Polis Und Nomos: Untersuchungen Zu Platons Rechtslehre (Philosophische Schriften,) (German Edition) 3428113071, 9783428113071


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Polis Und Nomos: Untersuchungen Zu Platons Rechtslehre (Philosophische Schriften,) (German Edition)
 3428113071, 9783428113071

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Harald Seubert . Polis und Nomos

Philosophische Schriften Band 57

Polis und Nomos Untersuchungen zu Platons Rechtslehre

Von

Harald Seubert

Duncker & Humblot . Berlin

Die Philosophische Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg hat diese Arbeit im Jahre 2002 als Habilitationsschrift angenommen.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2005 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-6053 ISBN 3-428-11307-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

e

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Dieses Buch ist die an einigen wenigen Stellen ergänzte und unwesentlich überarbeitete Fassung meiner philosophischen Habilitationsschrift, die im Sommersemester 2002 der Philosophischen Fakultät (Geschichte, Philosophie, Sozialwissenschaften) der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg vorgelegt wurde. Das Habilitationsverfahren wurde am 5. 2. 2003 erfolgreich abgeschlossen. Vor allem weiß ich mich den Gutachtern der Arbeit, den Herren Professoren Dr. Rainer Enskat (Halle/Saale), Dr. Günter Figal (Freiburg/Br.) und Dr. Andreas Mehl (Halle/S., Berlin), für wohlwollendes Urteil und zahlreiche hilfreiche Anregungen herzlich verpflichtet. Ihren methodologischen, hermeneutischen und historischen Hinweisen versuchen die Ergänzungen der Druckfassung Rechnung zu tragen. Mein Lehrer Prof. Dr. Manfred Riedel hat die Arbeit angeregt und das Erstgutachten verfasst. Die Untersuchung ist in enger philosophischer Zwiesprache mit ihm entstanden, für deren prägende Erfahrung in einem über lange Jahre bewährten Vertrauensverhältnis ich besonderen Dank sage. Die denkerisch konzentrierte und zugleich gelöste Grundstimmung am Lehrstuhl für Praktische Philosophie der Alma mater halensis habe ich stets als förderlich empfunden. Herr Jean Strepp, Wiss. Hilfskraft am Lehrstuhl, und Herr Christian Nafe, Student der Philologie und Philosophie, haben sich um Korrekturund Registerarbeiten verdient gemacht. Die enge Zwiesprache über Fragen politischer und praktischer Philosophie mit Herrn Staatsminister a. D. Prof. Dr. Hans Maier (München) und Herrn Prof. Dr. Werner Beierwaltes (München) über die Platonische Tradition gehört zu den beglückenden, privilegierenden Umständen, die mein Studium der Sache inspiriert und die Konturen eigener Reflexion geschärft haben. Nicht minder ist das intensive Gespräch mit Prof. Dr. Michael Stürmer (Erlangen, Berlin) für die Klärung des Grundverhältnisses von Recht und Politik in Geschichte und Gegenwart Europas bereichernd gewesen. Diese Namen seien stellvertretend für manche Gesprächspartner und Mentoren, Lebende und Verstorbene, genannt, denen ich seit meiner Studienzeit sehr viel verdanke. Meine geliebte Frau Chris hat an der zügigen Fertigstellung des umfänglichen Manuskripts allen erdenklichen Anteil. Ich widme das Buch meinen

6

Vorwort

Eltern zum Dank dafür, dass sie meinen bisherigen Weg stets mit Liebe und Verständnis begleitet haben. Die Thematik weist, systematisch auf der Grenze zwischen Rechtsphilosophie, politischer Philosophie und Ethik angesiedelt, auf ein Grundproblem am Beginn abendländischer Philosophie hin: auf die Frage, wie positive Rechtsgebung nach den im Platonischen Dialogwerk entwickelten Kriterien als uneingeschränkt ,gut' soll gelten können. Dass diese Frage für die Grundlegung praktischer Philosophie in der gegenwärtigen säkularen Gesellschaft von hoher Bedeutung ist und nicht nur historische Aufmerksamkeit verdient, ist eine Annahme, die den Argumentationsgang begleitet; auch wenn aus Sachgründen auf Aktualisierung zu verzichten war. Ebenso gehe ich, darin Leo Strauss folgend, davon aus, dass die philosophische Querelle des anciens et des modemes, der Streit zwischen Antike und Neuzeit, stets neu zu durchdenken bleibt, ohne dass der Moderne darin immer schon Recht zu geben ist. Zu Zitierweise und Textgestalt ist zu bemerken, dass gemäß dem Darstellungsstil und um die Lesbarkeit zu erleichtern, einzelne Ausdrücke oder Wendungen des Originals in Klammern in Umschrift nach der Übersetzung bzw. Paraphrase angeführt werden. In der Umschrift wurden Akzente nur fallweise gesetzt, wenn dies zur Verdeutlichung erforderlich schien. Dabei wird der grammatischen Form des Originals gefolgt, alle Umstellungen oder Transpositionen in die Grundform werden durch einfache Anführungszeichen (, ... ') gekennzeichnet; auch Dialog- und Buchtitel werden auf diese Weise abgehoben. Lediglich längere Zitate werden in griechischen Lettern angeführt. Die Übersetzung Platonischer Texte folgt in der Regel wörtlich der Schleiermacher-Übertragung. Nur wo Präzisierungen oder andere Akzente notwendig schienen, weiche ich von ihr, mit Begründungen, ab. Ich verzichte auch auf eine Angleichung von Schleiermachers Orthographie und modifiziere die Zeichensetzung nur sehr behutsam, zumal sie, gerade dann, wenn sie an den heutigen Leser Zumutungen stellt, ihren Anspruch, an den Platonischen Denkgestus heranzuführen, erkennen lässt. Halle/Saale, Nürnberg im Sommer 2003

Harald Seubert

Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

11

1.

Das methodische Feld: Gesetz und Dialog zwischen Schrift und Rede. . ..

16

H.

Das Sachfeld: Das Gute in der Idee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

30

III.

Das Wortfeld: Vieldeutigkeit des Gesetzes ............................

35

IV. Der Ort des Gesetzesproblems in der Forschung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

43

V.

54

Ausgangspunkt und Gang der Untersuchung.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

Erster Teil

Polis, Tugend und Gesetz

62

1.

Der frühgriechische Rechtsbegriff und der Platonische Erkenntnisweg zur Natur der Gerechtigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 62 1. DIKE - Göttin und Begriff. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 62 2. Thesmos und Nomos ................. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 72 3. Der göttliche Nomos und seine Auflösung in der griechischen Geschichtsschreibung - Von Thukydides zurück zu Herodot ............ 79 4. Recht und ,innere Handlung' . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 101

H.

Über die Einheit der Tugend und die Gerechtigkeit - Die frühen Platonischen Sokrates-Dialoge ............................................. 110 1. Der Zusammenhang von Ethik und Aporie in den frühen Tugenddialogen ............................................................ 114 2. Das Problem des Selbstverhältnisses in der Tugend und die Einsehbarkeit des Rechts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119

Erster Kreisgang: Besonnenheit und Selbstwissen als Formgebung der Rechtlichkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 a) ,Charmides' ................................................. 119 b) ,Alkibiades' .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 125 Zweiter Kreisgang: Einheit der Tugend und Darstellbarkeit des Rechts 132 a) ,Menon' - Von der Einheit der Tugend als Rechtsproblem ........ 132 b) ,Protagoras' - Von der ,bürgerlichen Weisheit' ................... 140 Dritter Kreisgang: Das ,kalon' der Gerechtigkeit und die Eudaimonie des menschlichen Lebens . ........................................ 146 a) Die Frage nach dem Schönen im ,Hippias maior' ................ 146 b) Gesetz und Frömmigkeit: ,Euthyphron' ......................... 152

8

Inhaltsverzeichnis c) Gesetz als Elenchos und Entdeckung: ,Minos' ................... 159 d) Enkomion auf die Polis-Sittlichkeit: ,Menexenos' ................ 165

III.

Recht, Gesetz und philosophische Einsicht in ,Kriton' und ,Apologie' .... 1. Selbstprüfung und Reinigung: Der ,Kriton' ............. , ........... a) Die elenehtische Stimme der Gesetze ........................... b) Dem besten Grundsatz folgen: Der erste Teil des , Kriton' ........ , 2. Der Philosoph und die Gesetze: Zur ,Apologie' ..................... a) Wahre Richterschaft in der ,Apologie' .......................... b) Polisrecht und der ,Bios Sokratou' ............................ ,

168 168 168 181 188 188 198

Zweiter Teil

Techne, Arete und Natur

216

1.

Politeia I - Der Thrasymachos-Dialog ................................ 1. Der ,logos tes ousias' von Recht und Gerechtigkeit. ................. 2. Techne und Arete: Die Analogie und ihre Grenzen. . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Nutzen der Gerechtigkeit und die Vorfrage nach der Eudaimonie ......

216 216 224 232

11.

,Gorgias' - Scham und Recht. ....................................... 1. Die Unvermeidlichkeit der Scham - oder: Zum Differenzverhäitnis von Gerechtigkeit und Physis im ,Gorgias' ......................... 2. Wer der Rhetor ist. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Gerechtigkeit und Gesetz ......................................... 4. Die zweifache Einheit der Tugend: Recht und Unrecht im KalliklesGespräch. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Der Schluss-Mythos des , Gorgias , .................................

235 235 241 245 251 264

Dritter Teil

Recht, Innere Handlung und Idee

269

1.

Die Gerechtigkeit selbst: Der Neueinsatz von Politeia 11 ................ 269

11.

Analogien: Die große und die kleine Schrift. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 1. Zur Methode der Analogie ................................. . ..... 276 2. Gründungsakte: Geschichte und der Weg zur ,ARCHE' .............. 278

III.

Natur, Musenkunst, ,Paideia' und die Grundform von Recht und Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Ort der ,Paideia' im Gesetz ................................... 2. Musenkunst und Affekte (,Pathemata ') ............................. 3. Anfang und Ziel der Paideia: Das Göttliche ........................ 4. Musenkunst und Idee: Verweis auf Politeia X. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Mimesis des Menschen und große und kleine Schrift ...... . .........

284 284 286 298 310 313

Inhaltsverzeichnis

9

IV. Gestalten der Gerechtigkeit: Die zweite Gesetzgebungsschrift in Politeia V 326 V.

Das Feld der ,entos praxis' und die Gesetze ........................... 342

VI. Das Gerechte und die Hypothesis der Idee des Guten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 VII. Analogien der Bestheit: Die Idee des Guten und die drei Gleichnisse der ,Politeia' .......................................................... 370 1. Zum Zusammenhang von Linien- und Sonnengleichnis . . . . . . . . . . . . . . 371 2. Umlenkung und Rückkehr: Zum ,Höhlengleichnis' und seiner Selbstauslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 VIII. Die Paideia des Philosophen und die philosophische Propädeutik als Gesetzesverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 IX. Wider das Rechte - Ungerechtigkeit als Schlechtigkeit ................. 406 X.

Jenseits der Verwechselbarkeit: Die wahre Tragödie des Gerechten. Zum X. Buch der ,Politeia' .............................................. 1. Ortlose Lebensform. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Mythos des Pamphyliers Er. .................................. 3. Der Gerechte selbst: Bemerkungen zum Schlussmythos im ,Phaidon' ..

XI. Gesetz und königliche Webkunst: Der ,Politikos' ...................... 1. Die Schwäche der Gesetze ....................................... 2. ,Physike arete' .................................................. 3. Der Ursprungsmythos des ,Politikos' .............................. 4. Durchsichten: Der Ort des ,Politikos' in Platons Rechts- und Gesetzeslehre ...........................................................

429 429 434 438 443 443 450 456 462

Vierter Teil

Das Sein des Gesetzes. Der Problemaufriss in den ,Nomoi'

470

I.

Schriftlichkeit als Charakter des Gesetzes: Eine Vorverständigung ........ 475

11.

Ein Gott oder ein Mensch? Das Anfangsproblem in der Gesetzgebung .... 1. Gesetzgebung und Prüfung der ,arete': Der Exkurs über den Rausch .. 2. Die Anrede an die Siedler: Zum Grundverhältnis von Prooimion und Gesetzestext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Dianoetik: Das Gesetz zwischen Vorgeschichte und Geschichte ....... 4. Der Maßstab der Gesetzgebung und ihre Corollarbedingungen . . . . . . . . 5. Einheit als Skopus der Gesetzgebung ..............................

III.

490 490 503 514 536 542

Gesetzgebung als , Wahre Politik': Das Gesetz und der Begriff des Guten. 547

IV. Die Bauform des Gesetzeswerkes .................................... 1. Tektonische Zusammenhänge. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Gliederungsschemata ............. ". . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die philosophische Bedeutung dianoetischen Fragens . . . . . . . . . . . . .

551 551 551 563

10

Inhaltsverzeichnis 2. Statutarische Gesetzgebung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Eros und Paideia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Paideia und ungeschriebenes Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Familie und Haus: Von der nomologischen Bedeutung der Grenze .. d) Nomothetische Archontik .................................... . e) Die Logik der Strafe ..........................................

566 566 573 582 590 594

V.

Der Gott und der Gipfel der Gesetzgebung: Zu Nomoi X und XII........ 613

VI.

Gesetz und Tugendlehre: Der Schluss-Stein der ,Nomoi'. . . . . . . . . . . . . . . . 629

Abschluss .............................................................. 639 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 667 I.

Textausgaben. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 667

11.

Forschungsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 667

Verzeichnisse ............................... . ......................... . 677 I.

Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 677

11.

Götter und Heroennamen, Gestalten aus der Dichtung und aus Platonischen Dialogen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 685

1II.

Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 687

IV. Stellenverzeichnis .................................................. 693

Fotografische Aufnahme von Max Hirmer, entnommen: Reinhard Lullies, Griechische Plastik. Von den Anfängen bis zum Ausgang des Hellenismus. München 21960, S. 268.

Abbildung Weihrelief: Opfer in einem ländlichen Heiligtum (Pentelischer Marmor). München, Glyptothek Nr. 206.

Einleitung Die vorliegenden Untersuchungen zum Platonischen Rechts- und Gesetzesbegriff folgen einer doppelten Leitfrage: 1. Was verbindet das spezifische ,innere Handeln' der philosophischen Selbstbesinnung, das Platon der Bestimmung des Wesensbegriffs der Gerechtigkeit als ,entos praxis' zugrundelegt, mit der Stellung des Philosophen zu den Gesetzen, die erstmals im ,Kriton' verankert wurde?

2. Wie verhält sich die Aufsuchung eines der inneren Handlung gemäßen Inbegriffs von Gerechtigkeit, die in unterschiedlicher Weise in den Frühdialogen, der ,Politeia' und den ,Nomoi' eine entscheidende Rolle spielt, zur Gesetzgebung? Im Licht dieser Fragen wird versucht, den systematischen Ort der philosophischen Gesetzgebung in Platons Denken zu bestimmen. Dabei ist die Frage zu klären, in welcher Hinsicht sich von der Gesetzesproblematik her ein Standort gewinnen lässt, von dem aus sich das Ganze des platonischen Dialogwerks erschließt. Die Aufsuchung der Gerechtigkeit in der ,Politeia' führt von der "äußeren" Handlung auf die ihr ähnliche "innere", als welche die Gerechtigkeit in der Seele bestimmt wird. Die Gesetzgebung scheint zunächst lediglich das äußere Handeln in der Polis zu konditionieren und ihm Grenzen zu setzen. Wenn aber die Vielzahl der Gesetze als ein kohärentes Gesetzeswerk aufgefasst werden soll, so bedarf es der inneren Handlung des Nomotheten, um jenen Einheitssinn gemäß der Tugend zu entwerfen. Die Ambivalenz zeigt sich indes darin, dass die Ausprägung innerer Handlung und die Aufsuchung der Tugend ihrerseits gesetzlicher Vorzeichnungen bedürfen. Dies wird besonders an der Paideia-Gesetzgebung in der ,Politeia , deutlich. Von der in der ,Politeia' dann entfalteten Analogie zwischen ,innerer' und ,äußerer Handlung' her deutet sich an dieser Stelle bereits an, dass Einheit des Gesetzes und Einheit der Tugend einen Fragezusammenhang bezeichnen. Dies ist in der frühgriechischen Dichtung und Philosophie an den Rechtsfiguren von Thernis und Dike vorgezeichnet. Bei Platon verweisen die Spuren aus dem älteren Rechtsdenken in das Zentrum der Auseinandersetzung mit den Sophisten und auf die strittige Frage, ob Recht nur Setzung sei, oder ob es ein von Natur her Rechtes gebe. Damit ist auf ein zweites Grundverhältnis: den Zusammenhang von Recht und Gerechtigkeit verwiesen. Recht (to dikaion) ist für Sokrates und

12

Einleitung

Platon nicht die Summe jeweils in einer Polis geltender Gesetze. Es bedarf vielmehr der Gesetzesprüfung, um das in Wahrheit Rechte aus verschiedenen ,Nomoi' herauszusehen. Das sophistische und historiographische Verfahren des Vergleichs varianter Rechtsgebungen in verschiedenen Poleis wird damit nicht negiert, es wird aber auf die Suche nach dem nicht-bedingten, ursprünglich Rechten vertieft; jene Untersuchung konvergiert mit der Frage nach der Urstiftung des Gesetzes, mit der die ,Nomoi' beginnen. Auch das Verhältnis von Idee und Gesetz ist demgemäß wechselbegrifflich zu bestimmen: die selbst keiner Rechenschaft fähige Gesetzes-Schrift findet ihre Grenze an einem Wissen, das den Gesetzesbestimmungen im Gespräch zu Hilfe kommen kann. Dies ist gleichermaßen das Wissen des Philosophen und, wie der ,Politikos'-Dialog zeigt, des wahren Staatsmanns. Aber auch umgekehrt hat die innere Handlung des Philosophierens gesetzliche Implikationen: die nomothetischen Bestimmungen über den Ort der Philosophie in der Polis haben nicht nur eine gleichsam esoterisch auf die Philosophengemeinschaft, sondern auch eine exoterisch auf die Stadt bezogene Bedeutung. Als den einen und entscheidenden Differenzpunkt, der die Ideenpolis von allen bisherigen Poleis unterscheidet, wird in der ,Politeia' der Ort der Philosophie bestimmt. I Wie von hier her zu zeigen sein wird, konvergieren die verschiedenen Wegbahnen der Platonischen Behandlung von Recht und Gesetz von den frühen Tugenddialogen über die ,Politeia' bis zu den ,Nomoi' in dem gemeinsamen Grundzug, dass Platon die philosophische Unterredung unter ein Gesetz stellt, wobei das Philosophieren unter der Voraussetzung dieses Gesetzes seinerseits gesetzgebend wirkt. An einer aufschlussreichen Stelle im VI. Buch der ,Politeia' ist im Blick auf die Gesetzgebung vom Vorgang des Bildens (plattein) die Rede (vgl. 500b7-501c3). ,Plattein' bedeutet, vor dem Gefügezusammenhang von paradeigmatischem Urbild und seinem Mimema, ein entzogenes Urbild zuerst in die eigene Lebensform einzuprägen. Mithin ist das Gesetz, wie im X. Buch der ,Nomoi' festgehalten wird, als die innere Ordnung (kosmos bzw. logos) des göttlichen Geistes (nous) zu erkennen, die der menschliche Geist, wenn er ihrer einmal in einem nichtsinnlichen Bild gewahr geworden ist, nachahmen muss (mimeisthai). Das Gesetz hat ontologische Kraft, insofern es die Anähnlichung an das Urbild fordert. Dies berührt sich mit einem Grundzug der Platonischen Dialektik, den Schleiermacher kongenial rekonstruiert hat. Schleiermacher wies, in einer 1 Vgl. grundsätzlich über das Verhältnis von Gesetz und Philosophie im Platonischen Denken A. Neschke-Hentschke, Politik und Philosophie bei Plato und Aristoteles. Die Stellung der "Nomoi" im Platonischen Gesamtwerk und die politische Theorie des Aristote1es. Frankfurt/Main 1971.

Einleitung

13

anachronistischen Kennzeichnung der Platonischen Denkbewegung mit Aristotelischen Begriffen, darauf hin, dass die Einteilung in das , kath' auto , und das ,pros ti' bei Platon angelegt sei. Die innere Gliederung des Logos führe dazu, dass "die Einheit des Wesens bei der Vielheit der Relationen" aufgestellt werden könne. Daraus ergibt sich Schleiermacher zufolge der zusätzliche folgenreiche Schritt einer Aufhebung des Gegensatzes von kath'auto und pros ti. Die Einteilung setze "zugleich die Aufgabe, jedes ,kath' auto , durch alle ,pros ti', welche ein vollständiges System bilden müssen, hindurchzuführen, so dass jede Einheit des Wesens wieder eine Totalität von Bestimmungen wird, und von Relationen, indem es auch unter ,tautotes' und , heterotes , betrachtet werden kann, und so als Einheit und Totalität wieder ein Bild des ganzen (zeigt)". Gadamer hat darin zu Recht eine Explikation der Umkehrbewegung in Sophistes 253d gesehen; wonach die Kunst des Dialektikers darin besteht, einerseits das xatl- 'airto der f.tLa iöEa durch alle Verhältnisse hindurch festzuhalten (d6): das Eine wird damit zur Totalität seiner Relationen. Die Umkehrung (indiziert durch das a'Ü) besteht darin, dass auch jede einzelne Relationshinsicht an ihr selbst festgehalten wird und damit als , kath' auto , ihrer Relationen gelten kann. 2 Dies trägt nach Schleiermachers Deutung allererst die Unterscheidung zwischen der Platonischen Dialektik und den Anti-Iogien der Sophistik. Formal wird dem Rechnung getragen, indem das Nichtsein als bestimmte Negation aufgefasst wird; das ,me on' als ,heteron'. Durch die Umkehrung wird es aber allererst möglich, zu zeigen, dass die einzelnen Bestimmungen an dem ermöglichenden Einen, als das die Idee des Guten zu verstehen ist, Anteil haben. Dies ist, auch wenn Schleiermacher die ,Nomoi' als , Gelegenheitsschrift , oder ,Nebenschrift' sah, fundamental für eine philosophische Gesetzgebung, die das Urbild der Idee des Guten in jeder einzelnen Bestimmung festhalten muss; in der Umkehrung aber das Eine der Idee als Totalität gesetzlicher Bestimmungen fassen kann. Schleiermacher hat für eine solche Lesart zwei Hinweise gegeben: einerseits bestimmt er die Grundidee des Guten, wenn sie "absolut genommen" werde, als Gottheit, die "über das Ideale und Reale" und die Differenz zwischen beidem hinausführe. Das Gute ist als "Identität [... ] der Totalität mit der Einheit" zu verstehen. Andererseits weist Schleiermacher darauf hin, dass das Übel bei Platon den Übergang zur Ethik bezeichne. 3 Im Blick auf diese Urgenesis der Ethik be2 H.-G. Gadamer, Schleiennacher als Platoniker, in: ders., Neuere Philosophie Band 11. Gesammelte Werke, Band 4. Tübingen 1987, S. 374 ff., insbes. S. 380 ff. 3 Schleiermacher, Über die Philosophie Platons. Hgg. und eingeleitet von P. M. Steiner, mit Beiträgen von A. Arndt und J. Jantzen. Hamburg 1996, S. 18. Bei dem zitierten Text handelt es sich um einen Auszug aus Schleiennachers später ,Geschichte der Philosophie' (gelesen zwischen 1819 und 1823).

14

Einleitung

steht kein Zweifel daran, so hat Schleiermacher in der Einleitung zur ,Politeia' den Gedankengang später ergänzt, dass Platon als er die Bücher der ,Politeia' schrieb, auch schon beschlossen hatte, den ,Tirnaios' und ,Kritias' daran zu knüpfen. Denn "das Verhältnis der Seele zu dem gesamten gewordenen Sein" führt auf das Problem der Aufstellung und des "Festhalten(s) allgemeiner gebietender Ordnungen", die Schleiermacher zufolge erst als "die vollständige und deutliche Nachfolge der Gottheit" bezeichnet werden kann. 4 Eben dies ist die Ausgangsproblematik der ,Nomoi' als Lehre von den Gesetzen in der beweglichen Polis und der Bewahrung (soteria) der guten Polis in der Zeit. Recht und Gesetz sind, so sollen unsere Vorüberlegungen zeigen, als Grundbegriffe Platonischer und Sokratischer Ethik zu erkennen, vor deren Hintergrund sich die Frage nach dem einschränkungslos Guten explizieren lässt, die aber ihrerseits - im Sinn der ,Politeia' - durch die Idee des Guten erst auf ihren Grund geführt werden. Der Fragezusammenhang spezifiziert sich in einem ersten Schritt auf das Problem, wie sich die Frage des Sokrates nach der Einheit der Tugend und sein philosophisches Selbstverständnis zu der spezifischen Bindung an die Athener Gesetze in ,Kriton' und ,Apologie' verhält. Die Beziehung zwischen dem Recht und der als ,innere Handlung' begriffenen Gerechtigkeit verweist auf den in den frühen Sokrates-Dialogen angelegten Übergang von dem techne-Wissen zu einem begründungs fähigen Tugendwissen; wobei der Bezug, kurz gesagt, darin besteht, dass das Sokratische ,logon didonai' den Gesprächspartner in die Lage bringt, Richter über sich selbst zu sein. Im Blick auf das erste Buch der ,Politeia' und den ,Gorgias' präzisiert sich der Zusammenhang von Recht und Tugend auf zwei Angelpunkte: das Verhältnis von Recht und Gerechtigkeit zu einzelnen Fertigkeiten (technai) und die Frage, ob es eine Gerechtigkeit von Natur gebe. Die techne ist analogisch auf die Tugend bezogen. Sie kann als Beispiel dienen, um das Wesen der Tugend zu ergründen. Doch die Vergleichbarkeit hat offensichtlich Grenzen. Der zweite Problemzusammenhang macht darauf aufmerksam, dass sich das Recht affektiv mitteilt; und dass der Streit zwischen Sokrates 4 Schleiermacher, Über die Philosophie Platons, S. 386 f. In diesem Zusammenhang wären auch Diltheys Hinweise auf den inneren Einheitssinn der Platonischen Philosophie zu konsultieren, als deren ersten Zug er erkennt, "dass die Philosophie hier noch Leben, Gespräch, Mitteilung ist, erst in zweiter Linie schriftliche Aufzeichnung; der Dialog will daher die Gedanken in anderen erzeugen". "Inhalt und Form" seien, so hat Dilthey weiter dargelegt "gleichsam nur die Atttribute derselben Substanz des Werkes [... ]". In ihren verschiedenen Stücken bildeten "die einzelnen Werke vermittels der in ihnen kunstvoll angedeuteten Beziehungen ein Ganzes", vgl. Wilhelm Dilthey, Die Jugendgeschichte Hegels. Gesammelte Schriften, IV. Band. Göttingen 51974, S. 366.

Einleitung

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und den Sophisten um einen wahrheitsdefiniten Gerechtigkeitsbegriff im Verständnis der Natur kulminiert. Auch in die ,Politeia' ist, obgleich zumeist unbemerkt, ein Gesetzgebungs-Werk eingegangen, das mit der Verortung des Eidos der Gerechtigkeit in der Seele und mit dessen Bestimmung als ,innere Handlung' in einem Bezug steht: die gesetzlichen Statuierungen zur Paideia, der Musenkunst oder die Reinigung der mythischen und rhapsodischen Theologie haben sämtlich Gesetzgebungscharakter; und selbst der ,Anhodos' der Adepten der Dialektik ist im Sinn eines Gesetzeswerkes vorgezeichnet. Auch die ,Idee des Guten' in der ,Politeia' ist nicht unabhängig von der Gesetzesform gegeben. Die Nomothetik kann nicht lediglich als Nachbildung oder Ähnlichkeitsbild (Mimema) der höchsten Idee aufgefasst werden. Vielmehr kann im Ausgang von der Bestimmung eines schlechthin Gerechten erst geklärt werden, ob es gut ist, gerecht zu sein. Und von hier aus muss dann der Begriff eines schlechthin Guten aufgesucht werden. 5 Man wird freilich darauf aufmerksam werden müssen, dass die ,Politeia' aus einer anderen Rechtssphäre als die Frühdialoge schöpft. Im Unterschied zu ihnen geben nicht die Gerichtsverhandlung, und im Unterschied zum ,Gorgias' gibt nicht die Strafe den Leitfaden aus der Erfahrung. In der ,Politeia' wird vielmehr ein erster grundlegender Ansatz zu einer philosophischen Gesetzgebung unternommen. Vor dem Eidos der Rechtsgebung soll sich klären, was Gerechtigkeit ist. Deren Bedeutung wird in einem Zusammenhang genuin philosophischer Erörterung, einer Art von innerer Handlung, dargelegt. In dem ganz dem Gesetzesbegriff gewidmeten Spätdialog ,Nomoi' wird im ,ernsten Spiel' der Vorerörterung zu einer realen Koloniegesetzgebung der Grundriss des Gesetzeswerks im sich-versetzenden Rückgriff in vergangene Zeiten gewonnen, also durch die archaiologische ,Aufgrabung' eines ,anfänglich Wahren'. Dieses bezeichnet den Ursprungspunkt einer dem Rechten gemäßen Nomothesie. Die ,Nomoi' fragen in Übereinstimmung mit ,Tirnaios' und ,Kritias' danach, wie die ideale Polis im Kampf und im Wechsel der Geschichte erhalten werden kann. Die Erhaltung (soterfa) der gerechten Stadt wird also zum Grundlegungsproblem. Auf diesem Weg kommt das Gute in der Idee in den ,Nomoi' am bewegten Seienden zur Erscheinung. Die Selbstbewegung des Kosmos und der Seele wird im X. Buch als Maß und Grund der Gesetze begriffen. Der damit grob umrissene Fragezusammenhang dieser Arbeit wird im Folgenden zunächst mit Blick auf das methodische Feld des Gesetzesbegriffs, das Verhältnis von Schrift und Rede, dann bezogen auf sein Sach5 Dazu P. Stemmer, Platons Dialektik. Die frühen und mittleren Dialoge. Berlin, New York 1992, S. 49 ff.

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feld, den Gesetzescharakter der Idee des Guten, und schließlich im Blick auf das Wortfeld, die Vieldeutigkeit des griechischen Gesetzesbegriffs, weiter entfaltet.

I. Das methodische Feld: Gesetz und Dialog zwischen Schrift und Rede 1. Schleiermacher charakterisierte das Wesen der Platonischen DialogKomposition einmal in dem Sinn, ,,[ ... ] dass (es) nicht von einem festen Punkt anhebend nach einer Richtung fortschreitet, sondern bei der Bestimmung jedes einzelnen von einer skeptischen Aufstellung anhebend durch vermittelnde Punkte jedes Mal die Prinzipien und das einzelne zugleich darstellt und wie durch einen elektrischen Schlag vereinigt" (SW III/l, S. 336 f.). Auch einer der umsichtigsten Platon-Interpreten des 20. Jahrhunderts, Jacob Klein, hat die Vollendungsgestalt der Platonischen Dialoge in jener wechselseitigen Problemtransparenz gesehen, die die Fragmentiertheit der einzelnen Aussagen ,ergänzt': "This also confers on the dialogues the quality of completeness as against their unfinished (aporetic) character in terms of the verbal argument".6 Dies weist darauf hin, dass die an der Interpretation einzelner Dialoge orientierte ,Aufsuchung des Zusammenhangs' nach wie vor für die Platoninterpretation von methodisch paradigmatischer Bedeutung sein kann. 7 Doch schon Schleiermacher ging von einem formalen Vorbegriff aus, durch den Teil und Ganzes innerhalb des einzelnen Dialogs, der Dialoggruppen und des Dialogwerks, aufeinander bezogen und wechselseitig auseinander interpretiert werden könnten. Das Dialogwerk lässt sich als ,Auswickeln' und als ,Fortbildung' eines ,Keimentwurfs' auslegen, 8 so dass die ,Idee' des Ganzen schon im Anfang grundgelegt gewesen sein muss. 9 Schleiermachers Lesart ist in der Sache nicht unumstritten, denn sie scheint die Differenz zwischen den Frageeinsätzen der Dialoge zu harmonisieren. Gadamer hat allerdings zu Recht auf die bemerkenswerte Koinzidenz hingewiesen, "dass der Entdecker der platonischen Dialogform die systematische Konstruktion der platonischen Philosophie in den Vordergrund stellt".l0 Der junge Nietzsche modifizierte die These gerade im Blick auf 6 J. Klein, A Commentary on Plato's Meno. Chapell Hill 1965, S. 17. Dazu auch W. Wie land, Platon und die Fonnen des Wissens. Göttingen 1982, S. 68 ff. 7 Vgl. die kongeniale Deutung bei Dilthey, Das Leben Schleiennachers. 2. Band aus dem Nachlass herausgegeben von M. Redeker (= Dilthey, Ges. Schriften. Band XIV), Göttingen 1985, S. 49 ff. 8 Schleiermacher, Sämmtliche Werke 1,1, S. 88 ff. und S. 55. 9 Dazu auch die Deutung bei Dilthey, Das Leben Schleiennachers, a.a.O., S. 51 und ders., Gesammelte Schriften Band IV, S. 366.

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die Platonische Ethik. Denn für ihn ist jenes Ganze nicht nach der Art eines aisthetisch anschaubaren Kunstwerks deutbar. Platons Dialogwerk lässt sich also keineswegs aus einer ,ästhetischen Urgenesis' verstehen, wie Nietzsche sie in Schopenhauers Ideenbegriff auffand; denn dies setzte voraus, dass die Idee angeschaut werden kann (Nietzsche GOA XIX, S. 274). Die reine, unbedingte Sittlichkeit, von der Platons Denken nach Nietzsche ausgeht, ist aber nicht auf "anschauliche Begriffe [... ], wie gerecht, schön, gleich gut" bezogen. Der junge Nietzsche verortet den Ursprung der Idee im klärenden Sokratischen Gesprächsgang und setzt sie keineswegs eo ipso mit der Konstitution einer anschaubaren Hinterwelt gleich. Im Sittlichen liege, so begründet Nietzsche seine Charakterisierung Platons, dessen "dominirende Kraft" (GOA XIX, S. 286); und noch deutlicher ist an anderer Stelle von der "unbedingte(n) Anwendung des sittlichen Maßstabes" bei Platon die Rede (ibid., S. 275). Die sittliche Unbedingtheit verbindet sich Nietzsche zufolge mit der Sokratischen Gesprächskunst, sie verweist also auf die verschiedenen Dialoge und ihre Darstellung, in deren Wechselverhältnis ihre Vollendung liege, nicht in einer Lehre von den Ideen. 11 Im Blick auf die ,Politeia , hat Nietzsche den Zusammenhang des Dialogwerks in einer Weise erklärt, die Schleiermachers Urteil nur modifiziert und die er ausdrücklich auch auf den Spätdialog ,Nomoi' angewandt sehen wollte. "Wir müssen uns den großen Plato denken, wie er seine schriftstellerischen Arbeiten ordnet: wie etwa Goethe. Mit einiger Willkür wird ein Ganzes hergestellt. Die Politeia wie die Gesetze sind solche Alluvionsgebilde, aus Stücken der verschiedenen Lebensalter" (Nietzsche, GOA, Band XIX, S. 257). Die Überlegung des Zusammenhangs von Teil und Ganzem wirft auch Fragen hinsichtlich der Bedeutung der Chronologie für die Erörterung eines Platonischen Sachproblems auf. Wolfgang Wieland hat darauf hingewiesen, dass eine philosophische Entwicklung niemals als naturwüchsiger Vorgang begriffen werden dürfe. Man könne sich nicht damit begnügen zu ermitteln, wie verschiedene Stadien aufeinander folgen. Es ist auch zu fragen, "wie in jedes Stadium das Resultat einer Auseinandersetzung mit dem vorhergehenden Stadium eingeht" .12 Wenn beim Wort genommen wird, dass sich die ,Einheit' Platonischen Philosophierens nur im Wechselverhältnis verschiedener Dialoge einstellt, so kann das entwicklungsgeschichtliche und sachliche Problem nicht nur propositional fassbaren Aussageinhalten abgelesen werden. Es ist auch auf 10 Gadamer, Schleiermacher als Platoniker, in: ders., Gesammelte Werke Band 4, S.383. 11 Aufschlussreich für diesen Zusammenhang ist auch der Briefwechsel DiltheyYorck. Hildesheim 1973, S. 216. 12 Wieland, Platon und die Formen des Wissens, S. 83 ff., hier S. 87.

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Nicht-gesagtes und die Art zu beziehen, wie es im Gesprächsgang eine Rolle spielt. Wieland hat deshalb notiert, dass zumindest mit der Möglichkeit gerechnet werden müsse, dass Platon "mit der dargestellten Sokratesentwicklung seine eigene Entwicklung gelegentlich sogar konterkariert". 13 Es ist augenfallig, dass jene Dialoge, die sich dem Rechtsproblem zuwenden: ,Apologie', ,Kritias', ,Nomoi' besondere Schwierigkeiten bereiten. In den ,Nomoi' begegnet Sokrates nicht; auch nicht, wie im Spätdialog ,Parmenides', in der Rückschau als junger Mann oder wie im ,Sophistes' und ,Politikos' in schweigender Präsenz. Und es hieße, einen gordischen Knoten zu durchschlagen, wenn man die Gestalt des Atheners mit Sokrates oder gar mit Platon gleichsetzen wollte, der als Gesetzgeber mit eigenster Stimme spreche. Sonderpositionen nehmen aber auch bereits die beiden Dialoge ein, mit denen die Platonische Erörterung von Recht und Gesetz im Sinn einer relativen Chronologie beginnen dürfte. Die ,Apologie' ist kein elenchtisches Gespräch, sondern eine fingierte Verteidigungsrede, die sich an Konventionen der Gerichtsrede bindet, diese aber auch durchbricht; und auch der ,Kriton' ist formgeschichtlich nicht einheitlich. Er ist zu einem Teil prüfende Unterredung mit einem jungen Freund, zum anderen ist ihm ein zweiter Elenchos einkomponiert, das Gespräch, in das die attischen Gesetze Sokrates verwickeln. Dass im Sinn Schleiermachers das Ganze aus dem Zusammenhang der verschiedenen Dialoge entsteht, hat Wolfgang Wieland in einer Auslegungsmaxime verdeutlicht. Er begreift den Dialog als ,Medium des Gedankens'. Der Dialog ,zeige' etwas, da sich "das Wissen, um das es Platon geht, [... ] nicht direkt als Inhalt oder als Korrelat von Aussagen mitteilen" lasse. 14 Die Dialogform zeige daher, indem sie Gestik und Mimik der sich unterredenden Personen mit abbildet, verschiedene Wissensformen, die von den Dialogisierenden ,bezeugt' werden. Erst das Gespräch, so lässt sich Wielands Erläuterung über die Dialogform als Medium des philosophischen Gedankens auf diese Problematik beziehen, werde "einem Philosophieren gerecht, das sich niemals auf ein Unsagbares wie auf ein factum brutum zu berufen braucht, sondern das hinter jedem Gespräch immer wieder ein weiteres Gespräch sucht und jedes Bild immer nur wieder durch andere Bilder erläutern kann.,,15 Platon hat offensichtlich selbst eindeutig zwischen Lehrvortrag und Dialog unterschieden (vgl. Phaidros 274b9-278b6).16 Einzig im Dialog ist es möglich, aber auch geboten, die "Tätigkeit des Philosophierens nicht ledig13 Ibid. Vgl. E. Munk, Die natürliche Ordnung der platonischen Schriften. Berlin 1857, der, wie Wieland zeigt, das erste Mal auf die Bedeutung der ,fiktiven Chronologie' hingewiesen hat. 14 Wieland, Platon und die Fonnen des Wissens, S. 70. 15 Vgl. dazu Wie land, Platon und die Fonnen des Wissens, S. 70.

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lieh zum Gegenstand von Aussagen zu machen, sondern sie in exemplarischen Gestalten auch selbst unmittelbar vor Augen zu stellen"Y Georg Picht hielt im Blick auf die Platonischen Dialoge fest, dass "die Form als solche die primäre und [... ] bei weitem untrüglichste Darstellung des Gedankens" sei.!8 Fasst man diese Beobachtung allgemeiner, so lässt sich konstatieren, dass im Dialog Gedanken "nicht nur auf die von ihnen intendierten Sachverhalte" bezogen werden; sie verweisen zugleich "auf das Denken,in dem sie ihren Ursprung haben".!9 Damit legt sich zugleich die Folgerung nahe, dass dem fiktiven Gespräch Lehren "nicht direkt entnommen", sondern bestenfalls aus ihm ,rekonstruiert' werden können?O Erst recht ist es nicht tunlieh, aus bestimmten propositionalen Aussagen in einem Dialogzusammenhang auf Platons Auffassungen oder auf jene des historischen Sokrates zu schließen?! Und die Auslotung des Verhältnisses von mündlicher Rede und Schrift verdeutlicht, dass ein Platonischer Dialog auch dort Medium der Gedankenentwicklung ist, wo er sich nicht auf eine propositionale Aussage hin abbilden lässt, wo er schweigt oder wo Mimik und Gestik an die Stelle der Argumentation tritt, sie begleitet oder konterkariert. 22 Nach einer Formulierung von Wolfgang Wieland wird das, "was von Platon in seinem Werk nur noch gezeigt wird", auf propositionale Aussagen projiziert werden müssen. "Doch wie genau diese Projektion auch immer ausfallen mag, man kann nicht umhin, den Verlust einer ganzen Dimension in Kauf zu nehmen. ,.23 2. An diesem Punkt sind die Überlegungen auf ihren systematischen Ort, das Verhältnis zwischen Schrift und mündlicher Rede, zu spezifizieren. Die Dialoge sind so verstanden ,Gedächtniszeichen " idealtypische Niederschriften von tatsächlich geführten Gesprächen, die durch vielfache Signale, namentlich das Motiv des Zuhilfekommens, auf Gebrauch und Anwendung verweisen. 16 Vgl. M. Frede, Plato's Arguments and the Dialogue Fonn, in: Methods of interpreting Plato, in: OSAPPh. Suppl. Oxford 1992, S. 201 ff. Siehe auch E. Heitsch, Platon Werke III, 4. Übersetzung und Kommentar. Göttingen 1994. 17 So W. Wieland, in: Georg Picht, Platons Dialoge ,Nomoi' und ,Symposion'. Stuttgart 1990, S. XIII. 18 Vgl. Picht, Platons Dialoge, S. 333 und S. 351 f. 19 Wie land, in: Picht, Platons Dialoge, a.a.O., S. XIV. 20 Dazu N. Blößner, Dialogfonn und Argument. Studien zu Platons ,Politeia'. Stuttgart 1997. S. 11. 21 Ibid. 22 Vgl. Picht, Platons Dialoge, S. 30 ff., Wieland, Platon und die Fonnen des Wissens, S. 57 ff. und ders., Platons Schriftkritik und die Grenzen der Mitteilbarkeit, in: V. Bohn (Hg.), Romantik, Literatur und Philosophie. Frankfurt/Main 1987, S. 24 ff. 23 Wie land, Platon und die Fonnen des Wissens, a. a. 0., S. 324 f. 2*

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Dieser grundsätzliche Sachverhalt ist von besonderer Bedeutung, wenn das Verhältnis zwischen einer aus Einsicht gewonnenen Gerechtigkeit (Rechtlichkeit) und dem kodifizierten Gesetz geklärt werden soll. Formprobleme, die in den Dialogen auftreten, sind vor diesem Hintergrund zugleich Sachprobleme der Rechtslehre. Auch hier kann die Differenz zwischen Schleiermacher und Nietzsehe den Horizont klären helfen. Es war Schleiermachers These, Platon sei "ein litterarischer Lehrer, der ein ideales Publikum von Lesenden hat und diese methodisch erziehen will". Für Schleiermacher ist die Schrift ein geeignetes Mittel, um die "nicht-Wissenden zur Erkenntnis zu bringen". Dagegen bemerkt Nietzsehe im Rückgriff auf eine einschlägige Stelle aus dem ,Phaidros' (275b3 ff.): "Platon sagt, nur für die Wissenden, als Erinnerungsmittel, habe die Schrift ihre Bedeutung. Deshalb solle die vollkommenste Schrift die mündliche Form der Belehrung nachahmen: um also zu erinnern, wie der Wissende wissend geworden ist".24 Das Dialogwerk hat also Nietzsehe zufolge einen ,hypomnematischen' Charakter und verweist auf die Erörterungen, die innerhalb der Akademie im Gespräch geführt werden, wobei kurze Andeutungen (VII. Brief 341e) für den Eingeweihten hinreichend seien, um sich den Wortlaut der Dialoge zu ergänzen. Das Verhältnis zwischen Schrift und mündlicher Erörterung lässt sich auch grundsätzlicher fassen; so wie es beispielhaft Ernst Heitsch getan hat. Da die Schrift den Einzelfall niemals genau treffen kann, teile Platon seine Lehre "nur indirekt" mit, in verschleierter Form?5 Rechenschaftsfähig sei erst das Gespräch, in dem die Schrift hin- und her gewendet werde und verbessert werden könne, wobei die Anwendbarkeit auf die einzelne zur Eörterung stehende Frage der eigentliche nervus probandi sei. Der Verfasser einer Schrift zeigt sich als wissend, wenn er hinter seine Schriften zurücktreten, sie erläutern und über sie Rechenschaft geben kann. 26 Allerdings ist es zweifelhaft geblieben, ob die von Heitsch aufgewiesene Struktur für die Kennzeichnung der philosophischen Dialog-Kunst hinreichend ist. Man kann sich an das Indiz erinnern, dass in den Platonischen 24 Nietzsehe, Einführung in das Studium der platonischen Dialoge WS 1871/72, nach: Werke, Musarion-Ausgabe. Band 4, S. 370 f. 25 E. Heitsch, Platon über die rechte Art zu reden und zu schreiben. Stuttgart 1987, S. 8 f. Vgl. auch ders., timiotera, in: Hermes 117 (1989), S. 278 ff., ders., Phaidros 277a6-b4. Gedankenführung und Thematik im ,Phaidros', in: Hermes 120 (1992), S. 169 ff., sowie: Verständigung und Gespräch, in: ders., Wege zu Platon. Beiträge zum Verständnis seines Argumentierens. Göttingen 1992, S. 102 ff. 26 Vgl. die unter FN 25 genannten Arbeiten. Allerdings ist zu notieren, dass Heitsch sich über die Existenz einer ungeschriebenen Lehre in diesem Zusammenhang gar nicht explizit äußert. Siehe dazu heute, eng von Heitsch beeinflusst, die Gesamtdarstellung: F. v. Kutschera, Platons Philosophie. 3 Bde. Paderborn 2002.

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Sokrates-Dialogen das von Sophisten und Rhetorikern geübte Verfahren der Schriftauslegung als Mittel der Erkenntnisgewinnung wiederholt verworfen wird. Es ist nicht geeignet, im anderen Gedanken zu ,erzeugen'. H. J. Krämer und Thomas A. Szlezak haben deshalb die Frage aufgeworfen, unter welchen Umständen der Philosoph überhaupt wissen könne, dass er etwas ,besseres' zu sagen wisse als seine Schriften. Dies setze nämlich die Vorstellung voraus, dass er schon während des Schreibens im Besitz der Ideen ist und dass die Dialoge, wie Szlezak pointiert formulierte, "schriftliche Modelle" des mündlichen Zuhilfekommens seien. 27 Schon Hegel nannte aus diesem Grund die im 18. Jahrhundert von Tennemann begründete Unterscheidung zwischen einer esoterischen und einer exoterischen Philosophie Platons ,einfältig'. "Das sieht aus, als sei der Philosoph im Besitz seiner Gedanken wie der äußerlichen Dinge. Die Gedanken sind aber ganz etwas anderes. Die philosophische Idee besetzt umgekehrt den Menschen. Wenn Philosophen sich über philosophische Gegenstände explizieren, so müssen sie sich nach ihren Ideen richten; sie können sie nicht in der Tasche behalten. Spricht man auch mit einigen äußerlich, so ist die Idee immer darin enthalten, wenn die Sache nur Inhalt hat. Zur Mitteilung, Übergabe einer äußerlichen Sache gehört nicht viel, aber zur Mitteilung der Idee gehört Geschicklichkeit. Sie bleibt immer etwas Esoterisches" (Theorie-Werkausgabe, Band 19, S. 21). Das Esoterische lässt sich, so führt Hegel den Gedanken weiter, gerade im Exoterischen, den Mitteilungen in den Sokrates-Gesprächen, erkennen. Deshalb hat er das Esoterische als das eigentlich ,Spekulative' bestimmt, ,,[ ... ] das geschrieben und gedruckt ist [... ], ein Verborgenes bleibt für die, die nicht das Interesse haben, sich anzustrengen. Ein Geheimnis ist es nicht und bleibt doch verborgen,,?8 Diese Bemerkung nimmt offensichtlich die Selbstaussage Platons aus dem VII. Brief auf, wo er seine eigenen ,Lehren' (mathemata) von einem Lehr- und Mitteilungszusammenhang unterscheidet, der, entweder in Schriften oder mündlich, in tradierten Schulausdrücken niedergelegt werden könne (341c4 ff.)?9 Der Aufstieg zur Idee wird nach Aussagestruktur und Genealogie einem mitteilbaren doxastischen Lehrgebäude konfrontiert.

27 Vgl. Th. A. Szlezdk, Gespräche unter Ungleichen. Zur Struktur und Zielsetzung der platonischen Dialoge, in: G. Gabriel und ehr. Schildknecht (Hgg.), Literarische Formen der Philosophie. Stuttgart 1990, S. 40 ff. 28 Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. (Zweiter Band). Jubiläumsausgabe (hg. von H. Glockner). Band 18, S. 238. 29 In diesem Sinn ist auch Schleiermachers wiederholt geäußertes Apen;u zu verstehen, dass die Übersetzung die ,Zweitschrift' des griechischen Textes wiederzugeben habe. Vgl. dazu und zu der Kritik seines philologischen Lehrers F. A. Wolf an den Platonübersetzungen M. Fuhrmann, Friedrich August Wolf. Zur 200. Wiederkehr seines Geburtstages am 15. Februar 1959, in: DVJS 33 (1959), S. 187 ff.

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Im Blick auf Recht und Gesetz erfahrt dieses Problem eine spezifische Zuspitzung. Denn in der Rechtssphäre wird, wie an einer Stelle der ,Nomoi' (858e) ausdrücklich festgehalten wird, der Schriftlichkeit von alters her eine besondere Würde zugesprochen. Dies hat einen Grund in der Sache. Das sanktionierende Gesetz muss festgeschrieben sein. Dennoch teilen Gesetzestexte die Schwäche mit anderen Schriften (grammata); auch sie können für ihre eigene Anwendung keine grundlegenden Bestimmungen treffen und Maßstäbe bereitstellen?O Das Grundverhältnis zwischen Schrift und mündlicher Aneignung kulminiert also in dem Verhältnis von kodifiziertem Gesetz und seiner Anwendung, wobei diese auf eine nicht-gesetzliche Einsicht verweist und in verschiedenen Horizonten zur Entfaltung zu bringen ist: ein Wissen um das Rechtliche und Gesetzliche ist zunächst für den Gesetzgeber unabdingbar, sodann für den mit den Rechtsdingen befassten Richter (dikastes) und Gesetzeswächter (krites), aber auch für jeden Bürger, der sich die Gesetze seiner Stadt, nachdem er sie geprüft hat, zueigen machen soll. Dies führt auf Platons Erörterung der Schrift im ,Phaidros' zurück, die, im einzelnen betrachtet, sehr viel nuancierter ist als es die Rede von der ,Schriftkritik' nahe legt. Platon deutet ausgehend von dem alt-ägyptischen Mythos von Theuth an, dass die Schriftzeichen (,grammata') lediglich als Gedächtnisstütze (,hypornnematon') für denjenigen dienen, der aus Einsicht zum Wissen gekommen ist. Die Schrift begünstige aber auch das Vergessen (vgl. 274e und 275a), denn, was einmal niedergeschrieben ist, muss nicht mehr erinnert werden. Gadamer brachte dabei die sophistische Auffassung vor Augen, wonach Schrift notwendigerweise ein Organon der Erinnerung sei. "Dieses schlimme hat doch die Schrift, Phaidros, und ist darin ganz eigentlich der Malerei ähnlich; denn auch diese stellt ihre Ausgeburten hin als lebend, wenn man sie aber etwas fragt, so schweigen sie gar ehrwürdig still. Ebenso auch die Schriften. Du könntest glauben sie sprächen als verstünden sie etwas, fragst du sie aber lernbegierig über das Gesagte, so enthalten sie doch nur ein und dasselbe stets" (275d3 ff.). Schrift ist zwar ,Mimesis' der Rede. Doch eine Mimesis, die sich von ihrem Urbild zumindest in einem Zug fundamental unterscheidet: im Unterschied zum Urbild ist sie nicht befragbar. 31 Von diesen Einsichten her hat Gadamer darauf hingewiesen, dass die Sprache in der Schrift von ihrem Vollzug in Rede und Gegenrede abgelöst werde. Darauf beruht der Grundzug der Schriftform, wonach "alles Überlieferte für jede Gegenwart gleichzeitig" wird. Schrift ist, so können Gadamers Explikationen verdeutlichen, das Medium des Gesetzes, weil sie nicht Überrest ist, sondern Überlieferung. Gadamer hat dies in einer Distinktion Wie land, Platon und die Fonnen des Wissens, a. a. 0., S. 33 ff. Dazu D. Thiel, Platons Hypomnemata. Die Genese des Platonismus aus dem Gedächtnis der Schrift. Freiburg, München 1993, S. 51 ff. und S. 84 ff. 30

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festgehalten, die sich offensichtlich gegen den Schleiermacher-Schüler Dilthey wendet: "Ein Text will nicht als Lebensausdruck verstanden werden, sondern in dem, was er sagt".32 Folgt man Gadamer weiter, so ist die Schrift einerseits als Selbstentfremdung der Sprache zu begreifen und andererseits als ihre Idealgestalt. Im Platonischen Dialogwerk und dem wechselseitigen Verweisungszusammenhang der Dialoge kommt dieses Spannungsverhältnis zum Austrag: "Gewiss scheint Schriftlichkeit gegenüber der Sprachlichkeit ein sekundäres Phänomen. Die Zeichensprache der Schrift bezieht sich ja auf die eigentliche Sprache der Rede zurück. Dass aber Sprache schriftfähig ist, das ist für das Wesen der Sprache durchaus nicht sekundär. Vielmehr beruht diese Schriftfähigkeit darauf, dass das Sprechen selber an der reinen Idealität des Sinnes Anteil hat, der sich in ihm mitteilt. In der Schriftlichkeit ist dieser Sinn des Gesprochenen rein für sich da, völlig abgelöst von allen emotionalen Momenten des Ausdrucks und der Kundgabe,,?3 Die Zurückverwandlung eines Textes in gesprochene Sprache stellt deshalb, wie Gadamer betont, zugleich ein Verhältnis "zum Gemeinten, zu der Sache" her, von der die Rede ist. 34 In diesen Zügen seiner Platon-Interpretation bezieht sich Gadamer in indirekter Zwiesprache auf Schleiermacher. Anders als in ,Wahrheit und Methode', wo Schleiermacher im wesentlichen als Exponent einer psychologischen Hermeneutik gedeutet wird, verweist Gadamer in einigen späteren Arbeiten darauf, dass das Problem der Sprache schon bei Schleiermacher von zentraler Bedeutung gewesen sei. 35 Dabei spielt ein Aphorismus Schleiermachers eine erschließende Rolle: "Alles vorauszusetzende in der Hermeneutik ist nur Sprache und alles zu findende, wohin auch die anderen objektiven und subjektiven Voraussetzungen gehören, muss aus der Sprache gefunden werden".36 Gadamer verbindet dies mit der Einsicht, dass es dem ,Platoniker Schleiermacher' darum gegangen sei, die natürliche Ordnung der platonischen Dialoge aufzufinden. Seine Freilegung des Dialog-Gefüges gehe nicht von einer vorherigen systematischen oder pädagogischen Konzeption aus, sie bilde sich selbst an der "entschlossene(n) Aneignung sachlich zentraler Motive" aus?7 An Schleiermachers Bestimmung des Grundverhältnisses von Schrift und mündlicher Rede hebt Gadamer hervor, dass "die Schriftlichkeit einen echGadamer, Gesammelte Werke Band 1. Henneneutik. Tübingen 1986, S. 396. Ibid., S. 396. 34 Ibid., S. 394. 3S Vgl. dazu Gadamer, Das Problem der Sprache bei Schleiennacher (1968), in: ders., Neuere Philosophie Band 2, G. W. 4, S. 361 ff. 36 Schleiermacher, Henneneutik. Nach den Handschriften neu herausgegeben und eingeleitet von Heinz Kimmerle. Heidelberg 1959 (Phil.-hist. Klasse, Jg. 1959, Abhandlung 2), S. 38, zitiert bei Gadamer, Das Problem der Sprache, a. a. 0., S. 361 f. 37 Gadamer, Schleiennacher als Platoniker (1969), in: ders., Gesammelte Werke Band IV, S. 379. 32

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ten henneneutischen Zeugniswert" bekomme. 38 Denn sie ist aufgezeichnete Rede und Rekonstruktion mündlichen Gesprächs. Der ursprüngliche Sprechton kann allerdings, so habe Schleiennaeher gezeigt, in der Schrift nicht nachgeahmt werden. "Vielmehr ist es in der Schrift selbst festgelegt, in ihren Stilmitteln, wie ein Text gelesen wird. Da gibt es eine ,richtige' Betonung, von der wir auch sagen, dass sie nur der treffen kann, der das, was er vorliest, zugleich versteht". 39 Mithin präfiguriert das Verhältnis von Schrift und mündlicher Rede die beiden Seiten, die nach Schleiennaeher Sprachverstehen und Sprachproduktion, den "Sprachkurs, den jeder sich selbst bildet" (Schleiennacher, Dialektik, SW III/4, 2, S. 584), fonnen: sich ereignende Individualität in einem Gespräch und ,Identität' als Einfügung in einen vorgegebenen Ordnungszusammenhang. Wie Gadamers spätere Bezugnahmen auf Schleiennaeher nach ,Wahrheit und Methode' im Zeichen der Erörterung des Platonischen Dialogwerks zeigen, geht es in der Verschriftlichung um eine ,gegenwärtige Teilhabe am Gesagten,.40 Gadamer hat ausdrücklich zugestanden, dass es eine Kunst des Schreibens gebe, die dem Denken zu Hilfe kommt; eine Einsicht, die für das Verständnis der schriftlich verfassten philosophischen Gesetzgebung unabdingbar ist. Den Hinweis auf die Schwäche der Schrift im ,Phaidros' begreift er deshalb als, Verhüllung' des Wesens der Platonischen Schreibkunst. Gadamer meint, dass es so wie es in den Reden eine Kunst des Scheins und eine Kunst des wahren Denkens gibt, nämlich Sophistik und Dialektik, "offenbar auch eine gedoppelte Kunst des Schreibens (gebe), so dass die eine dem einen und die andere dem anderen Denken dient".41 Allerdings bestehe zwischen beiden eine grundsätzliche Differenz: Das gesprochene Wort legt sich durch Ton und Tempo selbst aus, während die Ausdeutung von Texten auf die Entzifferung der Schriftzeichen verwiesen bleibt. Als Prüfstein für die ,Kunst des Schreibens', auf die das Problem des Verstehens zurück zu beziehen ist, begreift es Gadamer, dass so geschrieben werde, dass der Lesende "zum Mitdenken des Gedachten geführt wird".42 Diese Kunst habe "mit den üblichen rhetorischen oder ästhetischen Kunstmitteln wenig zu tun".43 Implizit ist damit auch eine Aussage über die Grundstruktur von Gesetzen getroffen. Gesetze sind, wie zu zeigen war, auf die Verschriftlichung angewiesen. Die Gesetzesanwendung im weitesten Sinn, die nicht nur die Rechtsprechung, sondern auch die Aneignung eines Gesetzes und die Ver38 39 40

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Ibid., S. 370. Ibid. Gadamer, Gesammelte Werke Band 1, S. 395. Ibid., S. 395. Ibid., S. 397. Ibid., S. 397.

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ständigung über seine Anwendbarkeit auf einen gegebenen Einzelfall betrifft, setzt aber eine unmittelbare Bezugnahme auf den Aussagesinn voraus. Wie sich den ,Nomoi' ablesen lässt (vgl. Vierter Teil),44 ist die Gesetzgebung von Platon als ein Gesprächsverhältnis angelegt, ein ernstes Spiel, das im kodifizierten Gesetz nicht mehr erkennbar ist. Damit ist eine weitere These möglich: an den Gesetzen zeigt sich in nuce die Doppelnatur des Platonischen Dialoges. Dieser bildet ein tatsächlich in Rede und Gegenrede geführtes Gespräch ab. Die Fragmentierung, die auf die Ergänzung angewiesen ist, zeigt also an, dass der schriftlich niedergelegte Dialog in innerer oder äußerer Zwiesprache zu ergänzen bleibt. Dass Platon gerade in den ,Nomoi' den statutarischen Gesetzesbestimmungen den einsichtig machenden Vorspruch (Prooimion) voranstellt, ist eine Folge aus der den Gesetzen eigentümlichen Spannung. Wenn die Gesetze Schriftwerke sind, so sollen sie nicht Drohungen sein, die "im Tone des Gewaltherrschers und Gebieters" an die Wände geschrieben werden; sie sollen vielmehr "wie ein Vater oder eine Mutter" auftreten (859a3 f.).45 Der Zusammenhang zwischen dem ,Phaidros' und den späten ,Nomoi' ist nicht zufällig. Schon im Blick auf die Rahmenhandlung zeigt sich, dass beide Dialoge auch in szenischer Hinsicht aufeinander bezogen sind. Sie spielen sich beide außerhalb der Polis ab; was in beiden Fällen den Zweck haben könnte, die Konditionen des guten Gesetzes für die Stadt aus dem Abstand klarer zu bestimmen. Um den skizzierten Sachproblemen Rechnung tragen zu können, ist die ,Schriftkritik' im ,Phaidros' auf den ersten Teil des Dialogs zurückzubeziehen. Phaidros hatte dort die Eros-Rede von Lysias verlesen. Die ,göttliche' Wirkung teilte sich, wie Sokrates bemerkt (234dl f.), durch Gestik, Mimik und Stimm-Melos des Vorlesers mit. Darin bekundet sich aber zugleich die erotische Zuneigung des Phaidros zu dem Verfasser Lysias. Der schriftlich fixierte Wortlaut der Dichtung bleibt hingegen hinter dem Vortrag zurück, weshalb er als ,starrer Logos' gekennzeichnet wird (vgl. 234d3 ff.). In seinen bei den eigenen Eros-Reden löst sich Sokrates dann schrittweise von den Vorgaben der Schrift. Die erste ErosRede bezeichnet er noch als einen von Sappho und Anakreon entliehenen 44 Gadamer, ibid., S. 398. Das Sonderproblem des ,agraphos nomos' in der griechischen Rechtsordnung wird dabei nicht thematisiert, dies ist durchaus im Sinn der Problemexplikationen im ,Politikos'. Vgl. vorliegende Arbeit Dritter Teil, XI. Kapitel. 45 Wie M. Vegetti gezeigt hat, weist Platon in den ,Nomoi' auf die Unverzichtbarkeit der Schrift in der Gesetzgebung hin. Unersetzlich ist die Schrift bei Abstimmungsverfahren (Nomoi 753c und 856a); auch im Zusammenhang des Schuldrechts können "auf Tafeln von Zypressenholz geschriebene Erinnerungen für die zukünftige Zeit" (kyparittinas mnemas) (741c) von großem Nutzen sein. Vgl. M. Vegetti, Dans l'ombre de Thöt. Dynamique de l'ecriture chez Platon, in: M. Detienne (Hg.), Les savoirs de l'ecriture en Grece ancienne. Lille 1988, S. 387 ff.

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Logos. Er fügt aber hinzu, dass die Vorbilder während des Redens in Vergessenheit geraten seien. Sobald Sokrates in eine gott-ähnliche Stimmung, einen ,enthousiasmos', versetzt wurde (vgl. 241e), weil ihm die Göttlichkeit des Eros vor Augen stand, ging das Gespräch über die Umgrenzungen der Schriftzeichen (grammata) hinaus. 46 Das mündliche sich-Unterreden (,dialegesthai ') kommt dem Geschriebenen zu Hilfe und transzendiert es zugleich, indem die Gedanken, die in die Schriftzeichen gebannt sind, sich in der Wechselrede erneuern und die Schrift relativieren. 47 Wer seine eigenen Schriften in Rede und Gespräch weiter zu erläutern weiss, wird also "redend selbst sein Geschriebenes nur als etwas schlechtes darstellen" können (278c4). Er wird es als Spiel begreifen, das nur Vorläufiges hervorbringt. Das Verhältnis von rechenschaftsfähiger mündlicher Mitteilung und nicht-rechenschaftsfähiger Schrift kann nicht einfach auf die Relation zwischen ,geschriebenem' und ,ungeschriebenem' Recht abgebildet werden. 48 Im ,Politikos' wird vielmehr eine Kenntnis der ,könglichen techne', der wahren Staatskunst, vom kodifizierten Gesetz unterschieden, unter das auch die ungeschriebenen Gesetze (,agraphoi nomoi') fallen (vgl. dazu Dritter Teil, XI. Kapitel). Diese Konstellation, die nicht der Antithese von mündlicher Rede und Schrift verhaftet bleibt, berührt sich eng mit dem VII. Brief, wo festgehalten wird, dass schriftliche und mündliche Kodifizierungen ungeeignet sind, den aktualen Denk- oder Urteilsvollzug angemessen abzubilden. "Aus häufiger vertrauter Unterredung gerade über diesen Sachverhalt ('to rtQuYfLa) und aus innigem Zusammenleben (rtOAAfj~ OuvouoLa~) entspringt plötzlich jene Idee aus der Seele wie aus einem Feuerfunken das angezündete Licht (ou~fjv e~aLV'l1~, olov artO rtuQo~ rt'l1Ötloav'to~ e~aeev G:J~ [ ••• ]" (341c4--dl).49 Für die Gesetzesproblematik ist eine Unterscheidung besonders bedeutsam, die den skizzierten Verhältnisbestimmungen von mündlicher Rede und Schrift zugrunde liegt: Wörter, die in einem Gesprächszusammenhang ausgesprochen werden, haben, anders als Wörter im Zusammenhang der Zei46 Dazu Phaidros 276b mit dem grundlegenden Hinweis auf das ,Adonisgärtchen' der Schrift. 47 Vgl. zu diesem sachlichen Zusammenhang auch Hegels Unterscheidung zwischen Lautschrift und Zeichenschrift. Hegel, Enzyklopädie der Philosophischen Wissenschaften, § 459, Theorie-Werkausgabe, Band 10, S. 271 ff. 48 Siehe dazu im Dritten Teil der vorliegenden Untersuchung, Kapitel XI die Überlegungen zum ,Politikos'. 49 Vgl. G. Picht, Die Epiphanie der ewigen Gegenwart. Wahrheit, Sein und Erscheinung bei Parmenides, in: ders., Wahrheit, Vernunft, Verantwortung. Philosophische Studien. Stuttgart 1969, S. 36 ff. Siehe auch W. Jaeger, The Theology of the Greek Philosophers. 21948, K. Gaiser, Platons ungeschriebene Lehre. Studien zur systematischen und geschichtlichen Begründung der Wissenschaften in der Platonischen Schule. Stuttgart 1965, S. 293 ff.

I. Das methodische Feld: Gesetz und Dialog zwischen Schrift und Rede

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ehen schrift, nicht mehr mimetischen Charakter. Sie treffen oder verfehlen das Wesen des gemeinten Seienden unmittelbar; sie bilden es aber nicht nach. Platon zeigt dies im ,Kratylos' an einem augenfälligen terminologischen Sachverhalt: im ,Kratylos' ist vom "Wesen der Phone" die Rede (vgl. Krat. 423e3 f.). Wesenscharakter scheint aber im Zusammenhang der Platonischen Philosophie nur ein Eidos beanspruchen zu können, das nicht stofflichen Charakter hat. Offensichtlich ist das Hin- und Hersprechen in der dialogischen Erörterung nicht in diesem Sinn eidetisch; es hat aber die in der Zeit erklingende und wieder verstummende Stimme zum sinnlichen Substrat. Wenn der Stimme, wie im Zusammenhang der ,Kratylos'-Stelle Wesens (Ousia-) Charakter zugesprochen wird, so wird damit die stimmliche Verlautbarung als notwendiges Instrument der Sprache bezeichnet, durch das die Seele "kundgibt, was immer sie kundgibt" (Krat. 400b5-c3).5o Mit einem Parallelbeleg aus dem ,Sophistes' lässt sich dieser Hinweis auf das Wesen der Stimme weiter klären. Denn das dort benannte stimmlose Gespräch der Seele mit sich selbst über das, was sie untersucht (Soph. 263e5 f.), geht von einem elementaren Grundzug der stimmhaften Rede aus: diese ist immer zugleich Bejahung und Verneinung. Demzufolge beginnt eine jede Erörterung mit einer ausgesprochenen Meinung, die dann spezifisch bejaht oder verneint werden kann (Soph. 264al ff.).51 Dass sich Benennungen innerhalb einer Sprache verändern können und dass sie erst recht nicht zwischen verschiedenen Sprachen übereinstimmen, ist kein überzeugender Einwand gegen diese Auffassung. Auch dass "nicht jeder solche Gesetzgeber das Wort in dieselben Silben niederlegt [... ]", ist kein Gegengrund, da auch nicht jeder Schmied, der zu demselben Zweck dasselbe Werkzeug macht, "dasselbe Bild in dasselbe Eisen hinein" legt (Krat. 389d6-e3). Es muss lediglich in jedem Fall dieselbe Grundgestalt (idea) wiedergegeben werden (vgl. 389e43). - Es ist, unabhängig von dem vorläufigen Ort dieser Überlegungen in der Argumentation und von der mythischen Figur des Gesetzgebers von grundsätzlichem sachlichem Interesse, dass die Sprache gleichermaßen auf das Gesetz und die Idee bezogen wird. Wie der Fortgang des Dialogs zeigt, ist die Sprache aufgrund dieses Bezugs zur Idee als das Organon des inneren Sich-Unterredens der Seele zu begreifen. 52 Einerseits scheint an der zitierten Stelle das aporetische Ergebnis des ,Kratylos' bereits vorweggenommen zu sein, wonach im Sinn der treffen50 Vgl. dazu die Nomotheten-Figur Kratylos 388d sowie A. Soulez, Grammaire philosophique chez Platon. Paris 1991. 51 A. Soulez, Das Wesen der phone. Die Relevanz eines phonetischen Symbolismus für eine Bedeutungslehre: ,Kraty1os', in: Tb. Kobusch und B. Mojsisch (Hgg.), Platon. Seine Dialoge in der Sicht neuer Forschungen. Darmstadt 1996, S. 131 ff. 52 Dazu H. Schmid, Kunst des Hörens. Weimar, Köln 1999, S. 111 ff.

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Einleitung

den Kennzeichnung Heyman Steinthais "nicht im ,onoma', sondern im ,logos' [... ] Wahrheit und oder Unwahrheit" liegt. 53 Die Richtigkeit des Wortes ist nicht in erster Linie auf ein Ding oder einen Sachverhalt, sondern auf Aussagen bezogen. Andrerseits gibt die analogische Rede vom ,Sprachgesetzgeber' einen Blick auf die Struktur des Gesetzes frei: Wenn das Gesetz in Grundzügen dem Gesetzgebungsakt des Sprach-Nomotheten gleicht, ist es aus einer Urstiftung hervorgegangen und hat nicht den Charakter einer Nachbildung. Es ist zwar zu erwarten, dass es verschiedene Gesetze gibt. Sie sind aber mit Recht ,unter einem Namen' zusammenzufassen, wenn sie nur die gleiche Ideal-Gestalt nachbilden. In den ,Nomoi' folgt die Erörterung des ,göttlichen' und ,menschlichen' Ursprungs der Gesetze derselben Grundstruktur. Die Sprache weist auf das ursprüngliche Phänomen der Aussage im Zwiegespräch zurück, das Gesetz aber auf die innere Handlung des in Fragen der Tugend Kundigen. (vgl. auch Theätet 18ge). Im Zusammenhang mit diesen Überlegungen entfaltet der ,Kratylos'-Dialog eine exponierte Bestimmung der Gerechtigkeit, wonach ,das Gerechte' mit dem fließenden ,Nous' gleichgesetzt wird. Dabei wird das Begriffswort für Gerechtigkeit (dikaiosyne) vom Begriffssinn des ,dikaion' unterschieden, dem ,logos tes ousias' aller Fälle von Gerechtigkeit (Krat. 412c4 ff.). Während über den Begriff der Gerechtigkeit leicht eine Verständigung zu erzielen ist, ist "das Gerechte selbst" schwer (412c5 f.). Was das Eidos von ,gerecht' (dikaion) bedeutet, eben darüber gehen die Auffassungen auseinander. Übereinstimmend wird aber der Grundzug festgehalten, dass das Gerechte "durch alles andere hindurchgeht" und die Aufsicht führt (412d3 ff.). Leitfaden ist eine etymologische Worterläuterung, die ,gerecht' (dikaion) als (,Ta aAAa J'taVTa ÖLaLOV') erklärt. "Nur des Wohlklangs wegen" sei die Kontraktion zu ,dikaion' vorgenommen worden. Obwohl auch sie im Erörterungszusammenhang des ,Kratylos' eine nur vorläufige Bedeutung hat, entwirft die etymologische Lesart eine Typik von Recht und Gesetz, die in ,Politeia' und ,Nomoi' mit dem anderen methodischen Instrumentarium der Sachbefragung weitergeführt wird. Der Angelpunkt dieses Problemzusammenhangs besteht darin, dass Sokrates in dilwion den Stamm von ,aitfa' (Ursache) vermutet (vgl. die Wendung ,ÖLXaLOV xaL TO aLTLOv') (413a3 ff.). Das Gerechte wird in den verschiedenen Erklärungen, die Sokrates berührt, mit den Bestimmungen der ersten Aitia nach dem Maßstab einzelner 53 H. Steinthai, Geschichte der Sprachwissenschaft bei den Griechen und Römern mit besonderer Rücksicht auf die Logik. Band 1. Nachdruck. Hildesheim 1961, S. 112. Dazu auch W. Wie land, Die aristotelische Physik. Göttingen 21992, S. 192 ff.

I. Das methodische Feld: Gesetz und Dialog zwischen Schrift und Rede

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Elemente in der Art der ionischen Naturphilosophen gleichgesetzt. Jede dieser Bestimmungen erweist sich aber als ,lächerlich', wenn sich das Gespräch dem nächsten Partner zuwendet. Lediglich der Grundzug des Hindurchgehens (diaion) hält den Überprüfungen stand; und er wird mit Sinnbildern des Lichtes umschrieben. Nach Sokrates' Doxographie behaupten die einen, das Gerechte sei die Sonne, denn sie gehe durch alles hindurch und zeichne ihm die Richtung vor, oder es sei das Feuer, und zum dritten: zwar nicht das Feuer selbst, doch die ihm zukommende Wärme (412b5c3). Daneben spielt das Moment der Herrschaft und Aufsicht in alle Gerechtigkeits-Aitiologien hinein. Aufgrund der Selbst-herrschaft ordnet das ,dikaion' das Seiende. Zugleich mit der Bestimmung, wonach die Gerechtigkeit durch alles Seiende ,hindurchgeht', wird auf einen weiteren Zug vorausverwiesen, der in der Behandlung von Recht und Gerechtigkeit bis hin zur ,Politeia' eine wesentliche Rolle spielen wird; nämlich darauf, dass sich der Wesensbegriff von Gerechtigkeit und Recht erst in Bewegungsverhältnissen, in der Anwendung und Strittigkeit des Rechts im Poliszusammenhang, einstellt. Ein Eidos von Bewegung zu kennen, setzt voraus, dass nach einem Maß für die verschiedenen, auseinanderlaufenden Bewegungen gefragt werden muss. Auch dies wird im ,Kratylos' mit unzureichenden etymologischen Methoden versucht: Die etymologische Bestimmung von Weisheit als ,des Wehenden Gewissheit' verweist darauf, dass, "wenn alle Dinge sich bewegen", nur einiges davon gut ist. Dieses heißt dann das ,Gute' (412c5). Damit kann vorläufig gezeigt werden, dass das Gerechte im Guten gründet. Der Maßstab für das im Gang der Zeit auf seine Stabilität hin zu prüfende Recht erschließt sich aus der Frage, ob es dem Guten entspricht. Platon legt das methodische Ungenügen durchaus offen: durch etymologische Vorgriffe kann der Grund des Rechts, die Idee des Guten, selbstverständlich nicht bestimmt werden. Auch das Gute bleibt vorläufig nur ein weiteres Sprachrätsel. Jene Ungeklärtheit geht im ,Kratylos' in das Bild ein, das vom ,Sprachgesetzgeber' gezeichnet wird. Er wird als mimetischer Künstler begriffen, über dessen Geschäfte der Dialektiker die Aufsicht führen soll (vgl. 390b2 ff.); und das obwohl gezeigt wurde, dass das einsichtige Gesetz nicht die Struktur einer Mimesis von Anderem hat. Der Dialektiker ,gebraucht' die Kunst des Sprachgesetzgebers sachgemäß, indem er Aussagen prüft und ist deshalb befähigt, über seine Festlegungen zu urteilen. 54 Die Abweichungen gegenüber späteren Sacherörterungen der Rechtlichkeit sind subtil, doch folgenreich. Denn im Unterschied zum ,Kratylos' sind sowohl im Sinn der philosophischen Gesetzgebung der ,Politeia' als auch der ,Nomoi' 54

Vgl. Platon, Politeia X, 597al ff.

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Einleitung

Gesetzgeber und Richter ein und derselbe Mann. Der Aufseher entspricht im griechischen Rechtssystem dem ,krites', also dem der Rechtsdinge Kundigen, der aber nicht an ein bestimmtes Amt gebunden ist, und von dem der bestallte Richter (dikastes) zu unterscheiden ist. Maßstab für die hypothetisch angenommene Sprach-Gesetzgebung ist die Beurteilung in dialektischen Aussagen Im Blick auf die herausragende Bedeutung, die an späterer Stelle (Politeia I) der techne-Analogie für die Bestimmung der Tugend zukommt, ist es von Interesse, dass das Verhältnis von Gesetzgebung und Rechtsprechung nach Maßstäben aus der Überprüfung eines Handwerks beurteilt wird, das sich an einem abgegrenzten Zweck (einem ,idion ergon') orientiert. Der ,Kratylos' greift zu klarerer Verdeutlichung sogar zu einem Parallelismus: "Des Zimmermanns Werk (tektonos ergon) also wäre ein Steuerruder zu machen unter Aufsicht des Steuermannes", des "Gesetzgebers aber, wie es scheint, auch Wörter, wobei er zum Aufseher hätte einen dialektischen Mann, wenn er die Wörter gut bilden soll" (390dl; d3 ff.).

11. Das Sachfeld: Das Gute in der Idee 1. Auf den verschiedenen Plateaus des Platonischen Dialogwerks von den Frühdiaolgen über die ,Politeia' bis zu den ,Nomoi' kann von der Beobachtung ausgegangen werden, dass die Genesis der Ideen auf die Rechtssphäre verweist. Umgekehrt lässt sich zeigen, dass auch der Anhodos des Philosophen zur Idee eines gesetzlichen Grundrisses bedarf (vgl. Dritter Teil dieser Arbeit). Damit ist der Punkt berührt, von dem aus sich das Verhältnis des Philosophen zu Stadt und Recht klärt, und an dem sich zeigen kann, wie sich die Angelegenheiten der Polis und des Rechts voneinander unterscheiden. Der innere Zusammenhang zwischen ,Phaidon', ,Kratylos' und ,Nomoi' führte auf das methodische Feld unseres Themas, die Stellung des Gesetzes zwischen Schriftform und mündlicher Auslegung. Das Sachfeld verweist auf den Zusammenhang zwischen dem ,Guten in der Idee' und dem Gesetz. Paul Natorp hat diese Problematik in seinem Platon-Buch prägnant freigelegt. Er geht davon aus, dass unter der Idee des Guten nicht "ein letztes logisches Prinzip, sondern das Prinzip des Logischen selbst und überhaupt',55 zu verstehen sei. Das Gesetz begründe allererst den Gegenstand, woraus zu schließen ist, dass es selbst übergegenständlich ist und über alle besonderen Gesetze hinausgeht. 56 Das Unbedingte (,anhypotheton'), als das die Idee des Guten in der ,Politeia' prädiziert wird, erläutert Natorp als 55 56

P. Natorp, Platons Ideenlehre. Neudruck Hamburg 1994, S. 194. Ibid., S. 195.

11. Das Sachfeld: Das Gute in der Idee

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"das unbedingt Gesetzliche ".57 Und jenes nicht-bedingte Gesetz geht über das Sein hinaus, da es in keiner Handlung und spezifischen Setzung erfüllt werden kann. "In jeder bestimmten, zumal empirisch bestimmten Setzung liegt eine Einschränkung; die Forderung des Gesetzes allein gilt uneingeschränkt.,,58 Der ,letzte Sinn des anhypotheton', des Hinausgehens der Idee des Guten über die Voraussetzungen, an denen sich alle Erkenntnisse sonst orientieren, besteht nach Natorp darin, dass ein Punkt erreicht wird, an dem das Denken auf die Voraussetzung, also das Gesetz selbst, trifft, aus der ein Vorgang ableitbar und damit verstehbar wird. 59 Der Rückgriff Platons auf die Vernunft selbst (,autos ho 16gos') charakterisiert das ,Gute in der Idee' also sowohl als "Gesetz des Denkens" wie auch als "Gesetz des Gesetzes".60 Dass vorzugsweise von der ,Idee des Guten' die Rede ist, versteht Natorp als Hinweis darauf, dass das "Gute als das Endziel, worauf alles, nicht bloß das menschliche Handeln, sondern das Werden und Vergehen, ja das Sein überhaupt zuletzt abzielt", als das ,Gesetz selbst' zu deuten ist, das über alles spezifisch gesetzlich Gebotene hinausliegt. Jenes Gesetz ist, wie ausdrücklich festgehalten wird, nicht nur "das Gesetzliche der Handlung", denn dieses ließe sich als ein Gesetz neben anderen Gesetzen verstehen. ,Autos ho logos', die Umschreibung des Guten in der Idee, das ist im Sinn Natorps die reine Setzung, die in Unbedingtheit und Apodiktizität gebietet, aber nicht auf einen bestimmten ,t1S 16gos' begrenzt ist. Dabei gibt Natorp seiner Rede von dem ,Gesetz selbst' einen präzisen Zusatz: sie soll in derselben Bedeutung gebraucht werden, in der der ,Anfang' einer Deduktion als Gesetz bezeichnet wird. 61 Später, in den ,Anmerkungen' zur zweiten Auflage seines Platon-Buches, hat Natorp gerade an diesem Punkt eine Modifizierung vorgenommen und darauf hingewiesen, dass die Idee des Guten als Gesetz nicht hinreichend bestimmt sei. Damit sei ihr Wesenszug nicht getroffen. Denn das Gute liege jenseits des Verfahrens der Setzung und auch "oberhalb des nous".62 Diese Selbst-Korrektur führt dazu, dass Natorp die Idee des Guten in der Sphäre ansiedelt, in der das Eine (HEN) des Neuplatonismus seinen Ort hat. Allerdings schlägt Natorp die Konjektur vor, dass die Idee des Guten mit dem ,arrheton' aus Platons VII. Brief gleichzusetzen sei. Dabei dient ihm nicht die propositionale Unaussagbarkeit als ,tertium comparationis', denn die Idee des Guten ist nicht schlechterdings unaussprechlich. Er beIbid., S. 196. Ibid. 59 Ibid., S. 195. 60 Ibid. 61 Ibid., S. 194. 62 Die Bemerkung wird hier zitiert nach R. Ferber, Platons Idee des Guten. St. Augustin 2 1989, S. 256. 57 58

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Einleitung

greift die Idee des Guten vielmehr als das "Ur- und Allkonkrete", als ,Wechseldurchdringung , zwischen dem "letzten Individualen (eben des ,Selbst')" und dem Universalen, dem ",All', welche nicht nur engstens aufeinander wie Zentrum und Peripherie bezogen, sondern ureins sind".63 Und Natorp fügt seiner ,Retractatio' einen metakritischen Anhang hinzu, aus dem deutlich wird, dass die Idee der Ideen der Logos selbst sei, der in engster Beziehung zur Seele selbst steht. Denn, so legt Natorp nun die psychagogische Umwendung und den Aufstieg der Seele aus, der Seele "kann niemand die Dynamis der Erkenntnis, so wenig wie dem Auge die Sehkraft, von außen her einsetzen"; es könne nur die "in ihr selbst liegende (Dynamis), zugleich mit der ganzen Psyche," so umgewendet werden, "dass sie sieht, was sie zuvor nur deshalb nicht sah, weil sie sich davon abgekehrt hatte: das Sein, und das Hellste des Seins, das Ur-Sein des Agathon" (518b-c). Die Selbstretraktationen Natorps verschärfen also die Problemuntersuchung. Sie nehmen aber nichts von der Analogie zwischen dem Guten in der Idee und dem Gesetz zurück. Die Revision dürfte dadurch bedingt sein, dass Natorp zunächst den Gesetzesbegriff noch rein logisch fasste. Der Urpunkt der Allkonkretion dagegen bezieht das Widerfahrnis der Seele, ihr Umgewendet-werden und Affiziert-sein durch den Logos mit ein. Denn erst aufgrund der ,inneren Handlung' kann das ,Gesetz selbst' in der nötigen Sinnklarheit eingesehen werden: "zurückzugehen zum noch Radikaleren; alle Voraussetzungen aufheben, um zu allen erst zu kommen; zurückzugehen bis zur Voraussetzung nicht bloß aller Voraussetzungen, sondern sogar des Voraussetzens selbst. ,,64 Im Anschluss an Natorp ist das Problem in der folgenden Weise weiter zu differenzieren: Zum einen ist das Gute mit Natorp als ,Bestand' zu deuten. In seinem sittlichen Grundsinn verweist es auf die Zweckeinheit als Einheit des Zieles (skopos) (vgl. Politeia 519c), in die das einzelne Gewollte einbezogen werden muss, wenn ihm Beständigkeit zukommen soll. Im Einheitssinn der Idee des Guten bleibt, nach Natorps Formulierung, das einzelne Viele dem Denken erhalten, "während andernfalls es nicht bestehen könnte, weil ihm der Zusammenhalt, die wechselseitig tragende Übereinstimmung mangeln würde.,,65 Dies hat auch umgekehrt Folgen für das Gesetz. Es gilt, "weil unter ihm das dadurch Gesetzte besteht".66 Zum anderen lässt sich zeigen, dass im Begriff der phronesis, "der Besinnung oder des praktischen Bewusstseins,,67, eine enge Korrelation auf die 63 64 65 66

Natorp, Platons Ideenlehre, a. a. 0., S. 468. Ibid., S. 172. Ibid. Ibid., S. 200.

11. Das Sachfeld: Das Gute in der Idee

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Idee des Guten angelegt ist. Mit Hinweis auf Pol. 517c (emphronos pnixein) hält Natorp fest, dass nur wer auf das Gute schaut, besonnen handelt. Besonnenheit und die ,innere Handlung', aus der sie resultiert, sind also als Orientierung an dem Musterbild des Guten in der Idee zu verstehen. Deshalb sind sie den anderen Tugenden übergeordnet. Denn sie zeigen zugleich die ,Verinnerlichung' des Guten im Gesetz. Gadamer hat an diesen Punkt angeschlossen und eine Modifizierung vorgetragen. Die ,Hypothesis des Eidos' sei nicht ,epistemisch' zu fixieren und auf ein ,Reich der Gesetze' zu beziehen. 68 Die ,Absonderung' der Idee des Guten indiziert, dass "das Einzelne, das an einem Eidos teilhat, in der Argumentation nur in dem, worin es teilhat, das heißt nur dem Sachgehalt des Eidos nach, ,zählt",.69 Denn die ,Idee des Guten' wird in jeder Behauptung, die sich auf das Wesen eines Seienden bezieht, vorgreifend in Anspruch genommen. Zugleich ist ihre ,Absonderung' nur "der erste Schritt auf dem Boden der Logoi [... ], auf dem man sich so einen ersten Halt verschafft. ,,70 Diese Abschattung des Zusammenhangs von Idee und Gesetz kann sich zu Recht auf die Kennzeichnung des Dialektikers in der ,Politeia' beziehen (vgl. 534b und c), wo festgehalten wird, dass die ,idea tou agathou' von allem anderen ,abzusondern' ist, dass aber ,das Gute' ,genauso' wie alles andere durchzunehmen sei, denn andernfalls werde man weder das eidetisch Gute, noch anderes Gutes seiner Wahrheit gemäß erkennen (Pol. 543c3). Wenn im ,Phaidon' von der ,Hypothesis des Eidos' gehandelt wird, das nicht in den Streit der Dialektik verwickelt werden dürfe (vgl. Phaidon 101el; Philebos 15e3), so bedeutet das im Sinn Gadamers, dass das Eidos nicht nach der Erfahrung bzw. dem Entstehenden und Vergehenden beurteilt werden kann. "Bevor nicht klar ist, was mit einer solchen Annahme jeweils gesagt ist und nicht gesagt ist, soll man sich auf keinen weiteren Schritt einlassen. ,,71 Gadamer hat, im Blick auf die Unterscheidung zwischen französischer und angelsächsischer Forschung einerseits und deutscher Platonexegese andrerseits, von diesen Erwägungen her darauf hingewiesen, dass die systematische Einheit des Platonischen Dialogwerks über die Dialektik hinausgehe. 72 Die französisch- und englischsprachige Platonforschung seit L. Robin zeige, wie von der indirekten Überlieferung der ungeschriebenen Lehre her das Dialogwerk "neu zu durchdenken" ist. 73 Die Hypothesis des ,anhy67

68 69

70 71

Ibid., S. 197. Gadamer, Plato im Dialog, Gesammelte Werke Band 7, S. 184. Ibid. Ibid., S. 185. Ibid.

3 Seuben

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potheton' verweist darauf, dass die Ideen nur im ,konkreten Vorliegen' da sind. Und die Absonderung der Idee des Guten erklärt sich daraus, dass "das, was alle guten Dinge gut macht, aus dem Rang eines Seienden" herausdrängt. 74 Deshalb ist die Idee des Guten: ,aut6 t6 agath6n': das Sein der Ideen überhaupt und nicht selbst eine Idee. Wenn die Absonderung der Idee des Guten lediglich dazu führt, einen ersten Halt auf dem Boden der Logoi zu finden, selbst aber nicht den Charakter einer propositionalen Erkenntnis hat, ist der Zusammenhang zwischen dem Platonischen Dialogwerk und dem grundsätzlichen Zusammenhang des Einen und Vielen, der dem Dialog und den Gesetzen nur in Andeutungen zu entnehmen ist, in seiner Bedeutung präziser zu fassen. In diesem Sinn macht sich Gadamer die folgende Bemerkung Findlays uneingeschränkt zu eigen: "And such a doctrine does not make eide depend on things or acts, which stand without of them: it reduces these so-called things and acts to dependent (if essential) modalities of eidetic Being,,?5 Dies führt, wie Gadamer richtig gesehen hat, auf den Begriffssinn der ,Dynamis des Guten', das, in Analogie zu jedem ,idion ergon', nicht ,für sich' ist, sondern in dem, was es bewirkt (e' i[> 'tE fon xai ö aJtEQya~E'tm) (Politeia 477c9-dl). Die Idee des Guten ermöglicht alles Seiende im Zusammenspiel von Einem und Vielem. Zeichenhafte Darstellung finden jene Erörterungen in der ,wahren Meßkunst', die im Sinn des ,Politikos' (284a9) nicht ein Mehr im Verhältnis zu einem Weniger misst, sondern ,Mehr' und ,Weniger', wie sie an sich sind (hos on). Auch bei Gadamer kommt aber der springende Punkt im Blick auf die Gesetzeslehre nicht zur Entfaltung: dass nämlich der Fußpunkt der überseienden Idee des Guten mit der Anwendung von Gesetzen verknüpft werden muss, da der sachgerechte Umgang mit einem Gesetz nicht durch das Gesetz selbst garantiert werden kann. In anderem Kontext hat Wolfgang Wieland das sachliche Grundproblem festgehalten: es könne ,,[ ... ] kein Gesetz geben, das gegenüber der Gefahr, missbraucht zu werden, mit Sicherheit immun wäre. Auch die beste gesetzliche Ordnung nützt wenig, wenn es an der Sachkompetenz derer mangelt, die die Aufgabe haben, mit den Normen dieser Ordnung umzugehen.,,76 72 Vgl. Gadamer, Rezension zu Findlay, Plato. The Written and Unwritten Doctrines (1977), in: Griechische Philosophie Band 11 (Ges. Werke Band 6), S. 307 ff., siehe auch ders., Platons ungeschriebene Dialektik (1968), in: ibid., S. 129 ff. 73 Gadamer, Rezension zu Findlay, S. 308. 74 Gadamer, Gesammelte Werke Band 7, S. 198. 75 Findlay, Plato. The Written and Unwritten Doctrines, S. 353, Gadamer, Gesammelte Werke Band 6, S. 311. 76 W. Wieland, Die Erfahrung des Urteils. Warum Kant keine Ästhetik begründet hat, in: DVJS 64 (1990), S. 604 ff.

III. Das Wortfeld: Vieldeutigkeit des Gesetzes

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Dass die englischsprachige Forschung eher zu einer gerechten Beurteilung von Platons Spätdialog ,Nomoi' und damit der Gesetzesproblematik prädisponiert war, dürfte mit der von Gadamer konstatierten Tendenz zu tun haben, dass der Platonismus hinter den Dialogen "als eine durchführbare und legitime philosophische WeItsicht", etwa im Sinn Findlays, namhaft gemacht wurde. Paul Shorey sprach bezeichnenderweise bereits 1914 davon, dass die ,Nomoi' ,,(the) fullest and most explicit enunciation of Plato's teaching" seien. 77 Und er verwies ebenfalls zu Recht darauf, dass die Missachtung der ,Nomoi' ein modemes, neuzeitliches Phänomen sei. Cairns hat, in Abwandlung eines bekannten Ausspruches von Whitehead bemerkt, "that western jurisprudence has consisted of aseries of footnotes to Plato,,?8 Die Geringachtung der ,Nomoi' und damit des Sachproblems der Gesetzgebung, die dafür verantwortlich sein dürfte, dass dem Zusammenhang von Gesetz und Idee des Guten systematisch nicht nachgegangen wurde, ist vergleichsweise späten Datums und geht nicht auf Schleiermacher zurück, der, wie aus seinem Briefwechsel mit Boeckh hervorgeht, noch 1809 die Absicht hatte, die ,Nomoi' zu übersetzen. Wirkungsmächtig waren in dieser Frage vor allem Ast und Zeller mit seinen Bemerkungen zu den ,Gesetzen'?9

111. Das Wortfeld: Vieldeutigkeit des Gesetzes 1. Ehe wir uns aber im einzelnen dem Ort des Gesetzesproblems in der europäischen Forschung zuwenden, ist es an der Zeit, auf die Mehrdeutigkeiten in der griechischen Rede vom ,Gesetz' hinzuweisen, an die Platons Gesetzeslehre anknüpfen konnte und aufgrund deren sie mit dazu prädisponiert gewesen sein dürfte, den Einheitssinn von Gesetz und Idee in der ,inneren Handlung' der Seele, dem Vollzug der Besonnenheit, zu finden. Die Differenzierungen im griechischen Gesetzesbegriff, die Platon vorfand, werden im Folgenden auf die Begriffsstruktur hin transparent gemacht, nicht begriffsgeschichtlich befragt. Für die Frühgeschichte des Gesetzesbegriffs ist es charakteristisch, dass das Wort ,nomos' das der Satzung zugrundeliegende Herkommen und zugleich das gesatzte Gesetz bezeichnen kann (vgl. Erster Teil);8o während 77 P. Shorey, What Plato said. Chicago 1933, S. 355, vgl. auch ders., P1ato's ,Laws' and the Unity of Plato's Thought, in: Classical Philology 9 (1914), S. 353. 78 H. Caims, Legal Phi10sophy from Plato to Hegel. Baltimore 1949, S. 76. 79 Vgl. F. Ast, Platos Leben und Schriften. Leipzig 1816, S. 385 ff., und Zeller, Platonische Schriften. Tübingen 1839, S. 29. Die Rücknahme bei Zeller, Philosophie der Griechen 11,1. Leipzig 41889, S. 956 f. Dazu auch E. Sandvoss, Soteria. Philosophische Grundlagen der platonischen Gesetzgebung. Göttingen 1971, S. 11 ff. 80 Vgl. Artikel Gesetz, in: Hist. Wörterbuch der Philosophie, hgg. von 1. Ritter und K. Gründer. Band 4, Sp. 481 ff. (S. Krawietz); siehe auch ibid., Sp. 494 ff. 3*

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Einleitung

sich erst in der Römischen Republik die Bestimmung der Lex nach der Art ihres Zustandekommens richtet. Diese Umdeutung bekundet sich in einer bekannten Formulierung von Gaius: "Lex est, quod populus Romanus senatore magistratu interrogante, veluti consule, constituebat" (Inst. 1, 2, 4). Der griechische Gesetzesbegriff liegt zudem der Spaltung in einen ,rationalen' und einen ,politischen' Begriffssinn noch voraus, die in der römischen Rechtslehre bis zum 14. Jahrhundert, bei Marsilius von Padua und dem Cusaner, bestimmend sein wird. Das politische Gesetz reduziert sich in der neuzeitlichen Version dieser Deutung auf die Äußerung eines Souveräns, während das Vemunftgesetz die Souveränität durch Naturrechtsnormen einschränkt. Zu der Doppelsinnigkeit im Gesetzesbegriff zwischen ,zugrundeliegendem Herkommen' und ,Satzung' kommt schon bei Hesiod eine zweite Doppeldeutigkeit. Er verwendet ,Nomos' sowohl als Bezeichnung für menschliche Lebensart als auch für die ursprünglich von der Gottheit, Zeus zugeteilte Seinsordnung. Deshalb werden Gesetze nicht "auf ihre Gültigkeit" befragt, ihre Geltung schreibt sich aus ihrem Alter und ihrer Ursprungsnähe her: ,nomos archaios aristos' (Das alte Gesetz aber ist das beste); und es wird zu einem Verhaltensmerkmal der ihm jeweils Unterstellten (Theogonie 417, Erga 388). Die erstmals bei Pindar begegnende Wendung vom ,Nomos Basileus' (Fragment 169) ist durch Heraklits Begriff des göttlichen Gesetzes (theios nomos) vorbereitet (B 114), der einschließt, dass eine Satzung Gesetzescharakter nur aufgrund ihrer Teilhabe am göttlichen Gesetz hat. S ! Platon spielt wiederholt mit dem musikalischen Bedeutungssinn von ,nomos'. Damit ist die Möglichkeit für den Konnex zwischen der Rechtssphäre und einem Begriff gegeben, der zwar nie die Festgelegtheit eines ,terminus technicus' gewann, aber ein ,melodisches Modell' mit monodischem Grundcharakter bezeichnet, das im Vortrag variiert wird. Soweit die spärlichen Quellen einen Rückschluss zulassen, scheint es einen begrenzten Bestand von ,Nomoi'-Dichtungen gegeben zu haben, die in ihren Grundformen zwischen Homer und Terpandros entstanden sind. Der Nomos war dabei als mehrsätziger Gesang gegliedert, der eine gewisse Forrnfestigkeit aufwies und deshalb in den apollinischen Kultus gehörte. Trotz der festliegenden Grundgestalt ließ der ,nomos' verschiedene Variierungen zu; in diesem Sinn werden ,nomoi aulodikoi' von ,nomoi kitharodikol' unterschie(zum religiösen und theologischen Gesetzesbegriff, insbesondere in der Antike G. Plumpe), Sp. 514 ff. (Gesetz, ewiges, lex aeterna, G. Wieland) sowie Sp. 516 ff. moral. Gesetz (W. Bartuschat). 81 Vgl. Art. Gesetz (R. Grawert), in: Geschichtliche Grundbegriffe, hgg. von o. Brunner, W. Conze, R. Koselleck, Bd. 2, S. 864 ff. Siehe auch M. Gigante, NOMOS BASILEUS. Napoli 1956.

III. Das Wortfeld: Vieldeutigkeit des Gesetzes

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den. Für die Analogie zur Begriffsschöpfung in den Platonischen ,Nomoi' dürfte es besonders wichtig sein, dass der musikalische ,Nomos' durch ein ,Prooimion' vorbereitet wird; wobei für den übergreifenden Sinn des ,Nomos' kennzeichnend ist (vgl. Plut. De mus. c6), dass er das Prooimion in sich schließen kann. Für die Formtypik des ,Nomos' scheint außerdem die zyklische Grundform kennzeichnend gewesen zu sein. Dabei scheint der ,Nomos' auf die ,harmonia' (Oktavgattung) bezogen gewesen zu sein. Er konnte deren Wirkung paralysieren oder steigern. Plutarch, der eine wichtige Quelle für den ,Nomos polykephalos', die Vielstimmigkeit, ist (vgl. De mus. C 7. 10. 29. 33), spricht dem Nomos eine modifizierende Kraft für das Ethos zu. Dabei ist es für die griechische Melo-poetik entscheidend, dass ein Ethos nicht nur ausgedrückt, sondern im Hörer ,erregt' wird. Plutarch bemerkt etwa an einer aufschlussreichen Stelle, dass das Phrygische Ethos im ,Nomos Athenas', der älteren Enharmonik, eine deutliche Differenzierung erfahren habe, so dass es sich von der Wirkungsweise anderer Kompositionen deutlich unterschied. 82 Den Nomoi wird damit eine orientierende Kraft für die musikalische Kunst zugeschrieben, was keineswegs ausschließt, dass sich die Nomoi ihrerseits ändern. Riemann hat die Tendenz notiert, dass sie sich im 6. Jahrhundert zunehmend dem Dithyrambos annnähern. Dies mag mit jener Tendnez einhergehen,die Nietzsche in seiner Baseler Lyrik-Vorlesung so kennzeichnete, dass Apolllo "seinen Haß gegen den Aulos", jenes oboenartige Instrument, das den Dithyrambos steigerte, aufgegeben habe. 83 Nietzsche hat seine Explikation der spärlichen Zeugnisse zur griechischen Musenkunst ganz auf das Ethos bezogen, das er in dreifacher Hinsicht zu unterscheiden wusste: in das systaltische (unruhig bewegte) Ethos, das hesychastische (ruhig getragene) und das diastaltische Ethos, das den Affekt bis ins äußerste steigert. Der Dithyrambus, dessen Grundton Nietzsche als "behutsame Bezwingung der Natur,,84 begreift und den er, zusammen mit der elegischen Poesie, dem mittleren Ethos zurechnet, ist offensichtlich in Rückbindung an den musikalischen ,Nomos' zu erklären. Die apollinische Herkunft des Nomos-Begriffs wird am explizitesten in dem für den Aul6s entworfenen Nomos des Sarkadas aus Argos greifbar, einer musikalischen Fügung, die dem Sieg Apollons 82 Vgl. Art. NOMOS, in: R. E., Vol. XXXIII, Sp. 833 ff. (Henn. Kees.) und Sp. 840 ff. zu ,nomos' als musikalischem Begriff (Walther Vetter), mit Verweis auf die ältere Forschung v.a. A. Boeckh, De metro Pind., S. 239. 83 Nietzsehe, Die griechischen Lyrik, GOA XVIII, S. 320. Vgl. auch die Studie seines Lehrers F. Ritschl, Olympus der Aulet, in: Opuscula philologica, Band I, Leipzig 1866, S. 258 ff. 84 Nietzsehe, Einleitung in Sophocles, Oedipus Rex, GOA 17, S. 301, vgl. zu diesem Zusammenhang auch M. Riedei, Freilichtgedanken. Nietzsches dichterische Welterfahrung. Stuttgart 1998, S. 23 ff.

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in Delphi gewidmet ist. 85 Dagegen findet im 6. Jahrhundert ein, vielköpfiger Nomos' (polykephalos nomos) Erwähnung, der auf den Abschied von der strikt apollinischen Form hindeutet. 2. Die Rede von ,nomos' hat eine weitere Nebenbedeutung, die allerdings nur bei veränderter Akzentsetzung herauszuhören ist; ,nom6s' ist die griechische Bezeichnung für die ägyptischen Gaue. Die nom6s-Bezeichnung ist zwar eindeutig griechischen Ursprungs, doch weist bereits Diodor (I, 54) auf die Spur einer ägyptischen Urgenesis hin: die 36 Teile (mere) hätten die Ägypter ,nom6us' genannt (ha kalousin Aigyptoi nom6us).86 Der n6mos-Begriff kann, wenn dieser Anklang aufgenommen wird, einerseits als Hinweis auf den ägyptischen Kulturkreis verstanden werden. Damit sind zwar keine genealogischen Zusammenhänge freigelegt, es wird aber argumentativ eine Urgenesis des Begriffs aus der ,verwandten' Fremde angedeutet (vgl. Kritias-Dialog); und eine Rehabilitierung Ägyptens mag im Platonischen Corpus bei der veränderten Gewichtung der schriftlichen Überlieferung eine nicht unwesentliche Rolle spielen. Zugleich ist der Zusammenhang zwischen ,Gesetz' und wohl abgegrenztem Gebiet, zumindest im Wortanklang angedeutet, der vor allem in den ,Nomoi' eine bedeutsame systematische Rolle spielen wird (vgl. Vierter Teil). Zu den Nebenbedeutungen kommt von Anfang an eine Mehrsinnigkeit hinzu, die in die Grundbedeutung von ,Nomos' als Gesetz mit hineinspielt. ,Nomos' kann eine Verhaltensnorm, einen Brauch oder eine Sitte bezeichnen und ist mithin dem ,Ethos'-Begriff nahe benachbart. Indes ist schon in der frühgriechischen Begrifflichkeit impliziert, dass der Nomos sich gleichermaßen auf das Verhalten gegenüber den mitlebenden Menschen und gegenüber den Göttern bezieht (vgl. Hesiod, Theog. 417; Hes. Fr. 322). Zeus gab, Hesiod zufolge, den Menschen den ,Nomos', damit sie einander nicht gegenseitig auffressen, und das Recht (dike) anstelle der Gewalt (bie) gebrauchen sollten (vgl. Hesiod, Erga Verse 275-279). Die Verhältnisbestimmung von Nomos und Recht beruht also zunächst darauf, dass die Gesetzlichkeit als genuin menschliche Verhaltensweise der Gewaltsamkeit im Verhalten der Tierwelt entgegengesetzt wird. Ebenso früh zeichnet sich die 85 Vgl. Art. Nomos, in: Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, hgg. von H. Cancik und H. Schneider, Vol. 8. Sp. 982 ff. Siehe auch A. Dihle, Der Begriff des Nomos der griechischen Philosophie, in: O. Behrends, W. SeIlert (Hgg)., Nomos und Gesetz. Göttingen 1995, S. 117 f. 86 Vgl. Art. NOMOS, in: RE, Vol. XXXIII, Sp. 833 ff. (Herrn. Kees.). im Blick auf diesen Zusammenhang. Vgl. ferner F. Gschnitzer, Zur Terminologie von Gesetz und Recht im frühen Griechisch, in: G. Thür (Hg.), Symposion 1995. Tübingen 1997, S. 3 ff., K.-J. Hölkeskamp, Schiedsrichter, Gesetzgeber und Gesetzgebung im archaischen Griechenland. 1999, sowie R. Thomas, Written in Stone? Liberty, Equality, Orality and the Codification of Law, in: L. FoxhaIl und A. D. Lewis (Hgg.), Greek Law in its Political Setting. 1996, S. 9 ff.

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Verflechtung des ,Nomos'- mit dem ,Polis'-Begriff ab. Der wohl erste Beleg dafür findet sich bei Hesiod (Fr. 322): "Wie immer die polis opfert, der alte nomos ist der beste". Giambattista Vico, der Archäologe der antiken Gesetzesverhältnisse, hat die Urstiftung des griechischen ,Nomos' in der Strafe vermutet. Drakon müsse, so legt seine ,poetische Logik' der archaischen Zeit nahe, "eine der Schlangen der Gorgo gewesen sein, die an den Schild des Perseus geheftet war." Darin ist ein Wesenszug der Gesetze jedenfalls prägnant ,bezeichnet': der Schild versteinert diejenigen, die ihn ansehen. Denn das Gesetz hat exemplarischen und damit petrifizierenden Charakter, es ist bis in den Wortlaut hinein ,unabänderlich'. 87 Minerva - Athene, die die Gesetze auch einsichtig macht, ist mit dem drakontischen Schild gewappnet, wodurch erst die Einhaltung der Gesetze gesichert werden kann. 88 Bemerkenswert ist aber eine weitere Spur, die Vico legt: aus den Gesetzen, namentlich dem Gesetzgebungsakt sei bei den Griechen die Philosophie hervorgegangen. Sokrates habe "aufgrund der Beobachtung, dass die athenischen Bürger beim Erlassen von Gesetzen sich jeweils vereinigten, in einer übereinstimmenden Idee eines gleichmäßigen, unter alle verteilten, gemeinsamen Vorteils" begonnen, die intelligiblen Gattungen zu entwerfen. Das Gesetz ist damit für Vico der Anfangspunkt89 in der "Formung des philosophischen Heros, der mit Freude über die Leidenschaften gebietet" und noch auf den menschlichen Leib konditionierend wirkt. 9o Die Begriffsgeschichte des ,Nomos' qua Gesetz hat, wie im einzelnen an Hesiod zu zeigen sein wird (vgl. Erster Teil), eine spezifische Wendung genommen, als das göttliche Gesetz mit dem Logos als Weltprinzip gleichgesetzt wurde. Wenn nicht verschiedene Bedeutungen von ,logos' auseinandergehalten werden, scheint es unter dieser Vorgabe keine ,falschen' oder ,schlechten' Nomoi geben zu können. Dass der Nomos auf die AllVernunft des Kosmos verweist, dies ist aber kein spezifisch griechischer Gedanke. Es findet im ägyptischen ,maOat' seine Entsprechung. Das Weltall ist der Raum für die Handlungen der Rechtsgöttin (maOat), die der Welt "mit dem Lauf des Sonnengottes Ordnung und Rechtmäßigkeit verleiht".91 Dabei begegnen Formeln, die nicht nur, wie wiederholt vermerkt worden 87 G. Vico, Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker, übers. von V. Hösle und ehr. Jermann. Hamburg 1990, Teilband 2, S. 201. 88 Ibid. 89 Ibid., S. 566. 90 Ibid., S. 564 mit einem Hinweis auf die ,anfangliche Wahrheit' des Mythos von Rhadamanthys. 91 Vgl. zu den ägyptischen Quellen grundsätzlich: Art. Recht, in: Theologische Realenzyklopädie Band XXVIII. Berlin, New York 1997, S. 197 ff. zum Gesetzesbegriff im A. T. (E. Otto).

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ist, an das lateinische ,suum cuique tribuere' anklingen (vgl. Amen-em-ope 21, 17), sondern erst recht auf den die Spannweite von einer äußeren Handlung bis zum inneren Handeln der ,entos praxis' durchlaufenden Grundsatz des ,ta heautou prattein' verweisen (vgl. zu diesem Grundbegriff den Dritten Teil der vorliegenden Arbeit). Der ,Nomos'-Begriff wird aufgrund dieses systematischen Ortes von anderen verwandten Begriffen unterschieden: bereits bei Hesiod firmiert ,thesmos' als Bezeichnung für das nur gesatzte Recht. Mit der vergleichenden, erkundenden Erforschung der Gesetze verschiedener Völker bei Herodot geht indes die Relativität auch in die strukturelle Bedeutung des Nomos-Begriffs ein, ein Zusammenhang, der bei Demokrit kulminieren wird. Gesetze werden Konvention und ,doxa' zugeordnet; Demokrit spricht deshalb von ,nomos' und ,physis' im Sinn einer Antithese. Den willkürlichen Gesetzen werden die notwendigen der bis in ihre Grundstoffe hinein atomistisch verfassten Natur (ananke oder nomos physeos) entgegengestellt. Damit ist die Vorgestalt des Sophistischen Gesetzesbegriffs umrissen. 3. Platons eigenes Verständnis von Gesetz ist, diesen Vorgaben entsprechend, überaus vielschichtig. 92 Er changiert zwischen göttlicher Fügung, durch den Herrscher gesetzten oder gemeinschaftlich gefassten Beschlüssen, die die göttliche Ordnung in einzelnen Anordnungen für das menschliche Zusammenleben manifestieren. ,Nomos' kann auch die satzmäßige Kodifizierung bedeuten und schließlich die Tätigkeit der Vernunft selbst bezeichnen, die zwischen der ,abgesonderten' Idee des Guten und der Menschenwelt , vermittelt'. Grundlegend ist dabei aber die in , Kriton , und ,Apologie' ein Echo findende, von Xenophon notierte Auffassung des Sokrates, wonach das Gesetzmäßige mit dem Gerechten gleichgesetzt werden kann (Xenophon, Mem. 4, 4, 12). Nach Xenophons Zeugnis versteht Sokrates, im Sinn der Sophistik, unter einem Gesetz eine (verschriftete) kodifizierte Bestimmung, die sich nach realer Übereinkunft der Bürger bemisst und festlegt, was man tun und was lassen soll. Dass Gesetze mit der Gerechtigkeit gleichgesetzt werden, obgleich auch Sokrates ihre Wandelbarkeit erkennt, ist keinesfalls nur ein Hinweis auf die Deutungstendenz von Xenophon, wonach sich Sokrates nicht von der rechtlich gefassten Polissittlichkeit gelöst habe. Dies entspricht auch der Sorge um die Erhaltung (soteria) der Polis, ein Grundgedanke, der im Spätdialog ,Nomoi' immer deutlicher hervortreten wird. 93 92 Vgl. dazu S. Maser, Platons Begriff des Gesetzes, in: Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht und Völkerrecht, Neue Folge 4 (1951/52), S. 137 ff. 93 Vgl. Art. Recht, Gerechtigkeit, in: Brunner, Conze Koselleck (Hgg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Band 5, Stuttgart (1984), S. 237. Siehe auch A. Verdross, Abendländische Rechtsphilosophie. Ihre Grundlagen und Hauptprobleme in geschichtlicher Schau. Wien 1958.

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Auch in den Frühdialogen wird man diesen Grundzug schon ausgeführt finden: der Sokrates der ,Apologie' und des ,Kriton' kennt kein höheres Recht als das Vertragsrecht der eigenen Polis, das der Bürger prüfen und sich zu eigen machen muss, während jenes Vertragsrecht in der Platonischen ,Politeia' als wechselseitige Übereinkunft, einander kein Unrecht zu tun, begegnet. Sie wird Glaukons Erwägungen über die Entstehung der Gerechtigkeit eingegliedert, die angestellt wird, da Glaukon einfordert, dass die Gerechtigkeit an sich selbst, ohne Rücksicht auf ihren Anschein und die Folgen, ,gerühmt' wird. Und in diesem Argumentationszusammenhang wird die Vertragsordnung relativiert. Sie kommt zustande, weil die Menschen zu schwach sind, um unabhängig voneinander zu existieren (Politeia 363a). Das Recht wird also nur wegen seiner Folgen eingehalten. Der Maßstab der Rechtlichkeit ist deren Anwendung; auch dieser Zug zeigt sich bereits in den Frühdialogen. Nach der Prüfung der Gesetze, die dadurch besiegelt wird, dass der Bürger in seiner Polis bleibt, ist er nicht mehr befugt, die Gesetze grundsätzlich zu missbilligen. Der aneignende Gebrauch, den er von ihnen gemacht hat, hat sie definitiv sanktioniert, und dieser Gebrauch ist nicht durch schlechte Richter und deren Gesetzesausübung zu beeinflussen. Die falsche Anwendung wird aber im III. Buch im Blick auf die ausufernden Prozesse und Rechtsstreitigkeiten ausdrücklich mit der Schein-Gesetzlichkeit Athens in Zusammenhang gebracht (405a ff.). Sokrates' Gleichsetzung von Gesetz und Gerechtigkeit wirft ein rechtssystematisch gewichtiges Problem auf: dem Gesetz wird damit ein Gerechtigkeitsgehalt eingeräumt und zugleich abgefordert. Wenn der Rechtsbegriff hingegen mit der ,Gesamtheit der Gesetze' gleichgesetzt wird, so werden umgekehrt "die für das Gesetz gegebenen Bestimmungen zu Determinanten des Rechtsverständnisses" .94 Die verschiedenen in der Tradition des Nomos-Begriffs verbundenen Elemente, die in der Platonischen Gesetzes-und Rechtsproblematik eng ineinander verflochten sind, werden erst von Aristoteles ausdrücklich voneinander unterschieden und in eine Wechselbeziehung gebracht. Der Nomos wird damit vom Zweck der jeweiligen Staatsverfassungen (politeia) her bestimmt, der nach den jeweiligen Typen einer Staatsverfassung unterschieden wird. Er schreibt also in positiven Bestimmungen fest, wie auf dem Boden eines vorgegebenen Polis-Ethos je spezifisch das Telos der Glückseligkeit realisiert wird. Allerdings ist mit der Heraklitischen Gleichsetzung von Nomos und ,Logos' ein Ansatz für die Gleichsetzung von Nomos und Weltvernunft in der Stoa gegeben. Cicero spricht von der ,lex aeterna et perpetua', die sich durch die ,lex natura' und die ,lex humana' durchhält (Ci94

Maser, Platons Begriff des Gesetzes.

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cera, Leg. 1, 18) und mit dem Gesetz die Unwandelbarkeit und Unfehlbarkeit verbindet. In der rechtssystematischen Typik des griechischen Gesetzesbegriffs kommt ein weiterer geschichtlicher Umstand zum Tragen: Zwar treten, wie Viktor Ehrenberg gezeigt hat, auch im griechischen Überlieferungszusammenhang Gesetz und Kultus nie ganz auseinander. 95 Doch das Verhältnis zwischen göttlichen und geschichtlichen, kulturrelativen Entwicklungen wird spätestens mit den historischen Erkundungen des 5. Jahrhunderts fraglich; während z. B. in der altisraelischen Tradition der Zusammenhang dadurch offenkundig ist, dass der Name für Gesetz ,Tora' zunächst die priesterliche Weisung meint, bei Hosea (8, 12) die schriftlich niedergelegte Forderung Gottes an Israel, und dass Tora dann zum Inbegriff des positiven, gesatzten Rechts wird. Das jüdische Gesetz schließt anders als der griechische ,Nomos' seine Auslegungen in sich ein. Denn es ist als Konstante des Judentums selbst Entfaltung des Bundes. Platon selbst hat, sowohl in der ,Politeia' als auch in den ,Nomoi' Hinweise für das Verhältnis zwischen Politeia- und Nomos-Begriff gegeben: der ,Nomoi'-Dialog soll ,über die Verfassung und die Gesetze zumal' (:7tEQL "tE :7tOAL"tdw; [ ... ] 'Kai VO!lwv) (625a6 f.) handeln, dies impliziert eine enge Verhältnisbestimmung, aber gleichzeitig eine offenkundige Differenz, die sich an parallelen Verwendungen des Politeia-Begriffs exemplarisch verdeutlichen ließe. Die Politeia ist, so hält Isokrates einmal fest, die ,Seele der Stadt' (psychee poleos) (Is. Areopagiticos 14). Deshalb entwirft Platon, wie Georg Picht überzeugend dargelegt hat, in der ,Politeia' das modellhafte Paradeigma, das "die Kriterien für jede überhaupt mögliche Politeia tatsächlich enthält".96 Dies wird in den Bücher VIII und IX ex negativo verdeutlicht, da die verschiedenen Herrschaftsformen dort auf einer absteigenden Linie als Abwandlungen der einen Politeia zu verstehen sind. Diese bedarf der Konkretisierung durch verschiedene Gesetze, sie liegt aber ihrerseits paradeigmatisch dem Gesetzeswerk zugrunde. Auch Aristoteles weist auf jenen Sprachgebrauch hin, wenn er in der ,Politik' Gesetzgeber wie Drakon und Pittakos nennt, die nur Nomoi hervorgebracht, die ,Politeia' aber vorausgesetzt hätten, und sie von anderen unterscheidet, die, wie Lykurg und Solon, Gesetze und ,Politeias' eingesetzt hätten (Politik 1273b32 und 1274bI5-19). Eine konkrete ,Politeia' ist, auch darauf hat Picht das Augenmerk gelenkt, ohne Gesetze nicht denkbar. Die Idee der Polis gewinnt also in der gesetzgeberischen Spezifikation allererst Gestalt, und es ist die Kehrseite, dass die Politeia, die der Platonischen philosophischen 95 Vgl. dazu V. Ehrenberg, Die Rechtsidee im frühen Griechentum. Untersuchungen zur Geschichte der werdenden Polis. Leipzig 1921, 126 ff., siehe auch ders., Der Staat der Griechen Band 1. Nachdruck Darmstadt 1960. 96 Picht, Platons Dialoge ,Nomoi' und ,Symposion', S. 71.

IV. Der Ort des Gesetzesproblems in der Forschung

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Gesetzgebung zugrunde liegt, "keine andere politeia als jene (ist), die er in dem ,Politeia' benannten" Dialog dargelegt hat. 97

IV. Der Ort des Gesetzesproblems in der Forschung 1. Erik Wolf hat in seiner monumentalen Darstellung den großangelegten und in seiner Grundthese gültig bleibenden Versuch unternommen,98 die Rechtslehre als Vernunftordnung zu interpretieren. Dabei meinte er eine Entwicklungslinie konstatieren und zeigen zu können, dass Platon erst nach den sizilischen Abenteuern einen naturrechtlichen, im Zusammenhang des Kosmos entwickelten Gesetzesbegriff gefunden habe. Die Rechts- und Gesetzesiehre in ,Apologie' und , Kriton , wird dagegen als konservative Tendenz im antiken Poliszusammenhang interpretiert. Damit hängt es zusammen, dass das Verhältnis von Physis und Nomos den Charakter einer statischen Entgegensetzung gewinnt, was dadurch begünstigt wird, dass bei Wolf, wie vielfach in der älteren Forschung, nicht deutlich gemacht werden kann, wie die sophistischen Begriffsverkehrungen die eigenständige Begriffsbildung der Sokrates-Dialoge beeinflusst haben. Andrerseits gelangt Wolf zu keiner Klärung des Verhältnisses von Gerechtigkeit (dikaiosyne) und Gesetz. 99 Seine Grundtendenz ist es aber, Nomothesie als Zentrum platonischer Philosophie zu kennzeichnen; so dass sich die Vorstellung nahe legt, der Gerechtigkeitsbegriff hänge vom Gesetzgebungsbegriff ab. Diese Auffassung trifft, wie zu zeigen sein wird, durchaus einen Wesenszug der ,Politeia', aber sie wäre im Blick auf die Platonischen Begründungs- und Erörterungsstrukturen zu präzisieren. Einen eigenständigen Beitrag zum Gesetzesverständnis hat J. B. Jones 1974 beigesteuert, indem er zwischen , primary , und ,secondary rules' unterschieden und von hier her eine dezidiert nomothetische Linie in der ,Politeia' namhaft gemacht hat. Die ,secondary rules' findet Jones in der ,Politeia', während die ,Nomoi' ,primary rules', Handlungs- und Beurteilungsregeln, entwerfen, die jeweils auf bestimmte Situationen und Kontexte zu spezifizieren seien. 100 Die Arbeit von F. L. Lisi, einem der Tübinger Platon-Interpretation verpflichteten Gelehrten, markiert in der im engeren Sinn philologisch orienIbid. Vgl. E. Wolf, Griechisches Rechtsdenken. 6 Bdd. Frankfurt/Main 1950-1970. Zu Platon insbesondere die Bände IV, 1-2 und V, 1-2. 99 Vgl. dazu jetzt den argumentationsanalytischen Ansatz bei P. Stemmer, Platons Dialektik. Die frühen und mittleren Dialoge. Berlin, New York 1992, S. 4 ff. und S. 31 ff. 100 Vgl. F. B. Jones, Plato's Contributions to Legal Philosophy. Diss. Pennsylvania 1974, S. 5 ff. und S. 129. 97

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tierten Forschung eine deutliche Zäsur. Seine Grundauffassung ist es, dass Platons idealistischer Nomos-Begriff eine ontologische Ordnungsstruktur beschreibe; und das Gesetz als ,Maß und Grenze' (vgl. Phil. 26b) erfasse. 101 Der ,nomos' ist also Teil der v. a. von H. J. Krämer freigelegten Kosmos-Taxis-Struktur. 102 Die Idee des einen Nomos gibt das Maß für die in Relativität und Vielheit bestehenden einzelnen ,Nomoi' ab, die poietische Hervorbringungen innerhalb der werdenden und vergehenden Sinnenwelt sind. Unstrittig bleibt es das Verdienst Lisis, gezeigt zu haben, dass die Platonische Nomothetik einerseits einen ontologischen Ordnungsbegriff einführt und andrerseits ihren Ort im Zusammenhang der ,Politeia' hat. Erst im politischen Bereich kann die historische Verschiedenheit von Gesetzen zum Thema werden. Lisi hat zu zeigen versucht, dass im Platonischen Dialogwerk zwei ,Antidota' in einen Wechselbezug gebracht würden: sie verlaufen zwischen Nomos und Physis ebenso wie zwischen Gesetz und Paideia. Allerdings ist Lisi hier auf halbem Weg stehen geblieben. Die Zuordnung von Gesetz und Paideia weist der Paideia lediglich eine dienende Rolle zu: durch sie werde ,,[ ... ] der Nomos der Gemeinschaft auf das Individuum übertragen und wirk( e) von diesem wieder auf die Gemeinschaft zurück".I03 Vor dem Hintergrund unserer Fragestellung wird zu zeigen sein, dass die Paideia, die auf ein orientierungs sicheres Handlungswissen zielt, ihrerseits durch Gesetze eingeführt und stabilisiert wird. Und daran muss sich die Folgefrage anschließen, welcher Art eine dezidiert ,philosophische' Gesetzgebung zu sein hätte. Dies bleibt ausgehend von der Aussage in der ,Politeia', wonach eine gute Paideia zahlreiche gesetzliche Einzelvorschriften unnötig mache (425a8 ff.), als gordischer Knoten der Interpretation zu verstehen. Dass im Umkreis der Mailänder und Tübinger Platonforschung eine der-

art profilierte Monographie über die Gesetzesproblematik entstanden ist, ist

keineswegs selbstverständlich. K. Gaiser zieht die ,Nomoi' in seinen grundlegenden Überlegungen als Zeugnis für die esoterische ,Prinzipienlehre' heran, wobei sein Augenmerk primär der Gleichzeitigkeit von Aufstieg und Zerfall, und damit dem III. Buch der ,Nomoi' und dem Prinzip der Bewegung (Nomoi X) gilt. 104 Gaisers Rekonstruktionen konzentrieren sich also auf den Ort der in den ,Nomoi' freigelegten Grundkonstituentien des bewegten Seienden innerhalb der Tektonik der Prinzipien des Einen und der unbestimmten Zweiheit, nicht aber auf die spezifische Erörterungs- und 101

1985.

F. Lisi, Einheit und Vielheit des platonischen Nomosbegriffes. Frankfurt/Main

102 H. J. Krämer, Arete bei Platon und Aristoteles. Zum Wesen und zur Geschichte der platonischen Ontologie. Heidelberg 1959. 103 Lisi, Einheit und Vielheit, a.a.O., S. 121. 104 K. Gaiser, Platons ungeschriebene Lehre, a. a. 0., S. 173 ff.

IV. Der Ort des Gesetzesproblems in der Forschung

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Begründungsstruktur der ,Nomoi' selbst. Deren nach dem ,anfanglich Wahren' fragende ,archaiologische', sich in vergangene Zeiten versetzende Verfahrensweise fügt sich in den Aufriss der ,ungeschriebenen Lehre' nicht; was wohl der Grund dafür ist, dass auch der eigene Methodenweg der Gesetzgebung nicht in den Konnex philosophischer Argumentation integriert wird. H. J. Krämers 105 frühe Untersuchung über die Ordnungsstrukturen von ,Kosmos' und ,Taxis' wäre wohl eher als Gaisers Forschungen disponiert gewesen, die Rechts- und Gesetzesproblematik als grundlegendes tektonisches Problem Platonischen Philosophierens aufzunehmen. Dies zeigt sich vor allem an den Überlegungen zu ,Gorgias' und ,Politeia I'. Für Krämer ist Ordnung jedoch primär ein ontologisch-noetischer Zusammenhang, auf den sich Polisordnungen abbildlich beziehen. Der Dialogbewegung ist diese ,esoterische' Struktur aber nicht abzulesen: nicht in der ,Politeia' und erst recht nicht in den ,Nomoi'. Ihre genaue Rekonstruktion führt auf Grundfragen des Zusammenhangs von Gesetzgebung und dem ,Guten in der Idee'. Reales Überlegungen zu der systematischen Platon-Interpretation, die auf die Rückwirkung der esoterischen Lehre auf die Interpretation einzelner Dialoge besonderes Gewicht legen, lassen, schärfer als die Arbeiten von Krämer und Gaiser, den Ort erkennen, der dem Gesetzes-Problem zukommt. Reales Interesse gilt dem Übergang der ,Protologie' der Ungeschriebenen Lehre auf die seiende Wirklichkeit; wobei er eine besondere Nähe der ,vier großen Gattungen' im ,Philebos' und der Kosmogonie des ,Timaios' nachzuweisen versucht. Wenn die Grundstruktur des ,Timaios' auf die Herstellung einer Einheit in der Vielheit bezogen wird, so wäre der gesetzlich verfasste politische Kosmos seinerseits als Mimema des ,sterblichen Gottes' der Welt zu begreifen. Es ist offensichtlich, dass ein Interpretationsansatz, wie ihn Paul Friedländer in Konzentration auf die dichterische Gestaltung des Platonischen Dialogwerks vorgelegt hat, eine größere Sensibilität für die ,Nomoi' entwickeln konnte. Friedländer begreift die ,Nomoi' als Platons letzten Dialog, der mit ,Timaios' und ,Kritias' zum Platonischen Spätwerk zu rechnen ist; wobei er den nomothetisch mythologischen Erörterungsweg dieser drei Dialoge als Seitenstück zu der späten Dialektik (in ,Theätet', ,Parmenides', ,Phaidros', ,Sophistes' ,Politikos' und ,Philebos') begreift. 106 Allerdings legt er die Gesetzgebung primär von den statutarischen Einzelbestimmungen her aus; der inneren Form des Gesetzeswerkes, der Zwienatur von Prooimion und statutarischem Gesetz kommt insofern Bedeutung zu, als - wie 105 Vgl. das in FN 102 genannte Werk. Siehe auch L. Robin, La theorie platonicienne des idees et des nombres d'apres Aristote. Etude historique et critique. Paris 1908. 106 P. Friedländer, Platon Band 11, Die Platonischen Schriften. Berlin und Leipzig 1930.

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Friedländer bemerkt - "die starre Schrift [... ] zum Dialoge sublimiert" werde und der Sokrates in Platon noch einmal über den Solon ,siege'. 107 Offensichtlich also deutet Friedländer die dialogische Verflüssigung als Indiz dafür, dass die ,eine Idee' sich über das Gesetz erhebe. Von seiner formgeschichtlich orientierten Erörterung her kommt er also mit der prinzipientheoretischen Problematik überein, ohne seinerseits nach den spezifischen philosophischen Implikationen der Gesetzgebung ausdrücklich zu fragen. In der neueren französischen Forschung führte die intensivierte Erörterung des ,Tirnaios' im Zusammenhang seiner Rezeptionsgeschichte im Neuplatonismus (zu vergleichen sind vor allem die Arbeiten von Luc Brisson) zu einem anderen Ergebnis; indem die Bezüge zwischen ,Tirnaios' und ,Politeia' freigelegt wurden, wurde der Anfangspunkt einer Tradition des ,Politischen Platonismus' gewonnen,108 die mit der Ausbildung der neuzeitlichen Naturrechtslehren in engem Zusammenhang steht. Die ,Nomoi' kamen dabei nur am Rand zur Sprache. Doch ist von hier her zu erkennen, dass die Ausgangsfrage des ,Tirnaios' nach der Polis im Kampf und in den Wandlungen der Geschichte im dianoetischen Verfahren der ,Nomoi' aufgenommen wird. Zudem gab es bereits in den fünfziger Jahren eine eingehende französischsprachige Erforschung der ,Nomoi', die diese als eigenständige Politische Philosophie Platons begriff bzw. auf das Verfahren der ,Archäologie', als Teil der Platonischen Denkweise mit den ,Nomoi' im Zentrum, besonderes Augenmerk richtete. 109 Zu einer nennenswerten Rückbeziehung solcher Resultate auf die ,Politeia'-Interpretation ist es aber bislang nicht gekommen. Die namhafte italienische Platon-Forschung steht nach wie vor unter starkem Einfluss der Tübinger Platon-Exegese. Einige gewichtige Arbeiten haben sich aber in den letzten Jahren in einer sich von der Prinzipienlehre lösenden freien exegetischen Behandlung dem ,Politikos' zugewandt; wodurch das Gesetzesproblem vor dem Hintergrund des mimetischen Verhältnisses zwischen, wahrer Staatskunst' und dem Gesetz als seinem ,Mimema' auch selbständige Erörterung fand. Die Studien von G. Casertano haben Ibid., S. 681. Vgl. L. Brissons Arbeiten zum ,Timaios', die diesen im Zusammenhang politischer Philosophie verstehen lassen, vor allem L. Brisson und W. F. Meyerstein, Inventer I'Univers. Paris 1991, sowie den Sammelband A. Neschke-Hentschke (Hg.), Le Timee de Platon. Contributions a l'histoire de sa reception. Leuven 2000. Siehe auch dies., Platonisme politique et theorie du droit naturel. Louvain, Paris 1995. Dazu auch eine Reihe grundlegender Arbeiten von Klaus Held, v.a. K. Held, Die Entdeckung der Welt bei den Griechen als Ursprung Europas, in: K. Rosen (Hg.), Das Mittelmeer - die Wiege der europäischen Kultur. Bonn 1998. 109 Vgl. die beiden älteren Arbeiten von R. Weil, L' Archeologie de Platon. Paris 1959 und M. Vanhoutte, La philosophie politique de Platon dans les Lois. Louvain 1954. 107 108

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überdies das Verhältnis von Wort und Sache aus dem ,Kratylos'-Dialog,IlO das für den Platonischen Gesetzesbegriff von maßgeblicher Bedeutung ist, für die ,Politikos'-Interpretation fruchtbar zu machen versucht. Dabei wird das Mimesis-Verhältnis vor dem Hintergrund der Frage behandelt, wie eine letztgültige Definition der Staatskunst beschaffen sein müsste, um deren Wesen zu treffen. 111 In einer Reihe von älteren italienischen Arbeiten (exemplarisch sei auf eine Studie von U. Galli verwiesen)112 wird der Eindruck nahegelegt, dass die Platonische Philosophie insgesamt nomothetischen Charakter habe. Von dieser These, die nur mit deutlichen Überakzentuierungen durchzuhalten ist, hat sich die italienische Forschung in der Zwischenzeit weitgehend emanzipiert. Dass Galli den Nomos auch im Blick auf die FTÜhdialoge über die philosophische Einsicht stellt, ist nur deshalb möglich, weil er dem elenchtischen Aspekt des ,Kriton' nicht Rechnung trägt. Der spezifisch philosophische Grundzug des ,Kriton' wäre gerade aus der Verbindung zwischen Gesetzgebung und elenchtischer Befragung freizulegen. Zudem wird der Platonische Nomos-Begriff1l3 als kontinuierliche Fortsetzung der überlieferten Polis sittlichkeit begriffen, wodurch eine präzise Verhältnisbestimmung der Begrifflichkeit des Spätdialogs mit der ,Politeia' unterbleibt. Eine Klärung der Begriffsverhältnisse wird auch dadurch unterbunden, dass u. a. bei Galli die Behauptung begegnet, Platon gebrauche den Nomos-Begriff ohne eigene Reflexion, während bereits die zahlreichen Belegstellen für die Ableitung von ,nomos' aus ,nernein' und ,nous' einen anderen Befund nahelegen (Politikos 297a-b, Nomoi 674b, 714a, 862d u. v.m.). Vor der weiter oben exponierten Fragestellung ist auch der methodische Leitfaden in einem Teil der älteren Forschung grundsätzlich in Frage zu stellen, der zufolge nach der ,Entwicklung' der Platonischen ,Politischen Philosophie' zwischen ,Politeia' und ,Nomoi' zu fragen ist. Eine vielfach vertretene Auffassung besagt in ihrem Grundzug: Während in der ,Politeia' zunächst die Idee einer Polis entworfen worden sei, die keine Gesetze erfordere, sei in den ,Nomoi' die einsichtige Gesetzesherrschaft als Idealgestalt staatlichen Zusammenlebens skizziert worden. 114 Dieser Grundtendenz Vgl. G. Casertano, Dialettica e politica in Platone. Padova 1976. Grundlegend dazu M. Migliori, Arte politica. Commentario storico-filosofico al ,Politico' di Platone. Milano 1996. 112 U. Galli, Platone e il NOMOS. Turin 1937. 113 Mit derselben Tendenz auch H. J. Kahl, Inhalt und Wesen des platonischen Gesetzesbegriffes nach seinen geistesgeschichtlichen Voraussetzungen. Diss. Köln 1949 (Microfiche). 114 Vgl. stellvertretend für die Tendenz in der älteren Forschung E. Barker, The Political Thought of Plato and Aristotle. London 1906; ders., Greek Political Theory. Plato and his Predecessors. London 1918; W. Jaeger, Praise of Law. The origin of modem legal philosophies, in: ders., Scripta Minora Band 2. Rom 1960, 110

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stehen Überlegungen entgegen, die eher auf die Kontinuität zwischen ,Nomoi' und ,Politeia' zielen und Züge einer Nomothetik bereits in der ,Politeia' ausfindig zu machen versuchen. Im Zusammenhang der vorliegenden Arbeit sollen die genetischen Argumente bewusst in den Hintergrund treten. Denn in der Sache scheint das Gesetzesproblem bei Platon nicht mit dem Hinweis auf die Aufeinanderfolge zweier Entwürfe des Staates getroffen zu sein; wonach auf die Idealgestalt der ,Politeia' die Bestimmung der zweitbesten Politeia, der Nomokratie, folgen würde. 115 Ebenso wurde schon in den dreißiger Jahren versucht, den spezifischen gnoseologischen Status der philosophischen Gesetzgebung präziser zu bestimmen. Und bereits H. Perls hat den Ort der Gesetzgebung nicht wesentlich anders bestimmt als die Exponenten der späteren esoterischen Platondeutung und festgehalten, dass das Gesetz eine Mischung aus der Idee der Gerechtigkeit und der Materie der Politik sei. Daher hat es an den Irrtümern der Doxa Anteil. Zugleich verweist die Festschreibung von Gesetzen auf die Idee. Bemerkenswert ist deshalb Perls' Aussage, wonach die dialektische Kunst das Gesetz der Ideen-Polis sei. 116 Im Blick auf den Zusammenhang zwischen der Bestimmung der Gerechtigkeit als ,entos praxis' (Pol. 441c4 ff.), den Gesetzgebungsteilen in der ,Politeia', und der Exposition des Ideen-Wissens wird diese Gnoseologie zu überprüfen und weiter auszuschreiben sein. Denn immerhin ist es bemerkenswert, dass in der ,Politeia' die Bildung des Philosophen selbst als Gesetzesverhältnis behandelt wird. Strittig bleibt es auch, wie Platons Rechts- und Gesetzeslehre in die Begründungsformen des Naturrechts einzufügen ist. Für die in der Naturrechtstradition als klassisch geltende Definition des von Natur her Rechten bei Cicero (De officiis III, 22, 33) ist es charakteristisch, dass das unveränderliche Gesetz immer in der gleichen Weise anzuwenden sei. Die Anwendung ist aber für Platon gerade der Konvergenzpunkt, an dem Philosophie und Gesetz in ein Verhältnis zueinander zu bringen sind (vgl. weiter oben S. I f.). Der Versuch, die spätere Naturrechtstradition als Kriterium für die Platonische Fundierung des ,logos tes ousias' von Recht und Gerechtigkeit zu gebrauchen, ist auch aufgrund seines anachronistischen Charakters problematisch. Daher wird es tunlich sein, zunächst zu fragen, welche EigenS. 319 ff. B. Elfe, Das Gesetz als Problem der politischen Philosophie der Griechen: Sokrates-Platon-Aristoteles, in: Gymnasium 83 (1976), S. 302 ff. 115 Exemplarisch dafür wären die Arbeiten von Morrow zu nennen. Vgl. G. R. Morrow, Plato's Cretan City. An historical interpretation of the ,Laws'. Princeton 1960 und ders., Plato and the rule of law (1941), abgedruckt in: G. VIastos (Hg.). Plato. A Collection of Critical Essays. Vol 2. London 1971. S. 144 ff. Vgl. auch die Übersicht über die seinerzeitige Forschungslage bei Lisi. S. 13 ff. 116 H. Perls, Platon. Seine Auffassung vom Kosmos. München 1966, siehe auch M. lsnardi, Nomos e Basileia nell' Academia Antica, in: La Parola dei Passato 12 (1957), S. 401 ff.

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schaften in Platons argumentativem Rekurs auf das Wechselverhältnis von Natur und Gesetz es gewesen sind, die zu seiner Ausdeutung als Ursprungspunkt der Naturrechtstradition beigetragen haben. I 17 Das Naturrechtsproblem gewinnt vor diesem Hintergrund seinen originären Sinn im Blick auf Platon im Zusammenhang der Freilegung der Frage nach dem Verhältnis von Recht und Natur, also danach, ob die Gerechtigkeit ,kata physin' oder ,para physin' sei. 1l8 Nach Platon ist es kennzeichnend für die ,umwendende' (epistrophische) Wirkung des Ideenblicks, dass er den positiv geltenden Gesetzen eidetische Geltung gibt. Die Materie und der propositionale Gehalt der ,positiven' Gesetze bleiben dabei aber unverändert. Es ist natur- und sachgemäß, dass an der Genese politischer Ordnungsvorstellungen orientierte Ideenhistoriker wie Eric Voegelin sich dem Zusammenhang des Platonischen Dialogwerks vor einem Fragehorizont zuwandten, innerhalb dessen auch die ,Nomoi' vermehrt Berücksichtigung finden mussten. Voegelin versuchte, den Konnex zwischen ,Politeia' und ,Nomoi' ans Licht zu bringen, statt, wie in der älteren entwicklungsgeschichtlichen Forschung üblich, vorwiegend die Differenz zwischen beiden zu akzentuieren. 119 Dabei tragen seine Überlegungen insbesondere der göttlichen Urstiftung des Gesetzes Rechnung: So versteht er das ,ernste Spiel' (paidfa) der Gesetzgebung als eine Selbstkundgabe des Gottes im Gespräch, der es ,im Verborgenen' führe; und er unternimmt es, die ernste , paidfa , als legi117 Bezeichnenderweise wurde das Problem der Gesetzesanwendung bei Platon in der Forschung eher am Rand behandelt. Die einschlägigen Arbeiten stammen eher von Historikern und Rechtssoziologen als von Philosophen und klassischen Philologen: M. Michelakis, Platons Lehre von der Anwendung des Gesetzes und der Begriff der Billigkeit bei Aristoteles. München 1953, A. Menzel, Griechische Soziologie. Wien 1936 (= Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften in Wien, Philosophisch-historische Klasse, Nr. 216). 118 H. Kelsen, Platon und die Naturrechtslehre, in: Österreichische Zeitschrift für Öffentliches Recht, N.F. 8 (1957/58), S. 1 ff. und W. Nestle, Griechische Naturrechtstheorien nach Sokrates, in: ders., Griechische Weltanschauung in ihrer Bedeutung für die Gegenwart. Vorträge und Abhandlungen. Stuttgart 1946, S. 124 ff. haben bezweifelt, dass Platon überhaupt eine Vorgestalt der Naturrechtslehre vertrete. Dabei hat Kelsen auf einen Zug in der Bildlogik des Höhlengleichnisses verwiesen, wonach alles, was in der Höhle schattenhaft sichtbar wird, nach der Blickwendung im Licht der Sonne sich in seiner wahren Gestalt zeigt. Im Dialog werden an dieser Stelle ausdrücklich auch Gesetze und Rechtsstreitigkeiten genannt (vgl. Politeia 517d). 119 Vgl. dazu jetzt: E. Voegelin, Ordnung und Geschichte. Band 6: Platon, hgg. von P. J. Opitz und D. Herz. München 2002, siehe auch darin: D. Herz, Die Platonische Philosophie als Schöpferin politischer Ordnung. Die Platon-Interpretation von Eric Voegelin, ibid., S. 343 ff., vgl. ferner ehr. Horn, Kontinuität, Revision oder Weiterentwicklung? Das Verhältnis von ,Politeia', ,Politikos' und ,Nomoi' bei Eric Voegelin, in: E. Voegelin-Archiv, Occ. Papers Vol. XXIII.

4 Seubert

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time Fortsetzung der ,paideia' in Platons ,Politeia' auszulegen. Zugleich erscheint sie als Fortführung der Probleme, die Platon schon in den frühen Sokrates-Dialogen erörterte. Aufschlussreich ist die Freilegung der stringenten Gliederung des Spätdialogs, obgleich sie einen anachronistischen Formbegriff der modemen dramatischen und epischen Kunst von Wagner bis Thomas Mann auf das Platonische Dialogwerk überträgt. Der Spätdialog ist, Voegelin zufolge, gegenüber streng elenchtisch gebildeten Gesprächen nicht formlos, sondern ,leitmotivisch ' strukturiert. Mit Verweis auf den VII. Brief spricht sich Voegelin dagegen aus, den Zeitpunkt der Niederlegung eines Dialoges innerhalb der relativen Chronologie mit einer jeweiligen Entwicklungsstufe Platonischen Philosophierens gleichzusetzen. Voegelins Interesse am inneren Geflecht Platonischer Dialoge, das jene Skepsis gegenüber der Explikationskraft relativer Chronologie begründet, fokussiert sich auf die Symbolisierungen von Ordnung; ein Zug, an dem zugleich die Schwäche seiner Auslegung ans Licht tritt. Indem er die Sokratische Aufsuchung des Wesensbegriffs und die Platonischen Mythen gleichermaßen als Symbolisierungen versteht, verfehlt er die Formverhältnisse Platonischer Dialoge, die sich in der Duplizität zwischen menschlichem und göttlichem Gesetzesursprung spiegeln. Dass Polisrecht und -gesetz eine unhintergehbare Kondition der philosophischen Praxis und Lebensform sind, kann nicht offengelegt werden. Voegelin begreift die "Platonische Episteme" von der Politik als Maßstab, politische Ordnung nach deren Niedergang in den ,gnostischen' politischen Religionen des 20. Jahrhunderts wiederzugewinnen, das Para-deigma der Polis in der Seele fasst er, in Wiedererinnerung einer in der Neuzeit vergessenen grundlegenden Einsicht, als Voraussetzung auf, die unabdingbar sei, um die faktische Realität des Politischen zu erkennen: gleichwohl bleibt das Verhältnis zwischen äußerer und innerer Handlung, die Konfrontierung der Ordnungen von Philosophie und Polis bei Voegelin ungeklärt. Mit gutem Recht hält er fest, dass die Idee der guten Polis in der ,zweitbesten Verfassung' uneingeschränkt fortbestehe. Er sieht die Modifizierung gegenüber der Ideen-Polis in der ,Politeia' darin, dass Platon im Hinblick auf das dem philosophischen Gesetzgeber zur Verfügung stehende Gefäß, die Natur des Menschen, in dem Spätdialog die Idee von ihrer Verkörperung her denke. Jenen Unterschied macht Voegelin aber von der "Zahl der Personen" abhängig, die "wahrlich ,nomos empsychos' genannt werden können", eine Überlegung, die nicht überzeugen kann, zumal sie keinen Anhalt am Wortlaut der ,Nomoi' hat. 120 Ein jüngerer Versuch einer Geschichte des politischen Denkens 121 folgt, philologisch weniger angreifbar als Voegelin, dessen Versuch, den Spätdia120 121

Voegelin, Platon, S. 263.

H. Ottmann, Geschichte des politischen Denkens. Band I, 2. Die Griechen.

Von Platon bis zum Hellenismus. Stuttgart, Weimar 2001.

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log mit der ,Politeia' und den früheren und mittleren Sokrates-Dialogen in einen Zusammenhang zu fügen; und ähnlich wie Voegelin, begreift auch Henning Ottmann das Platonische Dialogwerk als End- und Höhepunkt der Genese griechischen Gesetzesdenkens, der auf den verschlungenen Weg von der Epik über die Tragödie zu frühgriechischem Denken und Dichten zurückweist. Im einzelnen ist die Isolierung ,politischer' Fragestellungen allerdings ungleich enger gefasst als der Voegelinsche Grundbegriff der ,Ordnung', was dazu führt, dass Ottmann in ,Politeia' und ,Nomoi' einzelne Lehrstücke, insbesondere die Bestimmung der Herrschaftsformen, isoliert, der Rechtsgebung als einer grundlegenden Form philosophischer Selbstbesinnung aber nicht nachgeht. Die frühen Sokrates-Dialoge spielen, im Blick auf die Genese von Platons Rechtslehre, für seine politische Fragestellung keine Rolle, so dass Ottmann die Darstellung mit ,Protagoras' und ,Gorgias' beginnen lässt. Dies hat zur Folge, dass ,Platons politische Philosophie' als ein isolierbarer Zusammenhang innerhalb des Platonischen Philosophierens erscheint, während es unterbleibt, die philosophische Grundlegung der Polis im Gesetz mit der Verfasstheit der Platonischen Logoi in einen Zusammenhang zu bringen. Hervorzuheben ist das von Hans Kelsen, dem Lehrer des Rechtspositivismus, nachgelassene Platon-Werk, das sich seiner Intention nach Platons ,Sozialphilosophie' widmet, dabei aber streng von der Grundlegung der Sozialität in der Gerechtigkeit ausgeht. 122 Den Fußpunkt seiner Deutung gewinnt Kelsen, ebenso wie unabhängig von ihm später Georg Picht, aus der Strebensstruktur des Platonischen Eros. Ihre Tendenz zu einer autarken Mitte führt die Seele zu dem immer Seienden, der Idee als höchstem Geltungsgrund, die daher als Gesetz aufgefasst werden kann. Die Achse von Kelsens Überlegungen, in denen die ,Nomoi' einen ausgezeichneten Ort einnehmen, ist das Verhältnis zwischen positivem Polis-Recht und dem Recht von Natur, das er in Erinnerung an die doppelte Urstiftung des Gesetzes auch im Sinne der ,Gerechtigkeit als göttliches Geheimnis' versteht. Die ,Substituierung der Gerechtigkeit' durch das Gute begreift Kelsen als den entscheidenden Schritt zur Exposition der ,Idee des Guten' in der Platonischen ,Politeia'. 123 Obgleich er eher am mythischen Bild als an der Verflechtung der Platonischen Grundbegriffe orientiert ist, kann seine intuitive Einsicht in eine Apotheose des positiven Gesetzes triftig an den Platonischen ,Kriton' anschließen, dessen Ausgangskonstellation sich, wie auch Kelsen treffend hervorhebt, auf dem Weg von der ,Politeia' zu den ,No122 H. Kelsen, Die Illusion der Gerechtigkeit. Eine kritische Untersuchung der Sozialphilosophie Platons. Aus dem Nachlass herausgegeben von K. Ringhofer und R. Walter. Wien 1985, S. 365 f. 123 Ibid., S. 355 f. Vgl. dazu auch vorliegende Studie weiter unten, Dritter Teil VI. 4*

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moi' entfaltet und sich mit dem Spätdialog zu einem Gedankengang zusammenschließt. 2. Die Erforschung des Platonischen ,Nomos'-Begriffs ist nicht deckungsgleich mit der monographischen Gewichtung des Spätdialogs der Platonischen ,Nomoi'. Es ist unstrittig, dass dieser im Verlauf der jüngeren Wirkungs geschichte seit der Aufklärung in seiner philosophischen Bedeutung unterschätzte und vorwiegend als historisches Zeugnis erörterte Dialog in der Forschung des 20. Jahrhunderts eine Aufwertung und präzisere Untersuchungen erfahren hat, die es allererst ermöglicht, die Tektonik des Platonischen Gesetzesbegriffs insgesamt namhaft zu machen. Dazu haben Arbeiten von Ada Hentschke/ 24 Ernst Sandvoss 125 und, lange zuvor, Leo Strauss beigetragen. 126 Hentschke hat gezeigt, dass neben der elenchtischen Prüfung der Seele die Nomothetik die zweite Säule Platonischer ,Politik' sei. Diese These gewinnt dadurch zusätzlich an Gewicht, dass sie auf den engen Zusammenhang zwischen Gesetzgebung und Paideia hinweist. Allerdings bliebe schärfer, als dies bei Hentschke geschehen ist, zu klären, wie Politik und Philosophie im Gesetz aufeinander bezogen sind. Egil Wyller konstatierte in einer Rezension, dass Hentschke die Nomothetik als Kunst der Seelenführung expliziere. 127 Dies werde der Reichweite des Spätdialogs für das Gesetzesproblem nicht gerecht. Die Gesetze dienen zwar dem Anhodos, dem Aufstieg der Seelen zur Idee, und insofern hat die Gesetzgebung ihre Aufgabe in der Anleitung und Führung der Seelen. Zugleich weisen die ,Nomoi' aber über den , höchsten' Punkt der Dialektik, die , Idee des Guten', hinaus auf die sich intuitiver Schau eröffnende Bewegung des Kosmos. 128 Und schließlich verkenne die Begrenzung auf die ,mittlere Ebene' der Psychagogik das Problem der nomothetischen Festschreibung von statutarischen Einzelfallbestimmungen, insbesondere im Zusammenhang des Strafrechts. Ernst Sandvoss hat, in Anlehnung an die Platon-Arbeiten von H. 124 A. Neschke-Hentschke, Politik und Philosophie bei Plato und Aristoteles. Die Stellung der ,Nomoi' im Platonischen Gesamtwerk und die politische Theorie des Aristoteles. Frankfurt/Main 1977. Ungeachtet der zahlreichen Aufschlüsse, die die Ausgriffe auf Aristote1es ,Politik' bringen, steht bis heute eine monographische Untersuchung aus, die den Einfluss der ,Nomoi' auf die Aristotelische ,Politik' en detail freilegt. 125 E. Sandvoss, Soteria. Philosophische Grundlagen der platonischen Gesetzgebung. Göttingen 1971. 126 L. Strauss, The Argument and the Action of Plato's Laws. Chicago und London 1975. 127 Vgl. dazu die E. A. Wyller, Zu Platons Nomothetik. Eine Rezension, in: ders., Henologische Perspektiven. Band 1. Amsterdam, Atlanta 1994, S. 277 ff. Siehe auch J. F. M. Arends, Die Einheit der Polis. Leiden 1988 (= Mnemosyne, Supplement Band 106). 128 Ibid.

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Cherniss,129 zu zeigen versucht, dass die ,Nomoi' durchaus von einer sachlichen Mitte zusammengehalten werden: nämlich von dem Grundgedanken der ,soteria'. Dabei versteht Sandvoss die ,Nomoi' als den Dialog, in dem die "mannigfaltige(n) Aspekte platonischen Denkens" (theoretische und praktische Philosophie, Formsprache u. a.) in ihrer Einheit, wenn auch nur in der spezifischen Gestalt philosophischer Gesetzgebung, sichtbar werdenYo Dies verbindet seine Deutung mit der nachgelassenen ,Nomoi'-Vorlesung von Georg Picht,131 die ebenso zu zeigen versucht, dass die philosophische Gesetzgebung in das Zentrum des Platonischen Dialogwerks gehört und sogar die in verschiedenen Dialogen angelegten Stränge in einer Synthese verbindet. Besondere Aufmerksamkeit erfuhr der Spätdialog jüngst bei angelsächsischen Gelehrten, die ihr Augenmerk primär dem überlieferten Dialogwerk, seiner Form und Tektonik, widmen. Unstrittig hat die verstärkte Konzentration auf die Sokratische Frage und die Frühdialoge in der angelsächsischen Forschung in der Folge von Leo Strauss oder Jacob Klein dazu beigetragen, dass die ,Nomoi' vor dem Hintergrund der Frühdialoge, 132 namentlich der ,Apologie' und des ,Kriton', gesehen werden können, was bemerkenswerte Einsichten eröffnet. Einen vorläufigen Schlusspunkt der von Strauss inspirierten Forschungen zu den ,Nomoi' markiert die jüngst erschienene Untersuchung von Seth Benardete ,Plato's Laws. The Discovery of Being', 133 die verdeutlicht, dass die Gesetzesfrage eine spezifische Erkenntnis- und Entdeckungsform vorzeichnet, die die Verschiedenheit des Seienden erschließt. Gesetzgebung ist im Sinn von Benardete nicht einfach als Nachahmung von Ordnungsformen zu verstehen, sondern als Hervorbringung von deren Einsichtigkeit. Es war indes der Staatsrechtslehrer Carl Schmitt, der in beziehungsreicher Wiederaufnahme des Nomos-Begriffs, allerdings ohne ausdrückliche Bezugnahme auf Platon, darauf hinwies, dass der Nomos seinem Ursinn nach einen "raumhaft konkrete(n), konstituierende(n) Ordnungs- und Ortungsakt" bezeichnet. Dieser Begriffssinn kann sich durchaus auf den Platonischen Nomos-Begriff beziehen. In der paradeigmatischen Polisordnung, 129 Vgl. die Selbstkennzeichnung der Methode bei Sandvoss, Soteria, a. a. 0., S. 11 ff., in der er weitgehend dem Verfahren seines Lehrers H. Chemiss folgt: vgl. H. Chemiss, Aristotle's Criticism of Plato and the Academy. Baltimore 1944, siehe auch The Sources of Evil according to Plato (1957), in: ders., Selected Papers, ed. by L. Tanin. Leiden 1977, S. 253 ff. 130 So Sandvoss, Soteria, S. 13 und S. 17. 131 Besonders eindrücklich in Pichts nachgelassener Vorlesung Picht, Platons Dialoge ,Nomoi' und ,Symposion'. Stuttgart 1990, S. 201 ff. \32 Vgl. dazu R. Kraut, Socrates and the State. Princeton, New Jersey 1994. 133 S. Benardete, Plato's ,Laws'. The Discovery of Being. Chicago und London 2000.

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die der Platonische Spätdialog vor Augen stellt, ist der Nomos aber keine primär auf den Raum bezogene Grundkategorie. Schmitts Explikation des Ursinns von ,nernein ' in der Dreiheit von Nehmen, Teilen, Weiden verortet die Gesetzgebung außerhalb der Polis; in einem Bereich, in den weder die ,Politeia' noch die ,Nomoi' vordringen. Platon hat nicht den unbesiedelten Urraum, sondern die geschichtlichen Ausgangsbedingungen der Polis vor Augen, die in ihrem Urbild zu begründen ist: der Polis in der Seele dessen, der sich nach dem eidetischen Inbild der Gerechtigkeit richtet. Der Doppelcharakter von ,Ordnung und Ortung' und die damit verknüpfte Einsicht, dass "am Anfang [... ] nicht eine Grund-Norm, sondern eine Grund-Nahme" steht, trifft aber auch einen Grundzug der Platonischen Philosophie des Gesetzes: Nomos gründet in Themis, dem Vorausgesetzten. 134 Unter Rückgriff auf die eingangs (S. 11) exponierte Fragestellung sei noch einmal an die Einsicht hermeneutischer Platon-Deutung von Schleiermacher an erinnert, wonach im Platonischen Dialogwerk "alles mit allem zusammenhängt" und die einzelnen Werke und ihre - scheinbar heterogenen Untersuchungen - ein kunstvolles Ganzes bilden. Die folgenden Erörterungen halten sich deshalb eng an die Dialoggestalt, an die ,Erzeugung der Gedanken im Anderen', mit H. F. Cherniss' Formulierung, versuchen sie das ,Gegebene' zum Ausgang zu nehmen, um das Sachproblem in seinem Zusammenhang erschließen zu können. Dabei ist es von besonderem Interesse zu erörtern, wie in den Dialogen in den Gesprächspartnern der Gedanke ,erzeugt' wird. Diese Orientierung an der Gedankenerzeugung im einzelnen Dialog, von dem her erst das Rhizom des Dialogzusammenhangs transparent gemacht werden kann, macht eine gewisse Umständlichkeit im Eindringen in den Dialoggang unumgänglich.

v. Ausgangspunkt und Gang der Untersuchung 1. Der Sachzusammenhang, der in der Platonischen Rechtslehre verhandelt wird, entfaltet ein Problem, den das bei Thukydides überlieferte Gespräch zwischen den athenischen Gesandten und dem melischen Rat vorzeichnet: es umkreist die Frage nach dem Ursprung der Gerechtigkeit zwischen gleich Mächtigen und damit nach dem Verhältnis zwischen der politisch militärischen Macht und der rechtsförmigen Anerkennung zwischen Staaten. Das Gespräch gehört zu den bei Thukydides vielfach und mit großer Sorgfalt berichteten uneingelösten Möglichkeiten eines umfassenden, rechtsförmigen Friedensschlusses zwischen griechischen Poleis steht doch von vorneherein der Ausgang fest, dass ein Friede zwischen Me134 Vgl. C. Schmitt, Der Nomos der Erde im Völkerrecht des lus Publicum Europaeum. Berlin 31988.

v. Ausgangspunkt und Gang der Untersuchung

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liern und Athen nicht erreicht werden konnte. Es fällt unmittelbar ins Auge, dass die Athener eine Darlegungsweise wählen, die dem Sokratischen Elenchos näher verwandt ist als den langen, zusammenhängenden Reden, die sich an die Affekte des Volkes wenden. Die Gesandten fordern den melischen Rat dazu auf, in jedem einzelnen Punkt zu widersprechen, sofern ihnen dies angemessen erscheint (Thukydides V, 85, 1). Die Melier anerkennen die Milde Athens (86, 1), sehen sie aber durch offenkundige kriegerische Veranstaltungen konterkariert. Ihr Blick richtet sich durchgehend prognostisch auf den Ausgang der machtpolitischen Konfrontation, wodurch der Rechts- und der Machtstandpunkt ineinander übergehen (86, 1). Diese voraussehende Entfernung von der jeweils gegebenen Lage wird von den Athenern kritisiert. Sie kann nur zu Vermutungen (hyponoias) führen und streng genommen ,nichts' erkennen. Sie ist sogar der Meinung (doxa) unterlegen. Die Athener verzichten auf den Vortrag ,schöner', doch unglaubhafter Reden und begrenzen sich auf den präzsise herausgearbeiteten Rechtsstandpunkt, "da ihr so gut wisst wie wir, dass im menschlichen Verhältnis Recht gilt bei Gleichheit der Kräfte, doch das mögliche der Überlegene durchsetzt, der Schwache hinnimmt" (V, 89). Der Rechtsstandpunkt setzt demnach eine Homologie der Kräfte voraus, während ihn ein jedes Machtgefälle in Zweifel zu ziehen versucht. Die Melier interpretieren diese Überlegung in einer unstatthaften, einseitigen Weise, wenn sie anmerken, dass bei den Athenern "statt vom Recht" (to dikaion) nur von Vorteil (to xympheron) die Rede sei (90). Sie führen ihrerseits mit der Kategorie der ,Billigkeit' einen nicht-gesetzesförrnig organisierten Rechtsgrundsatz ein, der das Machtgefälle ausgleichen und die Sphäre der Rechtsgeltung erweitern soll: Ihrer Annahme (nomizomen) zufolge wäre es nützlich (chresimon), "wenn ihr nicht autböbet, was jetzt allen zugute kommt: dass wer je in Gefahr ist, immer noch hoffen darf, mit Gründen der Billigkeit (eikota dikaia), auch außerhalb des strengsten Maßes (akribous) Gehör zu finden zu seinem Gewinn" (90). Von höchster Bedeutung für die Kennzeichnung der widerstreitenden Auffassungen ist es, dass sich die Athener nicht auf die wiederum prophylaktische Überlegung der Melier einlassen, sie müssten die Billigkeit im Blick auf den Fall zugestehen, dass sie einmal fallen würden und dann ihrerseits Opfer von Racheakten werden könnten. Jene Prognostik wird von den attischen Gesandten mit einer Unterscheidung zwischen dem scheinbar und in Wahrheit Schrecklichen zurückgewiesen. Es ist nicht eigentlich schrecklich beherrscht zu werden; schrecklich ist vielmehr der Aufstand (stasis) im Inneren der Polis (91, 2). Die ,Unterordnung', die die Athener den Meliern als Voraussetzung einer Friedensordnung vorschlagen, unterscheidet sich deutlich vom Verständnis desselben Begriffs und Sachverhalts durch die andere Seite. Bedeutet im

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melischen Sinn die Unterordnung Unterwerfung, so bezeichnet sie in der Rede der Athener ,Eingliederung' in einen Ordnungszusammenhang. Die rechtliche Ordnung soll im strengen Sinn jenseits der Differenz von Freundschaft und Feindschaft begründet werden. Der melische Rat überhört den springenden Punkt; dass nämlich der attische Rechtsstandpunkt einen Ausgleich der machtpolitischen Differenzen anstrebt und dazu führen würde, dass sie als ,gleich mächtig' behandelt werden. Obgleich die Athener in der Zwiesprache Machtüberlegungen nicht vollständig ausklammern (V, 97), halten sie fest, dass der Rechtsstandpunkt nicht relativ ist; ein Mehr oder Weniger an Macht modifiziert ihn in keiner Weise. Entgegen der Einlassung der Melier, sind Recht oder Macht nicht gegeneinander aufzuwiegen. Dies zeigt sich am Probierstein der Frage, was im gegebenen Fall geboten wäre, wenn nach Maßgabe der Ehre gehandelt würde. Ein ,besonnenes Überlegen' (0(J)(j>Q6v(J)~ j30lJAEUTjo8E) (101) müsste den Meliern nahelegen, ihre Ehre nicht in einem duellartigen Kampf von gleich zu gleich verteidigen zu wollen, sondern sie in Selbsterhaltung gegenüber dem ,weitaus Stärkeren' zu bewahren (101). Das prognostische Scheinwissen (epistamestha) der Melier (102) lässt sich aber auf eine solche Besinnung nicht ein. Es leitet sich aus Erwartungen und Hoffnungen (103, 1) her, die auf unzulänglicher Beschreibung und Kenntnis der eigenen Lage beruhen und durch Orakel sprüche genährt werden (103, 2). Die Athener treffen deshalb im Blick auf das Verhalten der Melier eine wichtige Unterscheidung: als Trösterin in der Gefahr sei die Hoffnung nicht schädlich, sie stiftet aber Unheil, wenn ,alles' auf die Waagschale des ,Ungewissen' gelegt wird. Die einseitige Hoffnung geht stets davon aus, dass sich die Umstände in einer Weise weiter entwickeln würden, wie sie aus der Vergangenheit bekannt ist, während dagegen die beiseite tretende Überlegung damit rechnet, dass sich das Übergewicht in den Imponderabilien des Kampfes auch wenden könnte. An diesem Punkt zeichnet sich zwischen den Athenern und den Meliern eine grundlegende Differenz hinsichtlich der Beurteilung des göttlichen Grundes des Rechts ab: Während die Melier das Göttliche mit dem wechselnden Geschick (tyche) gleichsetzen, und Rechtlichkeit an das FreundFeind-Verhältnis knüpfen (vgl. V, 104), binden die Athener die göttliche Gunst ('tO 8ELOV EUIlEVELa~) (105, 1) an eine nur vermutungsweise geäußerte, verschiedenen menschlichen ,Meinungen' über die göttlichen Dinge nicht widersprechende, ihnen nach eigener Überzeugtheit aber vorausgehende ,Vermutung': "dass alles Menschenwesen allezeit nach dem Zwang seiner Natur, soweit es Macht hat, herrscht" (l05, 2). Diese ,naturhafte' Verhaltensweise ist ein , Gesetz', das weder von den Athenern noch sonst einer Macht ,gesetzt', sondern ihnen allen überkommen ist. Indem an diesem Punkt von der ,ewigen Geltung' jenes Gesetzes die Rede ist, die nicht

V. Ausgangspunkt und Gang der Untersuchung

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begründet, sondern hingenommen wird, verweisen die Athener auf die höchste Verehrung für den Nomos, die dessen göttlicher Herkunft gilt und zwischen Solon und Platon vielfach bezeugt ist (vgl. dazu, insbes. zu Thukydides III, 84, weiter unten Erster Teil 1.3). Damit ist in der Rede der Athener eine scharfe Abgrenzung verbunden, die dazu nötigt, Recht und Gesetz von der Macht und die Berufung auf die göttlichen Dinge von allen konkreten Bündniserwägungen zu scheiden. Die Melier hatten die göttliche Gunst und die Widerfahrnisse des Schicksals mit dem zu erwartenden Bündnisverhalten Spartas in einen Zusammenhang gebracht (104, 106); ein ,Kinderglaube', den der Grundsatz der attischen Gesandten korrigiert. Dabei wird, was für die Genealogie der Auflösung rechtlicher Bindung in Thukydides' Geschichtswerk nicht ohne Bedeutung ist, die Umkehrung des Bedeutungssinnes eines Wortes gerade den Spartanern angelastet; ein Grundzug der Stasis, der in den attischen ,Dissoi Logoi' seit dem 5. Jahrhundert ausgesprochen wird (V gl. dazu weiter unten Erster Teil, I. 2). "Kein Volk, das wir kennen, erklärt so unverhohlen wie sie das Angenehme für schön und das Zuträgliche für gerecht ('ra ÖE ~'U!lEQoVta öi'/(mma). Eine solche Haltung ist jedoch dem Unverstand (aI6gou) eurer jetzige Rettungshoffnung nicht günstig" (105, 4). Dies legt eine doppelte Schlussfolgerung nahe: Einerseits warnen die Athener die Melier davor, in einer gegebenen Konfrontation auf die Vernünftigkeit der anderen Seite, auch eines potentiellen Verbündeten wie Spartas, zu setzen, und dadurch ihrer unbegründeten Hoffnung den Anschein der Vernünftigkeit zu geben, wodurch sich die Täuschung nur steigern würde. Auch die Neigung, auf die ,Ehre' der andren Seite zu rechnen, fällt unter das nämliche Verdikt. Andrerseits halten die Athener dem Melischen Rat die spezifische Vernünftigkeit der Lakedaimonier vor; eine Logik der Macht, die aber den Interessen der Melier in keiner Weise entgegenkommen wird. Dieser nicht der inneren Einsicht und ebenso wenig dem Recht gemäßen, sondern ausschließlich kratischen Erwägung zufolge findet "der zur Hilfe Aufgebotene nicht in der Zuneigung der Hilfeheischenden, sondern wo eine tatsächliche und überragende Macht ist, den Antrieb seines Tuns" (109, 1). Die Freilegung der Kratik berührt sich in der attischen Rede mit der Analyse lakedaimonischer ,Dissoi Logoi'; im Sinne der Wahrscheinlichkeit lässt sich ein Grundsatz angeben, demzufolge sich die Spartaner künftig verhalten dürften: sie werden den Nutzen (das xympheron) mit ihrer eigenen Sicherheit (asphaleias) (107) verbinden. Das Gerechte und Schöne (to de dikaion kai kal EOL%E) (31a9-bl). Deshalb bleibt Sokrates in der Stadt ort10S.1 96 Allerdings verlässt er damit nicht die ,menschliche Weisheit'; und eben hier liegt der Konvergenzpunkt von esoterischer und exoterischer Dimension seines Elenchos: Gerade der offen zu Tage liegende, eigentlich menschliche Zug seiner Forschungsrichtung ist als göttliches Geschenk zu begreifen. In einer exoterischen Interpretation kann dies immerhin in dem Sinn verständlich gemacht werden, dass die Frage nach der Tugend als ein größtes Gut (IlELSOV aya8ov) angezeigt wird (30a6), von dem alle anderen menschlichen Güter, die des einzelnen und die der Gemeinschaft, herstammen. Diese Bestimmung ist, esoterisch besehen, nicht auf Stufengrade des Guten bezogen, sondern auf das uneingeschränkte Gute, das in Sokrates' Auslegung des Delphischen Orakels als Verpflichtung gegenüber dem göttlichen Gesetz begriffen wird. Dies erinnert vom Ende der ,Apologie' her an die Verbindung des Göttlichen und des eidetisch Guten in der rechtlichen Ursetzung der Thernis, die es dem Gott versagt zu lügen (vgl. 21b6). Nicht zu täuschen, ist für Sokrates der Grundzug seiner Stellung zu Gesetz und Bürgerschaft. Deshalb begreift er sich in einer subtilen, aber tiefgreifenden Abweichung vom überlieferten Genus der Gerichtsrede in der ,Apologie' als einen Redner, der die ,ganze Wahrheit' (Jtuaav "t~v aA~8ELav) (17b8) ausspricht. 197 Wahr ist seine Rede zunächst im vordergründigen Sinn einer 196

Dazu H. Kuhn, Sokrates, S. 34 ff und S. 101 ff.

214

1. Teil: Polis, Tugend und Gesetz

Verteidigung gegen die ,falschlichen' Anklagepunkte (vgl. I8a). Die innere Argumentationsrichtung der ,Apologie' ist damit aber noch nicht offengelegt. Sie kommt erst später ans Licht, wenn Sokrates darauf verweist, dass er "weit entfernt (sei) um (seiner) selbst willen (sich) zu verteidigen [... ], sondern um euretwillen, damit ihr nicht gegen des Gottes Gabe an euch etwas sündigt durch meine Verurteilung" (30d6-3IeI). An dieser Stelle kann ein Resümee gezogen werden: Die Befragung der Tugend begründet in der ,Apologie' einen rechtmäßigen Umgang mit dem Stadtgesetz, das andernfalls möglichem Missbrauch und Fehlauslegungen nicht entgehen könnte. Daran weist sich das innere ,politeuein' des Philosophen aus. Insofern ist die ,Apologie' keinesfalls nur als Grenzziehung der philosophischen Lebensform gegenüber der Polis zu deuten. Die spezifische Verpflichtung des Philosophen vor dem Gesetz wird gerade vor der Polis ,öffentlich' . (7) Der ,Phaidon' nimmt den Faden an eben dieser Stelle auf. Man kann daher mit Szlezak die Folgerung ziehen, dass "die öffentliche Apologie [... ] den Raum [... ] für eine andere, bessere ,Apologie' frei(hält)".198

Jene Apologie ist von dem äußeren Zwang der öffentlichen Rechenschaftsablegung frei, doch sie hält sich in der Fluchtlinie der Gesetzesverpflichtung des Sokrates; wobei sie das esoterische Moment seiner Lebensform weitergehend bestimmt. Der Zusammenhang ist auch formgeschichtlich unschwer zu belegen. Denn mit den ,rechten Richtern' unterredet sich Sokrates in der ,Apologie' wie mit Freunden über die ,Meinung', dass der Tod ein Übel sei und über sein Nicht-Wissen, was den Wesenscharakter des Todes angeht. In der Zwiesprache tritt wie von selbst die Gerichtssituation in den Hintergrund. Es eröffnet sich eine befristete Freiheit, entsprechend dem Ausgangspunkt im ,Phaidon', dem in der fiktiven Chronologie spätesten Dialog, der unmittelbar bevorstehenden Rückkehr des Theseus-Schiffes aus Delos (vgl. Phaidon 58a8).199 Aus der ,Apologie' ist festzuhalten, dass Sokrates gelassen bleibt, da er den Tod nicht fürchtet. Den Grund dafür macht er in der Unterscheidung zwischen seinem eigenen Nicht-Wissen und dem Scheinwissen seiner Ankläger namhaft. Dies bleibt im ,Phaidon' unverändert. Auch Kriton kommt im ,Phaidon' zu Wort, doch seine Aufforderung zur Flucht wird aus einem weiteren Blickkreis beurteilt. Das ganze menschliche Leben ist im Bild eiDazu Szlezdk, Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie, S. 238. Ibid. 199 Vgl. zu diesen Spannungen auch L. Strauss, The City. and Man, S. 52 ff. und S. 125 ff. Zu den historischen Implikationen der Sokrates-Uberlieferung vgl. O. Gigon, Sokrates. Sein Bild in Dichtung und Geschichte, S. 7 ff. und S. 69 ff. 197 198

III. Recht, Gesetz und philosophische Einsicht in ,Kriton' und ,Apologie' 215

nes Gefängnisses gesehen, aus dem es nicht freisteht, zu einem beliebigen Zeitpunkt zu fliehen (vgl. Phaid. 62c). Sokrates erinnert ausdrücklich an den Zusammenhang mit der ,Apologie', wenn er den jungen Mitunterrednern, Simmias und Kebes, in einem forensischen Sprachspiel zugibt: "Aber euch, meinen Richtern, will ich nunmehr Rechenschaft ablegen über meine Absicht, dass ein Mann, der sein Leben wahrhaft in der Philosophie verbracht hat, mit Grund zuversichtlich ist, wenn er sterben soll" (63e8-64al). Es ist Simmias, der diese Erörterungen vorbereitet, als er anmerkt, es wäre die eigentliche Verteidigung des Sokrates (apologia), wenn er die Anwesenden von seinem Logos überzeugen könne (peises) (vgl. 63d). Jener Logos hat allerdings nur die Gestalt der freudigen Hoffnung (elpis) (63c1): dass es ,etwas' gibt für die Toten; und Simmias bezeichnet ihn als ,dianoia' (63c9). Sie figuriert aus, was Sokrates aus dem Indizcharakter des schweigenden Daimonion (Apol. 41a) als mögliche Hypothese erschlossen hatte, dass die Seele nach dem Tod des Leibes zu den Göttern oder Heroen aufsteige (Phaidon 63b7). Sokrates betrachtet seine Verteidigung deshalb als abgeschlossen (vgl. 69d), nachdem er die Lebensform des Philosophen im grundsätzlichen gekennzeichnet hat (vgl. 64a-6ge). Philosophieren ist Ablösung der Seele vom Leib. Der Tod besiegelt nur, was der in Wahrheit Philosophierende immer schon im Vorgriff hatte. Sokrates' ,Richter' begnügen sich damit aber nicht, und Kebes möchte hinter die in der bisherigen ,Apologie' unbefragt bleibende Voraussetzung zurückgehen - die Unsterblichkeit der Seele. Indem Kebes anmerkt, dass es nicht einfach sei, die Unsterblichkeit glaubhaft zu machen (vgl. 70b), fordert er Sokrates zu weiterer Verteidigung heraus. Im Zusammenhang dieser Untersuchung kann es nicht darum gehen, den Beweisgängen im ,Phaidon' im einzelnen nachzuspüren. Entscheidend ist es zu sehen, dass sich die beiden Mitunterredner des Unsterblichkeitsdialogs im Versuch, dingfest zu machen, ob sich Sokrates weiter verteidigen kann, von Richtern in Kinder verwandeln, die den Tod ,wie ein Gespenst' (OOO3tEQ 1:a fLOQfLOA:UXELU) fürchten (77e8). Die juridische Urteilsklarheit ist also auch bei den Vertrauten, den Freunden des philosophischen Gesprächs, durch Affekte gestört, die allenfalls im Rückgang auf eine tiefer liegende Einsicht moderiert werden können.

Zweiter Teil

Techne, Arete und Natur I. Politeia I - Der Thrasymachos-Dialog 1. Der ,logos tes ousias' von Recht und Gerechtigkeit (1) Die Platonische ,Politeia' wird, wenn es um die eidetische Gründung des Ideen-Staates geht, als ,Gesetzgebung' (nomothesia) bezeichnet. Daher wird im folgenden als Leitfaden die Frage verfolgt, wie sich der Argumentationszusammenhang der ,Politeia' zu Recht und Gesetzgebung verhält.) Wie im grundsätzlichen schon zu erörtern war (vgl. weiter oben Einleitung), gehört die Nomothesie im Sinn der Schriftkritik des ,Phaidros' unter die Schriftwerke, denen das mündliche Wechselgespräch zu Hilfe kommen muss, indem es bessere Gründe angibt und die Voraussetzungen des Textes namhaft macht (vgl. Phaidros 257e-258d; 277d). Der Mangel kodifizierter Gesetze besteht nach Platon darin, dass sie über ihre angemessene Anwendung selbst keine Aussagen treffen können. In Anspielung auf diese Grundlinien verweist er am Beginn des II. Buches der ,Politeia' darauf, dass in den folgenden Unterredungen der Gerechtigkeit zu helfen sei (ßoTJ8üv ÖLxaw rtgoOcpLA~~ uv d1'] 6 'tOLoiho~ O'Ü'tE 8Eep . XOLVCüVELV yag aöUva'tO~, ö'tq> [l~ EVL xOLvCüvta, cpLAta OUX UV El1']) (507e3 ff.).

öe

In der bejahenden Umkehrung bedeutet dies, dass nur derjenige, der die innere Ordnung als eine Gesetzlichkeit in sich selbst hat, mit anderen Menschen und mit Göttern befreundet sein kann.

Dieser Ordnungsbegriff besagt in Ausdeutung auf die Zusammenhänge der Poiesis, dass jeder Teil eines vollkommenen Kunstgebildes an einer bestimmten Stelle in spezifischer Weise angeordnet sein muss, woraus sich erst die Schönheit des Ganzen ergibt. Dieses Formgesetz umschreibt Sokrates mit ,Ordnung und Anstand' (,taxis' und ,kosmos') (504b6 f.). Das aus Kosmos und Taxis sich formende Maß macht ein Kunstgebilde, eine Hausgemeinschaft, aber auch das Zusammenspiel von Leib und Seele erst , schön'. Dabei ist es entscheidend, dass die Formbegriffe Kosmos und Taxis den Plan kenntlich machen, nach dem der Seele oder anderem Seienden ,etwas', nämlich ihr Maß, eingebildet wird. (Ev 'tU 'ljJllXU EYYLYVO[lEvq> EX 'til~ 'tUl;ECü~ xai 'tOU XOO[lOll) (504c1 f.). Indem festgehalten wird, dass "die Ordnungen und Bildungsvorschriften für die Seele "Recht und Gesetz (VO[lL[lOV 'tE xai VO[lO~) (seien)" (d2), vermittelst deren (Ö8EV) sie selbst rechtlich und geordnet werden", bestimmt sich auch die ,wahre Redekunst' genauer. Der einsichtige Redner kann zu einem Rechtspfleger (vgl. 465c), einem Kommentator der Gesetze werden, 44 Dazu Szleztik, Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie, S. 191 ff. Vgl. auch E. R. Dodds, Plato, Gorgias. Text with Introduction and Commentary Oxford 1959, S. 14 ff. 17 Seubert

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2. Teil: Techne, Arete und Natur

wenn er sich darum kümmert, wie die Gerechtigkeit ,in die Seele' seiner Mitbürger kommt. Er kann also einsichtig machen, wie Ordnung und damit das Gesetz, das sie herstellt, die Tugend in die Seele einbildet.45 Sokrates erläutert dieses Verhältnis erst, nachdem Kallikles aufgegeben hat und in Schweigen versunken ist. Gut ist ein Seiendes nur durch die Anwesenheit ,irgendeiner Tugend' (aQE'tTj~ 'tLVO~ JtaQaYEVO!lEvll~) (506d3 f.); Tugend kommt einem Seienden aber nicht ergänzend zu anderen Eigenschaften ,mit' zu, sie wird vielmehr "durch Ordnung" (t3.xei) im vorhinein festgesetzt (kekosmemenon). Diese je eigentümliche Ordnung (K6o!lo~ 'tL~ aQa EYYEV6!lEVO~) (506e2) macht vorgreifend alles Gute erst gut. Sie bestimmt die Teilhabe der einzelnen Phänomene an dem uneingeschränkt Guten oder Geordneten. 46 Die geordnete Seele ist zugleich besonnen (s6phron) (507al). Damit wird Besonnenheit (phronesis) an diesem Punkt der Untersuchung als esoterische Bezeichnung für die innerseelische Ordnung und Gesetzlichkeit eingeführt. Der Besonnene "tut überall, was sich gebührt (proshekounta) gegen Götter und Menschen" (507a8 f.). Die Relation zweier in diesem Zusammenhang gebrauchter Prädikate verdient besondere Beachtung. Die Ordnung jedes Seienden (und im besonderen jeder Seele) ist spezifisch ausgeprägt (506el f.), sie ist also als Gesetzeszusammenhang partikular. Indem sie zu einem ,überall' in Anschlag zu bringenden Wissen um das ,Gebührende' (proshekon) führt (vgl. dazu 507a), wird sie gleichsam universalisiert. Im Sinn der Schluss-Sequenz des ,Gorgias' sind die anderen Tugenden in die aus dem Ordnungszusammenhang hervorgehende Besonnenheit eingeschlossen. Als inneres Recht der Seele impliziert sie die Gerechtigkeit gegen die Mitmenschen; auf die Götter bezogen, entfaltet sie sich als Frömmigkeit; schließlich wird der Besonnene auch tapfer sein, "denn (ihm) ist es nicht eigen, zu suchen oder zu fliehen, was sich nicht gebührt" (b6). Jener Rechts- und Ordnungsgrundsatz wird von der Seele auf den Zusammenhang der Welt übertragen. Die ,Welt' ist im Sinn der ,wahren Messkunst' als ein gefügtes Ganzes und Geordnetes, nicht als Verwirrung und Zügellosigkeit' zu begreifen (508a3 f.). Daher ist die aus der Besonnenheit hervorgehende Tapferkeit keine vereinzelte Tugend (vgl. Erster Teil, 11. Kapitel). 45 Vgl. Krämer, Arete, S. 64 ff.; W. Wie land, Platon und die Fonnen des Wissens, S. 271 ff. und S. 277, sowie Stenzel, Studien zur Entwicklung der Platonischen Dialektik, S. 19 ff. 46 In Politeia IV, 430dl ff. ist ein Implikationsverhältnis zwischen den anderen Tugenden und der Besonnenheit angedeutet. Das Grundverhältnis von Besonnenheit und Gerechtigkeit (432b2 und 44lc4 ff.) scheint dagegen auf eine wechselbegriffliche Implikation abzuzielen.

11. , Gorgias' - Scham und Recht

259

An dieser Stelle ist daran zu erinnern, wie Sokrates in seinem Vorentwurf einer guten Lebensform Besonnenheit als Antidotum zu dem Mehrhabenwollen charakterisiert hatte. Das besonnene Leben begnügt sich mit dem ,jeweils Vorhandenen' (x.ai "tOl~ ud JtaQOOatV Lx.avw~ x.ai e~aQx.ovv't(j)~ exov'ta ßLOV H.Eo8m) (493c6 ff.). Wie sich erst vom eidetischen Maß der Welt her zeigt, beruht dieses Sich-begnügen auf der Einsicht in einen sinnvollen Ordungszusammenhang, der durch ungehinderten Zuwachs nur gestört werden könnte. Kallikles' Kritik, Sokrates spreche das Gesetz "des großen Haufens" (492b7 f.) aus, trifft jenes Maß in keiner Weise. Das ,Gesetz des Haufens' berührt sich nicht mit der kosmos-taxis-Analogie, denn es sieht nicht die Wohlgeordnetheit der Welt als Ganze. Der Grundsatz der Isonomie, dass jedem das Gleiche zukomme, ist an den Teilen orientiert, ohne den Vorgriff auf das eidetische Maß zu kennen. (4) Die im dritten Teildialog des ,Gorgias' charakterisierte Rechtsförmigkeit steht in engem Zusammenhang mit der Frage, die für ,jeden Menschen, der nur ein wenig Vernunft hat," schlechterdings ernst ist, nämlich "wie man leben soll" (XQ~ 'tQonov ~Tjv) (500c3 f.).47 Kallikles hatte die Pleonexie als Antwort auf diese Frage eingeführt. Vom Endpunkt der Erwägungen zeigt sich klarer, weshalb Sokrates die Pleonexie-Erwartung mit bewusst banalen Beispielen konterkariert hatte. Man erinnere sich: Der nach Kallikles' ,Maßstäben' beste Mann muss mehr haben. Soll es, so hält Sokrates dagegen, mehr an Kleidern oder Schuhen oder Ackerland sein? (vgl. 490dlO; vgl. 490e6 ff.). Daraufhin hatte Kallikles erst die eigentlich politisch kratische Zielrichtung seiner Argumentation offen gelegt (vgl. 491ab). Nahezu derselbe Wortwechsel wiederholt sich noch einmal wenig später, wenn bei der Untersuchung des Verhältnisses zwischen dem Angenehmen und dem Guten Kallikles Sokrates entgegenhält, er untersuche "Kleinigkeiten und Jämmerlichkeiten" (497c1 f.). Sokrates antwortet ihm darauf mit einer Anspielung auf die großen und kleinen Einweihungen bei den Mysterien von Eleusis. Zwischen beiden Initiationen muss eine beträchtliche Zeitspanne liegen. Was Sokrates ironisch Kallikles konzediert, ist nach der Einweihungsordnung gänzlich unmöglich: dass ein Mensch die "großen Weihen [... ] vor (den) kleinen" hat (497c3 f.). Sokrates' Charakterisierung von Recht und Gesetz als ,Besonnenheit' ist mit diesem mystagogisehen Sinnbild als ,kleine' Einweihung gekennzeichnet. 47 Vgl. dazu Plut. Demetr. 26, I, Schol. Aristoph. Plut. 845; eIern. Strom. 4.3.1 und 5.70.7. Nach Plutarch liegen zwischen kleinen und großen Mysterien sieben Monate und die Epoptie als höchste Einweihungsstufe ist von den großen Mysterien ihrerseits um ein Jahr getrennt. Vgl. dazu Szlezdk, Platon und die Schriftlichkeit, S. 200, FN 39 und L. Deubner, Attische Feste. Berlin 1932, S. 68 ff., sowie W. Burkert, Homo necans. Berlin 1972, S. 292 f. 17"

260

2. Teil: Techne, Arete und Natur

An der Einlassung ist aber augenfällig, dass nur der Epopte, der auch die großen Einweihungen erfahren hat, die Unterscheidung zwischen großen und kleinen Weihen begründet treffen kann. Kallikles, der Sokrates grundsätzlich wohlmeinend gegenübersteht (vgl. 486a und 487d), führte als Einwand gegen die philosophische Lebensform ins Feld, dass sie den, der sich an ihr orientiert, nicht in die Lage bringt, sich vor Gericht und gegenüber ungerechtfertigten Anklagen zu verteidigen. "Denn wenn jemand dich oder einen Anderen solchen ergriffe und ins Gefängnis schleppte, behauptend, du habest etwas verbrochen, da du doch nichts verbrochen hättest: so weisst du wohl, dass du nicht wissen solltest, was du anfangen solltest mit dir selbst" (486a7 ff.). Es sei schändlich, dass sich Sokrates, anders als die Meister der Redekunst, nicht selbst verteidigen könne. Vor dem Hintergrund seiner Bestimmung von Recht und Gesetz als ,Bildungsvorschriften für die Seele' (504d6 f.) kommt Sokrates darauf zurück (508c-509a); und er widerspricht Kallikles' Forderung, ein freier Bürger müsse in einer widerrechtlichen Anklage sich selbst zu Hilfe kommen. Dabei verschiebt sich die Bedeutung des ,boethein heautou' in einer Weise, die durch das Sokratische Rechtsverhältnis in der ,Apologie' gestützt werden kann. Sich zu Hilfe zu kommen, bedeutet für Sokrates: überall so mit sich umzugehen, dass eigene Besonnenheit und Gerechtigkeit nicht preisgegeben werden (vgl. 509c2 f.). Dadurch wird die Sicht auf die Rechtssphäre umakzentuiert. Sokrates hat das Eidos des Gesetzes vor Augen, während Kallikles auf die Rechtspraxis blickt, die Täuschungskünste verlangt. Vor der leitenden Frage, wie zu leben ist, wird aber erkennbar, dass die Differenzen im Rechtsverhältnis auch auf zweierlei Lebensformen hindeuten. Von diesem Bezug auf die ,ernsteste Frage' kann Sokrates den Grundsatz von Unrechttun und Unrechtleiden noch einmal in Gesetzes/orm wiederholen und statutarisch auf die ,eisernen und stählernen Gründe' hinweisen (509al f.), wonach Unrechttun das schlimmste Übel ist und einzig durch ein Unrecht übertroffen werde, das nicht bestraft wird. Kallikles stimmt Sokrates zunächst zu, er gebraucht die Wendung des sich selbst Helfens an späterer Stelle (522c5 f.) aber noch einmal in dem ursprünglich von ihm intendierten Sinn. Legt man das Schema der fiktiven Chronologie zugrunde, so nimmt Sokrates in diesem späten Zusammenhang, in dem er sich als einen der wenigen Männer bezeichnet, die sich um die wahre Staatskunst (alethos politike) bemüht hätten (521d7), die Konstellation seiner eigenen Apologie vorweg. Vor diesem Hintergrund wäre die ,Apologie' wohl als Urbild einer ,wahren Rhetorik' zu begreifen, deren Nutzen bislang nur nach einer Seite erörtert worden war: Sie hat dazu beizutragen, dass der Übeltäter seine gerechte Strafe findet. Im Fall der ungerechtfertigten Anklage gegen einen rechtlichen Mann zielt sie aber andererseits darauf, so wird nun ergänzt,

11. ,Gorgias' - Scham und Recht

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ohne Schmeichelei, den Richtern seine Handlungen nach Maßgabe der eigenen Besonnenheit darzulegen. Auf den Vorwurf, er verführe die Jugend, werde Sokrates antworten, er tue dies "als euer Bestes, ihr Richter", so dass ich wahrscheinlich, "was sich eben trifft, werde leiden müssen" (522c2 f.). Und er sanktioniert seine ,Apologie' im Zusammenhang des antizipierten Martyriums durch den Hinweis, ,ganz mit Recht' (~Lxa[())~ nuvw) (522b9-cl) werde er so, nämlich der Wahrheit gemäß, sprechen. An dieser Stelle wird der Differenzpunkt zwischen Sokrates und seinen Mitunterrednern befestigt. Denn es zeigt sich, dass das Recht für Sokrates nicht Teil eines (politischen) Agons ist. Das agonale Moment verlagert sich darauf, die ,besseren Gründe' in der freundschaftlichen philosophischen Unterredung für Recht und Besonnenheit angeben zu können. Als ,lächerlich' zeigt sich derjenige, der wie Kallikles das Recht nicht verteidigen kann, nicht derjenige, der sich nicht auf die rhetorische Täuschungskunst versteht (vgl. 509a7; b-c). Am Ende des Gesprächs wendet sich Sokrates der Staatskunst zu. Er tut dies, in Erwiderung auf Kallikles' Frage, wie "die Angelegenheiten des Staates einsichtsvoll" und tapfer zu verwalten sind (49Ibl). Diese ist, wie die Exposition der Besonnenheit aus dem Zusammenhang von Recht und Gesetz zeigt, aber nur Teil der ernsten Frage, wie man leben soll. Demgemäß fokussiert Sokrates die Staatskunst auf das Problem, wie Unrecht vermieden werden könne. Es ist gleichbedeutend mit der Frage: "Was möchte ich nun jemandem verschaffen, um diese beiden Vorteile (ophelias) zu genießen, den (einen), nicht Unrecht zu tun und den (anderen), nicht Unrecht zu leiden?" (509dl f.). Offensichtlich ist der bloße Wille (boulesin) dafür nicht hinreichend, es ist auch ein Vermögen, bzw. eine Fähigkeit (,dynamis') erforderlich (509d2 f.). Obgleich noch einmal an die Hypothese erinnert wird, dass alles Unrecht ,wider Willen' getan wird (vgl. 50ge5 f.), so ist es nach Sokrates offensichtlich erforderlich, eine Fähigkeit (dynamin) und Kunst (technen) (51Oa4) zu erwerben, die davon abhält, Unrecht zu tun. Jene techne wäre die eigentlich politische Kunst und ihre ,eigentliche Sache' (vgl. 514b) besteht in Analogie zur Heilkunst darin, "die Bürger soviel als möglich besser zu machen" (513e6). Im Zusammenhang der aus dem Polos-Gespräch bekannten Unterscheidung zwischen den schattenbildlichen Schmeicheleien (vgl. 463d und 50Id), die auf die Lust zielen, und einer Handlung nach Maßgabe des Guten (vgl. 501b-c) muss geprüft werden, ob sich in der attischen Geschichte ein einziger Staatsmann finden lasse, der die Bürger ,besser' gemacht habe oder ob sich alle der Bürgerschaft gefällig zeigten. Kallikles' Versuch einer Unterscheidung zwischen den Staatsmännern der Vergangenheit, Perikles und Themistokles, die besser gewesen seien (vgl. 517a-b) als die der Gegenwart, lässt Sokrates nur in einer sehr einge-

262

2. Teil: Techne, Arete und Natur

schränkten Hinsicht gelten. Auch sie wussten nichts vom Eidos des Guten, sie seien lediglich ,geschickter' darin gewesen, an Staat und Bürgerschaft ihre Begierden zu befriedigen (b5 f.). Doch sie waren nicht imstande, die Begierden "umzustimmen (!Le'taßlßa~eLV) [... ] und sie durch Überredung und Gewalt" (:n:et8ov'te~ x.ai ßla~6!LeVol) (517b5 f.) auf eine Übereinstimmung mit dem Guten umzulenken. Maßstab für ihre Höherachtung kann lediglich die Polisethik oder das kratische Vermögen, nicht die rechenschaftsfähige ,wahre Einsicht' sein. Die politische techne wird im unmittelbaren Argumentationszusammenhang nicht weiter charakterisiert. Allerdings wird die früher freigelegte Entsprechung zwischen Sophistik und Gesetzgebung, Redekunst und Rechtspflege (vgl. 465c), wieder aufgenommen und im Sinn der mittleren Proportionale in eine Rangfolge gebracht. Die Sophistik (sophistike) ist soviel schöner als die Redekunst, wie die Gesetzgebung schöner ist als die Rechtspflege und die Turnkunst schöner als die Heilkunst (520b2 f.). Der wahre Staatsmann ist also Gesetzgeber, als solcher aber ein wahrer Sophist, also ein Lehrer, der zeigt, "wie jemand möglichst gut werden könnte" (520e2 ff.). Die Rechtspflege kommentiert nur die Rechtssetzung. In dem an dieser Stelle einschlägigen Wortsinn versteht sich Sokrates als Sophisten, der seinen Rat unentgeltlich erteilt; wäre es doch ,schändlich', wenn der Rat Mittellosen versagt würde (e4). Und auf die Frage, wie die Fähigkeit aussehen könnte, Unrechttun zu vermeiden, wird Gorgias' früher erörterte Klage wiederaufgenommen, wonach der Meister der Redekunst zu Unrecht zur Verantwortung gezogen wird, wenn seine Schüler die Kunst unrechtmäßig ausüben (vgl. 457cl). Erst am Dialogende nimmt Sokrates zu dieser Auffassung Stellung. Zumindest die Sophisten, aber wohl auch die Rhetoren, könnten in dem von Gorgias angezeigten Sinn gar nicht ungerecht behandelt werden. 48 Nach Maßgabe des Rechtes müssen sich die Lehrmeister in einer Scheinkunst "selbst anklagen, dass sie denen nichts nutz gewesen sind, denen sie sich doch rühmten, nützlich zu sein" (520b7 f.). Dies ist nach Sokrates jedenfalls der Gesichtspunkt eines, wahren Gesetzgebers', der von sich selbst und anderen danach beurteilt werden möchte, ob es ihm gelingt, die conditio sine qua non eines rechtmäßigen Lebens der Bürgerschaft ,einzubilden' .49 Die aus dem Maß der Einsicht umrissene Gestalt des wahren Gesetzgebers hebt sich umso klarer ab, als Sokrates gegenüber Kallikles' freund48 Dies zeigt die im Sinn einer mittleren Proportionale gezogene Analogie zwischen Sophistik und Redekunst einerseits und Gesetzgebung und Rechtspflege andererseits, sowie zwischen Turnkunst und Heilkunst. Gorgias 502b3 ff. 49 Paradoxerweise kennzeichnet sich Sokrates selbst in diesem Zusammenhang als ein Mann, der sich um die ,wahre Staatskunst' bemüht; dies steht in engem Konnex mit seiner scheinbaren Hilflosigkeit als Argumentierender.

11. ,Gorgias' - Scham und Recht

263

schaftlichen Ratschlägen, er müsse sich vor Gericht verteidigen können, anmerkt, es wäre ganz und gar unvernünftig, "wenn ich nicht glaubte, dass in dieser Stadt Jedem Jedes begegnen kann, wie es sich trifft" (521c7 f.). Damit dokumentiert er nicht nur, dass er um seine Bedrohtheit in der Stadt weiß. Er charakterisiert Athen ähnlich wie Polos die Polis umschrieben hatte, in der jedermann ungestraft Unrecht tun könnte. Sie wird als Ort erkennbar, an dem Sokrates nicht leben möchte. Es ist eine ungeordnete Welt, in der Recht oder Unrecht der eigenen Handlungen von der Willkür der Richter- und Beamtenschaft ,überwogen' werden. Sokrates gibt sich erst an dieser späten Stelle im Gesprächsverlauf offen als einen der wenigen, wenn nicht als einzigen Mann zu erkennen, der die wahre politische Kunst übt; während er im Gespräch mit Polos bekanntlich darauf bestanden hatte, kein Staatsmann zu sein (473e6), da er sich nicht auf das Stimmenzählen verstehe. Vielmehr ,wäge' er die Stimme, indem er den einzelnen Gesprächspartner als Zeugen für dessen Logos befragt. Auch in den Angelegenheiten der Rechtspflege ist Sokrates nach eigenem Eingeständnis nicht bewandert (471e2 ff.). Er versteht sich nicht auf die Art, in der Kallikles ,an der Gerichtsstätte ' meint, Beweise führen zu können. Wie zu zeigen war, begreift Sokrates die Befragung eines einzelnen Gesprächspartners geradezu als Antidotum zu dem forensischen Grundverfahren des Verhörs verschiedener Zeugen (vgl. 472b7 f.). Damit deutet er unter der Hand an, dass Gerichtsverfahren als Teil des politischen Agons missbräuchlich angewandt würden. Vor diesem Hintergrund kann Sokrates es nicht für ,schändlich' halten, dass er sich vor Gericht nicht in einem agonalen Sinn verteidigen kann. ,Schändlich' wäre es dagegen, wenn es ihm nicht gelänge, sich in dem entscheidenden Punkt zu Hilfe zu kommen und damit zugleich anderen zur Gerechtigkeit zu verhelfen, womit auch der Gerechtigkeit selbst ,geholfen' werden könne (522d4 f.). Es ist unverkennbar, dass Sokrates' eigener Gesichtspunkt im Kallikles-Gespräch einer Selbstprüfung unterzogen wird. Wenn Sokrates dem Kallikles zugibt, Prüfstein für sein, Kallikles', eigenes Meinen ('ljJUx~ öo;atEL) (486e6) zu sein, ist diese Aussage zwar in der Lobrede auf Kallikles verortet, einem Segment mit unstrittig ironischen Zügen. Dennoch ist darin auch eine sachliche Wahrheit enthalten. Denn immerhin kann Sokrates die Rede von dem ,von Natur her Rechten' von Kallikles, die sich bei diesem als widersprüchlich herausgestellt hatte, seinen Erörterungen stillschweigend zugrunde legen. 'to 'tll~