Blasius geht durch die Stadt 2. Folge : Münchner Gschichtln aus unserer Zeit

Mit 18 Zeichnungen von Ernst Hürlimann 13. —17. Tausend

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German Pages [100] Year 1957

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Blasius geht durch die Stadt 2. Folge : Münchner Gschichtln aus unserer Zeit

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Blasius geht durch die Stadt

II

SIEGFRIED SOMMER

BLASIUS GEHT DURCH DIE STADT Münchner Gschichtln

aus unserer Zeit II

Mit 18 Zeichnungen

von Ernst Hürlimann

SÜDDEUTSCHER VERLAG MÜNCHEN

13. —17. Tausend © Süddeutscher Verlag München GmbH 1956 Alle Rechte Vorbehalten Gesamtherstellung Süddeutscher Verlag München Princed in Germany 1957

WIE JEDES JAHR . . . Für 9000 Münchner Achtklaßler ist einmal im Jahr der letzte Schultag. »Zweitausend Schritt is mei Schuiweg lang, weil ma amoi an Aufsatz drüba ham macha müass’n«, sagt der Zinsl Schole, der bereits den Stimmbruch und einen semmelblassen Eisenbahner-Bart hat. Vorgestern gingen der Schole und seine Spezi zum letztenmal diesen Leidensweg, ohne zu ahnen, daß er in 50 Jahren als »Zinsl-Vadda« erkennen würde, so schlimm sei es damals mit dem Leiden doch nicht gewesen.

Mit seinem Hausschlüssel fährt der Schüler Zinsl wie an allen bisherigen 2000 Schultagen - blim blam blam blim — am Zaun der Margarinefabrik entlang, balanciert mit Seiltänzerschritten auf dem Randstein des Radlerweges, springt zum letzten Male nach dem untersten Ast des alten Kastanienbaumes an der Hydrantenkurve und verschwindet dann im »Eingang für Knaben«.

Achtunddreißig nach Waschwasser und nackten Knien riechende Vierzehnjährige sitzen noch einmal beieinander im selben Klaßzimmer. »Webersberger, Scholz, Fuchs, Leinfelder - Lesebücher abliefern.« Der Lehrer hat auf einmal ein anderes Gesicht, und ein verzeihendes Lächeln spielt, zusammen mit dem Wissen um den ewig gleichbleibenden Kollektiv-Undank der Schüler, um seinen Mund. Auf den abgewetzten Schulbänken und den Zink­ deckeln der Tintenfässer haben sich die eingekratzten Indianer­ stämme in den letzten zwei Jahren um einige Rothäute vermehrt, und auf dem Schulzimmerplafond werden noch lange zwei dunkle Tintenflecken zu sehen sein. »De hod da Zaundä mit’n Linioi auffelass’n!« Vier Buchsbaumbäume in Holzkübeln stellen die Offizianten bei

jeder Schulschlußfeier auf das Vortragspodium. In der ersten Stuhlreihe sitzt der gesamte Lehrkörper der Schule, und die Fräuleins haben aufgeregte Frisuren. Der Rektor im schwarzen Marengo-Anzug und mit väterlichen Augen redet mit leiser Plüschstimme zu den Buben vom Ernst des Lebens und dem Kampf ums Dasein. Dann steigt der Klassenerste, der Maler werden will und schon in den nächsten Ferien die Wohnung da­ heim weißeln wird, auf das Pult und liest aus lateinischer Blei­ stiftschrift den Dank der Klasse vor. Hernach kommt ein Violinsolo. Der Vortragende ist ein Bub, dem die kräftigen Hände weit aus den Sackl-Ärmeln hängen, weil des Jopperi längst zu klein ist. Er spielt auf einer Dreiviertelgeige das Lied »Abschied vom Vaterhaus« von Roderich Meier-Menzing. Die Buben stoßen sich gegenseitig mit den Ellenbogen an und sagen: »Sauba, da Schellerä!« Wie dann eine Schülerin der Mädchenklasse 8b ein Klavierstück spielt, grinsen die jugendlichen Zuhörer halblaut: »Ui, sie aa!« Von der Wand herab schaut der Optiker Fraunhofer in öl durch ein selbstgebautes Messingfernrohr auf die Schlußfeier hernieder. Zum letzten Abschiednehmen läutet die Pauseglocke. Die Lehrer führen ihre Klassen in den Schulhof hinab. Dort stehen zwei Tische und achtzehn Stühle sowie der Photograph Poehlmann mit Stativ und schwarzem Tuch. Die Buben steigen auf die Tische und Stühle, die vordersten knien sich auf den Boden, der Lehrer sitzt in der Mitte. Wenn die fertigen Postkarten ins Haus gelie­ fert werden, werden sie von den Müttern für eine Zeitlang in das linke Eck des Küchenkastenfensters gesteckt. Mit Bleistift haben sie ein Kreuz über den Kopf ihres Buben gezeichnet, damit sie ihn immer wieder gleich finden.

Nachdem der Lehrer unter den 38 verlegenen Händen auch die seines ehemaligen Schülers Zinsl gedrückt hat, geht der Schole, mit den Armen fuchtelnd, lachend und diskutierend auf dem

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bisherigen Schulweg heimwärts in seine zweite Jugend. Unter dem Brustbein hat er ein leichtes Drücken. Hinter dem Fenster des Klaßzimmers steht allein im hallenden Raum der Lehrer, schaut den entschwindenden Schülern nach und wischt seine Brille mit einem frischgebügelten Taschentuch ab, wie jedes Jahr an diesem Tag.

BLASIUS UND DIE SCHÖNSTEN VOM GANZEN LAND Als Blasius die große Bahnhofshalle im Haus der Kunst betrat, war dieselbe bereits dicht gefüllt mit einer etwas ge­ mischten Creme der Münchner Society. Da waren als Zuschauer gekommen bleiche Kavaliere mit geschärften Solinger Augen und Wehrmachtsferngläsern, ältere, heftig transpirierende RubensModelle der Jahrgänge 02 und älter, viele züchtige Bürger­ gänschen in Flügel-Kleidern und einige ehrwürdige Sandrocks, die Steine trugen - von drei Karat aufwärts. Sie alle wollten die Parade der Eitelkeit der Schönsten des Landes miterleben und die bayerische Schönheitskönigin wählen.

Dem Hauptereignis voran ging eine Bademodenschau, wobei es bereits allerhand und teilweise sogar viel zu viel zu sehen gab. Besonders ein Mannequin mit einem friihgotischen Becken erregte den Unwillen der männlichen Besucher. Auch eine zweite Vor­ führdame, die in direkter Linie vom Hunnenkönig Attila ab­ stammen könnte, hatte mit ihren Reiterwadln keinen Publikums­ erfolg. Als drittes Bademodell wurde eine blonde Berberlöwin vorgeführt, und ein Zuschauer meinte: »Guad, daß daHag’nbeck ned da is, dea tat des Raubtier glei in Kett’n leg’n.« Eine einzige 7

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Baderatte hatte nicht zu wenig an. Ihr Hutschenreuter-Figürchen, das sie mit wiegenden »Ich möchte so gerne«-Schritten darbot, wurde sofort ein begehrter Ausflugsort für alle Männer­ augen. Dann begann die Schönheitsparade. Die 87 Bewerberinnen um den Titel »Miß Bavaria« waren in zwei gleichgroße Portionen abgeteilt und hielten sich große Nummernschilder vor den Nabel. Blasius notierte als Volks­ gemurmel: »Ja, soiche Muizl’n« - »Wo ham s’ denn bloß de Radieschen auslass’n?« - »Konnst ma ned des Fleckerl zoag’n, wo de schee san?« - »Vielleicht unta de Arm, da siehcht ma’s ned.« - In der Tat, der Spaziergänger konnte den Auftrieb der bayerischen Schönheiten nicht als besonders anziehend bezeichnen.

Die erste, die durch die Reihen der hämisch lachenden ZuschauerWeiblichkeit schritt, hatte wohl gemeint, man suche die »schönste Bäuerin«. Mit Imperial-Feigenkaffee-Wangen und weit über­ hängendem Rückgebäude schwänzelte sie auf soliden Füßen, die sich bei jedem Schritt auf dem Fliesenboden festsaugen wollten,

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durch die Reihen. »De muaß dahoam an Schpiagl aus’m Lach­ kabinett ham«, meinte der Ansager kopfschüttelnd und ließ die nächste Nummer starten, ein sanftes, süßes Ding, das von den Hüften aufwärts schön gleichmäßig war wie ein Warmwasser­ boiler. Dann kam ein zartes Kitzlein mit Beinen wie ein Reh so haarig und einem verzeihenden Silberblick. Es wurde abgelöst von der Perle Minna, treuherzig, vollfett und mit arbeitsamen Händen, die ihr aber beim Marsch durch das Publikum immer im Weg umgingen. Die frische Resi und ein Fräulein mit Gänse­ haut-Poren folgten. Einzige drei Mädchen durften nach des Spaziergängers Ansicht das Prädikat »Dreiviertel-schön« für sich in Anspruch nehmen. Der Rest konnte außer einer bewun­ dernswerten Tapferkeit und mildernden Verlegenheits-Schweiß­ ausbrüchen kaum einen Reiz ins Treffen führen. Zum Glück hatten sich die Veranstalter der Schönheits-Inventur zum Abschluß vier ausländische Muster aufgespart. Die vorge­ führten Steepler verhielten sich zu unserer einheimischen Zucht wie etwa ein Derbysieger zu einem braven Milliwageripony. Sofort wurde von den Männern wütend an den Scherenfern­ rohren geschraubt, mit deren Hilfe sie hinter die letzten Ge­ heimnisse der vorgeführten Bikini-Badeanzüge zu kommen ver­ suchten. Was es da alles an Bademoden zu sehen gab, war fast nicht mehr zu sehen, und Blasius mußte angestrengt wegschauen, um seine christlich-soziale Sittlichkeit nicht zu gefährden. Ein Glück für die Französinnen-, daß der bayerische Erzengel mit dem Vollbart nicht anwesend war, er hätte sie gewiß im heiligen Zorn mit dem Hakelstecken aus dem Haus der Kunst vertrieben.

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WAMMERL AUF DER WAAGE

Die Münchner Bevölkerung hat seit dem Juni 1948 im Durch­ schnitt um 2,483 Kilogramm zugenommen; das macht bei einer Einwohnerzahl von 800000 das Gesamtgewicht von rund vier Millionen Pfund aus. Unbestreitbar hat eine solche Gewichts­ zunahme einen anomalen Verschleiß der städtischen Bürger­ steige, der Anlagenbänke und Straßenbahnanhänger zur Folge. Außerdem wird durch das größere Durchschnittsvolumen der Münchner auch der gemeindliche Luftraum, der bekanntlich gebührenpflichtig ist, in bedenklicher Weise abgenützt. Wenn deshalb von der Münchner Stadtverwaltung in absehbarer Zeit der Ruf ertönen wird: »Bürger auf die Waagen!«, so ist dies nur gerecht. Dabei läßt sich die Einführung eines rückwirkenden Wiegefünferis wohl kaum vermeiden. Befreit von dieser, auf lebenslänglich befristeten Notabgabe werden nur Personen sein, die den Nachweis erbringen können, daß sie bereits in der Reichsmarkzeit Übergewicht hatten, sogenannte Altdicke, sowie drüsenkranke Volksvertreter. Während für den an der Gesamtverdickung kollektivschuldigen Mr. Marshall die angemästeten 2000 Tonnen Münchner Wammerl ein sanftes Ruhekissen sein mögen, lasten diese Mehrpfunde schwer auf Fußgelenkstützen und Reformmiedern. Ungeschickter­ weise haben die Ami vergessen, ihren ERP-Importen Abführ­ mittel sowie Erweiterungszwickel für Kammgarnanzüge und Hirschlederhosen beizulegen, wodurch sie der östlichen Propa­ ganda einen stichhaltigen Trumpf in die Hände spielten; denn nun heißt es von dieser Seite nicht ganz zu Unrecht: »Da sehgt’s es wieder, de Amerikaner, jetzt lass’ns eich sauber henga mit eirer Fett’n!« In der Tat sind die fülligen Münchner im Abwehr­ kampf gegen Eiweiß und Kohlehydrate auf sich allein gestellt. Der Feldzug beginnt meist mit wuchtigen Faustschlägen gegen

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die automatischen Personenwaagen und dem Ausruf der Erbit­ terung: »Glump varreckts!« Bleiben die Wiegemahnmale in ihren Angaben beharrlich und nehmen die hinteren Partien der Marshall-Plan-Opfer die Formen von Haflinger Kaltblütern an, so wird eine radikale Schlankheitstortur beschlossen. Wahrend die vornehmen Fetten mit dreierlei Besteck eine silberne Pille auf Meißner Porzellan verzehren, würgen die gewöhnlichen Wamperten in stillem Heroismus die billigeren Kuren hinter die Binde. Wenn es dann im Zwölffingerdarm und den anderen Innereien juckt, brennt und schneidet, als hätten die Betroffenen in einem Brennesselhaufen Harakiri gemacht, lächeln die Ab­ magerer wund, wie die Maske der Unbekannten aus der Seine. In den Hand- und Seitentaschen tragen sie wegen des erhöhten Bedürfnisses zahlreiche Zehneri und einen genauen Lageplan sämtlicher städtischer OO-Stationen. Fragt man die Suppenkaspar-Wunsch-Figuren mitunter, ob sie denn bei ihrer Kost keinen Hunger bekämen, so antworten sie mit dem Märchen­ ausspruch der boshaften Ziege: »Ich bin so satt, ich mag kein Blatt.« Beim Durchlesen einer Speisenkarte oder in Anschauung einer Metzgereiauslage sausen aber ihre Adamsäpfel auf und ab, und das Wasser, das ihnen im Munde zusammenläuft, reicht schnell bis ans Knie. Als besonders wirksames Mittel zur Spal­ tung von Fett-Atomen gelten die Hollywood-Kuren, bei denen zum Frühstück drei gut durchwachsene Löcher eines Emmentaler Käses, mittags kalte Küche bei geöffneten Türen und Fenstern, und abends der Bestseller »Vom Winde verweht« in Halbleinen genossen werden dürfen. Personen, die auch auf diese Gewaltkuren nicht vom Fleische fallen, zählen zu den sogenannten boshaften und verstockten Fettansetzern. Dieser Kategorie ist nimmermehr zu helfen, denn sie werden wahrscheinlich durch den massenhaften Verzehr von Schlankheitsdragees, Pillen und Wässerchen immer noch dicker.

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BLASIUS UND DIE REFORM-FRAUEN

»Selbst ist die Frau.« Dieser Tage wurde die Ausstellung »Im Zeichen der Frau« auf der Iheresienhöhe eröffnet. Nimmermehr hätte Blasius diese Ansammlung weiblicher Guerillakämpfer besucht, wenn nicht die Kommandeuse dieses Reformgeschwaders Theanolte geheißen hätte. »Theanolten sehen oder sterben«, sagte sich der Spaziergänger und durchbrach mit schmaler Brust die geschürzte Widerstandslinie am Ausstellungseingang. - »Ver­ gib, Theanolte.« Die Ausstellungsräume sind mit seltsamen Zwitterwesen dicht gefüllt. Mit drohenden, pfundschweren Hornbrillen, Mäuse­ zahnfrisuren und scharfkantigen Luis-Trenker-Köpfen stehen die Frauenrechtlerinnen vor ihren bunten Machenschaften. »Die Frau als Techniker, Wissenschaftler, Regierungsrat und Forscher«, steht auf einem großen Transparent, und Blasius betrachtet staunend die vielen Verwendungsmöglichkeiten einer Frau. Hier zeigt ein Bild, wie eine männliche Kriegsbraut mit eigens dafür angefertigter Uniform eine Wasserblase verbindet. Ein anderes Amphibienwesen mit einem Stiftenkopf schaut einem Kind in den Mund hinein, und eine dritte Aufständische blickt durch ein Mikroskop auf einen Spinat. In der Abteilung »Die Frau als Künstlerin« sieht Blasius ein Gemälde, wo in 01 dargestellt wird, wie sich eine gutbestückte Schauspielerin ein arg langes Tranchiermesser in ihren Komödianten-Oberteil rennt. Daneben hängt, mit den Augen einer Frau gesehen, ein Jünglingsakt, der ausschaut, wie ein teilbeschädigter Gasbadeofen mit geknickter Nickelbrause. Eine einzige Oase der Selbsterkenntnis erblickt Blasius auf seinem Durchmarsch. »Ihr Leben hat sie Staub gewischt - nun ist sie selber weiter nischt«, steht über einem Sperrholzidyll, und man sieht wildgewordene Hausfrauen in Heckenschützen12

Stellung zwischen Marmornachtkasteln und vielwarzigen Verti­ kos mit dem Staubwedel im Anschlag liegen. Die Abteilung »Modernes Zusammenleben« wartet mit einer plastischen Gegen­ überstellung auf. Das eine Bild zeigt, wie eine wohlverpadcte Jungfer um die Jahrhundertwende als Marschportion vor ihrem ersten Sündenfall Portwein und Biskuit zu sich nimmt und vor dem Kanapeewinkel züchtig die Lider senkt, während auf dem anderen Bild eine Reformdame mit spindiger Zwetschgendatschibrust zu sehen ist, wie sie sich aus einer Patent-Bettcouch mit sechs verschiedenen Möglichkeiten brutal eine nüchterne Fest­ wiese zurechtmacht. Bei der »Frau als Sportlerin« wird auf einer scharf belichteten Photoserie besonders auf die bedeutende Entwicklung der weib­ lichen Oberarm- und Genickmuskeln hingewiesen. Hinter dem Stand daneben wartet »Die Frau als Schriftstellerin« mit ver­ kniffenem Mund vergebens auf den Absatz ihrer halbleinenen Preßschinken. Auch die Dame mit Tituskopf und FrankensteinReizen wird gezeigt. Sie war einmal französische Abgeordnete. Eine weitere Photographie macht den Beschauer mit einer blon­ den Gefriermaschine bekannt, die zwischen Eisenträgern und Manometern an irgendeinem Schwungrad dreht. Darunter steht in Blockschrift: »Sie bewährt sich und bleibt doch Frau.« Am Ausgang fällt Blasius noch eine große Tafel mit vielen hartgesottenen Frauenköpfen ins Spaziergängerauge. Auf der Tafel ist zu lesen: »Die Frau in Frankreich hat ihr Ziel erreicht, alle Türen stehen ihr offen« — und Blasius ergänzt ernüchtert: »Bis auf die Schlafzimmertüre.«

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SONNTAGSREITER In München gibt es gegenwärtig wieder vier Reitschulen mit einem Gesamtbestand von 80 betriebsfertigen Mustangs. Es kämen also statistisch rund 10000 Einheimische auf ein Pferd. Das wäre viel zuviel, obwohl »das Reiten ein ausgesprochener Volkssport ist«, wie die Pferdeunternehmer glaubhaft be­ teuern. So bleibt denn der vermietbare Pferderücken zum einen Teil wirklichen Sportsleuten und Feinschmeckern Vorbehalten, während der andere von unverstandenen Damen und Konsuln längst annektierter Länder um 3,50 Mark Platzgeld für die Stunde eingenommen wird. Die Reitschüler sind ein Volk von Frühaufstehern. Schon um sechs Uhr morgens nähern sie sich mit Rokokobeinen und chemisch gereinigten Zahlmeisterhosen den ahnungslosen Rössern. In der Hand tragen die zukünftigen Champions feingegerbte Reitgerten, und an den Fersen vernickelte Rittersporen, die sie schon in der Straßenbahn an den Diensthosen der Schaffner und anderer Beförderungsteilnehmer ausprobieren. »Halali.« Manche Reiter zählen auch auf dem Anmarsch zur Torfmullwiese die Würfelzuckerstückchen in ihren Hosentaschen nach und essen sie dann meistens - »ja - nein - ja« an der Kreuzung KöniginVeterinärstraße rasch selber auf. Wieder andere aber trommeln auf dem Blechdöschen, in dem sich die Balsamsalbe für den juckenden Wolf befindet, schneidig den »Pariser Einzugs­ marsch«.

Die Reitpferde erwarten ihr Schicksal in Einzelboxen, über denen Olfarbenschilder mit den Namen »Gräfin Pipi«, »Rotzer­ chen« oder »Parmesan« hängen. Bevor die vierbeinigen Unter­ sätze aus ihren Boxen geführt werden, hört man zwischen Reitlehrern und Kunden eine Unterhaltung in der Reitersprache: »Exzellenz nehmen heute am besten die Gräfin Pipi, ist kolossal i4

schenkelgehorsam«; oder »Parmesan hat zwar viel Charakter, aber er wird nimmermehr weich im Maul, Gnädigste«. Die Amateurjodeeis schlagen sich bei dieser Konversation mit den Reitgerten auf die Abzahlungsstiefelschäfte, und einige stoßen sich sogar Monokel in die Augen. In der Reithalle wird jedem Schüler zuerst aus einem Buch das Aufsitzen vorgelesen; es folgt die beineschwingende Praxis. Eine trockene Witwe, bei deren Betrachtung der Stallbursche zu gähnen anfängt, führt dreimal hintereinander denselben Lachschlager vor. Jedesmal, wenn sie mit Hilfe des ungewöhnlich menschenfreundlichen Reitlehrers den Nordhang eines braunen Wallachs bezwungen hat, fällt sie auf der Südseite wieder er­ geben wie ein Wetzstein herunter. Nach der dritten Vorstellung stellt sie sich befriedigt zu der Gruppe der Fortgeschrittenen und dreht die Fußspitzen einwärts.

Auch ein molliger Zivil-Alliierter macht keine fade Figur. Er scheint von der Überzeugung auszugehen, daß sich das Be­ satzungsstatut auch auf die leihweisen Pferdegiebel erstreckt. Wenn er aber oben sitzt, tut der Gaul voll Respekt mit der Vorderhand einen Knicks, worauf der stolze Reiter vorne wieder herunterrutscht. Dann schauen sich Pferd und Reiter jedesmal tief in die Augen und lachen lautlos mit entblößten Zähnen vor sich hin. »Oh, Cowboy Jimmy.« In der nächsten Übung, beim Anreiten, zeichnet sich die Ama­ zone, auf die man Schlaf bekommt, wieder ganz besonders aus. Ihre Rosinante bleibt boshaft und still, wie tiefgefroren, am Startplatz stehen. »Vielleicht lass’n S’ Eahna an den Gaul Pedal himacha, Freilein, nachat können S’ mittreten«, schlägt der Stallbursche vor. In der Ecke der Übungshalle stehen zwei Originalexemplare der nahezu ausgestorbenen alten Herren­ reiter und schluchzen leise in die Taschentücher.

BLASIUS BEI DEN BOXERN Blasius ist schon seit jeher ein eifriger und gewerbsmäßiger Besucher von Boxkämpfen. Diesmal hat er sich vorgenommen, so einen Fäustling-Watschentanz einmal aus der Perspektive des Waldbauernbuben zu sehen. Zur Debatte steht ein Zwei­ kampf zwischen einem westdeutschen Studenten und einem Münchner Postler. Rund um das Blutgerüst sitzen 5000 Freier, welche die Kinnhaken, die von den Boxern abgegeben werden, teuer bezahlen. In den ersten Reihen haben zahlreiche Kulturund Brillenträger, Ehrenkartenspezialisten sowie die frisch­ gestrichenen Freundinnen von Berufkonkurslern Platz genom-

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men. Die Damen wippen während der Rauferei sehr viel mit ihrem Souterrain, verbeißen sich aus ungelösten Komplexen schäumend in die Bügel ihrer Handtaschen und schauen den Boxern die besten Schläge weg, weil sie hoffen, mit diesen Hieben beim nächsten häuslichen Faustkampfderby ihre mor­ schen Orang-Utans zu zerlegen. Ein Mann haut auf einen Friseur-Aushängeteller, und da kom-

men die beiden Prügelknaben auf die Bühne. Sie reichen sich zum Anfang stumm die Hände, die in Lederfutteralen stecken, und beide Gegner nehmen eine Boxerstellung ein. »Hau’n auf’n Ranzn nauf, daß sei Blinddarm ’s Schiagln ofangt«, schlägt ein Herr mit tadellos geschnittenen Fingernägeln vor, und ein links­ gescheitelter Sportler klärt den Münchner auf: »Kare, zünd’ hi, des Runde is da Kopf!« Der »Kare« aber scheint das schon

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bemerkt zu haben, doch wie er versucht, seine Handschuhe an der Nase des Studiosus auszustauben, haut ihn dieser mit der gesammelten Wut über seine verbummelten Semester mitten aufs Postbeamtenauge. Dieses, sonst nur daran gewöhnt, NotopferBerlin-Marken oder unverhofft auftauchende Vorgesetzte achtungsvoll anzuschmachten, schließt sich sofort und beleidigt. Dadurch scheint dem Münchner die ganze Freude am Sport verdorben worden zu sein. Er wendet sich innerlich von dem rauhen Boxerhandwerk ab und versucht plötzlich ein lautloses Violinsolo zum besten zu geben, indem er mit der rechten Hand die Bewegung eines Geigenspielers nachahmt. Jäh wird er aber in seiner kleinen Nachtmusik unterbrochen, weil ihm der Student aus Westdeutschland mit voller Absicht die Faust auf den frisch­ gewaschenen Nabel setzt. Dieses ist freilich sehr roh, und der »Kare« sinnt auf Rache und watet todesmutig mitten in das schlechte Wetter hinein, das ihm sein unromantischer Partner bereitet.

Aus allen Rohren brüllt das Publikum gute Räter aufs Schafott hinauf. »Schenier’ di net, ,Kare*, des is doch net dei Vaddern.« »Drisch’n nieda, daß a daflaggt wiara Bettvorleger.« »Drah’n durch’n Wolf, den Beute-Deitsch’n!« Sogar die zahlreichen CocaCola-Bräute, die plötzlich wieder deutsch sprechen können, geizen nicht mit guten Vorschlägen. Auf einmal tritt eine kleine Brotzeit in Kraft, und die zwei Streitenden lassen ab von­ einander. Sie kriegen aber in der Pause keine Weißwürste oder Bries am Holzteller, sondern gute Lehren von ihren Betreuern, und in die Nasenlöcher wird ihnen ein Riechstift getrieben. Dann verdienen sie ihr hartes Brot weiter. Wieder versucht es der Münchner mit einer »Träumerei von Schubert« und die Leute, die am weitesten wegsitzen von dem Prügelausgabeschalter, schreien hinauf »Bläda Hund vo Gmund, geh doch näha hi.« Über eine halbe Stunde müssen sich zwei 18

Boxer nach einer dafür gedruckten Vorschrift verdreschen, bis sie Zahltag haben. Glückselig über den Feierabend geben sie sich endlich die Hände und schauen sich offen und ehrlich in die blutunterlaufenen Augen. Nachdem sie sich dann die mit vielen Ästen bestückten Köpfe betätschelt haben, sagt einer zum andern auch noch »Mersse« für die verabreichten Prügel, und das Publikum schreit Bravo und geht dann mit hochroten Ge­ sichtern und viel Freude, wie immer die Dritten, wenn sich zwei streiten, nach Hause.

SOMMERFEST

Wenn die zweite Jahreszeit das Tierkreiszeichen des Krebses erreicht hat, fühlen das Liederkränzchen »Gute Miene«, die Landsmannschaft der »Hintrachinger Schafwascher« und der Heimatverein »Tatzelwurms Erben« das unaufhaltsame Bedürf­ nis, ein Sommerfest abzuhalten. Drei Faktoren sind erfahrungs­ gemäß zum Gelingen einer solchen Feier unbedingt erforder­ lich, nämlich ein williger Wirt, geduldige Gäste und ein charakterfestes Tagesklima. Jedes dieser drei Grundelemente verhält sich bei den Vorbereitungen, bei der Abhaltung und bei Sommerfestzwischenfällen auf seine ganz persönliche Art.

»Oide, dua a weng an Weichbrunn ins Knödlwassa nei!« sagen die Ausflugswirte und schneiden die Salami in hauchdünne DIN-A 4-Scheiben, die sich später auf den Aufschnittellern zu­ sammenringeln wie Fleißbillettln. Dann erklettern sie einen Bierbanzen, befeuchten mit der Zunge die stattlichen Zeigefinger, halten sie steil in den lauen Vormittagswind und sagen befrie­ digt: »A’ Ostwinderi ist an jed’n Wirt as liabste Winderi.« Dann 19

werden die Geldkassetten mit einem nassen Lumpen ausgewischt und in Auffangstellung gebracht. Herzlich willkommen! Über eine geraume Zeit erstrecken sich auch die Vorbereitungen der Sommerfestbesucher. Soweit es sich um Vereinsvorstände, Kassierer und Verwandte der zweiten Schriftführer handelt, verwichtigen sich diese mit dem Näherrücken des großen Tages immer mehr und sprechen über das Ereignis nur mehr im Moosacher Hochdeutsch. In Wohnküchen werden von hüstelnden Jungfern schwere Kohlenbügeleisen geschwungen und außen­ politische Zeitungskommentare zu Lockenwicklern zusammen­ gerollt, während sich vornehme Damen einen Eidotter ins Gesicht streichen, um dann gelb und bewegungslos wie ein Fleischpflanzl vor dem Panieren auf die entschwundene Schön­ heit zu warten. Auf dem Festplatz angekommen, beginnen um­ gehend die Familienkommentare: »So, des Zieglbeck-G’schwerl is aa do, hoit’s d’ Handtasch’n zua!« Oder: »Hä, wo ham s’ denn den neia Breitigam vom Schröpf-Deandl auslass’n? Dea is ja so lang, daß a zum Kampeln auf an Schtui naufsteig’n muaß!« Gegen Abend werden dann zum Geschmetter der Blaskapellen die mit leisem Bauchweh an die Familienstammtische zurück­ kehrenden Kinder verprügelt, denn ihr Geschrei gehört seit je zu den unentbehrlichen Sommerfestgeräuschen. An einem erfolgreichen Sommerfest verliert ein Wirt an die sieben Pfund Lebendgewicht. Der liebe Gott schickt auch des­ halb, damit die Gastronomen nicht zu sehr vom Fleisch fallen, oft, statt des am Vormittag versprochenen Galawetters, am Nachmittag ein Unwetter mit Regen, Blitz und Donner in jeder Menge. So ein nasser Sommerfestniederschlag verdirbt auf einen Hieb alle Arten von Frisuren, Flügelkleidern und Ringellocken, noch nicht verzehrte Schweinswürstl und gefüllte Tomaten, den Humor der Kellnerinnen, die zu spät zum Abkassieren kamen, und die geplanten Freiluftveranstaltungen der Liebes­

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paare. Mit Franziskaner-Leistbräu-Tlschdecken vei hangen, ste­ hen die Sommerfestgäste unter den Laub- und Nadelbäumen des Wirtsgartens wie die Hauptdarsteller in dem unvergeßlichen Metro-Goldwyn-Mayer-Film »Der große Regen«. Was sie dabei für eine Unterhaltung pflegen, steht in keinem Telephonbuch. Lediglich die Regenwürmer frohlocken und rufen einander zu: »Des is a Ausflugswetter! - schöna wia im Buidabuch!«

Der Wirt aber mißhandelt mit einem Kranz Regensburger das Barometer und schreit dann durchs kalte Büfett in die Küche: »Wirtin, de nächst’n vier Wocha gibt’s Haschee nach Art des Hauses.«

BLASIUS BESUCHT DIE TAXI-GIRLS

Im Vorhof der »elegantesten Bar« Münchens steht ein unrat­ schwangerer Müllwagen, aus dem sich nachts kleine piepsende Rattenkinder ihre Schulspeisung holen und morgens abgerissene Arbeitslose die Zigarettenkippen der nächtlichen Barbesucher herausangeln. Überhängende Gipsbrocken und Fenstersimse, Blechfetzen und Eisengitter schweben friedlich über den ankom­ menden und äbziehenden »Nachtfaltern«, und ein lebensgroßer steinerner Faun hält in seiner Rechten sinnend einen abgenagten Kalbsknochen, den ihm Gaudiburschen in die Hand gedrückt haben. »Besuchen Sie die Taxi-Girls« steht in Leuchtschrift über diesem Idyll, und Blasius liest staunend auf einem großen An­ schlag die Gebrauchsanweisung für diese Stunden-Geishas. Para­ graph eins: »Jeder Herr kann ein Taxi-Girl zum Tanz auffordern, die Dame ist verpflichtet, die Aufforderung anzunehmen.« Artikel zwei: »Die Taxi-Girls tragen eine Schleife am Kleid.« 21

Absatz sieben: »Die Taxi-Girls dürfen die Lokalitäten während ihrer Dienstzeit nicht verlassen.« - Punkt acht: »Der Gast ist berechtigt, das Taxi-Girl zum Essen und Trinken einzuladen.«

»Diese Mädchen tragen sehr zur Hebung des Fremdenverkehrs bei«, erklärt man dem Spaziergänger nach Betreten des dancingrooms, und Blasius ist überzeugt, daß sich hier wirklich mancher »Fremde Verkehr« anbahnen wird. Blasius sieht sich in der Nah­ kampfdiele zwölf niedlichen Gewächsen gegenüber, die neben schwarzen Schleifchen im Haar auskunftsweise auch noch einen tadellosen Leumund besitzen sollen, und kann unschwer fol­ gende botanische Gattungen unterscheiden: eine üppige Dotter­ blume mit Verdunkelungsblick, ein farbenfreches fleißiges Lies­ chen, eine giftig blickende Herbstzeitlose und mehrere herzige Radieschen. Alle diese Pflänzchen wachsen auf dem steinigen Boden der Moral und wollen außer dem Stundenlohn nichts von ihren Tänzern, »sonst schmeißt ma’s raus, daß ’s kracha«, sagt man zu Blasius, und der Barbesitzer, bekannt hart im Neh­ men, erklärt dem Spaziergänger, daß die Taxi-Girls nicht »ein­ mal auf seinem eigenen Mist gewachsen wären«, sondern daß das zwölfköpfige Gestüt der Münchner Künstleragentur gehört.

Um 21 Uhr kommt, wie jeden Abend, der Tugendbewahrer dieser Jungfrauen, ein mehligweißer madenfetter Gigolo mit verkehrt eingehängten Händen und kontrolliert die Tätigkeit seiner Apparate auf außerdienstliche Bewegungen während des Sambas.

Die Taxi-Girls, davon kann sich Blasius rasch überzeugen, wer­ den sehr häufig in Betrieb genommen und sind keine fade Ein­ nahmequelle für den Impresario und auch den Wirt. Alle Arten von Nachtbummlern, kleine Al Capones, Geschäftsleute in drin­ genden Nachtsitzungen, gutbestallte lüsterne Arbeitgeber sämt­ licher Gewichtsklassen und sogar ein CSU-Stadtrat der Reserve bewegen sich schwänzelnd um die Tarifgunst der wippenden 22

Taxameter, 50 Pfennig sind für drei Tanze i la Karte zu be­ zahlen, davon erhält das Girl 35, der Mädchenverleiher 15 Pfen­ nig, während das Sitzen bei den Schleifenmädchen mit 2,50 Mark für die Stunde in Anrechnung gebracht wird. Ob sonst noch was im Preiskatalog drin ist, konnte Blasius leider ebensowenig fest­ stellen, wie die bereits zurüdcgelegte Kilometerzahl, da ihn die böse strahlenden Radiumaugen der Taxi-Girls zu raschen Ab­ setzbewegungen zwangen.

DER STRAPAZIERBARE SCHNAUZL Jeder zehnte Münchner hält sich nach der Statistik ein Haus­ tier, einen Hund, Kanarienvogel, Laubfrosch und Goldfisch, eine Katze, Meerschweinchen, weiße Mäuse oder vielleicht sogar einen steinalten Papagei aus Chihuahua, der schon seit der Lan­ dung von Christoph Kolumbus zu jedem Besucher »Schleich di!« sagt. Die stärksten Tierliebhaber sind in München die Hundehalter, die für ihre 30 000 vierbeinigen Kameraden jährlich fast eine Million D-Mark auf die Gummizahlteller des Stadtsteueramtes legen. Welche Hunderassen an der Isar bevorzugt werden, ist schwer zu sagen. »Übern G’schmack laßt si streit’n«, sagen die Münchner, »die Katz frißt d’ Mäus - i mog s’ ned.« Deshalb schlägt auch manches Bierherz liebevoll für ein Bastardl, das ausschaut wie die mißhandelte Füllung eines Seegras-Kanapees, während sich andere Hundefreunde nur von gardinenfressenden Foxln oder den angorawolligen Chow-Chow mit ihren blauen Stempelkissen-Zungen verstanden fühlen. Im großen und gan­ zen aber gibt der Münchner dem Rußl schon den Vorrang gegen23

über den blaublütigen Settern. So ein Schnauzl ist für ihn der richtige Gebrauchshund. »Dea is strapazierfähig, do siecht ma ned an jed’n Fleck’n drauf und wennst eahm aa bloß Gröste und an Tee gibst, is a da no lang ned beleidigt, weil er an Charakta hod«, sagen die Besitzer dieser wandelnden Fußwärmer zueinander. Einem Bazi, Lumpi oder Strolch wird jedoch nur selten Kopf­ salat vorgesetzt werden, denn jeder Münchner fühlt sich für seinen Lebensstandard verantwortlich. Da liegen abends vor den Haustüren die Packeri mit kleingeschnittenen Wursthäuten, Käserinden, Haarwachs vom Suppenfleisch und Kalbsgruschperl, so daß für einen populären Hausdackel, Schnauzl oder Wolferl fast das ganze Jahr Kirchweih ist.

»Jetz* hod’s den aa abig’haut vom Stangeri«, sagen die alten Münchner, wenn einer aus ihrem Bekanntenkreis die kleine Welt ums Hofbräuhaus verläßt. Diese Redewendung stammt aus den Lebensabläufen der Kanarienvögel, von denen etwa 8000 in München singen und gut 500 davon jährlich zu Tode gefüttert werden. Mancher Tierfreund, der einen Vogel hat, dressiert denselben in jahrelanger Heimarbeit so lange, bis der Hansi beim Heimkommen seine Nase umkreist wie die Möwen das Kap Hoorn, und ihm dann einen mitgebrachten Sonnen­ blumenkern aus dem Munde pickt. Kater und Katzen sind meistens die Seelenwärmer zarter, inner­ lich vereinsamter Damen. Diese Haustiere führen durchwegs ein Leben der Beschaulichkeit, nähren sich von blassem Kalbsfilet und kennen die Mäuse nur noch aus den Bilderbüchern, bis sie schließlich als weichgegerbte Nierenwärmer enden. Nützliche Viecherl sind schon seit jeher die Laubfrösche, die Barometer des kleinen Mannes. Sie heißen vielfach Max, Moritz oder, bei Beamten, auch Erasmus und Kasimir, und leben von den Stubenfliegen, welche ihre besorgten Besitzer mit einem

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kleinen Netz auf Geschirr-Regalen, Porzellanfiguren und Glas­ lüstern mit wuchtigen Schlägen fangen, weshalb ein Laubfrosch oft nicht das billigste Haustier ist.

BLASIUS IN DER TRAUMFABRIK Blasius besucht die Traumfabrik-Filiale Geiselgasteig, jene Stätte, in welcher Romantik, Heldentum, Fernweh und ein wei­ teres Dutzend andere synthetische Gefühle produziert und auf Zelluloidstreifen gebannt werden. Auf dem ausgedehnten Ge­ lände des Isartaler Hollywood sieht der Spaziergänger Kirch­ türme aus Pappendeckel, rauhe Felsmassive aus Sackrupfen und auf dem höchsten Punkt eines riesigen Dreckhaufens ein schlich­ tes Gipfelkreuz mit Naphthalinschnee-Auflage. Vor den Auf­ nahmestellen sitzen auf Bänken und Brettern die Komparsen, von denen manche schon seit der Erfindung der Photographie auf ihre Entdeckung warten. Blasius staunt nicht wenig, als er auf einem Balken gleich drei Margot Hielscher sitzen sieht. Sie haben drohende schwarze Brillen auf, tragen extravagante Keil­ hosen aus OT-Stoff, und auf ihren Zügen liegt fingerdicker, 25

künstlicher Gletscherbrand. Ohne den Mund zu bewegen, sagte die erste: »I kon vor lauta Koidampf kaum mehr grodaus schaung, aba mid dera Schmink ko’st ja nix essn, sonst foit da Vaputz aba.« Die zweite kommentiert: »Hast du die Tschechowa heute gesehen, die gibt an, als hätte sie zu Hause einen verchrom­ ten Abortschlüssel.« Über gelbgezackte Kabelschlangen klettert Blasius in eines der Ateliers. Es wird gerade eine Szene gedreht, die sich in einem Wintersporthotel abspielt. Wie ein frisch importierter Edamer Käse glänzt Hubert von Meyerincks Kahlschädel unter den Strahlenbündeln der Jupiterlampen. Ein falscher Luis Trenker muß mit seiner Statistenbraut an Meyerinck vorbeitanzen. »Mensch, Sie sind zu groß, ziehen Sie die Schuhe aus«, sagt der Regisseur. Jener tut, wie ihm geheißen, und siehe da, durch das schlichte Feldgrau der bekannten Sockenqualität mit den drei weißen Ringeln schimmern rosig die »Frühkartoffeln«.

Der nächste Besuch des Spaziergängers gilt dem Maskenbildner, dem Manne, der die Gesichter macht. »Zwanzig Jahre Verjün­ gung schaff’ ich mühelos«, sagt der Figaro und zeigt dem Spazier­ gänger, wie man mit Leukoplast und Gittertüll Falten und Runzeln entfernt, damit sich die Kinobesucher für 2,20 Mark an der ewigen Jugend ihrer Lieblinge erfreuen können. Auch das Fläschchen, in welchem die Tränen sind, kriegt Blasius zu sehen und erfährt, daß der Liter einwandfreier Zähren etwa 40 Mark kostet. Während der Schweiß - ein Gemisch von Wasser, Gly­ zerin und öl - nicht so teuer ist und bereits um fünf Mark pro Kanne geliefert wird. Das Filmblut, welches auf keinem Film­ friseurtisch fehlen darf, ist keineswegs rot, sondern schaut aus wie Hershey-Sirup und schmeckt auch so. Auf einem Holzkopf entdeckt Blasius eine Perücke, und man gesteht ihm nicht sehr gerne, daß selbige zu Viktor Staal gehört.

Als Blasius die Werkkantine betritt, schwebt ein Luxusweibchen 26

von 18 Karat an ihm vorüber. Der Spaziergänger hätte jeden beliebigen Eid geschworen, daß es Marlene Dietrich war. Im »dining-room« wird schon heftig menagiert. Ein pin-up-girl in voller Kriegsbemalung ißt eine Leberknödelsuppe mit dem Strohhalm, eine der Hielscher-Kopien hat die Schuhe unter dem Tisch ausgezogen und rollt mit den Zehen, während die Kon­ fektions-Marlene ihr schimmerndes Gebiß in ein handfestes Brotscherzl gräbt. Blasius läßt sie nicht aus den Augen. »Diese wäre schmackhaft«, denkt er lüstern, und der Vamp ißt eine Lungl mit zwei Knödln. Hernach läßt sie eine Schlachtschüssel auffahren und dann noch einen zwei Pfund schweren Palatschinken. Dazu verspeist sie vier Hausbrot und drei Salzstangerl. Dem Spazier­ gänger wird es langsam unheimlich. »De muaß ja an Magen­ durchbruch hob’m«, denkt Blasius, und als das Mädchen die Kantine verläßt, folgt er ihr besorgt. Das Flimmerfräulein aber sagt draußen treuherzig zu der Hielscherin: »Jetzt war wos z’Ess’n recht.«

RADLRENNATS »Oiso, i hob’s ausgrechnet, füa oamoi tret’n griagt so a SechsTage-Radler an Zwoaring, des is a ganz a zeama Stundenlohn, do zoit mei Firma weit untan Tarif«, sagt ein Mann im Innen­ raum. Dann massiert er seinen Hals, der durch das dauernde Mitdrehen die Windungen einer Barocksäule angenommen hat. In den Logen sitzen beleibte Scheichs und hängen ihre bleichen Finger mit Brillantentrauben über die Brüstung. Eine Dame, die schon zur Zeit der römischen Wagenrennen nicht mehr die jüngste gewesen ist, sagt träumerisch: »Die Beene von Gillen haben sexappeal.« 27

Das Volk auf dem Heuboden murrt. »De soin doch schaugn, daß s’ im Martinsspital an schena Fenstaplatz griang, wenn s’ ned radlfahr’n kenna«, sagt ein Sportler aus der Ligsalzstraße, als Henk Lakeman, der »fahrende Sänger« aus Holland, auf viel­ fachen Wunsch einer einzelnen Dame am Mikrophon hält. »Jetzt kimmt de Arie vom Schpinat«, erklärt der Ansager von Radio Westend seiner Umgebung, und der Holländer singt: »Schön ist die Nacht.« »Freili, für den Vogl scho«, nörgeln die Kinder des Olymps; »des Gsangerl paßt grod so zum Radlrennats, als wia wann da Patzak beim ,Freischütz* als Geist mit an Damenradi auftret’n dat.«

»Bum!« fällt ein Coca-Cola-Flascherl einem harmlosen Gelände­ gänger, der unter den Tribünensitzen wandelt, um ein »Schpekulier-Bartl« nach schönen Wadln zu machen, aufs Brustbein. Hansi Knoteck ißt eine Bratwurst. Ihr Mann, Viktor Staal, ist müde. Ein Zuschauer mit einer eigenen kleinen Sechs-Tage-Bahn auf dem Kopf erläutert seiner Frau vergeblich den Ablauf des Rennens: »Walli, gib’s auf, dir ko ma direkt zuaschaugn, wennst’ as Denga ofangst!« Die Radfahrer machen beim Spurt einen Buckel und schnurren wie der Kater Murr ... 28

»Je m’en flehe«, sagen die Belgier, wenn man sich deutsch mit ihnen verständigen will, »non capisco« die italienischen Fahrer, und »nix understand German« die Radler von dem fernen Australien. Wenn sie aber das neudeutsche Wörtchen »D-Mark« hören, geht ihnen allen der Mund auseinander wie ein Riß in einer Gummischürze. Setzt der Prämiensegen ein, so hält der belgische Star Zwiesprache mit seinem Vorderrad; und auch die anderen Fahrer hängen ihre Figuren über die Lenkstangen, als ob sie über ihr verfehltes Leben nachdenken würden. Wie heißt es doch in der internationalen Hausordnung der Sechs-TageFahrer? »Was nützt es dem Radler, wenn er das ganze Rennen gewinnt, an der Prämie aber Schaden leidet.« Die Parole in allen Rennen der Welt bleibt immer »La Plata«, das »Blattä«, das Geld.

BLASIUS UNTER DEN OBDACHLOSEN »Hör mal zu Luise, nu ham wa keen Freier, nu müss’ ma die olle Zicke von da Mission aufs Kreuz schmeißen«, hörte Blasius eine verwelkte Großstadt-Orchidee zu ihrer mit giftigem Rot betuchten Freundin sagen. Die beiden schrägen Mädchen begeben sich mit schaukelndem Kamelgang zu einer traurigen Holz­ baracke am Hauptbahnhof-Südbau. »Übernachtungsheim der Bahnhofsmission«, das Hotel der Gestrandeten, Gestrauchelten, der Halb- und Vierfünftelverhungerten, der Käuflichen und Unverkäuflichen, der Arbeitsscheuen und Arbeitsuchenden, der menschliche Schuttabladeplatz und Komposthaufen einer zivili­ sierten, überkultivierten, überbevölkerten Großstadt. Vor dem Barackeneingang sieht Blasius allerlei Dreigroschenoper-Gestal­

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ten und Figuren aus Maxim Gorkis Nachtasyl. Mehrere Mäd­ chen, welche bei jedem vorbeigehenden Jüngling die rechte Augenbraue hochziehen, zwei vergrämte Schutzleute, ein junges Ding ohne Arm und eine beinamputierte Frau, einen Betrun­ kenen mit Gesichtsfalten wie ein alter Geldbeutel, zwei Frauen, die ein Kind in einem Wäschekorb mittragen und schließlich einen jugendlichen Streuner, der auf zwei Ziegelsteinen sitzt und immer wieder mit einem langen Speichelstrahl auf die Schaft­ stiefel der Schutzleute zielt... Es beginnt leise zu regnen, und die Obdachlosen stauen sich an der Baradcentür wie Treibholz an einer Schleuse. Im Vor- und Anmelderaum, den man in den feinen Hotels vis-à-vis Foyer nennt, riecht es hier nach Läusepulver, Malzkaffee, Schweiß­ füßen und dem 4712 der armen Leute, nach Lysol. »Flüchtlinge 7, Evakuierte 4, Frauen mit Kindern 3, obdachlose Münchner 4, Grenzgänger 2, einzelne Kinder 2«, registriert das freundliche Schalterfräulein im Gästebuch und antwortet auf die Fragen des Spaziergängers: »Ja, ja, geklaut wird natürlich hier­ manchmal bringen die Mädchen auch Freiersmänner mit-manch­ mal haben wir im Frauenschlafzimmer, in dem 20 Betten stehen, auch schon Männer unter den Decken gefunden, die sind durchs Fenster eingestiegen - ja 80 Prozent der Schlafgäste erzählen Märchen über ihr Schicksal, arme Teufel aber sind sie alle.« Blasius wird von einem Mädchen mit gelber Fadennudel-Frisur um den Rest seiner Zigarette angeschnurrt. Die Kleine nimmt die Kippe, hebt dann ungeniert ihren Rock hoch und klemmt ihren Strumpf mit einem Pfennig am dunkelweißen Strapsband fest. Eine Frau, in deren Gesicht die Nerven zucken, weint halt­ los in ihre Brotsuppe. »Dieser Verbrecher, mein Mann, rausg'schmiß’n hod a mi aus meina Wohnung, der oide Heislbruada. Sei Vatta war scho im Zuchthaus und er hod soiba aa scho vier Johr Knast owagriß’n.« Die Frau wird vom Weinen gestoßen,



daß der Blechlöffel zwischen ihren Zähnen klappert. Dann wird ein kleines Kind hereingeführt. »D' Tant’ haut mi oiwei, jetz bin i iahra davoglaffa.« Mutter tot, Vater vermißt, eine ent­ fernte Verwandte hat das Mädel widerwillig aufgenommen. Prügel gab’s viel und dann gab’s auch noch solche Sachen zu hören und zu sehen, die das elfjährige Mäderl längst nicht mehr an den Storch glauben lassen, erfährt Blasius. Das Kind kann für die Nacht bleiben, morgen wird es in die gütigeren Hände des Stadtjugendamtes kommen.

Um 21 Uhr liegen 25 krumme Gestalten auf den amerikanischen Feldbetten im Frauenschlafsaal. Zerrissene Strümpfe, Schuhe mit Notausgängen für eindringendes Wasser, speckige Aschenbrödel­ kleider und Reisekoffer mit der Aufschrift »Persil« liegen und stehen auf dem Boden herum. Bald soll diese Elendsbaracke ab­ gerissen werden. An ihrer Stelle wird auf dem freigewordenen Gelände ein Luxushotel mit fließendem kaltem und warmem Wasser, Haustelephon, Entlüftungsanlagen, einem Lieferanten­ eingang und einem Portier, der fünf Sprachen spricht, entstehen. Freilich für eine andere Kundschaft.

D’FREMDN KEMMA!

Im Jahre 1938 legten sich während der Reisezeit eineinhalb Millionen Fremde in Münchner Fürsten-, Doppel- und Einzel­ zimmer, auf Biedermeier-Sofas, Kanapees und gepolsterten Badewannen nieder. Dann lag der gesamte Fremdenverkehr selbst zehn Jahre lang darnieder. Heute haben die Beherbergungs­ unternehmer Münchens schon wieder 7000 Betten auf die Holz­ beine gebracht. Auf Anordnung unserer Stadtverwaltung stoßen 3i

die Fremden heuer hauptsächlich aus der Richtung Lippe-Det­ mold, Schwäbisch-Gmünd und Amerika auf München vor. Aus dem Osten ist dagegen im Augenblick noch keine Invasion zu erwarten. Mit einem dreisprachigen Prospekt, dem neugotischen Rathaus­ turm, 86 Fremdenheimen und einer sehenswerten Folterkammer mit der letzten Eisernen Jungfrau winken die Münchner Stadt­ väter den Reisenden. Die einheimischen Brauereien halten für die Fremden über 100 000 Maßkrüge bereit, weil diese als Souvenir besonders begehrt sind. Ferner werden die Reisenden in dem Werbekatalog des Verkehrsvereins aufgefordert, die Nudelbrett-Oase hinter den Hofgartenarkaden zu bevölkern, häufig die Bavaria zu besteigen und das weltberühmte Münchner Chlorwasser durch ihre Nieren zu filtern. Daß die Sommergäste auch die Münchner Kellnerinnen hinterwärts zwicken dürfen und fleißig zur Hebung der Verkehrsunfälle beitragen sollen, steht nicht drin. Hastig rüsten Dienstmänner, möblierte Witwen, Andenkenver­ käufer, Taxameterfahrer, Fremdenführer und Gastwirtschaften zum Empfang der Bundestrotter. Die Geschäftsleute reinigen ihre gußeisernen Ladenkassen, trainieren in der Freizeit vor den Schlafzimmerspiegeln den Isartaler Begrüßungsbückling und probieren an ihren bayerischen Stammkunden Entschuldigungen aus, die sie aber sofort wieder zurücknehmen. An alte Fahrrad­ rahmen, Kupferstiche, Hammelkoteletts und Bruchbänder hän­ gen die besorgten Unternehmer im Eifer der Fremdenwerbung kleine Schilder, auf denen zu lesen steht: »Das passende An­ denken für Ihre Lieben zu Hause.«

Die Wirte spitzen ihre dicksten Bleistifte und heben mit einem Ruck das Niveau ihrer Speisenkarte. Aus Blaukraut wird Rot­ kohl, das simple bayerische Ripperi wird zur »Casseler Cotelette« befördert, und durchsichtige Wassersuppen zu doppelt 32

übersetzten Kraftbrühen »nach Art des Hauses« ernannt. Natür­ lich wollen auch Portiers, Hausknechte und Zimmermädchen ihren Anteil haben. Das Trinkgeld wird in vier Sprachen in Empfang genommen, und im Gesamtunternehmen ist peinlicher­ weise kein Pfennig Wechselgeld bei der Abreise des Gastes zu finden. »Na, dann lassen Se man!« Wenn die ersten Schnellzüge mit Feriengästen auf dem Haupt­ bahnhof eintreffen, werden die gewerbetreibenden Bürger der Fremdenverkehrsstadt München am Bahnsteig stehen und die noch heißen Lokomotiven tätscheln.

In dieser Zeit wird der mindere Einheimische manchmal benach­ teiligt und übersehen. Er wird zum Opfer des Fremdenverkehrs. Kann man es ihm da verübeln, daß er in seinem heiligen Zorn den Zuagroasten bei der Frage nach dem Hofbräuhaus ant-

wortet: »Da genga S’ jetza da Neinzehna nach bis S’ nimma kenna, nacha üba'n Deisenhofener Radlerweg nach Garching und da frag’n S’ nomoi! Lassen S* Eahna aba net falsch eisag’n, wenn Eahna d’ Leit wieda z’ruckschicka! Do gibt’s nämli oa, de meng de Fremd’n net!«

BLASIUS GEHT AUF DEN GRÜNEN MARKT Blasius tätigt einen Osterspaziergang auf dem Viktualien­ markt. »Einkauf, Einkauf«, die Marktfrauen, deren guter Kern von jeher durch die rauhe Schale zahlloser Schilä-Westen, ehr­ würdiger Jumper und Leiberi verhüllt ist, halten eifrig gute Ware feil. Eine Daxenfrau, gutmütig und unbeholfen wie ein Seehund auf Landurlaub, offeriert die verwelkten Föhrenbüscherl mit dem Zusatz: »Zwoif Jahr Garantie.« Bei den Salat-Weiberln gibt’s für ältere Herren, die ihren säumigen Frühlingsgefühlen etwas nachhelfen wollen, den guten Hopfensalat, der in seiner Wirkung den Sellerie bei weitem übertreffen soll und deshalb reißenden Absatz findet. Die Samenhändler stellen Saubohnen, Kapuzinererbsen, Johannis­ brot und Erdnüsse aus, und auch eine seit zehn Jahren nicht mehr aufgetauchte exotische Frucht, das Manna. Als Blasius diese langen schwarzen Stangen sieht, ist er im Nu wieder ein Gassen­ bub und »dätscht« dem Kolonialwarenhändler Isemann, der in der Sonne vor dem Südfrüchteladen seine Gichtbinkel auf­ wärmt, ein Manna-Stangerl. Nach dem Genuß desselben fanden in Blasius’ zartem Kindermagen mehrere Atombombenversuche statt, und am Abend holte Blasius senior für alle Fälle den »Spanischen«, und dann hatte der Hintere des Spaziergängers 34

Kirchweih. In der Erinnerung an dieses fragt Blasius eine Standlinhaberin, die zwischen ihren Samensäcken verbarrikadiert ist wie ein vorgeschobener Beobachter nach »Biebgockelfedern für ein Indianerg’wand«, und siehe da, auch die gibt’s wieder und sogar jene kleinen steinharten Zwergerbsen, mit denen sie als Buben ihre Blasröhrln luden. Blasius notiert dies als Positives. Auf dem Geflügelmarkt wohnt der Spaziergänger einer Trans­ aktion zwischen einer Bäuerin und einem frisch verheirateten »Hopperi« bei. Die Bäuerin, vom pfiffigen Aussehen wie Schneewittchens Stiefmutter, preist mit anschwellender Vor­ alarmstimme die Qualitäten eines alten Ganserers, der nach Blasius’ Berechnung bestimmt schon bei der Uraufführung des »Lohengrin« die Rolle des Schwanes gespielt haben mußte. »Schaun S’ Fraule, wia zart des Ganseri is«, trompetet die länd­ liche Sirene und schwenkt den blaugeäderten Gänseleichnam vor den Augen der Kundin hin und her, daß er in allen Schar­ nieren knarzt. Schließlich leistet die junge »Hauserin« keinen Widerstand mehr und zieht mit dem Vogel Roch ab. Die Land­ frau tut einen schweren Schnaufer, wischt sich mit den Puls­ wärmern ein schaukelndes Tröpflein von ihrer herzhaften Nase und packt einen Zwillingsbruder des hochbetagten Gänserichs aus einem Wehrmachtsrucksack. Mit Befriedigung betrachtet der Spaziergänger die riesigen Eier­ pyramiden. Scheinbar werden die bayerischen Hühner nunmehr von einem Hennecke-Hahn betreut, denn woher käme wohl sonst das überplanmäßige Ablieferungssoll. Auch der Käse­ markt ist reich beschickt. Camembert und Limburger laufen der Kundschaft in edlem Wettstreit entgegen.

Brachsen und Zandern, Forellen, Hechte und Renken tummeln sich in Bassins oder liegen sauber ausgerichtet auf den hölzernen Verkaufstischen des Fischmarktes. Ein Karpfen von acht Pfund Gewicht, melancholischen Augen und weit geöffnetem Maul 3$

singt leise ein frommes Lied. Es herrscht eine ausgesprochene Fastenstimmung. Bei einem der Fischhändler allerdings sieht Blasius eine Handlung, die ihm schwer mißfällt. Ein Karpfen von etwa zwei Pfund Gewicht wird aus dem Bassin gefischt, auf die Waage gelegt und auf Wunsch der Kundin zappelnd und ohne jede Betäubung in Zeitungspapier gewickelt und in einer Markttasche verstaut, wo er zwischen Porreestangeri und grünem Salat unter heftigem Schwanzschnalzen erstickt. Von den Kirchtürmen der Stadt wird die Auferstehung einge­ läutet.

APRILWETTER Das große Barometer auf dem Turm des Deutschen Museums hat Seitenstechen vor lauter Auf und Ab. In den Einmachglasln fallen die Laubfrösche erschöpft von der Leiter. Die Münchner Marktfrauen, Fensterputzer, Kaminkehrer und Spitaler sowie die Außendienstbeamten für Taschendiebfahndung schimpfen: »Is denn des aa no a Weda? Liaba gar koa Weda, als wia a soiches Weda!« Heftig entbrennt das Tauziehen um die Gunst des heiligen Petrus. »Ho ruck«, rufen die Kinobesitzer bei schönem Wetter und zünden geweihte Kerzen an, damit der himmlische Wettermacher die leeren Parkettplätze in den Lichtspielhäusern sehen kann. Die Besitzer der Ausflugsstätten mit zivilen Preisen, Blaskapellen und bewachten Parkplätzen zwängen beim Sonntagsgottesdienst ein Packeri Fünferischeine in den Opferstock. Frisch nieder­ gelassene praktische Ärzte, Taschentuchvertreter und die EmEukal-Männer in den Drogerie-Auslagen meinen, es wäre ge­ recht, wenn der liebe Gott der zahlungsfähigen Kundschaft

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endlich eine mäßige Grippe oder dicke Mandeln schicken würde. Eine arge Zeit hebt an für die Geschäftswelt, für die staatlichen Wettergerüchtemacher und für die Liebespaare, die auf die Frei­ luftsaison warten. »Raus mit de Badehos’n« und »rei mit de Schlittschuah«, heißt es täglich bis zu siebenmal im Sportartikel­ geschäft, und auch in den Damenauslagen werden viermal am Tag die Modell-Kombinationen »Kunigund mit Gummibund leicht angerauht« und »Viktoria regia, leicht durchbrochen« gewechselt. Die Wetterberichthersteller hängen in dieser Zeit das Telephon aus, und wenn sie ihre Stationshäuschen verlassen, halten sie zuerst auf einem Hakelstecken den Hut ums Eck wegen der Publikums-Niederschläge. »Auf ihre Ringellocken, da fielen Blütenflocken«, schnattert der Volontär Schäberl, vor Kälte grün wie ein Ausgußsockel. Als er aber mit dem Fräulein Zitzibeh vom Radlerweg im Englischen Garten abweicht, stellt er fest, daß man noch überall vom Feinde eingesehen wird, und er sagt zu ihr: »Bei so an Weda, da tuat ja de Liebe no direkt weh!« Auf der Höhe des Chinesischen Turmes ist er dann end­ gültig zu der Überzeugung gekommen, daß im April mit einer Braut außer Spesen noch nichts zu machen ist, und am Nikolaiplatz gibt er sie deshalb an die Städtische Straßenbahn ab. Es gibt aber auch Leute, die im Aprilwetter konsequent bleiben. Da ist der Dichter Leberknecht, der seinen Wintermantel all­ jährlich genau am 21. März versetzt. Ab 22. März geht er blank, denn es ist Frühling. Beim ersten Regenschauer schrumpft sein Anzug Marke »Zell am See« dann zu einem Gartenschlauch zusammen. Am unbekümmertsten trotzen die Münchner Gas­ senbuben dem launischen Aprilwetter. Die lästigen Leiberi und Unterhosen wurden längst von der Mutter demontiert. Spendet der Himmel Regen, werden »Dreeglaggan« durch Trottoir- und Randsteinritzen abgeleitet, und scheint die Sonne,

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scheppern rostzerfressene Radifeigen über das Pflaster. Die juckenden Wollstrümpfe sind über die Wadi herabgerollt. Weder Matsch noch kalter Nordwind können den Bubenbeinen etwas anhaben, denn die Knie der rauhen Vorstadtsöhne sind im April gegen alle Witterungseinflüsse bereits durch einen handfesten »Baamhackl« genügend geschützt.

BLASIUS IN DER KURZWELLENBURG Blasius besucht das eckige Rundfunkhaus und tritt forsch ins Zimmer des stellvertretenden, auf den Besuch des Spaziergängers wohl vorbereiteten Chefredakteurs. »Wenn Sie nichts zu tun haben, tun Sie’s bitte nicht bei mir!« meint ein Schild auf dem Schreibtisch dieses Rundfunkers, der durch sein Bilderbuch­ lächeln ein mildes Licht im Zimmer verbreitet. Alsdann führt er Blasius, vorbei an seiner unter Naturschutz stehenden Sekre­ tärin, durch die von norddeutschen Lauten erfüllten Hallen der bayerischen Kurzwellenhochburg. Gleich im Nebenzimmer stößt der Spaziergänger auf den statt­ lichen Wackersteinbauch eines Bajuwaren, der fest und ruhig in der preußischen Konkurrenzbrandung steht wie der Georgenstein bei Baierbrunn. Dieser Wellenreiter hat zwar keine Nylon­ puppe im Zimmer, dafür aber zehn wundgebissene Tabaks­ pfeifen, die von den Geburtswehen seiner Kommentare beredtes Zeugnis ablegen. Durch einen schmalen lurspalt darf Blasius einen Blick in das Allerheiligste tun, in dem der Hauptschuldige am Bayerischen Rundfunkprogramm an einem dunklen Schreibtisch seine düstere Sendefolge ausbrütet. 38

Der Spaziergänger kommt in den Abhörraum, der schalldicht und gepolstert ist wie die Zelle eines Tobsüchtigen. In diesem Raum trifft Blasius unvermutet einen Sportreporter, der mündinerisch spricht. Sicher hat man ihn auch deshalb in diesem Kammerl abgesondert. Mit vielen gelehrten Fachausdrücken wird der Spaziergänger in die Geheimnisse der Bandaufnahme eingeweiht. Das Tonband sieht aus wie eine Guttapercha-Luft­ schlange und ist magnetisiert. Alles, was jemals an überzüchteten Sendungen, Kommentaren, Fleckerlteppichen und Berichtigungen auf diesem vergewaltigten Bandwurm aufgenommen wurde, lagert in tiefen Regalen. Die Gesamtlänge des konservierten, heftig kritisierten bayerischen Rundfunkprogramms beträgt gegenwärtig über 40 000 Kilometer, erzählt man dem staunen­ den Besucher.

Mit großer Befriedigung ist Blasius bisher den schönen Beinen der überall reichlich vorhandenen Sekretärinnen begegnet, von denen nach unbestätigten Gerüchten einige sogar die Steno­ graphie beherrschen und zwei bis sieben die Schreibmaschine tippen können. Rasch hat der Spaziergänger auch den Vertei­ lungsschlüssel für diese Vorzimmerdamen entdeckt und stellt fest, daß die Bedarfsdeckung zweifellos nach bevölkerungs­ politisch wertlosen Grundsätzen erfolgt, denn je älter der Ressortleiter, desto minderjähriger die Sekretärin.

Zuletzt führt man Blasius in das Tonarchiv, in dem über 900 verschiedene Geräusche auf Abruf bereitliegen. Auf Rollen ge­ wickelt werden in der Abteilung »Verkehrstöne« angeboten: »Schließen einer Güterwagentüre«, »Wasserlassen einer Loko­ motive«, »Straßenlärm in New York« sowie »Laufen auf Kies«. Die kriegerischen Archive enthalten: »Die Sondermeldungs­ fanfare«, »Schlachtenlärm mit viel Volk«, »Laden einer Pistole«, das »Horst-Wessel-Lied«, die »Internationale«, »Splittersurren nach Granatwerfer-Einschlag« und vieles mehr. Unter den 39

Wettergeräuschen findet man »Steinwurf in kleinen Bach«, »Wellengemurmel bei der Ludwigsbrücke« oder »Leichter Regen auf Blechdach«. Ferner ist auf Lager: »Grunzen einer Wildsau«, »Schnalzen eines Fisches in einem Blechkasten«, »Brotzeitläuten«, »Das Rauschen von Blut«, »Zähneputzen« und »Gurgeln bei Halsweh«. Küsse, Seufzer und anderes Liebesasthma muß vom Schau­ spieler selbst geliefert werden, erwidert man Blasius auf dring­ liches Befragen. Als der Spaziergänger aber den berechtigten Vorwurf erhebt, wo denn im Geräuscharchiv des Bayerischen Rundfunks beispielsweise das »Abschälen einer Weißwurst«, das »Wegblasen von Bierschaum« oder das Tonband mit dem »Gegrantel über das schlechte Programm« bleibt, schweigt man betreten.

ISAR-RIVIERA Wieder bevölkern sich die städtischen Liegewiesen an der Braunauer Brücke, beim Flaucher und im Englischen Garten mit sonnenhungrigen Großstädtern, die sich hier mit Genehmi­ gung der Stadtverwaltung röten, bräunen und braten lassen können. Aber auch auf Mauervorsprüngen, Bankruinen, Rückgebäudebalkonen und leeren Bierbanzen kauern die Asphalt­ mohikaner und Bleichgesichter mit zurückgeklappten Köpfen, als sollten sie auf entzündete Mandeln untersucht werden, und sammeln gierig jeden ultravioletten Strahl. Besondere »Brenn­ punkte« des Münchner Sonnenkults sind schon seit jeher das Gelände vor dem Nationaltheater, die Friedensengeltreppen und der Monopteros im Englischen Garten.



»Sitz’n d’ Leit no allaweil auf da stoanan Bank vor der Resi­ denz?« fragte der vor kurzem gestorbene Prinz Ludwig Ferdi­ nand in den letzten Minuten vor seinem Hinscheiden, und als man ihm die Frage bejahte, war er zufrieden. Dort ver­ sammeln sich die schönen Chormädchen des Theaters, philoso­ phierende Taxameterchauffeure, müde Pensionisten, schnatternde Ladenfräulein und lächelnde Mütter mit blitzenden Ehestands­ lokomotiven. Der junge Kanzleiassistent Redlich montiert hier in der Mittagspause seine Halsbandage ab und hält seine bleiche Camembert-Haut in die sechsunddreißigkarätige Zwölf-UhrSonne.

Den Monopteroshügel behaupten noch immer die akademischen Sonnenanbeter gegen alle bürgerlichen Angriffe. Mit Kants Kritik der reinen Vernunft im Genick errechnen sie haargenau den günstigsten Aufprallwinkel der Strahlen und drehen sich, nach einer eigens hierfür angefertigten Zeichnung, viertelstünd­ lich um einen Breitengrad, damit ihnen ja nichts verlorengeht. Die Stufen des Friedensengels werden hauptsächlich von jungen Damen bevorzugt, die sich nicht scheuen, ihre Derby-Beine weit über die »Hundhammer«-Linie hinauf zu entblößen, »weil ma ja in jed’n Familienbad um dreißg Pfenning no vui mehra sehgn ko«, argumentieren sie. Natürlich haben auch alle anderen Münchner Stadtviertel ihre Spezial-Färbereien. In Schwabing wird nicht nur auf dem Rasen und dem Brunnen vor der Uni geröstet, sondern auch auf der Schuttkippe im Luitpoldpark, in den romantischen Gärten am Schwabinger Bach und auf den lebensgefährlichen Dächern zerbombter Ateliers. Im Alten Botanischen Garten halten sich die Stenotypistinnen des Justizpalastes seit Jahren am Waden­ bein des Neptuns fest. Auf den Bänken sitzen alte Rentner und dösen wohlig in der kostenlosen Zentralheizung des lieben Gottes.

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Die unfreiwilligen Kurgäste an der Arbeitslosen-Riviera von der Föhringer Brücke bis zur Marienklause sind die eigentlichen Professionals unter den Sonnenplätscherern. Langausgestreckt, bewegungslos und braun wie Allerseelenzöpfe liegen sie am Isar­ ufer auf den weißen Steinen, die heiß sind wie frischgekochte Eier. Auf die Augendeckel haben sie sich Kiesel gelegt und auf

der Brust tragen sie manchmal, aus Papier ausgeschnitten, einen Mädchennamen, »Bobbi« oder >Muschi«, der später in weißer Neonschrift leuchtet. Daß sich aus diesem Verfahren aber auch Kapital schlagen läßt, beweist ein besonders schön gefärbter Dreimühlenviertler, der auf Vorder- und Rückseite seiner Mahagoni-Figur, säuberlich in weißer Haut ausgespart, den Namen einer bekannten Speiseeis­ 42

Firma spazieren trägt. Er erhält dafür, unter der Verpflichtung, fleißig den Badestrand zu beleben, die Garantiesumme von täglich sieben Mark. Ein Lebenskünstler.

BLASIUS BEOBACHTET EINEN KUHHANDEL

»Wenn da beim Viech-Handln oana d’ Hand gibt, nachad muaßt hernach deine Finga nachzoin, ob da koana abgäd«, warnt man den Spaziergänger, als er kund und zu wissen gibt, daß er diesen Handelschaften im Münchner Schlachthof bei­ wohnen will. »900 Stück Großvieh, 700 Schweine, 600 Kälber, mehrere Dutzend Schafe und einige Schlachtpferde« notiert der amtliche Tagesauftrieb. Bevor nun diese Ein- und Zweihufer zu Thüringer Stadtwürsten, preiswerten Beamtenripperln und zweifelhaftem Fleischsalat verarbeitet werden, gehen sie durch die Hände der Viehagentur-Besitzer, die dabei einen dürftigen Gewinn verbuchen und ein Durchschnittsgewicht von 180 bis 260 Pfund erreichen (nicht die Hände!). In den langen Schlachthofhallen rasseln die Kuhketten, gurgeln die Stiere, röhren die Kühe und schnuppern die Viehhändler. Die Viehtreiber und Burschen machen bereits vor Beginn des Marktes ihr »Schäfchen«, indem sie jeglichem Rindvieh die Haare aus den Ohren und von den Fliegenabwehr-Perpentikeln scheren. Für Großvieh-Schwanzhaare wird dabei ein Kilopreis von drei bis vier Mark erzielt, während die Ohrwascheiernte bis zu 25 Mark pro Pfund abwirft. Neidlos müßte aber jeder Friseur, sogar ein solcher mit Meisterbrief, zugeben, daß diese Schlachthausbarbiere ihr Handwerk verstehen. Wenn die Kühe auch nachher traurig mit ihren kahlen Elefantenschwänzen 43

wedeln, so mag sie doch das Bewußtsein trösten, daß sie ihr Opfer auf dem Altar der Kunst dargebracht haben, denn aus den Kuhhaaren entstehen Pinsel und aus diesen wiederum Stil­ leben von weidendem Rindvieh. Es hat schon etwas in sich, wenn der Volksmund bei einem Geschäft mit viel Kompromissen von einem Kuhhandel spricht. Blasius hört mit Staunen die bildhafte Ausdrucksweisederboden­ ständigen Viehhändler. Der Käufer (deutet auf eine nach der Auffassung des Spaziergängers stattliche Kuh): »Oiso wos mechst jetza füa des Boa?« - Verkäufer: »Wiaso Boa, de Kuah is ja so fett, daß d’ as ohne Brot gor ned oschaugn konnst.« - Der Käufer greift das Tier fachkundig an Schwanzansatz, Weichen und Brust ab, fährt ihm dann mit dem Knöchel über die Rippen und erklärt: »De duat ja wiar a Xylophon, wia wennst mit’n Hausschlüssel beim Hoamgeh übern Gartenzaun fährst. I gib da a Fuchzgerl füa’s Pfund.« — »Wos, a Fuchzgerl und was’ mehra wert is, gib i dir hint’ nauf, nacha konnst a Zeitlang nimma sitzn.«

Hin und her geht das Duell der Kraftausdrücke. Dann ziehen beide Kontrahenten ihre Riesenhände aus den Hosentaschen, und nun beginnt das Einschlagen. »Patsch - Hargood, bin i a Wurzn« - »Pitsch - an soichan Hochzeita findst nimma.« »Patsch - bist froh, daß d* de oide Wurscht-Schuxn los host.« »Pitsch, Patsch, Pitsch.« Das Handschlagen, das etwa zwanzig­ mal vorgenommen wird, bis es durch einen besonders schnal­ zenden Patscherer Rechtsgültigkeit erhält, sieht aus, wie wenn die zwei Beteiligten Reibadatschi machen würden. Ist der Handel getätigt, nimmt der Käufer einen Lippenstift und malt dem Rind seine Anfangsbuchstaben auf den Schenkel. Dann geht es ab damit ins Leberkäs-Bergwerk, Endstation Zenettistraße. »De häd ned amoi da Hagenbedc no mögn«, sagen nach gelun44

gener Transaktion die Viehhändler zu ihren Helfern. »Host as g’seng, wos des ausjahrige Luada für a Gweih g’habt hod, wiara Radllenkstanga«, und der Chef des Unternehmens schlägt sich befriedigt mit dem Weichselbaumstecken auf die Schaftstiefel und schmunzelt: »Ja, ja, mia Agenten san arm, aba reinlich.«

IM TIEFEN KELLER... München hat zwei Dutzend schattige Biergärten und fast ein halbes Hundert luftige Terrassen-, Garten-, Boulevard- und Randstein-Cafés. In diesen kann der durstige Gast in guter Luft sowie Gesellschaft eine halbwüchsige Radlermaß, Eiskaffee, einen hausgemachten Pfälzer Rotwein oder auch Spiegelauer

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Nierenkracherl (»enteisent«) trinken. Jeden normalen Freizeit­ gestalter locken deshalb diese Eilande ganz besonders zum ge­ mütlichen Rettichverzehr oder zu besonntem Nichtstun. Nicht so einen gewissen Kreis von Schwabinger Magazin-Bohemiens. Diese begeben sich jeden Freitag am Spätnachmittag um 18 Uhr, wenn die Sonne überall noch gelb und heiter erstrahlt, in die modrigen Geschäftsräume des dritten Mannes, einen verfallenen Ruinenkeller im Stadtzentrum. Dort atmen sie erleichtert und in vollen Zügen das würzige Mauerschwammaroma, trinken in großen Schlucken bissigen Wein zum Selbstkostenpreis und versuchen mit belegter Stimme den bevorstehenden Untergang des Abendlandes aufzuhalten.

Durch eine Kriminalroman-Eingangstüre gelangt der Besucher über schmierige Treppen und durch eine ehemalige Gasschleuse, vorbei an einer zerfressenen Fahrradgabel und blasenschwachen Wasserleitungen, in einen frühgotischen Luftschutzbunker. Dort bewacht ein Kellermeister, der auf den romantischen Namen »König Laurin« hört, aber ausschaut wie eine oberpfälzische Schnupftabaksreklame, einige hundert Flaschen Wein. Der Gast erhält hier seine abgefüllte Alkoholsuppe und trifft auf seinem weiteren Weg durch hallende Gewölbe nur auf einige rehpin­ schergroße Ratten. »De dean koana oid’n Sau was«, sagt ein Maler aus der Schellingstraße sehr ruhig, »jetza wead’s glei gmüatli!« Und er führt die Ankommenden in einen Querstollen, in dem auf sechs an­ einandergereihten Tischen vierzehn brennende Kerzen aus Flaschenhälsen ragen. Auf Kisten und Bänken sitzen etwa fünfzig zwielichtige Gestalten. Sie haben ihre Weinflaschen zwischen die Knie gezwickt. Ein zartblondes Mädchen schnei­ det mit einer Nagelschere fingerdicke Scheiben von einer arm­ dicken Gelbwurst. »Wissn S’, mia san Existentialisten vo da neien Richtung«, erklärt der Maler und läutet mit einer Kuh­ 46

glocke, worauf ein gut sechzigjähriger Jüngling, der eine Turn­ hose anhat, auf eine Sunlichtkiste kraxelt und ein Lied singt. Das klingt wie das Einziehen der Ruderkähne am Hinterbrühler See. Hernach treten zwei weitere Künstler auf, die in einem Amateurvers behaupten, sie hätten mit Marlene Dietrich ge­ speist und wären bei Bikini dabeigewesen. Dazu schnalzt einer der Sänger mit der herabhängenden Stiefelsohle den Takt, während sich der andere an jeder geographisch wichtigen Kör­ pererhöhung kratzt, worauf eine unverbildete Dame in Blau meint: »Vielleicht hod a an Kraillinger Beiß?« Um 21 Uhr holt sich »König Laurin« sein Kellerrecht, das darin besteht, daß er jede neu hinzugekommene weibliche Kundschaft küssen darf. Er schmatzt vernehmlich mit den Lippen und wischt sich nach­ her den Mund mit einem feststehenden Taschentuch ab. Um 22 Uhr klettert Schwabings Zukunft aus den Katakomben wieder in die Oberwelt. Die beißende Kellerluft trieb den ewig Unverstandenen das Wasser aus den Augen, und der Maler, der die Gäste empfing, verabschiedet sie daraufhin schlagfertig mit dem philosophischen Kalauer: »Die Träne quillt, die Erde hat euch wieder« (Faust I.Teil).

BLASIUS SIEHT NÄCHTLICHE TRABER

»Die Nacht gehört uns«, sagten sich die Stuten und Hengste von Daglfing und halten jeden Mittwoch ein Nachtrennen ab. Blasius und kein Mensch weiß, warum die braven Rösser eigent­ lich nicht beim Tag Zeit genug haben, ihre Läuflein zu tun. Natürlich gab es schon immer gewerbsmäßige Traber, die nur nachts auf dem Turf sind, aber die laufen gewöhnlich nicht in 47

Daglfing, sondern auf der »Rue de Galopp« in der Neuhauser Straße und haben fast alle eine unreine Gangart. In Daglfing aber ist das Traben lauterer Idealismus, und die Sportsleute, die hinter den Pferdchen her sind, wollen Geld gewinnen und bei­ leibe keins loswerden.

Unter den abendlichen Rennbahnbesuchern sieht Blasius eine Menge anerkannter, zweifelhafter und gewesener Persönlich­ keiten. Am Totalisator drängen sich ein weißhaariger Land­ gerichtsdirektor, ein Hochsprungmeister, zwei gewinnsüchtige Stadträte, vier fliegende Händler und eine Damenringerin. Sie lesen in ihren Rennprogrammen wie andere Gläubige im Evan­ gelium und rechnen mit rauchenden Bleistiften den Sieger heraus. Auf einmal läutet eine Glocke, und die Wetter fangen zu laufen an, wie die unglücklichen Pompejaner beim Ausbruch des Vesuvs. Zwei blaubetuchte Polizeifiguren wichteln ebenfalls schnaufend dahinterher, als müßten sie selbst im Preis von Aufkirchen mit­ laufen. Die Gäule haben das Rennen aufgenommen, und nun beginnen die Rennbahngespräche. »Schau amoi mein Mops o, der laaft heut wieder wia a Romadur auf a warmen Dampf­ heizung.« - »Ja, wos tuat a denn, wos tuat a denn, mei Fahrer schaugt an Gaul bloß untan Schwanz nei, ob a innen hohl is.« »Jessas, jetzt bleibt a direkt steh’, - ja fahr doch zum Gras’n, du ausjahriger Krampn.« Unschuldige Mädchen und solche, die es einmal waren, bekommen einen irren Glanz in die Augen wie beim Stöbern oder beim Sommerschlußverkauf. Sie »Webern« mit gekreuzten Beinen erbarmungswürdig hin und her, wo doch die Toiletten ganz in der Nähe sind. Auch die Männer wedeln erregt mit ihren ausgefransten Hosen, ballen die Fäuste in der Tasche und helfen im Geiste bei ihren Favoriten mit anschieben. Mehrere Gestalten mit erzürnten roten Gansjunghälsen und einem gemütlichen Pferdemistgeruch in den Krawatten ver­ folgen das Geläufe mit ausschweifenden Ferngläsern. 48

Die Sensation des Nachtrennens bildet das Amazonenfahren. Breitbeinig, die Hände bis zu den Achseln in den Hosentaschen der weißen Breeches, suchen diese Damen das höchste Glück der Erde hinter den Schweifen der Pferde. »Grod hutschen deans eanane Binkerl und Backeri«, konstatiert ein Rösser- und Frauenkipper beim Anblick der in glänzende Seide verpackten Reize, und wischt sich mit dem haarigen Handrücken über den Mund. Hinter der Siegerin dieses Rennens sind wegen ihrer kompletten weiblichen Ausstattung nicht nur die Hengste auf der Rennbahn her, sondern auch die Wallachen auf den Tribünen und Rängen. Den Hauptgesprächsstoff, der sich wie ein Faden um das in hunderttausend Watt getauchte Sandbahn-Oval zieht, bildet die Rekord-Einlaufquote, die den zwei Gewinnern für zusammen fünf Mark Einsatz fast 5000 Mark Prämie ein­ brachte. »Wenn i den Einlauf g’habt hätt, taat i barfuaß hoamgeh und d’ Schua üban Daglfinga Bredazaun auf d’ Rennbahn schmeißn«, sagt ein Turfgast mit einem eingeschrumpften Winter­ rettichkopf. »Aba i trief ja nix, außa Bekannte und g’winna tua i a bloß an Erfahrung.«

FENSTERGUCKER

Das Fenstergucken ist eine Leidenschaft wie das Zuschauen bei einem Preßlufthammer, die Isarfischerei oder das Beschwerde­ brief-Schreiben. Sie wird vom Parterre bis zum vierten Stock, an Werk- und Feiertagen, in Haupt- und Nebenstraßen, von allen Bevölkerungsschichten, jedoch sehr verschieden ausgeübt. Am zahlreichsten vertreten ist in München die Gattung der gutmütigen, dicken und phlegmatischen Fenstergucker. Sie sind

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beiderlei Geschlechts und manchmal so stattlich, daß man den Verdacht hat, sie wären schon vor der Fertigstellung des Ge­ bäudes eingezogen und das Haus mitsamt dem Fensterstock sei um ihre Figur herumgebaut worden. Häufig füllen sie ihre Fenster so vollkommen aus wie der Starnberger See die Bucht von Tutzing. Diese Fenstergucker haben die Fähigkeit, ohne anstrengende Kopfbewegung ihre Äuglein flink die Straße auf und ab wandern zu lassen. Männliche Beobachter lassen die Blicke bevorzugt in die oberen Öffnungen von Sommerkleidern fallen, während weibliche Beschauer lieber die abenteuerlichen Kopfbedeckungen ihrer Rivalinnen zerzupfen und mit ent­ blößten Eckzähnen sagen: »P-hü, a Huad soi des sei, dea schaugt ja aus wia a banierta Reisewegga!«

Die zweite Kategorie, die ihre Schaulust mit Geranienstöcken schmückt, tritt vielfach mit Strickzeug, Rehpinscherln, Porzellan­ pfeifen und Hosenträgern in Erscheinung; diese Ausgucker machen teilnahmslose Gesichter wie Einschreibepackl, obwohl sie oft arg leiden. Sie gehören nämlich meistens zu den soge­ nannten Hindernisguckern, die ihre Neugier nur unter Zuhilfe­ nahme von Hausrat stillen können und die ihre Lust mit Magen­ drücken und Wadikrämpfen bar bezahlen. Gegen Abend sagen sie: »Finsta wead’s.« Wenn ihnen dann das Gießwasser aus den Kapuzinerkistln der Partei oberhalb auf die Genickwirbel tropft, ziehen sie mürrisch wie preiswerte Weinbergschnecken den Kopf ein und schließen hörbar den gläsernen Aussichtsschalter. Die dritte Sorte der Fenstergucker sind die gewerbsmäßigen. Als diese bezeichnet man die nimmermüden Rausschauer, die von ihrer Tätigkeit um die Nabelgegend herum stark abgewetzt sind. Sie geben ihre Meldungen über die Schultern an eine im Zimmerdunkel sitzende anonyme Person weiter, »’s gschnappige Meier-Flitscherl schwänzelt wia a g’impfte Henna«, oder »da Alletagrausch-Kastl wead vo seina Oidn wieda abS°

g’schleppt.« Es entgeht ihnen gewöhnlich weder der simple Spaziergänger, der sich unbeobachtet glaubt, und deshalb eine harmlose Entdeckungsreise in seiner Nase unternimmt, noch der ausgerissene Mantelaufhänger des Bankbeamten Wechsel­ fieber, und vor allem nicht der Umstand, daß beim Schreiner Annerl, wenn sie vom Besuch bei ihrer Freundin heimkommt, an der Bluse ein Knopf mehr auf ist, als beim Fortgehen. Diese Partei der Fenstergucker ist zwar noch nicht gemeingefährlich, sollte aber trotzdem jetzt schon in die Genfer Konvention auf­ genommen werden. Leider gibt es dann noch eine Anzahl ausgesprochen bösartiger Fensterspione, die ihre bajonettartigen Nasen und die mahlen­ den Hirschgrandizähne hinter dem undurchsichtigen Gerank von Kistlbohnen verbergen. Diese gleichen jenen Zeitungs­

lesern, die Löcher in die Tageblätter machen, um dadurch den lieben Nächsten bis in die Milz hinein zu beobachten. Diesen Hinterhausermittlern und Familien-Secret-Service kommt kein abwandernder Nierenstein aus. Sie tasten alle in ihrem Blick­

feld auftauchenden Gegenstände mit Radarblick ab, wenden den Hausinwohnern in mißtrauischen Gedankeneingriffen so­ gar den Blinddarm um, und fühlen nachts, wenn durchs Fen­ ster nur mehr die Dunkelheit zu beobachten ist, mit den Finger­ spitzen an die Hausabflußrohre, damit ihnen nimmermehr was auskommt. Erfreulicherweise jedoch genießen diese Wasser­ speierköpfe nicht die ungetrübte Gunst des großen Fenster­ guckers, der über ihren Scheiteln manchmal eine Dachplatte lockert oder ihnen auch ohne Bestellung eine Gürtelrose oder Zahnfisteln schickt.

BLASIUS HAT EINEN FALSCHEN BERUF »Maledetto sakramento bancrotte«, jammern schwarzlokkige Gestalten am Kontorhaus der Münchner Großmarkthalle. Sie schütteln einander voll Beileid die Hände, reißen die offe­ nen Hemden an der Brust auseinander, als sollten sie geimpft werden und streicheln dann abschiednehmend ihre traumhaft schönen Limousinen. Diese Verzweifelten sind italienische Obst­ importeure, sagt man zu Blasius, und augenblicklich wie Maria Stuart »schön aber unglücklich«, denn die pomodori, die Tomatenpreise stürzen - oh, mamma mia - sie fallen, wie die Mädchen auf den grünen Wiesen von Santa Lucia. Unter den Klagerufen der signori bröckelt der Mörtel vom gelbgestriche­ nen Kontorhaussockel, und das Chrom der Autostoßstangen beschlägt sich von dem heißen Atem. Wenige Meter von diesem Idyll sitzen Männer und Frauen mit kreuz und quer geflickten Arbeitsschürzen, die aussehen, als hätte sie van Gogh genährt, und halten ihre schrundigen

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Wurzelhände vor sich hin. »Des san bloß Gelegenheitsarbeita«, sagt man zu Blasius. Freilich sind die auch beschäftigungslos, wenn in der Halle nichts geht, aber sie verlieren in der Stunde auch nur eine Mark fünfzig Pfennig Lohn; allerdings jammert dafür auch keiner von ihnen.

Drüben am Abstellgleis läuft gerade ein Waggon Gurken aus Italien ein. Blasius wird bei dieser Gelegenheit von einem offenherzigen und geständigen Großhändler über folgende bun­ desstaatliche Preispolitik unterrichtet. Ein Kilogramm Gurken kostet im Einkauf ab Erzeuger in Italien 6,3 Pfennig. Dazu kommen 14 Pfennig Fracht und Zoll und 2 Pfennig für Aus­ laden, Gewichtsverlust, Verderb und Sortieren. Dieses begreift Blasius. Was aber nimmermehr in sein einfältiges Spaziergänger­ hirn hineingeht, ist die weitere, von Frankfurt aus angeordnete Steuer von 10 Pfennig pro Kilo Gurken sowie eine unergründ­ liche Ab- und Zuschlagsgebühr, die bei jeder Feld- und Garten­ frucht verschieden hoch und vom Importeur von vornherein in den Bundessäckel zu bezahlen ist. Dieselbe beträgt für das Gurkenkilo etwa 4,2 Pfennig. Gesamtpreis dieses Gurkensalates im Rohzustand also 36,5 Pfennig, das ist das Sechsfache dessen, was der italienische contadino für seine grünen Feldsalami kriegt. »Ein gesundes Verhältnis zwischen Produktion und Bürokratie!« stellt Blasius fest. Früher hieß es den »Zehenten abgeben«, aber damals im dunklen Mittelalter murrten die Gurkenesser und wußten dabei nicht, wie gut sie es hatten. Wie der Spaziergänger die Waggonreihen entlangschnüffelt, sieht er einen Herrn mit Spitzbart, der seine gemütliche Nase in jeden Wagen steckt, eine Frucht aus den Behältern entnimmt und die­ selbe mit dem Fernrohr anschaut. »Dies ist der Kontrolleur vom Pflanzenschutz«, erklärt man Blasius, »dea schaugt nach, daß koane Seuchen und Läus mit’n Obst eing’schleppt wean.« Blasius erkennt die Verantwortung und Gefährlichkeit dieses Berufes

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an und er versteht auch, daß die Pflanzenkommissionäre von jedem Obst eine große lute mitnehmen müssen, damit sie da­ heim das Pfirsichbeschauen üben können. Was der Spaziergänger aber wiederum nicht begreift, ist die Gebühr von 18,50 Mark, die für diese Kontrollhandlung verlangt wird. Blasius kommt nämlich dabei leicht auf einen Stundenlohn von 300 Mark für den Spitzbart, weil eine Besichtigung oft keine fünf Minuten dauert. Dieses nimmt sich also der Spaziergänger fest vor: wenn er wieder auf die Welt kommt, wird er Tomatenkriminaler.

DIE STADT RUHT AUS

Nach amtlicher Schätzung zählt die Stadt München an schönen Sonntagen in der Urlaubszeit nur rund 250 000 Einwohner. Über eine halbe Million Münchner folgt dem bisher noch von niemandem gehörten Rufe der Natur und bewegt sich auf Eisenbahn-Plattformen, Soziussitzen und Continental-Absätzen hinaus ins Grüne, um ihre heruntergekommenen FensterlederBronchien gierig mit Sauerstoff vollzusaugen.

An diesen Tagen genießt dann die Stadt mit ihren Daheim­ gebliebenen in wohligem Geräkel auch ihre Ferienstunden. End­ lich kann sich ihr graues Asphaltfell von dem dauernden Angespudctwerden, dem Kirschkerngeprassel, der Teerkessel-Kos­ metik und dem Läusegegrippel der Block-, Keil- und Nagel­ schuhe etwas erholen. Wie die Elefantenkuh Stasi in Hellabrunn, liegt München an der Isar, wohlig alle viere von sich gestredct, und träumt blinzelnd von den Tagen, da sich ihrem unschuldigen Gelände die ersten Reichenhaller Salzfahrer in unmißverständ­ licher Weise näherten.

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Ähnliche Gedanken wärmt auch die Jungfer Melanie Zeigerlein hinter den herabgelassenen Jalousien ihres Biedermeier-Schlaf­ zimmers auf. Es riecht nach dem durchsonnten Plumeau, das ermattet über dem Fensterbrett hängt, und den müden Blättern einer Zimmerlinde, die an Verwelktheit mit ihrer Besitzerin wetteifert. Melanie hat ihre zartblassen Wadln mit einer elasti­ schen Binde gefatscht und räumt eine birnbaumfournierte Schub­ lade aus. Dort findet sie eine gelbliche Schachtel mit ihrer halb abgebrannten Kommunionkerze, ein Poesiealbum mit vielen Stockflecken und dem Erinnerungs-Poem: ».. .dann schreibe ich leise in den Sand«, und in einer oxydierten Goldblechkapsel eine spröde Lodce ihrer Jugendfreundin Berta Leisegang. Nadi der achthundertzweiundvierzigsten Lesung eines in lila Männer­ handschrift abgefaßten Briefes, in dem am Schluß das »Dein« viermal durchgestrichen ist, geht Melanie seufzend zum Apotheker-Kasterl und holt daraus ein weißes Pulver, das sie in einem Glas Wasser auflöst und mit geschlossenen Augen ein­ nimmt. Sie hat nämlich auf ihr Mittagessen - Malzkaffee mit Kartoffelbaunkerl - Sodbrennen bekommen.

Beschaulich gestaltet auch der städtische Aushilfstrichinen­ beschauer Ranzig den stillen Sonnennachmittag. Er sitzt in einer Badehose auf seinem Rückgebäudebalkon und spült seine Rosen­ kohlzehen in einem Wasserschaffl. Um 14.30 Uhr zieht sich das Hausmeister-Veverl vom Parterre sambaträllernd zum Baden um, und der Aushilfstrichinenbeschauer bekommt ambulante Augen. Selige Kinderstunden erlebt die kleine Mariele, die bei der Groß­ mutter zu Hause bleiben mußte, Mariechen hat entzündete Mandeln und deshalb wurde ihr Hals bandagiert wie ein un­ dichtes Dampfheizungsrohr. Nun darf sie am Kellerfenster im Hof Kaufladen spielen. Auf sieben Hollerblättern hat sie glatte Kieselsteine, einen rostigen Nagel und zwei gefundene Hosen­

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knöpfe gelegt und dazu einen Grassalat für die sieben Zwerglein angerichtet. Die unsichtbare böse Königin bietet ihr »gute Ware feil« undMariele antwortet mit selbstgemachten Märchen Worten. Gegen Nachmittag kommt der Herbert im neuen Matrosen­ anzug zu Besuch. Die große Schwester Lene, die mit dem Ver­ walter-Karl geht, hat ihn in den Hof geschickt, damit sie allein sein können. Herbert weiß ein schönes Spiel. Er sammelt Sand in seine Mütze und streut ihn der Mariele aufs zarte Kinder­ köpfchen. Auch selbst berieselt er seinen blonden Bubenscheitel ausgiebig. Dies ist viel schöner, als wenn die Großen ihren Haarboden mit duftendem öl einreiben. Um sieben Uhr, wenn der Vater heimkommt, wird der Herbert wortlos übergelegt.

BLASIUS LIEBT SEINE STADT Blasius ist in die Sommerfrische gegangen, und in seinem dünnen Morgenkaffee spiegelt sich seit zwei Tagen das PlumserJoch, die Laliderer-Wand und das übrige Karwendelgebirge. Den ersten Tag seines Erholungsurlaubes verbrachte der Spazier­ gänger an einem trüben Moorweiher des Alpenvorlandes, weil er allein sein wollte. Er war aber nicht allein, denn das Sumpf­ loch, auf das an jeder Straßenkreuzung ein weißblau gestrichener Fichtenholz-Zeigefinger hingewiesen hatte, ist der Einsatzhafen eines viermotorigen Bremsengeschwaders. Diese faustgroßen Brummer (von Flugzeugen unbekannter Nationalität in Massen abgeworfen) senken ihre am Bug anmontierten Säbel an jeder blanken Körperstelle bis zum Heft in die Venen des Spazier­ gängers.

Zudem kommt dann um drei Uhr nachmittags auch noch ein Ein56

heimischer mit einem gelben Leinenjopperi über die Auen ge­ gangen und bleibt drei Schritte vor Blasius stehen: »I waar da Bademoasta.« Der Gemeindeherold hat einen selten schönen, braungebrannten Kropf und in der Hand einen rosaroten Billettenblock. »Dreiß’g Pfenning hoid nachant.« Blasius zahlt ein Fuchzgerl, und der Dorfapoll streichelt zufrieden seine Natur­ brosche. »Na, vom Dorf hod no koana im Moorweiher bad’t«, gesteht der Dudelsadcbesitzer auf Befragen, »woaßt, weil mia do drin diam de junga Hund und Katz’n dasäufa und aa zwengs de vuin Bluategln, wo im Weiha san. Insa Strandbad is bloß füa de Fremd’n, vastehst.« Am Abend nimmt Blasius im Dorfwirtshaus ein ländliches Mahl zu sich. Die vier Söhne des Wirts, die gerade noch mühsam durch ihren Baamhackl zusammengehalten werden, der blaurote Dorf­ gockel und ein mit saurem Rahm panierter Kater spazieren ab­

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wechselnd, über den Tisch, auf dem für den Spaziergänger ge­ deckt ist.

Am zweiten Tag verreist Blasius in einen Gebirgsort, über den die Tauentzien-Tiroler hergefallen sind wie die biblischen Heu­ schrecken über das alte Ägypten. Sie haben sich zwar mit Feuer­ schwammlederhosen und wattierten Wadln den Einheimischen weitgehend angepaßt, man erkennt sie jedoch unschwer an den Zehntelmillimeter-Scheiteln und ihren rachgierigen Bewegungen, mit welchen sie den oberbayerischen Ozon einschnaufen. Manche lassen sich die gute Gebirgsluft sogar noch in alle vier Autoreifen pumpen, bevor sie wieder nach dem Norden heimwärts rollen, erzählt man dem Spaziergänger. Der aber ist mit Heimweh an­ gefüllt. Oh, ihr lauschigen Spöckmeier-Eckerln, du zappeliges Rosental, du unsterbliche Freibankschlange, sei gegrüßt, du mein schattiges Zerwirkgewölbe, bald seh’ ich euch wieder!

BLASMUSI

Jede Zeit hat ihre eigenen Geräusche; auch die Brotzeit. Das war schon in der guten alten vorletzten Vergangenheit so. Die hauptsächlichsten Begleittöne und Melodien dieser Ära waren nach den Überlieferungen das Zutzeln beim Weißwurstessen, das Warnungsbellen der Werktagsschnauzl, wenn sich die zahlreichen Privatiers beim Gang zum Dämmerschoppen gegenseitig über­ holten, und das Bierkrugdeckelklapplied des HofbräuhausKapellmeisters Sulzbeck. Schlager gab es damals auch schon, zum Beispiel »Huraxdax, pack’s bei der Hax«, seinerzeit vielfach zum Wiesenhendl gesungen, während die geistreiche Behaup­ tung in Messingblech »D’ Sau hod an schweinern Kopf« besser 5»

zum schwarzen Preßsack paßte. Wenn allerdings in einem Bier­ garten eine Militärmusi schuftete, schlugen alle Herzen mit Rückenwind, und die vereinigten Biertrinker vom Federstabler in der Au bis hinauf zur Rosenau forderten erregt in C-Dur »Zum Rhein, zum Rhein, zum deutschen Rhein«. Nach dem ersten feldgrauen Konkurs war die Marschmusik als Brotzeit-Begleitung etwas spärlicher geworden. Verschiedene Komponisten und Musikmacher hatten es an der eigenen Figur festgestellt, daß doch sehr viele »Ki-Ka-Kugeln« treffen. So ging man denn zur Friedensproduktion über und dichtete und sang wieder nahrhafte Lieder vom Essen: »Wer hat denn den Käse«, oder »Ausgerechnet Bananen«. Nur ganz langsam er­ holten sich die Soldatenliederfabrikanten von ihrem Schock, und die Blechmusiken bliesen lange Zeit bewährte Ausweich­ melodien wie »Das Elterngrab« und »Schön ist die Ju-u-ugend«. Vorsichtig wagte man sich dann an den bedauernswerten »Frem­ denlegionär«, eine Weise, die bei den Gästen immer die Vor­ stellung eines grausamen Durstes hervorrief und deshalb sehr zur Hebung des Bierkonsums beitrug. Dann folgten, noch etwas zögernd, der »treue Husar«, der »Argonner Wald« und die »alten Kameraden«. Endlich aber war es wieder soweit, und man hörte zahlreiche Gäste in den Bierlokalen zum Hindelanger Weichkäse die unpassendsten Ahnungen und Wünsche im Vier­ vierteltakt vortragen.

»Vielleicht scharrt mich schon morgen ein«, sangen die von 14 bis 18 und füllten bei solchen Aussichten ihr Inneres noch rasch und traurig mit hellem Märzen. Andere »schlugen den britischen Löwen« mit Blechmusikbegleitung so lange aufs Haupt, bis sie der eigene Rausch krachend umwarf. Diese Militärmusik-Lieb­ haber aber waren noch harmlos gegenüber denen, die durch die Straßen marschierten und ihre vertonte Weltanschauung in die verstecktesten Toilettenfenster brüllten. Dann kam der zweite 59

Bomben-Bankrott, und die forschen Weisen verstummten jäh. Auf einmal sang kein einziger Krummstiefel mehr »Schön ist’s bei den Soldaten«. »Vor der Kaserne, vor dem großen Tor« wurde man nachts kräftig niedergeschlagen oder von Fräuleins verdrängt. Zu Nes-Cafi und Ami-Kippen spielten in dieser Zeit die »Bands« die »Minnie von Trinidad« und die demokratische »Mexiko-Lady«, lauter Kompositionen, nach denen kein ordent­ licher Mensch marschieren konnte. Die Militärkapellen wurden diesmal gründlich entmilitarisiert, aus den Trommelbespannungen fertigte man Keilschuhe, und die Notenhändler tauschten ihre Soldatenlieder und Marschbüchlein in Kernseife um. Übereifrig

und voreilig, denn große Ereignisse schicken bereits wieder ihre Tone voraus. Fünf von acht befragten Münchner Cafihaus- und BierkellerKapellmeistern gaben zu, daß sie schon wiederholte Male von einzelnen Gästen gebeten wurden, das Horst-Wessel-Lied zu spielen. Teilweise wurden dafür sogar Geldbeträge bis zu 100 Mark geboten. Bei allen Musikalienhändlern mehren sich die Nachfragen nach Marschmusiknoten, und alle Unterhaltungs­ kapellen wissen, daß alte Soldatenlieder die Bierseligkeit ge­ waltig heben. Die »Vöglein im Walde« haben wieder zu zwit­ schern begonnen. Drum, heimische Komponisten, ans Werk, es eilt die Zeit, ein neues Lied zu Käs’ und Wurscht, »zwei-drei...«

VENEZIANISCHE JODLER »Besucht den Dürkheimer Wurstmarkt!« »Kommt an den Juckwinkler Moorweiher!« »Folgt der Einladung des Götz von Berlichingen nach Jagsthausen im 24sitzigen Aussichtswagen!« fordern die zahlreichen Omnibus- und Reisegesellschaften über­ all ganz energisch. »Wir fahren Sie nicht an der Gegend vorbei, sondern kräftig hinein in die hocherfreute Natur und überneh­ men für Sie gegen einen zivilen Pauschalpreis die Sorge um die Verpflegung, das lästige Trinkgeldgeben und die anstrengende Suche nach Sehenswürdigkeiten!« Seit einigen Wochen schaukeln nun diese Asphaltmutterschiffe ihren Inhalt auch wieder über die südlichen Grenzen hinüber, in die Schweiz, nach Südtirol und sogar an die blaue Adria. »Tschüs!« schreien die nordischen Reisenden, wenn der ItalienOmnibus am Kaufhaus Hertie wegfährt. Manche zwicken sich

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noch rasch an den Türen die Finger ein und kommen sich da­ durch gegenseitig schnell näher, während sich die übrigen In­ sassen heimlich wie im Beichtstuhl miteinander unterhalten. Hinter Landeck reißt ein überschwerer Fensterplatzinhaber in­ folge der Hitze sein Makohemd vorne auf, als sollte er wie Andreas Hofer im nahen Mantua erschossen werden. Nun zeigen auch die anderen Italienfahrer rasch ihr wahres Gesicht. »Bluatsaure Marie!« sagen die Münchner erlöst und treiben ihre Sitz­ nachbarn mit freundlichen Genidcschlägen tief in die Sitz­ polster. Die weiblichen Wagengäste protzen ebenfalls ab, win­ den sich aus den hoffnungslos verknitterten Kostümjacken und setzen sich dann seufzend auf ihre eigenen Hüte. Beim Abendessen in Padua werden Oliven, Spaghetti, Tomaten und Parmesankäse in solchen Mengen menagiert, daß sich ein­ zelne Kostgänger am nächsten Tag nur mehr mit Mühe durch die Veroneser Klause zwängen können. »Und i Gläz’n hob dohoam no sechs Dicke g’ess’n mit Senft«, sagt ein Fürstenfeld­ brucker. Nachts geistern dann die Allesfresser in abenteuerlichen Unterhosen über die Hotelgänge, fallen über die herausgestellten Schuhe und hinterlassen auf dem Linoleum die Originalabdrücke ihrer Senkfüße.

Beim Einzug in Venedig warten die Azzurri bereits hinter den antiken Säulen, um die Reisegesellschaft auszuschlachten. Sie nehmen ihren ehemaligen Verbündeten mühelos die lumpigen Tausend-Lire-Scheine ab und geben ihnen dafür wertvolle Gips­ figuren, Muscheln, aus denen man das Meer rauschen hört, oder Brieföffner, die am Griff ein kleines Guckfenster haben, durch welches man den Freiheitshelden Garibaldi zu Pferd, sowie Venedig bei Nacht sieht. »De Schweiberlfanga ham uns zeam überradelt«, sagen die Münchner und spucken wütend in den Canale Grande, wenn sie etwas später ihre Souvenirs in den Läden um das Zehnfache

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billiger ausgestellt sehen. Auf dem Markusplatz steigt der Für­ stenfeldbrucker mit seinen staubigen Reformschuhen dem wehr­ losen venezianischen Löwen ins Genick und läßt sich in dieser eindrucksvollen Stellung von drei Seiten photographieren. Und abends in den Gondeln: Unter dem Geiselgasteiger Farb­ himmel der Lagune läuft den Gesellschaftsfahrern das Herz über. Die Reisenden, die während der ganzen Fahrt leise durch die Nase gesungen hatten: »Zu dir, o bella Venezia«, schmettern nunmehr in die südliche Nacht hinaus: »Nach der Heimat zieht’s mich wieder« und »Ick ha’Sehnsucht nach’m Kurfürstendamm.« Unter der Seufzerbrücke stößt ein oberbayerischer Bundhosenträger einen furchtbaren Jodler aus, der noch lange zwischen den ehr­ würdigen Palazzi hin und her prallt. Bei der Heimfahrt hängt eine miese Sonne über dem Brenner. Die deutschen Zollbeamten schrauben gewissenhaft die Füll­ federhalter der Reisenden auseinander und sind enttäuscht, wenn sie darin die 200 Tonnen Kaffee, die jährlich illegal eingeführt 6}

werden, nicht finden. Dann greifen sie dem Käsegrossisten noch unter das Rippenfell, und einer steckt seine Nase in einen ortho­ pädischen Halbschuh. Am Münchner Hauptbahnhof begrüßt der Fürstenfeldbrucker seine wartende Frau stolz mit dem einzigen italienischen Satz, den er aus dem Zitronenlande mitgebracht hat und der dort auf einem Emailschild dreisprachig in allen Fahrzeugen steht: »Oide, non sputare nella carozza« - Nicht in den Wagen spucken!

...REITET FÜR GARCHING

Seit 30 Jahren steht der pensionierte Kofferträger Franzi vor den Flügeltüren des Hippodroms auf der Theresienwiese. Wenn er den weißen Wildlederfinger vor den Mund hält, seine Reit­ gerte einen Propeller machen läßt oder auf einem unsichtbaren Pferd Hohe Schule reitet, bildet sich rasch eine Zuschauerhecke um sein Postament. Der Franzi ist ein anerkanntes Original und als solches auch in Karl Valentins Sammlung bekannter Münch­ ner Persönlichkeiten eingegangen. Reich ist er nicht geworden als Rekommandeur vor dem Hippodrom, aber ein paar hundert Markl bringen ihm seine verheißungsvollen Pantomimen doch in jeder Wiesensaison ein. Die »Prachtreitbahn« selbst ist nunmehr 70 Jahre alt geworden. Auf der Stirnseite des großen Zeltbaues schaut das Ölporträt von Karl Gabriel den darunter hantierenden braven Sektmäd­ chen wohlgefällig in die Umsatzlisten. 20 gipsweiße Pferde­ köpfe, vermutlich die unglücklichen Ahnen der HippodromRößlein, richten ihre erloschenen Plastikaugen von den Zelt­ säulen auf die 50 Meter lange Sägemehl-Via-Mala, auf der die

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Nachkommen von Old Shatterhands Wunderhengst »Rih«, schwer belastet, ihre Runden drehen. Ein Vorreiter, ganz in Schwarz und traurig wie der Karfreitag, trabt dem Felde voran. Mehrere Pferdeburschen helfen der weiblichen Kundschaft lau­ fend aufs hohe Roß. Weil sie dabei keine Trinkgeld-Aussichten haben, trösten sie sich reichlich mit den anderen. Die D-Mark rollt, die Geißel schnalzt und die Musik spielt das passende Lied »Halt dich fest, halt dich fest, Marie«. Das Hippodrom-Publikum ist ganz besonderer Art. Da kom­ men die Dreiviertelreichen, die sich zu Hause vor lauter Angabe die Zähne mit Überkinger Sprudel putzen, dann solche, die so gescheite Köpfe haben, daß sie sich leicht mit einem Hausschlüssel frisieren könnten, und schließlich die, bei denen längst schon der Oktober ins Land gezogen ist. Sie alle trachten nach einem Sitzplatz als vorgeschobener Beobachter am Rande der Säge­ mehlwiese. »Do geht a Spekulierbartl hera«, sagen die baye­ rischen Reitsportfreunde, und die schriftdeutschen Kenner kon­ statieren: »Mensch, det is ja schöna wie mit’n schmutzj’n Stock in’t Ooje.«

Die ersten Gäste im Hippodrom, das täglich um fünf Uhr nach­ mittags geöffnet wird, sind die Kinder und die Landleute. In züchtiger Scham zeigt die Rose vom Deininger Moorweiher ihre aus eingehamsterter Fallschirmseide gefertigten Unterröcke und den unteren Saum der knielangen »Aufgerauhten«. Ein stand­ bildschwerer Ökonom mit drei Tagwerk schlagbaren Brennesseln ums Haus herum sucht ebenfalls das Glück der Erde auf dem Rücken der Pferde. Der Schimmel aber, den er beschwert, sinkt unter dem Gewicht des Drüsengestörten sofort und lautlos bis zu den Knien ins Sägemehl ein. Auch eine ungemein magere Person aus dem Erdinger Moos, die Ringkämpferstiefel mit ein­ gearbeiteten Frostbeulen trägt, sitzt auf. Sie ist so eckig, daß sie sicher den ganzen Sattel verkratzt, und reitet für Garching.

Um zehn Uhr abends beginnt im Hippodrom meistens der große Aufgalopp. Es bieten sich gewöhnlich zweierlei Arten von Rei­ tern dar. Erstens die Pfefferreiber, die auf dem Pferderüdcen hin- und herwetzen wie auf einem heißen Lokomotivkessel, und zweitens die Schaukelhunnen, bei denen alles, inklusiv der Nie­ rensteine, in unregelmäßigem Takt mitwadcelt. Gewerbsmäßige Nichten nahen mit ihren Wiesenonkeln und zeigen beim Hopsassa freigebig die Goldbronze-Stempel ihrer Nylons. Ein Herr mit Brille gibt jeden Abend eine Sondereinlage. Er hängt über dem Sattel wie ein schlechtgefüllter Sadc mit Nußkohle und rettet sich schließlich vor dem Temperament seines Mustangs durch einen Verzweiflungsklimmzug in die Holzverstrebungen des Saalbaues. Ein stadtbekannter Stadtrat, der ebenfalls um die Bahn hoppelt, lauscht weltverloren auf das Glucksen der sechs Maß Löwenbräu in seinem Kommunal-Innern und fällt in der Nordkurve glücklich lächelnd vom Gaul.

BLASIUS GEHT AUF DIE WIES’N »Desmoi gibt’s feste Schleg fia G’sdiäftsleit«, sagte der Augustinerwirt Meier zum Spaziergänger, als ihn dieser um die finanziellen Erfolgsaussichten der Wiesenunternehmer befragte. In der Tat, als Blasius an einem feldgrauen Regennachmittag in die Budenstadt eindringt, empfängt ihn eine Straße des Gähnens. Wie feuchtes Seegras hängen die Zwiebeln aus den Sardinen­ broten, die Gesichter der Obsthändler sind noch saurer als ihre Trauben, und die Schleien und Hechte über den Holzkohlen­ feuern singen lustlos und traurig das Lied vom stummen Fisch. »De ganze Wies’n is übazücht’«, sagt der Heringsbrater Jakob

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Resl und haucht seinen Proletarierforellen mit einem Ruck die eisernen Seelen ein, daß sie hinten noch ein gutes Stück heraus­ schauen. In leiser Wehmut denkt Blasius an jene Zeiten, wo man aus den vielen Attraktionen und Abnormitätenschauen mit der schmun­ zelnden Feststellung herausging: »Für Dummheit muaß ma hoid Steuer zahl’n«, aber doch keinem Menschen böse war. Heute wird man elegant abgekocht mit Ei. Blasius liest die kriminellen Eintrittspreise am Rotor und den Flying Cars. Auch ein neues Fuhrunternehmen, bei dem man für einen Stutz motorrollen kann, hat einen üblen Kurs. Aber das Münchner Publikum ist gar nicht so dumm, wie es auf den Wiesenkarten dargestellt wird, und deshalb gibt’s für diese Geschäfte diesmal ein festes finanzielles Pitsch-Patsch. An den vielen Schießbuden beobachtet der Spaziergänger mit leisem Bauchweh, wie die jungen Bur­ schen die nagelneuen Kolbenhälse der Luftgewehre schon wieder »saugend« und »schraubend« umfassen. In einer Schiftschaukel entdeckt Blasius den linken Schächer aus den Oberammergauer Festspielen zusammen mit einer Früh­ vollendeten aus der Trappentreustraße. Es war ihm also doch nicht ernst mit der Bekehrung. Dann fährt Blasius mit dem

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»Bumerang«, aber nur einmal, dann ist er bedient; doch er tröstet sich, daß so eine Fahrt ganz sicher aufs Sterben angerechnet wird. Lange steht der Spaziergänger unter dem Toboggan und er wird auch nicht enttäuscht, denn er kann seine Augen bei den gefal­ lenen Mädchen oft bis über den verbotenen 38. Breitengrad hin­ auf spazierenführen. »Die ganze Welt spricht von Rubini«, steht an einer Jahrmarktsbude, und Blasius ist tief beschämt, weil er von Rubini noch nie etwas gehört hat. Vor einem anderen Etablissement steht ein frierendes Mädchen, mager wie ein Gar­ tenstuhl und mit Goldbronze bestrichen wie die Tannenzapfen auf einem Weihnachtsbaum. Ein mäßig solid aussehender Im­ presario, dem die verrunzelten Augen im Gesicht kleben wie die Weinbeerln in einem Allerseelenzopf, versichert, daß sich das goldene Mädchen im Innern der Schau völlig entkleiden werde, worauf sich sofort alle Zuschauer fluchtartig entfernen. In einem Bierzelt trifft der Spaziergänger auf den gar nicht mehr fritschen Willy Fritsch. »Dea wead aa ollawei volla im G’sicht aba volla Falt’n«, meint ein boshafter Herr mit einem runden Fußballkopf. Blasius stellt mit Verstimmung fest, daß die Musik in den Bierzelten zahlreiche Pausen spielt. Die Akademiker­ boxen schwelgen in Erwartung der kommenden Konjunktur. Die Senioren mit den Rasiermessernarben stehen bei jedem Schluck Bier auf, halten die Maßkrüge an die unsichtbaren Koppelschlösser, kneifen die hinteren Wangen zusammen und knallen dann mit den Hacken: »Jestatt’n ...«

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WEITERE OKTOBERFESTSCHMANKERLN

Den sicheren Ruin vor Augen und leise vor sich hinredinend, marschiert der herzleidende Wirt vom Winzerer Fahndl beim täglichen Spanferkelumzug vor seinen Schweineleichen her, die schön braun sind wie die heimlichen Gedanken ehemaliger Gold­ fasane, von denen die teuren Ferkelchen auch vornehmlich ver­ zehrt werden. »Fünf Markl kon i für d* Portion bloß valanga und siebme kost’s mi soiba«, stöhnt der bedauernswerte Gastro­ nom, dem schon sein Vater die bezeichnende Lebensregel mit auf den Weg gab: »A guada Wirt muaß beim Ess’n schwitzn, beim Arbeitn friern und beim Betn schlaffa.« Der Spaziergänger sieht mit Befriedigung, daß der traditionelle Spanferkelumgang mit Blechmusik, Brezenfrauen und Radiweiberln großen Anklang bei den Zechern findet, und daß einige fanatische Münchner da­ bei sogar feierlich den Hut abnehmen. In einer Loge sitzt Hans Albers, hat schon lange vor der Brot­ zeit Messer und Gabel in der Hand und wetzt seine Zunge am

Maßkrugrand. Blasius bemerkt mühelos, daß nicht nur die welt­ berühmten Augen des »Greifers« blau sind. Neben ihm lehnt elegant das Ideal verspäteter Jungfernträume, der Birgel Willy mit einfenstrigem Spekulierapparat. Er reitet gegenwärtig nicht mehr für Deutschland und wäscht dafür seinen intellektuellen Schnurrbart ganz banal in der Starkbiersuppe. Im Zeltbau schräg gegenüber, im Augustiner, trifft Blasius auf einen ganzen Stamm dunkelhäutiger Wiesenbesucher, die man früher nur gegen hohes Eintrittsgeld bei Karl Gabriel besichtigen konnte. Die Kapelle spielt mit Vollgas den Cowboy-Jimmy, die schwarzen Sonny-Boys reißen riesige Löcher in ihre Maßkrüge und denken wohl mit leichter Ganshaut an das heiße Alabama, wo jetzt ge­ rade die Baumwollernte wäre.

In der nächsten Bierbude sieht Blasius Bayerns Kulturhammer beharrlich eine trockene Bierbrezen bearbeiten, und in dem oft zerzausten Barte des bayerischen Erzengels glitzern gelbe Sal­ vator-Diamanten. Auch den »Ochsensepp«, Bayerns Justizmini­ ster, entdeckt der Spaziergänger an der Seite einer dunklen Wiesenschönheit, mit der er unter dem Tisch bereits in enger Tuchfühlung steht. Trotz eines wuchtigen Nebengeräusches ver­ kündet der Stellvertreter des bayerischen Landesvaters mit schauerlichem Tenor und in einer Privatmelodie, auch er wolle einmal hinübergehen zum Schmied seiner Frau. Ein vermutlicher Parteigänger äußert dazu mit hochachtungsvollem Blick »Hargood, is da Sepp beinand« und trinkt ihm rasch in einem ein­ zigen Zug sein Bier aus.

Im Hippodrom sitzt neben einem Hundert-Kilo-Stadtrat eine einwandfreie Wiesenbraut, mit welcher der Volksvertreter außer Spesen auch noch verschiedenes anderes macht. »Da-di, dada, da-tschin« spielt die Kapelle im glückhaften Schiff, im Bucentaurus, jeden Abend. Ja was muß das ungewaschene Ohr des Spaziergängers vernehmen: Potz Blitz, das ist doch der ehemals 7°

unter Denkmalsschutz stehende Götzendämmerungsmarsch, der Badenweiler, als neuester Wiesenschlager präsentiert. »Und nun spricht zu Ihnen der Führer - dieses Schiffes«, tönt es abschließend aus dem Mikrophon, und Blasius weiß wie die meisten Gäste des Bucentaurus nicht, ob er geflaxt oder poussiert worden ist. Draußen, am wiederaufgerüsteten Lukas, hört der Spazier­ gänger einen ebenso bekannten wie urwüchsigen Stadtrat zu seinem Kollegen sagen: »Spannst des ned, daß d’ mit dein Saurausch nix mehr treffa konnst. Du bist genau so bläd wia da Ganserer von Finsing, der is a hoiberts Jahr mit de Wepsn g’flog’n und hod’s ned g’merkt.«

BÖRSIANER

Wenn der Münchner das Wort »Börse« hört, denkt er zu­ nächst an einen Geldbeutel, und sagt jemand »Börsianer«, so stellt sich der andere meist einen Pelzmantel darunter vor. Einige Drei-Viertel-Gescheite und Leser von »Wahren Geschich­ ten« wissen selbstverständlich, daß Börsenleute runde steife Hüte aufhaben, teure Marshall-Plan-Zigarren rauchen und heftig auf den »Schwarzen Freitag« warten. Die Wahrheit liegt, wie bei vielen Dingen, auch hier in der Mitte und die Münchner Börse ebenso, nämlich zwischen Odeonsplatz und Stachus. Der Besucher betritt einen langen Raum, ein Mittelding zwi­ schen einem Miesbacher Wäschespeicher und einem ägyptischen Operationssaal. An jedem Ende dieses hölzernen Blinddarms steht ein Mann hinter einem Pult und schreit, so laut er kann. Über den Köpfen dieser »Lautsprecher« ist die in vielen Stumm­ filmen erwähnte Glocke befestigt, welche bei der Münchner Börse aber nicht aus nobler Bronze ist, sondern aus der laufenden

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Schwachstromproduktion von Siemens-Schuckert. An den Wän­ den sind Messinghakeri und Nägel eingeschlagen, woran über­ drüssige Makler ihren Beruf hängen können. Einige Überreste von Glaslüstern weinen lautlos verstaubte Kristalltränen vor sich hin, vielleicht wegen der fallenden Kurse.

Die Kursmakler und Effektenhändler unterscheiden sich fast gar nicht von anderen Steuerzahlern. Allerdings kaufen sie Aktien, Schuldverschreibungen oder Pfandbriefe für mehrere Hundert­ tausend Mark, ohne einen Pfennig Geld in der Tasche zu haben, nur auf ihr Wort hin, eine Währung, wofür ein Nichtmakler kaum ein Pfund Sprotten bekommt. Für bares Geld wiederum ist auf der Börse auch nicht ein einziger Goldpfandbrief zu kriegen, selbst wenn er noch so stark gebraucht ist. Auf jeder Börse kann man nur reich werden, wenn man eine gute Nase hat, sagen die Fachleute, weshalb den Inhabern von MeerrettichZinken, gotischen Erkern und Tropfenzähler-Profilen vom Besuch dieser Institute dringend abzuraten ist. Die Kursmakler und Effektenhändler verdienen ihr tägliches Brot hauptsächlich zu jener Stunde, zu der es andere Leute ver­ zehren, nämlich zwischen 12 und 13 Uhr. Ihre Arbeit geht so vor sich: Auf den beiden Postamenten werden die Ausrufer äußerst rabiat und bilden zeitweilig sogar Sprechchöre. Beson­ ders ein Kursmakler mit einem Mund wie ein Briefkasten­ einwurf schreit alles kurz und klein: »Spinnerei« - »Deutsche Waffen« - »Gute Hoffnung« - »Ilse Genüsse für 1000 Mark«. — »So schee kannt die Ilse gar ned sei«, würde der Laie zu dieser anzüglichen Offerte sagen, bis man ihn aufgeklärt hätte, daß es sich dabei um Genußscheine der Ilse-Bergbaugesellschaft han­ delt. Auch bei dem Notschrei des Konkurrenzbörsianers »Zwei Löwenbräu« kommt keine Kellnerin, weil sich der Ruf ebenfalls nur auf Aktien bezieht.

Kurz nach 13 Uhr schlüpfen die Wertpapierhändler wieder in ihre 7^

oft sehr wertlosen Überzieher und überschlagen ihre 1000-MarkUmsätze oder zählen mit der Hand in der Hosentasche die Trambahnzehneri. Die beiden Herolde aber stecken sich Wyberttabletten in den Hals und flüstern sich stockheiser in die Ohren: »Eine ausgesprochen stille Börse heute, hoffentlich wird’s morgen lebhafter.«

HERBSTLICHE WETTBEWERBE

Nun naht wieder der Herbst mit vermehrten Selbstentleibern, Herbstzeit- und Arbeitslosen, voreiligen Vertretern von Niko­ lausruten, nassen Rippenfellentzündungen und zahlreichen Wett­ bewerben aller Art. Blasius nähert sich mit eingeschraubtem Schlechtwetterauge solch einem spekulativen Round-op, bei welchem diesmal die beste Vorführdame ausfindig gemacht wer­ den soll. Zehn lang- bis barockfüßige Modeamazonen sind der ganze Auftrieb, den der einschläfernde Veronal-Confirencier über den Kokosmatten-Laufsteg schicken kann. Die betuchten Schmaltierchen führen dabei neben ihren eigenen Kleinigkeiten auch die neuesten Produkte der Münchner Modeschöpfer vor. Es startet Nummer eins: ein schlanker Parkverbotspfahl in einer schillernden Regenschirmhülle, und erntet tröpfelnden Beifall. Nummer zwei geht im Hans-Albers-Geläufe über die schmale Bahn, sie arbeitet mit scharfen Solinger Seitenblicken. Die Dreierin, eine Haifisch-Äugige, die Haare rot gefärbt wie das Innenleben von Grotewohl, trägt einen Radarhut mit eigener Sendestation. Dann kommt die Barbara mit saftigen WacholderSchinken, stolpert über die Antrittsleiste und versucht vergebens, für ihre brandroten Hände ein passendes Versteck zu finden. Mannequin Nummer fünf präsentiert sich als Modell Monte­ 73

zuma, und ihre Nachfolgerin paradiert mit wippendem Feder­ hut, schmiedeeiserner Bluse und gegrätschten Beinen wie Wallen­ stein bei der Sauerkrauteinschreibung. Annemarie, ein strapa­ zierfähiges Gebrauchsmuster, trägt ein ungemein sympathisches Schäferhundschmunzeln zur Schau, während die nächste Kollegin mit aller Gewalt ihren in ein Salzburger Mieder verpachten Busen in die Waagschale des Preisgerichtes zu werfen versucht. Mit schmalen Schlafzimmerpupillen möchte die nächste Bewer­ berin den Preis der Besten erringen. Die letzte Favoritin im Strickkleid, Modell Babett, hat jenen Hut auf, der den wackeren Teil zum Apfelschuß bewegte. »Schee san s’ ned g’wen de Modelle, aber sicher sehr reinlich«, meint am Ende der Vor­ führung ein enttäuschter Gamsbartbesitzer. Auch beim Derby um das fescheste Münchner Madl, das im Löwenbräukeller ausgetragen wird, trifft der Spaziergänger nicht die absolut Zweitschönsten des Landes. Sechzig Rautende­ lein, bei denen zu Hause wohl die Spiegel kaputtgegangen waren, haben sich zur Vorwahl eingefunden, und zwanzig davon kämpfen ab 20 Uhr erbittert um das begehrte Prädikat. Mady Rahl, die »ehrbare Dirne«, und Ivan Petrovitsch, der einst als Salem-Bilder-Star ungemein gefragt war, haben es als Jury nicht leicht, zusammen mit dem ersten Wimmerer unserer Stadt ein salomonisches Urteil herauszuarbeiten. »De Oane is ja älta wia mei Muatta!« meint ein rund fünfzig­ jähriger Gast, der allerdings nur ein kleines Helles trinkt. Eine tadellos Mollerte, die einen Gang hat wie der Linksaußen von Dynamo Moskau, gilt lange als Favoritin, bis sie kurz vor dem Ziel von einem zweiundzwanzigjährigen Apparat, wohl durch deren üppige Formen, auf den zweiten Platz abgedrängt wird. Bei der Preisverteilung konstatiert die bebrillte Kellnerin Anna: »Wenn vo dene oane schee is, nachad hod ma da Rod’nstock an foisch’n Zwicka g’liefert!«

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LEICHTE GYMNASTIK

»Punktrollern Sie schon?« stand früher in jeder Illustrierten. Wenn heute jemand merkt, daß seine Konstruktion in Unord­ nung kommt, wird er seinen Scherenschnitt kaum mehr mit einer Gummiwalze mißhandeln, sondern er geht in einen Gymnastik­ kurs, um den Rumpf zu beugen oder den Kopf zu rollen und nach Möglichkeit zwischen 180 und 430 Gramm abzunehmen. Dicke Geschäftsmänner, deren Frühsport sonst darin besteht, die Konkursanzeigen der Konkurrenz zu lesen und die bei jeder häuslichen Anstrengung kritisch werden wie der »Belle« beim Watten, gehen in diesen Instituten gehorsam in die Hocke und machen freudig dreißig Kniebeugen, das Stück zu drei bis sieben Pfennig, wovon die Gymnastiklehrer kärglich leben.

»Tempo eins«, sagt der Vorturner in einer dieser Schulen, und ein beleibter Theateragent, zwei gut beleumundete Bankbeamte, mehrere drüsenkranke Importeure und ein aufrechter Studienrat fallen in den Liegestütz. Den Importeuren hängt der Bauch auf dem Boden wie ein Plumeaux, während der Herr Rat nur ein Schaukelpferd-Hohlkreuz zustande bringt. Verzweifelt knirscht der Theatermann mit den Zähnen, als er wieder hoch soll. Der Gymnastiklehrer will schon einen Wagenheber holen, da rollt sich sein Schüler geschickt auf die Seite, kommt glücklich auf sein Rückgebäude zu sitzen und schüttelt erstaunt über soviel eigene Wendigkeit den Kopf.

Gymnastikschüler sein ist ein rauher Freizeitberuf. »Tempo zwei - den Rumpf beueugt!« tönt es laut aus dem Turnlehrer. Aus­ sichtslos ist das Bemühen der gestandenen Männer, jemals mit den Fingerspitzen den Boden zu erreichen. Einige besonders Beleibte und Ehrgeizige sehen allerdings bei dieser Übung zum erstenmal seit Jahren ihre Zehen mit eigenen Augen wieder. Meist büßen sie jedoch diesen Anblick sofort mit einer Kopf-

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landung. Als nächste Übung wird bei steigendem Blutdruck und zunehmender Atemnot ein Keulenschwingen ausgetragen. Alles zeigt lachend seine Goldplomben, nur der Herr Studienrat bleibt ernst, zieht aus und trifft mit dem Holzschlegel einen benachbarten Bauch, der hohl klingt wie der des Trojanischen Pferdes. Dann tritt eine Pause ein, in der sich die Gesundheits­ fanatiker gegenseitig stolz ihre Gelee-Muskeln zeigen, wobei sie krampfhaft ihre fülligen Wamperi einziehen. Im weiteren Verlauf wird die Gymnastikstunde gemischt, indem auch einige Damen zu den sogenannten Partnerübungen zuge­ zogen werden. Besonders ins Auge sticht dabei ein knochiges Fräulein, das bei jeder Bewegung seufzt wie alte Treppen in Leihbibliothekromanen. Es sind aber auch Turnerinnen darunter mit wahren Bilderbuchfiguren; an einem Zeitungsstandl würden sie von der Polizei glatt beschlagnahmt. Als die ersten kostbaren Schweißperlen zu Boden fallen, wird die Gymnastikstunde beendet und die Teilnehmer kehren in ihre normalen Verhältnisse zurück. Die letzte Übung führt die Sportler noch auf die Waage, und als der Iheateragent eine Gewichtsabnahme von fünfzig Gramm feststellt, ergreift er rasch seine Kleider und eilt schleunigst zum Franziskaner, woselbst er mit acht Halben Märzen seinen Erfolg feiert und anschließend eine zweipfündige Surhax’n ißt, damit er nicht ganz vom Fleisch fällt.

BLASIUS IM SPIELKASINO

»Besuchen Sie unseren gepflegten Ecart6-Club, reelles Spiel, gute Gäste, vornehmer Rahmen«, inseriert eines der vierzehn Kartenspiel-Kasinos, die in München nach dem Kriege neu erstanden sind. Blasius will auch einmal so einen gepflegten Rahmen um sich haben und unter guten Gästen sein. Das reelle Spiel wird er allerdings den anderen überlassen.

Vor dem ersten Kasino, das Blasius besucht, verlangt ein Mann in einer Privatuniform und mit einem faltigen roten Lampion­ kopf einen Ausweis vom Spaziergänger, ist aber schließlich auch mit einem Zweimarkschein sehr zufrieden. Im Inneren des Etablissements steht ein langer grüner Spieltisch und drum herum einige jener Figuren, für deren Biographien sich der Staat so sehr interessiert, daß er sie in eigenen Aktenregalen aufbewahrt. Ein stark abgenütztes Fräulein, bei dem schon überall das Messing herausschaut, hält gerade die Bank. Sie hat eine Zigarette im welken Mundwinkel hängen und das rechte Auge zugekniffen, wie der Kohlenklau selig. Die Spieler legen schmierige, stark bakterienhaltige Blechmarken auf den grünen Altar ihrer Leidenschaft, und Frankensteins Braut mischt die Blätter. Die Spielregel ist sehr einfach. Es werden für Bankhalter und Gegenspieler je fünf Karten aus­ gegeben, dann wird die Trumpffarbe aufgelegt; wer drei Stiche macht, hat gewonnen. Unter dem Tisch, an dem die beiden Parteien einander gegenüber sitzen, ist ein starkes Brett ein­ gebaut, damit »nix geht« - mit Telephon und so. Wenn die Spieler die fünf Karten bekommen haben, schieben sie die einzelnen Blätter mit großer Lüsternheit hintereinander hoch, als erwarteten sie die Greta Garbo barfuß bis zum Hals hinauf und Brust an Brust mit dem Schell’n-König zu ertappen. Beim Spiel selbst wird wenig gesprochen, aber viel gebangt. 77

Blasius meint in einem Zither-Klub zu sein, als er die auf dem Rücken verschränkten nagelzerbissenen Hände der DreigroschenHasardeure im Nerventremolo flattern sieht. Jedesmal wenn die Bank gewinnt, geht ein lautes Bauchwehknurren durch die Spielerreihe. Gegen drei Uhr morgens kommen dann einige Liebesrentner, Randsteinläuferinnen, alkoholsatte Einmann­ unternehmer und schlaffhäutige Golemgestalten in den Klub. Bis fünf Uhr morgens leiert die Kreidestimme des schwarz ver­ packten Spielleiters abwechselnd in den tränentreibenden Rauch­ nebel: »Die Bank hat gewonnen - die Ponte hat gewonnen!« Sechs Ecart£-Klubs absolviert Blasius an einem Abend und überall herrscht dieselbe Atmosphäre aus Dr. Mabuses Ver­ mächtnis. Im siebenten Unternehmen geht es jedoch wesentlich vornehmer herunter - mit Klavier und Geige. Hier trifft der Spaziergänger jene Lebensseiltänzer, die auch werktags einen weißen Kragen anhaben. Viele persianerhaarige Scheichs mit dem schnellen unverständlichen Dialekt von Singer-Nähmaschi­ nen sind unter diesen Spielern und vornehm riechende Damen, die den Croupiers ihre Zehn-Mark-Chips mit derselben Abge­ brühtheit geben, wie den Toilettenfrauen ein Fünferl Trinkgeld. »Oh mei«, sagt der dreizahnige stille Portier, als ihn Blasius über die Trinkgeldperspektiven befragt. »Manchmal kriag i scho a Markt oda zwoa g’schenkt, aber es kirnt a oft vor, daß ma nach an Stünderl, wenn’s o’brennt san, des Trinkgoid, des ma vorher geb’n ham, wieda o’bettln. Schpielaguat geht hoid in an Fingahuat.«

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WEIHNACHTSFEIER MIT HERING

Eine Weihnachtsfeier ohne Christbaumversteigerung ist wie ein Maßkrug ohne Deckel. Wer diese Christbaumversteigerungen erfunden hat, ist noch nicht ganz geklärt, viele meinen, die Seefischhändlergenossenschaft, um den Heringsumsatz zu heben. Blasius besucht eine solche Weihnachtsfeier in einer jener Vor­ stadtwirtschaften, wo die Wirte noch kleine Goldplatterl in den Ohrläppchen tragen und die Kassierinnen den vierten Schäffler­ tanz noch nicht erlebt haben dürfen. Gerade ist ein hausgemachter Nikolaus dabei, den Mitgliedern des Vereins, der die Feier abhält, aus dem Branchenadreßbuch der Stadt München ihre Untugenden vorzulesen. »Do schaug viere, do vorn schpuit d’ Musi«, sagt man zu Blasius, als er sich bei den häuslichen Strafregisterauszügen nicht vor Vergnügen auf die Schenkel schlägt. Dann wird ein Krabbelsack herum­ gereicht. Der Griff kostet eine Mark. Vierundzwanzigmal ver­ schnürt und in einige Pfund Zeitungsleitartikel eingewickelt, fördert die biedermeierfüßige Tochter des Reservevorstandes vier Stückl Rifseife zutage. Ein altes Waberl gewinnt die be­ rüchtigte Gips-Geschenkfigur der Neunzigerjahre, »den Dornen­ zieher«, den sie erst schnuppernd an die Nase hält und dann in den Weißwurstsenf taucht. Sehr enttäuscht ist der Schrift­ führer über seinen Preis, der aus einem Päckchen Do-Re-MiNaphthalinpulver besteht. Er hat scheinbar gehofft, in seinem Paket den zerbrochenen Sonntagszwicker von Haile Selassi zu finden.

Dann beginnt die Versteigerung des Tannenbäumchens. Oben auf dem Gipfel hängt mit dem Kopf nach abwärts ein vom Wirt gestifteter zehnpfündiger Stallhase und schaut verträumt auf die Eierköpfe der vollzählig versammelten Vorstandschaft. An je­ dem Ast baumelt durchschnittlich ein Salz-, Brat- oder Bismarck79

hering. Dazu Stumpen, Virginia, Süßstoffpackeri, hausgemachte Butterplatzeri und Rasierpinsel. Der Vorstand fängt zu brüllen an wie der Metro-GoldwynMayer-Löwe und erklärt, daß die auf dem Christbaum ausge­ stellten Gegenstände überhaupt nicht zu verkaufen seien, er würde sie keinesfalls billiger hergeben, als - ein Angebot bitte -, zum ersten, zum zweiten und - niemand mehr - na geb’n ma’s her - zum dritten und letztenmal. Jedes Mitglied, das als charakterfest gelten will, läßt den eingesteigerten Ast, nachdem er bezahlt ist, wieder zurückgehen. Der Mann, der die Äste verteilt und das Geld einsammelt, saust hin und her wie ein Stafettenläufer. Endlich ist nur mehr der Tannengipfel mit Meister Lampe übrig. Er wird mit sauerem Gesicht vom Wirt eingesteigert. Böse Zungen behaupten, daß er den gewonnenen Hasen im Kühlhaus einfrieren läßt und dem Verein im nächsten Jahre wieder zur Christbaumversteigerung schenkt.

VORSTADTHOCHZEIT Alljährlich zur Faschingszeit feiert der ehrbare Kuttlermeisterssohn Korbinian Hierangl mit der tugendsamen Jung­ frau Therese Schweinsböck eine Karnevalshochzeit. Die Legali­ sierung dieses Bratkartoffelverhältnisses fand heuer im Hof­ bräuhaus-Festsaal statt. Der Zwei-Finger-Lucki und der Sauer­ stoff-Edi, die Seufzer-Walli oder das Engelmacher-Fannerl wur­ den von Regierungsräten, Bankprokuristen, Ministerialdirigentensgattinnen und Senatorenswitwen dargestellt, und es fiel gar nicht auf. 80

»Komm, mein Schatz, wir trinken Limonade«, spielt die Blech­ musik mit Gewalt, und das Brautpaar zieht ein. Dem Zuge voran schreitet in schwarzer Montur ein Strizzi, der einen Nackenscheitel trägt, als wäre er von einer Kreissäge frisiert worden. Mit der Noblesse eines frisch amnestierten Lebens­ mittelfälschers grüßt er nach allen Seiten, wobei ein Nickelzahn sichtbar wird. »Den putzt er alle Tage mit Sidol«, sagt ein anderer Galgenvogel. Hinter dem kriminellen Brautlader mar­ schiert ein Athletenklub in porösen Unterhosen und Trikot­ leibchen. Die Gladiatoren schwenken lange Fahnen, und der Vorstand haut mit einem wuchtigen Schwung einen kombinierten Beleuchtungskörper von der Hofbräuhausdecke, daß sich Däm­ merung über das nachfolgende Brautpaar ausbreitet.

Dann singen zwei Kranzljungfern mit ansehnlichen Liegen­ schaften das »Elterngrab«, bis in der Küche ein großer Hafen Leberknödelsuppe sauer wird. Der Mann mit dem Nickelzahn singt dazu »den liebsten Platz, den ich auf Erden hatt’ - das ist das Arbeitshaus von Ingolstadt«. Es folgt eine Ansprache des Brautvaters, der vorne am Bünderlhemd einen Bierflaschlgummi trägt und dessen rechtes Auge teilnahmslos auf die inzwischen aufgetragene Hochzeitssuppe starrt, denn es ist aus Glas. Als­ bald hebt ein behagliches Schmatzen im Ballsaal an, als wäre man wirklich am Gestade des Feuerbachl. Immer mehr ver­ wachsen die vornehmen Gäste mit ihren Masken. Ein Bankdirektors-Lucki mit einsturzgefährdeter Vorderfront plantscht mit beiden Händen in die Sauerkrautschüssel, und eine bekannte Rundfunksängerin, verkleidet als Auer Schlamperl, fällt über die warmen Regensburger her, wie der Borkenkäfer über den Waldfriedhof. Um ein Uhr früh kommt dann noch ein Minister a. D., der als Einlage »Der Kare fiel vom Dache« auf zwei Fingern in ein Bierglas pfeift. »Des duat so weh, daß d’ acht Tag vom Deifi dramst«, sagt dazu ein Stadtrat im Apachenkleid. Er hat seine Socken mit Leukoplast an die haarigen Volksvertreter-Wadi geklebt.

BLASIUS BESUCHT DEN GEHIRNTRUST Blasius besucht den Münchner »Gehirntrust« im Rathaus, jene Leute, die von den Schaffenden aller Stände beauftragt wurden, gegen eine Entschädigung von monatlich 200,— DM ihre Köpfe zu strapazieren. Diese Abnützungsgebühr pro Stadtratskopf ist angemessen. Wenn es nämlich in der Bibel heißt »Kein Haar 82

wird von ihrem Haupte fallen, ohne daß der Herr es will«, so hat es der Herr bei den meisten Münchner Stadtratsköpfen gewollt. Dies sieht man am besten von der Zuschauertribüne aus, und Blasius wird dabei mit derselben Befriedigung erfüllt, die auch der Sauerkrautkönig Durach beim Anblick eines wohl­ geratenen Ismaninger Krautackers empfinden mag. Soeben ist geheime Sitzung und der Spaziergänger muß vor der Ture warten. So ganz geheim kann aber die Sitzung nicht sein, weil der Oberbürgermeister derart wettert, daß es den frühergrauten Saaldiener schüttelt wie einen Flaggenmast bei der Bikini-Explo­ sion. Um halb zehn Uhr ist Weißwurstrast in einem einfachen, aber geschmacklosen Nebenzimmer. Blasius sieht zum erstenmal in seinem Leben auch einen Stadtrat Schlangestehen. Es sind nämlich nur zwei große Hafen mit heißen Würsten vorhanden und dazu zwei städtische Weißwurstausgeber mit Pensions­ ansprüchen. Hier offenbart sich Blasius die ganze Tragik der kommunalen Probleme. Wenn nämlich nicht einmal der »Eng­ paß« im Städtischen Weißwurstzimmer beseitigt werden kann, obwohl ihn fünfzig Stadträte seit Monaten am eigenen Leibe verspüren, wie ungleich schwieriger muß es da erst sein, die poli­ zeiliche Grußpflicht »auszupendeln«. Ohne zu murren, halten deshalb die gewählten Stadtvertreter ihre leeren Teller vor die ebenso leeren Bäuche und werden der Reihe nach »menagiert«. Eine ansehnliche Rätin schiebt sich gleich drei Paar von den warmen Weißen in den Hals, indes sich der Stadtkämmerer nur ein Paar schäbige Wiener anlacht. Als der Oberbürgermeister drankommt, erstarrt der Weißwurst-Eunuche, als wäre er plötz­ lich tiefgekühlt worden.

Beim Weißwurstessen offenbaren sich die Charaktere. Jener Stadtrat stochert mit der Gabel äußerst mißtrauisch in den »Bayerischen Bananen« herum, als suche er darin nach mildern­ den Umständen, während dieser seine Würstl vor jedem Biß 83

leise um Verzeihung bittet und der dritte die weißen »Kalorien­ tüten« so respektvoll behandelt, als hätte man ihm den eigenen Blinddarm aufs Teller gelegt. Blasius begibt sich tief beeindruckt wieder auf die Zuschauer­ tribüne. Die öffentliche Sitzung beginnt: zuerst liest ein Stadt­ vater ein etwa neunzig Zentimeter langes Dokument vor. Aber die Kollegen sind noch zu sehr damit beschäftigt, nach innen zu horchen, ob sich ihre Brotzeit schon gut eingerichtet hat und geben dem Redner deshalb keine Audienz. Als dann jedoch ein zweiter Kollege einen seiner berühmten Vorträge über Laut­ sprecherwerbung im Stadtgebiet hält, wird es schnell lustig im Saal. »Unsere Beschlüsse werden dauernd durchlöchert, bis sie ein Sieb sind«, sagt dieser Herr geistreich und die Opposition schreit: »Nachad kenna ma an Fasching do herinna weidafiahrn«, worauf die Linke erwiehert: »Und du machst an Clown.« Dazu läutet der Oberbürgermeister mit der Glocke wie auf der Schallplatte »Seemannslos« der Kapitän, wenn das Schiff sinkt. Der Antrag wird abgelehnt, kein Lautsprecher­ wagen darf in den Münchner Straßen werben. Wie jedoch Blasius über den Marienplatz geht, kommt gerade ein silbergraues Ungetüm daher und schmettert aus sechs Riesenrohren zu den Rathausfenstern hinauf: »Mit Musik geht alles besser.«

DER MASKIERTE HERING »Ma muaß mid da Zeit geh«, sagt der Fischhändler Stichling am Fastnachtsdienstag und bindet seinen Forellen kleine farbige Schleiferl um den schuppigen Hals. Einem alten Mooskarpfen wird ein Kaiser-Wilhelm-Gedächtnisbart umgehängt, und den Bücklingen steckt er blaue Wattekugeln ins Maul. Liebevoll 84

stranguliert die Krämerin Gichtig ihren Pinscher mit einem roten Lederhalsband, an dem ein Messingglödcerl hängt, so daß es jedesmal läutet, wenn der Zamperl am Hauseck ein Bein hebt. Sogar in manchen Ämtern ist der Übermut ausgebrochen und läßt sich kaum mehr eindämmen. Inspektor Blinzelstein, dem der Schalk im Nacken sitzt, streut seiner molligen Sekre­ tärin eine Handvoll Konfetti in den Blusenausschnitt. Dann fragt er sie neckisch: »Warum hast du denn so große Augen?« Wobei seine Blicke eindringlich das Gelände abtasten.

In den Galanterie- und Spielwarengeschäften ist ein erbittertes Handgemenge um die letzten Faschingsnasen im Gange. »Dean S’ de Nasn ned glei hera!« schreit ein energischer Endvierziger und greift dem Sendlinger Viktualienhändler Bartlmä Mau mitten ins Gesicht. Zu spät bemerkt er, daß es sich bei dem Kumpf des Herrn Mau um ein selten schön gepflegtes Original­ exemplar handelt. Mit Fug und Recht würde den unentwegten Einzelgängern, die am Faschingsdienstag durch ihre Einmannumzüge der Stadt das wahre Narrenantlitz verleihen, der Großorden des Karne­ valsprinzen geziemen. Da kurvt der sonst so stillvergrämte Radieschenfarmer Hasenglück, verkleidet als »Doppelschrauben­ dampfer König Ludwig II.« durch die Straßen der Stadt, wirft in der Bucht vom Rosental schnell Anker, um zwei Regensburger an Bord zu nehmen, und steuert dann mit seinem Sperrholzbug mitten unter das Treibeis der maulaufreißenden Zivilisten hinein. Ein anderer sitzt mit mehlweiß geschminktem Gesicht, aber sonst schwarz wie die Gedanken eines Steuerzahlers, auf den Trümmern des Fischbrunnens und hält Zwiesprache mit einem Hering, der in einem Vogelkäfig hängt. Schmachtend singt er seinem Faschingshaustier das Lied vor: »Schau mich bitte nicht so an«, und als der Namensvetter von Bismarck schweigt, öffnet er das Türl und verzehrt ihn pietätlos.

SS

Den letzten Gipfel der Gaudi erklimmt der Faschingswanderer aber erst am Abend beim Karnevalsbegräbnis. Während man sich beim vornehmen Kehraus gelangweilt und schadenfroh lächelnd mit Zigaretten gegenseitig Löcher in den Frack brennt, wird in der altrenommierten Vorstadtwirtschaft »Zum versil­ berten Schlagring« der Faschingsprinz mit allen Ehren zu Grabe getragen. Ein Mann mit Zylinder liest aus dem Münchner Stadt­ adreßbuch die zahlreichen Vorstrafen und Unterlassungssünden des närrischen Monarchen vor. Dann wird dieser in die Gruppe der Belasteten eingestuft, auf die ausgehängte Null-Null-Ture gelegt und mit einem Tischtuch zugedeckt. »Der Miche soll fei net wieda mit Biagriagl schmeißn wia vorigs Jahr, der Saubär«, tönt es noch dumpf unter dem Leichentuch hervor. Alsdann wird der Leichnam des Faschingsprinzen mit dem Inhalt von Aschenbechern und Blumenvasen, mit Bierfilzln, Verwünschun­ gen und Sprudeln ohne Geschmack überschüttet. Der Miche läßt noch schnell drei Halbe Märzen beim Wirt aufschreiben, »weil’s nachad gradaus fuchzehn Hoibe san« und dann lädt man den mißhandelten Monarchen draußen im Hof bei den Aschen­ tonnen ab und vergißt auch nicht, ihm die Tiir ins Kreuz zu schmeißen. Am Aschermittwoch aber kniet man abgebrannt, lebensmüde und ruiniert beim Einascherln in einer der sechzig Münchner Kirchen und die graue Asche bröselt leise auf die letzten Konfetti. »Memento mori.«

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BLASIUS MACHT EINEN BEHÖRDENRUNDGANG Knarrend fällt die schiefhängende Eingangstür des Anwesens Rochusstraße 6 hinter Blasius zu. Im ersten Stock betritt er einen niederen Saal mit neun Schaltern, von denen aber nur zwei ihre Klappen hochgezogen haben wie Guillotinen, die nur darauf zu warten scheinen, daß ein biederer Antragsteller seinen Kopf ins Schalterfenster hineinsteckt, um ihn zu enthaupten. »Damid amoi a Rua is mit dem lästign Bublikumsvakehr«, ergänzt Blasius laut seine stille Betrachtung. Zwei einsame Beamte suchen mit blutleeren Fingern stumm und blicklos zwi­ schen den Blättern einer riesigen Kartei. »Vielleicht suachas de vierzehn Punkte vom Wilson«, meint Blasius und geht durch einen Gang mit vielen Bürotüren. Er versucht die Klinken. Zimmer Nummer 1 ist geschlossen, Zimmer Nummer 2 ist ge­ schlossen, Zimmer Nummer 3 ist auch geschlossen. In Nummer 4 schält ein Mann mit einem Beamtengesicht mit viel Liebe einen Apfel. An der Ture Nummer 5 hängt ein Schild: »Stellver­ tretender Amtsvorstand«. Die Türe geht auf, aber das Zimmer ist ohne Inhalt. An Zimmer Nummer 6 steht: »Beschwerde­ stelle«. Blasius öffnet und stellt andächtig fest: »Das Schweigen im Walde«. Nummer 7 beherbergt die Poststelle sowie ein dralles Fräulein mit rotem Pullover, das sich zwischen verstaubten Akten ihr Süpplein wärmt. In Nummer 8 atmet der Amts­ vorsteher persönlich, ist aber gerade nicht anwesend. Büro Nummer 9 ist fest verschlossen, an der Tiir fehlt die Klinke, und Nummer 10, von dem eine Tafel behauptet, daß darin die amtliche Kokszuteilung haust, ist ebenfalls dicht wie eine Luke vom »Fliegenden Holländer«. Kommt Nummer 11, das die »Prüfabteilung« beherbergt, die anscheinend gerade auf Urlaub ist. In Zimmer Nummer 12 trainiert eine Stubenfliege auf dem leeren Schreibtisch für die kommende Olympiade. Bei Tur Num­ 87

mer 13 gibt die Klinke so rasch nach, daß Blasius fast in eine Amtshandlung platzt, die darin besteht, daß ein Mann mit einem Bündelholzdraht seinen Kamm reinigt, wohl im Hinblidc auf die kommenden lausigen Zeiten. Bevor Blasius in den zwei­ ten Stock hinaufklettert, liest er noch ein großes Schild, auf dem mit schwarzen Lettern steht: »Arbeitszeit Montag mit Freitag von 8.15 bis 12 Uhr«. Im zweiten Stock ist es noch bedeutend stiller. Auf der ersten Tur steht geschrieben: »Kein Eintritt« und auf der zweiten abwechslungshalber: »Eintritt verboten«. Auf der dritten liir steht gar nichts, dafür ist sie um so fester verschlossen. »Vielleicht is des des Zimma vom Ritta Blaubart, des wo de Wissenschaft schon so lang suacht«, meint der Blasius und klettert wieder erdenwärts. Parterre stößt er mit dem Hakelstecken noch eine Pforte auf, die in einen großen, kahlen Raum mündet, in dem jeder Schritt widerhallt: Blasius übt zweimal »la-la«, bevor er alle drei Strophen von dem Lied: »Oh, wie ist es kalt ge­ worden« absingt, weil das Echo im Zimmer so rein ist. »Grod wia des Haus von da Ladi Algwist«, meint Blasius im Gehen. Als er aber noch einmal umschaut, bemerkt er mit Staunen die Aufschrift an der Eingangspforte: »Städtisches Wirtschaftsamt, Abteilung Brennstoffe«.

BLASIUS IN DER LÖWENGRUBE »Kommen Sie und staunen Sie!« verlangen zahlreiche gelb­ rote Plakate an Litfaßsäulen und Bauzäunen, »besuchen Sie den Zirkus Belli mit seinen 235 Zirkuswagen, 380 Artisten und Angestellten, 120 rührigen Pferdeschweifen, zahlreichem exoti­ schen Getier sowie 18 000 Glühbirnen!« - Ob es sich dabei um 88

wilde oder dressierte Edison-Lampen handelt, steht leider nicht auf den Anschlägen, aber Blasius geht auch nicht hinaus auf das Oberwiesenfeld, um das Osram-Obst zu besichtigen, sondern um Tarzan, den König der Wüste, zu sehen. Nach der nord­ deutschen Schilderung des Zirkus-Kapitäns sollen nämlich in diesem Leu bereits zwei Dompteure und eine zarte englische Lady ein haariges Behelfsheim gefunden haben. Der Spaziergänger wird von der Zirkusdirektion gebührend empfangen und mit einem doppelten Kognak auf die gewünschte Blende eingestellt. Dann schreitet man zunächst in Bellis Tier­ garten. Zuerst führt man Blasius vor einen Schwartling-Korral, in dem ein andalusischer Kampfstier untergebracht ist. Blasius ist kein Torero, aber er hält dem gezeigten Paarhufer, der lebens­ müde an den ersten Moosacher Herbstzeitlosen nagt, mit Sicher­ heit für eine heimatvertriebene Kuh, besonders als ihn das Rindvieh mit verweinten Augen lange und stumm fixiert. Dann geht man in den Elefantenstall, in dem ein Tierwärter gerade die grauen Fleischsilos mit einem Reisigbesen abkehrt.

Sofort erzählt man Blasius folgende rührende DIN-A-4-Ballade: Ein Elefantenbulle wurde vor fünf Jahren beim Ausladen zwi­ schen zwei Eisenbahnwaggons eingeklemmt. Einem Lokomotiv­ führer gelang es, den Dickhäuter nach mehreren Stunden aus seiner schmerzhaften Stellung zu befreien. Als der Zirkus nach Monaten im Heimatort des Lokomotivführers spielte, wohnte auch dieser einer Vorstellung bei. Während der Eröffnungs­ nummer entdeckte der Elefant seinen einstigen Wohltäter plötz­ lich auf einem billigen Rangplatz, ging sofort auf ihn zu, hob ihn mit dem Rüssel hoch und setzte den Tierfreund sanft ganz vorne in die teuerste Loge. - »Voilà.«

Auf der Treppe eines Wohnwagens zeigt man dann dem Spazier­ gänger jenen Tiger, der im Zirkusfilm »Tromba« den Schauspieler René Deltgen angefallen und am Schulterblatt ganz erheblich 8?

beschädigt hatte. Der Dschungelfürst sitzt zusammengekauert auf der untersten Stufe und verzehrt einen Rosenheimer Küm­ melkäse und eine Mohnsemmel. Als Blasius näherkommt, stellt man ihn dem Unhold vor. Er heißt Stegmeier und stammt aus der Corneliussttaße in München. Beim »Tromba«-Film soll man den jungen Artisten in ein Tigerfell eingenäht und auf Deltgen losgelassen haben, wobei der Westermühlviertier zu hitzig wurde und den Star verletzte. Schließlich landet der Spaziergänger auf einem Sperrsitzplatz und schaut den sieben Wustenmonarchen ins Eiweiß des Löwen­ auges. Tarzan, der Lady-Fresser, sitzt fromm wie ein BierfilzlLöwe auf seinem Dressurschemel und blinzelt interessiert nach den hügeligen Parzellen einer vollsaftigen Eisverkäuferin. Der Meisterdompteur redet mit vierzehn Kilometer langer Geduld auf seine fleischverarbeitenden Betriebe ein, als wollte er ihnen Pulswärmer verkaufen. Was er aber dann mit den Tieren zeigt, verwandelt Blasius* zarte Haut in einen Ganserer-Teint. Auch die übrigen Logengäste haben vor Staunen den Mund halb offen, daß ihnen der Torfmull der Manege zwischen die Gold­ brücken fliegt. Tarzan aber wetzt seine rauhe Raubtierzunge bedächtig an den Gitterstäben des Käfigs und wirft einen schrägen Hamstererblick auf den Dompteur.

BLASIUS BLEIBT DOCH DER SPAZIERGÄNGER

»Eins, zwei, drei im Sauseschritt - eilt die Zeit, wir eilen mit.« Blasius beschließt, sich zu motorisieren, er will sich damit deut­ lich von den staubigen, immer mehr in Verruf und unter die Autoreifen der Größen 7,50X20 kommenden Fußgänger distan­ zieren. Leider verfügt der Spaziergänger aber nicht über die 90

nötige »Marie«, um sich einen neuen Apparat zu erstehen. Audi mißfällt ihm vielfach die Form der modernen fahrbaren Untersätze, die einheitlich wie motorisierte Brotwecken oder als vernickelte Ichthyosaurier über den Asphaltteppich zischen. Blasius beschließt also, ein gebrauchtes, preisgünstiges und »um­ ständehalber abzugebendes« Fuhrwerk zu erwerben und begibt sich zu diesem Zweck auf einen der zahlreichen Automärkte, die besonders im Stadtzentrum und im Herzen Schwabylons ihr Unwesen treiben. Vorausgeschickt sei noch, daß Blasius von einem Automobil nur soviel weiß, daß es hinten rauchen muß und vorne nach Möglichkeit einen Motor haben soll. Außerdem kennt der Spaziergänger auch noch das Sprichwort: »Benzin verdirbt den Charakter«, was er jedoch vorerst noch bestreitet. Sofort, als sich Blasius als zukünftiger Autobesitzer zu erkennen gibt, entdeckt ihn ein Händler. »Hargood, ham Sie a Glück«, spricht ihn dieser an, »grod ham ma was rei griagt für Eahna, an Gelegenheitskauf aus erschter Hand, pfenningguad und generalübahoid«, und er führt Blasius an ein Möbelstück, das aus­ schaut wie eine frischgestrichene Miesbacher Bauernkommode, nur die Blumen sind nicht aufgemalt. Der Verkäufer reißt mit Schwung eine der Türen auf, die ihm sofort in der Hand bleibt, und würgt Blasius ins Innere der Kommode, wobei er fort­ während beteuert: »Seng’s her, da braucha’s koan Schuahleffe zum Einisteig’n.« Sodann zupft der Händler vom Armaturen­ brett mehrere vom Rost zerfressene Hebel und Schaltknöpfe ab, schmeißt sie verächtlich durch das nicht vorhandene Fenster ins Freie und murmelt etwas von »schwacher Batterie«. Schließlich kommt man überein, den Gelegenheitskauf mit einem anderen Wagen anzuschleppen. Blasius steigt wieder in das Miesbacher Büfett, neben ihm der Autokuppler, der Schleppwagen setzt sich in Bewegung und reißt mit einem einzigen Ruck die gesamten Innereien aus dem blaulackierten Zwitterwesen. »Des nenn’ i a

Straßenlag’«, jubelt der Unentwegte an Blasius’ Seite, steigt aus und gibt dem linken Vorderrad einen Tritt, daß die Luft mit seufzendem »Puh« entweicht. Dann geht er befriedigt zum theo­ retischen Teil der Handelschaft über. »Guada Mo», sagt er liebe­ voll zum Spaziergänger, »des Modell braucht bloß sechs Lita Benzin« - »auf zwanz’g Kilometa«, annonciert der Max leise als Rückversicherung -, »und wenn a amoi ins große Lafta kimmt, kenna S’n übahaupts nimma dabrems’n.« Der Max sortiert indessen Wechselformulare und macht den Kaufvertrag fertig. Der Spaziergänger kommt in Zeitnot, es wird ihm warm, er stammelt etwas von unverbindlich und ge­ winnt, rückwärts gehend, einige Meter Gelände, bis er sich mit einer schnellen Kehrtwendung ganz aus dem moralischen Dop­ pelnelson der beiden Pferdestärken-Täuscher befreien kann. »He«, schreit ihm daraufhin der Max wütend nach, »soichane Nassaua ham ma gern, zerscht Trümma Probefahrt’n macha und nachad ausspringa. Lass’n S’ de ehrsama Autohandla in Ruah, wenn S’ schtier san und kafta S’ Eahna a Paar Zwiagnahte Sie Fuaßgänga.« Blasius kann dem Mann nicht ganz unrecht geben.

DER MÖBLIERTE HERR In München hausen rund 25 000 alleinstehende Frauen und Männer, Mädchen und Jünglinge in Untermiete, leeren oder möblierten Zimmern, Kammern und Schlafstellen. An jedem Monatswechsel beginnt ein großer Teil dieser möblierten Groß­ stadtarmee zu wandern, denn nur etwa 6000 Zimmermieter wohnen durchschnittlich länger als drei Monate bei der gleichen 92

Wirtin. Die übrigen Aftermieter ziehen um den Letzten herum mit trächtigen Vulkanfiber-Behältern und Persilkoffern, witzigen Holzwolltieren und den gesammelten Steinguttellern der nahen Gaststätten eilig zwischen Moosach und Hellabrunn hin und her. Sie suchen neuen Unterschlupf, weil die von ihnen bisher be­ wohnten Zimmer zu teuer, die Wirtinnen zu einsam oder die Nachbarschaff zu brotneidig waren. Manche wechseln jedoch ihr Asyl auch deshalb, weil sie nicht ganz allein drin wohnten und morgens regelmäßig als »Pan Iwanzo« mit roten Mahn­ malen ins Büro kamen. Andere konnten die Separatrechnungen für verlorene Schrankschlüssel, die sie zwar längst angefeilt hatten, aber von der Wirtin dreimal im Monat als frisch gekauff präsentiert bekamen, nicht mehr länger bezahlen. So lesen sie also abwägend die schmalen Rubriken »zu ver­ mieten« oder geben selbst ein Inserat zu bekannt gepflegten Preisen auf, um endlich das Kammerl ihrer Träume mit schwer­ höriger Hausfrau, defektem Stromzähler und schalldichten Tapeten beziehen zu können. Schon in graukarierter Herrgotts­ früh steht der Eisenwarenverkäufer Wendelin Notlage mit ob­ dachlosem Selbstrasiererkopf vor den Zeitungstafeln und notiert neben anderen Adressen: »Kleines ruhiges Zimmer vermietet Schlegelhammer, Unteranger 52.« Mit Rückenwind wedelt Wen­ delin dem Unteranger zu, denn die Konkurrenz ist groß. Im Hausgang nimmt er sich als erfahrener Zimmerherr zunächst eine Nase voll Geruch, denn daraus kann man sofort den Cha­ rakter des Gebäudes ermitteln. Manche Häuser riechen faul und warm wie alte Kühe, das sind die mit Familienanschluß, andere duften streng nach Justizpalast, da stehen die Wirtinnen um zehn Uhr abends mit der Stoppuhr vor ihren möblierten Keme­ naten, während in Häusern mit Bohnerwachsaroma die Unter­ mieter nur mit pedikürten Zehennägeln ins Bett dürfen und die Klosettschüsseln verchromt sind.

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Notlage läutet im ersten Stock, und in der Türfüllung erscheint die Zimmervermieterin, blaugestreift von Witt in Weiden und mit dem vorwurfsvollen Blick einer Volksgasmaske bei der Bachauskehr. Untermieter Wendelin wird unter lauernder Beobach­ tung in die ruhig-saubere Wohnung geführt und findet sich in einem wärmflaschenförmigen Besenkammerl wieder. »Mit Kaffee sechz’g Markl und pünktlich zoin - nachad siech i nix!« ver­ spricht die neue Wirtin und entblößt vertraulich ihre zwei letz­ ten oberen Stoßzähne. Der möblierte Herr haut sich in der Dun­ kelheit mit Genehmigung des Wohnungsamtes noch rasch seinen Kopf am Gasometer an und schnauft dann dreimal kräftig durch, als er glücklich entronnen ist. Das nächste Ziel ist die Baaderstraße, in der ein streng solider Berufstätiger als Inhalt für ein Wohnschlafzimmer in besserem Haushalt gesucht wird, aber das Wohnschlafzimmer ist mit Couches und Klubmöbeln gepolstert wie die Zelle für Tobsuchts­ anfälle und kostet den herben Kurs von 80 Monatsmark. Hin und her geht die Fahrt des möblierten Ahasvers, doch schließlich landet er in einer passenden Ziegelsteinschachtel, die einiger­ maßen schmackhaft im Preis und halbwegs sturmfrei ist. Aller­ dings hängen über dem leistenbrüchigen Kanapee zwei oval gerahmte Ahnenköpfe und schauen mit retuschierten Pupillen stumm, streng und altdeutsch auf die mehrfach gestrichene Bett­ statt des neuen Untermieters hin. Dieser ahnt schon wieder ganz leise, daß er diesem Untersuchungsrichterblick nicht allzu lange standhalten wird.

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DIE NACHT IST NICHT ALLEIN ZUM SCHLAFEN DA!

»Die Nacht ist nicht allein zum Schlafen da«, behauptet ein halbschneller Schlager, und das veranlaßt den Spaziergänger wieder einmal, einen kleinen Kontrollgang zwischen Mitter­ nacht und Morgen zu machen. Rund um den Stachus hat sich das Bild des nächtlichen München kaum verändert. Unter den ehrwürdigen alten Torbögen wuchern noch immer die schillern­ den fleischfressenden Großstadtorchideen und fallen scharen­ weise über »Chevrolets stählerne Kinder« her. Die erfolgreich­ sten von ihnen konnten sich bei anhaltend gutem Geschäftsgang bereits eine Couch kaufen, haben sich selbständig gemacht und ihre Tätigkeit nach der »Sex-Avenue« beim Luitpoldkino verlegt. Vor einem Nachtlokal beim Stachus sieht Blasius einen schwer­ vergoldeten Portier stehen, der sicher früher ein russischer Groß­ fürst war und nun heftig auf den Tag seiner Rückkehr in den Kreml wartet. Mit einer hoheitsvollen Geste wird der Spazier­ gänger zum Eintritt in das Münchner Nachtleben aufgefordert und sieht das gewohnte Bild: eine hölzerne Bartheke mit Mes­ singstange und dahinter ein welkes spitalreifes Barmädchen von jener Sorte, die heute für jeden Trambahnschaffner sehr dankbar wären und längst eingesehen haben, daß alles eitel ist. Ein Ober­ kellner mit gewölbtem Trinkgeldrücken stellt die plüschhäutigen Stühle immer wieder in Schützenlinie auf, und hinter einem roten Vorhang wartet eine spitzäugige Toilettenfrau verbittert und ungeduldig auf ein großes oder kleines menschliches Bedürf­ nis. Der Alleinunterhalter singt knapp an seinen Polypen vorbei, beharrlich, daß er wieder einmal nach Hawaii muß, und denkt mit Übelkeit an den langen Moosacher Radlerweg, der ihn nach Lokalschluß erwartet. Diese Bar-Atmosphäre kennt Blasius bis 95

zum Sodbrennen, und also lenkt er seine Schritte einem anderen Etablissement zu. *

In einigen Sektflaschen stecken brennende Kerzen, und die Be­ sitzerin der »warmen Stube«, ein ehemaliger Filmstar, begrüßt den Spaziergänger in heiserem Flüsterbariton, während sich der junge Chef des Hauses dabei dezent die Nase pudert. Blasius erkennt sehr bald, daß es sich bei diesem Unternehmen um einen Fremdenverkehrsbetrieb besonderer Art handelt. Interessiert blättert der Spaziergänger in dem Gästebuch mit den vielen süßen Widmungen. Aha, da fehlt ja außer dem Alten Fritz, Oscar Wilde und anderen kaum einer aus der Prominenten­ legion von Hauptmann Röhm. Blasius verläßt diese »Maien­ stube« um einiges Wissen reicher und pilgert wieder einmal dem geistreichen Schwabing zu. Im »Siegesgarten« und im »Zelt« macht man noch immer auf interessant. Die Jünglinge, die sich selbst ein Rätsel sind, tragen als äußeres Zeichen ihrer bankrotten Männlichkeit nach wie vor Fleißige-Lieschen-Bärte und Abblend­ kappen auf ihren Intelligenzkonserven.

* Auch bei »Mutti Bräu« ist die Wiese noch immer grün, und - aus gutem Grund - ist »Mutti« rund. Blasius kann also beruhigt wieder wandern und besucht zum Abschluß seiner Inspektions­ reise noch einen Bierkeller am Hauptbahnhof. Hier findet er die wahrhaften Kinder des Volkes. Heinrich-Zille-Modelle mit übergelaufenen Formen, druckfeste Jungfrauen von der Orleansstraße, wehrhafte La Janas aus Hadern und Laim, sowie samba­ leidende Jünglinge mit fiebrigen Teddybäraugen und einer Mark fünfzehn Bargeld. Hier wird nirgends lange gefackelt, hier hat man die Liebe auf einen einfachen Nenner gebracht: »Franze, des Rotschwanzl stehd ned auf mi, fahr de siebaza Pfenning

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hera, wo i fir ihra Bier zoid hob, nachad las i das nieba.« Dieses Lokal kann der Spaziergänger als wirklich amüsante nächtliche Vergnügungsstätte überall bestens empfehlen. Für die meisten anderen Münchner Nachtlokale aber verweist Blasius auf Karl Valentins Patentvorschlag: »Wohin nach dem Theater, dem Kino oder Abendessen? - Durchs Karlstor, Tag und Nacht geöffnet.«

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INHALT Wie jedes Jahr....................................................................... 5 Blasius und die Schönsten vom ganzen Land . 7 Wammeri auf der Waage..................................................... 10 Blasius und die Reform-Frauen . . 12 Sonntagsreiter...................................... . ... 14 Blasius bei den Boxern........................... .. 16 Sommerfest................................ .. 19 Blasius besucht die Taxi-Girls . . .21 Der strapazierbare Schnauzl ... 23 Blasius in der Traumfabrik . . . . ... 25 Radlrennats........................................... ... 27 Blasius unter den Obdachlosen.......................................... 29 D’ Fremdn kemmal.......................................................... 31 Blasius geht auf den grünen Markt............................... 34 Aprilwetter.......................................................................... 36 Blasius in der Kurzwellenburg.......................................... 38 1 sar-Riviera.......................................................................... 40 Blasius beobachtet einen Kuhhandel ... . . 43 Im tiefen Keller................................................................ 45 Blasius sieht nächtliche Traber.......................................... 47 Fenstergucker...................................................... .49 Blasius hat einen falschen Beruf .... . . 52 Die Stadt ruht aus................................................................ 54 Blasius liebt seine Stadt .... 56 Blasmusi........................................................... .58 Venezianische Jodler .... . . 61 ... Reitet für Garching...................................... . 64 Blasius geht auf die Wiesn .... .66 Weitere Oktoberfestschmankerln............................... 69

Börsianer................................................................................ 71 Herbstliche Wettbewerbe................................................ 73 Leidste Gymnastik.......................................................... 75 Blasius im Spielkasino..................................................... 77 Weihnachtsfeier mit Hering................................................79 Vorstadthochzeit................................................................ 80 Blasius besucht den Gehirntrust..................................... 82 Der maskierte Hering..................................................... 84 Blasius macht einen Behördenrundgang.......................... 87 Blasius in der Löwengrube................................................ 88 Blasius bleibt doch der Spaziergänger.......................... 90 Der möblierte Herr.......................................................... 92 Die Nacht ist nicht allein zum Schlafen da .... 95