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German Pages [112] Year 1959
Blasius geht durch die Stadt
I
SIEGFRIED SOMMER
BLASIUS GEHT DURCH DIE STADT Münchner Gschichtln aus unserer Zeit
I
Mit 18 Zeichnungen
von Ernst Hürlimann
SÜDDEUTSCHER VERLAG MÜNCHEN
19.—24. Tausend Alle Rechte vorbehalten Gesamtherstellung und © Süddeutscher Verlag GmbH Mündien 1956. Printed in Germany 1959
Im Herbst 1955 erschienen die letzten Geschichten von Blasius. Was vorher an Blasius-Bändchen herausgekommen war, ist auch bereits vergriffen gewesen. Aber sie mußten wieder neu heraus gebracht werden, denn nun, zusammen mit dem Neuesten, er wiesen sie sich mit einemmal als eine Chronik dieser Jahre nach dem Krieg: Zwischen Fleischmarken und Deutschem Wunder, zwischen dem »unbeirrbaren Willen», nie mehr Militär bei uns stattfinden zu lassen, und dem »unbeirrbaren Willen» zur Ver teidigung unserer Menschheit. Sie sind eine wirkliche Chronik, wenn sie auch von zufällig Geschehenem handeln, von dem, was abseits der großen Politik liegt, denn sie handeln vom Geist der Zeit mehr als nur von deren Äußerlichkeiten. -
Sechs Wochen vor seinem Tod schrieb der große Münchner Komiker Karl Valentin an Siegfried Sommer: »Ihr Artikel ,Die Bescherung' zeigte in so wenigen Zeilen unser armes Deutschland. - Ich habe darüber mit 66 Jahren geweint wie ein kleines Kind. Nur ein Schriftsteller mit einem guten Herzen kann so etwas schreiben.» Und Ernst Penzoldt schrieb:
»Was Sommer an kleinen aktuellen Beobachtungen aufgezeich net hat, hält das unendlich Wichtige nur scheinbar nebensächlich fest, das nämlich, was leicht und rasch vergessen wird, wenn nur eine nichtssagende Geschichtszahl übrigbleibt von dem, was einmal, also so um 1950 herum, das Leben, der Alltag, die Freuden und Sorgen waren, die sich nicht um Jahrhunderte kümmern... Dickens hat mit Londoner Skizzen begonnen. Es ist also eine gute Tradition, die Sommer fortsetzt mit seiner Kuriositäten sammlung und Mikro-Chronik Münchens aus unserer Zeit, die, wie mir scheint, freilich weniger uns gehört als wir ihr.»
SÄNGERKRIEG IN DER HIRSCHAU
An einem langen Wirtshaustisch unter den Kastanien des Hirschau-Gartens sitzen zwölf junge Leute, acht Jünglinge und vier Mädchen. Siebenhundert zahlende und etwa tausend Zaun gäste warten aufgeregt auf den Beginn des »I. Wettstreites der Münchner Amateur-Refrainsänger 1949«, wie es auf den Pla katen und auf dem Programm heißt. Rundfunk-und Presseleute, Photographen und Kellner treffen letzte Vorbereitungen. Auf dem steinernen Parkett bewegen sich Tanzpaare mit den Mienen von Sterbenden. Eskortiert von zwei schwarzgekleideten Beiständern betritt der erste Sänger das Podium und nimmt vor den beiden Mikro phonen Aufstellung. Die Kapelle setzt ein. Das Chianti-Lied erklingt und dann die Ballade von der Roten Laterne. Nur gering ist der Vorsprung, den die Begleitmusik gegenüber dem Sänger erzielen kann. »Z’schnell gschpuit ham s’«, erklärt der Nachfahre Carusos nach seinem Auftritt. »Geht’s nur ihr amoi auffi auf so a Podium, da moanst, du schtehst auf an Schafott!« Ein frisches junges Mädchen mit Christbaumkugelaugen stellt sich vor. Ihre Stimme ist scharf und schmal wie eine Messer schneide. Den »Frühling in San Remo« verzeiht man ihr noch, als sie aber dann ein lüsternes Chanson anstimmt, die rechte Augenbraue hochzieht, die Stirne in Falten legt und mit dem Finger auf einen älteren Herrn deutet, hat sie beim Publikum die »falsche Taste« erwischt. Der dritte Sänger verfügt mit Abstand über das fühlendsteHerz am Platz. Beginnend in hohem Diskant, gleitet er, wie ge schmiert, in die Abgründe des Basses, um dann mit gequältem Nasentenor die Mitteilung zu machen, er sei »heute ja so ver7
liebt«. Gellende Pfiffe und schallendes Gelächter sind das Echo vom Gartenzaun her. Mit funkelnden Augen dreht sich der Sänger während einer Schnaufpause um und droht den unver ständigen Kunstbetrachtern mit der geballten Faust: »Wart’s nur, wenn i fertig bin!« Den Reportern erklärt er, er habe der Liesl Karlstadt vorgesungen, die hätte allerdings gemeint, er solle lieber ein Gedicht vortragen. Das Lied mit der endlosen Endsilbe »andlandlandl...« gibt ein mehlweißes Bäckerstöchterchen zum besten. Bei der zweiten Strophe fängt sie an zu zittern, zuerst mit den Händen, dann mit den Beinen, zuletzt auch noch mit der Stimme. Dann faltet sie die Finger krampfhaft über der Brust, als versuche sie eine harte Walnuß aufzudrücken. »Komm zurück«, heißt das Lied. »Mhm«, bemerkt ein grauhaariger Ober, höflich bezugnehmend auf den Text, »des mecht i a amoi dalebn, drei so junge Spritza san ma heit scho wieda durch mit da Zech!« Im Stechschritt mit gleichzeitig vorgeworfenen Armen kommt der nächste anmarschiert. Als er in seiner Nervosität sogar die Hand zum Deutschen Gruß heben will, fängt sie ihm der Con férencier gerade noch geistesgegenwärtig ab. Dann läßt als Ein lage ein richtiggehender Gsangsschüler seinen beachtlichen Baß vernehmen. Wie er mit seiner Stimme in den »tiefen Keller« hinabklettert, rümpft er die Nase, als wäre er in etwas hinein getreten. Darauf bewegt ein blasses, schüchternes Mädchen mit den gesungenen Worten »Wer die Heimat liebt« sichtlich die Gemüter. Sie wird abgelöst von einem jungen Mann mit Gitarre, der in den beginnenden Regen hinein eine Beschreibung des son nigen Südens schmettert. Schließlich kreuzt noch ein Gymnasiast mit Brille und blonder Wasserwelle auf und holt sich mit dem Gesang »Schön ist die Nacht«, trotz der zunehmenden Bewöl kung, den ersten Preis, einen riesigen Blumenkorb. »Des sag i dir, Yvonne, da hättst aa mitsinga kenna mit dene
Vogl«, stellt ein unnatürlich bleicher Kavalier seiner Braut ge genüber fest und führt die Widerstrebende in einen dunklen Seitenweg des Englischen Gartens.
LA PALOMA
Ein zerzaustes Täubchen kauert mit einem verletzten Flügel im Rinnstein einer stillen Nebenstraße in der Altstadt. Eine Frau tritt aus einem niedrigen Häuschen, sie sieht das hilflose Tier, holt ein Schüsserl mit aufgeweichten Brotbrodcen und ver sucht, das Täubchen zu füttern. »Deibi, Deibil« lockt sie zärtlich, und ihre Finger streicheln behutsam über das zitternde Körper chen. Da ruft ihr die Nachbarin, die das Idyll eine Weile be obachtete, vom Fenster aus zu: »Geh, Frau Wieslberger, wos blong S* Eahna denn, des Deibal wead ja do nimma, des frißt höchstns d’ Katz! Wann S* g’scheit san, nacha brotn S* as Eahna soiba.« Die Wieslbergerin weist das Ansinnen entrüstet zurück: »Wos, so a arms Viechal ko ma do net einfach umbringa, Frau Reiter — und dro is ja aa nix«, fügt sie nachdenklich hinzu. Dann legt sie das Täubchen in ihre blaugestreifte Schürze und verschwindet im Hausgang. »Müassn S’ as hoid fuin!« schreit ihr die Reiterin nach und macht ihr Fenster zu. Eine halbe Stunde später sitzt die Wieslbergerin auf einem Hocker in der Märzsonne vor ihrem Haus, hat das Täubchen im Schoß, und auf den Regenpfützen, in denen sich der blankgewaschene Früh lingshimmel spiegelt, schwimmen frisch gerupfte Federn. Die Frau Reiter schaut wieder zum Fenster heraus. »Wos moana jetz Sie, Reiterin«, ruft die Frau Wieslberger hinüber, »soid i’s brotn oda dünstn?« 9
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SCHATZSUCHER AM GLOCKENBACH
»Host a Seil dabei?« fragt der Schrazenbeck Gange seinen Spezi Ferri, als er ihn zur Glockenbachbegehung abholt. Die Bachauskehr in den zwei Dutzend Münchner Stadtbächen ist für die Baumstraßler und Dreimühlenviertier eine ganz beson dere »Hochzeit«. Beim Glockenbachbrückerl wird der Gange abgeseilt. Es riecht nach ranziger Streichwurst, nach Feuersala mandern, Bedürfnisanstalt und Poliklinik. In dem dunklen Schlund, wo der Bach sich unter die Häuser zwängt, verschwindet jetzt der Gange, den Waschstrick der Schrazenbecks um die Brust. Dumpf wie aus dem Hades kommen die Meldungen über seine Funde. »An Radlrahma — an Luflschutzhoim — a Fleisch maschin’ — zwoa eiserne Christbaumstända.« Der Gange ist mit Moos und Schlamm behangen wie der eiserne Rechen vom Südwerk zwei, als er vom Ferri zurückgeseilt wird. Triumphie rend hält er eine zerfressene Trompete und ein vom Rost rui niertes Bajonett in der Hand. Die Trompete war sicher schon bei der Erstürmung von Jericho dabeigewesen, und das Bajonett mußten die alten Phönizier bei der Überquerung des Glocken baches verloren haben, aber der Ferri gürtete sich das Streit schwert stolz um seine Bubenlenden. Als der Gange versucht, in das ausgegrabene Signalhorn zu stoßen, schnalzt vorn aus dem Trichter ein handlanger Koppen hervor. Sofort wird dieser in der Matrosenmütze von Ferri einquartiert und darin so lange unter Wasser gehalten, bis der Gange eine leere Konserven büchse, die nur aus vier Löchern rinnt, gefunden hat. »Moanst, mia soin eahm a paar Kastanienblätta neitoa zum Fressn«, meint der Gange, aber der Ferri erwidert barsch: »Du Glezn, a Fisch frißt do koane Kastanienblätta, höchstns vielleicht no Bandnudln oda a Brez’n.« Stolz wandern die beiden dem Drei mühlenviertel zu. Von Ferris Matrosenmütze hängen lange 11
Moosfransen, und dem Gange sein Bajonett scheppert über das Straßenpflaster wie das Schlachtsdiwert von König Nabuchodonosor. Morgen wollen die beiden in die verheißungsvollen Jagdgründe hinter dem Maria-Einsiedel-Bad wandern. Dort sollen im Schlamm des Baches wertvolle Brillengestelle und zahlreiche falsche Gebisse zu finden sein, welche die Badegäste im Laufe des Sommers verloren haben.
DIE ALLERLETZTEN HUMORISTEN
Dies war wohl der gelungenste Wettbewerb unter all den nagelneuen Rekorden, die Bandnudelesser, Samba-Leidende oder amokgeigende Fiedler in denNachkriegsjahren aufgestellt haben. »Eine Leistungsschau des Münchner Humors« nannte der schwarzgescheitelte Impresario seinen Einfall, Münchens beste Krügl-Redner ausfindig zu machen. 15 Anwärter kamen. Sie waren der festen Überzeugung, von den 800000 Einwohnern Münchens die letzten lustigen Leute zu sein, deshalb wurden ihnen auch von allen Anwesenden mildernde Umstände zu gebilligt. Den Vortrag eröffnete ein mittelgroßer Herr, der eine Brille trug und den Waschevornamen Macco. Er blickte erstaunt um sich wie ein aufgetauchtes U-Boot, das ins Eismeer geraten ist, und begann sofort, die Männer mit Edelsteinen zu vergleichen. Dann wurde er immer witziger und sagte zum Schluß: »Alles neu macht Persil.« Als zweiter Gaudibursch stellte sich ein Mann mit einem Bart vor, in dem noch viele Semmelbrösel hingen. Er las ganz leise aus einem blutroten Manuskript, vermutlich Dantons Vermächt 12
nis. Beim Umblättern mußte er dann aber zwei Seiten erwischt haben, denn die folgenden Worte handelten plötzlich von der Begründung eines Rentenantrages. Endlich erzählte er die Ge schichte eines Staubsaugervertreters, dem sein einziger Kunde kurz vor Lieferung des Gerätes weggestorben war. Den Schluß bildete eine Abhandlung über die erotischen Verirrungen einer Bandsäge. Dieser Redner bekam donnernden Applaus, weil man kein Wort von seinem Vortrag verstanden hatte. Der dritte war in seinem Humor sehr traurig, so daß ihm fast die ganzen drei Halbe Märzenbier, die er vorher getrunken hatte, wieder aus den Augen tropften. »Der is unbezahlbar«, sagte eine lange, gleichmäßige Wirtsfrau, und ihr Mann fügte hinzu: »Er kriagt aa nix dafür«, worauf sämtliche anderen Tischgäste laut lachten und die vereinigten Gäste vor Schaden freude anschwollen. Unter Nummer vier startete ein abgebrüh ter Jüngling, der, ohne schamrot zu werden, uralte Witze er zählte, die schon in der Arche Noah verboten waren. Er schwitzte sehr, was das Publikum wieder versöhnlich stimmte. Als er je doch hoffnungslos in den Wald hineinkam, zog man ihm den Mikrophonstecker aus der Dose. »Des is no da Bessa«, meinten die Leute zu den humoristischen Geständnissen einer sichtlich oberbayerischen Erscheinung. Diese sagte u. a.: »I gang so gern auf d* Kampenwand, wenn i mit meina Wampn kannt.« Ferner trug er die Geschichte eines Preu ßen vor, der beim Kammerfensterln nach den Reizen einer Sennerin suchte und irrtümlich den Kropf erwischte. Das gefiel allen sehr, und der Vortragende wurde als Witzbold anerkannt. Auch ein Fräulein in einem auffallend durchbrochenen Kleid betrat das Podium. Sie spielte Ziehharmonika. Sonst gibt es nichts Nachteiliges über sie zu berichten. Es kamen noch mehr an die Reihe: ein Professional, der kahl und einwandfrei witzig war. Ein gewisser Herr Tobitzer, der 13
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Wellensittiche hatte und einen Wadenkrampf. Ein weiterer be hauptete schüchtern zu sein. Die besonderen Kennzeichen eines anderen waren seine herausgenommenen Mandeln. Diejenigen, die ihren Humor wegen Zeitnot nicht mehr vorführen konnten, bekamen vom Wirt eine Portion hausgemachte Milzwurst und einen warmen Händedruck. »Do kennas wieda recht g’scheid schreiben in da Zeitung, aufs Podium auffi traut si ja doch koana vo dene«, meinte zum Schluß einer der Durchgefallenen. Der Mann hat recht.
KLEINER TRATSCH AM GARTENZAÜN
15 000 Kleingärten mit einer Gesamtfläche von 420 Hektar gibt es in München. »Mar6chal-Niel-Rosen«, saftige Bier-Rettiche, duftende Wicken und der rachitische »Siedlerstolz« gedeihen auf diesen grünen Oasen in der Ruinenwüste. »Dean ma a weng garteln, Herr Nachba?« fragt der alte Spa ziergänger und bleibt am Gartenzaun stehen. »Ja, meine Tomatenpflanzl muaß i aufbindn.« Der Pensionist Daxl greift den angebotenen Tratsch bereitwillig auf und nimmt sein Sacktüchl mit den vier Knöpfen vom Kopf. »Regna deafat’s hoid, regna!« Der Zaungast nicht beipflichtend. »Ja, wenn’s nua grod rang!« Schläfrig blinzelt die buttergelbe Sonne durch den Hollerbaum, unter dem die Daxlin gerade den Apfelschalentee einschenkt. »Fanni, gehst ned gleich aus’m Gurk’nbeet außa!« ruft jemand drohend hinter den Sträuchern. Im Garten nebenan hängt eine blitzende Parade-Uniform auf einem Strick zum Lüften. »Dea is a Major gwes’n«, berichtet Herr Daxl, »jetz* is a arbatslos, weil’s koan Kriag mehr gibt.« Der Herr Major a. D. bringt in15
dessen, mangels anderer Gelegenheit, die Bohnenstangen in seinem Mietgarten »auf Vordermann«. Dann schreitet er befrie digt die »Front« ab. Vielleicht denkt er dabei, daß es nützlicher sei, Bohnen zu ernten, als Orden.
BLASIUS VOR DER FREIBANK
Als Blasius, der Spaziergänger, an einem Freitag spät abends noch durch Münchens stille Straßen latscht, sieht er eine seltsame Prozession an einer hohen kahlen Mauer am Viktualienmarkt stehen: Vermummte frierende Waberl, halbwüchsige Bürscherl aus dem Heinrich-Zille-Album, alte Klapperbeine, denen ihr verspieltes Leben aus glanzlosen Augen rinnt, und einige Sozial rentner, die durch ihre Hungerunterstützung und die alten Wehrmachtswindjacken gerade noch notdürftig zusammengehal ten werden. Blasius stellt sich stumm am letzten Glied dieses Arme-Leute-Lindwurms an. Sein Vordermann, ein abgerackerter Sechziger mit einem kahlen Truthahnhals, den er in einen schä bigen blauen Kinderschal gewickelt hat, unterhält sich halblaut mit einem alraunenhaften Persönchen, das auf einem Feldstuhl an der Hausmauer sitzt und ihr blaugefrorenes faustdickes Ge sicht — als wollte sie es daran erwärmen — hingegeben in das gelbe Licht der Bogenlampe hält. »Wissen S’, wenn i hoid fria gnua dro bin, nachad griag i oiwei a paar Markknocha extra vom Freibankmetzga. Wissn S’, füa de kloa Bobbi von unsana Hedwig, dera ihra Ami is doch iatz aa wegga kema, — ja do soin S’ es seng, wia s’ do in dem Supperl plantscht, wissn S’ — des gibt hoid a Süpperl, Herr.« Der Mann mit dem Truthahnhals nickt apathisch und fühlt vorsichtig 16
nach seiner Thermosflasche, die, in Zeitungspapier gewickelt, aus seiner rechten Sackltasche schaut. »S’ Kind ko ja nix dafüa, daß d’ Hedwig a weng a Flugga is — wissn S’, Herr Nachbar, was woaß denn so a Kind, aba de Knocha gebm a Süpperl, Herr, do soin S’ de Kloa amoi seng.« Wieder nickt Blasius* Vordermann, nimmt einen Schluck aus der Flasche, wickelt sie aber schnell wieder ein, als hätte ihn der Trunk gereut. Blasius wird es aus den allgemeinen Gesprächen endlich klar, daß die Klagemauer, an der diese Leute warten, der Eingang zur Münchner Freibank ist, und daß manche der Wartenden bis zu fünfzehn Stunden an stehen, um einige Pfund verbilligtes, weil von der Gesundheits behörde beanstandetes, Fleisch zu bekommen. »Ja, aber warum steht’s denn do bei Nacht und Nebel oo?« fragt Blasius die Leute, und er erfährt, daß das schon Jahre so geht und daß eben die Stadtverwaltung nur eine Verkaufsstelle für Freibankfleisch genehmigt hätte, und überhaupt hätten sich die fünfzig Stadtväter wegen dieser Zustände schon wiederholte Male am grünen Tisch versammelt und ihre ehrenamtlichen oder be soldeten Charakterköpfe zusammengesteckt und dann immer wieder aufschnaufend konstatiert: »Nicht zu lösen, das Freibank problem, einfach nicht zu lösen - auf Wiederseh’n im GrütznerStüberl, Herr Kollege.« Blasius schaut sich den Bau an und kommt zu der Überzeugung, daß in dem schmutzigen Gebäude wohl schon die Merowinger ihre Marschportionen zerwirkt haben müssen und daß diese Burg für Rotlauf-Schweineleichen deshalb wohl aus Pietäts-Traditions gründen noch nicht durch ein modernes, auch den Arme-LeuteBedürfnissen entsprechendes Gebäude ersetzt werden konnte. Nicht auszudenken, wenn es eine Bombe getroffen hätte, einfach nicht auszudenken. Um ein Uhr fängt es an zu schneien. Wie tausend kleine Ohr feigen klatschen den Wartenden die nassen, talergroßen Schnee17
flocken ins Gesicht. »Wenn s’ wenigstens a gloans Dacheri do an da Wand entlang, wo man oschteht, himacha dadn«, jammert das Rapunzeichen, das auf die Markknochen wartet, »bloß a so a üwahängats Dacheri und vielleicht a Bank, des kostat do an Teife net.« Gewiß, den Teufel nicht, aber ein paar hundert Mark, nur von woher nehmen? Man hat sowieso unnütze Ausgaben genug. Man denke zum Beispiel an den Drude von Fleischmarken, die für den einzig verwendbaren Zweck etwas zu klein sind, die Stadt aber bisher in jeder Versorgungsperiode 8000 Mark kosteten. »Sehn Sie, das ist ein Geschäft —«
WELTUNTERGANG VERSCHOBEN
Am Donnerstagvormittag, den 17. Mai 1948, um elf Uhr ein unddreißig Minuten, ging nach zuverlässigen Prognosen von Sterndeutern, Hellsehern und Atomamateuren wieder einmal die Welt unter. »Weil eahna a Sdiaditerl voi Atomkern auskemma is, gibt’s a Kettnreaktion und de is in vierazwanzg Stund, also bis um a hoibe zwoife, in Untasendling«, erläutert der Renten empfänger Wedl, erweckt Reu und Leid und gesteht seiner Ehe frau Rosina noch rasch zwei Seitensprünge im Mai neunzehn hundertelf ein. »Die Sterne lügen nicht«, erklärt die Witwe Blinzl blaß und auf Hochdeutsch der Millifrau. »Heid um zwoife gibt’s an Aspekt.« Darauf geht sie nach Hause, schaltet, nachdem die Stromrechnung hinfällig geworden ist, alle Lampen ein, stellt das Radio an und läßt das Wasser laufen. ImSpeisekammerl sind noch vier Bismarckheringe und zwei Gläser eingemachte Stachel beeren, die sie zusammen mit sechs in aller Eile geriebenen i8
Muskatnüssen verzehrt. Über den Ausguß gebeugt, erwartet sie alsdann das Ende. In mehreren Betrieben werden die Chefs von langjährigen treuen Angestellten auf Kirchweih geladen, einzelne Metzgereien geben Fleisch auf Marken ab, und viele alte Nazis stecken ihre Partei abzeichen wieder an. Sogar der Vormittagsumsatz eines Bettlers in der Neuhauser Straße steigt auf über drei Mark. Erst gegen Abend hat es sich allmählich herumgesprochen, daß der geplante Weltuntergang mit Genehmigung der Militärregierung auf den Josefitag verschoben worden ist.
»BALL VERKEHRT«
Vierzehn Automobile, darunter zwei massige amerikanische, stehen vor einem jener Münchner Nachtlokale, die als neueste Attraktion den »Ball verkehrt« auf ihr Reklame-Panier ge schrieben haben. Die Schuld an diesen verkehrten Bällen wird dem statistisch nachgewiesenen Männermangel in die Schuhe ge schoben. Natürlich könnte man auch die simple, gutbürgerliche Bezeichnung »Damenwahl« für dieses Tanzvergnügen wählen, aber »Ball verkehrt« ist zeitgemäßer. 87 Herren und 104 Damen bilden den Inhalt des Nachtlokals. Von den Damen sind vertreten: die freudlose Witwe, die gut aussehende Endvierzigerin mit tadelloser Vergangenheit, das Mädchen mit kleinen Schönheitsfehlern, das deshalb zu verbil ligten Preisen zu haben ist, und die Großstadtorchidee, die es versteht, auf wenigen Quadratzentimetern Boden Wurzeln zu schlagen und eine kleine schillernde Blüte zu treiben. Von den Männern sind, neben anderen, folgende Erscheinungen 19
zu beobachten: Stark ausgewachsene Fortbildungsschüler, ver wackelte Photographie-Gesichter, rüstige Geschäftsleute »des Alleinseins müde«, Zahnpasta-Reklame-Helden sowie sämtliche männlichen Figuren der Romanreihe »Wahre Geschichten«.
Der Gong ertönt. Ein mageres Mädchen erhebt sich vom Stuhl, und man glaubt, sie nimmt kein Ende mehr. Mit großer Selbst verständlichkeit holt sie sich einen schmächtigen Glatzkopf und schiebt ihn auf dem Parkett wie einen Staubsauger hin und her. Ein rührendes Rautendelein schmiegt sich verliebt an eine schmet terlingsfarbige Krawatte, und der Mund über der Krawatte rügt sie: »Wennst as nächste Mal net schneller bist, Fanny, nacha is d* Schmiermaul Ronny vor dir da!« Wie ein weiblicher Hennecke wütet eine stattliche Blondine, die einen blutjungen Anfänger in 20
den Armen hält. »Sie hat einen großen Verschleiß an Tänzern«, berichtet der Ober. Natürlich holen sich auch mehrere der Schönen stattliche Körbe bei der raren Männlichkeit. Das hindert die tanzwütigen Ama zonen jedoch nicht, sofort ein zweites oder drittes Paar Hosen mit galantem Diener zum Reigen aufzufordern. Einzige zwei Mauerblümchen kauern an einem Ecktisch. Eines davon trägt einen fuchsroten Vollbart wie der Förster Krause; es scheint des halb nicht gefragt zu sein. Das andere ist ein schwach kon struiertes altes Männchen. Die Damen scheinen zu befürchten, es könnte bei der Beschaffenheit der heutigen Tanze schon nach wenigen Schritten auseinanderfallen. »Du, da schaug hi, dera ihra Nasn is so schpitzig, daß s’ an Waffnschein brauchat!« - »Daß de von da Abrüstungskommis sion net beanstandet wor’n is!« - »Liaba fimf Johr nix auf Weihnachtn, ois wia oamoi mit dera an Samba!« - »Nee, ich hol mia den Jroßen dort, der aussieht wie’n Denkmal.« - »Des hab i gleich g’merkt, Freilein, daß Sie mia wos woin!« - »Der ver kehrte Ball waar ja ganz schee, aba wenn’s nacha ans Zahl’n geht, nacha is nix mehr verkehrt - mir hat no koa oanzige a Flascheri Wein zahlt!« - »Net amoi hoambegleit’n teans oan...«
FEIERABEND IN SENDLING
»Winnetou« versucht der zehnjährige Sprößling vom Haus meister Niederleitner mit dem Gießkannenstrahl aufs »Drodoar« zu spritzen. Sein Vater im blaugestreiften Flanellhemd kehrt müde und mit teilnahmslosen Stachelbeeraugen hinter ihm nach. Auf den Steinstufen des Milchgeschäftes Kästlmeier sitzen die 21
acht Kinder vom Tapezierer Himmelreich, und jedes hält das Abendessen, eine heiße Kartoffel, in der Hand, in die sie blasend und fingerschlenkernd hineinbeißen. Vorn am Eck steht die »Blosn«. »Geh weida, kenn die fei wieda!« koppt der Wolf Gaggi, als der Gange gleich dreimal an seinem Zigarettenstumpen zieht, der sowieso schon so kurz ist, daß er auf einem Zündholzsteckerl aufgespießt ist. Die Mariele vom Parterre kommt mit dem Bier, und ihr rosa roter Daumen steckt treuherzig im Schaum. »Laß mi trinka, oida Foisn«, sagt der Gange zu seiner Schwester und tut einen kräftigen Zug. »Meaße, rührst hoid mit’m Finga a bisserl um, damit’s da Oit net spannt.« Vom Konsumverein her naht die Perzlin mit schwarzer Einkaufstasche und ausgetretenen Schnür stiefeln. Sie geht schräg und schwankend, wie wenn sie gegen einen Wind ankämpfen müßte. Der Vale läuft ihr schreiend entgegen und umkreist sie so lange, bis sie gutmütig ihre Tasche abstellt und aus deren dunkler Tiefe eine Bärendreckstange her vorholt. Die gibt sie dem Enkel und stopft ihm dann noch sein Leiberi in die Hosn, bevor sie wieder weitersegelt. Mit einem Zweiradler voll Hasenfutter kommt der Taglöhner Klötzl heim und gleich darauf der Maurerpolier Saftig, der ge wichtig den Großvateraufstieg benützt, als er von seinem Fahr rad absteigt, denn heute wurde der Akkord ausgezahlt. Immer drei Treppen auf einmal nehmend, saust der Himmelreich Bene in den dritten Stock hinauf, sperrt auf und schleicht sich auf den Zehen in die Speisekammer. Die Mutter ist im Schlafzimmer. Der Bene nimmt vorsichtig den Milchhafen, zieht zehn Sekun den lang und läßt dann die gleiche Menge Wasser wie die ge trunkene Milch wieder nachlaufen, damit man keinen Rand sieht. Dann geht er ins Stiegenhaus zum Schuhputzen. Von Maria-lhalkirchen herüber hört man Gebetläuten.
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BLASIUS AUF DEM HUNDEMARKT
Ein mürrischer fetter Dobermann, vier Schäferhundbastarde, mehrere außereheliche Schnauzl, ein überspannter Setter, gut zwei Dutzend Pinscher, Rußl, Dackel und mehrere fußschemel artige Knurrer sind mit Leinen und Stricken am Gartenzaun einer Obergiesinger Wirtschaft angehängt. Es ist Hundemarkt. »So, jetz wean S’ amoi an Reißa seng, meine Herr’n!« beginnt ein ungemein spitznasiger, gelbgesichtiger Hundemakler. »So, do schteht jetz mei Radi und do bind’ i drei Medda danebn mein Harras oo!« Der Harras ist ein Hund, der ausschaut, als hätte man ihn jahrelang zum Reinigen von Eisenbahngeschützen mißbraucht. »Bloß drodenga wenn S’ dean, Herr Nachba, daß mei Radi stoin woit’n, z’reißt Eahna da Hund scho in da Luft«, warnt der Händler. Als aber einer der Umstehenden seelenruhig das Radi wegschiebt, wirft der Wunderhund Harras bloß einen verächtlichen Blick auf den Dieb und zieht den Schwanz ein. »Jetz song S’ amoi soiba, wia gscheid des Viech is«, triumphiert der Nasenkönig mit unglaublicher Wendigkeit. »Der Harras hod genau kennt, daß mia bloß Gspaß macha, jetz is a übahaupt unverkäuflich.« Da entdeckt Blasius unter den Herumstehenden einen Mann mit einer schwarzen Augenklappe, in dessen verknittertes Ge sicht sämtliche Gaunereien seit der Sache mit Esaus Linsengericht eingraviert sind. Jedesmal, wenn sich der Einäugige einem der Hunde nähert, fangen die Tiere an zu winseln und stellen die Nackenhaare auf. Da versuchen sogar die rauhen Händlerseelen ihre Rin-Tin-Tins durch Streicheln zu beruhigen. Der einäugige Vorstadt-Wotan ist nämlich ein Hundeschlächter. »Ja, gibt’s denn des aa no?« staunt Blasius, und ein älterer Mann, der sich als Mitglied des Tierschutzvereins ausweist, be stätigt dem Spaziergänger, daß es das leider immer noch gäbe. *3
Ja, es gäbe sogar noch mehr, nämlich einen offiziellen Hunde schlächter im Städtischen Schlachthof. Dort könne man die Hunde gegen die Entrichtung der Schlachtgebühr vorschrifts mäßig schießen lassen. Die Hundemetzger würden dann die ge schlachteten Tiere, nachdem sie durch die Fleischbeschau frei gegeben worden sind, mit nach Hause nehmen und das Hunde fett an Lungenkranke verkaufen. Leider gäbe es immer noch eine große Anzahl unaufgeklärter und abergläubischer Kran ker, die diesem Fett eine besondere Heilkraft zuschreiben. Das Hundefleisch würden die Metzger meist selber essen oder aber auch ihren anderen Schlachthunden zur Mast vorwerfen, also eine Art Kannibalismus sozusagen. Der Tierschutzverein sei leider machtlos dagegen. »Wissn S’, i hob jetz scho fünf Hund’ dahoam, de wo i alle an Hundsmetzga grod no wegkafft hob, weil ma de Viechal so leid do ham!« erzählt der Alte. Dann macht er den Spaziergänger noch auf einen weiteren Lieb haber von Bernhardinerripperi aufmerksam, eine üble Dreigroschenoper-Gestalt mit roten Bartstoppeln, rotem Halstuch und einer Armprothese, an der vorne ein Eisenhakl anmontiert ist. Mit diesem Hakl zieht er gerade einen sanften Rottweiler am Halsband zu sich heran und greift ihn sachkundig am Kreuz ab. »Ned, ned!« jammert ein mageres Weiblein, das den Hund ver kaufen will, weil sie ihn nicht mehr füttern kann, »Sie griang an ned, mein Tasso«. Das Mutterl knüpft die Leine vom Gar tenzaun und streichelt ihren Tasso mit krummen Fingern. Dann kehrt sie dem Hundemarkt den Rücken. Blasius auch.
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DAS »FROSCHLADERL
»Münchner Zoo« steht in großen Buchstaben über dem Ruinen laden. Hinter den erblindeten Scheiben der Aquarien aber schwimmen nur mehr ein paar lebensmüde Stichlinge. Flecken wasser, Mottenpulver, einige Sämereien und eine neuartige Vogelfuttermischung stehen auf den Glaskästen herum. Früher tummelten sich darin schillernde Feuersalamander aus den Alt wässern um Hinterbrühl, Ringelnattern, Blindschleichen oder weiße Mäuse mit rubinroten Perlenäuglein. Aber auch italie nische Goldfische und Schildkröten aus Griechenland, trillernde Kanarienvögel und geschwätzige Wellensittiche konnte der Tier freund im »Froschladeri« für wenig Geld erstehen. Ein gutes Dutzend solcher Geschäfte gab es vor dem Krieg in München, heute sind es noch drei. In einem von ihnen schenkt die ehe malige »Menageriebesitzerin« Heißgetränke aus. »Früahra san halt die Buam mit eahnare Maggibüchsn und Einmachgläser an d’ Isar nausganga zum Fischerlfanga oder sie ham ma Blindschleichn und Feuersalamanda bracht«, erzählt sie. »Sechs Pfennig hab i zahlt für an Laubfrosch, acht Pfennig für a Ringlnatter und bis zu zwölf Pfennig für an Feuersalamander, wann’s a Mandl war. Andere ham Ameiseneier und Wasserflöh zum Fuadern gsammelt. Heit is fast koa Nachfrag mehr nach Vögl oder Fischerl. Es is koa guats Zeichen, wenn d’ Leit für d’ Viecherl nix mehr übrig ham.«
2J
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BLASIUS IM DAMPFBAD
Das große Zinkbadewanndl, in dem Blasius jeden Samstag seinen Leichnam vom nassen Großstadtstaub reinigt, hat ein Loch. Deshalb entschließt er sich einmal, eine größere Stöberei an seiner Figur im Karl-Müllerschen Volksbad vorzunehmen. »Was deaf’s denn sei, a Brause-, Wanna- oda Schwimmbad, a Moorbad oda Schlammbad oda vielleicht gor griechisch-römisch, a Schwitz bad?« fragt das Fräulein hinter der Glasgardine. »Griechischrömisch« klingt so lüstern in Blasius’ Ohren, und er verlangt «6
ein Billettl. »Wos, drei Mark fuchzge für a Schwitzbod, do fangt ma ja an da Kasse scho ’s Schwitzen oo bei soichane Breis«, ent rüstet sich der Spaziergänger. Blasius wird an einen Schalter verwiesen. Dort muß er die Kennkarte abgeben und kriegt dafür eine Metallscheibe mit einer kleinen Nummer, eine Metallscheibe mit einer großen Nummer, zwei kleine Handtücher und ein großes Handtuch, alles für eine Kennkarte. Dann geht er durch eine Flügeltüre, die ihn beim selbsttätigen Schließen mit einem dumpfen Ton auf den Hinterkopf haut. Ein blaugestreifter Klinikdiener, der sich als Badewärter vorstellt, führt ihn in eine Zelle, mit dem Hinweis, sich zu entkleiden. »Moana S’, i gäh mid’n Gwand unta d’ Brause?« erwidert Blasius gereizt und stellt den Diebes schutz des kleinen Geldkasterls auf »Rom« ein.
Mit einer quergestreiften, knielangen Badehose erscheint er wie der auf dem Plan, muß sich jedoch vom Klinikdiener belehren lassen, daß sich so ein Kleidungsstück für einen griechisch-römi schen Badegast nicht geziemt. Also landet Blasius barfuß bis zum Halse hinauf in einem Vorraum, in dem ihm bedeutet wird, sich die Füße zu waschen. Zu diesem Zwecke steht ein Schropper mit langem Stiel in einem gekachelten Bassin, und Blasius kehrt sich also mit dem nassen Besen seine Zehen ab. Dann weist man ihn in den Dampfraum. Aus grauen, heißen Nebeln hört Blasius auf steinernen Anrichten bleiche Gestalten stöhnen. Lang ausgestreckt liegen sie da wie die Weihnachts stollen beim Bäcker Seidl. Plötzlich fährt dem Blasius ein Dampf strahl ins nackte Kreuz, da wo es zu Ende geht. Er taumelt auf eine Tür zu, erwischt in der Eile statt des Griffes die Nase eines Badegastes und plantscht schließlich wie eine Stabbrandbombe ins Schwimmbassin. Dort sind mehrere dicke Herren mit An dacht dabei, einige Bruttoregistertonnen Badewasser zu verdrän gen. Kaum hat sich Blasius an diesen Anblick gewöhnt, erscheint 27
ein Herr mit roter Badehose und winkt ihn kategorisch zu sich heran. »Jetz wean s’ mi nausschmeiß’n«, denkt er erschaudernd. Doch der Herr nimmt ihn bei der Hand und führt ihn in einen kleinen gekachelten Raum. Dort drückt man ihn mit dem Ge sicht nach unten auf eine steinerne Bank. »Auweh, Genickschuß«, sind Blasius’ letzte Gedanken. Man entläßt ihn jedoch nach der Massage mit einem schnalzen den Schlag ins Kreuz. Blasius schleppt sich an ein kleines Bassin mit klarem blauem Wasser und plumpst willenlos hinein. Sofort schrumpft sein Körper auf Bruchteile seines normalen Volumens zusammen. »13 Prozent minus im Schatten«, denkt er noch, be vor er gurgelnd in den eisigen Fluten versinkt. Als er wieder zu sich kommt, sitzt er im Schwitzraum, und zu seinen Füßen rauscht ein kleines reißendes Bächlein, das aus seinen weitgeöff neten Poren gespeist wird. Ein Herr ohne Haare, der mit seinen Fettwülsten aussieht, wie der Dunlop-Reifen-Mann, erklärt: »Reuen s’ de Koin scho wieda zum ei’hoazn, da dafrieast ja herinna.« Als Blasius in die Ankleidekabine schlurft, röchelt er leise vor sich hin, aber sofort kommt der Klinikdiener und ruft streng: »Röcheln verboten!« - Am Ausgang vom Volksbad fragt ihn die Kassendame noch freundlich: »Goi, da fuit ma si wia neig’born?« und Blasius erwidert: »Ja, ois wia wenn s’ oan in a Schnoibigl-Anstalt durch d’ Waschmangl draht häd’n.«
STRASSENMUSIKANTEN
Am Lenbachplatz, an eine Sandkiste gelehnt, steht ein Mann ohne Alter und bläst in eine Mundharmonika. »Weine nicht, Mütterlein«, heißt das Lied, das er spielt. Es fällt den wenigen, die stehenbleiben, nicht immer leicht, dieser Aufforderung nach 28
zukommen. Die Mundharmonika hat nämlich in den oberen Lagen einen starken Bronchialkatarrh, und darum klingt die Melodie sehr traurig. Auf einmal wechselt der musikalische Ahasver das eingleisige Repertoire und preßt die alte »Donna Clara« durch seinen Tonseiher. Jetzt verweilen mehrere Passan ten, und ein Mann mit einem Gesicht wie ein weher Finger sagt: »Deshodin unsan Hof oiwei aoaarmigaDrehorgl-Mo gschpuit.« Damals gab es noch die Dreigroschenromantik der Hofsänger. Meistens waren sie zu dritt. Einer, der mit dem Blick eines an geschnittenen Räucheraals die löchrigen Dachrinnen der Rück gebäude anschmachtete und dabei den Gesang vollbrachte, einer, der die in Papierl gewickelten Zwoaring und Fünferl, die von den Baikonen tröpfelten, einsammeln mußte, und ein Drit ter, der vor der Hofeinfahrt nach den Helmspitzen der Bezirks gendarmen Ausschau hielt. Da gab es das Lied von der schönen Gärtnersfrau zu hören oder die musikalische Tragödie von den zwei Königskindern und in besonders trostlosen Höfen die wehleidige Gefängnisarie »Ois i no a Buaberl mit lockigem Haar«. Für die Beamtenblocks wurden sehr häufig und mit kupfernem Erfolg die Platten »In Marokko zwischen Felsen« und »Nach meiner Heimat zieht’s mich wieder« aufgelegt. Wurde ein bes seres Viertel heimgesucht, so erfolgte der Angriff auf die Gehör gänge der mitleidigen Zuhörer vielfach unter Zuhilfenahme der Instrumente Geige und Gitarre, wobei die erforderlichen Noten auf den Aschentonnendcckeln lagen. Diese Gruppen nannte man dann Aschentonnen-Trios. Sie verzichteten meistens auf den Gesang und spielten den »Vetter Nick«, »Valencia«, »Wenn ich die blonde Inge« und in den Monaten Februar bis Juni »Im Rosengarten von Sanssouci«. Zogen diese zarten Kunstwerke nicht recht, so ging man zum Vortrag der Grubenkatastrophe »Nahe bei Aachen liegt ’ne Zeche« oder zur Seefahrt »Es ging ein Mädchen wohl auf ein Schiff« über. Später, als die Tage be *9
gannen, sich braun zu färben, sangen noch manche »Schöne Zeit, du bist für immer entschwunden«, bis sie selbst dann auch ent schwanden. Nicht für immer. Nun musizieren sie wieder. Drunten im Tal auf einer singenden Säge, was sich anhört, als hätte ein kleiner Hund allein zu Hause bleiben müssen. Auch bei den Sendlinger-Tor-Anlagen sammeln sich immer wieder ein paar Leute, um die Ballade »Seemannslos« mit Zitherbegleitung von einem arbeitslosen Caruso zu hören. In der Neuhauser Straße sitzt ein Invalide auf dem Gehsteig und singt zum Gekreisch der Straßenbahnlinien 1 und 19 »Und im Gebüsch das muntre Rehlein springt«. Dem Musikanten fehlen beide Beine. Nach den ortspolizeilichen Vorschriften ist das Straßen- und Hofsingen verboten.
SALVATORKELLER 1947
Blasius steigt die 77 Stufen am Nockherberg hinauf und buch stabiert die vom Rost zerfressene Inschrift am Eingangstor: »Salvatorkeller«. Beim Betreten des Gartens hätte er fast den Hut abgenommen wie an einem Wallfahrtsort. Über der Schenke, an der einst um diese Zeit das zwölfprozentige Starkbier ent sprang, hängen statt der grünen Girlanden graue Spinnweben. Die großen Maßkrugspültröge sind zerborsten. Der verlassene Wirtsgarten träumt in der Märzsonne von dem fröhlichen Ge triebe einer besseren Zeit. Mauertrümmer, alte Konservenbüch sen und Blechfetzen liegen zwischen den narbenbedeckten Bäu men herum, am Musikpavillon kündet eine vergessene Preis tafel immer noch Wollwürste, Regensburger und Schlachtschüssel an. In einer Ecke des verfallenen Salettls fault ein Haufen Ka 3°
stanienblätter. Zwischen den Dampfheizungskörpern schießen Brennesseln ins Kraut, und mannshohe Hollerstauden wachsen aus dem Saalboden. »Da muaß unsa Tisch g’wesn sei«, murmelt der einsame Spazier gänger, und geht langsam auf einen Palmkatzlstrauch zu, in dem er mit der Spitze seines Hacklsteckens herumstochert. »Suacha S’ was, Herr Nachbar?« fragt ihn einer. »Na, na«, ent gegnet er, »ma ko nix suacha, was ma do nimma findt.« Plötz lich bückt er sich und hebt einen abgesprungenen Maßkrugdedcel hoch. »A Suwenir«, sagt er leise, steckt ihn in die Tasche seines grünen Lodenmantels und geht.
BLASIUS BEI DEN MÄDCHENHÄNDLERN
Blasius besucht, nichts Böses ahnend oder im Schilde führend, eine Münchner Bierschwemme. »Der Welt größter Bierausschank« stand einmal über der Pforte dieses traditionsreichen Gebäudes. Heute herrscht ein höchst sonderbarer Betrieb in diesen Hallen. Gleich am Eingang werden Mädchen gehandelt. Ein Geschäfts mann aus der Provinz mit Händen wie ein baureifes Grund stück interessiert sich sehr für eine Rotpulloverte. Die hat so viel »Holz vor der Hüttn«, daß sie sogar dem eisgrauen Ordnungs mann noch warm macht. Ein junger Al Capone mit der Ge sichtshaut einer Mondlandschaft führt dem »Onkel« die ambu lante Musterkollektion aus der Dietlindenstraße vor, erhält da für die ortsübliche Provision von einer Mark, und das Pärchen zieht ab. Jetzt erst bemerkt Blasius, daß aus dem Dunkel des Vorraumes noch mehr Amazonenaugen auf »Onkels« Ausschau halten. Jede der Beschäftigungslosen beschäftigt dabei einen »Schlepper«, und 3i
nach längerem Verweilen muß Blasius feststellen, daß der Betrieb etwa einem Taxameterstandplatz ähnelt, jedes Gefährt schön der Reihe nach drankommt und wenn es von großer Fahrt zu rückkehrt, wieder hint' anschließen muß. Blasius denkt nach: gab es früher nicht wenigstens für diese jungen männlichen »Sexualrentner« einen Paragraphen im Strafgesetzbuch? Ganz in der Nähe steht ein Schutzmann, den Blick ins Unend liche gerichtet. Sein Gewissen scheint weit und ruhig wie die Lüneburger Heide. Manchmal betrachtet er sinnend die Trauer ränder an seinen Fingernägeln. Sicher weiß er, daß er Schutz mann ist, ein Hüter der Ordnung. Aber kann er vielleicht etwas behüten, was bei den Mädchen schon längst nicht mehr vorhan den ist? Oder soll er vielleicht darüber wachen, daß keine Preis überschreitungen vorkommen? Na also. Blasius tut ein paar Schritte ins Innere des Biertempels. Gleich spricht ihn eine Dame an, die als einzigen Reiz über den Brech reiz verfügt, der aber leider den Spaziergänger befällt. Ein ge setzter Herr mit grünem Lodenmantel, der sich sehr geheimnis voll vorkommt, geht zwischen den dichtbesetzten Tischreihen auf und ab. Als er sich dem Ausgang nähert, singt ihm eine an geheiterte Tafelrunde als Abschiedslied:
Kriminaler, des is fad san da schtendig auf da Naht, doch man kennts zum guatn Glick gleich auf den ersten Blick. A jeda hod an Havelock, an greana Huad, an Hacklschtock, und auf drei Schtund, ja des is sehe do heast an jedn geh. Kriminaler hoaßt dea Schtand, weils so grimmig sand ...
SCHÖNER GIGOLO
Im Kammerl des Baderlehrlings René Blinzlstein werden die letzten gemeinsamen Vorbereitungen zum 5-Uhr-Tee getroffen. Bing Käsebirl, der Kaufmannsstift, läßt sich seinen »Henker« noch nachrasieren und sucht dann verzweifelt sein bolzengerades strohiges Pferdehaar in Louisiana-Wasserwellen zu legen. »Oiso Ehrenwort, agrat wia da Bing Crosby schaugst aus - i garantier’ d’as«, stellt der Beilhackl Jonny fest, während er sich mit einer ungemein ordinären Beißzange die überzähligen Augenbrauen haare auszupft. Wie die drei dann den »dancing room« betreten, spielt der Jonny
träumerisch mit seinen Autoschlüsseln, die aber in Wirklichkeit nur in Beilhackls Hasenstall sperren, und am rechten Hosenfuß hängt noch versehentlich der Hosenspanner vom Radifahren. Dann ertönt die Trommel, und der Bader legt als erster den 33
Tanz der Derwische, Tempelpriester und Azteken hin, einen Samba. Der junge Käsebirl geht beim Tango wie auf Kunsthonig, und seine Augen wetteifern an Glanz mit seinem Hosenboden. Bevor der Jonny seine Be-Bop-Braut übers Parkett schleift, hat der mit dem Zeigefinger ein Loch in die Luft gebohrt, wie bei einer Stenographie-Vorübung. Die Spielberger Emma weiß dann über sechs Tische hinweg, was das bedeutet, und würde sich auf keinen Fall mehr erlauben, mit einem anderen Tangolöwen zu tanzen. Bleich und steif wie eine Stearinkerze liegt sie in Jonnys Armen, denn sie kann den Kopf nicht drehen. Die Bluse der Emma ist nämlich aus Mutters Schrank, und da der Kragen deshalb zu weit ist, hat ihn die »Tangobraut« hinten mit einer großen Sicherheitsnadel zusammengesteckt. Walzermelodien werden von den 5-Uhr-Tee-Gigolos abgelehnt. »Oid-Wean auf da Loata« ist das zusammengefaßte Urteil. Um sein erhitztes Gemüt am Brunnen zu kühlen, geht der Bader auf den stillen Ort. Doch der Wirt hat in weiser Voraussicht und um den Getränkeumsatz zu heben, das Wasser abgesperrt. »Ay-ayay-Maria«.
ELFENREIGEN AUSVERKAUFT
Unter den Büschen des Alten Botanischen Gartens lehnen frischgemalte Bilder. Einige Menschen mit ungemein nackten Hälsen gehen auf und ab, das sind die Maler. Auf dem Plan erscheint Frau Walburga Tschumpel mit einer Markttasche, aus der Porreestangeri und Radischwanzl herausschauen. »Wos Korrekts dad i braucha, wos Solids ibas Bett vo mein Hannerl, weils heirad«, spricht sie einen der Jünglinge an, die an den aus34
gestellten Bildern schuld sind. »Da käme für Sie«, findet einer der Modernen, »wohl nur meine Synthese des Liebeslebens mit versilbertem Rahmen in Frage - nur fünfundvierzig Mark.« Fassungslos betrachtet Frau Tschumpel das Bild, das aussieht wie eine totalgeschädigte Vierfruchtmarmeladefabrik und wendet sich zum nächsten Künstler. »An Elfenreign häd i gern ghabt, wissns scho, in original öl, wenn’s geht.« Elfenreigen führe man nicht mehr, wird der Tschumplin erklärt, man zeigt ihr ein anderes Bild, betitelt »Seifenblasen«. Lange steht die brave Frau davor und sucht sich über das Kunstwerk, das in ihr eine Vor stellung von halbaufgegessenem Topfenstrudel, Kuttelfleck und Pulswärmern erweckt, klarzuwerden, dann meint sie abschlie ßend: »Der häd seine Soafablasn aa liaba zum Hemadwaschn hernema soin, statt daß er s’ ois Buidl vakafft!«
DIE LETZTEN STAMMTISCHLER
»Da ,Rauchklub Vesuv“, d’ ,Käferloher“, da ,Stopselklub“ und da ,Sparverein Solid“ - in jeder anständigen Wirtschaft hat’s an Stammtisch gebn«, grantelt der Kaminkehrermeister Schlegl. »Und grad de bestn Tarocker hat’s in dem saudumma Kriag dawischn müassn.« Er bahnt sich einen Weg durch die Stuhl reihen des »Augustiners« zum Stammtisch der »Kritischn«. Über dem Tisch lagert ein grauer Rauchpilz wie nach einem Atom bombenversuch, und in dem Dunst der »Heimgartenernte 47« ist nur das Tropfenfängerprofil des Friseurgeschäftsinhabers Ha senglück und der rote Tomatenkopf des Hausverwalters Zwickl eder zu erkennen. Seit 25 Jahren wallen die »Kritischn« jeden Abend zu dieser kleinen Insel des Friedens und schimpfen ab35
wechselnd auf das dünne Bier, die Preußen und die jeweilige Regierung. »Sauber g’haxt«, sagt noch immer der leberkranke Kanzleiassistent Redlich bei jedem weiblichen Wesen, das am Stammtisch vorübergeht, wie schon vor 25 Jahren. Um sieben Uhr räumt die Resi den Tisch ab zum Haferltarock. Seit 25 Jah ren schindet der Bader verlegen lächelnd mit dem Zehner auf die As, und der Glasermeister Kitt sitzt zwinkernd als Kiebitz daneben. Schon um neun Uhr macht sich der Hausverwalter als erster auf den Heimweg. »Jetzt geht a, weil a g’wunna hat«, stichelt der Kaminkehrer, aber der Glaser verteidigt ihn: »Dea geht doch bloß hoam, weil a Angst hat, daß er übafoin werd, der wohnt am Untaanger, des is a ganz a g’fährlichs Viertel, da muaß ma bei jeder Straßenkreuzung z’erscht an Huat ums Eck hoitn, bevor ma umigeht. I bleib no da! I hab an Schraubnschlüssl dabei zum Zuahaun.«
FERIENMELODIE
Ohne Schuh und ohne Strümpfe, die Füße schwarz wie Bri ketts, angetan mit Tuchhose und Leiberihemd, im hinteren Ho sensack einen Keil Brot, einen Batzen Teer und einen Apfel butzen, so atmet der Stinglhammer Gori am liebsten die be glückende Ferienluft. Eben hat sein Spezi, der »Goase«, einen Schlüsselbund an einer dünnen langen Schnur befestigt, den Schlüsselbund auf die Hauseingangstreppe gelegt und mit dem Gori hinter dem Hydranten Stellung bezogen. Die dicke Frau Schmiermaul vom zweiten Stock naht, stutzt und bückt sich schnaufend, um den angeblichen Fund zu bergen, wobei ihre Bluse mit einem dumpfen Knall platzt wie bei einer Blutwurst 36
die Haut, - da zieht der Gori an der Schnur. Die Schlüssel be wegen sich gespenstisch und klirrend in Richtung zum Hydran ten. Frau Schmiermaul erwischt gerade noch ihr Gebiß, das ihr der Schreck aus dem Mund stößt, im Fluge, und ihr falscher Zopf sträubt sich im Spätsommerwind. Bis sich die Entsetzte wieder gefunden, Gebiß und Zopf versorgt hat und die Ver folgung aufnehmen will, sind die zwei Sünder schon längst da bei, dem Hausmeister Wichtig ein Zündholzsteckeri in den elek trischen Glockendrücker zu stecken. Dann treffen sie an der Sandkiste auf die anderen Sendlinger »Hunds-«, »Laus-« und »Gassenbuam«. Zerschunden und verfolgt, hungrig und von Brennesseln zerstochen, so kehren sie abends dann heim zu den väterlichen Reistöpfen, und der Gori stellt an seinen Freund Goase die tiefsinnige, wohl von keinem Erwachsenen zu ergrün dende Frage: »Mechst jetz du a Gaul sei, wennst recht reich waarst?«
BESCHWINGTE WEISEN
Blasius kriegt eine Eintrittskarte für ein Konzert geschenkt. »Die Musik beflügelt den Geist«, sagt man zu ihm, und Blasius meint: »Des is wohr«. Außer ihm sitzen nur einzige drei Platterte in dem von Jugendlichen überfüllten Saal, was ihn schon etwas mißtrauisch macht. Auf dem Programmzettel steht »JazzConference« und die Namen Louis Armstrong, Dizzie Gillespie und Sidney Bechet. »Von dene is ma koana bekannt«, sagtBlinzl. Das Konzert geht damit an, daß der Kapellmeister seinen Kopf schüttelt, als ob er ihn loswerden will. Dann blasen die Trom peten. »Da muaß freili da Verputz von de Mauern von Jericho 37
ab’bröckelt sei, wenn man a so einiblast«, stellt Blasius fest. Be sonders ein Trompeter mit einem langen Salamihals, an dem der Adamsapfel auf und ab steigt wie eine Jo-Jo-Scheibe, bläst alle anderen in Grund und Boden hinein. Auf einmal rutschen sämtliche Musikanten auf den Stühlen hin und her und krüm men sich wie Schulbuben, wenn sie zwei Finger heben. Ein Neger erscheint und singt, selber gerührt, ein Lied von einem Flamingo auf englisch. Sein Mund wird abwechselnd klein und groß wie der Schlitzverschluß von einem Photoapparat. Man sieht ihm manchmal bis in den Magen hinab, in dem ein halber Apfel und eine Semmel liegen. Laute Pfiffe werden hörbar. Von einer unsichtbaren Hand wird der Schlagzeugmann geschüttelt, als wäre er eine Personenwaage, in der das Zehneri stecken geblieben ist und wieder heraus möchte. Aber zum Zeichen, daß wirklich kein Zehneri in ihm steckt, öffnet er den Mund und sagt laut »a-a-a-h«. Und gleich machen es die andern nach, obwohl man sie gar nicht verdächtigt hat. Ein Mann neben Blasius er klärt, wenn einem diese Musik nicht gefällt, dann sei er einfach ein Nazi. Dann ist Pause, und die Trompeter stecken eine Hülse auf ihr Trompetenmundstück, damit während der Brotzeit keine Tone verlorengehen. Nach der Pause macht ein Musiker 100 Kniebeugen vor der Trommel. Und auf einmal ist die Hölle los. Es beginnt damit, daß der Klavierspieler versucht, seine Krawatte aufzuessen. Die Trompeter heben ihre Rohre zum Himmel, der Schlagzeuger zer schlägt sein Geschirr mit splitternden Schlegeln, während der Cellist die Darmsaiten um den Geigenbogen wickelt. Irgendwo zerkracht ein Stuhl, und Coca-Cola-Flaschen knirschen unter ekstatischen Kreppsohlen. Ein sympathischer Herr auf der Galerie will über die Brüstung springen. Ein Gurgeln geht durch den Lautsprecher, denn der Sänger hat die allgemeine Verwirrung 38
benutzt und das Mikrophon, das er immer schon anzubeißen versuchte, verschluckt. »Des ko do net in de Not’n steh!« staunt Blasius und blinzelt nach dem Notausgang. Hüte fliegen empor und werden in der Luft zerrissen, Brillen zerschellen auf dem Parkett, Gummi mäntel zerfetzen, und von Sakkos platzen die Knöpfe ab, wie Kastanien im Herbst. Hinauf mit euch auf die Buchsbäume. »Ihih - jh - jh.« Blasius erreicht mit Not das Freie. Draußen fragt ihn der Re porter einer bekannten Wochenzeitung: »Nun, Sie sind doch mal so’n richtiger Münchner - wie hat Ihnen detDing gefallen?« »No, recht guat!« sagt Blasius. »Schad, daß koa Bier-Ausschank dabei war, sonst hätt’n s’ vielleicht aa no mit de Maßkrüag zuag’schmissn. Nacha waar’s erseht zimpfti worn!«
DES SAN TANZ!
Ein Herold stieß ins Horn, ein Portier in Generalsuniform brachte mit seiner brennenden »Collie« einen Luftballon zum Platzen, und 26 Tänzer erhoben sich aus ihrer Osterhasenstellung zu einem der klassischen Wettbewerbe des 20. Jahrhunderts, zum Marathon-Tanzturnier. Schlagartig um 20.30 Uhr mitteleuropäischer Zeit begann die Musikkapelle zu arbeiten wie ein Sägewerk mit vier VollgatterMaschinen. Ein Reporter hatte schnell errechnet, daß das Tanz paar, das den Berliner Rekord von 132 Stunden brechen wollte, eine Wegstrecke von wenigstens 660 Kilometern zurücklegen müßte. Der Atem, den dabei der Trompeter der Musikkapelle für diese gute Sache verpuffen würde, reichte aus, um den Zep pelin ZR 3 zu füllen. 39
Paar Nummer eins: Sie, die Unterlippe verächtlich vorgeschoben, die wahrscheinliche Derbysiegerin. Er, ein verhinderter Harald Kreutzberg. Nummer zwei: Sie, edles Vollblut aus dem Gestüt Haidhausen. Er, Dr. Crippen an Bord. Paar Nummer vier: frische Resie mit Waldbauernbub. Paar Nummer fünf: Harems schönheit Suleika, vollfett und ergeben. Er, teilnahmslos wie ein Chow-Chow. Nummer sieben: Romeo und Geierwally. Nummer acht: Witwe Bolte mit Reformschuhen, das Taschentuch in der Rechten, in der Linken einen Gerichtsreferendar, der die ersten sechs Stunden kein Wort spricht und dann noch wesentlich stiller wird. Nummer zwölf: nach zehn Stunden wegen unreiner Gang art des Tänzers disqualifiziert, die Partnerin weint. Zum erstenmal in der Münchner Kulturgeschichte hat das Polizei präsidium für die Dauer des Dauertanzturnieres die Polizei stunde aufgehoben. Im Bunten Saal der Le-Ha-Gaststätten herrscht Sechs-Tage-Stimmung. Ballgeflüster: »Schaug da de Numero oans o, de is aufzäumt wia a Sechsa-Böckerl!« - »Pfüat di God, de oane is ja älta wia da Böhmawald, und der is scho zwoamoi abghoizt worn.« - »Wenn de mit ihrane foischn Zähn klappert, kumma ja de andern alle aus’n Takt.« - »Mia g’foit’s ganzguad, de Danzerei, oiweino bessadanz’noiswiaexazia’n.«Im Hintergrund des Saales steht eine spanische Wand, hinter der ein Arzt auf die ersten Patienten wartet. In einem anderen Saal liegen Strohsäcke. Dreizehn Stück für die Gigolos und dreizehn für die Walkathonierinnen. Vier Stunden Zwangspause, von sechs bis acht Uhr früh und 14 bis 16 Uhr nachmittags, müssen ein gehalten werden. Ein Mädchen mit einer Schaumrollenfrisur stricht während dieser Zeit, ein anderes liest »Die gute Erde«. Bei den Jünglingen bearbeitet einer die Sohlen seiner SambaSandalen mit Gleit-und Steigwachs. In der Frühe gibt es Bohnen kaffee und Buttersemmeln gratis. »Eine Prämie von 20 Mark für den besten Boogie-Woogie.« Paar 4i
Nummer eins, Jonny Kastner mit Partnerin, legt los. »Halt, warum streiten denn die beiden plötzlich? - Oh, er reißt sie zu Boden - (,Ay - ay - singt der Mann am Klavier) - Jetzt legt er sie übers Knie - Jetzt erwürgt er sie - wo bleibt denn bloß der Ordnungsmann.« Der Geiger auf dem Podium hat seine Fiedel fast bis zur Mitte durchgesägt. Alles gerät in Ekstase. Die Zuschauer stampfen, die Walkathon-Paare benehmen sich wie Derwische. O Jonny, was machst du mit deiner Tango-Braut. »Bring sie lebend heim.«
REISE INS OBERLAND
Etwa zwei Dutzend Ausflugs-Omnibusse fahren täglich von München aus ins Oberland, an den Tegernsee, den Kochel- und Königssee, in die Ramsau oder den Chiemgau. Männer und Frauen aus allen Teilen Deutschlands, Persönlichkeiten mit nach weisbaren Verkaufserfolgen, wie sie in den Inseratenteilen der Zeitungen verlangt werden, enttäuschte Fräuleins und viele andere finden sich jeden Morgen an den Omnibusbahnhöfen beim Bunkerhotel und am Lenbachplatz ein. Um 8.30 Uhr fährt der rotlackierte Landstraßenkreuzer ab. »Platz nehmen, bitte!« 37 Fahrgäste senken die Köpfe, ziehen die Schultern hoch und berennen heftig die Einsteigeluken. Ein Herr aus Eßlingen mit einer Knickerbockerhose, in die ein großer Währungsreform-Erweiterungszwickel eingesetzt ist, hat sich den Platz neben dem Omnibusfahrer erobert und hält sich mit weichen Knöcheln fest. Als er sieht, daß ihm sein Postament von niemand streitig gemacht wird, blickt er zufrieden um sich wie der Erdal-Frosch. Er gibt dem Omnibussteuermann, einem Phä 42
nomen an Geduld und Langmut, dauernd Fahranweisungen. Er ist Kraftfahrzeugsachverständiger von Marburg-Stadt- und Landkreis, wie er unaufgefordert erklärt. Durch das Plexiglasdach des Fahrzeugs dringt die Altweiber sonne. Auf der Höhe von Ammerland verzehren zwei schmal hüftige Damen einen Mainzerkäse. Immer wieder macht der Reiseführer auf die Ammer aufmerksam. Die Ammer, roman tisch, wild, lieblich und seicht. Es ist aber immer dieselbe Ammer, genau wie die Kalbfleischspeise, die mittags kollektiv eingenom men wird und die auf der Karte die abenteuerlichsten Bezeich nungen führt. »Weiter drin im Ammergau wird die Ammer noch schöner«, verkündet der Chauffeur, und ein grantiger Münchner meint: »Wos, no schena, des hoit ja koa Teifi mehr aus!« Nachmittags wird in einem jener entlegenen Gebirgsdörfer Halt gemacht, »wo sich die Bevölkerung noch mit Feldpostkarten schreibt«, wie der Erdal-Frosch witzig bemerkt. An jedem Weg weiser stoßen einige Ausflügler spitze, erschütternde Schreie aus, was sie für Jodeln halten. Manche verschönen die herrliche Land schaft mit Pergamentpapier, Wursthäuten und leeren Film packungen. Alle aber schnaufen gierig den Ozon ein. Dann geht es weiter in einen Marktflecken, der durch seine Passionsspiele weltbekannt ist. Die Gegend ist schön wie ein Gemälde. Die Omnibusgäste aber suchen hastig nach den zwölf Aposteln, die ihnen vom Reiseleiter versprochen wurden. Angeblich sollen alle Einheimischen schon Bärte tragen, da das Passionsspiel wieder aufgeführt wird. Es scheinen aber nur wenig Einheimische in dem Dorf zu sein, denn der einzige sichtbare Bärtige ist ein Eisver käufer, der aber, wie er selbst erklärt, seinen Bart nicht trägt, weil er ein Apostel werden will, sondern weil er einen Kropf hat. Auf der Heimfahrt schreiben viele Fahrgäste ihre Eindrücke in Notizbücher. Jedesmal, wenn der Mann am Steuer eine witzige Bemerkung macht, lachen die beiden Damen und der dicke Herr 43
mit dem Währungszwickel gezwungen, als wären sie noch etwas schuldig, während die Fahrt inklusive Beförderungssteuer doch schon vorher bezahlt werden mußte. Als der Omnibus amElisenbunker hält, macht der Fahrer den Schlag auf und ist besonders freundlich. Von den beiden Damen erhält er dafür 30 Pfennig Trinkgeld, vom Dicken eine Mark. Die anderen Reisenden warten, bis der Chauffeur nicht mehr herschaut, dann gehen sie weg.
BLASIUS ALS NACHTWANDLER
Zwischen Mitternacht und Morgen wandert der neugierige Spaziergänger auf dem Scheitel Münchens, der Neuhauser Straße, dem Hauptbahnhof zu. Ein paar späte Mädchen blinzeln ihn ohne rechte Überzeugung an, und hinter dem Karlstor kommt ein junger Stiftenkopf auf wiegenden Leunasohlen angeschaukelt und bittet Blasius um Feuer. Der Junge tut einen tiefen Zug, bläst dem Spaziergänger die Rauchfahne ins Gesicht, zwickt ein Auge zu und flötet mit hoher Sieben-Geißlein-Stimme: »Na Süßer«. Am kleinen Stachuspavillon, auf dessen Rückseite sich die öffentliche Bedürfnisanstalt befindet, sieht Blasius noch mehr solche »sunny-boys« herumlungern. Sie haben die Hände in den Taschen, ziehen ihre Sakkos in die Taillen und summen sacharin süße Schlagermelodien. Von Zeit zu Zeit suchen sie ihr Haupt quartier »Für Männer« auf oder wechseln zum »Werk II« - der Bedürfnisanstalt vor dem Hauptbahnhof - hinüber. Blasius wundert sich schüchtern, daß diese Zustände dem Auge des Gesetzes, dem sonst kein fehlendes Radlschlußlicht entgeht, noch nicht aufgefallen sind. Dann schreitet er auf eins der be44
hördlidi genehmigten Frühlokale zu. Diese Gaststätten haben gewöhnlich und mit Erlaubnis der Polizei von ein Uhr nachts bis sieben Uhr früh geöffnet, damit Musiker, Kellner, Artisten oder sonstige Nachtarbeiter nach Dienstschluß noch einen Imbiß oder ein Frühstück einnehmen können. In einer Ecke spielt eine blauhaarige Ungarnkapelle »Trauriger Sonntag«. »Srce moje«, lallt ein Jüngling an der Biertheke, und sein Kopf fällt schwer in das verschüttete Spaten-Export auf dem Barbrett. Auf einem Stuhl sitzt ein Mädchen mit einem Hefenteig-Gesicht, in dem der Mund halb offensteht. Der Mann, ihr gegenüber, hat eine Pyjama-Jacke als Hemd an und zieht gerade seine Skischuhe aus. »Sogn S’ soiba, gibt’s no was Blädas ois a Mandsbuid, jetz hod dea oide Hirsch mid mia scho sein Mantl und sei Sackl vasuffa, jetz mecht a d’Stiefeln aa no vamacha, weil a moant, es geht vielleicht wos bei mia, aba nix riaht se auf da Achs«, sagt das Hefegesicht zum Ober, der jedoch das Stiefelangebot ablehnt. In einer Ecke wickelt ein betagter Kellner zwei Eierweckeri aus dem Papier und taucht sie genießerisch in den warmen Kaffee, wobei er lange Zahlenkolonnen murmelt. Ein besoffenes Pärchen fängt an zu streiten: »Was war’n denn deine Leit’ scho«, schimpft der Galan, »ihr habt’s vor lauta Kohldampf an Kitt aus de Fensta rauskratzt, und dei Vadda had Stadlheim vo innen aa bessa kennt wia d’Michelskirch’.«
Die Tur geht auf, und ein bildschönes Mädchen mit einem Silber fuchscape kommt herein. Sie geht auf zwei Stahlstöcken, ihr rechtes Bein fehlt. Mit unendlich abwesenden Augen bestellt sie einen Gin Fizz. Neben Blasius läßt sich ein Mann im Frack nieder. Schnurrt ihn um eine Zigarette an, stiert vor sich hin und erzählt dann mit rostiger Stimme: »Zehn Jahre ha ick abjeriss’n, zehn Jahre ha ick nur’n Baum jeseh’n, imma denselben Baum, Junge.« »Und das elektrische Klavier, das spielt gerade die Serenade vom leeren Portemonnaie«, leiert ein Mädchen, das 45
aussieht wie die frische Resi, und blickt unternehmungslustig um sich. Um sieben Uhr früh ist der Mann mit der Pyjama-Jacke am Tisch eingeschlafen, seine Braut ist entschwunden. Der Kapell meister zieht sich neben dem Piano andere Schuhe an, und das Mädchen mit dem Silberfuchscape trinkt den dritten Gin Fizz. »Imma nua denselben Baum«, sagt der Befrackte neben Blasius und zeigt dem Spaziergänger einen verknitterten Entlassungs schein aus der Strafvollzugsanstalt Straubing.
FRÜHLINGSSCHMERZ
Auf den »grüngestrichenen Kanapees« am Gasteigberg sitzen die Spitaler in der dottergelben Frühjahrssonne. »Grod guad duads oan«, meint der ehemalige »Staudenjäger« Zinsl und reibt sich die gichtigen Hände. Sein Banknachbar, der Altersheim insasse Bonifaz Eisenzahn, schiebt sich die abgegriffene Eisen bahnermütze über den Nasenrücken und döst, den Hackelstecken mit dem Gummipuffer zwischen den Beinen. »Sausts, da Vawoita hod uns dalurt«, schreit ein zehnjähriger Haidhauser Leder strumpf und rennt einer Schar Buben voran, die Gasteigwiesen hinunter. Im Nu ist Bonifaz Eisenzahn wieder zehn Jahre alt und rennt mit. Abends geht er dann im Geiste mit der Höger Nanni, mit der er vor fünfzig Jahren »gschobn« ist, zum Flieder stehlen. Die ersten Zigaretten würgen ihn noch einmal, und als er daran denkt, wie er, angetan mit des Vaters Kragen, das Fräulein vom Wachsfigurenkabinett angeschnauzt hat, schüttelt ihn ein lautloses Lachen, daß der »Schtaude« verwundert hoch fährt. Eisenzahn aber träumt weiter von Française und. Schieber melodien, Feuersalamandern, Treueschwüren, Shimmyschuhen 46
und seiner ersten »Kreissäge«. Noch einmal gehen seine Gedan ken den Weg, der einst so wirr war, so vage und doch so fest, zurück, den Weg in die Jugend. Da hört er das leise Rauschen von Frauenkleidern neben sich, begleitet von einem dankbaren kleinen Aufseufzer. Einmal sollte sie halt nochmal neben ihm
sitzen, die Nanni, denkt der Bonifaz, und er zählt langsam bis fünfzig, bis hundert, bis einhundertsiebzehn, dann schiebt er sich das Eisenbahnerkapperi rasch ins Genick, öffnet erinnerungs trunken die Augen und schaut um. Ein altes Weiblein hockt neben ihm auf der Bank, und ihr freundliches, rotbackiges Gesicht glänzt in der Sonne wie ein überreifer Apfel. »Dea wead schaung«, schreit einer der Buben, die langsam wieder über den Berg heraufkommen, und Eisenzahn erhebt sich und stelzt auf steifen Beinen dem Schnapslerladen in der Rosenheimer Straße zu.
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BETRÜBLICHES LACHKABINETT
Lustlos geht das Herbstfest zu Ende, von dem man im vorigen Jahr hoffte, es würde diesmal den guten alten Namen »Oktober fest« verdienen. Der Münchner blickt sich noch einmal im Bierzelt um. »Wiar a Trauerversammlung!« Trübsinnig spült er sich mit dem Dünnbier seinen hungrigen Magen aus. Im »Lachkabinett« steht er vor seinem Spiegelbild, das ihn mit stattlichem Bauch und stämmigem Gnack wiedergibt, und betrachtet es lange ge rührt, so wie man seine Jugendphotographie anschaut. Er legt seine Hand auf die grüne Trachtenweste und greift ernüchtert ins Leere, worauf er rasch mit einem feuchten Glanz in den Augen ins Freie geht. »Naa, des is nimma zum Lacha!« Ein kleiner Bub bettelt ihn an: »Bittschön, Herr, schenkens mir aZwanzgerl zumKarusoifahrn!« Der Herr langt ins »Schilätaschl« und fingert ein paar Brief marken heraus. »Woaßt was, Bua«, sagt er plötzlich, »fahr’n ma mitanand, aber mit der Krinoline, des is no was solid’s - magst?« Als sie dann beide zur Melodie »Am Golf von Biskaya« zum blauen Segeltuchhimmel hinaufschweben, um mit einem leichten Magenkitzel wieder hinabzugleiten, kommt eine hoffnungsfrohe Leichtigkeit über unseren alten Münchner: »Siehgst as, Bua«, sagt er, »so is ’s Leben: genau wia a Krinoline, es hängt net allawei’ auf oa Seit’n - geh her, fahr’ ma no amoi!«
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WINNETOU AUF DER FLAUCHERWIESE
»Zoin wean ma do a no was - pshaw - do muaß da Wigg auf a aufblasne Obststranizn draufhaun, und wenn da Ordnungsmo nachad umschaut, pretsch ma an eahm vorbei.« Der Kriegsplan vom Brandmeier-Waggi, Sträußlreich-Beni und Zinsl-Gaggi ge lingt, und aus ihrem Versteck zwischen Brennesseln und Holler stauden können die »letzten Mohikaner« vom Glockenbach das Original-Wildwest-Drama »Winnetou«, das seit Wochen auf der Flaucherwiese von einer Gruppe stellungsloser Schauspieler in szeniert wird, verfolgen. Eben tritt Winnetou über den Radler weg auf das Brachfeld. Die Silberbüchse in der Rechten, das edle Haupt stolz erhoben. Unter einem Blutahornbaum sitzt eine Gruppe roter Squaws, eifrig ins Gespräch verwickelt. Ihre Dis kussionen drehen sich nicht um das Gerben von Büffelhäuten, sondern um Nylonstrümpfe, Kirschenpreise und Kants »Kritik der reinen Vernunft«, denn einige der roten Ladies wurden vom Studentenschnelldienst ausgeliehen.
Nun teilen sich die Büsche erneut. Man sieht im Hintergrund einen Schutzmann mit Gummiknüttel und im Vordergrund Old Shatterhand, den Schrecken der Komanchen, Delawaren und anderer Schurken, die sich auf den Prärien tummeln. Da fällt auch schon der erste Hieb. Wie ein Stachanow wütet der »Sieg fried des Rio Grande« unter den schuftigen Ureinwohnern. »Uff, uff«, stößt der Sträußlreich-Bene im Gebüsch hervor und betupft die vielen Brennesselstiche auf seinen nackten Wadln mit Speichel. Aus einem Zelt, auf dem noch die verwaschene Inschrift »Stadt werke München« zu erkennen ist, taumelt der betrunkene Rattler hervor und streckt den »weißen Vater« mit einem wohlgezielten Büchsenschuß nieder. Dafür kommt er an den Marterpfahl. »Das wird ihn teuer zu stehen kommen, wenn ich mich nicht irre«, meint Sam Hawkins, dessen Erscheinung der Phantasie der Zu 49
schauer in jeder Weise entspricht. Hüpfend und wilde Schreie ausstoßend, umkreisen die malerischen Gestalten der Apachen, deren romantische und farbenprächtige Kostüme allgemeine Be wunderung erwecken, ihre Opfer. Aha, da taucht endlich auch der Bösewicht Sanier auf. Als der rote Zarewitsch Winnetou von seiner meuchlerischen Kugel fällt, spannt der Zinsl Gaggi wort los seine Steinschleuder. Einen Kirschkern legt er in die Leder schlaufe. Lange und genau zielt er auf den Wegelagerer Santer, und als der Gummi schnalzt, hört man aus dem Gebüsch einen unterdrückten Fluch. Der Brandmeier Waggi aber fragt: »Hast ihn ’troffen, Bill?« - »Well«, sagt der Angesprochene und fährt sich mit dem Handrücken über die feuchte Nase - »genau zwischen d’Augen.« Beim Heimgehen sagen die Alten: »Woaßt as no, Xaverl, beim Flaucha ham mia früha aa oiwei Indiana gschpuit. Amoi ham ma an ,Hartherz‘, des war da Voglmeier Hanse, der wo jetz Schutzmann is, an an Baam higfesselt und vagessen, nacha is a de ganze Nacht droghängt. Dafür hod a mi schpäta amoi aufgschriebm, weil an mein Radi koa Schlußliacht war.« Die Halbwüchsigen: »Wos moanst nacha du, Franze, häd da Old Shatterhand an Winnetou sei Schwesta g’heirat?« - »Geh, de hat eahm doch nix wolln!« - »De wead eahm nacha nix woin ham, wo s’ ihra Vadda mit an ganzn Sackl voll ,Nugget' nach Santa ... Dingsda g’schickt häd, ins Gymnasium.« Und die ganz Kleinen: »Moanst, daß ’s no Komanchen gibt im wuidn Westn?« - »No ja, a paar werd da Old Shatterhand scho noch übalassn ham.« - »Woaßt wos, Moare, wenn ma aus da Schui san, nacha fahrn ma nüba an Rio Grande ...« »Winnetou« auf der Flaucherwiese war ein großer Erfolg. Wenn ich mich nicht irre.
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LEDERSTRUMPFS ERBEN
Schaurig ertönt das Gebrüll der Löwen aus dem nahen Hella brunn. Unter der Schinderbrüdce huschen fremdartige Gestalten hin und her. Der berüchtigte Indianerstamm der »Sendlinger Apachen« hat hier seinen Versammlungsort. »Uff«, sagt der Häuptling »Weißer Käse«, dessen Stirn ein altes Strapsgummi band mit zwei Hühnerfedern aus der letzten Hausschlachtung schmückt, beim Kriegsrat. »Verwischt alle Spuren, denn der einarmige Aufseher Flachszopf ist auf unserer Fährte. Wenn er herausbringt, daß wir die Rollwagl entgleisen lassen haben, meldet er uns beim Lehrer - und der legt uns über.« Die Buben ziehen ahnungsvoll ihre Rupfenhosen zurecht, bis der Unter häuptling »Blauer Heinrich«, der an seinem Kopf zwei Hörner von einem Schafbock befestigt hat, das Wort ergreift: »O großer Häuptling, die Sonne neigt sich nach Westen, graben wir das Kriegsbeil ein, denn ich muß nach Hause und meinem Vater sein Radi putzen.« »Du feige Memme«, entgegnet ihm darauf der »Weiße Käse«, »du willst uns also verlassen und dich zum Knechte eines verhaßten Bleichgesichtes erniedrigen!« Einen Augenblick zögert der »Blaue Heinrich« noch, doch dann ver teidigt er sich entschlossen: »Woaßt was, Alisä - mi leckst - mei Vadda is Bierführer und hat a Goaßl!« und im Dauerlauf mit angewinkelten Armen setzt er sich in Richtung Dreimühlenviertel in Bewegung. Seine Bockhörner versteckt er in einer Ruine.
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ZAMPERL MIT DER HOLZWOLLSEELE
Es sind nur mehr zwei von einem guten Dutzend in München, die das Gewerbe eines Tierpräparators heute noch ausüben. Bussarde, Eulen, Iltisse, Hirschköpfe, Auer- und Spielhähne hängen an den Wänden der kleinen Werkstatt im dritten Stock des alten Mietshauses. Und auf dem Boden gruppieren sich Hunde und Katzen, sprungbereite Gemsen und spielende Reh kitze. Ein altes Mutterl klopft an und tritt ein, hält ein kleines Päckchen aus Zeitungspapier in den Händen, ihren toten Hansi. »Weil ma hoid so an eahm g’wohnt san, hat mei Mann g’moant, ich soll’n ausstopfn lass’n«, bittet sie mit belegter Stimme. »SchaugnS’, so liab hod er oiwei gschaugt«, und sie legt den Kopf schief auf die Schulter, wie wenn sie um ein Salatblattl betteln wollte. Museen, Schulen, Jäger und Sammler zählt der grau köpfige Präparator zu seiner Kundschaft und natürlich viele Tierfreunde. Hunderte von Kanarienvögeln, Kätzchen, »Fiffis«, Waldl und Zamperl hat er im Verlaufe seiner 50jährigen Tätig keit ausgestopft und ihnen Holzwollseelen eingehaucht. Tausende von naturgetreuen Augenpaaren von der Fledermaus und vom Steinadler, vom Siebenschläfer und Elchbullen füllen neben vielen anderen Requisiten sein Arsenal. »Oana von meine liabsten Kunden war ma da Karl Valentin«, erzählt der Alte, »stunden lang is a oft in meina Werkstatt g’sessn und hod zuag’schaut. A paar Tag bevor er g’storbn is, hod er no a ausgestopft’s Käuzeri b’stoit - i hob’s eahm leida nimma liefern kenna.« Behutsam nimmt der Graukopf einen präparierten Zaunkönig von den Regalen, hält ihn ans Licht und meint sinnend: »Schod is, daß si* für unsern schöna Beruf koa Mensch mehr interessiert - no a zehn Jahrl, dann is a ganz ausg’storb’n.«
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DER STANGERLMO“
»Wenn der Stangerlmo kimmt, muaßt raufgeh’!« sagten einst die Münchner Mütter zu ihren Kindern. Der »Stangerlmo« war der alte Gaslaternenanzünder. Man sah ihn schon von weitem kommen. Das kleine Licht am Ende seiner Zündstange flackerte über ihm wie eine feurige Zunge über einem Apostel auf dem Pfingstbild im Katechismus. Zehn bis fünfzehn Kilometer lang war gewöhnlich der Weg der 165 Laternenanzünder, welche die Stadtverwaltung bis kurz vor dem Kriege noch beschäftigte. Alte Rentner, Invaliden und Wohlfahrtsempfänger verrichteten diese halbamtliche Prometheus-Arbeit. Wenn sie kamen, war es für die Stinglpeter Walli höchste Zeit, das Bier zu holen, die Weid mann Mausi mußte zur Millifrau, wo sie das Haferl schon ein gestellt hatte, und der Weinzirl Wolferl heim zum Aufgab’ machen. Von 1939 bis 1945 verlöschte das Gaslicht in den Straßen. Nachher waren viele elektrische Lichtkabel zerstört, und man brauchte die alten Gaslaternen wieder. Insgesamt 198 verbreiten noch ihr grünliches Licht im alten Neuhausen, am Gestade der Isar und in der Flauchergegend. Die alten Laternenanzünder brauchte man nicht mehr. Man baute Schaltautomaten in die Laternen. Auch die Gassenbuben brauchen den »Stangerlmo« nicht mehr, um zu wissen, wann sie heim müssen, denn sie haben heute Armbanduhren.
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IM BIERKELLER
»A-a-h« - aufseufzend sinkt Bartholomäus Vierling auf den grünlackierten Wirtshausstuhl, der die Hundert-Kilo-Last zwar quietschend, dennoch ergeben in Empfang nimmt. Frau Malwine und Sohn Konrad flankieren das Familienoberhaupt. Der Konradi trägt eine Matrosenmütze mit der Aufschrift: »Doppelschrauben dampfer König Ludwig II.«, Malwine trägt den Rettich und den Kaas. Einen tiefen Trichter bläst der Bartl in den Schaum des gefüllten Bierkruges und nimmt sich fest vor, dem »Verein gegen betrügerisches Einschenken« beizutreten. Unter feierlichem Stillschweigen wird der Rettich geschnitten, sehr lang und sehr dünn. Wie einen Abreißkalender muß man ihn durchblättern können. Der entblößte Romadur liegt bleich und gefaßt auf dem Teller. Nachdem Vater Vierling den Maß krug so lange in Schräglage gehalten hat, bis er mit geschärftem Auge den steinernen Boden sieht und das Gefäß so leer ist wie ein umgedrehter Hosensack, bekommt es der Konradi mit der Ermahnung: »Do, dring’s langsam aus, aba daß d’ koan Rausch griagst.« Wie die Spiralnebel den Saturn umkreisen, so ziehen die Käseschwaden um den Biertisch der Vierlingen Nach dem vierten Strich auf dem Bierfilzl ordnet Malwine den Aufbruch an. Der Bartl erhebt sich, und die Blechmusik spielt das Lied »Was machst du so traurige Augen?« Das Kaaspapierl hat der Konradi in der Hosentasche. Er will damit seinen Tomahawk zum Indianerspielen überziehen.
DER LUCKI
Am Auer Mühlbach oder am Feuerbachl stand seine Wiege, überschattet von den mahnenden Zinnen des Untersuchungs gefängnisses Neudeck. Mit drei Jahren unterschied er bereits die drei »Kritischen« beim Watten, die vier Gspusi seiner großen Schwester und sämtliche Kriminaler seines Reviers namentlich. Mit 14 Jahren war er ein anerkanntes Früchteri, rasierte sich täg lich, trug lange Koteletts und gelbe Shimmy-Schuhe. Wenn er abends mit den andern am Hydranten stand und die Firnkäs Marie vom Bierholen kam, versprach er ihr das Heiraten, wenn sie ihn einmal trinken ließe. Später, als der Lucki auf dem Bau arbeitete, bog er sein Mützenschild aufwärts, trug eine »Spreitz’n« hinterm Ohrwaschel und befestigte vorne amBünderl des kragen losen Hemdes einen Bierflaschlgummi. Die tätowierten Arme hielt er athletenhaft vom Körper weg. Als der »Akkord« aus bezahlt wurde, mietete der Lucki zwei Fiaker. In dem hinteren Wagen saß er selbst, auf dem Polster des vorderen aber lag in der Mitte des Sitzes sein Kragenknopf. Heute ist die LuckiDynastie ähnlich wie die der »Straßenbahnschienenritzenreini gungsdame« und der »Mörtel-Zenzi« ausgestorben.
BEI DER SCHINDERBRÜCKE
Heiß wie gekochte Eier sind die glattgeschliffenen Steine am Isarbadestrand bei der Brücke »el Schindar«. In der »Roßgumpen« wurlt es von Badenden wie in einem Hafen voll Nudel suppe. Der Hackl Hanse riskiert gerade von der Staumauer her unter einen Hechterer, erhebt zuerst ein Mordsgeschrei, um die $6
Aufmerksamkeit seiner Spezi und der Spaziergänger, die vom Brückengeländer aus zuschauen, zu erregen, und platscht dann mit einem schnalzenden »Baucherer« wie ein Bügelbrett auf den Wasserspiegel. Ein älterer Herr mit einem Sacktüchl auf dem
Kopf betrachtet sinnend seine Zehen, den einzigen Punkt, den er wegen seines umfangreichen Äquators von seiner unteren Leibes hälfte noch sieht, und geht dann feierlich wie ein Selbstmörder bis zu den Knien ins Wasser. In einem kleinen Seitenarm der Roßgumpen wird der »Schwumm« geübt, der Brustschwumm, der Seitenschwumm, derTotenschwumm und derHundstapperer. Ein kleiner Bub mit einer gestreiften, unter den Armen befestig ten Badehose hängt wie ein Angelköder an einer großen Pine57
Apple-Büchse und treibt gelassen den gefährlichen Stromwirbeln zu. Schwer mit der ungewohnten Hitze ringend und heftig tran spirierend sitzt bei einem Weidenstock die füllige Witwe Meisl in rosarotem Unterkleid und strickt. Auf den Betoneinfassungen des Flußufers liegen jene, denen es nie zu heiß sein kann, auf den Zentimeter genau im Brennwinkel des »Planeten«. Ihre Körper sind gesalbt mit geheimnisvollen Bräunungsmixturen, die dem Geruch nach aus Margarine, Haaröl, Streichwurst und Bohner wachs bestehen müssen. Wenn es Abend wird, erscheinen Lehr linge und Arbeiter, Büroangestellte und Verkäuferinnen am Ge stade. Mundharmonikatöne kommen über das Wasser, und manchmal klingt ein glückliches Mädchenlachen aus dem sanft im Winde sich wiegenden Weidengebüsch herüber.
BLASIUS IM PFANDHAUS
Blasius besucht das Haus Augustenstraße 20, jenes Gebäude, das von seinen Besuchern auch das »Naphthalinsanatorium« ge heißen wird. »Hoppla«, beinahe wäre er am Eingang über ein schäbig gekleidetes Privatunternchmen gestolpert, das sich, im Spaziergänger eine Kundschaft vermutend, mit weinerlichem Tenor zum »Ankauf« aller Gegenstände offeriert, die man in jenem Haus gewöhnlich zu versetzen pflegt. »Schieicha S’Eahna«, murrt Blasius grob und mustert interessiert die Gruppen der Wartenden in der Schalterhalle. Eben schält sich ein Baron mit einem rotblonden Selleriekopf aus seinem Pelz. »Hem, hem wat wolln Se jebn?« - »Fünfzehn Markl«, meint der Beamte, der erheblich nach Mottenkugeln riecht, eiskalt. »Potz Blitz«, wettert der einstige Oberbefehlshaber über sieben Hektar ost-
preußischer Krautköpfe und erläutert dem ehrfürchtig aufhor chenden Schalter-Diensttuer Abstammung und Herkunft seines Waschbärfutterals, die technischen Fehler des Schlieffenschen Aufmarschplanes und die Gefahren der Borkenkäfer für den norddeutschen Nadelwald. Indessen hat der Schaltergeist zwei Haarklammern, ein Hohberger Malzbonbon und das Verdienst kreuz zweiter Klasse aus den vielen Taschen des Paletots her vorgeholt und unter der Wucht des freiherrlichen Vortrages sein Gebot auf 20 Mark erhöht, was vom Sellerie herablassend ak zeptiert wird. Erhobenen Hauptes entschwindet sodann der entblätterte Pfandgast in den harten Augustenstraßenwind, der nach Fahrenheit 18 Grad minus kalt ist. »Ei der Daus.«
Ein Musikus naht auf den Zehenspitzen und legt still und er geben eine armlange Posaune auf den marmornen Opferaltar des Pfandhausschalters. Am Eingang erwartet ihn ein blondes Heizkissen, »im Ohr noch die rauschenden Walzer«, in den mes singgelben Ringellocken eine tote Rose und im Bauch ein hung riges Weißwurstknurren. »Aba sunst kumma no fast gor koane Faschingsgäst’ no ned«, sagt der Direktor und führt Blasius in die Arsenale, in denen Zehntausende von westlich-kapitalisti schen Gegenständen mit teilweise sehr bewegter Vergangenheit »studieren«. Aha, da sind ja auch die Stiefel vom SA-Mann Brand, die Schlittschuhe von Meier-Labergo, der Alte Fritz in Speckstein, der sich trotz der auf ihm lastenden zwölf Mark recht aufrecht hält, und die roten Schuhe aus dem gleichnamigen Rank-Film. Uhren von Peter Henlein und Junghans. Ein ein schichtiger Ohrenwärmer von Marco Polo, mehrere Majorhosen ohne Inhalt, Abendkleider mit Wachstuchschweißblättern und in einer Ecke ein steuerfreier grauer Aktenhund. Blasius findet alles in mustergültiger Ordnung und sucht vergeblich nach dem Negativen. Vor dem Gold- und Edelsteinschalter verweilt er noch ein wenig, bis jenes Mädchen kommt, das ihm zu einem 59
passenden Abschluß seiner Betrachtung verhilft. Sie reicht, mit der Angabe eines Militärregierungs-Vorzimmerfräuleins, einen funkelnden Ring durch das Schalterfenster, räuspert sich und sagt: »Take it.« »Duat ma leid, Freilein«, kommt es von der anderen Seite, »auf Messingring gibt’s nix bei uns. Passen S’ auf, daß Eahna da Grünspan von dem Schmuckstück an Finga ned obfrißt.« - »Woos, ned von Goid«, entsetzt sich das Girl, »dea Saubär, und mia hod er gsogt, es häd achtzehn Grad.« »Na, hoffentlich hamS’ned z’vui hergebn dafür«, meint der Prü fungsbeamte, und die Dietlinde erwidert darauf mit wässriger Stimme: »Wos hoid a unschuldig’s Madl hergebn ko, wenn’s sunst nix hod.«
KIRCHWEIH-HASEN
Der »Kinihas« ist die Kirchweihgans des kleinen Mannes. Etwa 40-50 000 Kaninchen werden in München gehalten, und alljährlich auf Kirchweih hebt ein schreckliches Morden unter ihnen an. Fett und zufrieden sitzt Hektor, der »Belgische Riese«, in seiner vergitterten Junggesellenbude und träumt von grünen Millidistln und zarten Salatherzen. Da naht, die Lenden mit einem blauen »Schawa« gegürtet und in der Rechten ein arm langes Messer, der Bahnvorsteher Ignaz Birl. Ihm folgen Frau Maria Birl, mit einem Milliküberl zum Blutrühren, und Birl junior, der auf das Hasenschwanzl für sein Indianergwand reflektiert. Ein rascher Griff an Hektors Hinterläufe schreckt diesen jäh aus seinen Träumen, und als er, Kopf nach unten, an dem ausgestreckten Bahnvorsteherarm hängt, hat er nicht einmal mehr Zeit, über die veränderte Lage nachzudenken, denn schon 60
senkt sich tiefe Nacht über sein Hasenhirn. Zwei Stunden später grüßt Hektors haariges Kleid, auf einen Kistendeckel genagelt, bereits vom Balkon der Birls. »Sechs Pfund hat a ohne Jung, und mindastns zwoa Kaffätassn voi Fett bring i raus«, schreit die Birlin der Zeitlmeierin, vor deren Fenster ebenfalls ein Ha senbalg hängt, über den Hof zu. Auch beim alten Herrn Kanz leirat vom vierten Stock kündet ein weißes Fell von Meister Lampes Glück und Ende. Im ersten Stock jedoch wirbelt der Herbstwind ein paar Gansfedern aus dem Aschenkübel vom Balkon der Krauses. Aber da hat auch der »Charlie« gleich nach der Währungsreform den Wandergewerbeschein bekommen, und seitdem sind sie eben Geschäftsleute.
HERBSTDULT
Haargenau zielt der Wolferl mit einem Haarnadel-Hakerl im Schleudergummi auf die bunten Luftballon-Bündel, die wie Meraner Trauben über der Herbstdult hängen. Mit derselben Geschwindigkeit, mit der er das Gummibandl spannt, nähert sich seinem Ohrwaschl der haarige Arm vom Schweinswürstlbrater Flaschl. »Hundskribbi, mistiga!« Erschreckt fährt Tsian Sonn Tin, der chinesische Spitzenhändler, aus seinen Reisauf laufträumen empor. Die Turkischer-Honig-Verkäuferin strickt ein Paar rote Pulswärmer und vertreibt immer wieder ihre einzige Kundschaft, eine blaue Fleischfliege. Viele Gegenstände von rät selhaftem Gebrauchswert liegen in den dämmerigen Basaren der Tändler. Ein Ewiges Licht aus Messing, mehrere erloschene Edi son-Lampen, Generals-Epauletten aus dem Siebziger-Krieg, St. Georg mit dem Drachen, hinter Glas gemalt, ein Pelzgehänge und vier neuwertige Volksgasmasken. Im Laufe des Nachmittags 61
kommt ein Mann und kauft »Heilmanns Leitfaden zur An legung einer Waschbär-Farm, Band II« für 60 Pfennig, und kein Mensch weiß warum. Nur 50 Pfennig kostet das UniversalHeilmittel Orienta, das gegen Asthma, Hühneraugen und Kolik sowie weitere 22 Krankheiten hilft. In den letzten Strahlen der Herbstsonne wärmt sich hinter seiner grüngestrichenen Personen waage ein Invalide. Über der Waage steht geschrieben: »Hier kann man sich wiegen lassen!« und daneben »Here to weigh«. Ferner ist angegeben, wie schwer der Mensch bei verschiedenen Körpergrößen unbedingt sein muß. Darunter steht mit Kreide: »Dieses bestätigt der Eigentümer Joseph Listl.«
STINKT — A — DA?
Wie wenn man eigens einen Fußweg für die Bavaria gebaut hätte - im Falle sie auch einmal heruntermuß -, so lehnt sich die Kistlwagl-Rennbahn an den Steinsockel der Standhaften. Flatternde gelb-weiße Fahnen auf den Tribünen, die knallroten und giftgrünen Farbkleckse der Ami-Fräuleins, Bratwürstldüfte, viel Gummiknüppelträger und grollende Mikrophontöne geben dem Kistlrennen den Charakter eines Volksfestes. »Des hän se de Deitschn amoi erlaubm soin, so a Grist an d’Bavaria hi’baun, Manderl, do hän de Behörd’n vielleicht an G’sang ang’stimmt, aba bei de Ami ziagns d’Schwaanz ei. . .« - »Wos, a Voibier schreit dea no aus, und Schinknsemmeln, sowas rückständig’s, stinkt a da, wei’st dei Zeig nimma o’bringst - ja woaßt, dea Fuim is vorbei.« Die amerikanische Militärkapelle marschiert auf. »Fabelhaft, diese Richtung, die blitzenden Instrumente, der saubere Stiefelputz -« Scharfer Trommelwirbel schneidet dem erinnerungtrunkenen Ansager die Stimme ab. 62
Die ersten Gigs rollen über die Bahn. Die Buben haben rote Trikots an und drohende Sturzhelme auf. Ein Vehikel, das auf den Namen »Bazi« hört und aussieht wie eine fahrbare Blasen wurst, kommt als erstes durchs Ziel. Stolz steigt der Besitzer aus, gibt seinem Gefährt einen liebevollen Fußtritt, was es keines wegs zweckdienlicher macht, und klebt sich seinen Kaugummi hinter die Ohren. Der eisengelackten Freiluft-Limousine Nr. 68 entsteigt ein verwegen aussehender Zehnjähriger. Er hat seine große Zehe bei der Abfahrt in das Vorderradi gebracht, so daß sie ihm abgehobelt wurde wie von einer Knödelbrotmaschine. Das Jod, welches ihm die blaugestreifte Rote-Kreuz-Schwester aufpinselt, treibt dem Heroen das Wasser aus Augen und Nase, - aber weitergeht’s. Auf dem Abstellplatz für Lumpenfahrzeuge, einer Kategorie Kistlwagl, die teilweise deshalb nicht als vollwertig gelten, weil sie nicht von den Buben allein gebaut wurden, sind sich die Er zeuger zweier Teilnehmer in die Haare geraten. »Mit dem Schäserl mächt Eahna Bua gwinna, des schaugt ja aus wiar a umg’arwata Bierfüahra-Handschuh.« - »Sie hab’n ’s nötig, von wos habn S’ denn do traamt, wia S’ Eahnan Kribbi des Vareckerl baut ham, do brauchst ja an Schuahlöffe zum neischlüaffa.« - »Aba de Angst braucha Sie aa ned ham, daß Sie vielleicht nach Amerika kema, mit dem Kopf, do tat’ de Frei heitsstatue ned schlecht daschrecka.« - »Geh, hean S’ doch auf, von Eahnan Schmarrn griag i ja bloß Schlaf.« Feld auf Feld wird gestartet, pausenlos rollen die Radi, sofern sie sich nicht lieber auf der Bahn selbständig machen. Scharfe Duelle werden ausgetragen. Manche Fahrer schauen nur mit ihrem Buckel aus dem Kistl wie Karpfen aus dem Wasser. Einer liegt platt wie ein Weihnachtsstollen auf seinem rollenden Nudel brett. »Brr«, macht ein anderer, dreht verzweifelt das nicht vor handene Gas auf und schaltet mit hochrotem Kopf an einem «3
unsichtbaren Hebel, bevor er als Letzter den breiten, weißen Zielstrich passiert. »Stinkt a da?« schreit ihm ein glücklicherer Rivale zu. Doch der Geschlagene erwidert mit verächtlichem Blick: »Was mechst denn du Tschiweie-Bobberl, mit dem ameri kanischen Material ko ma leicht gwinna.« Immer wieder fordert der Ansager die zahlreichen Zaungäste
auf, doch hereinzukommen und ein Fuchzgerl zu zahlen .. . Am Bretterzaun hinter den Tribünen geht ein dienstbeflissener Schutzmann auf und ab. Wenn sich zwei Bubenhände auf der Zaunkante zeigen, so schreitet der Hüter der Ordnung langsam darauf zu und schlägt dem Schaulustigen mit einem Strickende über die Finger. Nicht gerade fest, nur so viel, daß sein amtliches Gewissen beruhigt ist, was er dann dadurch zum Ausdruck bringt, daß er zwei Finger zwischen den dritten und vierten Knopf seines Uniformrockes schickt. Sein Kollege dagegen hat ein weiteres Dienstgewissen. Er kauft sich nach getaner Arbeit eine Maß, sitzt am Wirtshaustisch, ist zünftig und jodelt sogar einige Male ganz privat. - So scheiden sich auch auf dem Kistlrennen die Gemüter. 64
LOTTO UND TOTO
An einem Freitagabend des Jahres 1649 sitzt auf einem Baum stumpf am Ufer der Isar der Raubritter Edelwart Rumpfschneider und füllt mit der Spitze seines gefürchteten Bidenhänders den eisernen Lottozettel der Staatlichen Bayerischen LotterieEinnahme aus. Da es auch damals schon galt, zehn verschiedene Zahlen im Werte von eins bis zehn untereinanderzuschreiben, gab es auch schon Systeme. Ritter Rumpfsdineider zählt die auf genieteten eisernen Flicken seiner Rüstung und multipliziert sie mit den Raubüberfällen der vergangenen Woche. Dann zieht er noch seinen Knappen zu Rate, der ihm einige Tips geben muß.
Als dann am Samstagabend vom kurfürstlichen Herold die Lotto-Ergebnisse bekanntgegeben werden, hat RumpfSchneider nur acht richtige Tips, worauf er seinen Knappen überlegt, daß es weithin scheppert, und dem Lottospiel für immer abschwört. An einem Freitagabend, 300 Jahre später, sitzt auf demselben Platz, nur einige Stockwerke höher, ein Nachkomme des Raub ritters Rumpfschneider, der Finanzbeamte Egid Wedel, und füllt seinen Totozettel aus. Er zieht die Wurzel aus seiner letzten Lohnsteuer, zupft murmelnd (oans - zwoa - Kreiz) die Blätter des auf dem Tisch stehenden Pfingstrosenstraußes ab und ruft dann seinen Sprößling. »Wie steht’s, Egidi?« befragt er diesen kameradschaftlich. »Gwinnt Wagga Wadistrumpf desmoi?« »Sovui i vom Lunglmeier Franzi woaß, dea wo eahna an Boi oiwei aufpumpen deaf«, entgegnet der Egidi, »wearns 14 auf schpuin.« »Oiso a Kreizl«, sagt Vater Wedl und beauftragt seine Sophie, das ausgefüllte Dokument in die Annahmestelle zu tragen. »Wannst gwinnst, Vadda, nacha griag i a Paar pfundige Greppschleich, gell?« »Freili, mit soichane Lebakaas-Sohln werst rumIaffa! Da weard schon was Gscheits kafft um des Goid«, be stimmt Wedel senior, »vielleicht a Regulator oda a Aquarium 6$
mit Frösch, damit ma woaß, wia’s Weda werd, und d’ Muatta griagt a Biertragi, na braucht’s net so oft laffa.«
Am Sonntagabend vernehmen die Wedels, über Abschnitt B ge beugt, gemeinsam die Toto-Verkündigung aus dem Radio. »Siebn, acht, neun«, zählt Herr Wedel zusammen. »Siehst as do, Wagga Wadistrumpf hat 13:2 gwunna, i wollt scho an Oansa macha, nacha hätt ma zehne ghabt. Aba so bringt oan der Hundskribbi ums Goid. Sophie, hol an Spanischn, daß i’n übaleg, den Saubuam.« Frau Wedel selbst aber fällt ein riesiger Stein vom Her zen. Nicht auszudenken, wenn’s zehn gewesen wären. Der Ab schnitt B trägt nämlich gar keine Wertmarke, was Herr Wedel in seiner Erregung Gott sei Dank nicht gemerkt hat. Die Wedlin hatte sich gesagt, daß ein Spatz in der Hand besser sei als die Taube auf dem Dach, und das Totomarkl zu ihrem mageren Haushaltungsgeld gelegt, nachdem sie den ausgefüllten Zettel in zwei Teile zerschnitten hatte.
BLASIUS IM STUDIOKABARETT
Blasius wurde schon des öfteren und beharrlich beschwatzt, doch einmal ein Studiokabarett zu besuchen und der Geburt jener Größen beizuwohnen, die man später vielleicht auf den Salem-Filmbildern, in »Fox tönender Wochenschau« oder auf den Titelseiten der »Wahren Geschichten« wiederfinden würde. Die »Studiokabaretts« oder »Nachwuchs-Brettl« sind meistens in ehemaligen Gast- und Tafernwirtschaften untergebracht und werden »ausgeübt« von biederen Bierwirten, die plötzlich ihre künstlerische Ader entdeckt haben und deshalb über ihre Abort 66
türen »Toilette« schreiben und eine kriminelle Garderoben gebühr einführen. Blasius betritt also einen solchen Musentempel. Auf den Brettern steht gerade ein Ansager, der in seinen schweißnassen Händen ein Manuskript in hundert kleine Wutzerl zerreibt und mit heißen Henkelohren folgenden Witz erzählt: »Ein Berliner kommt nach Bayern und hört im Wirtshaus, wie ein Gast zum anderen sagt: ,Ich habe einen Bekannten, der hat drei Füße, rechter Fuß, linker Fuß und Typhus.' Großartig, sagt der Ber liner, den muß ich bei mir zu Hause berichten. Allerdings weiß er am Stammtisch in Grünewald den Witz nicht mehr ganz ge nau, und so erzählt er: ,I