugungskraft der gedanklichen Erhellung des Problems einzubüßen. Erhebt man den Blick über die breite Fülle vor allem des geschichtlichen Materials, dessen oft bloß andeutungsoder stückweise mögliche Darstellung zum Erreichen des gesteckten Zieles unumgänglich war, so ergibt sich alsbald eine Vorstellung von der Grundstruktur der hier in Frage stehenden politischen Denkweise. Und von ihr aus wird sodann offenbar, warum sich die durchmessenen Erkenntnisschritte gegenseitig fordern und wie die angeführten Argumente einander stützen und ergänzen. Deshalb soll nachstehend nochmals ein knapper Überblick über das enge Ineinandergreifen der wesentlichen Glieder und Hauptbestandteile der oben umrissenen konservativen Theorie gegeben werden. Dieser Überblick kommt, indem er der methodischen Rechtfertigung dient, zugleich und darüber hinaus der Sicherung und Festigkeit ihrer Neubegründung zugute. Ohne das Auftreten und Vorhandensein der Ideologien gäbe es keinen Konservatismus: aus dem ideologischen erwächst im Gegenschlag das konservative Weltverständnis. Das letztere ist nicht ohne das erstere. Der An-

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griff auf die Wirklichkeit des menschlichen Lebens, wie es wurde und ist, ruft nämlich erst ihre Verteidigung hervor. Und dieses Verhältnis von Angriff und Verteidigung gewinnt im politischen Bereich seine Gestalt in den modernen Ideologien und ihrem Widerpart, der als Gegenpol wirkt. Dabei wird es, systematisch gesehen, völlig gleichgültig, ob dieser Widerpart und Gegenpol sich ausdrücklich konservativ nennt oder nicht. Denn er ist es in Wahrheit immer, weil er in jenem grundlegenden Verhältnis eben die zweite, antwortende, reaktive Rolle der Verteidigung gegenüber dem Angriff übernimmt und nur dadurch überhaupt existent wird. Wo nicht angezweifelt und angegriffen wird, kann und braucht auch nicht widerlegt und verteidigt zu werden — das heißt, wo keine Ideologie mit einem Wunschbild in der Politik auftritt, ist auch kein Konservatismus als politische Erscheinung möglich. Infolgedessen muß die konservative Theorie also ihre erste Bestimmung in dem Gegensatz zu den Ideologien haben, die trotz all ihrer vielen Unterschiede untereinander doch als weltliche Heilslehren eine große Einheit des Denkens und Wollens bilden. Was jene als zentrales Anliegen vertreten, muß auch diese konstituieren: dort aber wird dasselbe bejaht und herbeigeführt, was hier verneint und abgewehrt wird. Und darum muß die Darstellung der Theorie, noch ehe sie im einzelnen vorgenommen wird, mit der eingehenden Schilderung der modernen Ideologien beginnen, weil anders nicht konkret zu erfahren ist, welches eigene Anliegen sie erfüllt. Aus solchem Beginn folgt das weitere Vorgehen mit einfacher Notwendigkeit. Das ideologische Weltverständnis setzt nämlich1, wie nicht bezweifelt werden kann, eine ganz andere geistig-seelische Verfassung des Menschen voraus als das konservative. Denn der Angriff auf die Wirklichkeit vermag, wenn er durchschlagend sein will, nur mit Hilfe eines allgemein faßlichen Systems von Vorstellungen über den neuen Zustand der Dinge bewerkstelligt zu werden, der an die Stelle des alten Zustands rücken soll und mithin als dessen Gegenbild funktioniert. Dies Gegenbild jedoch kommt allein dadurch zustande, daß der menschliche Verstand sich nach langen Anläufen über den alten Zustand der Wirklichkeit hinwegsetzt und in abstracto das Bild eines neuen Zustands entwirft, das eines Tages allgemeine Verbindlichkeit erlangt. In der geschichtlichen Realität der kulturellen Entwicklung bedeutet das: die geistig-seelische Verfassung der Menschen muß tatsächlich eine andere Beschaffenheit annehmen als bisher, wenn die Ratio dergestalt die Herrschaft antreten soll. Weit über alle früheren Zeichen und Zeugnisse abstrakter Intelligenz hinaus, mit denen sich während der längst vergange-

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VI. Sdiluß

nen Jahrhunderte diese andere und neue innere Verfassung in einzelnen Menschen oder kleinen Gruppen vorbereitete, müssen dann große Gruppen und schließlich ganze Bevölkerungsschichten unvergleichlich viel rationaler und bewußter werden, um derartigen Gegenbildern folgen und ihren Inhalt als Maßstab des Denkens und Handelns erleben zu können. Das heißt, ohne einen weit und tief greifenden Wandel der innermenschlichen Verfassung zu größerer Rationalität und höherer Bewußtheit als einst ist die breite Wirkung der Gegenbilder gar nicht denkbar. Was im größeren Bereich der Kultur überhaupt etwa die moderne Naturund Geisteswissenschaft ist, das sind im engeren Bereich der Politik die modernen Ideologien. In beiden Fällen erhebt sich der Mensch mit seinen rationalen Fähigkeiten bewußt über die natürlich-geschichtliche Wirklichkeit, um sie nach abstrakten Gegenbildern in großem Stil zu verändern und eine neue Welt zu schaffen. Das Kennzeichen dieser neuen Welt aber ist nicht nur mehr Rationalität als bisher, sondern auch mehr Triebhaftigkeit. Den Willen nämlich', sowohl im Kulturellen wie im Politischen nach abstrakt entworfenen und daher künstlichen Gegenbildern eine gänzlich neue Welt zu schaffen, gab es vorher — vor dem Aufkommen der modernen Wissenschaft, der Technik und der Ideologien, die sämtlich aus derselben geistig-seelischen Quelle stammen — in so weitem Umfang und als Allgemeinbesitz großer Menschenzahlen nicht. Deshalb läßt sich die Frage nach der Herkunft dieses Willens, die zum Verständnis des gesamten Vorgangs der modernen Zivilisationsentwicklung schlechthin entscheidend ist, auch nur folgendermaßen beantworten: die Aufstellung von weithin verbindlich werdenden Gegenbildern und das heißt der Herrschaftsantritt der Ratio löst erst zu ihrem Teil die inneren Kräfte im Menschen, die den Versuch ermöglichen, den theoretischen Entwurf von einem neuen Zustand der Dinge in die praktische Tat umzusetzen. Ohne diese Wunschbilder, die dem geschichtlichen und natürlichen Sein ein ungeschichtliches und künstliches Sollen gegenüberstellen, ohne den Anspruch der Ratio, die konkrete Welt nach ihren abstrakten Entwürfen umzuwandeln, können auch diejenigen elementaren Gewalten in der Menschenbrust, die zu einer entscheidenden Änderung des Bestehenden und zum Aufbau einer gänzlich neuen Welt künstlicher Lebensverhältnisse nötig sind, nicht von ihren bislang wirksamen Schranken und Fesseln der Tradition und Konvention freigemacht werden. Die Ideologien verlangen und bewirken mit einem Wort, weil sie solche rationalen Wunschbilder zum Gegenstand des Glaubens und Han-

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delns erheben, eine allgemeine Entbindung der Triebsphäre im Menschen, den sie ergreifen. Denn nur auf diese Weise sind ihre Ziele überhaupt zu realisieren — eins ist nicht ohne das andere. Um die alten Zustände zu überwinden und neue Zustände einzuführen, ist mithin die Beseitigung der Schranken und Bindungen der Vergangenheit erforderlich, wozu und wodurch notwendig mehr Triebkraft als früher vorhanden sein und freigesetzt werden muß. Auf Grund solcher psychologischen Konstellation, die gar nicht anders sein kann, zwingt die objektive Betrachtung der Ideologien alsbald zur Ausbildung des Begriffs der Korrespondenz von Ratio und Trieb. Er bezeichnet jene charakteristische Vorherrschaft des Verstandes und der Bewußtheit sowie jene nicht minder charakteristische Entbindung der Triebregungen, deren Wechselspiel wir bei der Durchleuchtung der modernen Zivilisation immer wieder als Grundtatsaehe begegnen. Infolgedessen muß einmal der Inhalt dieses Begriffs, der aus der Gegenbild-Situation ohne weiteres als logische Folgerung entspringt, das Wesen der Ideologien und der in ihrem Zeichen errichteten Lebensordnung bestimmen. Und er muß zum andern, weil dies eben der fundamentale Gegensatz von Angriff und Verteidigung zwischen ideologischem und konservativem Weltverständnis gebietet, im umgekehrten Sinne auch den Absichten der Erhaltung und Bewahrung, die den politischen Konservatismus ausmachen, Richtung und Ziel anweisen. Die Geschichte der modernen Ideologien wird daher zur Demonstration dieser Korrespondenz von Ratio und Trieb auf dem Felde und im Medium der Politik. Oder anders ausgedrückt: die Ideologien stellen in ihrer Gesamtheit, zu der sie ungeachtet aller äußeren Verschiedenheit ihrer Forderungen dennoch durch ihr prinzipielles Wesen zusammengeschlossen werden, nur die historisch-politische Manifestation der inneren Verfassung des neuzeitlichen Menschen dar, die jener Begriff bezeichnet. Und die Geschichte des Konservatismus entspricht dann ganz folgerichtig nur dem Verhältnis der engen Verzahnung von Angriff und Verteidigung, das zwischen dem ideologischen Weltverständnis und seinem Gegenpol besteht. Denn auch sie ist und kann nichts anderes sein als die gleichsam systematisch vorgezeichnete Demonstration und Manifestation der Abwehr gegenüber all den Einseitigkeiten und Übergriffen, zu denen der gekennzeichnete Wandel seiner geistigseelischen Beschaffenheit den modernen Menschen im Verlauf der politischen Entwicklung in Staat, Gesellschaft und Wirtschaft drängt. Der konservative Gedanke und das konservative Denken müssen darum, wenn sie ihrem

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VI. Schluß

ursprünglichen Wesen treubleiben wollen, immer in der Gegenposition z»u Verstandesvorherrschaft und Triebentbindung verharren. Verlassen sie diese Gegenposition, dann handelt es sich in Wahrheit gar nidit mehr um die rein konservative Intention, sondern um Pseudokonservatismus in der oder jener Form. Alle Irrtümer über Gestalt und Erscheinung konservativer Politik rühren, von Freundes- wie von Feindesseite, allein aus der Verkennung ihrer unausweichlich vorgeschriebenen Grundstruktur her, die mit dem Auftreten der Ideologien gegeben ist. Erkennt man erst einmal die konservative Grundstruktur, die in der unaufhebbaren Spannung zu den Ideologien begründet liegt, so sind auch die Konsequenzen für die Beurteilung derjenigen geschichtlichen Erscheinungen und Ereignisse in eine feste Bahn gewiesen, die im 19. und 20. Jahrhundert die politische Auseinandersetzung zwischen den beiden großen Weisen des Weltverständnisses widerspiegeln. Bei der Geschichte des Konservatismus handelt es sich demzufolge um ein Ringen gegen und mit den wechselnden Gestalten und Formen der Ideologien — und zwar um ein Ringen, das sein Aussehen von dem Gegner empfängt, auf den es jeweils reagiert. In solcher Reaktion erst kommt es zu sich selbst. Aber in solcher Reaktion gerät es auch auf seine Abwege. Denn gerade hierin, in dieser unlösbaren, weil durch die Grundstruktur bedingten Verflechtung mit den Ideologien und dem von ihnen geschaffenen Zustand der Dinge, ist die Erklärung für die Möglichkeit enthalten, daß das konservative vom ideologischen Denken überwältigt wird und in eine Pseudoform abgleitet, die unwissentlich hier oder da die Eigenschaften des Gegners übernimmt. So entschleiert erst die Feststellung der Korrespondenz zwischen Ratio und Trieb auf befriedigende Art das geschichtlich belegte Faktum des Pseudokonservatismus dem systematischen Verständnis. Eins greift ins andere: die Einsicht in das Verhältnis zwischen ideologischem und konservativem Weltverständnis führt, indem beide sich gleichsam gegenseitig erläutern, zur Erkenntnis der triebentbindenden Funktion der einseitig werdenden Rationalität und gestattet wie fordert auf solche Art die schlüssige Einordnung des Pseudokonservatismus in das wechselvolle Spiel des historischen Kampfes beider Fronten miteinander. Wie etwa die von Wissenschaft und Technik kulturell und von den Ideologien politisch1 bewirkte zivilisatorische Triebentbindung sicherlich für die rein materiell niemals voll verständliche Bevölkerungsvermehrung seit 1800 verantwortlich zu machen ist, so erfaßt nämlich das auf vielen Gebieten des modernen Lebens

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beobachtete Vordringen des Willensmoments im vorigen Jahrhundert auch den politischen Konservatismus und bildet ihn teilweise zu einer Ideologie um, die mit der fortschreitenden Zeit zuletzt in zahlreiche Sonderlehren mit vielfarbig schillernden Aspekten historischer Gegenbilder zerfällt. Dabei ist diese Beobachtung vom Vordringen des Willensmoments, zumal von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ab, nicht nur allgemein eine geistesgeschichtliche Bestätigung der Korrespondenz zwischen Ratio und Trieb, sondern auch speziell ein sicherer Beleg für die Entstehung des Pseudokonservatismus. Die große politische und geschichtliche Erscheinung, die in ihren Elementen begriffen werden muß, wenn der konservative Gedanke von seinen Schlacken gereinigt werden soll, ist ohne Zweifel der Pseudokonservatismus in zwei Formen: als Legitimismus und Nationalismus. Diese beiden Formen gilt es in ihrer Entstehung zu erklären und damit wesentlich zu verstehen, um Einblick in das Wie und Warum der Abwege zu erhalten, auf denen der Konservatismus im Rahmen der modernen Geistesentwicklung seinen Ursprüngen teilweise entfremdet werden konnte. Dem Einblick in das Zustandekommen des Legitimismus diente die Erörterung des Werkes von Haller, Hegel und Stahl. Und dem Einblick in die Verwandlung des Patriotismus zum Nationalismus diente die Erörterung Fichtes, wiederum Hegels und schließlich Treitschkes. W a s später noch an politischen Ideen und Forderungen pseudokonservativer Art kam und Einfluß gewann, bewegte sich im Grunde nur auf diesen beiden Abwegen, deren Verständnis daher allein von wirklicher Bedeutung für unser Thema ist, während weitere Namen, Werke und Lehren systematisch unwichtig sind, so interessant sie in der Farbigkeit ihrer Ausprägung auch geistesgeschichtlich sein mögen. Eine Reinigung des konservativen Gedankens ist gar nicht zu vollziehen ohne ein klares Nein zum Pseudokonservatismus und eine prinzipielle Absage an seine Träger, die die konservative Grundstruktur mehr oder weniger aus den Augen verloren haben, weil sie sie im Kern verrieten. Und dazu ist eben die Erkenntnis der entscheidenden historischen Beispiele für die Grundsituation erforderlich, die zu solchem Verlust führte. H a t man erst einmal mit voller Einsicht in das geistig-seelische Geschehen die Weichen erkannt, an denen der Absprung auf den Irrweg gedanklich wie erlebnismäßig möglich war und stattgefunden hat, dann ist es grundsätzlich nicht mehr wichtig, die ganze Reihe der Abirrenden selber namentlich kennenzulernen oder gar all die Verästelungen des Irrweges ausführlich aufzuzählen und zu erörtern.

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V I . Schluß

Das Verständnis des gewöhnlich unter dem politischen Schlagwort von der Restauration begriffenen älteren Pseudokonservatismus ergibt sidi aus der konservativen Grundstruktur mit zwingender Folgerichtigkeit. Er kann nichts anderes sein als ein von seinen "Widersachern, von Rationalität und Triebhaftigkeit erstmals übermannter Konservatismus, dessen Schicksal zwischen altem Absolutismus und neuer Ideologie sich ohne Schwierigkeit aus der Wirkung der Zeit auf den Menschen erklärt. Wer Einsicht in die konservative Grundstruktur gewonnen hat und damit zugleich Rolle und Funktion der triebentbindenden modernen Ratio erkennt, der muß darum vom tieferen Begreifen des Absolutismus und der Französischen Revolution her auch Restauration und Legitimismüs anders sehen als die liberale Geschichtslegende, die eben darum Legende ist, weil sie die eigentlichen Faktoren der seelisch-geistigen Entwicklung in der neueren Geschichte beinahe hoffnungslos verzeichnet hat. Um ihren Widersacher und Gegenpol wirkungsvoll bekämpfen zu können, mußten ihn die Ideologien nämlich als ihresgleichen und somit als weltliche Heilslehre begreifen. Und sie taten das, indem sie ihn unter Ausnutzung aller Ressentiments des rational-triebhaft nach Freiheit und Gleichheit drängenden Menschen einfach mit dem Absolutismus gleichsetzten und seine echt konservativen Elemente leugneten, um dann die gegenteiligen Elemente zum allein herrschenden Merkmal abzustempeln. Das heißt aber, sie zwangen dem Legitimismus ihr eigenes psychologisches Gesicht auf, wodurch seine konservativen Züge allmählich unkenntlich wurden. Und damit fiel gewissermaßen eine ganze Hälfte diesei komplexen historischen Erscheinung unter den Tisch: konservativ wurde fortan weithin gleichbedeutend mit reaktionär, ohne daß man sah, wie dabei eine ideologische Vergewaltigung des konservativen Gedankens stattfand — das Wunschbild lag hier nur in der Vergangenheit statt wie dort in der Zukunft. Dies geschah indessen, ob absichtlich oder unabsichtlich, nicht ohne tieferen Grund. Denn nur unter der Voraussetzung, daß die Entstellung des Konservatismus zur Pseudoform unterschlagen und die Restauration gerade in ihren ideologischen Elementen mit dem ganz anderen Konservatismus identifiziert wurde, war es der liberalen Geschichtslegende möglich, die Genesis auch des modernen Nationalismus samt seiner späteren Sonderlehren zu verschleiern und diese neue historisch-politische Erscheinung der Gegenwart ausgeredinet ihrem eigentlichen Widersacher in die Schuhe zu schieben. Das eine bedingte dabei das andere: die Verzeichnung des Konservatismus zur Ideologie war die

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Vorbedingung f ü r den Irrtum über die Quellen des Nationalismus und seines Machtstaates, der als zivilisatorisches Gebilde aus dem von den Ideologien in der Politik und von der Technik in der Kultur hervorgerufenen Vordringen des Willensmoments erwächst. Die liberale Geschichtslegende begriff also nicht bloß den älteren, sondern ebenfalls den jüngeren Pseudokonservatismus falsch und setzte auch1 diesen, ohne seine tief ideologische N a t u r entweder zu bemerken oder zuzugeben, mit echtem Konservatismus gleich. Durch diese Verzeichnung der eigentlichen Fronten war dann das gesamte Bild der Geschichtskräfte der neueren Zeit endgültig verwirrt, wie das jene Blindheit und Hilflosigkeit unserer Tage gegenüber der letzten Ideologie, dem Faschismus, so deutlich bewiesen hat, die auf die so gut wie totale Ideologisierung des politischen Denkens der Gegenwart zurückgeht. Mit anderen Worten: Wer die Einsicht in das Wesen der modernen Ideologien mitvollzieht und die konservative Grundstruktur erkennt, der kann den daraus folgenden und logisch geforderten Konsequenzen nicht ausweichen. Wenn an H a n d der historischen Tatsachen und psychologischen Befunde von einem unecht gewordenen, einem Pseudokonservatismus gesprochen werden muß, so ist es unvermeidlich, diejenigen Lagen und Punkte in der Geschichte aufzusuchen, wo solch Abirren vom ursprünglichen Wege möglich war und stattgefunden hat. Sie müssen notwendigerweise dort liegen, wo ideologische Elemente eindrangen, wo sich Ratio und Trieb zum Herrn über ihren Gegenpol aufschwangen, wo Egoismus und Machtgier offen oder heimlich1 auch kollektiv maßgebend wurden. Das kann sich laut Ausweis der geschichtlichen Entwicklung in Deutschland nirgendwo anders ereignet haben als in der Restauration während der ersten H ä l f t e und in der Verwandlung des Patriotismus zum Nationalismus während der zweiten H ä l f t e des 19. Jahrhunderts. Von außen gesehen und ohne die Kenntnis der offensichtlich unaufhebbaren Spannung zwischen dem ideologischen und dem konservativen Weltverständnis bleiben Werden und Wesen dieser historischen Ereignisse zwar vielfach verschleiert, von innen gesehen und mit der Kenntnis der ideologischen wie der konservativen Grundstruktur aber handelt es sich in beiden Fällen um einen durchaus klaren Vorgang der geistig-seelischen Denaturierung auf dem Felde der Politik, der sich der unbefangenen Einsicht nach den Erfahrungen der Gegenwart mühelos öffnet. Greifen die einzelnen Glieder der geistig-seelischen und geschichtlichen Entwicklung des konservativen Strebens und Verhaltens in der beschriebenen Weise aufs engste ineinander, so ist dasselbe bei den Bestimmungen der Fall,

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die schließlich die konservative Theorie in ihrer zeitgemäßen Form aufbauen. Diese Theorie ist ja nichts anderes als eine systematische Herauslösung und zu allgemeinen Sätzen verdichtete Hervorhebung der grundlegenden Verhältnisse, die in der Geschichte der Ideologien und des Konservatismus samt seiner Pseudoform wirksam waren und sein mußten. Sie bildet daher auf der prinzipiellen Ebene lediglich eine zusammenraffende Wiederholung dessen, was dort im einzelnen vorgefunden und wirksam wurde. So stellt sich denn auch bei ihrer Neubegründung die Aufgabe, aus dem Gegensatz zur Theorie der Ideologien insgesamt die konservative Grundstruktur unter dauernder Berücksichtigung der alles entschleiernden Gegenwartslage zu entwickeln und in ihren verschiedenen Beziehungen festzulegen, die sich ebenso fordern wie stützen. Der Zusammenhang, in dem die verschiedenen Bestimmungen der Grundstruktur aufeinander angewiesen sind, erwächst hierbei als Gegensatz auch und gerade aus der zivilisatorischen Situation, die heute noch fast allerorten mehr denn je im Zeichen des letztlich utopischen Gegenbildes aller künstlichen Fortschrittsvorstellungen zur Wirklichkeit und das heißt im Zeichen des Bruchs mit der göttlichen Schöpfungsordnung in Natur und Geschichte steht. Darum muß auch die konservative Theorie mit ihren Inhalten von vornherein unter das Zeichen des von den ideologischen Gegenbildern bezweifelten und angegriffenen Lebens selber in seiner natürlich-geschichtlichen Gestaltenfülle treten und kann überhaupt nur von dorther %VL wirklich stichhaltigen Argumenten kommen. Auch hier bildet infolgedessen die Korrespondenz von Ratio und Trieb nach wie vor den eigenen Mittelpunkt, der alle Bestimmungen der Theorie erst zeitgemäß macht. Man kann keines ihrer wesentlichen Glieder aus dem damit gegebenen Gesamtzusammenhang herausbrechen, ohne die Kette von Bedingungen zu zerstören, in der die Uberzeugungskraft der Theorie als geschlossenes Ganzes beruht. Was für die Theorie gilt, das gilt endlich auch für die Praxis. Sobald sich der Einfluß abstrakter Gegenbilder mit ihrer sehnsüchtigen oder zornigen Leidenschaft in die konservative Praxis drängt, gerät sie auf den Weg ideologischer Politik und wird Umsetzung künstlicher Entwürfe in die Tat, was sie ihrem Wesen nach nicht sein kann und darf. Die Sache selbst verbietet daher die Anwendung einer Staats-, Gesellschafts- und Wirtschaftslehre, wie sie im Banne des ideologischen Weltverständnisses entsteht, und gestattet lediglich eine lebendige, an der historischen Erfahrung orientierte Auffassung darüber, wie die Stellung des Menschen in der staatlichen, gesell-

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schaftlichen und wirtschaftlichen Lebensordnung jeweils beschaffen sein muß, um den überall besonderen Bedingungen natürlich-geschichtlicher Existenz zu genügen. Für die Neubegründung der konservativen Theorie bedeutet dies: W o die Bestimmungen der Grundstruktur anerkannt werden, da muß die konservative Praxis mit Hilfe eben der Wahrheiten, die die konservative Theorie als ihre Grundsätze feststellt, notwendig politisches Handeln ohne Ideologie sein — das heißt eine Politik, die sich von allen künstlich^abstrakten Gegenbildern zur Wirklichkeit fernhält und damit vor jedem willkürlichselbstherrlichen Bruch mit N a t u r und Geschichte hütet, um im Rahmen der menschlichen Wesensbedingungen allein den Forderungen der Entwicklung des Lebens selbst zu folgen und ihnen dort, wo sie mißachtet worden sind, wieder zu ihrem Recht zu verhelfen. Konservative Praxis ist also politisches Handeln, das sich voll Vertrauen zur Schöpfung in jeder Lage jenseits aller Wunschbilder bewegt und seine Sache einzig in der behutsamen Lösung der jeweiligen Aufgabe sieht. Dabei erwächst ihr Vertrauen zur Schöpfung ebenso aus dem Mangel an einem Wunschbild, das jene mehr oder weniger radikal verbessern will, wie ihre Geduld vor den Aufgaben, die das menschliche Leben in seiner niemals zur starren Ruhe des Ideals kommenden Entwicklung immer wieder aus sich selbst hervorbringt. Gleich der konservativen Theorie auf der gedanklichen Ebene zieht folglich auch die konservative Praxis auf der Ebene des Handelns gewissermaßen jederzeit das Fazit der politischen Wunschbilder und verwirklicht-so zu ihrem Teil bewußt oder unbewußt jene eigentümliche Einheit von Theorie und Praxis, die seit je konservative von ideologischer Politik unterscheidet.