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German Pages 254 [255] Year 2022
Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Band 106
Polarisierung des Politischen Gesellschaftliche Herausforderungen und institutionelle Konsequenzen Herausgegeben von Arnd Uhle Matthias Friehe
Duncker & Humblot · Berlin
ARND UHLE / MATTHIAS FRIEHE (Hrsg.) Polarisierung des Politischen
Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Band 106
Polarisierung des Politischen Gesellschaftliche Herausforderungen und institutionelle Konsequenzen
Herausgegeben von
Arnd Uhle Matthias Friehe
Duncker & Humblot · Berlin
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Vorwort Demokratie bedeutet ein sich täglich erneuerndes Wagnis. Im Turnus der Wahlen kann die Minderheit zur Mehrheit werden, umgekehrt muss die Mehrheit damit rechnen, zur Minderheit zu werden.1 Dieses Wagnis ist umso prekärer, als es keine zwingenden, der Verfassung vorgelagerten Gründe dafür gibt, warum sich Menschen Mehrheitsentscheidungen fügen sollten.2 Die demokratische Nation lebt damit von der freiwilligen Bereitschaft ihrer Angehörigen, in einem plébiscite de tous les jours die Verfassungsordnung täglich neu zu bestätigen.3 Auf Dauer kann Demokratie nur dort gedeihen, wo sich die Bürger gegenseitig nicht als existentiell fremd oder anders wahrnehmen und deswegen von sich aus zur loyalen Hinnahme von Mehrheitsentscheidungen bereit sind.4 Vor diesem Hintergrund bringt eine zunehmende Polarisierung der Gesellschaft, wie sie sich im Verlust gesellschaftlicher Bindungskräfte und in der Fragmentierung des Parteiensystems äußert, erhebliche Gefahren für den Verfassungsstaat mit sich. Als parlamentarische Demokratie ist das Regierungssystem des Grundgesetzes darauf angelegt, dass sich die Regierung auf eine parlamentarische Mehrheit stützen kann. Zwar sieht das Grundgesetz eine Reihe von Regeln und Mechanismen vor, welche die Regierungsfähigkeit auch für den Fall sicherstellen sol-
Vgl. BVerfGE 44, 125 (142); 138, 102 (Rn. 28). Josef Isensee, Das Volk als Grund der Verfassung, Opladen 1995, S. 50. 3 Ernest Renan, Qu’est-ce qu’une Nation?, Paris 1882, S. 27; Isensee, Das Volk (Anm. 2), S. 81. 4 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), HdbStR II, 3. Aufl. 2004, § 24 Rn. 47. 1 2
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Vorwort
len, dass eine reguläre Kanzlermehrheit nicht zustande kommt. Ob und inwieweit diese Mechanismen – von der Wahl eines Minderheitenkanzlers nach Art. 63 Abs. 4 GG bis hin zum Gesetzgebungsnotstand nach Art. 81 GG – tatsächlich eine ausreichende politische Handlungsfähigkeit der Staatsorgane sicherstellen, bleibt indes eine offene Frage, da diese Instrumente in der über siebzigjährigen Geschichte des Grundgesetzes bislang nicht zur Anwendung gekommen sind. Deutschland ist in der glücklichen Lage, dass sich bisher trotz der Aufgliederung des Parteiensystems zumindest auf Bundesebene stets stabile Regierungsmehrheiten gefunden haben. Konkrete Auswirkungen hat die Polarisierung allerdings bereits heute, namentlich für die politische Arbeit im Sieben-Parteien-Parlament. Das herkömmliche Selbstverständnis des Bundestages als „Arbeitsparlament“ 5, das seine Macht mittels einer effizient organisierten politischen Detailarbeit ausübt, wird von lautstarken Rändern auf die Probe gestellt. Insbesondere im Umgang mit der AfD bemühen sich die etablierten Parteien, jedenfalls im Grundsatz an den eingeübten Abläufen dieses Arbeitsparlaments festzuhalten. Zugleich lavieren sie zwischen dem Prinzip parlamentarischer Gleichbehandlung aller Fraktionen und dem Versuch einer Ausgrenzung. Das belegt die punktuelle Änderung der Geschäftsordnung ebenso wie die vereinzelte Aufgabe bisheriger parlamentarischer Usancen. So fällt das Amt des Alterspräsidenten aufgrund einer 2017 beschlossenen Änderung von § 1 Abs. 2 GOBT nicht mehr dem an Lebensjahren ältesten, sondern dem dienstältesten Abgeordneten zu.6 Mit einem Vizepräsidenten ist die AfD entgegen § 2 Abs. 1 S. 2 GOBT sowie entgegen parlamentarischen Traditionen auch in
5 Statt vieler Hans Hugo Klein, Stellung und Aufgaben des Bundestages, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), HdbStR III, 3. Aufl. 2005, § 50 Rn. 11. 6 Siehe BT-Drs. 18/12376, in welcher der politisch vordergründige Zweck, einen möglichen Amtsinhaber der AfD zu verhindern, freilich dahingehend verbrämt wird, dass eine ausreichende parlamentarische Erfahrung des Amtsinhabers sichergestellt werden solle.
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ihrer zweiten Legislaturperiode als parlamentarische Kraft nicht im Bundestagspräsidium vertreten.7 Die komplexe Gemengelage im Sieben-Parteien-Bundestag durchbricht zumindest teilweise den für das parlamentarische Regierungssystem typischen Dualismus zwischen der Regierung einschließlich ihrer parlamentarischen Regierungsmehrheit auf der einen und der Opposition auf der anderen Seite. Vor eine doppelte Herausforderung stellt dies die gemäßigten Oppositionsparteien, die einerseits in der Funktionslogik der parlamentarischen Demokratie die Regierung kritisieren müssen, sich andererseits gegen radikale Oppositionskräfte abgrenzen wollen und sich hierbei unversehens mit der Regierungsmehrheit im selben Boot wiederfinden. Die Fragmentierung der Parteienlandschaft hat zudem die inneren Widersprüche8 des personalisierten Verhältniswahlrechts augenfällig gemacht. Dazu hat freilich auch das Bundesverfassungsgericht beigetragen, indem es einen weitgehenden Ausgleich entstehender Überhangmandate forderte.9 In der Folge hängt heute die konkrete Parlamentsgröße vom Zufall ab, nämlich davon, wie sich die Stimmenanteile der Parteien in den verschiedenen Bundesländern zu der Zahl der – meist mit knappem Vorsprung errungenen – Direktmandate verhalten. Der einst gute Ruf des personalisierten Verhältniswahlrechts zehrt inzwischen wesentlich von weitverbreiteten Irrtümern über dessen Inhalt und Wirkungen. Andererseits wäre ein grundsätzlicher Systemwechsel gerade wegen der Polarisierung der Gesellschaft äußerst heikel, soll doch das Wahlrecht möglichst breite Akzeptanz finden. Eine gute Verfassung allein vermag diese und weitere Herausforderungen einer fragmentierten und polarisierten Gesellschaft 7 Die diesbezügliche Organklage der AfD blieb jüngst erfolglos, vgl. BVerfG, NVwZ 2022, S. 640. 8 Eingehend Sophie Schönberger, Die personalisierte Verhältniswahl – eine Dekonstruktion, JöR NF 67 (2019), S. 1 (9 ff.). 9 BVerfGE 131, 316 (357 ff.) mit der offen willkürlichen Festsetzung von 15 zulässigen Überhangmandaten (S. 370).
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Vorwort
nicht aufzufangen. Trotzdem gehört es zu den zentralen Herausforderungen für Verfassungsgerichtsbarkeit und Staatsrechtslehre, innerhalb des verfassungsrechtlichen Rahmens angemessen auf die Polarisierung von Gesellschaft zu reagieren und verfassungspolitischen Reaktions- und Anpassungsbedarf aufzuzeigen. Dieser Aufgabe hat sich die Rechts- und Staatswissenschaftliche Sektion der Görres-Gesellschaft auf ihrer jährlichen Sektionssitzung am 24. und 25. September 2021, dem Wochenende der Bundestagswahl, in Regensburg gestellt. Die nachfolgend abgedruckten Beiträge sind aus dieser Sitzung hervorgegangen. Für die Publikation wurden sie im Anschluss an die Tagung überarbeitet und mit Anmerkungen versehen. Für die ebenso tatkräftige wie umsichtige redaktionelle Bearbeitung der nachfolgend veröffentlichen Abhandlungen danken wir Herrn Ass. iur. Lorenz Lang, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Leipziger Lehrstuhls für Öffentliches Recht, insbesondere für Staatsrecht, Verfassungstheorie und Allgemeine Staatslehre, für die Unterstützung bei der Vorbereitung und Durchführung des „Jungen Forums der Sektion“ den Stipendiaten des Cusanuswerks, Herrn stud. iur. Fabian Eichmeier und Herrn stud. iur. Johannes Nowesky. Schließlich gilt unser Dank Herrn Dr. Florian Simon, LL.M. für die Aufnahme dieses Bandes in die Reihe der „Wissenschaftlichen Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte“ und für die – wie stets – hervorragende verlegerische Betreuung. Leipzig und Wiesbaden, im Mai 2022 Arnd Uhle und Matthias Friehe
Inhaltsverzeichnis Parteien unter Druck. Wandlungen der Parteienlandschaft im Zeichen der Polarisierung Von Professor Dr. Eckhard Jesse, Chemnitz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Wahlen in polarisierten Zeiten. Aktuelle Entwicklungen im Wahl- und Wahlprüfungsrecht Von Professor Dr. Heinrich Lang, Greifswald . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Polarisierung im Parlament. Herausforderungen für die parlamentarische Selbstorganisation Von Professor Dr. Philipp Austermann, Brühl . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Experimentelle Regierungen und Projektregierungen als Antwort? Der verfassungsrechtliche Rahmen für Minderheitsregierungen Von Professor Dr. Christoph Gröpl, Saarbrücken . . . . . . . . . . . . . . .
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Opposition in Zeiten der parlamentarischen Polarisierung. Herausforderungen der Oppositionsvielfalt Von Professor Dr. Sebastian Kluckert, Wuppertal . . . . . . . . . . . . . . .
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Junges Forum der Sektion Krise der freien Rede? Zur (akademischen) Redefreiheit an deutschen und amerikanischen Universitäten in Zeiten politischer Polarisierung Von Dr. Manuel Joseph, Hamm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Autoren und Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Parteien unter Druck Wandlungen der Parteienlandschaft im Zeichen der Polarisierung Von Eckhard Jesse I.
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
II.
Wahlen, Parteien, Polarisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12
III. Polarisierter Pluralismus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 IV.
Entpolarisierung durch die Volksparteien CDU/CSU und SPD? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18
V.
Polarisierung durch die beiden Randparteien? . . . . . . . . . . . . . . . 24
VI. Teils polarisierte, teils stickige Debattenkultur . . . . . . . . . . . . . . . 29 VII. Institutionelle Reformvorschläge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 VIII. Vergleich zu früher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33
I. Einleitung „Immer weiter driften die linken und rechten Echokammern der politischen Lager auseinander, immer tiefer werden die Gräben der Gesellschaft.“ 1 Das Zitat stammt von Marco Kutscher, einem jungen Kommunikationswissenschaftler, und betrifft die USA. Hingegen identifiziert sich für ihn „die große Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger hierzulande mit den Parteien der demokratischen Mitte“.2 Schlägt sich im Parteienwettbewerb Deutschlands ein hohes Maß an Polarisierung nieder? Diese Leitfrage wird durch Unterfragen ergänzt: Fördern Volksparteien, zumal dann, wenn sie gemeinsam regieren, indi1 So Marco Kutscher, Geteilte Informationskanäle: Antwort auf die Polarisierung der Gesellschaft, unter: https://election-oberserver.de (zuletzt aufgerufen am 15.7.2022). 2 Kutscher, Geteilte Informationskanäle (Anm. 1), S. 3.
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rekt Polarisierung? Begünstigen Randparteien automatisch Polarisierung? Trägt die Stärkung von Konkurrenzmechanismen zur Schwächung der Polarisierung bei? Welche institutionellen und außerinstitutionellen Reformen erleichtern den Wettbewerbscharakter? Bewirkt Polarisierung generell eine Gefahr für die Demokratie? Zum Aufbau: Nach einem knappen Überblick zur demokratischen Wahl, bei der den Parteien eine entscheidende Rolle zufällt, und zum Begriff der Polarisierung wird das maßgeblich auf den Italo-Amerikaner Giovanni Sartori zurückgehende Konzept des polarisierten Pluralismus mit Blick auf das Parteiensystem erörtert. Es finden nicht nur die Parteien Berücksichtigung, die für Depolarisierung stehen, die Volksparteien CDU/CSU und SPD, sondern auch die Parteien, die Polarisierung symbolisieren, die Randparteien AfD und Die Linke. Ob Wissenschaft, Publizistik und Politik Äquidistanz zu diesen beiden Kräften wahren oder ob eine Schieflage besteht, ist für die Frage nach der Polarisierung wesentlich. Die hiesige Debattenkultur lässt zu wünschen übrig. Sie laviert zwischen Stickigkeit und Polarisierung. Es folgen einige institutionelle und außerinstitutionelle Reformvorschläge – sie könnten den Abbau von Defiziten fördern. Der Beitrag schließt mit einem knappen Vergleich zur polarisierten Weimarer Republik, um das Thema angemessen einordnen zu können.3 II. Wahlen, Parteien, Polarisierung Ein demokratischer Verfassungsstaat wie die Bundesrepublik Deutschland basiert auf kompetitiven Wahlen.4 Die Freiheit der Wahl ist dabei von tragender Kraft. Um die Worte des Pluralis3 Der Autor greift an einzelnen Stellen auf eigene frühere Veröffentlichungen zurück. Vgl. Eckhard Jesse, Die Bundestagswahl 2021 mit vielen Neuheiten. Kein Kanzlerbonus, erstes Dreier-Bündnis nach 70 Jahren, Isolation der geschwächten Union, Zeitschrift für Politik 68 (2021), S. 353–377. 4 Vgl. Eckhard Jesse, Maßstäbe zur Bestimmung demokratischer Wahlen, in: Ders./Konrad Löw (Hrsg.), Wahlen in Deutschland, Berlin 1998, S. 11–35.
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mustheoretikers Ernst Fraenkel aufzugreifen: Sie „vermag nur dann als geeignetes Kriterium [. . .] zu dienen, wenn die Durchführung der einzelnen Wahlen nicht als isolierter Vorgang, sondern als ein Teilausschnitt aus einem kontinuierlichen Prozess begriffen wird“.5 In diesem Sinne soll „Freiheit der Wahl“ dreierlei bedeuten: Freiheit der Auswahl, Freiheit im Angebot, Freiheit zur möglichen Revision des Votums. Erstens: Freiheit der Auswahl heißt, Wahl zwischen mehreren (mindestens zwei) Wahlvorschlägen. Ferner muss Parteigründungsfreiheit ebenso gewährleistet sein wie eine prinzipiell gleiche Wettbewerbschance für jede Partei. Zweitens: Freiheit im Angebot heißt, dass Alternativen bestehen, also Konkurrenz vorliegt. Diese darf sich nicht nur auf unterschiedliche Personen beziehen, sondern muss auch Sachfragen betreffen. Wahl ist „Richtungswahl“.6 Drittens: Freiheit zur möglichen Revision des Votums heißt regelmäßige Wahlen, die im Voraus in bestimmbaren Abständen stattfinden. Wahl bedeutet Entscheidung auf Zeit, Wahl auf Lebenszeit verbietet sich in einer parlamentarischen Demokratie. Parteien sind in diesem Wahlprozess unabdingbar.7 Räteoder Ständesystems sind mit den Prinzipien einer Massengesellschaft unvereinbar. Parteien bündeln politische Interessen, dienen der politischen Führungsauslese und stellen Kandidaten auf. Diese sind an kein imperatives Mandat gebunden. Ohne Parteien vermag ein demokratischer Verfassungsstaat nicht zu funktionieren. Zwischen den Parteien muss ein Grundkonsens bestehen, weil sonst der demokratische Betrieb schweren Schaden nimmt. Innerparteiliche Demokratie ist ebenso wichtig, 5 Ernst Fraenkel, Strukturanalyse der modernen Demokratie, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 49/1969, S. 4. 6 Hans Meyer, Demokratische Wahl und Wahlsystem, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland. Band II, Heidelberg 1987, S. 252. 7 Vgl. hierzu zahlreiche Beiträge in dem folgenden Band: Frank Decker/Viola Neu (Hrsg.), Handbuch der deutschen Parteien, 3. Aufl., Wiesbaden 2018.
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damit sich in einer Partei unterschiedliche Positionen entfalten können. Allerdings dürfen diese nicht derart weit auseinanderklaffen, da sonst die Handlungsfähigkeit unter fehlender Geschlossenheit leidet. Interparteiliche und innerparteiliche Demokratie gehören mithin zusammen. Unter Polarisierung ist ein Vorgang zu verstehen, der zu Gegensätzen führt und der Konflikte nicht abbaut, sondern verstärkt. In der Politik sind damit gemeinhin die Gegensätze zwischen rechts und links gemeint, zwischen linken und nichtlinken Parteien. Der Begriff zielt ferner auf die Gegensätzlichkeit zwischen demokratischen und extremistischen Kräften. Mit dem britischen Publizisten David Goodhart8 ist an eine weitere Form der Polarisierung zu erinnern, von der gegenwärtig viel die Rede ist, nicht nur in Deutschland: Die einen begreifen sich als „Anywheres“, als „Überall“-Menschen, die, gut gebildet, als Kosmopoliten Globalisierung befürworten, im Gegensatz zu den „Somewheres“, den „Irgendwo“-Menschen, die Veränderungen fürchten und, politikwissenschaftlich gesprochen, als Kommunitaristen gelten.9 Nimmt die Polarisierung zwischen den politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Eliten einerseits und der Masse der Bürger andererseits überhand, stärkt sie das Aufkommen populistischer Kräfte, Bewegungen und Parteien. Bei der Frage der Einwanderungspolitik, die sowohl die ökonomische als auch die kulturelle Seite betrifft, prallen die Positionen besonders heftig aufeinander. „Die spezifisch politische Unterscheidung, auf welche sich die politischen Handlungen und Motive zurückführen lassen, ist die Unterscheidung von Freund und Feind. [. . .] Die Unterschei8 Vgl. David Goodhart, The Road to Somewhere. Wie wir Arbeit, Familie und Gesellschaft neu denken müssen, Iffeldorf 2020. 9 Vgl. etwa Wolfgang Merkel, Kosmopolitismus versus Kommunitarismus: Ein neuer Konflikt in der Demokratie, in: Philipp Harst/Ina Kubbe/Thomas Poguntke (Hrsg.), Parties, Governments and Elites: The Comparative Study of Democracy, Wiesbaden 2017, S. 9–23; siehe auch, etwas anders akzentuiert: Frank Decker, Kosmopolitismus versus Kommunitarismus: eine neue Konfliktlinie in den Parteiensystemen?, in: Zeitschrift für Politik 66 (2019), S. 445–454.
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dung von Freund und Feind hat den Sinn, den äußersten Intensitätsgrad einer Verbindung oder Trennung, einer Assoziation oder Dissoziation zu bezeichnen; sie kann theoretisch und praktisch bestehen, ohne dass gleichzeitig alle jene moralischen, ästhetischen, ökonomischen oder anderen Unterscheidungen zur Anwendung kommen müssten.“ 10 Wenn Carl Schmitt den Begriff des Politischen in der Unterscheidung von Freund und Feind sieht, so ist das kritikwürdig: zum einen deshalb, weil Schmitt den Begriff nicht normativ verankert, zum andern deshalb, weil der demokratische Verfassungsstaat geradezu bemüht ist, diesen Gegensatz nicht aufkommen zu lassen. Aber auch Dolf Sternberger, einer seiner Gegenspieler, macht es sich zu einfach. „Der Gegenstand und das Ziel der Politik ist der Friede. Das Politische müssen und wollen wir zu begreifen versuchen als den Bereich der Bestrebungen, Frieden herzustellen, Frieden zu bewahren, zu gewährleisten, zu schützen und freilich auch zu verteidigen. Oder, anders ausgedrückt: Der Friede ist die politische Kategorie schlechthin. Oder, noch einmal anders ausgedrückt: Der Friede ist der Grund und das Merkmal und die Norm des Politischen, dies alles zugleich.“11 Sternberger seinerseits setzt seine löbliche normative Position absolut – er will die Fortdauer des ständigen Kampfes der Konflikte nicht wahrhaben. Generell muss dem Begriff der Polarisierung nicht immer eine negative Konnotation innewohnen. Gewiss, vielfach erschwert Polarisierung Kompromisse, und die Zuspitzung schürt mannigfach bittere, dann oft nur mit großen Schwierigkeiten zu regelnde Konflikte. Und problematisch ist auch eine Scheinpolarisierung: Im Kern sind sich die Kontrahenten zwar einig, aber aus unterschiedlichen Gründen, etwa zwecks vordergründiger Profilierung, geraten „Nebenkriegsschauplätze“ in den Vordergrund. Das ist nur die eine Seite. Die andere: Polarisierung kann nötig sein, wenn der für die Demokratie zentrale Wettbewerb zum Erliegen kommt oder wenn etablierte Kräfte Themen, die 10 Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, 9. Aufl., Berlin 2015, S. 25 f. 11 Dolf Sternberger, Begriff des Politischen, in: Ders., Die Politik und der Friede, Frankfurt a. M. 1986, S. 78.
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bei Teilen der Bevölkerung „brodeln“, nicht oder nicht angemessen aufgreifen. III. Polarisierter Pluralismus? Es war der renommierte italienische Politikwissenschaftler Giovanni Sartori, der 1976 in einem seither immer wieder zitierten Buch die numerische Typologie der Parteiensysteme (Einparteiensystem, Zweiparteisystem, Mehrparteiensystem, Vielparteiensystem) durch eine inhaltliche, eine ideologische Dimension ergänzt hat.12 Zielte die Fragmentierung auf die Zahl der Parteien (ein Parteiensystem ist umso fragmentierter, je mehr Parteien im Parlament vertreten sind,), so betrifft die Polarisierung die programmatischen Differenzen der Parteien (ein Parteiensystem ist umso polarisierter, je stärker die Gegensätze zwischen den Parteien sind). Für Sartori war dabei die Stärke der systemfeindlichen bzw. sytemkritischen das Maß für die Stärke der Polarisierung. Er unterschied vier demokratische Parteisystemtypen. Erstens: Beim prädominanten Wettbewerbstyp, stellt eine Partei mehr oder weniger immer die Mehrheit – sie kann nur durch eine Koalition aller anderen abgelöst werden. Zweitens: Beim Zweiparteiensystem regiert mal die eine, mal die andere Partei. Hier ist der Wettbewerb zentripetal ausgerichtet. Die Parteien werben um den Grenzwähler. Drittens: Beim moderaten Mehrparteiensystem (mit drei bis fünf Parteien) kämpfen die Parteien um die Wähler der Mitte. Ein zentripetaler Wettbewerb zwischen Parteien mit eher geringer ideologischer Distanz dominiert ebenso wie eine polare Koalitionsbildung. Den Parteien der rechten Mitte stehen die Parteien der linken Mitte gegenüber. Ein Beispiel hierfür war die Bundesrepublik Deutschland.13 Viertens: Beim Vielparteiensystem (mit mehr als fünf Parteien), dem polarisierten Pluralismus, gibt es starke systemfeindliche bzw. systemkritische Parteien, die für eine Koaliti12 Vgl. Giovanni Sartori, Parties and party systems. A framework analysis, Cambridge u. a. 1976. 13 Vgl. ebd., S. 178.
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onsbildung nicht in Frage kommen. Außerdem handelt es sich um eine bilaterale Opposition, die also nicht nur auf einer Seite des politischen Spektrums angesiedelt ist. Opposition ist damit keine „Regierung im Wartestand“. Für dieses Parteiensystem ist die Schwäche der großen Parteien kennzeichnend. Und die Randparteien können sich gegenseitig mit Forderungen überbieten, da sie nicht in die Regierung gelangen. So steigt der zentrifugale Wettbewerbscharakter. Die Weimarer Republik stand für dieses Parteiensystem.14 War das hiesige Parteiensystem lange das Musterbeispiel eines gemäßigten Pluralismus, so gibt es seit 2017 eine gewisse Dynamik, nicht notwendigerweise hin zu einem polarisierten Pluralismus, sondern zu einer Art Mischtyp.15 Wer Sartoris Kriterien für einen moderaten Parteienpluralismus zugrunde legt (nicht mehr als fünf Parteien, Regierungsbildung durch Koalition, keine bilaterale Opposition, nahezu völliges Fehlen von Antisystemparteien, geringe ideologische Distanz zwischen den tragenden Parteien, zentripetale Wettbewerbsstruktur), dem fällt mit Blick auf den Ausgang der Bundestagswahl 2021 ein klares Urteil schwer. Zwei Kriterien (sechs Bundestagsparteien und die bilaterale Opposition) sprechen für einen polarisierten Pluralismus, die Vielzahl der anderen Elemente steht für einen moderaten. Fragmentierung (Rückgang der Stärke der Volksparteien) überlagert im Vergleich zu 2017 Polarisierung (Rückgang der Stärke der Flügelparteien). Im Übrigen ist die Frage nach der ausreichenden Differenziertheit von Sartoris Klassifikation, für eine angemessene Einordnung des Parteiensystems keineswegs abwegig.16 Um nur eine zentrale Frage aufzuwerfen: Ist die Zahl der Parteien im Parlament wirklich ein aussagekräftiger IndikaVgl. ebd., S, 132–136, S. 155 f. Vgl. Aiko Wagner, „Typwechsel 2017? Vom modernen zum polarisierten Pluralismus“, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 50 (2019), S. 114–129. 16 So muss die Vielzahl der Modifikationen zu diesem Referenzwerk nicht verwundern. Vgl. etwa Klaus von Beyme, Parteien in westlichen Demokratien, überarbeitete Neuausgabe, München/Zürich 1984, insbes. S. 318–325. 14 15
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tor für einen moderaten oder einen polarisierten Parteienpluralismus? Kommt es nicht auf weitere Faktoren an? IV. Entpolarisierung durch die Volksparteien CDU/CSU und SPD? Volksparteien sind erstens charakterisiert durch eine Wählerschaft, die einen beträchtlichen Anteil des Volkes einschließt. „Volksparteien ohne Volk“ (Hans Herbert von Arnim) sind ein Widerspruch in sich; zweitens durch eine Wählerschaft, die verschiedene soziale Schichten umfasst. Eine breite gesellschaftliche Verankerung ist dafür nötig. Den Grünen fehlt eine solche noch; drittens ist die Akzeptanz des demokratischen Verfassungsstaates eine conditio sine qua non für eine Volkspartei. Eine bloß durch Protest zusammengehaltene Kraft wie die AfD verfügt schwerlich über Integrationskraft. Alle drei Kriterien tragen zur Schwächung der Polarisierung bei. Erreichten die Union und die SPD bei den Bundestagswahlen 1972 und 1976 mehr als 90 Prozent (bei einer Wahlbeteiligung von über 90 Prozent)17, kamen sie bei der Europawahl 2019 zusammen nur auf 44,7 Prozent. Und bei der Bundestagswahl 2021 lag der gemeinsame Stimmenanteil für SPD und Union zum ersten Mal mit 49,8 Prozent unter der Hälfte. Das ist ein Menetekel! Was besonders frappiert: der Einbruch bei den Jungwählern. Die Union und die SPD erzielten bei den 18- bis 24Jährigen lediglich 10,8 bzw. 15,6 Prozent.18 Sie erbrachten in der Vergangenheit beträchtliche Integrationsleistungen. Kümmerte sich die Union in den 1950ern um die Integration früherer Nationalsozialisten in das demokratische Gefüge, gelang es der SPD Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre, beträcht17 Gleichwohl verstieg sich seinerzeit ein von Berliner Politologen und Soziologen verfasstes Werk zur kühnen These von der Legitimationskrise. Vgl. Jürgen Dittberner/Rolf Ebbighausen (Hrsg.), Parteiensystem in der Legitimationskrise. Studien und Materialien zur Soziologie der Parteien in der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 1973. 18 Vgl. Der Bundeswahlleiter (Hrsg.), Wahl zum 20. Deutschen Bundestag am 26. September 2011. Heft 4: Wahlbeteiligung und Stimmabgabe nach Geschlecht und Altersgruppen, Wiesbaden 2022, S. 107.
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liche Teile der „unruhigen Jugend“ für die Mitarbeit in den staatlichen Institutionen zu gewinnen. Doch mittlerweile gibt es einen gegenläufigen Trend. War bis zur deutschen Einheit entweder die Union oder die SPD in jedem Bundesland bei jeder Landtagswahl klar die stärkste Partei19 (und fast immer die andere Volkpartei die zweitstärkste Partei, mit drei Ausnahmen: Hessen und SchleswigHolstein 1950, Bremen 1951), änderte sich dies nach der deutschen Einheit, zunächst in den neuen, später auch in den alten Bundesländern. Das Parteiensystem splitterte sich auf. Ein Extrembeispiel: Bei der Landtagswahl 2021 in Baden-Württemberg verfügten Grüne (32,6 Prozent) und Liberale (10,5 Prozent) über mehr Stimmen als CDU (24,1 Prozent) und SPD (11,0 Prozent). Durch charismatische Spitzenkandidaten, vornehmlich im Osten (Kurt Biedenkopf, Manfred Stolpe), gelang es den Volksparteien angesichts einer schwachen Parteiidentifkation vorübergehend, herausragende Erfolge zu erringen. Die CDU kam bei der Landtagswahl in Sachsen 1994 auf 58,1 Prozent und 1999 auf 56,9 Prozent,20 die SPD in Brandenburg 1994 auf 54,1 Prozent. Insgesamt haben CDU und SPD bei allen Bundestagswahlen seit 1990 in den alten Bundesländern besser abgeschnitten als in den neuen21 – dies trifft erst recht auf FDP und Bündnis 90/ Die Grünen zu, die jeweils „Bessergestellte“ ansprechen, jedoch ganz und gar nicht auf Protestparteien wie Die Linke und die AfD. Auch in den alten Bundesländern nahm das Ausmaß an Volatilität, Polarisierung und Fragmentierung zu. Union und SPD haben angesichts der immer heterogener gewordenen Wäh19 Gleichwohl gab es zwei Ministerpräsidenten aus anderen Parteien: Reinhold Maier (FDP) in Baden-Württemberg (1952–1953) und Heinrich Hellwege in Niedersachsen (1955–1959). 20 Diese Ergebnisse erreichte die CDU niemals bei einer anderen Landtagswahl, wohl aber die CSU. 21 Die einzige Ausnahme (2002 erzielte die SPD in den neuen Bundesländern 39,7 Prozent, in den alten „nur“ 38,3 Prozent) gründet wesentlich in der Ablehnung einer Teilnahme am Irak-Krieg durch Gerhard Schröder und in der Kanzlerkandidatur von Edmund Stoiber, dem im Osten unbeliebten bayerischen Ministerpräsidenten.
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lerschaft Mühe, ihren Markenkern zu behaupten: „Wirtschaftskompetenz“ bei der Union, „Sozialkompetenz“ bei der SPD.22 Beide Parteien sollten ihre diesbezüglichen Kompetenzen nicht verwässern. Mit Lebensstilthemen wie dem Gendern kann die SPD- und die Unions-Wählerschaft wenig anfangen. Wer bloß auf das Abschneiden bei Wahlen schaut, lässt zwei für die Integrationskraft, die der Polarisierung entgegenwirkt, wesentliche Faktoren außer Acht. Da ist zum einen die sinkende Wahlbeteiligung. Sie hat viele Ursachen23 – eine liegt in der Unzufriedenheit mit den Volksparteien. Daher fällt deren Schwäche noch stärker ins Gewicht. Ein Extrembeispiel: Bei der letzten Landtagswahl 2019 in Thüringen erreichte die CDU 21,7 Prozent, die SPD 8,2 (Wahlbeteiligung: 64,9 Prozent). Damit stimmte für die beiden Parteien nicht einmal jeder fünfte Wahlberechtigte (exakt: 19,4 Prozent). Die Linke (31,0 Prozent) und die AfD (23,4 Prozent) kamen auf fast das Doppelte dieses Anteils (exakt: 35,3 Prozent). Zum anderen sind die Mitgliederverluste bei den Volksparteien dramatisch. Hatte die CDU Ende 1990 789.600 Mitglieder, so ist deren Zahl Ende 2020 mittlerweile auf 399.110 geschrumpft. Bei der SPD fällt die Diskrepanz noch drastischer aus: von 943.402 (1990) auf 404.305 (2020).24 Die Rekrutierungsfähigkeit der Volksparteien ist vor allem in den neuen Bundesländern schwach entwickelt und damit mehr als doppelt so 22 Vgl. Oskar Niedermayer, Die Erosion der Volksparteien, in: Zeitschrift für Politik 57 (2010), S. 270. 23 Vgl. Frank Decker/Marcel Lewandowski/Marc Solar, Demokratie ohne Wähler? Neue Herausforderungen der politischen Partizipation, Bonn 2013; Armin Schäfer, Der Verlust politischer Gleichheit. Warum die sinkende Wahlbeteiligung der Demokratie schadet, Frankfurt a. M. 2015. In den letzten Jahren profitierte die AfD von der wieder etwas gestiegenen Wahlbeteiligung. 24 Vgl. Oskar Niedermayer, Parteimitgliedschaften im Jahre 2020, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 53 (2021), S. 379 f. – dieser Trend hat sich 2021 fortgesetzt. Ende des Jahre 2021 gab es 384.204 CDU- und 393.722 SPD-Mitglieder. Siehe den Artikel: CDU verlor 2021 fast 15.000 Mitglieder, unter: handelsblatt.com, 18. Januar 2022 (zuletzt abgerufen am 15.7.2022).
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schwach wie in den alten. Das Durchschnittsalter der – drastisch formuliert – beiden „Rentnerparteien“ CDU und SPD liegt jeweils bei 61 Jahren.25 Der hohe Rückgang, der mehr auf Todesfälle als auf Austritte zurückgeht, ist freilich weniger parteienspezifisch. Auch andere Großorganisationen wie Kirchen und Gewerkschaften leiden unter starken Mitgliederverlusten wie unter Überalterung. Oft gilt „der Osten“ als Vorreiter für den Westen. Es wäre aber verkehrt, die seitherige Entwicklung vornehmlich als Reaktion auf die deutsche Einheit anzusehen.26 Der Osten hat bloß einen Trend verstärkt, der im Westen ohnehin im Gang war. Gesamtgesellschaftliche Prozesse wie Individualisierung, Wertewandel, veränderte Konfliktstrukturen und Säkularisierung förderten eine Abkehr von den mitunter ausgelaugten Volksparteien. Die stark gewachsene Fragmentierung ist eine Reaktion auf große Herausforderungen wie Klima- oder Migrationspolitik. In dem ersten Fall profitiert Bündnis 90/Die Grünen davon, in dem zweiten die AfD. Eine gewisse Polarisierung wohnt dem inne. Die notorische Schwäche der Volksparteien ist nicht nur beim Wahlverhalten erkennbar (weniger Stamm-, mehr Wechsel- und Nichtwähler), sondern hat auch missliche Konsequenzen für die Regierungsbildung. In der Bundesrepublik führten Wahlen vor der deutschen Einheit zu klaren Verantwortlichkeiten. Der Wähler wusste in der Regel, was mit seiner Stimme geschieht. Das galt für den Bund wie für die Länder.27 Wenn das Wahlergebnis nicht für eine Einparteienregierung reichte, bildete eine Volkspartei mit einer kleinen Partei, in der Regel der FDP, eine Vgl. Niedermayer, Parteimitgliedschaften (Anm. 24), S. 390. Vgl. Klaus von Beyme, Der Osten kann zum Vorreiter des Westens werden! Ostdeutschland im Lichte der Sozialwissenschaften, in: Astrid Lorenz (Hrsg.), Ostdeutschland und die Sozialwissenschaften. Bilanz und Perspektiven 20 Jahre nach der Wiedervereinigung, Opladen 2011, S. 43– 57. 27 Vgl. Uwe Jun, Koalitionsbildung in den deutschen Bundesländern. Theoretische Betrachtungen, Dokumentation und Analyse der Koalitionsbildung auf Länderebene seit 1949, Wiesbaden 1994. 25 26
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Koalition. Mittlerweile sind Dreier-Bündnisse, zumal im Osten, oft die Folge des Abschmelzens der Volksparteien – so gegenwärtig in acht der 16 Bundesländer. Mehr Parteien im Parlament führen zu mehr Parteien in der Regierung. Koalitionsquerelen nehmen dann zu, zumal lagerexterne Regierungen oft unausweichlich werden. Was paradox anmutet: Die Schwäche der Volksparteien begünstigt erst recht deren Einbeziehung in die Regierung, weil wegen der Stärke von nicht als koalitionsfähig geltenden Randparteien, insbesondere der AfD, ansonsten keine Regierungsmehrheit zustande käme. Und dieser Sachverhalt führt zu Wählerverdruss. So ist die SPD nach der siebten Serie der Landtagswahlen im Osten (2016–2019) in allen Regierungen vertreten. Dabei brach sie überall mehr oder weniger ein: Der Abstrafungseffekt durch den Wähler schlägt nicht auf die Regierungsebene durch. So geht der für eine parlamentarische Demokratie charakteristische Dualismus von Regierung und Opposition verloren. Die Gründe für den augenscheinlichen Niedergang sind struktur- wie situationsbedingt, exogener und endogener Art. Zu den strukturellen Ursachen: Die Erosion des gewerkschaftlichen wie des konfessionellen Milieus trifft gleich in doppelter Hinsicht zu. Zum einen gilt dies für die quantitative Ebene (die Zahl der Gewerkschaftsangehörigen sinkt ebenso wie die der Kirchenmitglieder), zum anderen für die qualitative Ebene: Die Bindung der „Verbliebenen“ an ihr Milieu ist weniger intensiv als früher. Die geschwächte Parteiidentifikation resultiert wesentlich aus der Zunahme gesellschaftlicher Individualisierung, die die alte Lebenswelt verdrängt. So lauten die strukturellen Ursachen. Zu den situativen: Durch Abkehr von früheren Positionen sind vielfältige Repräsentationslücken entstanden.28 Angela Merkels Union hat 28 Vgl. Werner J. Patzelt, „Repräsentationslücken“ im politischen System Deutschlands. Der Fall PEGIDA, in: Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaften 13 (2015), S. 99–126; ders., Der 18. Deutsche Bundestag und die Repräsentationslücke. Eine kritische Bilanz, in: Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaften 15 (2017), S. 245–285; ders., Mängel in der Responsivität oder Störungen in der Kommunikation? Deutschlands
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ebenso die eigene Stammwählerschaft vernachlässigt wie die SPD, nicht erst unter Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans. Die Volksparteien konnten lange erfolgreich die Interessen der Bürger aggregieren, Konflikte kanalisieren, zwischen der staatlichen und der gesellschaftlichen Ebene schlichten, einen auf Kompromissen basierenden Interessenausgleich anstreben und für die Stabilität des demokratischen Verfassungsstaates einen wichtigen Beitrag leisten. Den Niedergang der Volksparteien umkehrbar zu machen, ist fürwahr eine Herkulesaufgabe. Große Koalitionen fördern zumeist, nicht immer, wider Willen Polarisierung. Der Begriff der Großen Koalition weist mittlerweile über die jeweilige Regierung hinaus. Deutschland ist, je nach Perspektive, ein Parteienstaat, ein Bundesstaat, ein Rechtsstaat, ein Sozialstaat, ein Koalitionsstaat, ein Kanzlerstaat, ein Sicherheitsstaat, mittlerweile auch ein „Staat der Großen Koalition“ (Manfred G. Schmidt) geworden. Gemeint ist damit die Dominanz von Kooperation. Sie wird gefördert durch das reine Verhältniswahlrecht. Deutschland hat ungeachtet des oft missverstandenen Zweistimmensystems29, entgegen manchen Annahmen, kein Mischwahlrecht. Wer diesen Terminus verwendet, kann ihn nur auf die Person und die Listen beziehen, nicht auf Verhältnisund Mehrheitswahl. Ferner: Durch die starke Rolle des Bundesrates bei der Gesetzgebung – zustimmungspflichtige Gesetze, also die wichtigen, und Verfassungsänderungen benötigen die Mehrheit bzw. die Zweidrittelmehrheit in dieser Kammer. Obwohl Union und SPD von 2013 bis 2021 im Bund eine Koalition bildeten, hatten sie im Bundesrat keine Mehrheit. Auch die jetzige DreierkoaliRepräsentationslücke und die AfD, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 49 (2018), S. 885–893. 29 Vgl. Rüdiger Schmitt-Beck, Denn sie wissen nicht, was sie tun . . . Zum Verständnis des Verfahrens der Bundestagswahl bei westdeutschen und ostdeutschen Wählern, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 24 (1993), S. 393–415.
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tion verfügt dort über keine Mehrheit. Aushandlungsprozesse zwischen den Regierungs- und Oppositionsparteien sind daher unvermeidlich. So verwässern die Verantwortlichkeiten, und die Zurechenbarkeiten einer Entscheidung erschließen sich dem Wähler nicht. Oft findet dann eine Einigung auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner statt. Das wiederum fördert Missmut und indirekt Polarisierung. V. Polarisierung durch die beiden Randparteien? Die Programmatik dieser Randparteien steht vielfach in einem Spannungsverhältnis zum demokratischen Verfassungsstaat, wenngleich dies in den Wahlprogrammen der AfD und der Partei Die Linke im Vorfeld der Bundestagswahl 2021 nur begrenzt zum Ausdruck gekommen war. Manchmal formulierte die AfD schärfer. So forderte sie, zum Ärger der europäischen Rechtsparteien, den „Dexit“ 30, während der Partei Die Linke ein „sozialer und ökologischer Systemwechsel in Europa“ 31 genügte. Zuweilen argumentierte Die Linke entschiedener. Sie wollte den Verfassungsschutz abschaffen und ihn durch eine unabhängige „Beobachtungsstelle Autoritarismus und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ 32 ersetzen – die AfD drängte bloß auf eine grundlegende Reform des Verfassungsschutzes. Befürwortete die AfD eine äußerst restriktive Migrationspolitik nach japanischem Modell (bei der begrenzten Aufnahme soll der kulturelle wie religiöse Hintergrund von Relevanz sein) und lehnte jeglichen Familiennachzug für Flüchtlinge strikt ab, verfocht Die Linke ohne Wenn und Aber „offene Grenzen für alle Menschen“.33 Mit Blick auf Corona prangerte Die Linke die soziale Schieflage an, die AfD die als übertrieben geltenden Schutzmaßnahmen. Es gab freilich nicht nur Unterschiede, son30 Vgl. Deutschland, aber normal. Programm der Alternative für Deutschland für die Wahl zum 20. Deutschen Bundestag, Berlin 2021, S. 29 f. 31 Vgl. Zeit zu handeln. Für soziale Sicherheit, Frieden und Klimagerechtigkeit. Wahlprogramm der Partei Die Linke, Berlin 2021, S. 147. 32 Ebd., S. 118. 33 Ebd., S. 113.
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dern auch auffallende Affinitäten. Im Vergleich zu den etablierten Parteien standen AfD wie Die Linke Russland nahe und den USA fern. Wer diesen Parteien unterstellt, sie kultivierten ein Feindbild gegenüber den USA und ein Freundbild gegenüber Russland, übertreibt wohl. Was jedoch zutrifft: Sie sind außenpolitisch unsichere Kantonisten. Das belegt zumal die Haltung gegenüber der russischen Aggression in der Ukraine. Die Linke und die AfD sind intern zerstritten. Bei der Partei Die Linke tobt ein Streit zwischen „Soziallinken“, für die Sahra Wagenknecht steht34, und „Kulturlinken“, bei der AfD einer zwischen Radikalen und Gemäßigten. Gab der bisherige Co-Vorsitzende Jörg Meuthen im Oktober 2021 bekannt, nicht wieder zu kandidieren, so verließ er (im Januar 2022) sogar ganz die eigene Partei wegen extremistischer Tendenzen. Es gibt also bei beiden Parteien eine innerparteiliche Polarisierung, die ihnen schadet. Der Verfassungsschutz beobachtet extremistische Teilstrukturen der Parteien, wobei der (formal aufgelöste) Flügel bei der AfD intern über deutlich mehr Gewicht verfügt als etwa die Kommunistische Plattform bei der Partei Die Linke. Die Aussage, Die Linke habe sich entradikalisiert, die AfD radikalisiert, stimmt zwar, ist angesichts der Ausgangslage aber lediglich die halbe Wahrheit. Schließlich war die postkommunistische Kraft anfangs im Kern antidemokratisch und die AfD in der Gründungsphase im Prinzip demokratisch. Mittlerweile sind die beiden Parteien in puncto „Systemfrage“ in einer Art Grauzone angesiedelt. Es ist eine offene Frage, ob der Verfassungsschutz durch seine Interventionen gemäßigte Kräfte wirklich stärkt oder diese nicht vielmehr zum Rückzug veranlasst. So würde der Verfassungsschutz das Gegenteil des Angestrebten erreichen und ohne Not eine missliche Polarisierung begünstigen.
34 Vgl. das für viele Repräsentanten der Partei Die Linke provozierende Buch von Sahra Wagenknecht, Die Selbstgerechten. Mein Gegenprogramm – für Gemeinsinn und Zusammenhalt, Frankfurt a. M./New York 2021. Hier rechnet die Autorin ab mit der „Lifestyle“-Linken, die sie nicht bloß in der eigenen Partei verortet.
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Die beiden Kräfte, nicht nur in politischer Hinsicht Randparteien, sondern auch in gesellschaftlicher, stehen im Bund weithin ohne Machtoption da – für Die Linke gilt dies allerdings nur in begrenztem Maß. Freilich verhindert die parlamentarische Existenz dieser Kräfte schwarz-gelbe oder rot-grüne Mehrheiten. Der gemäßigte Pluralismus des Parteiensystems wird durch sie jedenfalls teilweise in Frage gestellt. Beide Parteien schneiden in den neuen Bundesländern deutlich besser als in den alten ab, mehr als doppelt so gut. Bei der Bundestagswahl 2021, bei der sie jeweils Einbußen hinnehmen mussten (die AfD sank von 12,6 auf 10,3 Prozent, Die Linke von 9,2 auf 4,9 Prozent35), erhielt die AfD im Osten 20,5 Prozent (im Westen 8,2) und Die Linke 10,4 Prozent (im Westen 3,7). Die Ursachen liegt zum einen in der Zeit vor 1990 (Die Linke profitierte von der SED, die AfD vom Fehlen einer 68erBewegung in der DDR), zum andern in der Zeit nach der deutschen Einheit: Die wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Probleme bei der Konsolidierung der Demokratie nützen solchen Protestparteien. Die politische Ausrichtung ist gegenläufig: Nimmt die AfD im Osten eine deutlich radikalere Position als Die Linke ein, fällt das Urteil über den Westen umgekehrt aus. Die Linke gehört in den neuen Bundesländern in gewisser Weise (und schon länger) zum Establishment36 – im Freistaat Thüringen stellt sie seit 2014 mit dem leutselig wirkenden Bodo Ramelow sogar den Ministerpräsidenten, in Berlin (seit 2016) und Mecklenburg-Vorpommern (seit 2021) regiert sie mit. Jeweils der Hauptgrund: Aus der einstigen Protestpartei ist im Osten eine vielfach akzeptierte „Mitmach“-Partei geworden, aus der AfD eine „Dagegen“-Partei.
35 Wegen des Gewinns dreier Direktmandate gelangte sie als Fraktion trotzdem in den Bundestag. 1994 war die PDS mit 4,4 Prozent auch im Parlament vertreten, aber nur in Gruppenstärke, da sie den Mandatsanteil von fünf Prozent verfehlt hatte. 36 Vgl. Thorsten Holzhauser, Die „Nachfolgepartei“. Die Integration der PDS in das politische System der Bundesrepublik Deutschland 1990– 2005, Berlin/Boston 2019.
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Selbst in Bremen agiert Die Linke als Juniorpartner der SPD und der Grünen, ohne dass dies zu öffentlichem Unmut führt. Hingegen würde bereits der vorsichtige Versuch, die AfD als Tolerierungspartner in Erwägung zu ziehen, in den Reihen der Union und der FDP heftigen Protest auslösen – geharnischtes Aufbegehren der SPD, der Grünen und der Partei Die Linke wäre unausweichlich. Die Strategie der meisten etablierten Kräfte gegenüber der Partei Die Linke ist inklusiver (seit 2013 halten SPD und Grüne Die Linke auf Bundesebene für prinzipiell koalitionsfähig), gegenüber der AfD exklusiver Natur. Somit fehlt es an Äquidistanz im Umgang mit den beiden Randparteien – und zugleich an Liberalität, jedenfalls gegenüber der AfD. Der Vorwurf der „false balance“ führt nicht weiter, da die Analogien offen zutage liegen. Beim plakativen „Kampf gegen rechts“, der zu einer einseitigen Polarisierung führt, fällt die Differenzierung „rechts“, „rechtsextrem“ und „rechtsterroristisch häufig genug unter den Tisch wie auch eine andere: Nicht jeder Antifaschismus fußt auf demokratischen Prinzipien, schon gar nicht der militante.37 Ein Beispiel für die Strategie „alle gegen einen“, die keiner angemessenen Streitkultur entspricht: Es ist kein Ruhmesblatt für die etablierten Parteien, wenn die Abgeordneten des Deutschen Bundestages zwischen 2017 und 2021 sechs Kandidaten der AfD bei der Bewerbung um das Amt des Vizepräsidenten jeweils dreimal durchfallen ließen – ohne konkrete Vorwürfe gegenüber der Person. Und auch im neuen Bundestag, im Oktober und Dezember 2021, verfehlte der AfD-Kandidat Michael Kaufmann, zuvor Landtagsvizepräsident in Thüringen, die Mehrheit klar. Wer dies anprangert, muss den Vorwurf hinnehmen, die Sache der AfD zu vertreten. Tatsächlich besteht ein Gebot der Fairness, schlägt doch Abgrenzung vielfach in Ausgrenzung um. Hier geht die Polarisierung von den etablierten Kräften aus – und zwar ohne Not. Sie zeitigt zudem kontraproduktive Konsequenzen. Ein weiteres Beispiel: Im Sommer 2017 beschlossen 37 Vgl. beispielsweise Eckhard Jesse, Antifaschismus – gestern und heute, in: Totalitarismus und Demokratie 18 (2021), S. 89–119.
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Union und SPD (gegen die Stimmen der Grünen und bei Enthaltung der Abgeordneten der Partei Die Linke), Alterspräsident des Deutschen Bundestages solle nicht mehr der an Jahren älteste Abgeordnete sein, sondern das dem Parlament am längsten angehörende Mitglied. Die (offenkundig vorgeschobene) Begründung: Der Alterspräsident müsse parlamentarische Erfahrung besitzen. Ohne Änderung wäre nämlich Wilhelm von Gottberg aus den Reihen der AfD Alterspräsident geworden, nicht Wolfgang Schäuble. Solche leicht durchschaubaren Geschäftsordnungstricks sind inakzeptabel.38 Deutschlands Gesellschaft ist durch zwei Konfliktlinien gekennzeichnet39: Die sozioökonomische zielt auf den Grad der Interventionen des Staates in die Wirtschaft. Hier besetzt Die Linke den einen Pol. Sie befürwortet staatliche Eingriffe, im Gegensatz zum Pendant der FDP, während die AfD bei der verteilungsbezogenen Dimension laviert und keine Extremposition einnimmt. Mit Blick auf die soziokulturelle Konfliktlinie, die die wertebezogene Dimension betrifft, den Grad der Liberalität, siedelt die AfD an dem einen Extrem („autoritär), Bündnis 90/ Die Grünen an dem anderen („libertär)40 – Die Linke dazwischen. Somit liegen die Hauptgegensätze zum einen zwischen der Partei Die Linke und der FDP, zum anderen zwischen den Grünen und der AfD. Die Linke und die AfD sind bei den cleavages nicht unmittelbare Widersacher. Während aggressiver Antifaschismus der Partei Die Linke die AfD attackiert, fällt deren Antikommunismus eher schwach aus. Hingegen liegen diese Parteien dicht zusammen, wird eine dritte Dimension einbezo-
38 Selbstverständlich ist auch eine Dienstaltersregelung vertretbar, aber die Art und Weise der Änderung wies ein Geschmäckle auf. Wenn ein Kandidat im Ruch steht, Extremist zu sein, lebt die Diskussion auf. Vgl. zur Thematik: Benedikt Brunner, Der Alterspräsident. Ein Konstituierungsreglement und seine Alternativen, Wiesbaden 2012. 39 Vgl. etwa Oskar Niedermayer, Die Analyse von Parteiensystemen, in: Ders. (Hrsg.), Handbuch Parteienforschung, Wiesbaden 2013, S. 83– 117. 40 Diese vielfach verwendeten Termini lassen eine positive Konnotation für „libertär“ erkennen und eine negative für „autoritär“.
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gen: die Haltung zur „Systemfrage“. Was für die anderen Bundestagsparteien gilt, trifft auf die AfD und Die Linke so nicht zu: eine unverbrüchliche Akzeptanz des demokratischen Verfassungsstaates. VI. Teils polarisierte, teils stickige Debattenkultur Die Diagnose zur politischen Debattenkultur fällt nicht durchweg positiv aus. Ihr folgt die Ursachenforschung, bezogen auf die Frage nach der mangelnden Debattenkultur, die zum Teil zwischen polarisierender Auseinandersetzung und stickigem Harmoniedenken changiert? Eine monokausale Herleitung ist auch in diesem Fall verkehrt. Die Annahme, eine spezifische Sicht sei „gefährlich“, verkennt den Sinn wissenschaftlicher, publizistischer und politischer Diskurse, für die triftige Argumente zählen. Eine stickige Debattenkultur lähmt, führt nicht zu offener Diskussion, lässt ein harmonistisches, wenig entfaltetes Demokratieverständnis erkennen. In Deutschland muss stärker eine ernsthafte Diskussion über Probleme, die Bürger bewegen, Einzug halten. Warum etwa blieb eine offensive Information durch die Bundesregierung über den UN-Migrationspakt aus? So ist Verschwörungsmythen nicht der Boden zu entziehen, wird Polarisierung nicht abgebaut. Eine Konsenskultur führt keineswegs zu mehr Liberalität und Weltoffenheit, fördert vielmehr Bunkermentalität. Ein deutlicheres Pro und Kontra, sofern es nicht Ressentiments schürt, nützt der Demokratie, baut Polarisierung ab. Das gilt auch und gerade für brisante Themen wie die Migrationsfrage, die Klimafrage, die Coronafrage. Die hiesige Debattenkultur lässt also zu wünschen übrig: zum einen dadurch, dass oft brisante Themen, die in der Bevölkerung rumoren, nicht in die Öffentlichkeit gelangen; zum anderen dadurch, dass ein polarisierendes Freund-Denken um sich greift. Beide Sichtweisen lassen kein angemessenes Konfliktverständnis erkennen. Der Geist der Liberalität bleibt hier auf der Strecke.41 41 Vgl. Jürgen W. Falter/Eckhard Jesse, Räume der Freiheit statt Safe Spaces, in: Cicero, Heft 8/2021, S. 40–44.
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Wer angesichts der Komplexität diverser Materien von „Alternativlosigkeit“ spricht, stellt sich ein Armutszeugnis aus, leugnet den Handlungsspielraum. Schließlich gibt es immer – nicht unbedingt bessere – Alternativen. Viele befürchten Ausgrenzung, wenn sie Positionen vertreten, die von einer „herrschenden Meinung“ abweichen. Sie haben dann eine „Schere im Kopf“. Der Druck (ob eingebildet oder nicht) geht nicht vom Staat aus, sondern von der Gesellschaft. Duckmäusertum schadet der liberalen Demokratie.42 Umgekehrt hat, gefördert durch soziale Medien, Polarisierung Einzug in die Debatten gehalten. Viele leben in ihrer „Blase“, sehen andere Positionen gar nicht mehr oder glauben ihnen nicht. Corona ist dafür ein Beispiel, Intoleranz weitverbreitet.43 Oft sind Verschwörungsmythen die Folge selektiver Wahrnehmung. Zwischen der lauen Debattenkultur einerseits und aggressiver Gereiztheit andererseits kann ein Zusammenhang bestehen. Allerdings geht unzivilisiertes Verhalten über Polarisierung hinaus. In Deutschland ist die Angst vor dem „Beifall von der falschen Seite“ verbreitet. Wer „ihn vermeiden will, muss konsequenterweise das Gegenteil der „falschen Seite“ machen. Und was heißt eigentlich „falsche Seite“? Ist diese Form des Dualismus einem demokratischen Verfassungsstaat angemessen? Polarisierung wird dadurch gefördert. Das ist ein Zeichen für eine höchst problematische Diskussionskultur.44 Argumente müssen zur Sprache kommen, unabhängig davon, ob sie dieser oder jener Seite nützen. Wer Furcht vor Vereinnahmung zeigt, macht seine Stellungnahmen dann indirekt von gegnerischen Positionen abhängig. Auf diese Weise erhöht sich die Polarisierung. Die Angst vor dem „falschen Beifall“ ist asymmetrisch. Wer die Zustimmung von links(außen) erhält, muss kaum mit Kritik 42 Vgl. beispielsweise Reinhard Mohr, In Deutschland breitet sich Duckmäusertum aus, in: Neue Zürcher Zeitung v. 16. Juli 2021, S. 13. 43 Vgl. etwa Joachim Gauck, in Zusammenarbeit mit Helga Hirsch, Toleranz: einfach schwer, Freiburg/Brsg. 2019. 44 Vgl. Rolf Schuler, Lasst uns Populisten sein. Zehn Thesen für eine Streitkultur, Freiburg/Brsg. 2019.
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rechnen. Wer freilich von rechts(außen) Anerkennung erfährt, gerät in die Defensive. Durch die Befürchtung, in die „rechte Ecke“ zu geraten, findet die eigene Position zuweilen nicht angemessen Ausdruck. Was ist vonnöten? Erstens: Oft steckt hinter dem ubiquitären Vorwurf der „Spaltung“ gegenüber dem jeweiligen Konkurrenten mangelnde Konfliktbereitschaft. Wer austeilt, muss einstecken können. Aber Lagermentalität tut nicht gut. Zweitens: Entscheidend für die Qualität einer Argumentation ist nicht, wer sie vorbringt und wo sie veröffentlicht wird. Was zählen sollte: die Stimmigkeit der jeweiligen Position. Motivforschung zu Aussagen zu betreiben, trägt nichts zur Sache bei. Drittens: Wer als Politiker, als Publizist, als Wissenschaftler in einer „Blase“ lebt, bekommt die Vielfalt der Argumente nicht mit. Deswegen kann es sinnvoll sein, miteinander zu reden. Freund-Feind-Denken verbietet sich. Viertens: Parteien täuschen mitunter Gegensätze vor, die gar keine sind. Bürger sollten Pseudopolarisierung Paroli bieten und nach dem Kern des Konflikts fragen. Nebensächlichkeiten vernebeln. Fünftens: Wer polarisiert, muss nicht von vornherein dem Radikalismus oder dem Fundamentalismus zuneigen. Fehlen Alternativen, bietet es sich an, vernachlässigte Positionen pointiert hervorzuheben. VII. Institutionelle Reformvorschläge Wie kann man die ungute Polarisierung in Grenzen halten und zugleich dafür sorgen, dass sich eine lebendige Demokratie zu entfalten vermag? Die Wettbewerbskultur lässt sich weiter durch institutionelle Reformen steigern. Einige Anregungen, die den Bereich der Parteien und der Wahlen betreffen45, mögen gegeben sein. 45 Vgl. hierzu auch Frank Decker, Wenn die Populisten kommen. Beiträge zum Zustand der Demokratie, Wiesbaden 2013; ders., Baustellen der Demokratie. Von Stuttgart 21 bis zur Corona-Krise, Bonn 2021.
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Erstens: Im Bundesrat müssen hinfort Enthaltungen wie Enthaltungen zählen – und nicht mehr wie Nein-Stimmen. So wächst die Wahrscheinlichkeit für gleiche Mehrheiten in beiden Kammern. Dies erhöht die Chance des „Durchregierens“ wie die Transparenz, und damit wohl auch die Zufriedenheit der Bürger. Zweitens: Ein aufgeblähtes Parlament fördert weder Arbeitsfähigkeit noch den Wettbewerbscharakter. Parteien handeln offenbar nach dem Motto, das Unmut provoziert: Wenn wir schon Stimmen verlieren, wollen wir die Mandate behalten. Polarisierung wird durch den längst fälligen Schritt der Parlamentsverkleinerung abgebaut. Drittens: Die Einführung einer Mehrheitsprämie für das siegreiche politische Parteienlager schwächt das konkordanzdemokratische Element, da dann lagerübergreifende Bündnisse ausbleiben. Die Wählerschaft wüsste so vor der Wahl, welchem Lager die eigene Stimme zugutekäme. Viertens: Jeder Stimmbürger sollte eine Nebenstimme erhalten, die dann zum Zuge kommt, wenn die gewählte Partei mit der Hauptstimme unter fünf Prozent bleibt. Auf diese integrative Weise würde Unzufriedenheit nachlassen. Bei der Bundestagswahl 2021 blieben 8,6 Prozent der Zweitstimmen unverwertet, bei der Bundestagswahl 2013 gar 15,7 Prozent. Fünftens: Die repräsentative Demokratie könnte durch die Volkswahl des Bundespräsidenten gewinnen. Die Bürgerschaft wäre einbezogen. Dann bliebe das aus, was jetzt dreimal passiert ist: Die staatstragenden Parteien (Union, SPD, Bündnis 90/Die Grünen, FDP) einigten sich auf einen Kandidaten. Es sei abschließend betont: Die „lebende Verfassung“ (Dolf Sternberger) vermag sich nicht mit institutionellen Reformen zu begnügen. Eine Bürgergesellschaft soll offen über die Werte des demokratischen Gemeinwesens wie Liberalität, Toleranz und Konfliktbereitschaft diskutieren. Dies dürfte Polarisierung abbauen, da der Wähler mehr Möglichkeiten der Partizipation erhält.
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VIII. Vergleich zu früher Wie gezeigt, ist es zu einfach, für die Entpolarisierung ausschließlich die großen Parteien in der Mitte verantwortlich zu machen und für die Polarisierung den Rand. Die politische Wirklichkeit ist komplexer. Wenn extremistische Parteien polarisieren, bedeutet das zugleich eine Chance zur demokratischen Mobilisierung für andere Kräfte. Die Geschichte der Weimarer Republik ist dafür kein Beispiel. Das Verhalten der „Großen“ kann desintegrierende Wirkungen entfalten, etwa durch mangelnde Kompromissfähigkeit. Dafür ist die Geschichte der Weimarer Republik ein bitteres Beispiel. Angesichts der tiefen, im kollektiven (Unter-)Bewusstsein verankerten Brüche, die das 20. Jahrhundert bestimmten, wundert das deutsche Sicherheitsbedürfnis nicht.46 „German Angst“ ist im Ausland zum Begriff geworden.47 Als nach den Vorgängen in Thüringen im Februar 2020 (der FDP-Politiker Thomas Kemmerich wurde auch mit den Stimmen der AfD-Abgeordneten zum Ministerpräsidenten gewählt) der frühere Bundesinnenminister Gerhart Baum den Satz „Ein Hauch von Weimar liegt über der Republik“ 48 fallen ließ, stimmten ihm viele zu. Es kann nicht oft genug wiederholt werden: Bonn war nicht Weimar, Berlin ist es auch nicht! Die Bundesrepublik Deutschland hat sich als lernende Demokratie erwiesen. Urteilskraft verbietet jede Parallelisierung zur Weimarer Republik, der ersten deutschen Demokratie. Deren Nieder- und Untergang dient(e) bisweilen als Hintergrundfolie für Ängste49, 46 Vgl. Eckart Conze, Die Suche nach Sicherheit. Eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von 1939 bis in die Gegenwart, München 2009. 47 Vgl. Frank Biess, Republik der Angst. Eine andere Geschichte der Bundesrepublik, Hamburg 2019. 48 Zitiert nach: „Ein Hauch von Weimar liegt über der Republik.“ Gerhart Rudolf Baum im Gespräch mit Christiane Kaess, unter: deutschlandfunk.de (5. Februar 2020; zuletzt abgerufen am 15.7.2022). 49 Vgl. Heinrich August Winkler (Hrsg.), Weimar im Widerstreit. Deutungen der ersten deutschen Republik im geteilten Deutschland, München 2002; Sebastian Ullrich, Der Weimar-Komplex. Scheitern der ersten
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vor allem in den Anfangsjahren der Bundesrepublik Deutschland. Diese Rückwärtsgewandtheit vernachlässigt aktuelle Gefährdungen und verkennt den fundamentalen Wandel. Die erste deutsche Demokratie war durch politisch und wirtschaftlich turbulente Krisenzeiten gekennzeichnet, durch eine Polarisierung höchsten Ausmaßes: Gleich in vierfacher Hinsicht fallen die Unterschiede krass aus. Erstens fehlen heute systematisch eingesetzte politische Gewalt und Massenarbeitslosigkeit, die seinerzeit das Klima aufheizten und vergifteten. Was einst an der Tagesordnung war, ist heute vor allem in einem randständigen Umfeld verankert: Hass, Hetze und Gewalt. Zweitens standen die etablierten Kräfte, unter ihnen viele „Herzensmonarchisten“, allenfalls halbherzig zum ungeliebten „System“, anders als heute. Es besteht bei allen Konflikten ein breiter Minimalkonsens, etwa über die Akzeptanz des staatlichen Gewaltmonopols. Drittens bedrohte das antidemokratische Potenzial von KPD und NSDAP die Existenz der Republik. Die Linke und die AfD sind zum einen schwächer und zum anderen nicht annähernd so aggressiv. Deren parlamentarische Existenz kann einerseits die Demokratie beleben und das Spektrum der Positionen verbreitern, andererseits aber Zeichen einer gewissen Akzeptanzkrise sein. Viertens ist Deutschland keine Schönwetterdemokratie. Das politische System ist gefestigt, nicht in erster Linie wegen der Konzeption der streitbaren Demokratie. „Die“ Deutschen haben ihre „Lektion“ gelernt. Auch die Konflikte zwischen Ostund Westdeutschen – nach über 40 Jahren der Trennung – tragen nicht den Keim der Spaltung in sich. Um den Bogen zum Beginn zu schlagen: Ungeachtet der hier geübten Kritik an vielfältigen Formen der Polarisierung ist die deutsche Demokratie nicht nur weit von „Weimarer Verhältnisdeutschen Demokratie und die politische Kultur der frühen Bundesrepublik Bundesrepublik, Göttingen 2009.
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sen“ entfernt50, sondern auch von den amerikanischen. Das gilt etwa auch für Identitätspolitik, die cancel culture oder für political correctness. Aber das ist ein teils ähnliches, teils anderes – leidiges – Thema.
50 Vgl. beispielsweise den überzeugenden Sammelband von Andreas Wirsching/Berthold Kohler/Ulrich Wilhelm (Hrsg.), Weimarer Verhältnisse? Historische Lektionen für unsere Demokratie, Ditzingen 2018.
Wahlen in polarisierten Zeiten Aktuelle Entwicklungen im Wahl- und Wahlprüfungsrecht Von Heinrich Lang I.
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38
II.
Aktuelle Fragestellungen und Herausforderungen des Wahlrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 1. Die Wahlrechtsreform des Jahres 2020 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 a) Vorgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 b) Kerngedanken der Reform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 aa) Reduzierung der Zahl der Wahlkreise . . . . . . . . . . . . . . 44 bb) Mittelwertbildung und Teilgarantie der Listenmandate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 cc) Zulassung von bis zu drei ausgleichslosen Überhangmandaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 c) Zur Wirkung der Reform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 2. Überkommene Kritik und neue Frontstellungen . . . . . . . . . . . 48 a) Die Diskussion um die ausgleichslosen Überhangmandate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 b) Anforderungen an die Bestimmtheit wahlrechtlicher Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 3. Alternativen zum gegenwärtigen Sitzzuteilungsverfahren . . . 56 a) Stärkere Reduktion der Anzahl der Wahlkreise . . . . . . . . . 56 b) Kompensationsmodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 c) Streichung von Direktmandaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 d) Grabenwahlsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 4. Absenkung des Wahlalters und Parité . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66
III. Wahlprüfungsrechtliche Spannungslagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 1. Überblick über den wahlrechtlichen Rechtsschutz . . . . . . . . . 70 a) Rechtsschutz vor Durchführung der Wahl . . . . . . . . . . . . . . 70
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IV.
Heinrich Lang b) Rechtsschutz nach Durchführung der Wahl . . . . . . . . . . . . 2. Spezialität des Wahlprüfungsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Funktion der Wahlprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Sinn und Zweck des wahlprüfungsrechtlichen Ausschließlichkeitsanspruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Rechtsschutzdefizite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Nachbesserungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Notleidende Tenorlösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Teilaufgabe des Spezialitätsgrundsatzes . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Abstrakte Normenkontrolle nicht von § 49 BWG erfasst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Keine Anwendung des § 49 BWG bei mandatsrelevanten Fallkonstellationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Defizite, Gefahren und Hoffnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zum Verhältnis von Parlament und Bundesverfassungsgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Mär von der Achtung der gesetzgeberischen Entscheidungsprärogative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Mär von der Entscheidung in eigener Sache . . . . . . . . 2. Fromme Hoffnung: Judical self restraint . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Einleitung Über das Wahlrecht wird gesagt, an ihm hänge das Heil der Demokratie1 und wer es gestalte oder reformiere, operiere deshalb an deren Herzkammer.2 Ob das für alle wahlrechtlichen Regelungen gilt, kann hier dahinstehen. Jedenfalls aber das in § 6 BWG geregelte Sitzzuteilungsverfahren hat in der Tat einen starken Bezug zur Machtfrage. Seine konkrete Ausgestaltung kann durchaus über die Anzahl der von der jeweiligen Partei 1 Vgl. José Ortega y Gasset, Der Aufstand der Massen, 1956, S. 117: „Das Heil der Demokratien, von welchem Typus und Rang sie immer seien, hängt von einer geringfügigen technischen Einzelheit ab: vom Wahlrecht. Alles andere ist sekundär.“ 2 Henner Jörg Boehl, Wahlrecht und Volksparteien, Die Politische Meinung Heft 1/2 2012, S. 85.
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erreichten Sitzzahl entscheiden und mehrheitsrelevant werden. Plastische Beispiele: Die Regelungen über die sog. 5%-Hürde sowie die Grundmandateklausel in § 6 Abs. 3 S. 1 BWG. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass im Bundestag stets das Bestreben bestand, das Wahlrecht möglichst konsensual zu regeln. Das hat Erfolg gehabt soweit es sich um die Festlegung des Wahlsystems der personalisierten Verhältniswahl handelt. Die in § 1 Abs. 1 S. 2 BWG normierte mit der „Personenwahl verbundene Verhältniswahl“ ist allgemein anerkannt und hat dem Deutschen Wahlrecht international einen guten Ruf eingebracht; es wurde und wird sogar als Vorbild genommen.3 Leider hat sich aber in den letzten Jahren ein Konsens in Wahlrechtsfragen nicht immer herstellen lassen.4 Kontroversen entstanden trotz der erwähnten Akzeptanz des Wahlsystems schon bei der Frage, ob es sich dabei um ein Mischsystem handele; der Streit gipfelte in der verfassungsrechtlichen Beurtei-
3 Paradigmatisch für diese Sichtweise etwa das Vorwort der von Joachim Behnke/Frank Decker/Florian Grotz/Robert B. Vehrkamp/Phillip Weinmann herausgegebenen Studie „Reform des Bundestagswahlsystems. Bewertungskriterien und Reformoptionen, 2017, S. 9: „Das Wahlsystem des Deutschen Bundestages hat sich über Jahrzehnte bewährt. Das Grundprinzip der personalisierten Verhältniswahl genießt bei den Wählerinnen und Wählern und vielen Expertinnen und Experten in Deutschland einen guten Ruf. Auch international gilt das deutsche Wahlsystem als Modell und Vorbild für andere Länder.“; s. a. Dieter Nohlen, Wahlrecht und Parteiensystem, 7. Aufl. 2014, S. 394: „Dem Wahlsystem der Bundesrepublik wird man wohl bescheinigen dürfen, dass es sich bewährt hat . . .“. 4 Und ein solcher Konsens scheint zusehends zu zerbrechen. Nach einer Meldung des Tagesspiegels vom 20.September 2021 (https://www. tagesspiegel.de/politik/spd-verliert-ein-wenig-umfrage-sieht-leichten-zu gewinn-fuer-union/27555758.html; zuletzt abgerufen am 15.7.2022) wollen SPD, FDP und Grüne nach der Bundestagswahl eine Wahlrechtsreform ohne Union angehen; die derzeitige Rechtslage beim Wahlrecht sei nur eine Zwischenlösung sagte der SPD-Fraktionsgeschäftsführer Carsten Schneider. Die aus CDU/CSU und SPD zusammengesetzte Koalition hatte das 25. Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes gemeinsam erarbeitet und die SPD hatte dem Gesetz zugestimmt.
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lung der mit dem System der personalisierten Verhältniswahl verbundenen sog. Überhangmandate.5 Sie waren schon dem Parlamentarischen Rat bekannt und wurden erstmals in einer Entscheidung des Bundesverfassungsgericht aus dem Jahre 1963 zur Wahlkreiseinteilung6 erwähnt. Die einschlägige Juris-Benamung weist sodann insgesamt fünf „echte“ Überhangmandateentscheidungen auf. Sie stammen aus den Jahren 19887, 1997 (die berühmte 4:4-Entscheidung)8, 19989, 200810 und zuletzt 201211. 2012 sah so aus, als habe das Bundesverfassungsgericht mit der Zulassung von bis zu 15 ausgleichslosen Überhangmandaten den juristischen Streit entschieden12 und das im weitgehenden parlamentarischen Konsens13 geschaffene Wahlrecht des Jahres 2013 den politischen Streit beendet. Allerdings hat sich diese Gewissheit durch eine zuletzt mit einem Eilantrag verbundene abstrakte Normenkontrollklage gegen das geltende Wahlrecht und die zwischenzeitlich dazu ergangene Eilentscheidung des Bundesverfassungsgerichts14 wieder verflüchtigt.
5 Diskussion und Nachweise zu Befürwortern und Gegnern der Überhangmandate bei Heinrich Lang, in: Bernd Grzeszick/ders., Wahlrecht als materielles Verfassungsrecht, S. 62 ff., 63 mit Anm. 236. 6 BVerfGE 16, 130 (139 f.) – Wahlkreiseinteilung. 7 BVerfGE 79, 169 (172) – Überhangmandate I. 8 BVerfGE 95, 335 (358) – Überhangmandate II. 9 BVerfGE 97, 317 (323) – Überhangmandate III. 10 BVerfGE 121, 266 – Überhangmandate IV, negatives Stimmgewicht I. 11 BVerfGE 131, 316 ff. – negatives Stimmgewicht II, Überhangmandate V. 12 BVerfGE 131, 316 ff. – negatives Stimmgewicht II, Überhangmandate V. 13 Als einzige Fraktion stimmte Die Linke in der dritten Lesung gegen das Gesetz. 14 BVerfG, NVwZ 2021, S. 1525 – Eilantrag zum Bundeswahlgesetzänderungsgesetz abgelehnt.
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II. Aktuelle Fragestellungen und Herausforderungen des Wahlrechts 1. Die Wahlrechtsreform des Jahres 2020 a) Vorgeschichte Das derzeit geltende Wahlrecht trat im November 2020 in Kraft.15 Die Novelle stellte eine Reaktion auf die Entwicklung der Bundestagsgröße dar, wie sie seit 2013 – also seit der 22. Wahlrechtsreform – eingetreten war. Seit 2013 mediatisierte das Bundeswahlgesetz Überhangmandate in einem Verfahren der Sitzzahlerhöhung, das zu einem Vollausgleich führte. Dies war erforderlich, um die Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts umzusetzen, dass grundsätzlich allein die Zweitstimme als maßgebende demokratische Richtgröße über die relative Kräfteverteilung im Parlament entscheidet. Der Streit um ausgleichslose Überhangmandate war damit beigelegt, doch führte der Vollausgleich zu einer Hausgröße von 709 Abgeordneten. Das ist – nicht frei von Populismus – skandalisiert worden, in dem der Bundestag mit dem chinesischen Volksdeputiertenkongress verglichen16 und seine Arbeitsfähigkeit in Frage gestellt wurde. Die angebliche Funktionsunfähigkeit eines „aufgeblähten“ Parlaments17 wird dabei stets gerne
15 25. Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom 14. November 2020 (BGBl. I S. 2395). 16 Sophie Schönberger, Auf dem Weg zum Nationalen Volkskongress – warum die Geschichte der personalisierten Verhältniswahl auserzählt ist, Verfassungsblog v. 5. April 2019, https://verfassungsblog.de/auf-demweg-zum-nationalen-volkskongress-warum-die-geschichte-der-personali sierten-verhaeltniswahl-auserzaehlt-ist (zuletzt abgerufen am 15.7.2022). 17 Wenig beachtet bleibt, dass bezogen auf die Bevölkerungszahl bezogen, der Bundestag fast das kleinste Parlament innerhalb der Europäischen Union ist. Die höchste Abgeordnetendichte pro Einwohner und damit Platz l in der EU belegt Malta (dort kommt auf 6.671 Einwohner ein Abgeordneter), gefolgt von Belgien (7.567) und Luxemburg (9.844). Deutschland liegt mit 116.770 Einwohnern pro Abgeordneten auf Platz 27, nur in Spanien ist der Wert noch höher (133.486). Frankreich belegt Platz 26 (l16.100), die Niederlande Platz 25 (113.867), das Vereinigte Kö-
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behauptet18, belegt wurde sie freilich nie. Zu Recht hat jüngst Sebastian Kluckert festgehalten, dass die Größe des Parlaments eine in erster Linie politisch zu entscheidende Frage darstelle, die verfassungsrechtlich nicht vorgegeben19 und allenfalls im derzeit offensichtlich nicht gegebenen Fall der Funktionsunfähigkeit zu einem verfassungsgerichtlichen Eingreifen führen könne.20 Die medial aufbereitete Größenkampagne hat indes Wirkung entfaltet und das Parlament zu einer erneuten Korrektur des Wahlrechts veranlasst. Selbstredend stießen dabei die alten Frontlinien zwischen Mehrheits- und Verhältniswahl bzw. die Folgen deren Kombination in der personalisierten Verhältniswahl in Gestalt der sog. Überhangmandate aufeinander und nigreich Platz 24 (101.600). Im Durchschnitt kommt in der EU auf 48.119 Einwohner ein Abgeordneter. 18 Etwa die Stellungnahme von Robert Vehrkamp anlässlich der öffentlichen Anhörung des Innenausschusses am 5. Oktober 2020 in Berlin zum Gesetzentwurf zur Änderung des Bundeswahlgesetzes der Fraktionen CDU/CSU und SPD (BT-Drs. 19/22504), S. 2: . . . dass eine Vergrößerung des Bundestages über 709 Abgeordnete hinaus seine Arbeits- und Handlungsfähigkeit und die Akzeptanz des Parlaments in der Bevölkerung beeinträchtigen könnte“; neuerdings vermutet ders. einen „aufgeblähten“ Bundestag mit bis zu 1000 Abgeordneten, vgl. SPON vom 9. August 2021, https://www.spiegel.de/politik/deutschland/bundestagkoennte-auf-bis-zu-1000-abgeordnete-wachsen-a-ccd949f7-da0f-4677-bc6 1-39aa8064c0cf (zuletzt abgerufen am 15.7.2022); vgl. auch Joachim Behnke, SPON v. 7. September 2021, https://www.spiegel.de/politik/ deutschland/bundestag-der-drohende-riesenbundestag-und-wie-er-nochverhindert-werden-kann-a-7c71863d-2a68-4f98-bb57-63bf111169a2 (zuletzt abgerufen am 15.7.2022) mit der nun wirklich kaum haltbaren These „Allgemein wird angenommen, dass die Funktionsfähigkeit des Parlaments unter einem zu großen Umfang desselben leiden könnte“, denn das wird jedenfalls bei der gegenwärtigen Größe nicht allgemein angenommen, sondern von manchen behauptet. 19 Sebastian Kluckert, Das Grabenwahlrecht auf dem Prüfstand der Verfassung, NVwZ 2020, S. 1217 (1218) „. . . kein verfassungsrechtliches Problem“; zuvor auch schon Heinrich Lang, Mysterien des Rechts, GreifR 2019, S. 76 (82). 20 Die Ergebnisse der am 26. September 2021 durchgeführten Bundestagswahl führten zu insgesamt 736 Abgeordnetensitze im Deutschen Bundestag. Das damit dessen Funktionsfähigkeit in Frage gestellt sei, lässt sich kaum ernsthaft behaupten.
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so zerbrach der Konsens, der noch im Jahre 2013 weitgehend hergestellt werden konnte.21 b) Kerngedanken der Reform Die Wahl der Abgeordneten des Deutschen Bundestages, der „vorbehaltlich der sich aus dem Gesetz ergebenden Abweichungen“ aus 598 Abgeordneten (§ 1 Abs. 1 S. 1 BWG) besteht, erfolgt aufgrund von § 1 Abs. 1 S. 2 BWG nach den Grundsätzen einer mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl.22 Umgesetzt wird diese Entscheidung für die personalisierte Verhältniswahl durch das Zweistimmensystem des § 4 BWG. Bis einschließlich der Wahl zum 20. Deutschen Bundestag wurde die Hälfte der in § 1 Abs. 1 S. 1 BWG genannten 598 Abgeordneten in Wahlkreisen gewählt.23 Die Wahl im Wahlkreis folgt den Regeln des relativen Mehrheitswahlrechts, so dass gewählt ist, wer die meisten Stimmen erhält (§ 5 BWG). Die (insgesamt) zu vergebenden Sitze werden nach den Maßgaben des § 6 BWG auf die Landeslisten der Parteien entsprechend des je erreichten Zweitstimmenanteil verteilt. Hierbei bestimmt § 6 Abs. 4 S. 1 BWG, dass bei der Verteilung der Abgeordnetensitze auf die Parteien die Wahlkreismandate auf die den Landeslisten zustehenden Sitze angerechnet werden. Gewinnen die Wahlbewerber einer Partei in einem Land nach Erststimmen schon mehr (Direkt)Mandate als der Partei aufgrund des Zweitstimmenproporzes Sitze zustehen würden, entstehen Überhangmandate. Sie erhöhen wegen der Garantie des § 6 Abs. 4 S. 2 BWG regelmäßig die in § 1 Abs. 1 S. 1 BWG angesprochene Mitgliederzahl des Parlaments von 598 Abgeordneten. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind Überhangmandate mit
Siehe nur BT-Drucks. 17/11819. Für das damit im Bundeswahlgesetz verankerte Wahlsystem hat sich die Bezeichnung personalisierte Verhältniswahl eingebürgert. 23 Künftig wird dieses Verhältnis asynchron, so dass lediglich 280 Abgeordnete in Wahlkreisen gewählt werden. 21 22
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Beeinträchtigungen der Erfolgswertgleichheit verbunden und nur in begrenztem Ausmaß zulässig.24 Auf diese Rechtsprechung hat der Gesetzgeber reagiert. Bei der im November 2020 erfolgten Reform des Bundeswahlgesetzes stehen zwei Aspekte im Vordergrund: Das bewährte und verfassungsrechtlich unbestrittene System der personalisierten Verhältniswahl soll beibehalten und zugleich dem seit dem Vollausgleich aller Anfangsüberhänge beobachteten Aufwuchs der Sitzzahlen im Deutschen Bundestag entgegentreten werden.25 Zur Zielerreichung werden drei Begrenzungsansätze miteinander kombiniert. Es wird ab 2024 die Anzahl der Wahlkreise reduziert, es wird der Bedarf an zu kompensierenden Überhängen durch die mit der Mittelwertbildung verbundene interne Kompensation begrenzt und das Gesetz lässt bis zu drei ausgleichslose Überhangmandate zu. aa) Reduzierung der Zahl der Wahlkreise Die Anzahl der Wahlkreissitze wird ab 2024 von 299 auf 280 verringert. Die Reduzierung der Anzahl der Wahlkreise wird als probates Mittel gesehen, die nach der Rechtsprechung bei Überhangmandaten bestehenden Proporzbeeinträchtigungen zu mediatisieren und gleichzeitig die Anzahl der Abgeordneten im Deutschen Bundestag nicht zu stark anwachsen zu lassen.26 Hintergrund dieser Überlegungen ist, dass weniger Wahlkreise zu weniger gewählten Direktkandidaten und damit zu ei24 BVerfGE 131, 316 (364, 366) – negatives Stimmengewicht II, Überhangmandate V. 25 BT-Drs. 19/23187, S. 2. 26 Wolfgang Schreiber, Das Neunzehnte Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom 26. November 2011, DÖV 2012, S. 125 (128); Joachim Behnke, Überhangmandate und negatives Stimmgewicht: Zweimannwahlkreise und andere Lösungsvorschläge, ZParl 2010, S. 247 (256 f., 260); ders., Grundsätzliches zur Wahlreform-Debatte, APuZ 2011, S. 14 (21); ders./Grotz, Das Wahlsystem zwischen normativer Begründung, empirischer Evidenz und politischen Interessen, ZParl 2011, S. 419 (425).
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ner kleineren Differenz zum Sitzanspruch nach Zweitstimmenergebnis führen. Erhöht sich die Zahl der Listenmandate sinkt das Risiko, dass Direktmandate bei manchen Parteien nicht auf deren Sitze aus der Wahl nach Landeslisten angerechnet werden können. Infolgedessen verringert sich auch die Anzahl anfallender „Überhangmandate“ sowie kompensatorisch in Ansatz zu bringender Ausgleichsmandate.27 Da weder die Verfassung28 noch die Staatspraxis29 eine paritätische Verteilung von Direktund Listenmandaten vorsehen, wird die moderate Reduzierung der Anzahl der Wahlkreise von 299 auf 280 als verfassungsrechtlich unproblematisch angesehen.
Hans Meyer, Die Zukunft des Bundestagswahlrechts, 2010, S. 87. So explizit Henner Jörg Boehl, in: Wolfgang Schreiber (Hrsg.), BWahlG, 11. Aufl. 2021, § 1 Rdnr. 117; s. a. Thomas Wolf, Das negative Stimmgewicht als wahlgleichheitswidriger Effekt – Auswirkungen, Bewertung und Chancen einer Neuregelung, 2016, S. 494. 29 Die derzeitige paritätische Verteilung von je 299 Listen- und Direktmandaten bestand nicht immer, 1953 etwa betrug das Verhältnis von Direkt- zu Listenmandaten 60:40. Der Anteil der Wahlkreismandate an der Gesamtsitzzahl zu Wahlkreismandat liegt im personalisierten Verhältniswahlsystem Baden-Württembergs bei 70 von 120; für Bayern gilt: personalisierte Verhältniswahl mit einer Gesamtsitzzahl von 180 und 91 Wahlkreismandaten; Berlin: personalisierte Verhältniswahl, 130 Sitze mit 78 Wahlkreismandaten; Brandenburg: personalisierte Verhältniswahl mit 88 Sitzen und paritätischer Verteilung (je 44); in Bremen besteht ein reines Verhältniswahlsystem und also keinen Wahlkreismandaten; in Hamburg sind von 121 Sitzen 71 Wahlkreismandate; Hessen: personalisierte Verhältniswahl mit paritätischer Verteilung (je 55); in Mecklenburg-Vorpommern (personalisierte Verhältniswahl) mit 71 Sitzen existieren 36 Wahlkreismandate; in Niedersachsen (personalisierte Verhältniswahl) beträgt die Gesamtsitzzahl 135 bei 87 Wahlkreismandaten; in Nordrhein-Westfalen (personalisierte Verhältniswahl) beträgt die Sitzzahl 181 mit einem Anteil von Wahlkreismandaten in Höhe von 128; in Rheinland-Pfalz (personalisierte Verhältniswahl) sind von 101 Sitzen 51 Wahlkreismandate; im Saarland existiert eine reine Verhältniswahl mit 51 Sitzen und keinem Wahlkreismandat; in Sachsen (personalisierte Verhältniswahl) besteht bei 120 Gesamtsitzen Parität (also je 60); in Sachsen-Anhalt (personalisierte Verhältniswahl) gibt es 83 Sitze mit einem Anteil von 41 Wahlkreismandaten; in Schleswig-Holstein (personalisierte Verhältniswahl) sind von 69 Sitzen 35 Wahlkreismandate und in Thüringen (personalisierte Verhältniswahl) besteht bei 88 Sitzen Parität. 27 28
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bb) Mittelwertbildung und Teilgarantie der Listenmandate Anders als im zuvor geltenden Recht, wonach das Ergebnis der ersten Verteilung zuzüglich der überhängenden Direktmandate garantiert war, werden jetzt nur noch bestimmte Mindestsitzzahlen, die für die Landeslisten nach § 6 Abs. 5 S. 2 und 3 BWG ermittelt werden, garantiert.30 Diese Mittelwertbildung führt über die Einführung eines Elements parteiinterner Kompensation, bei der Teile einer Landesliste im Interesse der Wahrung des bundesweiten Proporzes zur Abdeckung der Direktmandate in einem anderen Land in Ansatz gebracht werden, zu einer weiteren – neben die mit der Absenkung der Anzahl der Wahlkreise tretenden – Verringerung der Garantie der Sitzansprüche aus der ersten Verteilung. Zugleich kommt es zu einer Reduzierung der bei Überhängen zum Ausgleich erforderlichen Bundestagsvergrößerung. cc) Zulassung von bis zu drei ausgleichslosen Überhangmandaten Das bisherige System des Vollausgleichs der Überhänge führte dazu, dass die vor 2013 ausgleichslos gebliebenen Überhangmandate nach Abschluss der zweiten Verteilung vollständig durch Zweitstimmen unterlegt waren und daher im überkommenen Begriffsverständnis gar keine Überhangmandate mehr darstellten.31 Man kann deshalb mit Blick auf die nur im Rah30 Dabei wird den Landeslisten die Zahl der in den Wahlkreisen des Landes von Wahlbewerbern der Partei nach § 5 errungenen Direktmandate in der ersten Alternative des Abs. 5 Satz 2 garantiert (§ 6 Abs. 5 S. 2 1. Alt. BWG). Nach der zweiten Alternative der Vorschrift werden den Landeslisten, bei denen nach der ersten Verteilung Listenmandate anfallen würden, nur eine Mindestsitzzahl garantiert, nämlich der Mittelwert zwischen der Zahl der Direktmandate dieser Partei im Land und den nach der ersten Verteilung (Abs. 2 und 3) ermittelten Sitzen. 31 Wolfgang Schreiber, in: Karl-Heinrich Friauf/Wolfram Höfling (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, (Juli 2013), Art. 38 Rdnr. 276 spricht insoweit plastisch von „Anfangsüberhängen“; andere reden von „PseudoÜberhangmandaten“ oder „Quasiüberhangmandaten“, so Joachim Behnke, Das neue Wahlgesetz – oder: Was lange währt, wird nicht unbedingt gut, in: Reimut Zohlnhöfer/Thomas Saalfeld, Politik im Schatten der
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men der ersten Stufe anfallenden und nur als Rechengröße fungierenden Sitze von Anfangsüberhängen oder Quasi-Überhangmandaten sprechen. Der anschließende Vollausgleich dieser Anfangsüberhänge führte dann zu dem schon erwähnten Aufwuchs der Bundestagsgröße. Als weiteres Mittel, das Anwachsen der Anzahl der Bundestagsmandate zu begrenzen, hat der Gesetzgeber – neben der Reduktion der Anzahl der Wahlkreise und der Mittelwertbildung – in § 6 Abs. 5 S. 4 BWG angeordnet, dass in der ersten Verteilung entstehende „Anfangsüberhänge“ 32 bis zu einer Zahl von drei nicht in die kompensatorische Sitzzahlerhöhung einfließen. Bis zu drei „Anfangsüberhänge“ werden infolgedessen zu (echten) Überhangmandaten. Auch dadurch reduziert sich die Anzahl der Sitze, die im Rahmen des Sitzerhöhungsverfahrens in Ansatz gebracht werden müssen. Die Behandlung der Überhänge erfolgt mithin differenziert: Einem weitgehenden Ausgleich der Anfangsüberhänge steht die Zulassung von bis zu drei ausgleichslosen Überhangmandaten gegenüber. Letztere sind auch nach Abschluss der zweiten Verteilung nicht durch Zweitstimmen unterlegt. c) Zur Wirkung der Reform Der Bundeswahlleiter hat eine Musterberechnung vorgenommen, die die Sitzverteilung auf der Grundlage des aktuell gültigen Wahlrechts und auf Basis der Stimmenergebnisse der Bundestagswahl 2017 errechnet.33 Wie die Zahlen des Bundeswahlleiters belegen, wären dann statt derzeit 709 insgesamt nur 686 Krise, 2015, S. 49 (55 f.), oder davon, diese Mandate seien auf eine „rechnerische Bedeutung reduziert“, so Wolf, Das negative Stimmgewicht (Anm. 28), S. 486. 32 Zum Begriff Schreiber, in: Friauf/Höfling (Anm. 31) Art. 38 Rdnr. 276, der damit ihre Charakteristik als Rechengröße der ersten Stufe betont. 33 Die Musterberechnung ist auf der Homepage des Bundeswahlleiters einsehbar, https://www.bundeswahlleiter.de/dam/jcr/05c1185a-173f-4bab80d6-51027c94b1bc/bwg2021_mustersitzberechnung_ergebnis2017.pdf (zuletzt abgerufen am 15.7.2022).
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Sitze zu besetzen gewesen, was zu einem Absinken der Hausgröße führte.34 Dieser Effekt würde sich infolge der Reduzierung der Zahl der Wahlkreise ab 2024 weiter verstärken. 2. Überkommene Kritik und neue Frontstellungen Soweit ersichtlich richtet sich die Kritik an der Reform des Jahres 2020 weder gegen die Reduktion der Anzahl der Wahlkreise noch gegen die sog. Mittelwertbildung. Die mit der Reform zugelassenen bis zu drei ausgleichslosen Überhangmandate haben aber erneut die Diskussion um deren Vereinbarkeit mit der Verfassung befeuert. a) Die Diskussion um die ausgleichslosen Überhangmandate Deren Zulässigkeit war schon lange umstritten.35 Der Streit begann schon bei ihrer grundsätzlichen Charakterisierung, also bei der Frage, ob Überhangmandate Listen- oder Direktmandate seien36, setzte sich in der Zulässigkeit der ihnen attestierten Proporzverzerrungen fort37 und endete bei der Frage, ob und in welchem Umfang Überhangmandate rechtfertigungsfähig seien.38 Es ist hier nicht der Ort, diesen Streit erneut aufzurollen. Das Bundesverfassungsgericht hat mit seiner Entscheidung vom Juli 2012 die Frage für die wahlrechtliche Praxis im Grunde entschieden. Es hat sich zwar in dem Streit, ob Überhangmandate Direktmandate oder Listenmandate zu qualifizieren sind, nicht eindeutig positioniert.39 Der Zweite Senat hat aber eindeutig Musterberechnung (Anm. 33), S. 8, Spalte 8. Darstellung des Streits etwa bei Lang, in: Grzeszick/ders. (Anm. 5) S. 60 ff. 36 Wolf, Das negative Stimmgewicht (Anm. 28) S. 285. 37 Dazu Lang, in: Grzeszick/ders. (Anm. 5) S. 69 (71). 38 In Richtung des Erfordernisses der Mehrheitsrelevanz etwa Joachim Behnke, Das neue Wahlgesetz im Test der Bundestagswahl 2013, ZParl 2014, S. 17 (25). 39 Einerseits BVerfGE 95, 335 (357) – Überhangmandat II, wo die vier die Entscheidung tragenden Richter Überhangmandate als Direktman34 35
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festgehalten, dass Überhangmandate Ausdruck des besonderen Anliegens einer mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl sind40 und dass die ihnen attestierten Beeinträchtigungen der Erfolgswertgleichheit41 in begrenztem Umfang gerechtfertigt sind, wenn mit dem Anfall ausgleichsloser Überhangmandate nicht der Grundcharakter der Bundestagswahl als Verhältniswahl derogiert wird.42 b) Anforderungen an die Bestimmtheit wahlrechtlicher Normen Angesichts dieser Rechtsprechung konzentrieren sich die direkten Angriffe gegen das Sitzzuteilungsverfahren weniger auf die nunmehr zugelassenen bis zu drei unausgeglichenen Überhangmandate.43 Ähnlich wie 2008 die sog. negativen Stimmgewichte soll jetzt der Bestimmtheitsgrundsatz als Hebel dienen, die bis zu drei ausgleichslosen Überhangmandate verfassungsrechtlich zu inkriminieren. § 6 BWG ist sicher keine einfache date einordnen und andererseits BVerfGE 95, 335 (380) – Überhangmandate II, wo die vier anderen Richter Überhangmandate als Listenmandate qualifiziere. In BVerfGE 131, 316 (359, 361, 362) – negatives Stimmengewicht II, Überhangmandate V, sprechen die in den zitierten Seitenzahlen in Bezug genommen Ausführungen aber für eine Qualifizierung der Überhangmandate als Direktmandate. Die Qualifizierung der Überhangmandate als Direktmandate ist nicht unumstritten, doch kann der Streit hier letztlich dahinstehen, weil selbst die vier o. a. abweichenden Richter der Entscheidung von 1997 Überhangmandate zwar als Listenmandate qualifizieren, sie aber dennoch in beschränkter Zahl zulassen. 40 BVerfGE 131, 316 (365) – negatives Stimmgewicht II, Überhangmandate V; ebenso etwa Behnke, Das neue Wahlgesetz (Anm. 38), S. 17 (23); ähnlich ders., Das neue Wahlgesetz (Anm. 31), S. 49 (52): „wurden mit dem Urteil Überhangmandate nicht grundsätzlich für verfassungswidrig erklärt . . .“. 41 BVerfGE 131, 316 (362) – negatives Stimmgewicht II, Überhangmandate V: „Mit dem Anfall von Überhangmandaten wird der Erfolgswert der abgegebenen Stimmen differenziert.“ 42 BVerfGE 131, 316 (367) – negatives Stimmgewicht II, Überhangmandate V. 43 Auch wenn diese als gesetzlich erzwungen und darum willkürlich angegriffen werden.
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Vorschrift, ob die Norm aber auch gegen das verfassungsrechtliche Bestimmtheitsgebot verstößt, erscheint zweifelhaft. In seiner allgemeinen Ausprägung verlangt das Bestimmtheitsgebot zunächst, gesetzliche Tatbestände so zu fassen, dass damit die gesetzgeberischen Grundgedanken, das Ziel seines Wollens, deutlich gemacht wird.44 Allerdings verwendet schon die Verfassung selber deutungsoffene Begriffe wie „das Sittengesetz“ oder die „öffentliche Ordnung“. Vor diesem Hintergrund wird ersichtlich, dass das Bestimmtheitsgebot die Verwendung wertausfüllungsbedürftiger Begriffe bis hin zu Generalklauseln nicht ausschließen kann.45 Das Bundesverfassungsgericht hat im Laufe seiner Rechtsprechung zum Bestimmtheitsgrundsatz eine sehr viel differenziertere Betrachtungsweise herausgearbeitet. Es verweist darauf, dass die Frage der hinreichenden Bestimmtheit einer Regelung nicht allein mit Hilfe des Wortlauts festgestellt werden kann, sondern dass sich der Rechtsanwender insoweit des gesamten Auslegungskanons bedienen muss.46 Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist dem Bestimmtheitserfordernis genüge getan, wenn der Normgehalt, dessen Anwendungsbereich und Grenzen durch – eine gegebenenfalls auch voraussetzungsvolle – Auslegung anhand der allgemein anerkannten Auslegungsgrundsätze bestimmt werden kann.47 Dabei sind auch Zielsetzung und Entstehungsgeschichte des Gesetzes sowie der Sinnzusammenhang mit anderen Bestim-
44 BVerfGE 17, 306 (314) – Mitfahrzentrale; BVerfGE 54, 237 (247) – Sozietätsverbot. 45 BVerfGE 149, 293 (323), Rdnr. 78 – Fixierung bei öffentlich-rechtlicher Unterbringung; BVerfGE 126, 170 (196) – Untreue Landowsky; BVerfGE 92, 1 (12) – Sitzblockade III; BVerfGE 48, 48 (56) – Beschluss; BVerfGE 28, 175 (183) – Porst-Fall; BVerfGE 11, 234 (237) – jugendgefährdende Schriften. 46 BVerfGE 149, 293 (323), Rn. 78 – Fixierung bei öffentlich-rechtlicher Unterbringung; BVerfGE 127, 335 (356) – Mindestbesteuerung, Auslegungsprobleme mit den herkömmlichen Mitteln juristischer Methode bewältigen; BVerfGE 59, 104 (114 ff.) – Beschluss; BVerfGE 57, 29 (35) – Verbot des Uniformtragens. 47 BVerfGE 123, 39 (78) – Wahlcomputer.
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mungen von Bedeutung.48 Infolgedessen fehlt die notwendige Bestimmtheit einer Norm nicht etwa schon dann, wenn eine Norm auslegungsbedürftig ist49 oder die darauf bezogene Auslegung voraussetzungsvoll ist.50 Können auftretende Auslegungsprobleme mit herkömmlichen juristischen Methoden bewältigt werden, ist dem Bestimmtheitserfordernis vielmehr genügt.51 Ob § 6 BWG in hinreichend bestimmter Weise das Sitzzuteilungsverfahren regelt, wird das Bundesverfassungsgericht im Rahmen des Hauptsacheverfahrens klären.52 Falls das Bundesverfassungsgericht zu dieser Erkenntnis gelangt, dürfte der Gesetzgeber nicht zu beneiden sein. Bisher ist es noch nicht gelungen, den gordischen Knoten zu durchschlagen und ein einfaches, von allen politischen Parteien getragenes Sitzzuteilungsverfahren zu normieren, das auch dem Anspruch gerecht wird, die einzelnen mathematischen Umsetzungsschritte in leicht zu verstehende Tatbestandsmerkmale zu gießen. BVerfGE 123, 39 (78) – Wahlcomputer. BVerfGE 134, 141 (184); Rdnr. 127 – Abgeordnetenüberwachung, Bodo Ramelow; BVerfGE 131, 316 (343) – negatives Stimmgewicht II, Überhangmandate V; BVerfGE 45, 400 (420) – Hessische Oberstufe; BVerfGE 117, 71 (111) – lebenslange Freiheitsstrafe; BVerfGE 128, 282 (317) – medizinische Zwangsbehandlung. 50 BVerfGE 134, 141 (184), Rdnr. 126 – Abgeordnetenüberwachung, Bodo Ramelow; BVerfGE 128, 282 (317) – medizinische Zwangsbehandlung; BVerfGE 120, 378 (407) – automatisierte Kennzeichenerfassung; BVerfGE 108, 282 (311) – Kopftuch I, Kopftuch für Lehrerin; BVerfGE 83, 130 (142) – Josefine Mutzenbacher; BVerfGE 82, 209 (224 f., 227) – Krankenhausplan; BVerfGE 73, 280 (294, 296) – Notarbewerberauswahl; BVerfGE 61, 260 (275) – wissenschaftliche Hochschulen; BVerfGE 49, 89 (129) – Kalkar I, Schneller Brüter. 51 BVerfGE 127, 335 (356) – Mindestbesteuerung; BVerfGE 83, 130 (145) – Josefine Mutzenbacher; BVerfGE 17, 67 (82) – Beschluss; so judizieren auch die Landesverfassungsgerichte, VerfG Brbg, U. vom 23. Oktober 2020, AZ 9/19 Rn. 97, juris – Paritätsgesetz; SächsVerfGH, U. v. 16. August 2019, Az Vf. 76-IV-19 (HS), Vf. 81-IV-19 (HS), Rn. 85, juris – Landesliste AfD. 52 Die insoweit erforderliche Auseinandersetzung mit den einzelnen Berechnungsschritten und Verweisungen können im Rahmen dieses Beitrags nicht nachgezeichnet werden. 48 49
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Die Komplexität von Normen, die eine gegebenenfalls umfängliche Konkretisierungsarbeit erfordern, stellt allerdings auch kein Spezifikum des Wahlrechts dar. Sie findet sich auch in zahlreichen anderen normativen Subsystemen. So dürfte sich beispielsweise die Möglichkeit des Erwerbs einer forderungsentkleideten Hypothek aus einer unbefangenen Lektüre des § 1138 BGB nicht ohne weiteres erschließen. Auch die für viele Bürger durchaus wichtigen Regelungen des Steuerrechts, etwa des Steuertarifs in § 32a EStG – § 32a EStG ist die maßgebliche Tarifvorschrift für die Einkommensteuer und eine wichtige „Stellschraube“ des Gesetzgebers zur Einnahmesteuerung – ist für Laien unverständlich und bedarf einer Übersetzung.53 Die Verwendung verständnisvoraussetzungsvoller Normen ist zudem auch in anderen grundrechtsdurchwirkten Bereichen nicht ausgeschlossen. Das zeigt sich trotz der durch Art. 103 Abs. 2 GG noch einmal verdichteten Bestimmtheitsanforderungen selbst im Strafrecht. Auch diese grundrechtlich besonders sensible Teilrechtsordnung kommt nicht ohne die Verwendung auslegungsbedürftiger und -fähiger Begriffe aus.54 Das Bundesverfassungsgericht hat dies als erforderlich angesehen, „um der Vielgestaltigkeit des Lebens“ gerecht zu werden.55 Vergleichbares gilt für andere mit besonderen Grundrechtseinwirkungen verbundene Referenzgebiete. So beantwortet sich etwa im Organtransplantationsrecht die Frage, nach welchen 53 Die Vorschrift weist auch insoweit eine Parallele zu § 6 BWG auf als in beiden Vorschriften darum geht, die je vorzunehmenden mathematischen Rechenoperationen mathematisch normativ zu fixieren und ihre Ausfüllung nicht der Exekutive zu überlassen. 54 So lässt sich sogar bei dem Delikt, das nach unserer Rechtsordnung die empfindlichste Sanktion nach sich zieht, bei der Verwirklichung eines Mordes nach § 211 StGB, die Strafe einer „wortgetreuen“ Auslegung der Norm nicht entnehmen. 55 BVerfGE 80, 244 (257) – Vereinsverbot; BVerfGE 78, 374 (381 f.) – Bestimmtheitsgrundsatz, Blankettstrafgesetz, CB-Funk; BVerfGE 75, 329 (340 ff.) Bestimmtheitsgrundsatz, Blankettstrafbestimmung, Bundes-Immissionsschutzgesetz; BVerfGE 73, 206 (234 f.) – Sitzblockade I; BVerfGE 37, 201 (208) – Beschluss; BVerfGE 25, 269 (285) – Verfolgungsverjährung.
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Kriterien die Auswahlentscheidung für eine lebensverlängernde oder gar -erhaltende Organtransplantation erfolgt, nach § 13 Abs. 3 TPG und damit nach dem „Stand der Erkenntnis der medizinischen Wissenschaft“.56 Eine ähnliche Verwendung eines in hohem Maße auslegungsbedürftigen Begriffs findet sich im in grundrechtlicher Perspektive ebenfalls besonders sensiblen Technik- oder Umweltrecht mit dem Terminus „Stand der Technik“.57 Ins Bild passt eine Entscheidung des Hamburgischen Verfassungsgerichts. In Hamburg sollte nach einer entsprechenden Volksabstimmung in die Verfassung eine Regelung aufgenommen werden, wonach „Gesetze, Rechtsvorschriften und Verwaltungsvorschriften in allgemein verständlicher Sprache abzufassen“ seien. Das Hamburgische Verfassungsgericht qualifizierte die Regelung indes als verfassungswidrig, weil der Begriff der „allgemein verständlichen Sprache“ seinerseits so unbestimmt sei, dass er „auch unter Heranziehung der üblichen Auslegungsmethoden für unbestimmte Rechtsbegriffe nicht so weit eingrenzbar sei, dass der Normsetzer diesem Gebot Folge leisten könne.58 Es ist leicht, das in § 6 BWG geregelte Sitzzuteilungsverfahren als unverständlich zu brandmarken und mit Häme zu überziehen. Schwer ist es allerdings, ein alle überzeugendes, niemand vergrätzendes und zugleich einfach formuliertes System der personalisierten Verhältniswahl zu normieren. Schwierigkeiten bei der Fassung von § 6 BWG entstehen wohl auch deshalb, weil die Norm mit Blick auf die Staatsstrukturprinzipien der Demokratie und des Rechtsstaats neben der Wahrung der Grundsätze 56 Es handelt sich dabei um einen Terminus der in zahlreichen gesundheits- und medizinrechtlichen Gesetzen vorkommt und der allein im Transfusionsgesetz gleich 119 mal verwandt wird. 57 Etwa im BImSchG, das den Begriff „Stand der Technik“ verwendet, vgl. nur in § 3 Abs. 6 S. 1 oder das Wasserhaushaltsgesetz. Das Atomgesetz macht Genehmigung zur Beförderung von Kernbrennstoffen sogar davon abhängig, dass der Stand von Wissenschaft und Technik berücksichtigt wird, § 4 Abs. 2 Nr. 3 AtG. 58 Hamb VerfG NordÖR 2017, S. 20 (31 f.).
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des Wahlsystems vor allem auch dafür sorgen muss, dass das komplizierte System der personalisierten Verhältniswahl einerseits normativ verankert ist, anderseits aber auch in mathematischen Handlungsschritten umgesetzt werden kann.59 Und: Überzeugende Formulierungs(-Alternativen) sind bisher nicht vorgelegt worden.60 Man könnte dem entgegenhalten, dass das Wahlrecht für das Funktionieren der Demokratie essentiell ist und daher einfach verständlich sein muss. Das stimmt und stimmt auch nicht. Konsensfähig dürfte sein, dass die Grundlagen des Wahlrechts einfach verständlich sein müssen. Dazu gehören etwa die Wahlrechtsgrundsätze des Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG, die Bezeichnung des Wahlsystems (im konkreten als personalisierte Verhältniswahl) und dessen Strukturen, also wer wird gewählt, welche Partei oder Person steht zur Wahl, wieviel Stimmen hat der Wähler, mit welcher wird der Wahlkreisbewerber gewählt, mit welcher eine Partei etc. Nicht in gleicher Weise einfach nachvollziehbar muss demgegenüber die mathematische Umsetzung der Stimmen in Mandate sein, also das Sitzzuteilungsverfahren, bei dem Grundlagen, nicht die einzelnen mathematischen Berechnungsschritte auf den ersten Blick eingängig sein müssen; zumindest lässt sich die Staatspraxis der letzten fast 70 Jahre in dieser Weise verstehen.61 Insoweit richten sich die wahlrechtLang, Mysterien des Rechts (Anm. 19), S. 82. Der 2011 etwa von Bündnis 90/Die Grünen eingebrachte Entwurf (BT-Drs. 17/4694), der das Verständnisproblem durch Entzerrung lösen wollte, ergänzte das Sitzzuteilungsverfahren zwar um die §§ 7 und 7a, die so bewirkte Verteilung der Berechnungsschritte in mehrere Normen mit jeweils fünf bzw. sieben Absätzen schaffte indes keine weitere inhaltliche Klarheit. Das wurde bereits in der seinerzeitigen Sachverständigenanhörung deutlich, dazu Heinrich Lang, Sachverständigenanhörung des Innenausschusses des Deutschen Bundestages am 14. Januar 2013 (21. und 22. Gesetz zur Änderung des BWG – Beseitigung inverser Effekte, Überhangmandate, Wahlrecht Auslandsdeutscher), A-Drs. 17(4)634 F, S. 7 ff. 61 Man darf wohl vermuten, dass das etwa bei der Wahl zum zweiten Deutschen Bundestag im Jahre 1953 das erstmal im BWG normierte Wahlverfahren ähnlich voraussetzungsvoll war. Seinerzeit bestimmte etwa § 9 BWG: „(1) Für jede Partei werden die im Lande für sie abgegebe59 60
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lichen Normen – vergleichbar etwa den steuerrechtlichen Regelungen – an Fachleute; sichergestellt sein muss dabei weniger die offensichtliche Nachvollziehbarkeit als vielmehr die rechtsstaatliche Überprüfbarkeit der gefundenen Ergebnisse. Man kann den Eindruck gewinnen, dass manche Stellungnahmen zu den Anforderungen an die Bestimmtheit wahlrechtlicher Sitzzuteilungsregelungen eher das Ziel haben, das System der personalisierten Verhältniswahl endgültig zu den Akten zu legen62 und durch ein (mehr oder minder) reines Verhältniswahlsystem zu ersetzen. Das ist verfassungsrechtlich möglich, es
nen Zweitstimmen zusammengezählt. Dabei werden die Zweitstimmen derjenigen Wähler, die für einen im Wahlkreis erfolgreichen parteilosen Bewerber (§ 26 Abs. 2) gestimmt haben, nicht berücksichtigt. Von der Gesamtzahl der im Lande zu wählenden Abgeordneten wird die Zahl der von parteilosen Bewerbern in den Wahlkreisen errungenen Sitze abgezogen. Die verbleibenden Sitze werden auf die Parteien im Verhältnis der Summen ihrer nach Satz 1 und 2 zu berücksichtigenden Zweitstimmen im Höchstzahlverfahren d´Hondt verteilt. Über die Zuteilung des letzten Sitzes entscheidet bei gleicher Höchstzahl das vom Landeswahlleiter zu ziehende Los. (2) Von der für jede Partei so ermittelten Abgeordnetenzahl wird die Zahl der in den Wahlkreisen von ihr errungenen Sitze abgerechnet. Die ihr hiernach noch zustehenden Sitze werden aus ihrer Landesliste in der dort festgelegten Reihenfolge besetzt. Bewerber, die in einem Wahlkreis gewählt sind, bleiben auf der Liste unberücksichtigt. Entfallen auf eine Landesliste mehr Sitze als Bewerber benannt sind, so bleiben diese Sitze unbesetzt. (3) In den Wahlkreisen errungene Sitze verbleiben einer Partei auch dann, wenn sie die nach Absatz 1 ermittelte Zahl übersteigen. In einem solchen Falle erhöht sich die Gesamtzahl der für das Land vorgesehenen Abgeordnetensitze um die Unterschiedszahl; eine erneute Berechnung findet nicht statt. (4) Bei der Verteilung der Sitze auf die Landeslisten werden nur Parteien berücksichtigt, die mindestens 5 v.H. der im Bundesgebiet abgegebenen gültigen Zweitstimmen erhalten oder in mindestens einem Wahlkreis einen Sitz errungen haben. (5) Die Vorschrift in Absatz 4 findet keine Anwendung auf die von nationalen Minderheiten eingereichten Listen.“ In vergleichbarer Weise waren die Regelungen für die nachfolgenden weiteren 18 Bundestagswahlen gestaltet, ohne dass die Legitimität des Parlaments dadurch in Frage gestellt wurde. 62 Auf dieser Linie etwa Schönbergers programmatische Titelgebung „Auf dem Weg zum Nationalen Volkskongress – warum die Geschichte der personalisierten Verhältniswahl auserzählt ist“ (Anm. 16).
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muss dann allerdings das gesamte bisherige Wahlsystem umgekrempelt und der lange bestehende Konsens über die personalisierte Verhältniswahl aufgekündigt werden. Die eher schlechten Erfahrungen der Weimarer Zeit dürften eher gegen ein reines Verhältniswahlsystem sprechen. 3. Alternativen zum gegenwärtigen Sitzzuteilungsverfahren Sucht man deswegen und weil das gegenwärtige Sitzzuteilungsverfahren so voraussetzungsvoll geworden ist, nach systemimmanenten Alternativen, kann man sich aus einem Baukasten mit tendenziell unendlichen Bausteinchen bedienen. Nur muss die gewählte Alternative zum politischen System eines Gemeinwesens passen, sich in die politische Kultur und Gerechtigkeitsvorstellungen einer Gesellschaft einfügen und den Vorgaben der Verfassung entsprechen.63 Ein kompletter Systemwechsel hin zu einem reinen Mehrheits- oder reinen Verhältniswahlsystem steht, soweit ersichtlich weder bei einer Partei noch sonst auf der gesellschaftlichen Agenda, bleibt infolgedessen hier außer Betracht. Folgende Alternativen kämen in Betracht. a) Stärkere Reduktion der Anzahl der Wahlkreise Im Interesse einer noch deutlicheren Reduzierung der Überhangmandate und der ihnen attestierten proporzbeeinträchtigenden Wirkung und gleichzeitig, die Anzahl der Abgeordneten im Deutschen Bundestag nicht zu stark anwachsen zu lassen, wird vorgeschlagen, die Anzahl der Wahlkreise noch deutlich über 280 hinaus zu verringern.64 Mit welchen Reduzierungsgrößen
63 Henner Jörg Boehl, Zu viele Abgeordnete im Bundestag? ZRP 2017, S. 197 (198); Dieter Nohlen, Zur Reform von Wahlsystemen: Internationale Erfahrungen und der deutsche Fall, ZfP 58 (2011), S. 310. 64 Wolfgang Schreiber, Das Neunzehnte Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom 26. November 2011, DÖV 2012, S. 125 (128); Behnke, Das neue Wahlgesetz (Anm. 26), S. 247 (256 f., 260); ders., Wahlreform (Anm. 26), S. 14 (21); ders./Grotz, Wahlsystem, (Anm. 26), S. 419 (425); Meyer, Zukunft (Anm. 27), S. 87 f.
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insoweit eine sichere Vermeidung aller Überhangmandate garantiert werden könnte, unterliegt naturgemäß aufgrund sich verändernder Wählerpräferenzen Schwankungen. 2010 ging Joachim Behnke davon aus, dass dazu eine Absenkung der Anzahl der Wahlkreise auf 200 bzw. höchstens 240 erforderlich sei.65 Eine derartige Absenkung der Wahlkreise wirft vor allem politische Fragen auf. Verfassungsrechtlich wäre – da die Parität von Wahlkreismandaten und Landeslistenmandaten keinen verfassungsrechtlich zwingenden Bestandteil des geltenden Wahlsystems darstellt66 und beispielsweise in den Ländern die Anzahl der Direkt- und der Listenmandate zum Teil ganz erheblich variiert67, ohne dass insoweit verfassungsrechtliche Bedenken geltend gemacht würden – eine (weitere) Reduzierung der Anzahl der Wahlkreise unproblematisch solange sie nicht Sinn und Zweck der personalisierten Verhältniswahl zuwiderläuft. Das besondere Anliegen der personalisierten Verhältniswahl besteht darin, dass die direkt gewählten Abgeordneten eine engere persönliche Bindung zu dem Wahlkreis haben, in dem sie gewählt worden sind.68 Die damit skizzierte Nähebeziehung zwischen Wähler und Wahlkreisbewerber bei der Direktwahl dient auch dazu, den repräsentativen Status des Abgeordneten als Vertreter des ganzen Volkes auch und gerade bei dem Wahlkreisbewerber zu sichern, der eben nicht (bloß) Exponent einer politischen Partei ist.69 Die Reduzierung der Anzahl der Wahlkreise führt notwendig dazu, dass die Wahlkreise größer werden. Um die insoweit auftretenden Spannungslagen im System der personalisierten Verhältniswahl zu skizzieren, ist ein kurzer Blick auf die Recht-
65 Vgl. Behnke, Überhangmandate und negatives Stimmgewicht (Anm. 26), S. 247 (256). 66 So explizit Karl-Ludwig Strelen, in: Schreiber, BWahlG (Anm. 28), § 1 Rn. 117; s. a. Wolf, Das negative Stimmgewicht (Anm. 28), S. 494. 67 Nachweise oben (Anm. 29). 68 BVerfGE 131, 316 (365) – negatives Stimmengewicht II, Überhangmandate V. 69 BVerfGE 95, 335 (352 f.) – Überhangmandate II.
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sprechung zum Parallelproblem der verfassungsrechtlich noch hinnehmbaren Abweichungstoleranz bei unterschiedlichen Wahlkreisgrößen hilfreich. Die dort zum Problem der Wahlkreisgröße entwickelten Maßstäbe lassen sich sinngemäß auf die hier zu diskutierende Frage einer Abschmelzungsgrenze der Anzahl der Wahlkreise übertragen.70 Mit den Anforderungen an die Wahlkreiseinteilung werden zugleich zentrale Funktionen des Wahlaktes selbst geschützt. Das betrifft etwa die Kommunikationsfunktion der Wahl71, die Verwirklichung des Demokratieprinzips sowie die Sicherstellung der Integrationsfunktion der Wahl.72 Beim Zuschnitt der Wahlkreise muss mithin vermieden werden, dass die erforderliche Kommunikation zwischen den Wählern untereinander sowie mit den Mandatsbewerbern erschwert und damit die politische Willensbildung beeinträchtigt ist.73 Das könnte nach der Rechtsprechung – namentlich in Flächenstaaten – etwa dann in Betracht kommen, wenn infolge der gesetzlichen Regelung kein zusammenhängendes Wahlkreisgebilde entstehen würde.74 Dieser skizzierte Zusammenhang von Wähler und Gewählten wird bei der Wahlkreiseinteilung aber nicht nur in den inkriminierten Fällen des sog. Gerrymandering herausgefordert, sondern hat auch für die Gestaltung der Größe des Wahlkreises selbst Bedeutung. Ist nämlich ein Wahlkreis so zugeschnitten, dass eine kommunikative Beziehung zwischen den Wählern und den Abgeordneten des Wahlkreises nicht mehr möglich ist, wird die Kommunikationsfunktion der Wahl gestört, die persönliche
70 Heinrich Lang, Sachverständigenanhörung des Ausschusses für Inneres und Heimat des Deutschen Bundestages am 25. Mai 2020 („Bundeswahlgesetz“), A-Drs. 19(4)502 F, S. 4 f. 71 Herausgestellt etwa in BVerfGE 132, 39 (50). Rdnr. 32 – Wahlberechtigung Auslandsdeutsche. 72 BVerfGE 121, 266 (295) – Überhangmandate IV, negatives Stimmgewicht. 73 BVerfG, B. v. 18. Juli 2001, Az 2 BvR 1252/99, Rdnr. 27, juris – Nichtannahmebeschluss; Lang, Sachverständigenanhörung (Anm. 70), S. 6. 74 BVerfG, B. v. 18. Juli 2001, Az 2 BvR 1252/99, Rdnr. 27, juris – Nichtannahmebeschluss.
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Beziehung zwischen dem Wahlkreisabgeordneten und den Bewohnern seines Wahlkreises in Frage gestellt und damit der Zweck der Mehrheitswahl vereitelt.75 Dabei liegt auf der Hand, dass die skizzierte Gefahr besonders in Flächenstaaten und ländlichen Regionen virulent wird.76 b) Kompensationsmodelle Einen anderen Weg beschreiten die sog. Kompensationsmodelle.77 Erzielt eine Partei in einem Bundesland mehr Direktmandate als ihr nach Zweitstimmen zustehen, wird nach diesem Modell anderen Landesverbänden der Partei eine entsprechende Anzahl Sitze im Bundestag abgezogen, bis die Sitzzahl nach der Unterverteilung der nach der Oberverteilung wieder entspricht. Konstruktiv wird dies dadurch bewirkt, dass alle von Wahlkreisbewerbern einer Partei errungenen Direktmandate bereits nach der Oberverteilung auf die Gesamtzahl der von der Partei bundesweit errungenen Sitze, also nicht nur auf die der jeweiligen Landesliste nach der Unterverteilung zustehenden Sitze angerechnet werden.78 Allerdings ist das Modell namentlich föderalen Bedenken ausgesetzt. Zunächst würde sich das Gewicht der Landesverbände und Wähler der betroffenen Partei verschieben, wenn die in einem Land errungenen Direktmandate auf Listenmandate anderer Landeslisten angerechnet werden müssten. Zugleich träte 75 Hans Hugo Klein/Kyrill-Alexander Schwarz, in: Günter Dürig/ Roman Herzog/Rupert Scholz, Grundgesetz Kommentar, Stand der 95. Erg.-Lfg. (Juli 2021), Art. 38 Rdnr. 135. 76 Im Schrifttum ist konstatiert worden, jedenfalls bei Wahlkreisen, die die fünf Millionen- Einwohnermarke deutlich überschritten, könne nicht mehr von einer lokalen Verwurzelung des Kandidaten oder seiner Bekanntheit ausgegangen werden, vgl. Wolf, Das negative Stimmgewicht (Anm. 28) S. 479. 77 Erstmals 1996 und 2009 brachten Bündnis 90/Die Grünen Gesetzentwürfe derartige Kompensationsmodelle ein. 78 Henner Jörg Boehl, Das neue Wahlrecht – personalisierte Verhältniswahl Reloaded, in: Torsten Oppelland (Hrsg.): Das deutsche Wahlrecht, 2015, S. 21 (29).
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eine Verschiebung in der Repräsentanz der Bevölkerung der verschiedenen Länder ein. Denn Kompensation beseitigt nicht die in manchen Ländern angefallenen Überhangmandate, sondern kaschiert sie nur in der bundesweiten Betrachtung durch Abzug in anderen Ländern, verdoppelt dadurch aber die föderale Proporzverzerrung.79 Auch könnte es dazu kommen, ja ist geradezu unabdingbar mit dem Modell verbunden, dass eine Landesliste einer Partei für das schlechte Abschneiden bei den Zweitstimmen einer anderen Landesliste dieser Partei „büßen“ müsste, indem von ihr in der Wahl nach Landeslisten eigentlich zustehenden Listen-Mandate abgezogen werden müssten und dieser Landesverband somit gleichsam „unverschuldet“ im Bundestag schwächer vertreten wäre als es seinem Zweitstimmenanteil im Land entspricht. Überdies wäre die Wählerschaft dieses Landes im Bundesparlament unterrepräsentiert.80 Zu Recht ist auch darauf hingewiesen worden, dass es schwer vermittelbar sei, warum beispielsweise Listenmandatsträger in Brandenburg, Niedersachsen oder Bremen zur Kompensation der etwa in Baden-Württemberg entstehenden Überhänge etwa auf ihr Mandat verzichten sollten.81 Zudem sind mit dem Kompensationsmodell Überhangmandate nicht zwingend ausgeschlossen. Das Modell setzt nämlich voraus, dass Listenverbindungen bestehen und genug Listenmandate zur Kompensation vorhanden sind. Daher ist eine Kompensation nicht möglich, wenn für eine Partei Überhangmandate anfallen, die nur mit einer Landesliste angetreten ist, oder eine Partei bundesweit mehr Wahlkreismandate erzielt als ihren verbundenen Landeslisten nach Proporz zustehen. Bekanntlich erzielte die CSU bei der Wahl 2009 derartige Überhangmandate und bei der CDU bestand Parität, jedes weitere
79 Vgl. BVerfGE 121, 266 (302) – Überhangmandate IV, negatives Stimmgewicht; Lang, in: Grzeszick/ders. (Anm. 5), S. 82. 80 Dazu Lang, in: Grzeszick/ders. (Anm. 5), S. 82. 81 S. a. Joachim Behnke, Ein sparsames länderproporzoptimierendes parteienproporzgewährendes automatisches Mandatszuteilungsverfahren mit Ausgleich ohne negatives Stimmgewicht, ZParl 2012, S. 675 (684 f.).
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Direktmandat hätte ebenfalls nicht mehr angerechnet werden können. Im Schrifttum werden föderale Proporzbeeinträchtigungen zum Teil bereits aus einer grundsätzlichen Perspektive heraus als unbeachtlich angesehen.82 Andere haben mit Blick auf die erörterte Problematik des „Ausblutens“ plastisch von regionaler Verödung gesprochen worden und betrachten die bundesstaatlichen Verwerfungen je nach Intensität durchaus auch verfassungsrechtlich relevant.83 Die Rücksichtnahme auf die bundesstaatliche Gliederung und auf die ihr folgende Organisation der Parteien auch im Wahlrecht wurde vom Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung jedenfalls stets ausdrücklich als verfassungsrechtlich legitimiert angesehen.84 Die Berücksichtigung föderaler Elemente dadurch, dass die Struktur der Parteien und ihre Gliederung in Landesverbände beachtet werden, entspricht auch einem praktischen Bedürfnis bei der Durchführung der Wahl, zudem dient eine größere Überschaubarkeit des politischen Diskurses für die wahlberechtigten Bürger und sichert damit ebenfalls die Integrationskraft der Wahl. c) Streichung von Direktmandaten Überhang- und Ausgleichsmandate wären auch vermieden, wenn nicht anrechenbare Direktmandate einfach „gestrichen“ würden.85 Dabei soll die Streichung bei den Direktmandaten an82 Auf dieser Linie Wolf, Das negative Stimmgewicht (Anm. 28), S. 451 f.; s. a. Ute Sacksofsky, A-Drs. 17(4) 634 B, S. 3, föderale Verwerfungen sind „verfassungsrechtlich unproblematisch“. 83 Näher Lang, in: Grzeszick/ders. (Anm. 5), S. 83; Boehl, Das neue Wahlrecht (Anm. 78), S. 21 (33). 84 Vgl. BVerfGE 121, 266 (303) – Überhangmandate IV, negatives Stimmgewicht unter Verweis auf BVerfGE 95, 335 (350) – Überhangmandate II. 85 Dazu auch Heinrich Lang, Stellungnahme zur öffentlichen Anhörung von Sachverständigen zu vier Gesetzentwürfen zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vor dem Innenausschuss des 17. Deutschen Bundes-
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setzten, die mit dem im bundesweiten Vergleich parteiintern schlechtesten Ergebnis errungen wurden. Der neuerdings wieder aufgegriffene Vorschlag wird kontrovers beurteilt, wohl überwiegend aber als verfassungswidrig angesehen.86 Innerhalb des Systems der personalisierten Verhältniswahl und ohne Änderung der Verfassung ist das Modell kaum haltbar. Derzeit ist nach § 5 S. 2 BWG ein Wahlbewerber im Wahlkreis gewählt, wenn er die meisten Stimmen auf sich vereinigt.87 Auf dieser Linie hat das Bundesverfassungsgericht nicht nur betont, dass in jedem der Wahlkreise ein Abgeordneter direkt gewählt werde, sondern zudem explizit festgehalten, dass dieser
tages am 5. September 2011, A-Drs. 17(4)327 G, S. 13 ff.; s. a. den 2011 eingebrachten Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen (BT-Drs. 17/ 4694): § 7 VI („Erzielt eine Partei bei der Zuteilung mehr Direktmandate, als ihr Sitze nach Abs. 5 zustehen, so werden die überzähligen Wahlkreissitze der Kandidaten dieser Partei mit dem geringsten prozentualen Stimmenanteil nicht besetzt; bei gleichem Stimmenanteil entscheidet das Los.“). 86 Für Zulässigkeit einer Streichung neuerdings Christoph Schönberger, Öffentliche Anhörung des Bundestags-Innenausschusses am 25. Mai 2020, A-Drs. 19(4)502 B, S. 7 zuvor schon Meyer, Zukunft (Anm. 27), S. 86. Demgegenüber sehen die Regelung als willkürlich und mit den Wahlrechtsgrundsätzen der Gleichheit und Unmittelbarkeit unvereinbar an Josef Isensee, Funktionsstörung im Wahlsystem: das negative Stimmgewicht, DVBl. 2010, S. 269, 274; Heiko Holste, Die Bundestagswahl und das verfassungswidrige Wahlgesetz RuP 2009, S. 152, 154; ders., Demokratie wieder flott gemacht: Das neue Sitzzuteilungsverfahren im Bundeswahlgesetz sichert das gleiche Wahlrecht, NVwZ 2013, S. 529, 534; Franz Urban Pappi/Michael Herrmann, Überhangmandate ohne negatives Stimmgewicht: Machbarkeit, Wirkungen, Beurteilung, ZParl 2010, S. 260, 265; Johann Hahlen, Öffentliche Anhörung des Bundestags-Innenausschusses am 4. Mai 2009, 92. Sitzung, Protokoll Nr. 16/92, S. 9f.; Heinrich Lang, Öffentliche Anhörung des Bundestags-Innenausschusses am 4. Mai 2009, 92. Sitzung, Protokoll Nr. 16/92, S. 26; ders., in: Grzeszick/ders. (Anm. 5), S. 84; Thomas Wolf, Das negative Stimmgewicht als wahlgleichheitswidriger Effekt, 2016, S. 476 f., 508; Boehl, Abgeordnete (Anm. 63), S. 197, 199; ders., in: Schreiber, BWahlG (Anm. 28) § 6 Rn. 61 f. 87 Die entsprechende Feststellung obliegt dem dafür zuständigen Wahlkreisausschuss (§ 41 S. 1 BWG i. V. m. § 76 Abs. 3 BWO).
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als solcher schon aufgrund der Auszählung der Stimmen – ersichtlich gemeint sind hier die Erststimmen – als Mitglied des Bundestages legitimiert ist.88 Es lässt sich jedenfalls im System der personalisierten Verhältniswahl nicht argumentieren, die Wahl des Wahlkreisabgeordneten stelle eben keine „endgültige“ Wahl dar, sondern stehe unter dem Vorbehalt der Verrechnung mit den Listenmandaten. Das wäre nicht nur kaum mit dem Grundsatz der Folgerichtigkeit innerhalb des Wahlsystemteils vereinbar.89 Eine solche „vorläufige“ Zuteilung kollidierte auch mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Denn das Gericht hat in seiner Auseinandersetzung mit Wirkung und Zulässigkeit von Überhangmandaten nicht nur klargestellt, dass Wahlkreisbewerber über die schon erwähnte eigene, auf der Mehrheitswahl beruhende Legitimation verfügten. Es hat zugleich ausgeführt, dass Listenmandate demgegenüber erst im Wege eines mathematischen Sitzzuteilungsverfahrens zugeteilt, bei dem es zwar zu einer Anrechnung der Direktmandate komme, bei dem aber sowohl die Verhältnis- wie auch Mehrheitswahl den Abgeordneten und damit dem Parlament demokratische Legitimation in je eigener, voneinander ganz verschiedener Weise vermittelt90, wobei die Ergebnisse der vorgeschalteten Mehrheitswahl erhalten bleiben müssten.91 Verfassungsrechtlich nicht haltbar ist es zudem, dass im Teilsystem der vorgeschalteten Mehrheitswahl nicht mehr die Gleichheit der Wahl gewahrt würde. Die Streichung eines nach den Regeln der Mehrheitswahl gewonnenen Mandats aus Gründen, die in der Logik der Verhältniswahl wurzeln, wäre im Subsystem der Mehrheitswahl ein sach- und wahlgleichheitswidriger Eingriff und dürfte nach der Konkretisierung der im DemokraBVerfGE 95, 335 (357) – Überhangmandate II. Bernd Grzeszick, Rationalitätsanforderungen an die parlamentarische Rechtsetzung im demokratischen Verfassungsstaat, VVDStRL 71 (2012), S. 49 ff.; ders., in: Ders./Lang (Anm. 5), S. 124 ff.; Lang, in: Grzeszick/ders. (Anm. 5), S. 51 ff. 90 BVerfGE 97, 317 (323) – Überhangmandate III; BVerfGE 95, 335 (352) – Überhangmandate II. 91 BVerfGE 95, 335 (356) – Überhangmandate II. 88 89
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tieprinzip vorausgesetzten Gleichheit der Wahl (Art. 38 Abs. 1 GG) nicht zu rechtfertigen sein.92 Dass nach Mehrheit gewählte Kandidaten keinen Sitz bekämen, ihre Wähler keinen Repräsentanten und die betroffenen Wahlkreise ohne Abgeordneten blieben dürfte dem Wähler ebenso schwer vermittelbar sein, wie die Tatsache, dass das Modell dazu führen könnte, dass der Verlierer des Wahlkreises im Bundestag säße, der Gewinner aber nicht. Schließlich ist es politisch wenig überzeugend, gerade denjenigen, der einen gegebenenfalls politisch umkämpften Wahlkreis nur knapp gewonnen hat, anschließend ein Mandat mit dem Argument zu verweigern, der Sieg sei im bundesweiten Vergleich mit einem zu geringen Stimmenanteil geholt worden. d) Grabenwahlsystem Bei dem zuletzt im Frühjahr mit einem veröffentlichten Schreiben von 24 Abgeordneten der CDU/CSU an ihren Fraktionsvorsitzenden wieder in die Diskussion gebrachten Grabenwahlsystem bleiben die Ergebnisse der Erst- und Zweitstimmen unverrechnet. Das heißt: Ausgehend von den in § 1 Abs. 1 BWG genannten 598 Abgeordneten werden in den in § 1 Abs. 2 BWG genannten 299 Direktwahlkreisen Kandidaten nach dem Mehrheitswahlrecht gewählt, es gewinnt also der Kandidat mit den jeweils meisten Erststimmen. Die übrigen 299 Sitze werden nach dem Anteil der auf die Parteien entfallenen Zweitstimmen vergeben. Ob das Grabenwahlsystem tatsächlich verfassungswidrig ist – wie immer wieder behauptet wird, obschon das Bundesverfassungsgericht selbst es gleich mehrfach als Alternative explizit erwähnt hat93 – mag dahinstehen. Ihm kommt jedenfalls derzeit Ebenso Boehl, Abgeordnete (Anm. 63), S. 197 (199). Explizit als verfassungsgemäße Alternative erwähnen das Grabenwahlsystem: BVerfGE 95, 335 (354) – Überhangmandate II; BVerfGE 122, 304 (311) – Berliner Zweitstimmen; BVerfGE 121, 266 (296) – Überhangmandate IV, negatives Stimmgewicht; BVerfGE 131, 316 (336) – negatives Stimmgewicht II, Überhangmandate V. 92 93
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politisch kaum eine Realisierungschance zu. Das Grabenwahlsystem hätte zwar den Vorteil, dass es die Sitzzahl stabil halten könnte, als halbes Mehrheitswahlrecht könnte es aber nicht die proportionale Abbildung der Wähler garantieren. Das sei an seinen faktischen Auswirkungen belegt: Hätte der Wahl 2017 das Grabenwahlsystem zugrundgelegen, wären CDU und CSU bei einem Zweitstimmenergebnis von 33%94 ein Sitzanteil im Bundestag von 56% zugekommen.95 Vor diesem Hintergrund verwundert an sich, dass das Bundesverfassungsgericht mehrfach das Grabenwahlsystem explizit als verfassungsgemäße Alternative anpreist, gleichzeitig aber im System der personalisierten Verhältniswahl in den Überhangmandaten eine gleichheitswidrige Verzerrung des Parteienproporzes erblickt. Mit Blick auf alle diese Ungereimtheiten und Schwierigkeiten, ein alle überzeugendes Modell zu finden, dürfte es richtig gewesen sein, dass der Bundestag eine Kommission zur Reform des Wahlrechts eingesetzt hat. Sie hat noch zwei weitere große Themenkreise auf der Agenda, die ich noch kurz anschneiden möchte.
94 Zum Zweitstimmenergebnis der Bundestagswahl vgl. https://www. bundeswahlleiter.de/info/presse/mitteilungen/bundestagswahl-2017/34_ 17_endgueltiges_ergebnis.html (zuletzt abgerufen am 15.7.2022). 95 Umgerechnet auf das Ergebnis der letzten Bundestagswahl im Jahr 2017 hätte der Vorschlag – die Fortgeltung der Fünf-Prozent-Hürde für die nach der Zweitstimme zu vergebenden Listenmandate unterstellt – folgende Sitzverteilung zur Folge: Von den 598 Sitzen entfielen 334 auf CDU/CSU (55,8%), 124 auf die SPD (20, 7%), 43 auf die AfD (7,2%), jeweils 34 auf FDP und Linke (5,7%) sowie 29 Sitze auf Bündnis 90/Die Grünen (4,8%) (rundungsbedingt ergibt die Addition der Prozentzahlen nicht exakt 100,0%). Die im Zweitstimmenergebnis zum Ausdruck gebrachte Zustimmung von 32,9% für die Unionsparteien könnte mit dem vorgeschlagenen Grabenwahlrecht in einen Sitzanteil von knapp 56% umgemünzt werden, dazu Sebastian Kluckert, Grabenwahlrecht (Anm. 19), S. 1217 (1218).
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4. Absenkung des Wahlalters und Parité Seit einigen Jahren wird diskutiert, ob de lege lata ein Wahlrecht verfassungsrechtlich zulässig ist, dass es ermöglicht, die Wahl zwingend unter dem Grundsatz der Geschlechterparität durchzuführen.96 Im Jahr 2019 zunächst in Brandenburg97 und dann in Thüringen98 entsprechend vorgenommene Änderungen der jeweiligen Wahlgesetze haben die Landesverfassungsgerichte als mit der Verfassung nicht vereinbar angesehen.99 Auch einer gegen die Gültigkeit der Bundestagswahl von 2017 gerichteten Wahlprüfungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht kam 96 Zur Debatte: Hubertus Gersdorf, Das Paritätsurteil d. ThürVerfGH springt doppelt zu kurz, DÖV 2020, S. 779; Anika Klafki, Parität – Der dt. Diskurs im globalen Kontext, DÖV 2020, S. 856 ff.; Claudia Danker, Paritätische Aufstellung v. Landeswahllisten – Beeinträchtigung d. Wahlrechtsgrundsätze, NVwZ 2020, S. 1250 ff.; Michael Sachs, Staatsorganisationsrecht: Geschlechterparität bei Landtagswahlen. Geschlechtsbezogene Vorgaben für die Aufstellung von Landeslisten für Landtagswahlen durch die Parteien verstoßen gegen die Landesverfassung (Wahlgleichheit und Unterscheidungsverbot), JuS 2020, S. 1230 ff.; Claus Dieter Classen, Parité-Gesetze: Frauen sollen Frauen wählen können, ZRP 2021, S. 50; Antje v. Ungern-Sternberg, Parité-Gesetzgebung auf dem Prüfstand des Verfassungsrechts, JZ 2019, S. 525 ff.; Martin Morlok/Alexander Hobusch, Ade parité? – Zur Verfassungswidrigkeit verpflichtender Quotenregelungen bei Landeslisten, DÖV 2019, S. 14 ff.; dies., Sinnvoll heißt nicht verfassungsgemäß – zu Meyers Kritik an der Paritätskritik, NVwZ 2019, S. 1734; Wolfgang Hecker, Verfassungsrechtliche Fragen der neueren Paritätsgesetzgebung, ZRP 2020, S. 226; Frauke Brosius-Gersdorf, Auf dem Tandem ins Parlament, djbZ 2019, S. 57 ff.; Jörg Burmeister/Holger Greve, Parité-Gesetz und Demokratieprinzip, in: ZG 2019, S. 154 ff.; Hermann Butzer, Diskussionsstand und Verfassungsfragen einer Paritégesetzgebung auf Bundes- und Landesebene, in: NdsVbl. 2019, S. 10 ff.; Sina Fontana, Parität als verfassungsrechtlicher Diskurs, in: DVBl. 2019, S. 1153 ff.; Hans Meyer, Verbietet das Grundgesetz eine paritätische Frauenquote bei Listenwahlen zu Parlamenten?, NVwZ 2019, S. 1245 ff. 97 Vgl. Zweites Gesetz zur Änderung des Brandenburgischen Landeswahlgesetzes – Parité-Gesetz, vom 12. Februar 2019, GVBl. I Nr. 1. 98 Siebtes Gesetz zur Änderung des Thüringer Landeswahlgesetzes – Einführung der paritätischen Quotierung vom 30. Juli 2019 – Paritätsgesetz, GVBl. 2019, S. 322. 99 BbgVerfG NJW 2020, S. 3579 – Paritätsgesetz; ThürVerfGH NVwZ 2020, S. 1266 – Thüringer Paritätsgesetz.
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kein Erfolg zu. Sie war darauf gestützt, dass keine gesetzliche Regelung zur paritätischen Gestaltung der Wahlvorschlagslisten durch die Parteien bestand. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Beschwerde schon wegen nicht hinreichender Erfüllung der die Beschwerdeführer treffenden Darlegungslasten zurückgewiesen.100 Zu bedenken ist allerdings, dass es sich bei der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts um eine Prozessentscheidung handelt. Die Reaktionen darauf fallen naturgemäß unterschiedlich aus. Qualifizieren manche Paritätsreglungen als Irrweg101 oder leiten aus dem Karlsruher Beschluss jedenfalls im Verbund mit den beiden Entscheidungen aus Brandenburg und Thüringen ab, dass Parité-Regelungen derzeit wenig Realisierungschancen haben102, entnehmen andere dem Beschluss, das Bundesverfassungsgericht habe paritätische Wahlgesetze nicht als offensichtlich verfassungswidrig betrachtet, es habe die Rechtsprechung der Landesverfassungsgerichte zwar zur Kenntnis genommen, aber nicht bestätigt, ja es habe dem Gesetzgeber sogar „eine Art Bastelanleitung an die Hand gegeben, sollte sich eine politische Mehrheit finden, die an der Unterrepräsentation von Frauen im Deutschen Bundestag etwas zu ändern vorhat“.103 Ein Neuansatz – gegebenenfalls mit Verfassungsänderung – dürf100 BVerfG, NVwZ 2021, S. 469 – unzulässige Wahlprüfungsbeschwerde wegen fehlender paritätischer Ausgestaltung des Wahlvorschlagsrechts für Bundestagswahlen. 101 So Wolfgang Hecker, in seiner Anmerkung zum Beschluss des BVerfG, NVwZ 2020, S. 479 (480): „Die Paritätsgesetzgebung, insbesondere auf einfach-gesetzlicher Grundlage, war dagegen von Anfang an ein Irrweg.“ 102 Vgl. Michael Sachs, Verfassungsrecht: Geschlechterparität bei der Bundestagswahl, JuS 2021, S. 897 (900): „Für eine identitär-gruppenbezogene Paritätsgesetzgebung zugunsten von Frauen, die Angehörige des anderen Geschlechts bzw. der anderen Geschlechter benachteiligt, ist danach kein Raum.“ 103 Zu dieser Interpretation Silke Laskowski, die das Verfahren vor dem BVerfG geführt hatte sowie Anna Katharina Mangold, von der die Formulierung „Bastelanleitung“ stammt, Nachweise: https://www.lto.de/ recht/nachrichten/n/bverfg-2bvc4619-wahlpruefungsbeschwerde-bundes tag-paritaetsgesetz-frauenanteil-abgeordnete-parteien-grundgesetz-frauen quote/ (zuletzt abgerufen am 15.7.2022).
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te eine komplexe, auch gesellschaftliche Debatte voraussetzen, die bedauerlicherweise erst am Anfang steht. Die Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre müsste mit einer Änderung von Art. 38 Abs. 2 GG einhergehen. Als Maßstab einer solchen Verfassungsänderung fungiert Art. 79 Abs. 3 GG und das dort über Art. 20 GG in Bezug genommene Demokratieprinzip. Jenes führt in Bezug auf das Wahlalter in ein seit jeher bestehendes Spannungsverhältnis zwischen Art. 20 Abs. 2 GG, der in Bezug (auch) auf die Ausübung der Staatsgewalt das Volk in seiner durch die gemeinsame Staatsangehörigkeit vermittelten Gesamtheit von unbestimmter Allgemeinheit104 in Bezug nimmt und der Konkretisierung des Wahlalters in Art. 38 Abs. 2 GG, der derzeit die Fähigkeit zur Ausübung des Wahlrechts an die Erfüllung des 18. Lebensjahres bindet. Dass die Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre mit den Grundsätzen des Demokratischen Prinzips unvereinbar wäre, käme nur in Betracht, wenn man 16-jährige als nicht mit der Verstandsreife ausgestattet sähe, die für die Ausübung des Wahlrechts unabdingbare Voraussetzung ist. Hinter der Fixierung einer bestimmten Altersgrenze stehen die Kommunikations- und Integrationsfunktion der Wahl. Spannend dürfte sein, wie sich hier die schon erwähnte Rechtsprechung zu den sog. Wahlrechtsausschlüssen auswirkt.105 Zwar hat das Bundesverfassungsgericht noch im Januar 2019 den Gesetzgeber durchaus als verfassungsrechtlich verpflichtet angesehen, die zentralen Funktionen des Wahlakts und hier insbesondere dessen Kommunikations- und Integrationsfunktion zu
104 BVerfGE 83, 37 (50 f.) – Ausländerwahlrecht bei Gemeinde- und Kreiswahlen (Schleswig-Holstein); BVerfGE 83, 60 (74 f.) – Ausländerwahlrecht, Bezirksvertretung Hamburg. 105 Dazu unter expliziter Berufung auf die Entscheidungen des BVerfG zu den skizzierten Wahlrechtsausschlüssen Hermann Heußner/ Arne Pautsch, Die Verfassungswidrigkeit des Wahlrechtsausschlusses von 17-Jährigen bei den Wahlen zum Europäischen Parlament, NVwZ 2019, 993 ff.
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sichern106, selbst, wenn damit Beschränkungen des Grundsatzes der Allgemeinheit verbunden sind.107 Pointiert hatte auch das Bundesverwaltungsgericht festgehalten, der Gesetzgeber sei von Verfassung wegen gehalten, in typisierender Weise eine hinreichende Verstandesreife zur Voraussetzung des aktiven Stimmrechts zu machen, weil dadurch dem Demokratieprinzip des Grundgesetzes Rechnung getragen werde. Die Kommunikationsfunktion der Wahl setze notwendigerweise ein ausreichendes Maß an intellektueller Reife voraus, ohne die keine verantwortliche Wahlentscheidung getroffen werden könnte.108 Nur wenig später hat das Bundesverfassungsgericht im April 2019 im Kontext der Europawahl allerdings auf jede normative Sicherung der Kommunikationsfunktion verzichtet.109 106 BVerfGE 151, 1 (19), Rdnr. 44, 99, 46 – Wahlrechtsausschluss Bundestagswahl: Den Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl mit kollidierenden Verfassungsbelangen zum Ausgleich zu bringen, ist grundsätzlich Sache des Gesetzgebers“, unter Hinweis auf BVerfGE 95, 408 (420) – Grundmandatsklausel; BVerfGE 121, 266 (303) – Überhangmandate IV, negatives Stimmgewicht I; BVerfGE 132, 39 (48), Rdnr. 26 – Wahlberechtigung Auslandsdeutsche. 107 BVerfGE 151, 1 (19), Rdnr. 44 – Wahlrechtsausschluss Bundestagswahl: „Zu den Gründen, die geeignet sind, Einschränkungen der Allgemeinheit der Wahl und mithin Differenzierungen zwischen den Wahlberechtigten zu legitimieren, zählen insbesondere die mit demokratischen Wahlen verfolgten Ziele der Sicherung des Charakters der Wahl als eines Integrationsvorgangs bei der politischen Willensbildung des Volkes und der Gewährleistung der Funktionsfähigkeit der zu wählenden Volksvertretung“, unter Hinweis auf BVerfGE 95, 408 (418) – Grundmandatsklausel; BVerfGE 120, 82 (107) – Fünf-Prozent-Sperrklausel SchleswigHolstein; BVerfGE 129, 300 (320 f.) – Fünf-Prozent-Sperrklausel EuWG; BVerfGE 132, 39 (50), Rdnr. 32 – Wahlberechtigung Auslandsdeutsche, wozu auch die Sicherung der Kommunikationsfunktion der Wahl gehöre. 108 BVerwG, U. v. 13. Juni 2018, Az 10 C 8.17, Rdnr. 14. 109 Vgl. BVerfGE 151, 152 – Wahlrechtsausschluss Europawahl: Bei Anträgen auf Eintragung in das Wählerverzeichnis (§§ 17, 17a Europawahlordnung) sowie bei Einsprüchen und Beschwerden gegen die Richtigkeit oder Vollständigkeit der Wählerverzeichnisse (§ 21 Europawahlordnung) für die neunte Wahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments am 26. Mai 2019 sind § 6a Absatz 1 Nummer 2 und 3 des Europawahlgesetzes und § 6a Absatz 2 Nummer 1 in Verbindung mit Absatz 1 Nummer 2 und 3 des Europawahlgesetzes nicht anzuwenden.
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III. Wahlprüfungsrechtliche Spannungslagen 1. Überblick über den wahlrechtlichen Rechtsschutz Kommt es im Kontext einer Parlamentswahl zu Rechtsverletzungen, kann zwischen dem Rechtsschutz vor und nach Durchführung der Wahl unterschieden werden. a) Rechtsschutz vor Durchführung der Wahl Vor Durchführung einer Bundestagswahl schließt § 49 BWG nach der nicht unbestrittenen herrschenden Meinung jeglichen Rechtsschutz aus.110 Die mit „Anfechtung“ überschriebene Vorschrift lautet: „Entscheidungen und Maßnahmen, die sich unmittelbar auf das Wahlverfahren beziehen, können nur mit den in diesem Gesetz und in der Landeswahlordnung vorgesehenen Rechtsbehelfen sowie im Wahlprüfungsverfahren angefochten 110 Dieser Ausschluss folgt aus § 49 BWG. Das BVerfG sieht die Vorschrift in ständiger Rechtsprechung als verfassungsgemäß an, da der durch § 49 BWG bewirkte Rechtswegausschluss verfassungsrechtlich auch mit Blick auf Art. 19 Abs. 4 GG gerechtfertigt sei, weil die einfachrechtliche Vorschrift des Bundeswahlgesetzes einen Art. 41 GG konkretisierenden Regelungsgehalt entfalte, erstmals dargetan in BVerfG, B. v. 31. August 1957, Az 2 BvR 4/57 – unveröffentlicht; später etwa BVerfGE 34, 81 (94) – Sperrklausel, Wahlgleichheit; BVerfGE 66, 232 (234) – Spezialität des Wahlprüfungsverfahrens; BVerfGE 74, 96 (101) – Nichtanerkennung als Partei; BVerfGE 83, 156 (157 f.) – Nichtannahmebeschluss; zur Kritik von Teilen des Schrifttums etwa Martin Morlok, in: Horst Dreier (Hrsg.), GG, Bd. II, 3. Aufl. 2015, Art. 41 Rdnr. 12 „unzulässige Rechtswegversagung“. In den Ländern finden sich vergleichbare Vorschriften, etwa in § 48 SächsWahlG. In der kurz vor der Wahl zum 20. Deutschen Bundestag zwischen dem Meinungsforschungsinstitut forsa und dem Bundeswahlleiter virulent gewordenen Streitfrage, ob Briefwähler von Umfrageinstituten bei der berühmten Sonntagsfrage berücksichtigt werden dürfen (dazu auch Henrik Eibenstein, Dürfen Briefwähler von Umfrageinstituten berücksichtigt werden?, Verfassungsblog v. 14. September 2021, https://verfassungsblog.de/duerfen-briefwaehler-vonumfrageinstituten-beruecksichtigt-werden/ (zuletzt abgerufen am 15.7. 2022), hat sich der Hess VGH weitgehend der Auffassung von forsa angeschlossen, ohne sich – anders als vom Bundeswahlleiter vorgetragen – mit § 49 BWG zu beschäftigen, vgl. Hess VGH, B. v. 22. September 2021, Az 8 B 1929/21.
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werden.“ Das Bundesverfassungsgericht hat dieser Formulierung entnommen, dass nach der gesetzlichen Konzeption Rechtsschutz im Wahlverfahren grundsätzlich erst nach Durchführung einer Wahl zu erlangen sei.111 Die Vorschrift bewirkt aber nicht nur einen vollständigen Ausschluss fachgerichtlichen Rechtsschutzes – im konkreten also verwaltungsgerichtlicher Klagen – sondern ihr Anwendungsbereich wurde vom Bundesverfassungsgericht auch auf die Verfassungsbeschwerde ausgedehnt.112 Ob sich die Spezialität des spezifisch wahlrechtlichen Rechtsschutzes und gegebenenfalls mit welcher Reichweite auch auf das Organstreitverfahren sowie das abstrakte Normenkontrollverfahren bezieht, ist nicht eindeutig geklärt113; darauf ist noch zurückzukommen. 111 BVerfGE 85, 148 (159) – Stimmenauszählung, Wahlprüfungsumfang; BVerfGE 134, 135 (138), Rdnr. 5 – vorverlegte Wahlprüfungsbeschwerde, SächsVerfGH, B. v. 27. August 2014, Az Vf. 56-IV-14 (HS), Vf. 57-IV-14 (eA), Rn. 6 – Unzulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde gegen Entscheidung des Landeswahlausschusses über die Zulassung einer Landesliste, juris. 112 BVerfGE 14, 154 (155) – keine Anrufung des BVerfG vor Durchführung der Wahl; BVerfGE 46, 196 (198) – Spezialität des Wahlprüfungsverfahrens; BVerfGE 66, 232 (234) – Spezialität des Wahlprüfungsverfahrens; auf dieser Linie judizieren auch die Landesverfassungsgerichte, etwa SächsVerfGH: „Für die Wahlen zum Sächsischen Landtag sehen Art. 45 SächsVerf, § 48 SächsWahlG und das Sächsische Wahlprüfungsgesetz (SächsWprG) die grundsätzlich ausschließlich statthaften Rechtsbehelfe und Anfechtungsmöglichkeiten vor, der Rechtsbehelf der Verfassungsbeschwerde ist damit in verfassungskonformer Weise ausgeschlossen.“, B. v. 27. August 2014, Az Vf. 56-IV-14 (HS), Vf. 57-IV-14 (eA), Rdnr. 6 – Unzulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde gegen Entscheidung des Landeswahlausschusses über die Zulassung einer Landesliste, juris. 113 Für Organstreitverfahren offengelassen in BVerfGE 83, 156 (157 f.) – Nichtannahmebeschluss, weil der Antrag aus anderen Gründen verworfen wurde; s. a. BVerfG (K), B. v. 31. Juli 2009, Az 2 BvQ 45/09, Rdnr. 5 juris – Bundestagswahl 2007; mit Blick auf Organstreitverfahren eindeutig Philipp Austermann, in: Schreiber, BWahlG (Anm. 28), § 49 Rdnr. 3; explizite Nennung auch des abstrakten Normenkontrollverfahrens bei Paul Glauben, in: Wolfgang Kahl/Christian Waldhoff/Christian Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Stand der 183. Aktualisierung (März 2017), Art. 41 Rdnr. 108.
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b) Rechtsschutz nach Durchführung der Wahl Ist die Wahl durchgeführt, obliegt der auf etwaige Wahlfehler bezogene Rechtsschutz einem eigenen Institut, der sog. Wahlprüfung. Seit die Parlamente den Fürsten das Recht der (eigenen) Legitimationsprüfung abgerungen haben, ist die Wahlprüfung zweistufig aufgebaut. Zunächst prüft das Parlament selbst, ob sich bei der Wahl Wahlfehler ereignet haben, Art. 41 Abs. 1 GG. Anschließend steht gegen dessen Entscheidung als verfassungsgerichtlicher Rechtsbehelf die Wahlprüfungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht zur Verfügung, Art. 41 Abs. 2 GG. 2. Spezialität des Wahlprüfungsverfahrens a) Funktion der Wahlprüfung Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dient das Wahlprüfungsverfahren zunächst dazu, die Gültigkeit der Wahl zu prüfen.114 Die Gültigkeitsprüfung ist dabei zweistufig aufgebaut: Auf der ersten Stufe wird festgestellt, ob es bei der Wahl zu einem Wahlfehler gekommen ist. In sachlicher Hinsicht werden als Wahlfehler alle Verstöße sowohl gegen die Wahlrechtsgrundsätze des Art. 38 Abs. 1 GG als auch gegen weitere Wahlrechtsvorschriften verstanden.115 Prüfungs-
114 S. bereits BVerfGE 1, 430 (433) – Fristwahrung bei Wahlprüfungsbeschwerde; BVerfGE 4, 370 (372) – Mandatsrelevanz; BVerfGE 85, 148 (158 f.) – Wahlprüfungsumfang; BVerfGE 89, 243 (254) – Kandidatenaufstellung; BVerfGE 89, 291 (299) – Wahlprüfungsverfahren; aus neuerer Zeit BVerfG, B. v. 30. August 2016, Az Vz 1/16, Rdnr. 31 – Beschwerdekammerbeschluss; Kathrin Groh, in: Ingo v.Münch/Philip Kunig (Hrsg.), Grundgesetzkommentar, Bd. 1, 7. Auflage 2021, Art. 41 Rdnr. 5; Siegfried Magiera, in: Michael Sachs (Hrsg.), Grundgesetzkommentar, 9. Aufl. 2021, Art. 41 Rdnr. 2; zur nunmehrigen Berücksichtigung subjektiver Wahlrechtsverletzungen sogleich im Text sowie etwa BVerfGE 146, 327 (349), Rdnr. 58 – Eventualstimme Bundestagswahl 2013. 115 Groh, in: v. Münch/Kunig (Anm. 114), Art. 41 Rdnr. 16; Klein/ Schwarz, in: Dürig/Herzog/Scholz (Anm. 75), Art. 41 Rdnr. 102.
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maßstab ist demnach das formelle und materielle Wahlrecht.116 Auf der zweiten Stufe wird sodann die Auswirkung des Wahlfehlers auf das Wahlergebnis im Sinne einer Ergebnis- bzw. Mandatsrelevanz untersucht.117 Terminologisch lässt sich dabei zwischen subjektiven Wahlrechtsverletzungen und Verletzungen des objektiven Wahlrechts unterscheiden. Mit letzteren sind solche Wahlfehler beschrieben, die sich als mandatsrelevant erweisen, also auf die Sitzverteilung im Parlament Einfluss nehmen.118 Während das Bundesverfassungsgericht früher subjektive Wahlrechtsverletzungen nur als Anlass, nicht aber als Gegenstand des Wahlprüfungsverfahrens ansah und dieses demzufolge als nur dem Schutz des objektiven Wahlrechts zu dienen bestimmt qualifizierte119, besteht nach der Reform des Jahres 2012 Klarheit, dass die Wahlprüfung dem Schutz des subjektiven und des objektiven Wahlrechts dient.120 Auf den Verfahrensgegenstand des Wahlprüfungsverfahrens bezogen bedeutet 116 Heinrich Lang, in: Karl-Heinrich Friauf/Wolfram Höfling (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, Stand der 14. Erg.-Lfg. (2005), Art. 41 Rdnr. 22; Glauben, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Anm. 113), Art. 41 Rdnr. 114. 117 Dieser Grundsatz ist an sich nicht kodifiziert, das BVerfG hat ihn aus dem Sinn der Wahlprüfung hergeleitet, BVerfGE 4, 370 (372 f.) – Mandatsrelevanz. 118 Lang, in: Friauf/Höfling (Anm. 116), Art. 41 Rdnr. 92. 119 BVerfGE 22, 277 (281) – Spezialität des Wahlprüfungsverfahrens; BVerfGE 28, 214 (219) – Landtagswahlgesetz, Wahlprüfungsverfahren. 120 BVerfG, Beschwerdekammer, B. v. 30. August 2016, Az 2 BvC 26/ 14, Vz 1/16, Rdnr. 32, juris – Dauer eines Wahlprüfungsverfahrens: „Allerdings zielt das Wahlprüfungsverfahren generell nicht nur auf den Schutz des objektiven Wahlrechts ab, um so die richtige Zusammensetzung des Bundestages zu gewährleisten . . . sondern bezweckt auch den subjektiv-rechtlichen Wahlrechtsschutz (vgl. BVerfGE 34, 81 [95]; zusammenfassend BVerfGK 16, 153 [156])“; s. a. BVerfGE 146, 327 (349), Rdnr. 58 – Eventualstimme Bundestagswahl 2013; Klein/Schwarz, in: Dürig/Herzog/Scholz (Anm. 75), Art. 41 Rdnr. 47: „Das Wahlprüfungsverfahren dient dem Schutz des objektiven wie des subjektiven Wahlrechts.“; sowie zuvor bereits Lang, in: Friauf/Höfling (Anm. 116), Art. 41 Rdnr. 58 ff., 62; ders., Subjektiver Rechtsschutz im Wahlprüfungsverfahren, 1997, S. 201 ff. (doppelfunktionaler Verfahrensgegenstand) und passim; den subjektiven Rechtsschutzcharakter greift auch das einfache Recht in § 48 Abs. 3 BVerfGG auf.
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dies, dass dort sowohl über Verletzungen des subjektiven wie auch des objektiven Wahlrechts judiziert wird und sich der Tenor der Entscheidung gegebenenfalls zu beiden Varianten verhalten muss, § 48 Abs. 3 BVerfGG.121 Dabei prüft das Bundesverfassungsgericht auch in Wahlprüfungsverfahren die Geltung des der Wahl zugrundeliegenden einfachen Wahlrechts.122 b) Sinn und Zweck des wahlprüfungsrechtlichen Ausschließlichkeitsanspruchs Die Bundestagswahl stellt eine Massenveranstaltung dar, bei der schon aufgrund der Fülle der Einzelentscheidungen eine gewisse Störanfälligkeit besteht. Andererseits steht sie aber unter dem Erfordernis gleichzeitiger und termingerechter Durchführung.123 Vor diesem Hintergrund geht das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass die Rechtskontrolle der Fülle von Einzelentscheidungen während des Wahlablaufs möglichst begrenzt, gebündelt und einem nach der Wahl stattfindenden Verfahren vorbehalten wird.124 In die-
121 Lang, in: Friauf/Höfling (Anm. 116), Art. 41 Rdnr. 149; Klein/ Schwarz, in: Dürig/Herzog/Scholz (Anm. 75), Art. 41 Rdnr. 116. 122 BVerfGE 121, 266 (295) m. w. N. – Überhangmandate IV, negatives Stimmgewicht I; BVerfGE 122, 304 (307) – Berliner Zweitstimmen; s. a. Lars Brocker, BeckOK, GG, 49. Edition, Stand: 15. November 2021, Art. 41 Rdnr. 3. 123 Horst Risse/Karsten Witt, in: Dieter Hömig/Heinrich Amadeus Wolff, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 13. Auflage 2022, Art. 41 Rdnr. 2. 124 Das hat das BVerfG schon früh klargestellt, vgl. nur BVerfGE 14, 154 (155) – keine Anrufung des BVerfG vor Durchführung der Wahl und namentlich in dem die Wahlrechtsausschlüsse nach § 12 Nr. 2 und 3 BWG betreffenden Beschluss vom 29. Januar 2019 ebenfalls explizit ausgesprochen, BVerfGE 151, 1 (14), Rdnr. 31 – Wahlrechtsausschluss Bundestagswahl; BVerfGE 149, 378 (381), Rdnr. 9 – Wahleinspruch; a. A. Morlok, in: Dreier (Anm. 110), Art. 41 Rdnr. 12; die Literatur stimmt der Spezialitätsthese aber überwiegend zu; etwa Brocker, in: BeckOK, GG (Anm. 122), Art. 41 Rdnr. 11 m. w. N.; Lang, in: Friauf/Höfling (Anm. 116), Art. 41 Rdnr. 68; ders., subjektiver Rechtsschutz, (Anm. 120), S. 174 ff.; Glauben, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Anm. 113), Art. 41 Rdnr. 165; Win-
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sem Verfahren erfolgt nach dem Gesagten eine Prüfung sämtlicher Wahlfehler, der Verletzung subjektiver Wahlrechte und des der Wahl zugrundgelegten Wahlgesetzes; gegebenenfalls zieht das Bundesverfassungsgericht aus festgestellten Wahlfehlern auch Folgerungen für die Gültigkeit der Wahl.125 Entscheidungen und Maßnahmen, die sich unmittelbar auf das Wahlverfahren beziehen, können daher nur im Wahlprüfungsverfahren und mit den dort vorgesehenen Rechtsbehelfen angefochten werden.126 Rechtsverletzungen im Kontext einer Wahl können damit nur mit den im Bundewahlgesetz und der Bundeswahlordnung vorgesehenen Rechtsbehelfen sowie im nachträglichen Wahlprüfungsverfahren einer (verfassungs)gerichtlichen Kontrolle zugeführt werden können.127 3. Rechtsschutzdefizite Ungeachtet dieses gleichsam gesicherten und über Jahrzehnte kanonisierten wahlprüfungsrechtlichen Standes sind in den letzten Jahren Herausforderungen entstanden, die den Gesetzgeber
fried Kluth, in: Bruno Schmidt-Bleibtreu (Hrsg.), GG, 15. Aufl. 2021, Art. 41 Rdnr. 27. 125 BVerfGE 146, 327 (349), Rdnr. 58 – Eventualstimme Bundestagswahl 2013; BVerfGE 130, 212 (224) – Minderjährigenanteile in Wahlkreisen; BVerfGE 121, 266 (289, 311) – Überhangmandate IV, negatives Stimmgewicht I; obschon an sich nach der Logik der Gültigkeitsprüfung in diesen Fällen auch Konsequenzen für die Gültigkeit der Wahl gezogen werden müssten – jedenfalls soweit der Wahlfehler reicht – führt das BVerfG auch in Fällen mandatsrelevanter Wahlfehler eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durch. 126 BVerfGE 66, 232 (234) – Spezialität des Wahlprüfungsverfahrens; BVerfGE 74, 96 (101) – Parteifähigkeit einer vorgeblichen politischen Partei im Organstreitverfahren; BVerfGE 103, 131 (136 ff.) – Wahlprüfung Hessen. 127 Das BVerfG sieht § 49 BWG bzw. die darin enthaltene Spezialität des wahlprüfungsrechtlichen Rechtsschutzes seit jeher als verfassungsgemäß an, BVerfGE 14, 154 (155) – keine Anrufung des BVerfG vor Durchführung der Wahl; BVerfGE 16, 128 (129 f.) – Spezialität der Wahlprüfung; BVerfGE 29, 18 (19) – Spezialität der Wahlprüfung; BVerfG (K), B. v. 8. September 2009, Az 2 BvQ 57/09, Rdnr. 5, juris.
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bzw. das Bundesverfassungsgericht zu mehr oder minder erfolgreichen Nachbesserungen herausgefordert haben. Zwei davon sollen im Folgenden aufgegriffen werden. Das betrifft zunächst den gerichtlichen Schutz vor und gegenüber (subjektiven) Wahlrechtsverletzungen. Da jeglicher Rechtsschutz vor der Wahl ausgeschlossen wird128, kommt es für subjektive Rechtsverletzungen, also solche, die sich nicht auf das Ergebnis der Wahl auswirken, entscheidend auf die Spruchpraxis der Gerichte im Rahmen der nach der Wahl stattfindenden Wahlprüfung an – dazu nachfolgend 4. a). Eine weitere Konfliktkonstellation betrifft Fälle, in denen vor Durchführung der Wahl mehr oder minder feststeht, dass eine Entscheidung der Wahlorgane einen mandatsrelevanten Wahlfehler provozieren wird – dazu nachfolgend 4. b). 4. Nachbesserungen a) Notleidende Tenorlösung Nach wie vor ist ein Rechtsschutz vor der Wahl durch § 49 BWG ausgeschlossen. An der Verfassungsmäßigkeit des § 49 BWG bzw. des Spezialitätsgrundsatzes wurde mit Blick namentlich auf die subjektive Wahlrechtsverletzungen nur zum Anlass nehmende ältere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Kritik geübt129, die aber seit der schon erwähnten Reform des Jahres 2012 gegenstandslos geworden ist.130 Seitdem der Gesetz-
128 Besonders misslich war auch der Ausschluss jeden vor der Wahl einsetzenden Rechtsschutzes, wenn eine Partei aufgrund (gegebenenfalls fehlerhaft) Entscheidung des Bundeswahlleiters nicht zur Wahl zugelassen wurde. Darauf hat der Gesetzgeber reagiert und in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4c GG Vereinigungen gegen ihre Nichtanerkennung als Partei für die Wahl zum Bundestag einen eigenen Rechtsbehelf geschaffen. 129 Etwa Morlok, in: Dreier (Anm. 110), Art. 41 Rn. 12 „unzulässige Rechtswegversagung“. 130 Dass das Wahlprüfungsverfahren einen im beschriebenen Sinne doppelfunktionalen Verfahrensgegenstand aufweist, hat mittlerweile auch das Bundesverfassungsgericht klargestellt und zwar ausdrücklich auch für die Zeit vor der Reform des Jahres 2012; die Beschwerdekammer des
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geber mit § 48 Abs. 3 BVerfGG und das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidungspraxis anerkannt haben, dass das Wahlprüfungsverfahren einen doppelfunktionalen Verfahrensgegenstand aufweist, also sowohl dem Schutz des objektiven als auch des subjektiven Wahlrechts dient, bestehen gegen die Spezialitätsthese auch mit Blick auf Art. 19 Abs. 4 GG keine Bedenken (mehr).131 § 1 Abs. 2 S. 2, § 11 S. 3 WPrüfG, § 48 Abs. 3 BVerfGG verlangen, dass die Wahlprüfungsorgane im Rahmen einer Wahlprüfungsbeschwerde nicht nur prüfen, ob sich ein mandatsrelevanter Wahlfehler ereignet hat. Sie müssen, wenn die Wahl nicht für ungültig erklärt, eine gegebene Verletzung subjektiver Wahlrechte explizit in den Tenor ihrer Entscheidung aufnehmen.132 Die Rechtsprechung ist allerdings von einer weitgehenden Ignorierung der sog. Tenorlösung gekennzeichnet. Das ist unbefriedigend, weil § 49 BWG fachgerichtlichen Rechtsschutz vor der Wahl mit Blick auf Art. 19 Abs. 4 GG in verfassungskonformer Weise nur ausschließen kann, wenn und soweit das Wahlprüfungsverfahren subjektiven Rechtsschutz geGerichts hat im August 2016 wörtlich ausgeführt: „Allerdings zielt das Wahlprüfungsverfahren generell nicht nur auf den Schutz des objektiven Wahlrechts ab, um so die richtige Zusammensetzung des Bundestages zu gewährleisten (vgl. BVerfGE 122, 304 [306]; Lechner/Zuck, BVerfGG, 7. Aufl. 2015, vor § 48 Rn. 6), sondern bezweckt auch den subjektivrechtlichen Wahlrechtsschutz (vgl. BVerfGE 34, 81 [95]; zusammenfassend BVerfGK 16, 153 [156])“, vgl. BVerfG, Beschwerdekammer, B. v. 30. August 2016, Az 2 BvC 26/14, Vz 1/16, Rdnr. 32, juris – Dauer eines Wahlprüfungsverfahrens; Klein/Schwarz, in: Dürig/Herzog/Scholz (Anm. 75), Art. 41 Rdnr. 51. 131 Paul Glauben, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Anm. 113), Art. 41 Rdnr. 108; Lang, subjektiver Rechtsschutz (Anm. 120), S. 274 ff., 276; Klein/Schwarz, in: Dürig/Herzog/Scholz (Anm. 75), Art. 41 Rdnr. 58; s. a. BVerfGE 149, 378 (381), Rdnr. 9 – Wahleinspruch; Wolfgang Löwer, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof, HStR III, 3. Aufl. 2005, § 70 Rn. 160; Utz Schliesky, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 41 Rdnr. 19. 132 Deutlich Klein/Schwarz, in: Dürig/Herzog/Scholz (Anm. 75), Art. 41 Rdnr. 96: „Angesichts der Tatsache, dass das Wahlprüfungsverfahren auch dem Schutz des subjektiven Wahlrechts dient (§ 1 WPrüfG, § 48 BVerfGG), ist auch dessen Verletzung, und zwar im Tenor, festzustellen, es sei denn, die Wahl würde für ungültig erklärt.“
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währt und in Wahlprüfungsverfahren auch in entsprechender Weise tenoriert wird.133 b) Teilaufgabe des Spezialitätsgrundsatzes Der Spezialitätsgrundsatz rsp. seine Reichweite wurden in zweierlei Hinsicht besonders herausgefordert. Zum einen im Gefolge der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu den sog. Wahlrechtsausschlüsse in § 13 Nr. 2 und 3 BWG a. F. – dazu nachfolgend aa). Zum anderen durch das 2019 bei der Landtagswahl in Sachsen von der AfD praktizierte Listenaufstellungsverfahren und im Rahmen der darauf bezogenen Verfassungsbeschwerdeverfahren – dazu nachfolgend bb). aa) Abstrakte Normenkontrolle nicht von § 49 BWG erfasst Im Jahre 2019 beseitigte das Bundesverfassungsgericht zwei der insgesamt drei im Bundeswahlgesetz enthaltenen Wahlrechtsausschlüsse.134 Durch § 13 Nr. 2 BWG bestand ein Wahlrechtsausschluss von Personen, für die ein Betreuer in allen Angelegenheiten nicht nur durch einstweilige Anordnung bestellt war. § 13 Nr. 3 BWG schloss Personen vom Wahlrecht aus, die wegen einer im Zustand der Schuldunfähigkeit begangenen Tat in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht waren. Die bezeichneten Wahlrechtsausschlüsse betrafen insgesamt 84.550 Menschen, damit also 0,14 % der Wahlberechtigten bzw. 0,83 % der Menschen mit Behinderungen.135 Das Bundesverfassungsgericht hat diese Wahlrechtsauschlüsse in zwei Entscheidungen als mit der Verfassung unvereinbar bzw. nichtig angesehen.136 Die 133 Lang, in: Friauf/Höfling (Anm. 116), Art. 41 Rdnr. 63, Wahlprüfung und subjektive Rechtsschutzgarantie sind harmonisiert. 134 Geblieben ist der Ausschluss vom Wahlrecht nach § 13 Nr. 1 BWG, wonach vom Wahlrecht ausgeschlossen ist, wer infolge Richterspruchs das Wahlrecht nicht besitzt. 135 Heinrich Lang, Inklusives Wahlrecht – ein Update, ZRP 2018, S. 19 (20). 136 Die Unvereinbarkeitserklärung bezog sich auf § 13 Nr. 2 BWG a. F.; § 13 Nr. 3 BWG war nach Auffassung des BVerfG nichtig, dazu
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hier interessierende Besonderheit bestand darin, dass jedenfalls hinsichtlich der Entscheidung zur Europawahl eine wahlrechtliche Regelung im abstrakten Normenkontrollverfahren bzw. einer damit verbundenen einstweiligen Anordnung im unmittelbaren Vorfeld der Wahl angegriffen wurde. Damit wurde die verfassungsprozessuale Vorfrage relevant, ob sich die Ausschlusswirkung des § 49 BWG auch auf das abstrakte Normenkontrollverfahren bezog. Daran konnte man zweifeln, weil Teile des Schrifttums diese Auffassung vertraten137 und zudem das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerde auch dann durch § 49 BWG als ausgeschlossen angesehen hatte, wenn ihre eine Konstellation mittelbarer Normenkontrolle zugrunde lag, ihr eigentlicher Angriff also mit dem Argument der Verfassungswidrigkeit der Norm geführt wurde.138 Das Bundesverfassungsgericht hat die Ausschlusswirkung des § 49 BWG indes nicht auf die Normenkontrolle erstreckt.139 Damit steht jedenfalls für Praxis fest, dass auch im Vorfeld der Wahl gegen das Wahlgesetz gerichtete abstrakte Normenkontrollverfahren nicht ausgeschlossen sind. Die Exklusivität der Wahlprüfung – so der
BVerfGE 151, 1 ff. – Wahlrechtsausschluss Bundestagswahl; s. a. BVerfGE 151, 152 ff. – Wahlrechtsausschluss Europawahl – Eilantrag. 137 Johann Hahlen, in: Schreiber, BWahlG, 10. Aufl. 2017, § 49 Rdnr. 4, 5; s. jetzt aber Austermann, in: Schreiber, BWahlG (Anm. 28), § 49 Rdnr. 3. 138 Vgl. dazu etwa BVerfG, B. v. 24. August 2009, Az 2 BvQ 50/09, Rdnr. 8 – Bundestagswahl 2009, Die Partei: „Soweit die Antragstellerin die Feststellung begehrt, dass die Vorschriften des Bundeswahlgesetzes, wonach gegen Entscheidungen des Bundeswahlausschusses vor der Wahl kein Rechtsmittel gegeben ist, verfassungswidrig sind, insbesondere nicht im Einklang mit der Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG stehen, wäre die von ihr in der Hauptsache beabsichtigte Verfassungsbeschwerde ebenfalls unzulässig. 139 BVerfGE 151, 152 (163 f.), Rn. 32 – Wahlrechtsausschluss Europawahl – Eilantrag: „Der Grundsatz der Exklusivität des Wahlprüfungsverfahrens findet im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle allerdings keine Anwendung.“; zum Verhältnis von Wahlprüfung und abstrakter Normenkontrolle auch BVerfG NVwZ 2021, S. 1525 (1527), Rdnrn. 65 ff. – erfolgloser Eilantrag gegen die Anwendung des Sitzzuteilungsverfahrens des BWG bei der Wahl zum 20. Deutschen Bundestag.
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Zweite Senat – gelte nur für Maßnahmen und Entscheidungen, die sich unmittelbar auf das Wahlverfahren bezögen, nicht aber für die Gültigkeit der diesen Maßnahmen und Entscheidungen zugrundeliegenden Gesetze.140 Die Entscheidung verhält sich indes nicht zu der Frage, wie die Zulässigkeit von Verfassungsbeschwerden gegenüber (eindeutig) von § 49 BWG erfassten Entscheidungen der Wahlprüfungsorgane zu beurteilen ist, die mittelbar wahlrechtliche Regelungen angreifen und sich damit als mittelbare Normenkontrollen darstellen. Auch ist unklar, wie die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung, die aufgrund von § 49 BWG vergleichbarer kommunalrechtlicher Regelungen ebenfalls von einer Spezialität des Wahlprüfungsverfahrens ausgeht, auf diese Rechtsprechung reagieren wird. bb) Keine Anwendung des § 49 BWG bei mandatsrelevanten Fallkonstellationen Die zweite Herausforderung des Spezialitätsgrundsatzes resultierte aus einer Fallkonstellation, bei der auf der Hand lag, dass sich der in Rede stehende Wahlfehler auf das Ergebnis der Wahl auswirken würde. In den sogleich skizzierten Entscheidungen ging der Sächsische Verfassungsgerichtshof noch einen Schritt weiter als das Bundesverfassungsgericht und hat die Spezialität des Wahlprüfungsverfahrens auch gegenüber solchen Verfassungsbeschwerden verneint, denen keine (mittelbare) Rüge der Verfassungswidrigkeit wahlgesetzlicher Regelungen zugrunde liegt. Am 1. September 2019 fand in Sachsen die Landtagswahl statt. Noch im August prognostizierten entsprechender Umfragen der an dieser Wahl teilnehmenden AfD einen Stimmenanteil von 25–26%, tatsächlich erzielte die Partei einen Zweitstimmenanteil von 28,4%. Die AfD hatte ihre Listenbewerber für die Landtagswahl an zwei unterschiedlichen Terminen aufgestellt. Auf einer Landeswahlversammlung im Februar wurden 18 Bewerber im Einzelwahlverfahren gewählt. Als sich herausstellte, dass dies nicht praktikabel war, wurde ein neuer Termin be140 BVerfGE 151, 152 (163 f.), Rn. 32 und 33 – Wahlrechtsausschluss Europawahl – Eilantrag.
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schlossen. Die im März durchgeführte Versammlung, für die die Versammlungsleitung komplett neu gewählt wurde, stellte die Listenplätze 19–61 auf – und zwar ab Listenplatz 31 im Blockstatt im Einzelwahlverfahren. Der Landeswahlausschuss ließ die Landesliste der AfD daraufhin nur bis Platz 18 zu.141 Die verkürzte Liste hätte dazu führen können, dass die Partei nach der Wahl nicht alle Sitze besetzen könnte, die ihr bei dem prognostizierten – und später auch erreichten – Wahlergebnis zustünden. Gegen die Entscheidung des Landeswahlausschusses erhob die AfD eine mit einem Antrag auf einstweilige Anordnung verbundene Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht, die das Gericht am 18. Juli 2019 verwarf.142 Der ebenfalls angerufene Sächsische Verfassungsgerichtshof hingegen entschied am 25. Juli 2019 im Wege der einstweiligen Anordnung, dass auch die Listenplätze 19 bis 30 zuzulassen seien, weil die darauf bezogene Entscheidung des Wahlausschusses „nach vorläufiger Bewertung mit hoher Wahrscheinlichkeit rechtswidrig“ sei.143
141 Materiell stand im Zentrum des Rechtsstreits die Auslegung der Anforderungen, die § 21 Abs. 1 S. 1 SächsWahlG mit der Formulierung stellt, als Bewerber einer Partei in einem Kreiswahlvorschlag könne nur benannt werden, wer in einer Mitgliederversammlung hierzu gewählt worden sei. Da die AfD zwei Termine abgehalten hatte, ging es darum, ob die Formulierung „einer“ als unbestimmter Artikel oder – wie vom Wahlausschuss angenommen – als Zählwort zu interpretieren war. 142 BVerfG B. v. 18. Juli 2019, Az 2 BvR 1301/19 – Nichtannahmebeschluss; Jan-Marcel Drossel/Jakob Schemmel, Vorgelagerter Rechtsschutz bei Bundestagswahlen, NVwZ 2020, S. 1318 (1323) favorisieren in ihrer Besprechung der Entscheidung de lege ferenda die Schaffung eines vorverlagerten Rechtsschutzes auch in Fällen der Nichtzulassung von Landeslisten. 143 SächsVerfGH, U. v. 25. Juli 2019, Az Vf. 77-IV-19 (e.A.), Vf. 82IV-19 (e.A.); zu dieser Entscheidung, Heinrich Lang, Braucht ein „kranker“ Wahlrechtsschutz neue Therapien?, https://verfassungsblog.de/ braucht-ein-kranker-wahlrechtsschutz-neue-therapien/Verfassungsblog (zuletzt abgerufen am 15.7.2022); der SächsVerfGH hat seine Entscheidung im Hauptsacheverfahren aufrechterhalten, vgl. SächsVerfGHG, BeckRS 2019, 18688, zu dieser Entscheidung Alexander Brade, Präven-
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Die Entscheidung erscheint intuitiv richtig; welchen Sinn sollte es haben, eine Wahl sehenden Auges mit einem aller Wahrscheinlichkeit nach ergebnisrelevanten Wahlfehler durchführen zu lassen, um sie hinterher – wenn auch nur soweit der Wahlfehler reicht – aufzuheben und zu wiederholen. Und doch treten auch Schwierigkeiten und Fragen auf: Zum einen hinsichtlich der Prognosesicherheit und der Ergebniskontrolle, wie sie mit der Einschätzung der Mandatsrelevanz häufig verbunden sind und zum anderen hinsichtlich der Reichweite der Entscheidung des Sächsischen Verfassungsgerichtshofs. Immerhin gingen am 2. August 2019 und damit nur wenige Tage nach der Entscheidung zum AfD-Listenaufstellungsverfahren beim Sächsischen Verfassungsgerichtshof eine Verfassungsbeschwerde und ein Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen die Nichtzulassung der Direktkandidaten der FREIE WÄHLER Sachsen in den Dresdner Wahlkreisen 41 bis 47 zur Wahl des 7. Sächsischen Landtages ein, mit der die Zulassung dieser Direktkandidaten begehrt wurde.144 5. Fazit Insgesamt darf die Entwicklung des Grundsatzes der Spezialität der Wahlprüfung als noch nicht abgeschlossen angesehen werden. Abschließend sollen noch kurz einiger Gefahren und Defizite des wahlrechtlichen Referenzbereichs skizziert und eine wohl eher fromme Hoffnung formuliert werden.
tive Wahlprüfung?, NVwZ 2019, S. 1814; vertiefte Auseinandersetzung mit der Entscheidung bei Winfried Kluth, Außerordentlicher Wahlrechtsschutz durch den Verfassungsgerichtshof des Freistaates Sachsen – Beginn einer Trendwende?, LKV 2019, 501 ff. (504), der in Parallele zu Art. 93 Abs. 1 Nr. 4c GG zugunsten einer partiellen Vorverlagerung des Wahlrechtsschutzes auch auf Landesebene votiert. 144 Der SächsVerfGH hat die Verfassungsbeschwerde allerdings verworfen, weil sie den Begründungsanforderungen nicht genügte, vgl. SächsVerfGH, B. v. 16. August 2019, Az Vf. 93-IV-19 (HS), Vf. 94-IV-19 (e.A.), Rdnr. 8 – juris.
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IV. Defizite, Gefahren und Hoffnungen 1. Zum Verhältnis von Parlament und Bundesverfassungsgericht a) Die Mär von der Achtung der gesetzgeberischen Entscheidungsprärogative Gefahren und Defizite betreffen in erster Linie das Verhältnis von Parlament einerseits und Bundesverfassungsgericht andererseits. Gleichsam gebetsmühlenartig beginnen verfassungsgerichtliche Kontrollentscheidungen, deren Gegenstand wahlrechtliche Normen sind, mit einem Hinweis auf die dem Gesetzgeber zustehende Entscheidungsprärogative. In der Tat wird jene ja durch Art. 38 Abs. 3 GG besonders herausgestellt: Der mit Blick auf das Wahlsystem uneinige parlamentarische Rat übertrug die Entscheidung für das Wahlsystem dem einfachen Gesetzgeber145, dem damit in den Worten des Bundesverfassungsgerichts die Schaffung eines Stücks materiellen Verfassungsrechts überantwortet wird. Spricht schon die grundsätzliche Aufgabenverteilung zwischen erster und dritter Gewalt für eine Achtung der Entscheidungen des durch Wahlen unmittelbar legitimierten Parlaments, so gilt dies erst recht, wenn ihm die Verfassung die Schaffung materiellen Verfassungsrechts überantwortet. Das Bundesverfassungsgericht betont also vor diesem Hintergrund vollkommen zu Recht die gesetzgeberische Entscheidungsprärogative, „verfeinert“ – wie das ein ausgewiesener Kenner des Wahlrechts in freundlichem Euphemismus formuliert hat – diesen Maßstab im weiteren dann aber so, dass dem Gesetzgeber letztlich keine andere Wahl bleibe als sich für die vom Gericht für richtig gehaltene Ausgestaltung des Wahlrechts zu entscheiden.146 Das ist – auch im Senat selbst147 – durchaus kritisiert 145 Patrizia Robbe/Quirin Weinzierl, Mehr Wahlrecht in das Grundgesetz?, ZRP 2015, S. 84 (87) sehen in diesem Schweigen einen „Geburtsfehler“ des Grundgesetzes und plädieren für die „Einfügung von weiteren Grundentscheidungen des Wahlrechts in das Grundgesetz“. 146 So Johann Hahlen, in: Schreiber, BWahlG, 10. Aufl. 2017, § 3 Rdnr. 6; ebenso jetzt Cornelius Thum, in: Schreiber, BWahlG (Anm. 28), § 3 Rdnr. 6.
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worden, die Entscheidungspraxis des Gerichts bleibt von dieser Kritik allerdings unbeeinflusst. b) Die Mär von der Entscheidung in eigener Sache Weiter belastet wird das Verhältnis zwischen Parlament und Gericht durch die Figur der Entscheidung in eigener Sache. Statt die Entscheidungsprärogative des Gesetzgebers zu achten, wendet das Bundesverfassungsgericht im Wahlrecht einen betont strikten Maßstab an und begründet dies u. a. mit der Formel, es müsse über eine Entscheidung in eigener Sache des Parlaments wachen. Tatsächlich handelt es sich bei der Wahlgesetzgebung aber gar nicht um eine Entscheidung in eigener Sache. Zu einer anderen Auffassung könnte man nur kommen, wenn auf jedes Korrektiv einer ausufernden Interpretation der Entscheidung in eigener Sache verzichtet wird, wie es namentlich im an sich für die Eingrenzung eines verfassungsstaatlichen Distanzgebots unabdingbaren Erfordernis der Unmittelbarkeit enthalten ist.148 Auch dieser Einwand ist im Senat erfolglos thematisiert worden.149 Häufig wird gleichwohl die Behauptung, bei wahlrecht147 Plastisch die Mahnungen der beiden Verfassungsrichter Udo Di Fabio und Rudolf Mellinghoff in ihrem Sondervotum zur Entscheidung über die Verfassungswidrigkeit der Fünf-Prozent-Sperrklausel in § 2 Abs. 7 EuWG, BVerfGE 129, 300 (346) – Fünf-Prozent-Sperrklausel EuWG: „zieht den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers zu eng“; S. 350: „Die Verfassung ist im Hinblick auf das Wahlsystem offen und verleiht dem Bundesverfassungsgericht deshalb kein Mandat, bei der konzeptionellen Ausgestaltung eines Wahlsystems allzu feingliedrig mit dem Gleichheitssatz zu prüfen, fallweise zu korrigieren und so allmählich in die Rolle des Wahlgesetzgebers zu schlüpfen.“; S. 351: „Wahlrechtsfragen sind der politischen Gestaltung des Gesetzgebers unterworfen (Art. 38 Abs. 3 GG), dessen Regelungsauftrag angesichts der Allgemeinheit der Wahlgrundsätze dem Gericht Zurückhaltung auferlegt.“ 148 Heinrich Lang, Wahlrecht und Bundesverfassungsgericht, 2014, S. 63 f.; zur Herleitung des verfassungsstaatlichen Distanzgebots; ders., Gesetzgebung in eigener Sache, 2007, S. 230 ff., zur Einordnung des Wahlrechts, S. 31 ff. 149 BVerfGE 129, 300 (351 f.) – Fünf-Prozent-Sperrklausel EuWG: „Eine strengere Prüfung ist auch nicht deshalb verlangt, weil Parteien als Fraktionen im Parlament gleichsam in eigener Sache entscheiden würden.
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lichen Entscheidungen des Parlaments gehe es um eine Entscheidung in eigener Sache150, ohne nähere Begründung oder Auseinandersetzung mit der Kritik wiederholt und das bestehende Begründungsdefizit mit der Formulierung verdeckt, es gehe „gewissermaßen“ um eine Entscheidung in eigener Sache.151 2. Fromme Hoffnung: Judical self restraint Die wahlrechtliche Rolle des Bundesverfassungsgerichts erscheint unglücklich. Anstatt sich aus der Wahlsystemfrage herauszuhalten, mischt es munter mit, zieht sich dabei aber den Vorwurf zu, weitgehend den Stand der (internationalen) Wahlsystemlehre bei gleichzeitiger – im internationalen Vergleich ebenfalls weitgehend alleinstehender – Überinterpretation der Erfolgswertgleichheit152 zu ignorieren und damit die Grenze des sog. judical self restraint zu überschreiten. Denn dies kann – anders als bei Diätenfragen – beim Wahlrecht nicht einfach unterstellt werden.“; zur Diskussion im Parlamentarischen Rat, der den Aspekt der Entscheidung in eigener Sache thematisierte, daraus aber keinerlei Vorbehalt ableitete vgl. Jan-Marcel Drossel, Wahlsystem und Wahlgleichheit, 2021, S. 35 f. 150 Nur hinsichtlich der in Art. 41 Abs. 1 GG verankerten Wahlprüfung durch das Parlament selbst kann in zutreffender Weise von einer Entscheidung in eigener Sache gesprochen werden, vgl. Lang, Wahlrecht (Anm. 147), S. 64 f. 151 Vgl. BVerfG B. v. 20. Juli 2021, Az 2 BvF 1/21 – Ablehnung einstweilige Anordnung, Rdnr. 91 unter Verweis auf BVerfGE 146, 327 (352), Rdnr. 63 – Eventualstimme Bundestagswahl 2013; BVerfGE 135, 259 (289), Rdnr. 57 – Drei-Prozent-Sperrklausel Europawahlgesetz; BVerfGE 130, 212 (229) – Minderjährigenanteile in Wahlkreisen; BVerfGE 129, 300 (322 f.) – Fünf-Prozent-Sperrklausel EuWG; BVerfGE 120, 82 (105) – Fünf-Prozent-Sperrklausel Schleswig-Holstein. Diese Formel hat das BVerfG selbst dann beibehalten, wenn der Bundestag wie beim EuWG ein gar nicht seine Wahl betreffendes Gesetz geschaffen hat; darauf weist zu Recht der Verfassungsrichter Peter Müller in seinem Sondervotum hin, BVerfGE 135, 259 (304) – Drei-Prozent-Sperrklausel Europawahlgesetz. 152 Nohlen, Wahlrecht und Parteiensystem (Anm. 3), S. 390, 393. Nohlen führt als Beispiele die Schweiz an, wo der Grundsatz der Proportionalität in der Verfassung verankert sei, das Wahlrecht aber gleichwohl Verzerrungen (schon) des gleichen Zählwerts zulasse und die Erfolgs-
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Dieter Nohlen, nun gewiss einer der kenntnisreichsten und international einflussreichsten deutschen Wahlsystemforscher, hat schon 2014 auf einen in demokratietheoretischer Sicht problematischen Aspekt der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hingewiesen. Nicht nur, dass dessen Deutung der personalisierten Verhältniswahl im internationalen Vergleich singulär sei und das Gericht sich das Recht zuschreibe, das vom Parlament verabschiedete Wahlsystem von „Zeit zu Zeit nach eigenständiger Deutung der politischen Verhältnisse und nach eigenwilliger Konzeptualisierung des Gegenstandsbereichs verfassungsrechtlich zu überprüfen gegebenenfalls mit der Implementierung eines neuen Wahlsystemtyps . . .“. Das Bundesverfassungsgericht entferne in seiner Wahlsystemrechtsprechung das politische System der Bundesrepublik Deutschland zudem vom Demokratieprinzip (des responsible governments).153 Auch wenn man so weit nicht gehen will, muss konstatiert werden, dass die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts mindestens diskussionswürdig ist. Das zeigt schon die von Kritik unbeeindruckte Fortführung der unzulänglich begründeten und für die Wahlgesetzgebung unpassenden Formel der „Entscheidung eigener Sache“, die eine Anreicherung der Kontrollkompetenz tragen soll. Nicht frei von antiparlamentarischen Ressentiments zeigen sich zudem Begründungsstränge des Gerichts, die den Gesetzgeber bei der Wahlgesetzgebung in der Gefahr sehen, sich „statt von Gemeinwohlerwägungen von dem
wertgleichheit erst gar nicht erstrebt werde; auch in Österreich, wo die Verfassung anordne, dass die Wahlen zum Nationalrat nach den „Grundsätzen der Verhältniswahl“ stattfinden, lasse sich aufgrund der Rechtsprechung des Österreichischen Verfassungsgerichtshofs konstatieren, dass aufgrund der Wahlrechtsgleichheit nicht verlangt werden könne, „dass jeder Stimme die gleiche Kraft, der gleiche Nutz- oder Erfolgswert zukommen müsse“; das falle „außerhalb des Grundsatzes der Gleichheit des Wahlrechts, ja außerhalb des Bereichs der Möglichkeit“, ders., a. a. O., S. 392; s. a. Lang, Wahlrecht (Anm. 147), S. 67 „Depossedierung des Verfassungsrecht durch die Mathematik“. 153 Nohlen, Wahlsystem (Anm. 3), S. 394.
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Ziel des eigenen Machterhalts leiten“ zu lassen.154 Ähnliche – vorsichtig formuliert – „parlamentskritische“ Konnotationen finden sich auch im Klimaschutzbeschluss, wo das Bundesverfassungsgericht dem „demokratische(n) politische(n) Prozess Schwerfälligkeit und Ausblendung der Interessen künftiger Generationen“ attestiert und ihn als „tendenziell kurzfristigen und an direkt artikulierbaren Interessen orientierten tagespolitischen Prozess“ kennzeichnet.155 Das Gericht geriert sich hier als – wie Christoph Möllers es genannt hat – „weiser Ersatzkaiser“, der anders als das Parlament am (man möchte fragen: vorfindlichen und darum vom Gericht erkannten?) Gemeinwohl orientiert die „richtige“ Entscheidung trifft und dabei frei von Eigeninteressen agiert. Ob es dem Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung gelingt, diesen Anspruch selbst zu erfüllen, mag dahinstehen. Jedenfalls ist aus meiner Sicht ein anderer Umgang mit dem unstreitigen Verfassungsorgan Bundestag angezeigt. Mein Vorschlag also: Die „Übergabe“ der Ausgestaltung und Ausdeutung des Wahlsystems dorthin, wo sie die Verfassung sieht: in den Händen des
154 BVerfGE 146, 327 (352), Rdnr. 63 – Eventualstimme Bundestagswahl 2013; wortgleich BVerfGE 135, 259 (289), Rdnr. 57 – Drei-ProzentSperrklausel Europawahlgesetz; ebenso BVerfGE 130, 212 (229) – Minderjährigenanteile in Wahlkreisen; BVerfGE 129, 300 (322 f.) – Fünf-Prozent-Sperrklausel EuWG und BVerfGE 120, 82 (105) – Fünf-ProzentSperrklausel Schleswig-Holstein. 155 BVerfG, NJW 2021, 1723 (1743 f.), Rdnr. 206 – Klimaschutz: „In Art. 20 a GG ist der Umweltschutz zur Angelegenheit der Verfassung gemacht, weil ein demokratischer politischer Prozess über Wahlperioden kurzfristiger (als das weise BVerfG) organisiert ist; damit aber strukturell (ist das wirklich gemeint und was folgt daraus) Gefahr läuft, schwerfälliger auf langfristig zu verfolgende ökologische Belange zu reagieren und weil die besonders betroffenen künftigen Generationen heute naturgemäß keine eigene Stimme im politischen Willensbildungsprozess haben“ und weiter: „Diese durch Art. 20 a GG angestrebte Bindung des politischen Prozesses drohte verloren zu gehen, wenn über den materiellen Gehalt des Art. 20a GG vollumfänglich im tendenziell kurzfristiger und an direkt artikulierbaren Interessen orientierten tagespolitischen Prozess (das gesamte Parlament also nur an Tagespolitik orientiert) entschieden würde.“
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Parlaments. Dem Bundesverfassungsgericht kommt im Wahlrecht eine Wächter-, keine Gestaltungsfunktion zu, es soll nicht das Wahlsystem bis in die feinsten Verästelungen ziselieren156, es soll nur tätig werden, wenn die Verfassung sein Einschreiten gebietet.
156 Das hat das BVerfG doch erst jüngst in seinem Beschluss zum Fehlen gesetzlicher Regelungen zur paritätischen Ausgestaltung des Wahlvorschlagsrechts bei Bundestagswahl wieder betont, also dass „. . . Art. 38 I 1 und II GG lediglich Grundzüge für das Wahlsystem vorgibt. Die darüber hinausgehende Ausgestaltung des Wahlrechts hat der Verfassungsgeber bewusst offengelassen und in Art. 38 III GG dem Bundesgesetzgeber übertragen. Dieser kann den ihm von der Verfassung erteilten Auftrag nur erfüllen, wenn ihm ein weiter Gestaltungsspielraum zukommt. Es ist grundsätzlich seine Sache, verfassungsrechtlich geschützte Rechtsgüter und die Wahlrechtsgrundsätze des Art. 38 I 1 GG – auch im Verhältnis zueinander – zum Ausgleich zu bringen.“, BVerfG, NVwZ 2021, S. 469 (471 f.), Rdnr. 45 – unzulässige Wahlprüfungsbeschwerde wegen fehlender paritätischer Ausgestaltung des Wahlvorschlagsrechts für Bundestagswahlen.
Polarisierung im Parlament Herausforderungen für die parlamentarische Selbstorganisation Von Philipp Austermann I.
Verstärkte Polarisierung im Parlament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89
II.
Herausforderungen für die parlamentarische Selbstorganisation 1. Aufstellung der Tagesordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Dauer der Sitzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Wahl eines Vizepräsidenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Abwahl eines Ausschussvorsitzenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Kleine Anfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Konstruktives Misstrauensvotum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Umgang mit Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Informelle Ordnungsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Formelle Ordnungsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Ordnungsruf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Wortentziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Ordnungsgeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Sitzungsausschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Einspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Störungen durch Zutritts- und Redeprivilegierte . . . . . . . . d) Störungen durch Personen, die weder Abgeordnete sind noch die Rechte nach Art. 43 Abs. 2 GG besitzen . . . . . . .
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III. Fazit und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118
I. Verstärkte Polarisierung im Parlament Populistische oder extremistische Parteien neigen deutlich stärker zu störenden Handlungen im Parlament als andere. Sie versuchen, durch bestimmte Verhaltensweisen und Aktionen Aufmerksamkeit zu bekommen. In manchen Fällen, vor allem bei extremistischen Parteien, steht allein der öffentlichkeitswirk-
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same Auftritt im Vordergrund, in anderen Fällen tritt er neben die Sacharbeit. Eine Polarisierung im Sinne einer verstärkten Frontstellung zwischen politischen Positionen war in der Bundesrepublik immer wieder zu beobachten. Schon nach dem Einzug der Grünen im Jahr 1983 hatte es Auseinandersetzungen zwischen den „Etablierten“ und den aktivistischen „Neulingen“ gegeben.1 Mittlerweile sind die Grünen ein fester Bestandteil des politischen Systems der Bundesrepublik. Auch die populistische und in Teilen immer noch systemkritische (und insoweit vom Verfassungsschutz beobachtete) Partei Die Linke., die zum ersten Mal im Jahr 1990 (damals noch als PDS) in den Bundestag einzog, fällt im Parlamentsbetrieb allenfalls durch scharfe Äußerungen, das Bestreiten des Unrechtscharakters des diktatorischen DDR-Regimes oder einzelne Störungen des Sitzungsbetriebes auf. In aller Regel nimmt die Partei aber eher unauffällig am Plenar- und Ausschussgeschehen teil. Mit dem erstmaligen Einzug der AfD in den Deutschen Bundestag nach der Bundestagswahl im Herbst 2017 (mit 12,6%) hat sich jedoch nach Einschätzung vieler Beobachter die Atmosphäre im Parlament deutlich verändert. Die AfD erweckt seitdem den „Eindruck unversöhnlicher Opposition“.2 Den Grundton, der immer wieder von der AfD zu vernehmen war, setzte der Parlamentarische Geschäftsführer der AfD-Fraktion, Bernd Baumann, schon in seiner ersten Plenarrede am 24.10.2017. Anlass seiner Rede war der Antrag der CDU/CSU-Fraktion, die bisherige Geschäftsordnung (GO-BT) auch für die beginnende 19. Wahlperiode zu übernehmen.3 Diese Geschäftsordnung enthält seit dem Sommer 2017 einen veränderten § 1 Abs. 2. Die konstituierende Sitzung eines neu gewählten Bundestages leitet
1 Dazu eingehend aus Sicht eines Beteiligten Hubert Kleinert, Gärige Haufen – von den Grünen zur AfD, Cicero Nr. 4/2021, S. 40 ff. 2 Suzanne S. Schüttemeyer, Der 19. Deutsche Bundestag. Schwierige Lernprozesse zur Sicherung parlamentarischer Arbeitsfähigkeit, APuZ Nr. 38/2020, S. 18 ff. (22). 3 Vgl. BT-Drs. 19/1.
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als Alterspräsident demnach das Mitglied mit den meisten Mandatsjahren. Bis zum Sommer 2017 war noch das lebensälteste Mitglied des Hauses als Alterspräsident vorgesehen. Diese Rechtslage knüpfte an eine Parlamentstradition an, die sich bis zur Paulskirchenversammlung zurückverfolgen lässt. Die Änderung sollte sicherstellen, dass der Alterspräsident seine Funktion ordnungsgemäß ausübe und zugleich verhindern, dass ein Mitglied der AfD als Alterspräsident amtieren und seine Funktion vielleicht missbrauchen könnte. Baumann kritisierte die Änderung und meinte, 1933 habe Hermann Göring die Regel [den Alterspräsidenten nach dem Lebensalter zu besetzen, P. A.] gebrochen, weil er politische Gegner habe ausgrenzen wollen, damals Clara Zetkin.4 Damit stellte er nicht nur die Bundestagsmehrheit in eine Reihe mit dem nationalsozialistischen Reichstagspräsidenten. Außerdem wies er seiner Partei damit eine Opferrolle und Position als Gegnerin der etablierten „Altparteien“ zu. Beide Topoi werden von der AfD – nicht nur im Bundestag – fortwährend gebraucht. Baumanns Äußerungen blieben bekanntlich kein Einzelfall. Auf einige verbale Entgleisungen oder andere Störungen werde ich an anderer Stelle noch eingehen. Auch in den Landtagen machte die AfD mit unrühmlichen Auftritten von sich reden. In den Landtagen der fünf „neuen“ sowie einiger westdeutscher Bundesländer waren seit 1990 immer mal wieder rechtsextreme Parteien vertreten. Die „Deutsche Volksunion“ (DVU) oder die NPD erreichten aber nie die Mandatsstärke der AfD. Sie erreichte bei den letzten Landtagswahlen im Osten zwischen 20,8% (Mecklenburg-Vorpommern, 4.9.2016) und 27,5% (Sachsen, 1.9.2019). In den Ländern der alten Bundesrepublik blieben die Wahlergebnisse der AfD dahinter deutlich zurück. Den geringsten Zuspruch erntete sie in Schleswig-Holstein (4,4% im Mai 2022), den höchsten in Ba4 Vgl. Deutscher Bundestag, Stenografischer Bericht, 1. Sitzung vom 24.10.2017 (19/1), S. 6 B. Diese Aussage ist historisch unzutreffend. Einen Alterspräsidenten gab es im 8. Reichstag gar nicht mehr. Die KPDMitglieder wurden außerdem 1933 entgegen der Reichsverfassung als nicht existent behandelt und gar nicht zur Sitzung eingeladen, vgl. Philipp Austermann, Der Weimarer Reichstag, 2020, S. 236 f.
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den-Württemberg (15,1% im Jahr 2016, aber nur noch 9,7% im Jahr 2021). Bei den jüngsten Landtagswahlen hat die Partei Stimmenverluste erlitten und ist in Schleswig-Holstein nicht mehr im Landtag vertreten. Das mag auch damit zusammenhängen, dass die AfD in den westdeutschen Landtagen häufig durch interne Querelen und Abspaltungen auffällt, die sogar einige Landesverfassungsgerichte beschäftigt haben. Der geschäftsordnungswidrigen Aufspaltung der AfD-Abgeordneten in eine AfD- und eine ABW-Fraktion wurde jedenfalls schnell ein Riegel vorgeschoben. Sie war nach wenigen Monaten beendet. In manchen Landtagen hat die AfD durch Austritte ihren Fraktionsstatus eingebüßt. Das Gebaren mancher AfD-Abgeordneten erinnert manche an das Verhalten demokratiefeindlicher Mandatsträger in der Weimarer Republik. Störungen des Sitzungsbetriebs, Beleidigungen und Hetzreden gegen Demokratie und Parlament gehörten – neudeutsch gesprochen – zum „Markenkern“ der Extremisten von Links (KPD, USPD) und Rechts (NSDAP, DNVP). II. Herausforderungen für die parlamentarische Selbstorganisation Populisten suchen stets die große Bühne. Das Parlament scheint sie ihnen zu bieten. Sie fordern durch ihr Verhalten die parlamentarische Selbstorganisation heraus, wenn sie die Arbeitsabläufe, insbesondere die Plenar- und Ausschusssitzungen stören oder Außenstehenden die Möglichkeit eröffnen, dies zu tun. Wie ein Parlament darauf reagieren kann, soll am Beispiel des Bundestages gezeigt werden; mit gelegentlichem Blick in die Länder. Der Bundestag besitzt – wie alle demokratischen Parlamente – die Befugnis, seine inneren Angelegenheiten unabhängig von anderen Staatsgewalten selbst zu regeln.5 Diese Befugnis nennt 5 Vgl. BVerfGE 80, 188 (218 f.); 102, 224 (235); 104, 310 (332); hierzu auch die Übersicht bei Alfred Katz/Gerald G. Sander, Staatsrecht, 19. Aufl. 2019, S. 202.
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man Parlamentsautonomie. Diese leitet sich aus Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG ab. Sie umfasst die im Grundgesetz allenfalls in Ansätzen skizzierte Aufbau- und Ablauforganisation des Parlaments, einschließlich des Rechts, sich durch eine eigene Verwaltung selbst zu verwalten,6 also die Organisation und die auf den Verfahrensgang bezogene Geschäftsordnung (Art. 40 Abs. 1 GG).7 An verschiedenen Stellen kann versucht werden, hemmend in die Organisation einzugreifen oder die Arbeitsabläufe zu stören. Dagegen gerichtete Maßnahmen benötigen in aller Regel einen entscheidungswilligen sitzungsleitenden Präsidenten oder eine Mehrheit. Änderungen der GO-BT brauchen die Mehrheit ohnehin. Darin liegt eine gewisse Schwäche des Geschäftsordnungsrechts: Haben Populisten (gemeinsam) die Mehrheit (wie im Thüringer Landtag), können sie, sofern sie sich zumindest insofern einig sind, nicht nur jede Änderung verhindern und sogar die Regeln zu ihren Gunsten verändern, sondern auch die Abläufe des Parlamentsbetriebes nach ihrem Willen beeinflussen. Auf mögliche Störungen der Arbeitsabläufe und der Organisation sowie auf mögliche Gegenmaßnahmen zur Erhaltung der Arbeitsfähigkeit des Parlaments sei im Folgenden näher eingegangen. Eine Volksvertretung kann ihrer Rolle als Kreations-, Legislativ-, Kontroll- und Repräsentationsorgan nur nachkommen, wenn ihre in der Geschäftsordnung festgelegten Arbeitsund Entscheidungsabläufe nicht übermäßig behindert werden. Nicht jede Intervention, die zu einer Verzögerung führt, ist gleichzusetzen mit einer abzuwehrenden Störung. Wenn sich die Zahl der behindernden Ereignisse jedoch (gezielt) häuft, ist ein Eingreifen der Sitzungsleitung bzw. der Parlamentsmehrheit geboten.
6 Vgl. nur Utz Schliesky, Parlamentsfunktionen, in: Martin Morlok/ ders./Dieter Wiefelspütz (Hrsg.): Parlamentsrecht, 2016, § 5 Rn. 59, 65; Lars Brocker, in: Wolfgang Kahl/Christian Waldhoff/Christian Walter (Hrsg.): Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Stand der 212. Erg.-Lfg. (August 2021), Art. 40 Rn. 57. 7 Vgl. Philipp Austermann/Christian Waldhoff, Parlamentsrecht, 2020, Rn. 312.
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1. Aufstellung der Tagesordnung Der Bundestag berät nur, was auf der Tagesordnung steht. Sie ist sein Arbeitsplan. Zuständig für die Tagesordnung ist der Ältestenrat. Er vereinbart die ca. 22 Sitzungswochen eines Jahres (im jeweiligen Vorjahr) sowie in jeder Sitzungswoche die konkrete Tagesordnung der kommenden Sitzungswoche gemäß § 20 Abs. 1 GO-BT. Die AfD hat sich ab einem bestimmten Zeitpunkt der 19. Wahlperiode mit keiner Tagesordnung mehr einverstanden erklärt. Jede Tagesordnung stand damit unter dem Vorbehalt, dass sie vom Plenum gebilligt würde. Der Bundestagspräsident berief die Sitzungen mit der vorläufigen (von den übrigen Fraktionen vereinbarten) Tagesordnung ein (§ 21 Abs. 1 GO-BT). Das Plenum billigte sie dann mehrheitlich gegen die Stimmen der AfD-Fraktion gemäß § 21 Abs. 3 GO-BT.8 Von ihrer zeitweiligen Taktik, noch eine Geschäftsordnungsdebatte zu beantragen und über die Tagesordnung zu streiten, ist die AfD wieder abgerückt. Der zusätzliche Zeitaufwand, den die Weigerung der AfD mit sich bringt, beträgt ohne eine Geschäftsordnungsdebatte kaum eine Minute, ansonsten rund zehn Minuten. Denn die anderen Fraktionen haben sich darauf verständigt, dass nur ein Mitglied des Hauses einem AfD-Redner antwortet. 2. Dauer der Sitzungen Die Zahl der Sitzungswochen ist begrenzt. Auch die Zahl der Plenartage in den Sitzungswochen ist begrenzt. Das Plenum tagt am Mittwoch ab 13 Uhr sowie am Donnerstag und Freitag ab 9 Uhr. Andere Zeiten stehen nicht zur Verfügung, da montags die Fraktionsführungsgremien, dienstagsvormittags die Arbeitsgruppen/Arbeitskreise der Fraktionen, dienstagsnachmittags die Fraktionen und mittwochvormittags die meisten Ausschüsse tagen. Der Ablauf der Plenarsitzungen muss also zeitlich möglichst gestrafft werden. Dies wird durch bestimmte, vorab von den Fraktionen vereinbarte „Debattenformate“ unterschiedlicher 8 Vgl. etwa Deutscher Bundestag, Stenografischer Bericht, 232. Sitzung vom 9.6.2021 (19/232), S. 29809 A, 29815 B.
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Länge erreicht. Manche unstrittigen Tagesordnungspunkte werden auch ohne Debatte (als sog. o.-D.-Punkte) behandelt. Außerdem besteht seit einigen Jahren die Möglichkeit, Reden „zu Protokoll zu geben“ (§ 78 Abs. 6 GO-BT). Die Reden werden nicht gehalten, aber getreu dem Manuskript im Plenarprotokoll kursiv abgedruckt. Diese Möglichkeit hilft dabei, die Dauer vor allem der am Donnerstag stattfindenden Plenarsitzungen auf ein halbwegs erträgliches Maß zu begrenzen. Fast jede Sitzung des Bundestages dauert länger als geplant. Sei es, weil Abgeordnete ihre Redezeit überziehen oder Zwischenfragen und -bemerkungen oder Kurzinterventionen eine Debatte verlängern, sei es, weil eine Fraktion eine Unterbrechung beantragt etc. Die AfD verweigerte längere Zeit fraktionsübergreifenden Absprachen darüber, Reden zu einem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben, ihre Zustimmung. Abgeordnete der AfD gaben als Grund an, sie müssten ihre Reden halten, um Videos davon in den sozialen Netzwerken posten zu können. Dies sei, so die AfD-Auffassung, die einzige Möglichkeit, die eigenen Inhalte ans Publikum herantragen zu können, da die arrivierten Medien darüber nicht berichten würden. Auch hier zeigt sich die schon angesprochene selbst beanspruchte Opferrolle der AfD. Sie ist schon deswegen fragwürdig, weil auch viele Reden der Abgeordneten anderer Fraktionen in aller Regel keine mediale Aufmerksamkeit erfahren. Die anderen Fraktionen haben keine Handhabe, Abgeordnete einer Fraktion dazu zu zwingen, ihre Reden zu Protokoll zu geben. Sie haben aber daraufhin ihre Reden ebenfalls gehalten, um nicht der AfD allein die Bühne zu überlassen (die die Abwesenheit der anderen dann sogar noch hätte betonen können). Die Praxis der AfD hat jedenfalls mehrere Plenarsitzungen bis weit in den Freitagmorgen hinein verlängert. Mittlerweile scheint die Fraktion aber von ihrer grundsätzlichen Blockadehaltung abgerückt zu sein. Offenbar war diese auch den eigenen Mitgliedern zunehmend lästig. 3. Wahl eines Vizepräsidenten Jede Fraktion hat gemäß § 2 Abs. 1 S. 2 GO-BT das Recht, mit einer Vizepräsidentin oder einem Vizepräsidenten im Präsi-
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dium des Bundestages vertreten zu sein. Die Vorschrift ist missglückt formuliert. Denn der Bundestagspräsident und seine Stellvertreter sind gemäß Art. 40 Abs. 1 S. 1 GG zu wählen. Die GO-BT sieht hierfür drei Wahlgänge vor. In den ersten beiden ist die Mehrheit der Mitglieder notwendig. Im dritten Wahlgang ist von mehreren Bewerbern gewählt, wer die meisten Stimmen auf sich vereinigt; bei Stimmengleichheit entscheidet das Los (§ 2 Abs. 2 S. 5, 6). Bei nur einem Bewerber ist dieser gewählt, wenn er die Mehrheit der abgegebenen Stimmen auf sich vereinigt (§ 2 Abs. 2 S. 4 GO-BT). Weitere Wahlgänge mit einem im dritten Wahlgang erfolglosen Bewerber sind nur nach einer Vereinbarung im Ältestenrat zulässig (§ 2 Abs. 3 S. 1 GO-BT). Die AfD hat mehrfach Kandidatinnen und Kandidaten für das Vizepräsidentenamt vorgeschlagen. Alle erhielten nicht die nötige Mehrheit. Weiteren Wahlgängen für erfolglose Bewerberinnen bzw. Bewerber erteilte der Ältestenrat jeweils seine Zustimmung nicht. Den Wahlvorschlag eines einzelnen AfDAbgeordneten wies die in der betreffenden Sitzung amtierende Vizepräsidentin ab, da es sich beim Vorschlagsrecht um ein Fraktionsrecht handelt.9 Wahlgänge bringen zwar einen gewissen Zeitaufwand mit sich, da mit verdeckten Stimmkarten abzustimmen ist, die in Wahlkabinen anzukreuzen und dann in eine Urne zu werfen sind (§ 2 Abs. 1 S. 1, § 49 GO-BT). Der Bundestag hat aber auch hierin mittlerweile eine Routine entwickelt, um den Zeitaufwand gering zu halten. Um größere Menschenansammlungen zum Schutz vor einer Infektion mit SARS-CoV-2 zu vermeiden, stehen für Wahlen nun zwei Stunden zur Verfügung. Die Wahlen sind parallel zum Plenargeschehen möglich. Eine Blockade der Arbeitsabläufe des Bundestages durch immer wieder angesetzte Wahlgänge lässt sich auf diese Weise vermeiden.
9 Das BVerfG wies den daraufhin gestellten Antrag des Abgeordneten auf Erlass einer einstweiligen Anordnung mit dem Ziel, Wahlvorschläge von Abgeordneten zuzulassen und zur Abstimmung zu stellen, als unzulässig zurück, vgl. BVerfG, Az. 2 BvE 2/20.
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4. Abwahl eines Ausschussvorsitzenden Die Fraktionen legen für jeden Ausschuss fest, wer Ausschussvorsitzender und wer stellvertretender Vorsitzender wird. Denn die Ausschüsse bestimmen ihren Vorsitzenden und dessen Stellvertreter nach den interfraktionellen Vereinbarungen im Ältestenrat (§ 58 i. V. m. § 6 Abs. 2 S. 2 GO-BT). In der Praxis verständigen sich die 1. Parlamentarischen Geschäftsführer der Fraktionen über die Verteilung der Ausschussvorsitze. Nur wenn sich die Parlamentarischen Geschäftsführer nicht einigen können, wird der Ältestenrat befasst.10 Verteilt wird im sog. Zugriffsverfahren11: die stärkste Fraktion sucht sich einen Ausschussvorsitz aus, dann die zweitstärkste usw., bis alle verteilt sind. Das Stärkeverhältnis der Fraktionen entscheidet darüber, wie viele Vorsitzenden- oder Stellvertreterposten eine Fraktion besetzen darf. Die Ausschussmitglieder vollziehen die Personalvorschläge in der konstituierenden Ausschusssitzung (auf Vorschlag des Obmannes der vorschlagsberechtigten Fraktion) nur noch formal nach,12 üblicherweise per Akklamation. Nur sofern einem Vorschlag widersprochen wird, findet eine, unter Umständen auch geheime, Wahl statt.13 Dies war in der 19. Wahlperiode bei zwei von drei von der AfD-Fraktion benannten Kandidaten für Ausschussvorsitze – und damit zum ersten Mal in der Geschichte des Bundestages – der Fall. Der Vorsitzende des einflussreichen Haushaltsausschusses, Peter Boehringer, und der Vorsitzende des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz, Stephan Brandner, mussten sich einer Wahl stellen. 10 Vgl. Heinz-Willi Heynckes, Zwischen Tradition und Moderne. Die Ausschusseinsetzung des Deutschen Bundestages in der 19. Wahlperiode, ZParl 50 (2019), S. 351 ff. (357). 11 Vgl. etwa Günter Krings, Fraktionen, in: Martin Morlok/Utz Schliesky/Dieter Wiefelspütz (Hrsg.): Parlamentsrecht, 2016, § 17 Rn. 50; Hans Christoph Grigoleit/Jens Kersten, Der Ausschussvorsitz als parlamentarisches Amt, DÖV 2001, S. 363 ff. (365). 12 Ebenso Heinhard Steiger, Organisatorische Probleme des parlamentarischen Regierungssystems, 1973, S. 129. 13 Vgl. Heynckes, Zwischen Tradition und Moderne (Anm. 10), S. 351 ff. (359).
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Ein weiteres Novum ereignete sich nur mehr als ein Jahr später. Bislang waren Überlegungen zur Vorsitzendenabwahl nur theoretischer Natur. In der 19. Wahlperiode wurden sie zum ersten Mal in der Geschichte des Bundestages auch praktisch relevant. Der von der AfD-Fraktion benannte Vorsitzende des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz, der Abgeordnete Stephan Brandner, war bereits als Mitglied des Thüringer Landtages dadurch aufgefallen, dass er eine Fülle an Ordnungsrufen erhalten hatte. Sein Verhalten besserte sich im Bundestag nicht. Nach Ansicht der übrigen Fraktionen verletzte er sein Amt als Ausschussvorsitzender, indem er vor allem durch (zum Teil antisemitische) Twitter-Beiträge öffentliche Empörung ausgelöst hatte. Dies schade, so die anderen Fraktionen, dem Ansehen des Ausschusses. Der Ausschuss wählte Brandner am 13.11. 2019 mit 37 zu 6 Stimmen als Vorsitzenden ab. Dies entsprach der geltenden Geschäftsordnungslage. Der Vorsitzende und sein Stellvertreter können nämlich durch den Ausschuss abgewählt werden.14 Denn die Abwahl ist actus contrarius zur Wahl;15 jedenfalls sofern der Vorsitzende ausnahmsweise sein Amt durch eine Wahl erhalten hat. Wenn er – wie üblich – durch Akklamation ins Amt gekommen ist, kann er durch einen Mehrheitsbeschluss abberufen werden. Voraussetzung für die Abwahl/ Abberufung ist, dass er seine Vorsitzendenpflichten verletzt hat.16 Die AfD-Fraktion beantragte gegen die Ausschussentscheidung den Erlass einer einstweiligen Anordnung beim BVerfG. Dessen Zweiter Senat lehnte im Mai 2020 mit einem Beschluss
14 So implizit auch die Auslegungsentscheidung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung Nr. 19/1 vom 7.11.2019, die allerdings nicht, wie es nötig wäre, zwischen Abwahl und Abberufung unterscheidet. 15 Vgl. Helmut Winkelmann, Parlamentarische Ausschussarbeit, in: Martin Morlok/Utz Schliesky/Dieter Wiefelspütz (Hrsg.): Parlamentsrecht, 2016, § 23 Rn. 40; Christoph Schönberger/Sophie Schönberger, Die AfD im Bundestag, JZ 2018, S. 105 ff. (110 f.). 16 Vgl. zum Ganzen Austermann/Waldhoff, Parlamentsrecht (Anm. 7), Rn. 440.
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den Antrag ab.17 Gegenstand des Verfahrens sei, so der Zweite Senat, nicht die Rechtsposition eines einzelnen Abgeordneten, sondern die der Antragstellerin als Bundestagsfraktion. Die Fraktion habe die Möglichkeit, ihre derzeitige Beeinträchtigung durch die Benennung eines anderen Kandidaten für den Ausschussvorsitz selbst zu verringern. Die Ausschussmitglieder der übrigen Fraktionen hätten zugesagt, eine andere Person in dieser Position billigen zu wollen. Es bestehe kein Grund, die Ernsthaftigkeit der von der Ausschussmehrheit abgegebenen Zusage infrage zu stellen. Die Präsentation eines anderen Ausschussvorsitzenden würde die Beeinträchtigung der Fraktion zwar nicht vollends beseitigen. Das Interesse der Fraktionen, nicht irgendwelche – den Mehrheitsfraktionen womöglich genehmere – Persönlichkeiten auf für sie wichtige Stellen zu positionieren, erscheine nachvollziehbar. Dass die Fraktion aber, wie sie selbst vortrage, an der Erfüllung ihrer Oppositionsaufgaben vollständig gehindert wäre, treffe nicht zu. Würde die einstweilige Anordnung erlassen, so der Senat, würde der Rechtsausschuss bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens weiterhin von einer Person geleitet, die das Vertrauen der Ausschussmehrheit offensichtlich nicht besitzt. Dies würde die Arbeitsfähigkeit des Ausschusses gefährden. Der Eilbeschluss würde zudem in das von Artikel 40 Abs. 1 GG garantierte Selbstbestimmungsrecht des Bundestages eingreifen, wozu das Bundesverfassungsgericht nur unter strengen Voraussetzungen im Eilverfahren befugt sei. Die AfD-Fraktion verzichtete darauf, ein anderes Mitglied für den Vorsitz zu benennen. Seither wurde der Ausschuss vom stellvertretenden Vorsitzenden, dem CDU/CSU-Abgeordneten Heribert Hirte, (in Vertretung) geleitet.17a 5. Kleine Anfragen Die Zahl der Kleinen Anfragen hat in der 19. Wahlperiode deutlich zugenommen. Lag sie in der 18. Wahlperiode noch bei Vgl. BVerfG, NVwZ 2020, 1034. In der 20. Wahlperiode scheiterten die drei von der AfD vorgeschlagenen Vorsitzendenkandidaten. Ein Eilantrag der AfD-Fraktion blieb zurecht erfolglos. 17
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3.95318, so hat sie in der 19. Wahlperiode fast den Wert 11.700 erreicht. Die Regierungsfraktionen halten sich mit Kleinen Anfragen in aller Regel zurück. Sie haben andere Informationskanäle zur Bundesregierung und zudem kein Interesse, das von ihnen gestützte Kabinett durch öffentliche Fragen in Bedrängnis zu bringen. Nahezu alle Kleinen Anfragen stammen daher von den Oppositionsfraktionen. Sie nutzen die Kleinen Anfragen zur Informationsbeschaffung und zur Darstellung ihrer eigenen Positionen. Die AfD-Fraktion reiht sich hier (mit rund 3.100 in der 19. Wahlperiode) ein.19 Die Vermutung, sie könnte sehr viele Anfragen stellen, um die Ministerien gezielt zu überlasten, lässt sich nicht belegen. Auch andere Fraktionen stellen eine Fülle an Anfragen, zum Teil periodisch wiederkehrend zu den gleichen Themen. Die hohe Zahl ist auf die große Zahl an Fraktionen (zwei mehr als in der 18. Wahlperiode) zurückzuführen. Eine Reduzierung der Zahl der Anfragen ist angesichts der hohen Bedeutung der parlamentarischen Kontrollrechte verfassungsrechtlich schwierig, zumal die Bundesregierung eine Überlastung, welche die Erfüllung ihrer anderen Aufgaben infrage stellen würde, bislang nicht nachgewiesen hat. 6. Konstruktives Misstrauensvotum Im Reichstag der Weimarer Republik waren Anträge, der Reichsregierung, dem Reichskanzler oder einem oder mehreren Reichsministern das Misstrauen auszusprechen (Art. 54 S. 2 WRV), ab 1930 sehr häufig.20 Vornehmlich die verfassungsfeindlichen Parteien KPD und NSDAP nutzten sie, um Stimmung gegen die Reichsregierung oder einzelne ihrer Mitglieder zu machen. Die Schöpferinnen und Schöpfer des Grundgesetzes 18 Vgl. Deutscher Bundestag (Hrsg.): Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages, Kapitel 11.1, https://www.bundestag.de/do kumente/parlamentsarchiv/datenhandbuch/11/kapitel-11-475952 (zuletzt abgerufen am 15.7.2022). 19 Die meisten Kleinen Anfragen stellte in der 19. Wahlperiode die FDP mit rund 3.500, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen richteten rund 2.700 bzw. 1.600 Anfragen an die Bundesregierung. 20 Siehe die Aufstellung bei Austermann, Der Weimarer Reichstag (Anm. 4), S. 327 f.
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(sowie zuvor schon der westdeutschen Landesverfassungen) erkannten das Problem und schufen das konstruktive Misstrauensvotum. Ein Bundeskanzler kann nur dadurch gestürzt werden, dass mit der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages (Art. 121 GG) uno actu sein Nachfolger gewählt wird (Art. 67 GG). Bislang war auf Bundesebene nur ein Antrag erfolgreich. Im Oktober 1982 wurde Helmut Kohl gewählt und Helmut Schmidt dadurch abgelöst. Zehn Jahre zuvor hingegen verfehlte der Bewerber Rainer Barzel beim versuchten Sturz Willy Brandts die erforderliche Mehrheit um zwei Stimmen. Der Antrag auf ein Misstrauensvotum wird üblicherweise nur gestellt, wenn auch die Aussicht besteht, die nötige Mehrheit zu erreichen. Im Bundestag sind Misstrauensanträge daher selten. Auch auf der Landesebene hat es nur wenige Fälle gegeben. Zuletzt versuchte der Vorsitzende der Thüringer AfD-Landtagsfraktion Björn Höcke am 23.7.2021, sich vom Landtag gemäß Art. 73 der Thüringer Verfassung anstelle Bodo Ramelows zum Ministerpräsidenten wählen zu lassen. Er erhielt aber nur die Stimmen seiner Fraktion und verfehlte die nötige Mehrheit von 46 Ja-Stimmen damit deutlich. Die CDU-Fraktion nahm an der Wahl nicht teil, da Höcke „einmal mehr“ versuche, das „Parlament verächtlich zu machen“. Man werde sich „auf die durchschaubaren Spiele der AfD nicht einlassen“.21 Für die Parlamentsorganisation sind Abstimmungen über Misstrauensanträge unproblematisch. Sie können, insbesondere wenn ein Parlament eine gewisse Routine darin entwickelt, wie auch andere Wahlen in den Plenarablauf integriert werden, ohne dass es zu einer deutlichen Verzögerung oder gar Behinderung der Parlamentsarbeit kommt. 7. Umgang mit Störungen Die GO-BT schützt „Ordnung und Würde“ des Bundestages. Es handelt sich um unbestimmte Rechtsbegriffe. Die „Ord21 Vgl. Stefan Locke, Gescheitert in Erfurt, https://www.faz.net/ak tuell/politik/inland/bjoern-hoeckes-misstrauensvotum-gescheitert-in-thue ringen-17450376.html [zuletzt abgerufen am 15.7.2022].
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nung“ erstreckt sich auf geschriebene und ungeschriebene Regeln des Parlamentsrechts und des Parlamentsbrauchs.22 Die „Würde“ (oder das „Ansehen“) wurde schon bis zu ihrer ausdrücklichen, lediglich klarstellenden Aufnahme23 in einige Ordnungsmittelvorschriften der GO-BT als Schutzgut oder Unterfall der Ordnungsgewalt angesehen.24 Es ist nicht erforderlich, Ordnung und Würde voneinander abzugrenzen. Originärer Träger der Ordnungsgewalt im Plenum (Disziplinargewalt) ist – anders als bei Hausrecht und Polizeigewalt (Art. 40 Abs. 2 GG) – der Bundestag in seiner Gesamtheit (vgl. auch § 39 GO-BT). Der Bundestag hat die Ausübung seiner Ordnungsgewalt auf den sitzungsleitenden Präsidenten übertragen (§§ 7 Abs. 1 S. 2, 36–41 GO-BT). Dieser übt die Ordnungsgewalt im Plenum in eigener Verantwortung und unabhängig aus.25 Die Ordnungsgewalt besteht gegenüber Mitgliedern des Bundestages, Sitzungsteilnehmern, die keine Bundestagsabgeordneten sind oder nicht als solche teilnehmen (gemäß Art. 43 Abs. 2 GG oder § 115 Abs. 1 GO-BT), und Zuhörern. Zuhörer sind Bürgerinnen und Bürger sowie Journalisten. Sie dürfen nur auf den Tribünen Platz nehmen. Die Ordnungsgewalt beschränkt das Anwesenheits-, das Redeund das Stimmrecht der Abgeordneten. Sie findet ihre Grundlage und Rechtfertigung seit alters her in der Geschäftsordnungsautonomie (Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG). Deren traditionelle
22 Vgl. Joseph Bücker, Das parlamentarische Ordnungsrecht, in: HansPeter Schneider/Wolfgang Zeh (Hrsg.): Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 34 Rn. 7; Oliver Borowy, Parlamentarisches Ordnungsgeld und Sitzungsausschluss, ZParl 43 (2012), S. 635 ff. (637); Paul J. Glauben/ Inga Breitbach, Abgeordnetenstatus versus Disziplinargewalt der Parlamentspräsidien, DÖV 2018, S. 855 ff. (859 f.); a. A. Albert Ingold/SophieCharlotte Lenski, Ordnungsgeld und Sitzungsausschluss als Ordnungsmaßnahmen gegen Bundestagsabgeordnete, JZ 2012, S. 120 ff. (122). 23 Vgl. BT-Drs. 17/5471, S. 3 f.; BT-Drs. 17/6309, S. 6. 24 Vgl. Heinrich Ritzel/Joseph Bücker/Hermann J. Schreiner, Handbuch für die Parlamentarische Praxis, Vor §§ 36–41 Anm. 1 d; Brocker, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Anm. 6), Art. 40 Rn. 117. 25 Vgl. BVerfGE 60, 374 (379).
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Inhalte sind „Geschäftsgang und Disziplin“.26 Der sitzungsleitende Präsident hat – je nach Schwere eines Verstoßes – verschiedene Möglichkeiten, auf Störungen des Plenarbetriebes zu reagieren. a) Informelle Ordnungsmittel Manche Störungsversuche konnten ohne Ordnungsmittel beendet werden. Der Abgeordnete Thomas Seitz sagte am 8.6.2018 während einer Geschäftsordnungsdebatte (um die Erweiterung der Tagesordnung), die Redezeit widme man dem Gedenken an ein in Wiesbaden tot aufgefundenes Mädchen [das offenbar von einem Asylbewerber ermordet worden war, P. A.]. Abgeordnete der AfD erhoben sich; Seitz schwieg. Die Vizepräsidentin Claudia Roth, die die Sitzung leitete, wies den Abgeordneten darauf hin, dass der Bundestag gerade zur Geschäftsordnung debattierte. Sie bitte, dass Seitz sich an die vorgegebene Tagesordnung halte. Als der Abgeordnete weiterhin schwieg, fragte die Vizepräsidentin ihn, ob er noch etwas sagen wolle, da sie andernfalls den nächsten Redner aufrufe. Seitz schwieg weiter und verließ, nachdem die Vizepräsidentin ihn dazu aufgefordert hatte, das Rednerpult.27 Der Vorgang löste starke Anfeindungen gegen die Vizepräsidentin im Internet aus. Bundestagspräsident Schäuble sah sich in der übernächsten Sitzung veranlasst, seine Präsidiumskollegin dagegen in Schutz zu nehmen.28 Anfeindungen und Hass im Internet haben in den letzten Jahren ohnehin überhandgenommen. Gerade Politikerinnen und Politiker der Parteien, die politische Gegner der AfD sind, werden in übler 26 Vgl. BVerfGE 44, 308 (314 f.) unter Verweis auf Art. 78 Abs. 1 S. 2 PrVerf, Art. 27 S. 2 RV; BVerfGE 60, 374 (379); 80, 188 (218). Auch für das Ordnungsgeld ist ein Rückgriff auf Art. 38 Abs. 3 GG nicht erforderlich; vgl. Austermann/Waldhoff, Parlamentsrecht (Anm. 7), Rn. 342; a. A. Ingold/Lenski, Ordnungsgeld (Anm. 22), JZ 2012, S. 120 ff. (121); Thomas Schürmann, Plenardebatte, in: Martin Morlok/Utz Schliesky/Dieter Wiefelspütz (Hrsg.): Parlamentsrecht, 2016, § 20 Rn. 58. 27 Vgl. Deutscher Bundestag, Stenografischer Bericht der 37. Sitzung vom 8.6.2018 (19/37), S. 3558 C, D. 28 Vgl. Deutscher Bundestag, Stenografischer Bericht der 39. Sitzung vom 14.6.2018 (19/39), S. 3742 C.
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Weise beleidigt und bedroht. Da dies oftmals anonym geschieht, sind der Justiz häufig die Hände gebunden. Ein effektives Mittel gegen solchen Onlinehass ist bislang leider noch nicht gefunden worden. Umso wichtiger ist es, dass sich die Demokratinnen und Demokraten öffentlich dagegen äußern und zusammenhalten (bei allen politischen Unterschieden in anderen Fragen). Verstoßen Abgeordnete gegen die Kleiderordnung bzw. gegen das Verbot, Kleidung (z. B. T-Shirts) oder Buttons mit politischen Aussagen zu tragen, wird dies in der Regel durch eine formlose Rüge unterbunden. b) Formelle Ordnungsmittel Die gegenüber Bundestagsabgeordneten möglichen formellen Ordnungsmittel (§§ 36 ff. GO-BT) schließen einander wegen des unterschiedlichen Schweregrades grundsätzlich aus (Ausnahme: § 37 S. 3 i. V. m. § 38 Abs. 2 S. 3 GO-BT oder § 38 Abs. 2 S. 3 GO-BT). Sie bauen nicht aufeinander auf, sondern können – sofern die Tatbestandsvoraussetzungen vorliegen – unmittelbar verhängt werden.29 Folgende Ordnungsmittel sind möglich: – der in der Praxis wenig relevante Sachruf (§ 36 Abs. 1 S. 1 GO-BT), – der Ordnungsruf (§ 36 Abs. 1 S. 2 GO-BT), – die Wortentziehung (§ 36 Abs. 2 GO-BT), – das Ordnungsgeld (§ 44e AbgG i. V. m. § 37 GO-BT), – der Sitzungsausschluss (§ 38 GO-BT). aa) Ordnungsruf Der Ordnungsruf ist das mit Abstand häufigste Ordnungsmittel. Der sitzungsleitende (Vize-)Präsident kann ihn im Falle einer einfachen Verletzung der Ordnung oder Würde des Bundes29 Vgl. Holger Jacobs, Die Wahrung der parlamentarischen Ordnung – Ordnungsmaßnahmen des Parlamentspräsidenten im Deutschen Bundestag und in den Landtagen, DÖV 2016, S. 563 (564); Schürmann, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz (Anm. 26), § 20 Rn. 64; Austermann/Waldhoff, Parlamentsrecht (Anm. 7), Rn. 347.
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tages aussprechen. Einige Beispiele aus der reichen Kasuistik seien genannt:30 – strafrechtliche Wertungen gelten selbstverständlich auch für das Plenum; unzulässig sind z. B. Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole (§ 90a StGB), Volksverhetzung (§ 130 StGB), Beleidigungen (§§ 185 ff. StGB), körperliche Angriffe (§§ 223 ff. StGB) oder Nötigungen (§ 240 StGB), – parlamentarische Beratungsabläufe wie Reden, Abstimmungen oder Wahlen dürfen nicht gestört oder zu verhindern versucht werden, – sitzungsleitenden Hinweisen des Bundestagspräsidenten ist zu entsprechen; dessen Sitzungsleitung ist im Plenum auch nicht zu kritisieren, – Meinungen sind durch das Wort und nicht durch Transparente, Abzeichen, gleichförmiges Auftreten (Uniformen etc.), Schweigen am Rednerpult oder sonstige demonstrative Akte kundzutun, – Vergleiche mit dem NS- oder dem SED-Regime sind unzulässig; ebenso Äußerungen, die das Andenken der Opfer eines der beiden Regime beleidigen, sowie Beifallsbekundungen für solche Äußerungen, – dauerhafte Unruhe durch fortwährende störende Zwischenrufe, Pfeifen, Singen oder anderen Lärm ist nicht gestattet, – ob Kritik am Bundespräsidenten einen Ordnungsruf rechtfertigt31, hängt vom Einzelfall ab. Ein Verschulden ist nicht erforderlich.32 Eine inhaltliche Bewertung der Redebeiträge darf nicht stattfinden, selbst wenn sie unerträgliche und abwegige Äußerungen zur deutschen Ge-
30 Vgl. zum Folgenden Austermann/Waldhoff, Parlamentsrecht (Anm. 7), Rn. 349 m. w. N. 31 In der Sitzung des Bundestages am 16.5.2019 ermahnte der Bundestagspräsident einen Redner, erteilte ihm aber keinen Ordnungsruf. Dieses Vorgehen war angemessen. 32 A. A. Brocker, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Anm. 6), Art. 40 Rn. 135.
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schichte oder unzutreffende Tatsachenbehauptungen enthalten.33 Der Widerstreit der politischen Positionen im Parlament als dem Forum der Repräsentation lebt nicht zuletzt von Debatten, die mit Stilmitteln wie Überspitzung, Polarisierung, Vereinfachung oder Polemik arbeiten.34 Äußert sich ein Redner in einer Weise, die andere Abgeordnete oder Fraktionen unsäglich finden, sind sie gut beraten, darauf in der Debatte – und sei es durch eine Zwischenfrage bzw. Zwischenbemerkung oder eine Kurzintervention (§ 27 GO-BT) – zu reagieren. Bei historisch abwegigen Äußerungen kann allerdings der Tatbestand der Volksverhetzung (§ 130) oder der Beleidigung (§ 185 ff. StGB) erfüllt sein. Strafrechtlich relevante Äußerungen verletzen die parlamentarische Ordnung. Hinsichtlich nicht verleumderischer Beleidigungen kompensiert das Ordnungsrecht den Indemnitätsschutz aus Art. 46 Abs. 1 GG:35 Zwar kann der Abgeordnete für bestimmte Äußerungen im Parlament nicht strafrechtlich, wohl aber ordnungsrechtlich belangt werden. In der 19. Wahlperiode wurden mehr als 40 Ordnungsrufe erteilt. Eine so hohe Zahl wurde seit mehreren Legislaturperioden nicht erreicht. In den vergangenen 20 Jahren lag der Schnitt bei rund vier.36 Das Gros, mehr als 25 Ordnungsrufe, entfielen auf die AfD-Fraktion, der Rest auf Abgeordnete anderer Fraktionen. Mehrere davon reagierten rügewürdig auf Aussagen der AfD. Die hohe Zahl der Ordnungsrufe belegt die deutliche Polarisierung zwischen der AfD und den anderen im Haus vertretenen Parteien. AfD-Mitglieder fielen vor allem durch unangemessene Sprache auf. So sprach die Co-Fraktionsvorsitzende Alice Weidel am 16.5.2018 im Plenum von „Kopftuchmädchen, alimentierte[n] Messermänner[n] und sonstige[n] Tau-
33 Vgl. z. B. SächsVerfGH, NVwZ-RR 2011, S. 132 (133); NVwZ-RR 2012, S. 89. 34 Wie hier Glauben/Breitbach, Abgeordnetenstatus (Anm. 22), S. 860; SächsVerfGH, NVwZ-RR 2011, S. 129 (131); NVwZ-RR 2012, S. 89 (90). 35 Vgl. Borowy, Parlamentarisches Ordnungsgeld (Anm. 22), S. 640, 655 f. 36 Vgl. Schüttemeyer, Der 19. Deutsche Bundestag (Anm. 2), S. 21.
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genichtse[n]“.37 Zum Teil wurden Ordnungsrufe auch für die Weigerung erteilt, bei Bewegungen durch den Plenarsaal eine Mund-Nasen-Maske zu tragen. Die AfD-Fraktion tat sich hier unrühmlich hervor. Eine Klage vor dem BVerfG gegen die Anordnung des Bundestagspräsidenten zum Tragen einer Maske zog die Fraktion im Juli 2021 zurück. bb) Wortentziehung Der sitzungsleitende (Vize-)Präsident kann einem Redner das Wort entziehen, wenn ein dreimaliger Sach- oder Ordnungsruf in derselben Rede (auch bei Kurzinterventionen und Erklärungen nach §§ 30 ff. GO-BT38) nicht erfolgreich war und beim zweiten Mal auf die mögliche Wortentziehung hingewiesen wurde (§ 36 Abs. 2 GO-BT). Im Bundestag sind Wortentziehungen als Ordnungsmittel sehr selten. In der 19. Wahlperiode war keine einzige zu verzeichnen. Die Wortentziehung nach § 36 Abs. 2 GO-BT ist nicht zu verwechseln mit dem Wortentzug bei Überschreitung der Redezeit nach einmaliger Mahnung nach § 35 Abs. 3 GO-BT. Letzterer ist kein Ordnungsmittel.39 cc) Ordnungsgeld Der Bundestagspräsident kann bei einer nicht nur geringfügigen, schuldhaften40 Verletzung der Ordnung oder Würde des Bundestages ein Ordnungsgeld von 1.000 A verhängen. Im Wiederholungsfall beträgt es 2.000 A (§ 44e AbgG i. V. m. § 37 GO-
37 Vgl. Deutscher Bundestag, Stenografischer Bericht der 32. Sitzung vom 16.5.2018 (19/32), S. 2972 D. 38 Vgl. Ritzel/Bücker/Schreiner, Handbuch für die Parlamentarische Praxis (Anm. 24), § 36 Anm. 4.b. 39 A. A. Peter Blum, Leitungsorgane, in: Martin Morlok/Utz Schliesky/Dieter Wiefelspütz (Hrsg.): Parlamentsrecht, 2016, § 21 Rn. 25. 40 Vgl. Ritzel/Bücker/Schreiner, Handbuch für die Parlamentarische Praxis (Anm. 24), Vor §§ 36–41 Anm. 4 c; Frank Raue, in: Philipp Austermann/Stefanie Schmahl (Hrsg.), Abgeordnetengesetz. Kommentar, 2016, § 44a Rn. 117.
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BT). „Ein Wiederholungsfall liegt in der Regel dann vor, wenn das betroffene Mitglied innerhalb von drei Sitzungswochen erneut Anlass für die Festsetzung eines Ordnungsgeldes aus ähnlichen Gründen gegeben hat.“ 41 Ein Ordnungsgeld kann auch in der nächstfolgenden Plenarsitzung verhängt werden, wenn der Präsident es sich vorbehalten hat (§ 37 S. 3 i. V. m. § 38 Abs. 2 GO-BT). Das Ordnungsgeld ist in Fällen zulässig, für die ein Ordnungsruf zu wenig und ein Sitzungsausschluss zu hart erscheint42: „im Zweifel Ordnungsgeld statt Ausschluss“.43 Ein Ordnungsgeld in Höhe von 1.000 A wurde bislang nur einmal verhängt. Der AfD-Abgeordnete Petr Bystron wurde in der 19. Wahlperiode sanktioniert, weil er seinen Stimmzettel zur Kanzlerwahl fotografiert und das Bild per Twitter ins Internet gestellt hatte.44 Das Ordnungsgeld als Ordnungsmittel war in der 17. Wahlperiode eingeführt worden, um künftig ein mittleres Mittel zwischen Ordnungsruf und Sitzungsausschluss zur Verfügung zu haben (nachdem Abgeordneten der Fraktion Die Linke. in einer Sitzung Plakate hochgehalten hatten und von der Sitzung ausgeschlossen worden waren).45 Zu einer erheblichen und auch beunruhigenden Störung kam es am 18.11.2020. Der Bundestag beriet über eine Änderung des Infektionsschutzgesetzes. In der Nähe des Reichstagsgebäudes demonstrierten mehrere Tausend Menschen gegen die Änderung, unter ihnen viele „Querdenker“. AfD-Abgeordnete hatten „Querdenkern“ als Besucherinnen und Besuchern den Zutritt zum Reichstagsgebäude ermöglicht. Diese attackierten u. a. den Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier verbal und filmten ihre Aktionen auch noch. Der Bundestag hat darauf – auch unter dem Eindruck eines versuchten „Reichstagssturms“ durch
BT-Drs. 17/5471, S. 4, und BT-Drs. 17/6309, S. 6. Vgl. BT-Drs. 17/5471, S. 3; 17/6309, S. 5. 43 Borowy, Parlamentarisches Ordnungsgeld (Anm. 22), S. 648. 44 Vgl. Deutscher Bundestag, Stenografischer Bericht der 19. Sitzung vom 14.3.2018 (19/19), S. 1597 A. 45 Vgl. Austermann/Waldhoff, Parlamentsrecht (Anm. 7), Rn. 353 m. w. N. 41 42
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„Querdenker“, Reichsbürger und Rechtsextreme am 29.8.2020 – schnell reagiert. Der Bundestagspräsident kann seit dem 16.4. 202146 gemäß § 44e Abs. 2 AbgG wegen einer nicht nur geringfügigen Verletzung der Hausordnung des Bundestages, also z. B. bei Störungen außerhalb des Plenums, ein Ordnungsgeld verhängen. Ähnliche Aktionen hat es seither nicht mehr gegeben. Das Parlament hat insofern seine Bereitschaft unter Beweis gestellt, Störungen zu unterbinden oder jedenfalls effektiv zu ahnden. Die Justiz ermittelt zudem gegen mehrere Beteiligte des versuchten „Reichstagssturms“ sowie der Störungen des Parlamentsbetriebs. Einige Beteiligte wurden strafgerichtlich verurteilt. dd) Sitzungsausschluss Ein Mitglied des Bundestages kann wegen gröblicher, schuldhafter47 Verletzung48 der Ordnung oder Würde des Bundestages für bis zu 30 Tage von den Sitzungen ausgeschlossen werden (§ 38 Abs. 1 GO-BT). Wer ausgeschlossen wurde, darf an Plenar- und Ausschusssitzungen nicht teilnehmen (§ 38 Abs. 5 GO-BT) und auch nicht abstimmen.49 Die Beteiligung an Gesetzentwürfen, Kleinen oder Großen Anfragen oder anderen Initiativen ist weiterhin zulässig.50 Der Sitzungsausschluss ist 46 Gesetz vom 9.4.2021 (BGBl. I S. 741); vgl. auch den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD vom 19.2.2021, BT-Drs. 19/ 26540, S. 1, 4, und Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung vom 22.2.2021, BT-Drs. 19/26848, S. 3 f. 47 Vgl. Brocker, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Anm. 6), Art. 40 Rn. 135; Ritzel/Bücker/Schreiner, Handbuch für die Parlamentarische Praxis (Anm. 24), Vor §§ 36–41 Anm. 4 c. 48 Vgl. BT-Drs. 17/5471, S. 4 49 Wie hier Ritzel/Bücker/Schreiner, Handbuch für die Parlamentarische Praxis (Anm. 24), § 38 Anm. 7 a; Borowy, Parlamentarisches Ordnungsgeld (Anm. 22), S. 652; a. A. Ingold/Lenski, Ordnungsgeld (Anm. 22), S. 123 f. 50 Vgl. Ritzel/Bücker/Schreiner, Handbuch für die Parlamentarische Praxis (Anm. 24), § 38 Anm. 7 a; a. A. Norbert Achterberg, Parlamentsrecht, 1984, S. 659.
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die Ultima Ratio,51 um die parlamentarische Ordnung zu gewährleisten. Wer ausgeschlossen wurde, muss den Plenarsaal unverzüglich verlassen. Wer sich weigert, kann zwangsweise entfernt werden (gestützt auf Hausrecht und Polizeigewalt, Art. 40 Abs. 2 S. 1 GG), da die Weigerung einen Hausfriedensbruch darstellt.52 Zu Sitzungsausschlüssen kam es im Bundestag in der 19. Wahlperiode nicht (und auch früher nur sehr selten). Im baden-württembergischen Landtag hingegen musste die Landtagspräsidentin in der Sitzung am 24.6.2020 einen fraktionslosen (ehemaligen AfD-)Abgeordneten durch die Polizei heraustragen lassen.53 ee) Einspruch Während andere Abgeordnete Ordnungsrufe, die ja keine weiteren Folgen haben, hinnahmen, erwiesen sich die AfD-Abgeordneten in dieser Hinsicht als erstaunlich dünnhäutig. Sie legten gegen Ordnungsrufe in aller Regel Einspruch ein (§ 39 GO-BT). Ihre Einsprüche wurden vom Plenum stets zurückgewiesen. Das BVerfG hat entschieden, dass ohne vorherigen Einspruch ein Organstreitverfahren gegen eine Ordnungsmaßnahme (hier: ein Ordnungsgeld) unzulässig ist.54 c) Störungen durch Zutritts- und Redeprivilegierte Die Mitglieder des Bundesrates sowie ihre Beauftragten (vor allem Beamtinnen und Beamte der Landesregierungen) haben zu 51 Vgl. nur Brocker, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Anm. 6), Art. 40 Rn. 134; Jacobs, Die Wahrung der parlamentarischen Ordnung (Anm. 29), S. 569. 52 Vgl. Ritzel/Bücker/Schreiner, Handbuch für die Parlamentarische Praxis (Anm. 24), § 38 Anm. 7 c; Achterberg, Parlamentsrecht, (Anm. 50), S. 659. 53 Vgl. Plenarprotokoll des Landtages Baden-Württemberg 16/122, S. 7517. 54 Vgl. BVerfG, NVwZ 2019, S. 1755 (1757 f.) mit zust. Anm. Lars Brocker; a. A. Christian Hillgruber, Rechtsschutzbedürfnis für einen Antrag eines Abgeordneten im Organstreitverfahren betreffend die Verhängung eines Ordnungsgeldes gemäß Art. 44 a V 1 AbgG, § 37 S. 1 GO-BT, JA 2020, S. 71 ff. (73 f.).
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allen Sitzungen des Bundestages und seiner Ausschüsse Zutritt. Sie müssen jederzeit gehört werden (Art. 43 Abs. 2 GG). Diese Zutritts- und Redeprivilegierung steht ihrem Wortlaut nach etwaigen Beschränkungen des Zugangs und der Redezeit durch die GO-BT entgegen. Sollten also populistische Parteien an einer Koalition in einem Bundesland und damit an einer Landesregierung beteiligt werden, würde mindestens auch eines ihrer Mitglieder in den Bundesrat entsandt (Art. 51 Abs. 1 GG). Derzeit ist die in Teilen populistische Partei Die Linke an mehreren Landesregierungen beteiligt. Ihre Regierungsvertreterinnen und Vertreter sind aber im Bundesrat und Bundestag nicht durch Störaktionen aufgefallen. Sie scheinen sich eher – wie der Thüringer Ministerpräsident Bodo Ramelow – um ein (jedenfalls äußerlich) staatstragendes Auftreten zu bemühen. Das sah im Falle des rechtspopulistischen Hamburger Innensenators Ronald Schill anders aus. Dieser sprach als Mitglied des Bundesrates in einer Plenardebatte des Bundestages. Als er die angemeldete Redezeit von 15 Minuten weit überschritten (und zudem inhaltlich kaum zum Tagesordnungspunkt gesprochen sowie zuletzt die Sitzungsleitung der Vizepräsidentin Fuchs kritisiert) hatte, entzog ihm die Vizepräsidentin das Wort und stellte das Rednermikrofon aus.55 In der Parlamentspraxis versucht die Sitzungsleitung (Präsident oder Vizepräsident) gerade gegenüber Zutritts- und Redeprivilegierten, sich auf informelle Ermahnungen und Rügen zu beschränken. Beispielsweise weist die Sitzungsleitung einen Redner darauf hin, auf eine dem Parlament angemessen Sprache zu achten. Oder sie unternimmt es, über die Plenarassistenten oder einen Parlamentarischen Geschäftsführer56 auf einen Zutritts- und Redeprivilegierten mäßigenden Einfluss zu nehmen (z. B. wenn ein Bundesminister von der Regierungsbank aus einem Redner dazwischenruft). Ein mögliches Mittel ist auch der sog. hypothetische Ordnungsruf: „Frau Landesministerin XYZ, 55 Vgl. Deutscher Bundestag, Stenografischer Bericht der 251. Sitzung vom 29.8.2002 (14/251), S. 25443 ff. 56 Vgl. Ritzel/Bücker/Schreiner, Handbuch für die Parlamentarische Praxis (Anm. 24), Vor §§ 36–41 Anm. 2 a.
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wenn Sie Abgeordnete wären, hätte ich Sie zur Ordnung gerufen“ 57 bzw. „. . ., wäre ihre Redezeit abgelaufen“). Wenn informelle Ermahnungen oder Rügen – wie im Fall Schill – fruchtlos bleiben, ist zu prüfen, ob formelle Ordnungsmittel (Ordnungsruf, Wortentziehung, Ordnungsgeld, Sitzungsausschluss) in Betracht kommen.58 Ob sie gegenüber Zutrittsund Redeprivilegierten überhaupt zulässig sind, wird unterschiedlich beurteilt. Eine Auffassung hält sie für unzulässig.59 Nach anderer Meinung sind formelle Ordnungsmittel (Sachund Ordnungsruf, Wortentziehung, Sitzungsausschluss) grundsätzlich auch gegenüber den in Art. 43 Abs. 2 GG genannten Personen zulässig, sofern diese in der Geschäftsordnung erwähnt werden.60 Diese Ansicht ist allerdings mit dem deutlichen Wortlaut des Art. 43 Abs. 2 GG nicht vereinbar. Die Verfassungsvorschrift erwähnt Einschränkungen des Zutrittsund Rederechts nicht. Nach der überzeugenden h. M. kann der sitzungsleitende Präsident formelle Ordnungsmittel gegenüber Zutritts- und Redeprivilegierten nur dann verhängen, wenn sie ihr Zutritts- oder Rederecht unter Verstoß gegen das Gebot der Verfassungsorgantreue missbrauchen.61 Die Verfassungsorgane sind verpflichtet, „bei Inanspruchnahme ihrer verfassungsmäßigen Kompetenzen auf die Interessen anderer Verfassungsorgane Rücksicht zu nehmen“.62 Ein treuwidriger Rechtsmissbrauch liegt vor, wenn die Zutritts- und Redeprivilegierten den Verfahrensgang grundsätzlich infrage stellen, also z. B. den Plenarab-
57 Vgl. die Beispiele bei Ritzel/Bücker/Schreiner, Handbuch für die Parlamentarische Praxis (Anm. 24), § 41 Anm. I. d. bb. 58 Vgl. zum Folgenden Austermann/Waldhoff, Parlamentsrecht (Anm. 7), Rn. 366. 59 Vgl. Karl-Hans Rothaug, Die Leitungskompetenz des Bundestagspräsidenten, 1979, S. 62. 60 So Schürmann, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz (Anm. 26), § 20 Rn. 65 f.; Volker Haug, Bindungsprobleme und Rechtsnatur parlamentarischer Geschäftsordnungen, 1994, S. 119 ff. 61 Vgl. Austermann/Waldhoff, Parlamentsrecht (Anm. 7), Rn. 366 m. w. N. 62 Vgl. BVerfGE 45, 1 (39).
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lauf oder die Verabschiedung eines Gesetzes vorsätzlich stören, den Bundestag „durch eine übermäßige Häufung von Regierungsreden an der Erfüllung seiner Aufgaben“ hindern oder „den Oppositionsabgeordneten eine Darlegung ihres Standpunktes unmöglich [. . .] machen oder sie während günstiger Rundfunk- und Fernsehempfangszeit geflissentlich von der Rednertribüne [fernhalten]“.63 Eine solche unzulässige Redezeitüberschreitung zur Verhinderung eines Beschlusses wird als Filibustern bezeichnet. Eine bloße „Überziehung“ der Redezeit ohne Verhinderungsabsicht genügt nicht, um zu Ordnungsmitteln greifen zu dürfen. Denn die Redeprivilegierten sind nicht an die Redezeit gebunden, da sie nach Art. 43 Abs. 2 S. 2 GG „jederzeit gehört“ werden müssen.64 Das Zutrittsrecht nach Art. 43 Abs. 2 S. 1 GG könnte z. B. dadurch missbraucht werden, dass jemand andere Sitzungsteilnehmer bedrängt oder sie vom Rednerpult fernzuhalten sucht. Wer bloß flegelhaft auftritt, missbraucht sein Zutrittsrecht aber noch nicht. Folglich stellt nicht bereits jede Verletzung der parlamentarischen Ordnung gleich einen Missbrauch des Zutritts- und Rederechts dar. Hierfür ist eine massive Störung der Arbeitsabläufe des Bundestages zu verlangen. Ob eine solche Störung vorliegt, ist im Einzelfall zu beurteilen. Liegt ein Missbrauch des Zutritts- und Rederechts vor, ist der sitzungsleitende Präsident nicht auf die milderen Ordnungsmaßnahmen des § 41 Abs. 2 GO-BT beschränkt. Er kann dann auch zu den in den §§ 36 ff. GO-BT erwähnten Ordnungsmitteln greifen. Möglich sind der Ordnungsruf, die Wortentziehung nach dreimaligem Ordnungsruf und der Sitzungsausschluss.65 Der Sachruf kommt hingegen nicht in Betracht, da die Redebefugnis aus Art. 43 Abs. 2 S. 2 GG nicht an BVerfGE 10, 4 (18). Vgl. BVerfGE 96, 264 (286). 65 Vgl. nur Brocker, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Anm. 6), Art. 40 Rn. 140; a. A. zur Wortentziehung Jost Pietzcker, Schichten des Parlamentsrechts: Verfassung, Gesetze und Geschäftsordnung, in: Hans-Peter Schneider/Wolfgang Zeh (Hrsg.): § 10 Rn. 24; a. A. zum Sitzungsausschluss ders., ebd.; Blum, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz (Anm. 39), § 21 Rn. 29; Michael Köhler, Die Rechtsstellung der Parlamentspräsidenten in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland, 2000, S. 231. 63 64
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die Tagesordnung bindet.66 In der Parlamentspraxis freilich werden die Debattenbeiträge der Redeprivilegierten in die Redeordnung (die sog. Fraktionskontingente) eingepasst. Auch sind die Redner auch daran interessiert, sich zum betreffenden Tagesordnungspunkt zu äußern. Die Entscheidung der Vizepräsidentin Fuchs, dem Hamburger Senator Schill das Wort zu entziehen, war daher korrekt. Denn dieser missbrauchte sein Redeprivileg, als er die vorab vereinbarte Redezeit überschritt, zudem kaum zur Sache sprach sowie die Vizepräsidentin kritisierte. Derzeit spielen populistische Ausfälle von Bundesratsmitgliedern keine Rolle. Sollten sie aber künftig auftreten, steht mit den beschriebenen Ordnungsmitteln ein Instrumentarium zur Verfügung, um Störungen zu unterbinden und etwaige Nachahmer abzuschrecken. d) Störungen durch Personen, die weder Abgeordnete sind noch die Rechte nach Art. 43 Abs. 2 GG besitzen67 Auch Personen, die weder Abgeordnete sind noch nach Art. 43 Abs. 2 GG Zutritt zum Bundestag erhalten müssen, können die Arbeit des Bundestages stören. Infrage kommen Besucher, Journalisten, Mitarbeiter der Verwaltung, der Fraktionen und der Abgeordneten. Solche Vorkommnisse sind selten. Doch haben Aktivisten sich bereits unbefugten Zutritt zum Bundestag verschafft, von der Zuschauertribüne Zettel herabgeworfen, sich von dort in den Plenarsaal abgeseilt oder gar im Plenarsaal demonstriert. Solche Aktionen stören den Arbeitsablauf des Bundestages erheblich und missbrauchen zugleich den aus gutem Grund geschützten Raum der Volksvertretung für die Werbung für Einzelinteressen. Sie können daher mithilfe verschiedener 66 Vgl. Stefan Queng, Das Zutritts- und Rederecht nach Art 43 II GG, JuS 1998, S. 610 ff. (614); a. A. Rothaug, Leitungskompetenz (Anm. 59), S. 129; Thomas Schwerin, Der Deutsche Bundestag als Geschäftsordnungsgeber, 1998, S. 116. 67 Hierzu ausführlich Austermann/Waldhoff, Parlamentsrecht (Anm. 7), Rn. 325 ff.
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Maßnahmen unterbunden oder zumindest geahndet werden. In vielen Fällen, z. B. bei Verstößen gegen die Kleiderordnung oder Unruhe auf den Zuschauertribünen, genügt eine informelle Ermahnung durch die Bundestagspolizei oder Plenarassistenten. In den gewichtigeren Störfällen stehen dem Bundestagspräsidenten härtere Maßnahmen zur Verfügung. Grundlage sind das Hausrecht und die Polizeigewalt (Art. 40 Abs. 2 S. 1 GG). Sie schützen die Bundestagsgebäude gegen Eingriffe von Exekutive und Judikative68 sowie sonstiger Dritter.69 Beide Befugnisse – die sich gegenseitig nicht ausschließen70 – machen den Bundestag zum „Herrn im eigenen Haus“.71 Sie gelten in allen Liegenschaften (Gebäuden, Gebäudeteilen und Grundstücken), die dem Parlament zur Erfüllung seiner verfassungsgemäßen Aufgaben dienen,72 und schützen die Funktionsfähigkeit des Bundestages73, vornehmlich die Freiheit seiner Willensbildung.74 Hausrecht und Polizeigewalt sind nach dem ausdrücklichen Wortlaut des Art. 40 Abs. 2 S. 1 GG voneinander zu unterscheidende, eigenständige Befugnisse des Bundestagspräsidenten.75 Ihre AusVgl. etwa BVerfG(K), NJW 2005, S. 2843. Vgl. Brocker, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Anm. 6), Art. 40 Rn. 241. 70 Vgl. Gerd Michael Köhler, Die Polizeigewalt des Parlamentspräsidenten im deutschen Staatsrecht, DVBl. 1992, S. 1577 ff. (1578). 71 Hans Hugo Klein, in: Günter Dürig/Roman Herzog/Rupert Scholz (Hrsg.): Grundgesetz. Kommentar, auf dem Stand der 94. Erg-Lfg. (Januar 2021), Art. 40 Rn. 180. 72 Vgl. etwa Brocker, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Anm. 6), Art. 40 Rn. 243; Klein, in: Dürig/Herzog/Scholz (Anm. 71), Art. 40 Rn. 165; Bodo Pieroth, in: Hans Jarass/ders. (Hrsg.): Grundgesetz. Kommentar, 16. Aufl. 2020, Art. 40 Rn. 13; zum Streit um die Geltung des Hausrechts in Fraktionsräumen Austermann/Waldhoff, Parlamentsrecht (Anm. 7), Rn. 329. 73 Vgl. zum Hausrecht VG Berlin, NJW 2002, S. 1063 (1064); vgl. zur Polizeigewalt Armin Ramm, Die Polizeigewalt des Bundestagspräsidenten. Die Polizei beim Deutschen Bundestag und ihre Ermächtigungsgrundlage, NVwZ 2010, S. 1461 ff. (1462). 74 Vgl. Klein, in: Dürig/Herzog/Scholz (Anm. 71), Art. 40 Rn. 180. 75 Vgl. nur BVerfGE 108, 251 (273); Klein, in: Dürig/Herzog/Scholz (Anm. 71), Art. 40 Rn. 147; a. A. Ritzel/Bücker/Schreiner, Handbuch für die Parlamentarische Praxis (Anm. 24), § 7 Anm. II. 1. a. 68 69
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übung ist ihm allein übertragen. Der Bundestag darf ihm keine Vorgaben machen. Hausrechts-76 und Polizeimaßnahmen können vom Plenum nicht aufgehoben werden. Inhalt des öffentlich-rechtlichen77 Hausrechts ist die eigenständige Befugnis des Bundestagspräsidenten, zu bestimmen, wer zu den Parlamentsgebäuden Zutritt hat und in ihnen verweilen darf.78 Das Hausrecht wird durch die Hausordnung – eine Verwaltungsvorschrift79, die im Einvernehmen80 mit dem Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung zu erlassen ist (§ 7 Abs. 2 S. 2 GO-BT) – und Zutritts- und Verhaltensregeln konkretisiert. Als Hausrechtsmaßnahmen sind Hausverbote gegen Störer möglich. Sie sind Verwaltungsakte nach § 35 VwVfG.81 Der Bundestagspräsident hat bei der Ausübung des Hausrechts grundsätzlich einen Ermessensspielraum. Das Recht zur Durchsetzung des Hausrechts folgt unmittelbar aus Art. 40 Abs. 2 S. 1 GG.82 Die Vollstreckung richtet sich nach dem UZwG (§ 7 Abs. 1, 2 der Hausordnung); Amtshilfe nach Weisungen des Bundestagspräsidenten ist möglich.83 Die Polizeigewalt ist die (wegen des Wortlauts des Art. 40 Abs. 2 S. 1 GG) öffentlich-rechtliche Befugnis des Bundestagspräsidenten, eine Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in den Liegenschaften des Bundestages abzuwehren.84 Der Vgl. Köhler, Rechtsstellung (Anm. 65), S. 240. Vgl., auch zum diesbezüglichen Meinungsstreit, Austermann/Waldhoff, Parlamentsrecht (Anm. 7), Rn. 331. 78 Vgl. etwa Köhler, Rechtsstellung (Anm. 65), S. 235. 79 Vgl. Klein, in: Dürig/Herzog/Scholz (Anm. 71), Art. 40 Rn. 162. 80 Für eine verfassungskonforme Auslegung des Einvernehmens im Sinne eines bloßen Benehmens Klein, in: Dürig/Herzog/Scholz (Anm. 71), Art. 40 Rn. 159; Brocker, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Anm. 6), Art. 40 Rn. 257. 81 Ebenso Klein, in: Dürig/Herzog/Scholz (Anm. 71), Art. 40 Rn. 173; a. A. Brocker, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Anm. 6), Art. 40 Rn. 255. 82 Vgl. Klein, in: Dürig/Herzog/Scholz (Anm. 71), Art. 40 Rn. 173. 83 Ebd.; Martin Morlok/Lothar Michael, Staatsorganisationsrecht, 5. Aufl. 2020, Rn. 684. 84 Vgl. Blum, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz (Anm. 39), § 21 Rn. 35. 76 77
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Umfang der Befugnisse richtet sich wegen der Parlamentsautonomie wie auch zur Weimarer Zeit nach dem materiellen Polizeibegriff, d.h. die Polizeigewalt umfasst alle Befugnisse zur Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung in den Bundestagsgebäuden.85 Zu sog. verwaltungspolizeilichen Maßnahmen, die grundsätzlich besonderen Ordnungsbehörden, z. B. im Bereich des Bau- oder Gewerberechts, vorbehalten sind, berechtigt die Polizeigewalt nach zutreffender Auffassung nur dann, wenn die verfassungsgemäße Aufgabenwahrnehmung des Parlaments berührt ist.86 Der Bundestag verfügt über eine eigene Polizei. Die Polizei beim Deutschen Bundestag (die kleinste Polizei des Bundes) wird vom Bundestagspräsidenten geleitet (Art. 40 Abs. 2 S. 1 GG). Die Rechtsgrundlage für Eingriffe der Bundestagspolizei durch Polizeiverfügungen, Polizeirechtsverordnungen und Realakte ist nach richtiger Ansicht unmittelbar Art. 40 Abs. 2 S. 1 GG.87 Polizeiverfügungen und Polizeiverordnungen können durch Zwangsmittel gemäß §§ 6 ff. VwVG und § 1 Abs. 1, § 6 Nr. 1 UZwG durchgesetzt werden.88 Repressive Maßnahmen nach StPO oder OWiG sind der Bundestagspolizei grundsätzlich verboten,89 da die Polizeigewalt nur präventive Maßnahmen der Gefahrenab-
85 Vgl. statt vieler Klein, in: Dürig/Herzog/Scholz (Anm. 71), Art. 40 Rn. 152; Martin Morlok, in: Horst Dreier (Hrsg.): Grundgesetz. Kommentar, Bd. II, 3. Aufl. 2018, Art. 40 Rn. 36. 86 Vgl. Klein, in: Dürig/Herzog/Scholz (Anm. 71), Art. 40 Rn. 152; Brocker, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Anm. 6), Art. 40 Rn. 262; für eine generelle Erstreckung auf die verwaltungspolizeilichen Maßnahmen Achterberg, Parlamentsrecht (Anm. 50), S. 125. 87 Wie hier Klein, in: Dürig/Herzog/Scholz (Anm. 71), Art. 40 Rn. 171; Brocker, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Anm. 6), Art. 40 Rn. 265; Köhler, Rechtsstellung (Anm. 65), S. 266 ff.; a. A. Ramm, Polizeigewalt (Anm. 73), S. 1465 f.; Mathias Friehe, Extragesetzliche Parlamentspolizei?, DÖV 2016, S. 521 ff. (522 ff.). 88 Vgl. Köhler, Rechtsstellung (Anm. 65), S. 269; ebenso zum UZwG Klein, in: Dürig/Herzog/Scholz (Anm. 71), Art. 40 Rn. 172. 89 Vgl. Klein, in: Dürig/Herzog/Scholz (Anm. 71), Art. 40 Rn. 152; Ramm, Polizeigewalt (Anm. 73), S. 1463.
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wehr umfasst.90 Die Polizeigewalt reicht weiter als das Hausrecht; denn sie schließt den Eingriff der Exekutive und der Judikative in den Bundestagsbetrieb aus. Ausnahmen sind für die Exekutive Amtshilfe und Gefahr im Verzug. Maßnahmen nach dem Hausrecht und nach der Polizeigewalt können aufeinander aufbauen. So stellt eine Hausrechtsverletzung einen Hausfriedensbruch (§ 123 StGB) und damit eine zu polizeilichen Maßnahmen berechtigende Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung dar.91 Außerdem ist die Störung der Arbeit eines Verfassungsorgans nach § 112 OWiG eine Ordnungswidrigkeit und ggf. sogar gemäß § 106b StGB eine Straftat. Eine Ordnungsmaßnahme, die sich aus der Ordnungsgewalt des sitzungsleitenden (Vize-)Präsidenten (und nicht aus dem Hausrecht oder der Polizeigewalt) ergibt, ist die Räumung der Tribünen (§ 41 Abs. 2 GO-BT). III. Fazit und Ausblick Der Bundestagsmehrheit ist es bislang immer gelungen, den Parlamentsbetrieb so störungsfrei wie möglich zu halten. Etwaige Störungen konnten mithilfe der Ordnungsmittel nach der GO-BT beendet werden. Solange diejenigen Parteien, die an einem geordneten Arbeitsablauf im Bundestag Interesse haben, in der Mehrheit sind, ist der Parlamentsbetrieb nicht gefährdet. Anders sähe es aus, wenn populistische Parteien die Bundestagsmehrheit besäßen, und sei es nur, um gemeinsam die GO-BT zu ändern. Sie könnten dann z. B. die Ordnungsmittel einschränken oder abschaffen. Bislang sind sie auf der Bundesebene von einer Mehrheit weit entfernt. In den Ländern, vor allem in Thüringen, zeigt sich aber die Gefahr einer populistischen Mehrheit deutlich. Sie kann nicht nur das Zustandekommen einer arbeitsfähi-
90 Ob die Bundestagspolizei gleichwohl die Befugnisse nach § 127 Abs. 2 und § 163 StPO besitzt, ist umstritten, vgl. Austermann/Waldhoff, Parlamentsrecht (Anm. 7), Rn. 338. 91 Vgl. Klein, in: Dürig/Herzog/Scholz (Anm. 71), Art. 40 Rn. 180.
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gen demokratisch gesinnten Regierung verhindern, sondern zugleich die Grundlagen des Parlamentsbetriebes (wenngleich im Rahmen der Verfassung) zu dessen Schaden hin verändern. Das Arbeitsklima würde sich ändern, die Ergebnisse würden davon wohl auch nicht unbeeinflusst bleiben.
Experimentelle Regierungen und Projektregierungen als Antwort? Der verfassungsrechtliche Rahmen für Minderheitsregierungen Von Christoph Gröpl I.
Blickfang: Experimentelle Regierungen und Projektregierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122
II.
Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Minderheitsregierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Abgrenzung zur geschäftsführenden Regierung . . . . . . . . . . . . a) Konstituierung eines neuen Bundestages . . . . . . . . . . . . . . .
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b) Tod, Amtsunfähigkeit oder „Rücktritt“ des Bundeskanzlers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 III. Rückblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 1. Weimarer Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 2. Bonner und Berliner Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 IV.
Verfassungsrechtlicher Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 1. Zustandekommen einer Minderheitsregierung . . . . . . . . . . . . . 132 a) Wahl eines Minderheitskanzlers („originäre Minderheitsregierung“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 b) Entstehung einer Minderheitsregierung während der Wahlperiode („derivative Minderheitsregierung“) . . . . . . . 135 2. Ende einer Minderheitsregierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 3. Fehlende demokratische Legitimation? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 a) Legitimation der Bundesregierung über den Bundeskanzler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 b) Kein verfassungsrechtliches Legitimationsdefizit . . . . . . . . 139 4. Unbeständigkeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 a) Keine Bedrohung im Bestand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 b) Verminderte Handlungsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 aa) Beschluss und Zustandekommen von Bundesgesetzen 142
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Christoph Gröpl bb) Vorbehalt des Gesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Sachgesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Erholung von der Gesetzgebungsflut? . . . . . . . . . (2) Gesetzgebungspflichten im Rahmen der Europäischen Union? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Regieren durch Rechtsverordnungen? . . . . . . . . . . (4) Regieren durch Verwaltungsvorschriften? . . . . . . (5) Regierungslenkung durch Gesetze der „Mehrheitsopposition“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (6) Verminderte Reaktionsfähigkeit in Krisen . . . . . . (7) Gesetzgebungsnotstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Finanzgesetzgebung, insbesondere Haushaltsgesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Steuergesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Haushaltsgesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Notbewilligungsrecht und Nothaushaltsrecht . . . ee) Handeln nach außen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Außenpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Europapolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Einsätze der Bundeswehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
V.
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Fazit in Thesenform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168
I. Blickfang: Experimentelle Regierungen und Projektregierungen Mit der Wahl des Generalthemas für die Jahrestagung 2021 der Sektion für Rechts- und Staatswissenschaft der Görres-Gesellschaft, nämlich „Polarisierung des Politischen“, hat die Sektionsleitung Weitsicht und Spürsinn bewiesen. Es scheint, als habe die „Covid-19-Krise“ mit den in ihr aufeinanderprallenden
* Die Form des wissenschaftlichen Vortrags vom 25. September 2021 wurde in Teilen beibehalten, das Manuskript Ende Oktober 2021 abgeschlossen. Meinem wissenschaftlichen Mitarbeiter Herrn Dipl.-Juristen Arthur Arcer danke ich insbesondere für die Hilfe bei der Erstellung des Fußnotenapparats.
Experimentelle Regierungen als Antwort?
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Tatsachen- und Meinungsdifferenzen die Spaltung von Gesellschaft und Politik noch ein Stück weiter vertieft. Haben wir uns gestern mit den gesellschaftlichen Herausforderungen der politischen Polarisierung (Redefreiheit, Parteien, Wahlen) befasst, werden heute eher institutionelle Konsequenzen beleuchtet (für Parlamente, für Regierungen, für die Opposition). Als thematischen Blickfang hat die Sektionsleitung „experimentelle Regierungen“ und „Projektregierungen“ gewählt. Beide Regierungsarten, wenn man insoweit überhaupt von Arten sprechen darf, sind jedoch nicht mit Minderheitsregierungen gleichzusetzen. Experimentelle Regierungen wären nach Ansicht der Medien solche (gewesen), die auf Koalitionsvereinbarungen von CDU/CSU und Bündnis 90/Die Grünen beruhten, etwa nach der Wahl zum 18. Deutschen Bundestag vom 22. September 2013, die einerseits zum Ausscheiden der FDP führten, der CDU/CSU-Fraktion aber andererseits nicht die Mitgliedermehrheit verschafften.1 Ähnliches galt für die parlamentarische Situation in Schleswig-Holstein nach der Wahl vom 7. Mai 2017.2 Ein Experiment ist ein Versuch, eine methodisch angelegte Untersuchung zur empirischen Gewinnung von Informationen. Ein Regierungsbündnis von CDU/CSU und Grünen hätte noch bis vor einem Jahrzehnt tatsächlich als Experiment bezeichnet werden können, angesichts der politischen Wanderung unter Angela Merkel allerdings zusehends weniger. Jedenfalls wären solche Regierungen damals keine Minderheitsregierungen gewesen, da sie sich im 18. Deutschen Bundestag auf 373 von 630 Mandate hätten stützen können, im 19. SchleswigHolsteinischen Landtag auf 44 von 73 Mandate. Die Bezeichnung „Projektregierung“ soll vom ehemaligen Thüringer Ministerpräsidenten Dieter Althaus (CDU) nach der dortigen Wahl zum Siebten Thüringer Landtag vom 27. Oktober 2019 ins Spiel gebracht worden sein, und zwar für eine von 1 Oliver Michalsky, Union verpasst absolute Mehrheit um fünf Sitze, Die Welt, 22.9.2013. 2 Vgl. Thorsten Jungholt/Matthias Kamann, Jamaika-Gefühle im hohen Norden, Die Welt, 9.5.2017.
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den Abgeordneten der CDU und der Linken gestützte Landesregierung unter Führung von Bodo Ramelow.3 Dies hätte dem sog. Unvereinbarkeitsbeschluss des CDU-Parteitags in Hamburg vom 7. und 8. Dezember 2018 widersprochen.4 Auch hier aber hätte es sich nicht um eine Minderheits-, sondern um eine „Mehrheitsregierung“ gehandelt.5 II. Begriff 1. Minderheitsregierung Eine Minderheitsregierung ist eine Regierung, die von den Abgeordneten einer Fraktion oder einer Regierungskoalition gestützt wird, die zusammen nicht über die zahlenmäßige Mehrheit im Parlament verfügen.6 Sinnvoll ist die Verwendung dieses Begriffs im Grunde nur in einem parlamentarischen Regierungssystem,7 in dem die Berufung und Abberufung der Regierung durch das Parlament erfolgt. In präsidialen Systemen hingegen, die sich insbesondere in amerikanischen und mittelasiatischen Staaten finden, wird die Regierung nicht vom Parlament, sondern vom Staatspräsidenten bestellt und entlassen; deshalb wirken sich die Mehrheitsverhältnisse im Parlament nicht unmittelbar „existenziell“ auf die Regierung aus. In demokratischen Staatsformen stellen Minderheitsregierungen eine Besonderheit dar. Denn die grundsätzliche Regel zur Findung und Fällung von Entscheidungen ist dort das MehrCerstin Gammelin, Kühnes Projekt, Süddeutsche Zeitung, 10.1.2020. Wortlaut: „Die CDU Deutschlands lehnt Koalitionen und ähnliche Formen der Zusammenarbeit sowohl mit der Linkspartei als auch mit der Alternative für Deutschland ab.“ 5 Von den 90 Mandaten im Thüringer Landtag entfielen 29 auf die Linke und 21 auf die CDU. 6 Eine Minderheitsregierung soll auch bei Stimmengleichheit vorliegen, so Bastian Weber, Minderheitsregierung auf Bundesebene, 2022, S. 31. 7 Zum parlamentarischen und präsidialen Regierungssystem sowie zu Abgrenzungen und Mischsystemen s. Christoph Gröpl, Staatsrecht I, 13. Aufl. 2021, Rdnr. 293 ff. 3 4
Experimentelle Regierungen als Antwort?
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heitsprinzip,8 das im Grundgesetz an prägnanter Stelle in Art. 42 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 1 niedergeschrieben wurde: Zu einem Beschluss des Bundestages ist die Mehrheit der abgegebenen Stimmen erforderlich. Über Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG gilt dieses Prinzip auch in den Ländern, Gemeinden und Gemeindeverbänden sowie anderen juristischen Personen des öffentlichen Rechts mit Selbstverwaltungsrecht. Für die Regierungsbildung auf Bundesebene enthält Art. 63 GG eine verschärfende Spezialregel: Nach Absatz 2 Satz 1 dieser Vorschrift ist zum Bundeskanzler gewählt, wer die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages auf sich vereinigt. Im Zusammenhang mit Art. 121 GG9 folgt daraus, dass die bloße Mehrheit der abgegebenen Stimmen insoweit nicht ausreicht. Wegen der zentralen Bedeutung der Wahl des Bundeskanzlers zur Regierungsbildung wird insoweit von „Kanzlermehrheit“ gesprochen.10 Hierauf wird zurückzukommen sein.11 In einer Minderheitsregierung auf Bundesebene hat der Bundeskanzler diese Mehrheit nicht hinter sich. 2. Abgrenzung zur geschäftsführenden Regierung Abzugrenzen ist die Minderheitsregierung von der geschäftsführenden Regierung. Deren Spezifikum liegt darin, dass sie nach dem Ende ihrer Amtszeit die Regierungsaufgaben bis zum Antritt einer neuen Regierung übergangsweise fortführt. Auf Bundesebene erweist sich hierfür Art. 69 Abs. 1 Fall 1 GG als einschlägig: Auf Ersuchen des Bundespräsidenten ist der Bun8 Zur Geschichte und Entwicklung des Mehrheitsprinzips siehe Hasso Hofmann/Horst Dreier, Repräsentation, Mehrheitsprinzip und Minderheitenschutz, in: Hans-Peter Schneider/Wolfgang Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 5 Rdnr. 48 m. w. N. 9 Die Vorschrift lautet: Mehrheit der Mitglieder des Bundestages und der Bundesversammlung im Sinne dieses Grundgesetzes ist die Mehrheit ihrer gesetzlichen Mitgliederzahl. 10 Vgl. Gröpl, Staatsrecht I (Anm. 7), Rdnr. 315; Weber, Minderheitsregierung (Anm. 6), S. 75; Andreas Voßkuhle/Jakob Schemmel, Grundwissen – Öffentliches Recht: Die Bundesregierung, JuS 2020, S. 736 ff. (737, 739). 11 Siehe unten sub IV. 1.
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deskanzler,12 auf Ersuchen des Bundeskanzlers oder des Bundespräsidenten ein Bundesminister verpflichtet, die Geschäfte bis zur Ernennung seines Nachfolgers weiterzuführen. Für die ersuchten Regierungsmitglieder besteht prinzipiell eine Folgepflicht. a) Konstituierung eines neuen Bundestages „In jedem Falle“, d.h. ipso iure endet „das Amt“ 13 des Bundeskanzlers oder eines Bundesministers nach Art. 69 Abs. 2 Fall 1 GG mit dem Zusammentritt eines neuen Bundestages. Nach Art. 39 Abs. 2 GG ist dies spätestens am 30. Tag nach einer Bundestagswahl der Fall. An diesem Tag endet nach Art. 39 Abs. 1 Satz 2 GG zugleich die Wahlperiode des vorherigen („alten“) Bundestages. Sind die Mehrheitsverhältnisse eindeutig, erfolgt die Wahl des „neuen“ Bundeskanzlers typischerweise in der ersten („konstituierenden“) Sitzung des neuen Bundestags; von diesem Grundsatz zeugt die systematische Stellung von § 4 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages (GOBT)14 zu Beginn dieser Vorschriften im textlichen Zusammenhang mit § 1 GOBT („Konstituierung“ – scil. des neu gewählten Bundestages). In jüngerer Zeit – bei den Wahlen von Angela Merkel zur Bundeskanzlerin – konnten jedoch erhebliche Verzögerungen beobachtet werden, wenn die politischen Mehrheitsverhältnisse im neuen Bundestag nicht eindeutig waren, sich Koalitionsverhandlungen in die Länge zogen und sich der Bundespräsident mit seinem Vorschlagsrecht zur Wahl eines Bundeskanzlers gemäß Art. 63 Abs. 1 GG Zeit ließ. So erfolgte der Wahlvorschlag des Bundespräsidenten in der 16. Wahlperiode erst rund zwei 12 Zu richten ist das Ersuchen des Bundespräsidenten in aller Regel an den bisherigen Bundeskanzler (sog. Versteinerungsprinzip), siehe Ralf Brinktrine, in: Michael Sachs (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, 9. Auflage 2021, Art. 69 Rdnr. 28. 13 Gemeint ist wohl die Amtszeit. Zum öffentlich-rechtlichen Amtsverhältnis Meinhard Schröder, in: Hermann v. Mangoldt/Friedrich Klein/ Christian Starck (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, 7. Aufl. 2018, Art. 63 Rdnr. 43 ff. 14 Für die 20. Wahlperiode i. d. F. der Bek. vom 2.7.1980, BGBl. I S. 1237. Vgl. auch Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG.
Experimentelle Regierungen als Antwort?
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Monate nach der Wahl des neuen Bundestages, in der 18. Wahlperiode rund drei Monate nach der Wahl und in der 19. Wahlperiode sogar erst über fünf Monate nach der Wahl.15 Solche Verzögerungen der Regierungsbildung haben zur Folge, dass sich das „Interregnum“ 16 geschäftsführender Bundesregierungen entsprechend verlängert. Noch ausufernder kann sich dieser Zeitraum gestalten, wenn es im Fall von Art. 63 Abs. 4 Satz 3 Fall 2 GG zu einer Auflösung des neuen Bundestages17 und im Anschluss daran gemäß Art. 39 Abs. 1 Satz 4 GG zu „erneuten Neuwahlen“ mit einer darauf folgenden neuerlichen Konstituierung kommt. b) Tod, Amtsunfähigkeit oder „Rücktritt“ des Bundeskanzlers Der Zusammentritt eines neuen Bundestages ist nicht der einzige Anlass für die Initialisierung einer geschäftsführenden Bundesregierung. Einen weiteren Grund für das Ende der Amtszeit einer Bundesregierung bildet neben dem Tod oder der Amtsunfähigkeit des Bundeskanzlers dessen „Rücktritt“, genauer ge15 16. BT-Wahl: 18.9.2005–21.11.2005 = 64 Tage (Vorschlag Bundespräsident Köhler), 17. BT-Wahl: 27.9.2009–28.10.2009 = 31 Tage (Vorschlag Bundespräsident Köhler), 18. BT-Wahl: 22.9.2013–16.12.2013 = 85 Tage (Vorschlag Bundespräsident Gauck), 19. BT-Wahl: 24.9.2017–5.3.2018 = 162 Tage (Vorschlag Bundespräsident Steinmeier). Zur Frage einer Vorschlagsfrist siehe nur Volker Epping, in: Ders./ Christian Hillgruber (Hrsg.), Beck’scher Online-Kommentar Grundgesetz, Stand der 48. Edition (15.8.2021), Art. 63 Rdnr. 5.1 f.: „dynamische Frist“; Johannes Heck/Matthias Heffinger, Die Bildung der Bundesregierung in Krisensituationen, DÖV 2018, S. 739 ff.; vgl. auch Weber, Minderheitsregierung (Anm. 6), S. 58 ff. 16 Zum Begriff („Zwischenherrschaft“) für das mittelalterliche Königtum im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation von 1245 (Absetzung Kaiser Friedrichs II.) bis 1273 (Wahl Rudolfs I.) siehe nur Marianne Kirk, „Die kaiserlose, die schreckliche Zeit“ – Das Interregnum im Wandel der Geschichtsschreibung, 2002. 17 Hierzu näher unten sub IV. 1. a).
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sagt: sein gegenüber dem Bundespräsidenten geäußertes Ersuchen um Entlassung.18 Der Parlamentarische Rat mag diese beiden Beendigungsgründe „mitgedacht“ haben, wenn er in Art. 69 Abs. 2 Fall 2 GG formuliert hat, dass das Amt eines Bundesministers auch mit jeder anderen Erledigung des Amtes des Bundeskanzlers endet. Nach dem Tod, der Amtsunfähigkeit oder dem „Rücktritt“ des Bundeskanzlers sind dessen Amt und die Ämter der Bundesminister „vakant“; erster Schritt für die Bildung einer neuen Bundesregierung ist die Wahl eines neuen Bundeskanzlers nach Maßgabe von Art. 63 GG. In der Zwischenzeit verwaltet eine geschäftsführende Bundesregierung die Regierungsgeschäfte. Keine Berechtigung für das Ersuchen um eine geschäftsführende Bundesregierung ist eine verlorene Vertrauensfrage des Bundeskanzlers nach Art. 68 GG. Hier bleiben der Bundeskanzler und die Bundesminister in voller Rechtsstellung im Amt, und sei es auch als Minderheitsregierung.19 III. Rückblick 1. Weimarer Republik Bei der verfassungsrechtlichen Erörterung von Minderheitsregierungen darf der Hinweis auf die „Weimarer Verhältnisse“ nicht fehlen. Die Weimarer Republik bestand nur knapp 13 Jahre.20 Während dieses recht begrenzten Zeitraums fanden acht 18 Zur Frage, ob der Entlassungsurkunde im Fall des „Rücktritts“ ausnahmsweise konstitutive Bedeutung zukommt, wie dies § 10 Satz 2 Halbs. 1 des Gesetzes über die Rechtsverhältnisse der Mitglieder der Bundesregierung (Bundesministergesetz – BMinG) i. d. F. der Bek. vom 27.7.1971 (BGBl. I S. 1166) mit spät. Änd. bestimmt, Ralf Peter Schenke, in: Wolfgang Kahl/Christian Waldhoff/Christian Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Stand der 209. Erg.-Lfg. (Dezember 2020), Art. 69 Rdnr. 107 m. w. N. 19 Näher hierzu sub IV. 1. b). 20 Inkrafttreten der Verfassung des Deutschen Reichs (sog. Weimarer Reichsverfassung – WRV) vom 11.9.1919 (RGBl. S. 1383) am 14.8.1919; Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler durch Reichspräsident Paul v. Hindenburg am 30.1.1933.
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Reichstagswahlen statt; ins Amt kamen 20 Reichsregierungen.21 Davon konnten sich nur acht auf eine Mehrheit im Reichstag stützen, zwölf hingegen waren Minderheitsregierungen,22 insbesondere zum Ende der Weimarer Republik in Form der sog. Präsidialkabinette Brüning, v. Schleicher und v. Papen.23 Möglich wurde dies dadurch, dass die Weimarer Reichsverfassung (WRV)24 kein parlamentarisches Regierungssystem errichtet hatte, sondern ein sog. semipräsidentielles System.25 Gekennzeichnet war dies durch die starke Stellung des Reichspräsidenten: Ihm kam nach Art. 53 WRV die Befugnis zur Ernennung und Entlassung des Reichskanzlers und der Reichsminister zu. Eine Wahl des Reichskanzlers durch den Reichstag sah die Weimarer Reichsverfassung nicht vor. Daran vermochte Art. 54 Satz 2 WRV nichts zu ändern, wonach der Reichskanzler und die Reichsminister zu ihrer Amtsführung des Vertrauens des Reichstages bedurften und jeder von ihnen zurücktreten musste, wenn der Reichstag ihm durch ausdrücklichen Beschluss (nach Art. 25 Abs. 1 WRV mit nur einfacher Mehrheit) sein Vertrauen entzog. Der Reichstag war insoweit kein Kreationsorgan, sondern mit Blick auf seine Kompetenz zu „destruktiven Misstrauensvoten“ ein „Destruktionsorgan“.26
21 Damit betrug die durchschnittliche Regierungszeit einer Reichsregierung nur ca. sieben Monate. 22 Thomas Puhl, Die Minderheitsregierung nach dem Grundgesetz, 1986, S. 22; Weber, Minderheitsregierung (Anm. 6), S. 33 ff.; vgl. zum Ganzen auch Lea Bosch, Die Minderheitsregierung im Regierungssystem des Grundgesetzes, 2022, S. 27 ff. 23 Vgl. nur BVerfGE 114, 121 (152 f.). 24 Nachw. in Anm. 20. 25 Nachw. bei Ahmet Mert Duygun, Das semipräsidiale Regierungssystem der Weimarer Republik im Vergleich mit dem heutigen türkischen Regierungssystem nach den Verfassungsänderungen in 2007 und 2017, Diss. iur., S. 231 ff. 26 Eine Wiederernennung derselben Person durch den Reichspräsidenten wurde als unzulässig erachtet, siehe Heinrich Pohl, Die Zuständigkeiten des Reichspräsidenten, in: Gerhard Anschütz/Richard Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. I, 1. Aufl. 1930, § 42 IV (S. 489).
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Auch eine Regierung mit Reichsgesetzen gegen die Reichstagsmehrheit war möglich: Gemäß Art. 48 Abs. 2 WRV durfte der Reichspräsident, wenn er öffentliche Sicherheit und Ordnung im Deutschen Reich erheblich gestört oder gefährdet sah, die „nötigen Maßnahmen“ zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung treffen und zu diesem Zweck sogar wichtige Grundrechte ganz oder zum Teil außer Kraft setzen. Dies schloss nach damals h. M. insbesondere Notverordnungen ein, die gesetzesvertretend unmittelbar auf die Verfassung gestützt waren und den Rang eines formellen Gesetzes hatten.27 2. Bonner und Berliner Republik Ganz anders als die Bilanz der Weimarer Republik fällt die bisherige Bilanz der Bonner und ab 1990/199928 Berliner Republik aus. Seit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes am 23. Mai 1949 sind über 72 Jahre vergangen, ein über fünf Mal längerer Zeitraum als die Dauer der Weimarer Republik. Von den bislang 24 Bundesregierungen29 war keine einzige eine „originäre“ Minderheitsregierung;30 es gab lediglich vier Phasen mit Minderheitsregierungen, die im Laufe der jeweiligen Wahlperiode entstanden waren, und diese Phasen erstreckten sich über vergleichsweise kurze Zeiträume:31
27 Sog. „Diktaturgewalt“: Pohl, in: HDStR I (Anm. 26), § 42 IV (S. 498). Zwar mussten diese Notverordnungen gemäß Art. 48 Abs. 3 Satz 2 WRV auf Verlangen des Reichstags außer Kraft gesetzt werden; dem konnte der Reichspräsident aber durch Auflösung des Reichstages nach Art. 25 WRV zuvorkommen. 28 3.10.1990: Wirksamwerden des Beitritts der neuen Bundesländer einschl. Ostberlins; 20.6.1991: sog. Hauptstadtbeschluss des Bundestages; 26.4.1994: Berlin/Bonn-Gesetz (BGBl. I S. 918); 1.9.1999: offizieller Arbeitsbeginn von Bundestag und Bundesregierung in Berlin. 29 Betrachtung vor dem Zusammentritt des 20. Deutschen Bundestags und dessen Wahl des Bundeskanzlers. Damit betrug die durchschnittliche Regierungszeit einer Bundesregierung immerhin rund drei Jahre. 30 Zu dieser Bezeichnung siehe unten sub IV. 1. a). 31 Weber, Minderheitsregierung (Anm. 6), S. 37f.; Wiss. Dienste BT, Tabellarische Übersicht über Minderheitsregierungen in der Bundesrepu-
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(1) vom 19. November bis zum 14. Dezember 1962 unter Bundeskanzler Konrad Adenauer (rund einen Monat); (2) vom 27. Oktober bis zum 30. November 1966 unter Bundeskanzler Ludwig Erhard (rund einen Monat); (3) vom 17. Mai bis zum 15. Dezember 1972 unter Bundeskanzler Willy Brandt (rund sechs Monate); (4) vom 17. September bis zum 1. Oktober 1982 unter Bundeskanzler Helmut Schmidt (rund zwei Wochen). Auf Landesebene kam es wesentlich häufiger und länger zu Minderheitsregierungen. Genannt werden sollen hier nur die Konstellationen in Nordrhein-Westfalen unter Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (vom 14. Juli 2010 bis zum 20. Juni 2012, rund zwei Jahre), in Sachsen-Anhalt unter Ministerpräsident Reinhard Höppner (vom 21. Juli 1994 bis zum 16. Mai 2000, d.h. rund sechs Jahre, sog. Magdeburger Modell) und in Thüringen seit dem 4. März 2020 unter Ministerpräsident Bodo Ramelow (bislang ca. zwei Jahre). Der politische und verfassungsrechtliche Kontext von Minderheitsregierungen auf Landesebene unterscheidet sich jedoch grundlegend von der Bundesebene. Nach der bundesstaatlichen Kompetenzverteilung und -zuordnung besitzt der Bund das eindeutige Übergewicht in den Gesetzgebungszuständigkeiten (namentlich gemäß Art. 71 bis 74 und Art. 105 GG); die verbleibenden Landesgesetzgebungsbefugnisse nehmen seit Jahrzehnten immer mehr ab. Für die Ausführung der Landesgesetze sowie der meisten Bundesgesetze (Art. 83 bis 85, Art. 108 Abs. 3 GG) bedarf eine Minderheitsregierung auf Landesebene keiner Zusammenarbeit mit der Landtagsmehrheit. Zudem kommen den Ländern keine nennenswerten Kompetenzen in der Außen- oder Europapolitik zu (vgl. Art. 23 und 32 GG). Damit eröffnet das bundesstaatliche System des Grundgesetzes den Ländern keinen Raum für eine grundlegende Politikgestaltung durch ihre Regierungen und Parlamente. blik Deutschland seit 1949, Az. WD 1 – 3000 – 042/18 (13.12.2018). Siehe auch Bosch, Minderheitsregierung (Anm. 22), S. 73 ff.
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IV. Verfassungsrechtlicher Rahmen Die soeben beschriebene wenig gestaltungsmächtige Stellung der Länder im deutschen Bundesstaat erlaubt eine Konzentration der folgenden Ausführungen auf den Bund, konkret: auf den verfassungsrechtlichen Rahmen für Minderheitsregierungen auf Bundesebene. Hier erscheint es durchaus bemerkenswert, dass die für Minderheitsregierungen maßgeblichen Vorschriften des Grundgesetzes – die Art. 63 bis 69 – seit dessen Inkrafttreten 1949 im Wesentlichen unverändert geblieben sind. Die folgende These soll vorangestellt werden: Gerade für Minderheitsregierungen bildet das Verfassungsrecht (nur) den Rahmen, der durch die Politik auszufüllen ist. Es ist die Politik, die entscheidet, ob, inwieweit und wie lange Minderheitsregierungen erfolgreich sein können. 1. Zustandekommen einer Minderheitsregierung a) Wahl eines Minderheitskanzlers („originäre Minderheitsregierung“) Eine Minderheitsregierung kann bereits durch die Wahl eines Bundeskanzlers initiiert werden, der nicht die Mehrheit der Mitglieder des Deutschen Bundestages (Art. 121 GG) hinter sich hat.32 Geschehen kann dies bereits zu Beginn einer Wahlperiode, wenn der Bundestag nach Maßgabe von Art. 39 Abs. 2 GG spätestens am 30. Tag nach einer Bundestagswahl zusammentritt. Abgesehen davon kennt das Verfassungsleben andere Zeitpunkte der Wahl eines Minderheitskanzlers, nämlich immer dann, wenn das Amt des Bundeskanzlers vakant geworden ist, also nach dem „Rücktritt“, nach dem Tod oder bei Amtsunfähigkeit des Kanzlers.33 In allen diesen Fällen ist das Amt des Bundeskanzlers vakant, es kommt deshalb zur Wahl eines neuen Bundeskanzlers nach Maßgabe von Art. 63 GG, der genau diese Vakanz als Anwendungsvoraussetzung hat.34 32 33 34
Hierzu oben sub II. 1. Vgl. hierzu bereits sub II. 2. b). Brinktrine, in: Sachs GG (Anm. 12), Art. 63 Rn. 2.
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Regelmäßig steht gemäß Art. 63 Abs. 1 GG derjenige Kandidat zur Wahl, der durch den Bundespräsidenten vorgeschlagen worden ist.35 Bei seinem Vorschlag ist der Bundespräsident verfassungsrechtlich weder an Koalitionsvereinbarungen noch an die Erwartungen der Bevölkerung oder staatlicher Stellen gebunden; er entscheidet ohne verfassungsrechtliche Bindungen. In der Staatspraxis wird sich der Bundespräsident jedoch für den Kandidaten der (voraussichtlichen) Regierungsfraktion oder -koalition entscheiden, da nur dieser hinreichende Aussicht hat, tatsächlich gewählt zu werden. Zudem könnte das Scheitern eines vorgeschlagenen Kandidaten einen Prestigeverlust des Bundespräsidenten nach sich ziehen. Gewählt wird gemäß Art. 63 Abs. 1 GG ohne Aussprache, d.h. ohne offene Personaldebatte im Plenum. Gewählt ist gemäß Art. 63 Abs. 2 Satz 1 GG, wer die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages auf sich vereinigt. Dies ist der Ausgangspunkt zur Bildung einer „Mehrheitsregierung“. Scheitert die Wahl des durch den Bundespräsidenten vorgeschlagenen Kandidaten, so kann der Bundestag gemäß Art. 63 Abs. 3 GG binnen 14 Tagen aus eigener Initiative einen Bundeskanzler wählen. Der Bundespräsident hat sein Vorschlagsrecht verwirkt und die Benennung eines Kandidaten obliegt nur noch dem Parlament. Innerhalb der 14-Tages-Frist können beliebig viele Wahlgänge durchgeführt werden. Gewählt ist auch in dieser zweiten Phase der Bundeskanzlerwahl nach Art. 63 Abs. 3 GG nur, wer „mehr als die Hälfte“, d.h. die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages („Kanzlermehrheit“) auf sich vereinigt. Führt auch das Verfahren nach Art. 63 Abs. 3 GG zu keinem positiven Ergebnis, so erfolgt gemäß Art. 63 Abs. 4 Satz 1 GG ein neuer Wahlgang. Abweichend von den vorherigen Wahlgängen ist hier bereits derjenige gewählt, wer „die meisten Stimmen“ erhält. Bei einem oder zwei Kandidaten ist also derjenige gewählt, wer zumindest eine einfache Abstimmungsmehrheit 35 Hierzu und zum Folgenden siehe Gröpl, Staatsrecht I (Anm. 7), Rdnr. 1253 ff.
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(vgl. Art. 42 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 1 GG) erringen kann;36 Enthaltungen gelten hierbei als nicht abgegebene Stimmen. Stehen mehr als zwei Kandidaten zur Wahl, bedarf es nicht einmal einer einfachen Mehrheit, sondern es genügt die relative Mehrheit der abgegebenen Stimmen. Ein solches Wahlergebnis würde zu einem Minderheitskanzler und zu einer Minderheitsregierung führen, von der zu erwarten ist, dass sie politisch auch dauerhaft nicht von der Mehrheit der Abgeordneten des Bundestages unterstützt wird. Deshalb räumt Art. 63 Abs. 4 Satz 3 GG dem Bundespräsidenten das Recht ein, den Bundestag angesichts der Perspektive instabiler politischer Verhältnisse und erschwerter Regierungsarbeit binnen sieben Tagen aufzulösen und auf diese Weise den Weg für dessen Neuwahl zu ebnen (Art. 39 Abs. 1 Satz 4 GG). Oder aber der Bundespräsident ernennt den Gewählten. So wird ein Minderheitskanzler bereits als solcher ins Amt berufen.37 Anstatt der Ernennung eines solchen „offenkundigen Minderheitskanzlers“ ist freilich auch die Ernennung eines Bundeskanzlers möglich, der zwar mit „Kanzlermehrheit“ gewählt wurde (Art. 63 Abs. 2 oder 3 GG), dessen politische Macht sich allerdings nicht auf eine Mehrheitsfraktion oder eine Koalitionsvereinbarung stützt, sondern der nur bei seiner Wahl die aktive Unterstützung von Abgeordneten der Opposition erhalten hat.38 Auch ein solcher „hinkender Mehrheitskanzler“ ist de facto ein Minderheitskanzler, wenn auch womöglich zunächst „verdeckt“. 36 Zur Stimmensituation mit nur einem Kandidaten im „dritten Wahlgang“ Hans Dieter Jarass, in: Ders./Bodo Pieroth (Hrsg.), Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Kommentar, 16. Aufl. 2020, Art. 63 Rdnr. 4; a. A. Sven Hölscheidt/Daniel Mundil, Wer hat die meisten Stimmen? Die Wahl des Bundeskanzlers in der Dritten Wahlphase, DVBl. 2019, S. 73 ff. (76 f.). 37 Roman Herzog, in: Günter Dürig/ders./Rupert Scholz (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Stand der 52. Erg.-Lfg. (Mai 2008), Art. 63 Rdnr. 54. Zum „Ermessen“ des Bundespräsidenten Julia Merdian, Mehrheitsprinzip und Minderheitsregierung – Regierungsstabilität nach dem Grundgesetz, 2022, S. 138 ff. 38 Herzog, in: Dürig/ders./Scholz GG (Anm. 37), Art. 63 Rdnr. 54.
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b) Entstehung einer Minderheitsregierung während der Wahlperiode („derivative Minderheitsregierung“) Eine Minderheitsregierung entsteht nicht nur bei der Wahl des Bundeskanzlers, sondern auch dann, wenn der Kanzler im Bundestag seine Mehrheit, nämlich die „Kanzlermehrheit“, verliert. Hier mag man von einer „derivativen Minderheitsregierung“ sprechen.39 Geschehen kann dies, wenn sich im Laufe einer Wahlperiode Abgeordnete der eigenen Fraktion des Bundeskanzlers von der Fraktion abwenden und ggf. aus ihr austreten, wenn der Bundeskanzler vielleicht sogar das Vertrauen „seiner“ Fraktion verliert oder wenn es zu einem „Koalitionsbruch“ mit anderen bislang regierungstragenden Fraktionen oder Abgeordneten kommt („verdeckte Minderheitssituation).40 Dieser Verlust der politischen Mehrheit wird offenkundig, wenn der Bundeskanzler in einer solchen Situation die Vertrauensfrage gemäß Art. 68 GG stellt – wozu er selbstredend nicht verpflichtet ist – und die Vertrauensfrage scheitert. Anschließend kommt es zu einer Minderheitsregierung, wenn der Bundeskanzler nicht von sich aus zurücktritt41 und der Bundestag nicht aufgelöst wird. Die Auflösung des Bundestages sieht Art. 68 Abs. 1 Satz 1 GG als mögliche, nicht aber als zwingende Rechtsfolge vor. Denn erforderlich dafür sind drei Voraussetzungen: (1) Der Bundeskanzler muss dem Bundespräsidenten vorschlagen, den Bundestag aufzulösen; die Initiative dazu liegt mit anderen Worten bei ihm. Eine Verpflichtung zu diesem Vorschlag besteht nicht.42 (2) Der Bundespräsident muss diesen Vorschlag, damit es zu einer Auflösung kommt, annehmen,
Weber, Minderheitsregierung (Anm. 6), S. 95. BVerfGE 114, 121 (150 f.): „Es muss nicht offen und nicht eindeutig zu Tage treten, ob der Kanzler und seine Regierung noch über eine verlässliche parlamentarische Mehrheit verfügen.“ Vgl. auch BVerfGE 114, 121 (157). 41 Zum „Rücktritt“ siehe oben sub II. 2. b). 42 BVerfGE 114, 121 (154, 157, 160); Brinktrine, in: Sachs GG (Anm. 12), Art. 63 Rdnr. 31. 39 40
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wozu er nicht verpflichtet ist,43 insbesondere dann nicht, wenn er meint, der Bundeskanzler genieße weiterhin das Vertrauen des Bundestages, es liege also keine „wirkliche“ („materielle“) Auflösungslage vor.44 (3) Die Erklärung des Bundespräsidenten zur Auflösung des Bundestages muss nach Art. 68 Abs. 1 Satz 1 GG binnen 21 Tagen erfolgen. Lässt der Bundespräsident diese Frist verstreichen, ist darin eine faktische Ablehnung der Parlamentsauflösung zu sehen. Kommt es nicht zur Auflösung des Bundestages, regieren der Bundeskanzler und die Bundesminister – einstweilen als Minderheitsregierung – weiter, bis andere Beendigungsgründe eintreten.45 2. Ende einer Minderheitsregierung Zu den Gründen für das Ende einer Minderheitsregierung gehört allen voran der Zusammentritt des nächsten neu gewählten Bundestages (Art. 39 Abs. 2 GG). Dieses Ereignis kann nach Art. 39 Abs. 1 Satz 1 bis 3 GG auf demokratischer Periodizität beruhen und die Amtszeit des Bundeskanzlers und der Bundesminister „regulär“ sowie wegen Art. 69 Abs. 2 Fall 1 GG ipso iure beenden.46 Freilich kann die Amtszeit der Bundesregierung vorzeitig enden. Hierfür können verschiedene Anlässe bestehen: (1) Auch einem Minderheitskanzler steht es frei, den Bundespräsidenten jederzeit um seine Entlassung zu ersuchen („zurückzutreten“).47 (2) Alternativ kann der Bundestag den Bundeskanzler durch ein sog. konstruktives Misstrauensvotum nach Art. 67 GG „ablösen“, indem er mit den Stimmen der Mehrheit
43 BVerfGE 62, 1 (50); 114, 121 (159); Brinktrine, in: Sachs GG (Anm. 12), Art. 63 Rdnr. 34. 44 Vgl. BVerfGE 114, 121 (187 – 2. Sondervotum). 45 Zur verfassungsrechtlichen Legitimation einer Minderheitsregierung siehe unten sub IV. 3. 46 Vgl. bereits oben sub II. 2. a). 47 Brinktrine, in: Sachs GG (Anm. 12), Art. 63 Rdnr. 31. Nicht zugänglich ist dieser Weg einem nur geschäftsführenden Bundeskanzler, vgl. ders., in: Sachs GG (Anm. 12), Art. 63 Rdnr. 40.
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seiner Mitglieder einen neuen Kanzler wählt.48 (3) Unbenommen ist dem Bundeskanzler überdies, nach einer – erfolgreichen oder aber gescheiterten – Vertrauensfrage nach Art. 68 GG erneut eine Vertrauensfrage zu stellen.49 Darauf kann der Bundespräsident sodann mit der Auflösung des Bundestages reagieren, was nach Art. 39 Abs. 1 Satz 4 GG zu einer Neuwahl des Bundestages innerhalb von 60 Tagen, dessen Neukonstituierung nach Art. 39 Abs. 2 GG und damit wegen Art. 69 Abs. 2 Fall 1 GG wiederum zum Amtsende der Bundesregierung führt. 3. Fehlende demokratische Legitimation? Einer der zentralen Punkte der Diskussion um Minderheitsregierungen dreht sich um deren verfassungsrechtliche Legitimation. Das Bundesverfassungsgericht judizierte in dieser Hinsicht vielleicht etwas vorschnell: „Grundsätzlich bedürfen der Bundeskanzler und seine Regierung einer verlässlichen parlamentarischen Mehrheit. Verlässlich bedeutet in diesem Zusammenhang, dass der Kanzler für das von ihm vertretene politische Konzept eine prinzipielle und ausreichende parlamentarische Unterstützung erwarten darf.“ 50 Richtig daran ist jedenfalls, dass die Besonderheit einer Minderheitsregierung gerade in de-
48 Näher hierzu unten sub IV. 3. b) und § 97 GOBT. Ein Misstrauensvotum gegen eine nur geschäftsführende Bundesregierung (sub II. 2. a)) ist hingegen ausgeschlossen, siehe Heinrich-Eckhart Röttger, Nochmals: Konstruktives Mißtrauensvotum gg. den geschäftsführenden Bundeskanzler, JuS 1975 S. 358 ff.; Jörn Axel Kämmerer, in: Ingo v. Münch/Philip Kunig (Hrsg.): Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 7. Aufl. 2021, Art. 69 Rdnr. 42; Georg Hermes, in: Horst Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, 3. Aufl. 2015, Art. 69 Rdnr. 23; Herzog, in: Dürig/ ders./Scholz GG (Anm. 37), Art. 69 Rdnr. 61; Brinktrine, in: Sachs GG (Anm. 12), Art. 69 Rdnr. 40; Epping, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz (Anm. 12), Art. 69 Rdnr. 46 jew. m. w. N.; anders noch Hans Wolfgang Arndt/Michael Schweitzer, Verfassungsrechtliche Aspekte des Kanzlerrücktritts, JuS 1974, S. 622 ff. (625 f.). 49 Ralf Peter Schenke, in: Wolfgang Kahl/Christian Waldhoff/Christian Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Stand der 187. Erg.-Lfg. (November 2017), Art. 68 Rdnr. 110 m. w. N. 50 BVerfGE 114, 121 (150).
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ren parlamentarischer Minderheitssituation liegt und damit der Mehrheitsregel des demokratischen Prinzips widerstreitet.51 Die „Entscheidungsarena“ der modernen, d.h. der repräsentativen Demokratie ist das Parlament, auf Bundesebene der Bundestag. Im parlamentarischen Regierungssystem gilt dies auch für die Regierungsbildung. a) Legitimation der Bundesregierung über den Bundeskanzler Die Bundesregierung besteht nach Art. 62 GG aus dem Bundeskanzler und den Bundesministern. Die grundgesetzlichen Regelungen zu ihrer Bildung offenbaren, dass der Kristallisationspunkt zwischen Parlament und Regierung der Bundeskanzler ist. Nur er wird nach Art. 63 GG vom Bundestag gewählt, nur er kann nach Maßgabe von Art. 67 GG „abgewählt“, besser: durch einen Nachfolger „abgelöst“ werden. Die Bundesminister werden vom Bundestag weder gewählt noch abgewählt; ihre Ernennung und Entlassung erfolgt vielmehr nach Art. 64 Abs. 1 GG durch den Bundespräsidenten „auf Vorschlag“ des Bundeskanzlers. Dieser – aus Sicht des Bundespräsidenten – „höflichen“ Formulierung wird verfassungsrechtlich52 das alleinige Entscheidungsrecht des Bundeskanzlers zur Bestimmung der Bundesminister entnommen.53 Art. 64 Abs. 1 GG ist damit Grundlage für die Organisationsgewalt des Bundeskanzlers über „seine“ Regierung, deren Mitgliedern er zudem, ergänzt durch seine Richtlinienkompetenz aus Art. 65 Satz 1 GG, die Geschäftsbereiche („Ressorts“) vorgibt.54 Damit ist der Bundeskanzler der demokratische „Legitimationsmittler“ zwischen dem Bundestag und den einzelnen Bundesministern. Bestätigt wird
Siehe bereits oben sub II. 1. Politisch wird diese Entscheidungskompetenz freilich in aller Regel durch Koalitoinsvereinbarungen überlagert, in denen dem Bundeskanzler bestimmte Personen vorgegeben werden. 53 H. M., vgl. statt vieler Hermes, in: Dreier GG (Anm. 48), Art. 64 Rdnr. 26 m. w. N. 54 Siehe oben, i. Ü. Herzog, in: Dürig/ders./Scholz GG (Anm. 37), Art. 64 Rdnr. 2 ff., vgl. auch § 9 Satz 1 GOBReg. 51 52
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dies durch Art. 69 Abs. 2 Fall 2 GG, wonach das Amt eines Bundesministers ohne weiteres mit jeder Erledigung des Amtes des Bundeskanzlers endet. b) Kein verfassungsrechtliches Legitimationsdefizit Das Grundgesetz unterscheidet nicht zwischen einem Mehrheits- und einem Minderheitskanzler, ebenso wenig zwischen einer Mehrheits- und einer Minderheitsregierung. Seine demokratische Legitimation erhält der Kanzler mittelbar über die periodisch stattfindende Wahl zum Bundestag (Art. 38, 39 Abs. 1 GG), unmittelbar über seine Wahl durch den Bundestag (Art. 63 GG). Die demokratische Legitimation der Bundesminister erfolgt, wie gesehen, über die Organisationsgewalt des Bundeskanzlers (Art. 64 GG). Formaler Akt zur Bestätigung und Umsetzung dieser demokratischen Legitimation ist die Ernennung durch den Bundespräsidenten (Art. 63 Abs. 2 Satz 2, Abs. 4 Satz 2 und 3, Art. 64 Abs. 1 GG). Nach der Ernennung des Bundeskanzlers und der Bundesminister wird in keiner der genannten Vorschriften, aber auch in keiner anderen Bestimmung auf die politische Stärke der Unterstützung abgestellt. Art. 63 Abs. 4 Satz 3 GG eröffnet dem Bundespräsidenten zwar die Kompetenz, einen „Minderheitskandidaten“ erst gar nicht zum Bundeskanzler zu ernennen und stattdessen den Bundestag aufzulösen. Ernennt er ihn aber, ist dieser „Bundeskanzler“ aus vollem Recht, desgleichen die von ihm vorgeschlagenen und ernannten Bundesminister. Mit Roman Herzog darf festgestellt werden: Der Minderheitskanzler ist verfassungsrechtlich „kein Kanzler minderen Rechts, auch nicht in noch so untergeordneten Fragen. Er hat [. . .] ausnahmslos alle Rechte und Befugnisse, die das Grundgesetz (und übrigens auch ein einfaches Gesetz oder eine Geschäftsordnungsvorschrift) dem Bundeskanzler einräumt.“ 55 55 Herzog, in: Dürig/ders./Scholz GG (Anm. 37), Art. 63 Rdnr. 55 – h. M.; ebenso Puhl, Minderheitsregierung (Anm. 22), S. 181 ff.; Hermes, in: Dreier GG (Anm. 48), Art. 63 Rdnr. 44; Brinktrine, in: Sachs GG (Anm. 12), Art. 63 Rdnr. 34; Epping, BeckOK GG (Anm. 15), Art. 63 Rdnr. 30.
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Der Legitimationszeitraum einer Mehrheits- wie einer Minderheitsregierung reicht „regulär“ bis zum Zusammentritt des nächsten gewählten Bundestages (Art. 69 Abs. 2 i. V. m. Art. 39 Abs. 2 GG). In verfassungsrechtlich einwandfreier Weise verkürzt wird dieser Legitimationszeitraum durch die „Ablösung“ des Bundeskanzlers und damit der gesamten Bundesregierung in einem „konstruktiven“ Misstrauensvotum nach Art. 67 GG sowie – im Grundgesetz nicht ausdrücklich geregelt – durch Amtsunfähigkeit, Tod oder Entlassung des Bundeskanzlers auf dessen Ersuchen („Rücktritt“). Dem ersten Anschein nach mag eine Minderheitsregierung jedenfalls ein Stück weit die Rückkehr zum früheren Dualismus zwischen Parlament und Regierung bedeuten, in dem statt des politischen Unterstützungszusammenhangs zwischen Regierung und Parlamentsmehrheit ein politischer Antagonismus herrschte.56 Dies täuscht freilich insofern, als im Konstitutionalismus der Regierungschef (Reichskanzler) allein durch den Monarchen (Kaiser), also ohne jegliche Mitwirkung des Parlaments (Reichstags) ernannt und entlassen wurde.57 Ein solches Denken steht der in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG statuierten Volkssouveränität entgegen. Wichtig ist freilich dessen ungeachtet, dass der Verlust der politischen Mehrheit im Bundestag als solcher nicht zur Delegitimation der Bundesregierung führt. Dies beruht ganz maßgeblich auf der starken Stellung des Bundeskanzlers, der, einmal gewählt und ernannt, ohne eigenes Zutun vor Ablauf der regulären Amtszeit nur im Rahmen eines konstruktiven Misstrauensvotums durch die Wahl eines Nachfolgers mit „Kanzlermehrheit“ verdrängt werden kann. Es ist Art. 67 GG zuzuschreiben, dass unter dem Grundgesetz Minderheitsregierungen nicht un56 BVerfGE 123, 267 (338 f.); dagegen: neuer = innerparl. Dualismus, BVerfGE 142, 25 (56); 154, 1 (13 f.) 57 Siehe z. B. Art. 15 Abs. 1 der (Bismarck’schen) Reichsverfassung vom 16.5.1871 (RGBl. S. 63). Ergänzt wurde diese Vorschrift erst spät (zu spät) durch das verfassungsändernde Reichsgesetz vom 28.8.1918 (RGBl. S. 1274), der insb. den folgenden Absatz 3 anfügte: „Der Reichskanzler bedarf zu seiner Amtsführung des Vertrauens des Reichstags.“
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bedacht und ohne funktionsfähige Ablösung fallen. Dies eröffnet einer Minderheitsregierung in politischen Krisenlagen den Raum, aktiv nach Mehrheiten im Bundestag zu suchen und jeweils eine punktuelle Zusammenarbeit in einzelnen Sachfragen, vor allem im Rahmen der Gesetzgebung, anzustreben. Dies schließt wechselnde Mehrheiten sowie die Duldung einer Minderheitsregierung durch oppositionelle Fraktionen oder Abgeordnete ein.58 4. Unbeständigkeit? Ist die Frage nach der Legitimation einer Minderheitsregierung positiv beantwortet, erhebt sich als nächste Frage die nach deren Aussichten auf Beständigkeit und Durchschlagkraft. Dies ist nicht nur ein politischer oder politologischer Gesichtspunkt, sondern auch ein verfassungsrechtlicher: Das Bundesverfassungsgericht betont in ständiger Rechtsprechung die herausgehobene Bedeutung der Funktionsfähigkeit von Parlament und Regierung.59 Kann eine Minderheitsregierung also längerfristig Bestand haben, kann sie politische Durchschlagskraft besitzen? Diese Fragen legen eine Zweiteilung der Antwort nahe, nämlich in institutionelle Aspekte einerseits und in funktionell-operative andererseits. a) Keine Bedrohung im Bestand Institutionell bereitet das Grundgesetz einer Minderheitsregierung einen vergleichsweise festen Boden: Wie bereits festgestellt,60 kann ein nach Maßgabe von Art. 63 GG ins Amt gekommener Bundeskanzler dieses Amt gegen seinen Willen nur durch ein „konstruktives Misstrauensvotum“ verlieren, indem die Mehrheit der Mitglieder des Bundestages gemäß Art. 67 GG einen neuen Kanzler wählt und der Bundespräsident diesen so58 Brinktrine, in: Sachs GG (Anm. 12), Art. 63 Rdnr. 35; Herzog, in: Dürig/ders./Scholz GG (Anm. 37), Art. 63 Rdnr. 59; Hermes, in: Dreier GG (Anm. 48), Art. 63 Rdnr. 44. 59 BVerfGE 1, 208 (248 f.); 4, 31 (40); 6, 84 (92); 51, 222 (236); 82, 322 (338); 95, 335 (369); 95, 408 (418); 121, 266 (298). 60 Oben sub IV. 3. b).
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dann ernennen muss.61 Darin liegt einer der wesentlichen Strukturunterschiede des Grundgesetzes zur Weimarer Reichsverfassung, nach deren Art. 54 Satz 2 i. V. m. Art. 32 Satz 1 Halbs. 1 der Reichstag sowohl den Reichskanzler als auch jeden einzelnen Minister mit einfacher Abstimmungsmehrheit „stürzen“ konnte, ohne sich auf einen Nachfolger einigen zu müssen. Die starke institutionelle Stellung des Bundeskanzlers erstreckt sich auf die Bundesminister, deren Amtsantritt und Amtsdauer wegen Art. 64 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich ausschließlich vom Willen des Bundeskanzlers abhängig sind.62 Daraus ergibt sich, dass eine Minderheitsregierung in ihrer Stabilität nicht ohne weiteres bedroht ist. b) Verminderte Handlungsfähigkeit Eine ganz andere Frage als die nach der institutionellen Stabilität einer Minderheitsregierung ist die nach deren Durchschlagskraft, weniger martialisch ausgedrückt nach deren politischer Handlungsfähigkeit.63 Insoweit ist zu untersuchen, ob eine Minderheitsregierung unter funktionell-operativen Defiziten leidet. In diesem Zusammenhang sei erneut an die oben64 aufgestellte These erinnert, wonach der Erfolg einer Minderheitsregierung weniger verfassungsrechtlich als vielmehr politisch entschieden wird. aa) Beschluss und Zustandekommen von Bundesgesetzen Die Spielregeln für den politischen Erfolg einer Minderheitsregierung werden freilich in erster Linie durch das Verfassungsrecht vorgegeben: durch den Vorbehalt des Gesetzes, einem fundamentalen Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips, der – wie dieses – in Art. 20 Abs. 3 GG nicht ausdrücklich formuliert wird, aber unweigerlich daraus hervorgeht.65 Ausgangspunkt ist die Tatsa61 Brinktrine, in: Sachs GG (Anm. 12), Art. 63 Rdnr. 34; Merdian, Minderheitsregierung (Anm. 37), S. 149 ff. 62 Siehe hierzu bereits oben sub IV. 3. a). 63 Vgl. Brinktrine, in: Sachs GG (Anm. 12), Art. 63 Rdnr. 35. 64 Siehe oben sub IV. vor 1. 65 Vgl. BVerfGE 40, 237 (248 f.).
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che, dass ein Handeln öffentlicher Gewalt ohne Gesetz, d.h. ohne parlamentsgesetzliche Legitimation und Absicherung, im demokratischen Rechtsstaat kaum noch denkbar ist. Die Bundesgesetze aber werden nach Art. 77 Abs. 1 Satz 1 GG vom Bundestag beschlossen, wozu nach Art. 42 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 1 GG die Mehrheit der abgegebenen Stimmen erforderlich ist.66 Kann sich eine Minderheitsregierung nicht auf eine solche Stimmenmehrheit stützen, riskiert sie die Ablehnung ihrer Gesetzesvorlagen (Art. 76 Abs. 1 Fall 1 und Abs. 2 GG). Die Folge kann eine „Gesetzgebungsblockade“ sein, inszeniert von der oppositionellen Parlamentsmehrheit im Bundestag. Zwar zeigt der politische Alltag, dass auch andere Situationen von „Gesetzgebungsblockaden“ entstehen können, vor allem wenn die Regierungsmehrheit der Bundesregierung nicht auch im Bundesrat vorherrscht. Dann hat der Bundesrat die Möglichkeit, nach Art. 78 Fall 1 GG zustimmungsbedürftigen Bundesgesetzen eben diese Zustimmung zu verweigern und deren Zustandekommen damit durch ein peremptorisches Veto zu verhindern.67 In solchen Situationen kann sich die Bundesregierung immerhin auf eine Mehrheit im Bundestag stützen, Gesetze nach Art. 77 Abs. 1 Satz 1 GG beschließen lassen und ihre politische und vor allem finanzielle Macht im Vermittlungsausschuss (Art. 77 Abs. 2 GG) zur Wirkung bringen, notfalls nicht zustande gekommene Gesetze aufs Neue dem Bundesrat zuleiten. Unbenommen bleibt es der Bundesregierung bei einer „Blockade“ des Bundesrats stets, nicht zustimmungsbedürftige Gesetze im Bundestag beschließen und den allfälligen Einspruch des Bundesrates vom Bundestag zurückweisen zu lassen (Art. 77 Abs. 3 und 4 GG). Eine andere Situation für „Gesetzgebungs-
66 Einzelheiten finden sich mit Rücksicht auf den Grundsatz der Parlamentsautonomie wegen Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG in den §§ 45 ff. GOBT (Anm. 14). 67 Brinktrine, in: Sachs GG (Anm. 12), Art. 63 Rdnr. 36; zu Gesetzgebungsblockaden durch den Bundesrat siehe Hans Hugo Klein/KyrillAlexander Schwarz, in: Günter Dürig/Roman Herzog/Rupert Scholz (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Stand der 94. Erg.-Lfg. (Januar 2021), Art. 38 Rdnr. 44 m. w. N.
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blockaden“ ist eine Uneinigkeit zwischen den regierungstragenden Fraktionen, die nicht zu einem Koalitionsbruch und damit zu einem generellen Mehrheitsverlust der Bundesregierung führt. Solche Dissense beziehen sich in aller Regel auf spezifische Sachfragen, die sodann „zurückgestellt“ oder im federführenden Bundestagsausschuss nicht weiterbehandelt werden, kurz: für die in der jeweils laufenden Wahlperiode keine Lösung gefunden wird. Dies mag politisch misslich sein, bringt eine Koalitionsregierung allerdings selten in eine Existenzkrise. bb) Vorbehalt des Gesetzes Nach Art. 20 Abs. 3 Halbs. 2 GG sind die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung an Gesetz und Recht gebunden. Dieser Vorrang des Gesetzes liefe leer, wenn es für wichtige Sachbereiche gar keiner Gesetze bedürfte. Der Vorrang des Gesetzes wäre nutzlos, soweit Verwaltung und Gerichte in konkreten Lebenssituationen keine Gesetze vorfänden, ja wenn sie zu ihrem Handeln gar nicht auf Gesetze angewiesen wären.68 Daher muss der Vorrang des Gesetzes aus rechtsstaatlichen Gründen durch den Vorbehalt des Gesetzes ergänzt werden. „Die Bindung der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung an Gesetz und Recht, der Vorrang des Gesetzes also, würden ihren Sinn verlieren, wenn nicht schon die Verfassung selbst verlangen würde, dass staatliches Handeln in bestimmten grundlegenden Bereichen nur rechtens ist, wenn es durch förmliches Gesetz legitimiert wird.“ 69 Der Vorbehalt des Gesetzes bedeutet demnach, dass die Regelung bestimmter Lebensbereiche einem Gesetz vorbehalten ist, dass die Verwaltung ohne einschlägiges Gesetz gar nicht handeln darf. Damit wird der Vorbehalt des Gesetzes zugleich zum Garanten einer hinreichenden sachlichinhaltlichen Legitimation staatlichen Tätigwerdens. Im Rahmen der sog. Eingriffsverwaltung beeinträchtigt der Staat grundrechtlich geschützte Freiheitsrechte des Einzelnen. Typische 68 Hierzu und zum Folgenden Gröpl, Staatsrecht I (Anm. 7), Rdnr. 455 f. 69 BVerfGE 40, 237 (248 f.).
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Felder sind das Polizei- oder das Steuerrecht. Hier gilt seit nahezu 200 Jahren der „klassische“ Vorbehalt des Gesetzes mit dem Satz: Kein Eingriff in Freiheit oder Eigentum ohne Gesetz.70 Zum Ausdruck kommt dies durch die Gesetzesvorbehalte in den Grundrechten der Art. 2 ff. GG.71 Dieser „klassische“ Vorbehalt des Gesetzes gewann spürbar an Bedeutung, seitdem das Bundesverfassungsgericht im sog. Elfes-Urteil vom 16. Januar 195772 das Recht des Einzelnen „auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit“ zur allgemeinen Handlungsfreiheit erweiterte. Seither muss sich grundsätzlich jede Beeinträchtigung der individuellen Freiheitssphäre auf eine parlamentsgesetzliche Legitimation zurückführen lassen.73 Weitere Ausdehnungen erfuhr der Vorbehalt des Gesetzes durch seine partielle Erstreckung auf die Leistungsverwaltung (Sozialrecht)74 sowie, ganz entscheidend, durch die sog. Wesentlichkeitslehre. Sie „verpflichtet den parlamentarischen Gesetzgeber, wesentliche, für die Grundrechtsverwirklichung maßgebliche Regelungen selbst zu treffen und nicht anderen Normgebern oder der Exekutive zu überlassen“75. Parlamentsgesetzlich nor70 So bereits Richard Thoma, Der Vorbehalt der Legislative und das Prinzip der Gesetzmäßigkeit, in: Gerhard Anschütz/ders. (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. 2, 1. Aufl. 1932, § 76 S. 222 f. 71 Etwa Art. 2 Abs. 2 GG: 1Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. 2Die Freiheit der Person ist unverletzlich. 3In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden [Hervorhebung nur hier]. 72 BVerfGE 6, 32 (36). 73 Christian Hillgruber, Inhalt und Schranken der Grundrechte, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IX: Allgemeine Grundrechtslehren, 3. Aufl. 2011, § 200 Rdnr. 38; Oliver Lepsius, in: Matthias Herdegen/Johannes Masing/Ralf Poscher/Klaus Ferdinand Gärditz (Hrsg.): Handbuch des Verfassungsrechts, 1. Aufl. 2021, § 3 Rdnr. 7. 74 So ausdrücklich § 31 SGB I, siehe zudem Bernd Grzeszick, in: Günter Dürig/Roman Herzog/Rupert Scholz (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Stand der 51. Erg.-Lfg. (Dezember 2007), Art. 20 Abs. 3 Rdnr. 117 m. w. N. 75 BVerfGE 147, 253 (309 f.); vgl. zum sog. Wesentlichkeitsgrundsatz BVerfGE 34, 165 (192 f.); 40, 237 (248 f.); 41, 251 (260); 45, 400 (417 f.);
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mierungsbedürftig sind sonach nicht nur Rechtseingriffe, sondern auch Ausgestaltungen von Lebensbereichen, soweit sie mit der Ausübung von Grundrechten in Zusammenhang stehen. Zu nennen sind Bereiche wie etwa das Medienrecht, insbesondere das Rundfunkrecht, das Ausbildungsrecht oder das Wirtschaftsrecht. Für den hier interessierenden Kontext reicht die Schlussfolgerung, dass Minderheitsregierungen wegen der Notwendigkeit parlamentsgesetzlicher Absicherung auf die Zusammenarbeit mit der Parlamentsmehrheit angewiesen sind, wann immer sie Politik in grundrechtsrelevanten Bereichen betreiben möchten. cc) Sachgesetzgebung (1) Erholung von der Gesetzgebungsflut? Der rechtsstaatliche Vorbehalt des Gesetzes führt zu der Erkenntnis, dass die Parlamentsmehrheit weite Teile der Politik einer Minderheitsregierung lahmlegen kann, soweit es ihr mit Blick auf Art. 77 Abs. 1 Satz 1 GG gelingt, den Regierungsvorlagen im Bundestag die Zustimmung zu verweigern. Auf diese Weise kommt die Politikgestaltung durch eine Minderheitsregierung zum Stillstand. Ihr Handeln ist dann nur noch „Staatsverwesung“ im Sinne von passiver Staatsverwaltung.76 Hiergegen könnte sich der politologische Einwand erheben, dass dem Rechtsstaat und der Gesellschaft etwas weniger Gesetzgebungshast, etwas mehr programmatische Ruhe durch eine „Politik der ruhigen Hand“ 77 vielleicht gut täte. Nicht wenige „eingriffsgeplagte“ Bürger würden eine Politik ohne zusätzliche 47, 46 (78 f.); 61, 260 (275); 83, 130 (142); 98, 218 (251); 105, 279 (305); 108, 282 (311); 116, 24 (58); 128, 282 (317); 134, 141 (184); 141, 143 (170); Weber, Minderheitsregierung (Anm. 6), S. 173 f. 76 Ähnlich Herzog, in: Dürig/ders./Scholz GG (Anm. 37), Art. 63 Rdnr. 56. 77 So bezeichnete Bundeskanzler Gerhard Schröder seine Wirtschaftspolitik in den Jahren 2001 und 2002 bis zur „Agenda 2010“ ab März 2003, Wikipedia, https://de.wikipedia.org/wiki/Politik_der_ruhigen_ Hand (zuletzt abgerufen am 15.7.2022).
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Eingriffe in ihre Rechte vermutlich begrüßen.78 Eine solche auf den ersten Blick rechtsstaatlich sympathische Sichtweise übersieht indes, dass der moderne Rechtsstaat just wegen des Vorbehalts des Gesetzes bereits über ein äußerst engmaschiges Gesetzesnetz verfügt, das bei Änderungen der Sachlage fortwährender Anpassung und Fortschreibung bedarf. Soweit solche rein „reaktiven“ Notwendigkeiten der Legislative von einer sich der Minderheitsregierung verweigernden Parlamentsmehrheit nicht berücksichtigt werden, schadet dies Gesellschaft und Staat. Einen Anspruch auf die Verabschiedung solcher sachnotwendigen Gesetze hat die Bundesregierung nicht: Der Bundestag muss sich zwar mit Regierungsvorlagen befassen (Befassungspflicht), er muss sie aber nicht verabschieden (keine Beschlusspflicht).79 (2) Gesetzgebungspflichten im Rahmen der Europäischen Union? Bieten sich für eine Minderheitsregierung Auswege aus der beschriebenen Blockadehaltung der Bundestagsmehrheit gegen „notwendige“ Gesetzgebungsmaßnahmen? Das Unionsrecht verpflichtet die Mitgliedstaaten, Richtlinien der Europäischen Union fristgerecht und mit voller Wirksamkeit in nationales Recht umzusetzen. Primärrechtlich ergibt sich das aus Art. 288 Abs. 3 AEUV,80 wonach die Richtlinie für jeden Mitgliedstaat hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich ist. Unterfangen wird dies durch die Pflicht der Mitgliedstaaten zur loyalen Zusammenarbeit nach Art. 4 Abs. 3 EUV.81 Sekundärrechtlich enthalten unionale Richtlinien in der Regel in ihren Schlussvorschriften genaue Vorgaben insbesondere für den spätesten Zeitpunkt
78 Vgl. Herzog, in: Dürig/ders./Scholz GG (Anm. 37), Art. 63 Rdnr. 58. 79 Näher BVerfGE 145, 348 ff.; Weber, Minderheitsregierung (Anm. 6), S. 98 f. 80 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union i. d. F. der Bek. vom 26.10.2012, ABl. C 326 S. 47. 81 Vertrag über die Europäische Union i. d. F. der Bek. vom 26.10. 2012, ABl. C 326 S. 13.
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ihrer Umsetzung. Kommt dem ein Mitgliedstaat nicht nach, ist dieses Versäumnis auf Antrag der Europäischen Kommission im sog. Vertragsverletzungsverfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Union nach Maßgabe der Art. 258 bis 260 AEUV durchsetzbar, jedenfalls aber sanktionierbar.82 Die unionsrechtliche Pflicht zur Richtlinienumsetzung richtet sich jedoch nur an die Mitgliedstaaten, sie treffen keine Entscheidung über spezifische Mitwirkungspflichten bestimmter Verfassungsorgane der Mitgliedstaaten; insoweit wird der „Souveränitätspanzer“ der Mitgliedstaaten nicht durchdrungen. Soweit ersichtlich hätte eine Minderheitsregierung daher keinen Erfolg, wenn sie die Bundestagsmehrheit, die gegen eine Umsetzungsvorlage opponiert, unter Berufung auf Unionsrecht zu einem entsprechenden Gesetzesbeschluss verpflichten wollte. Eine organspezifische Mitwirkungspflicht des Bundestages an der Umsetzung von Richtlinien sollte sich aber m. E. aus nationalem Recht ergeben, nämlich auf der Grundlage von Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG in Verbindung mit dem verfassungsrechtlichen Prinzip der Organtreue.83 Zwar genießt jeder einzelne Abgeordnete des Bundestages wegen Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG ein freies Mandat und kann deshalb prinzipiell nicht zu einem speziellen
82 Matthias Ruffert, in: Christian Calliess/ders. (Hrsg.), EUV/AEUV, Kommentar, Art. 288 AEUV Rdnr. 41; Martin Nettesheim, in: Eberhard Grabitz/Meinhard Hilf/ders. (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Art. 288 Rdnr. 109: keine unmittelbare Verpflichtung von Organen. 83 Zu Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG als verbindlichem Verfassungsauftrag: BVerfGE 123, 267 (346 f.); vgl. auch Jarass, in: Ders./Pieroth GG (Anm. 36), Art. 23 Rdnr. 10 m. w. N.; krit. Rupert Scholz, in: Günter Dürig/Roman Herzog/ders. (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Stand der 92. Erg.-Lfg. (August 2020), Art. 23 Rdnr. 50 f.: Staatsziel mit politischem Ermessen; zum Problem eines Organstreits bei gesetzgeberischem Unterlassen: Gerd Morgenthaler, BeckOK GG (Anm. 15), Art. 93 Rdnr. 24.1; zur Organtreue vgl. BVerfG, Bemerkungen des Bundesverfassungsgerichts zu dem Rechtsgutachten von Professor Richard Thoma, JöR nF 6 (1957), S. 194 (206 f.); Ralf Poscher, Das Grundgesetz als Verfassung des verhältnismäßigen Ausgleichs, in: Herdegen/Masing/ders./ Gärditz, Verfassungsrecht (Anm. 73), § 3 Rdnr. 124 ff. m. w. N.
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Abstimmungsverhalten gezwungen werden.84 Wenn die Bundesrepublik Deutschland aber von Verfassungs wegen gehalten ist, zur Verwirklichung eines vereinten Europas bei der Entwicklung der Europäischen Union mitzuwirken, dann muss sich diese verbandsrechtliche Pflicht organschaftlich auf diejenigen Organe verdichten, deren Mitwirkung an der Umsetzung nach deutschem Verfassungsrecht erforderlich ist. Dies ist beim Bundestag der Fall, wenn eine unionsrechtliche Richtlinie nach dem Vorbehalt des Gesetzes85 nur durch Bundesgesetz umgesetzt werden kann. Dies gilt freilich nur insoweit, als eine Regierungsvorlage die entsprechende Richtlinie „eins zu eins“ umsetzt. Anders gewendet: Entwürfe für Vorschriften, die zur Umsetzung nicht erforderlich sind, sondern weitergehende politische Vorstellungen der Regierung normieren sollen, brauchen nicht verabschiedet zu werden. Hierzu ist der Bundestag nicht verpflichtet. Allein: Eine solche Umsetzungspflicht des Bundestages eröffnet einer Minderheitsregierung keine nennenswerte Durchsetzungskraft für ihre eigenen Projekte. Denn bei der Umsetzung von unionalen Richtlinien handelt es sich sozusagen um die Verwirklichung fremder Agenden, nämlich solcher der Europäischen Union. (3) Regieren durch Rechtsverordnungen? Bedeutende Zuständigkeiten kommen der Bundesregierung oder einzelnen Bundesministern nach Art. 80 Abs. 1 Satz 1 GG beim Erlass von Rechtsverordnungen zu.86 Dieses Verordnungsrecht wird durch den Verlust der Unterstützung durch die parlamentarische Mehrheit nicht beeinträchtigt.87 Allerdings eröff84 Näher Christoph Gröpl, in: Ders./Kay Windthorst/Christian von Coelln (Hrsg.), Studienkommentar zum Grundgesetz, 5. Aufl. 2022, Art. 38 Rdnr. 29 ff. 85 Siehe dazu oben sub IV. 4. b) bb). 86 Zu den organinternen Erfordernissen beim Erlass von Rechtsverordnungen der Bundesregierung siehe BVerfGE 91, 148 (Umlaufverfahren). 87 Brinktrine, in: Sachs GG (Anm. 12), Art. 63 Rdnr. 35, mit Verweis auf Herzog, in: Dürig/ders./Scholz GG (Anm. 37), Art. 63 Rdnr. 57.
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net das Grundgesetz dem Ermächtigungsadressaten als Verordnungsgeber eine denkbar schmale Gestaltungsmacht; Rechtsverordnungen des demokratischen Rechtsstaats nach Art. 80 GG lassen sich ganz und gar nicht mit Notverordnungen des Reichspräsidenten nach Art. 48 Abs. 2 WVR vergleichen.88 Dies liegt an Art. 80 Abs. 1 Satz 1 und 2 GG, wonach jede Rechtsverordnung einer parlamentsgesetzlichen Ermächtigungsgrundlage bedarf, in der Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung bestimmt sein müssen. Diese Verfassungsnormen statuieren für die „derivative Gesetzgebung“ durch Rechtsverordnungen eine „Parlamentsakzessorietät“,89 die für eine eigene programmatische Politikgestaltung allein durch die Regierung keinen Raum lässt. Die Rechtsetzungsmacht des Verordnungsgebers wird beschränkt; insbesondere Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG stellt eine negative Kompetenznorm dar.90 Rechtsverordnungen, die ihre parlamentsgesetzlichen Ermächtigungsgrundlagen überschreiten, sind ipso iure nichtig. Gesetzesvertretende Rechtsverordnungen sind im Übrigen ohnehin ausgeschlossen.91 Abgesehen davon steht es dem Parlamentsgesetzgeber frei, Vorschriften in Rechtsverordnungen durch formellgesetzliche Bestimmungen zu ersetzen.92 Das Regieren einer Minderheitsregierung gegen Hierzu oben sub III. 1. „Derivative Gesetzgebung“; diff. Barbara Remmert, in: Günter Dürig/Roman Herzog/Rupert Scholz (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Stand der 70. Erg.-Lfg. (Dezember 2013), Art. 80 Rdnr. 69 ff. 90 Fabian Michl, Der demokratische Rechtsstaat in Krisenzeiten, JuS 2020, S. 507 ff. (509). 91 Gemeint sind Rechtsverordnungen, die anstelle von Gesetzen erlassen werden und im Rang eines Parlamentsgesetzes stehen, siehe Hans Hugo Klein, in: Günter Dürig/Roman Herzog/Rupert Scholz (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Stand der 80. Erg.-Lfg. (Juni 2017), Art. 129 Rdnr. 21. Nach Art. 129 Abs. 3 GG sind entsprechende Ermächtigungsgrundlagen erloschen. – Zum Zustimmungsvorbehalt des Bundestages beim Erlass von Rechtsverordnungen abl. Weber, Minderheitsregierung (Anm. 6), S. 176 ff.; a. A. Arnd Uhle, BeckOK GG (Anm. 15), Art. 80 Rdnr. 55. 92 Sog. Zugriffsrecht, siehe BVerfGE 114, 196 (232); Hartmut Bauer, in: Dreier GG (Anm. 48), Art. 80 Rdnr. 48 f.; Michael Brenner, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz (Anm. 12), Art. 80 Rdnr. 29. 88 89
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die Parlamentsmehrheit unter Zuhilfenahme von Rechtsverordnungen ist daher äußerst begrenzt. (4) Regieren durch Verwaltungsvorschriften? Ähnlich ausgeprägt wie bei Rechtsverordnungen ist die Kompetenz der Bundesregierung zum Erlass von Verwaltungsvorschriften. Eine entsprechende Befugnis der Bundesregierung besteht wegen Art. 86 Satz 1 GG nicht nur bei Bundesgesetzen, die von Bundesbehörden, von bundesunmittelbaren juristischen Personen oder von Eigengesellschaften des Bundes ausgeführt werden (namentlich gemäß Art. 87 GG), sondern auch bei Bundesgesetzen, die von den Ländern in Landeseigenverwaltung (Art. 83, 84 Abs. 2, Art. 108 Abs. 7 GG) oder im Auftrag des Bundes (Art. 85 Abs. 2 Satz 1, Art. 108 Abs. 3 GG) ausgeführt werden.93 Allerdings kommt Verwaltungsvorschriften bereits kraft ihrer Rechtsnatur grundsätzlich keine Außenwirkung zu.94 Sie richten sich – wie ihr Name schon andeutet – an die „Verwaltung“, d.h. in aller Regel an die mit der Ausführung eines Gesetzes betrauten Bediensteten (Beamten und Beschäftigten des öffentlichen Dienstes), sie haben gesetzesinterpretierende, ermessenslenkende und in manchen Fällen gesetzeskonkretisierende Funktion. Die zuständigen Gerichte oder gar den Bürger verpflichten können sie nicht. Abgesehen davon besitzt der Parlamentsgesetzgeber – insoweit vergleichbar mit Rechtsverordnungen – auch hier ein Zugriffsrecht, d.h. er darf Verwaltungsvorschriften in Gesetzesform gießen. Damit lässt sich allein gestützt auf Verwaltungsvorschrift nicht regieren. Bei der Einrichtung von Bundesbehörden kommt der Regierung kein größerer Spielraum zu: Zwar überträgt Art. 86 Satz 2 GG der Bundesregierung insoweit die institutionell-organisato93 Weber, Minderheitsregierung (Anm. 6), S. 195 ff., dort auch zur Frage der Kompetenz einzelner Bundesminister. 94 Zur Rechtsnatur von Verwaltungsvorschriften siehe Hermann Hill/ Mario Martini, Exekutivische Normsetzung, in: Wolfgang HoffmanRiem/Eberhard Schmidt-Aßmann/Andreas Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. 2, 2. Aufl. 2012, § 34 Rdnr. 38 f. m. w. N.
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rische Regelungskompetenz, betont aber auch insoweit ausdrücklich das Zugriffsrecht des Parlamentsgesetzgebers. Ob die Regierung hiergegen einen Kernbereich exekutivischer Organisationbefugnisse in Stellung bringen kann, wird überwiegend verneint.95 Im Rahmen der Finanzverwaltung finden sich entsprechende Zuständigkeitsregelungen wegen der hohen bundesstaatlichen wie individualrechtlichen Relevanz sogar auf Verfassungsebene in Art. 108 Abs.1, 2, 4 und 4a GG. Selbst abgesehen davon: Welche programmatischen Aktivitäten könnte eine Minderheitsregierung durch rein organisatorische Vorschriften entfalten? (5) Regierungslenkung durch Gesetze der „Mehrheitsopposition“ In der politischen Konstellation einer Minderheitsregierung ist zu überlegen, was gilt, wenn die oppositionelle Bundestagsmehrheit gleichsam „den Spieß umdreht“, indem sie aus ihrer Mitte (Art. 76 Abs. 1 Fall 2 GG) Gesetzentwürfe initiiert und gegen den Willen der Minderheitsregierung beschließt.96 Hier ist zunächst festzustellen, dass die Bundesregierung ihre notwendige Mitwirkung bei der Bundesgesetzgebung nicht aus politischen Gründen versagen darf.97 Insbesondere ist eine Verweigerung der in Art. 82 Abs. 1 Satz 1 GG vorgesehenen Gegenzeichnung zustande gekommener Gesetze verfassungsrechtlich ausgeschlossen. Hierzu könnte die Bundesregierung erforderlichenfalls im Organstreit98 angehalten werden. Ist das Bundes95 Abl. Hermes, in: Dreier GG (Anm. 48), Art. 86 Rdnr. 62 m. w. N.; a. A. zit. bei dems., ebenda, Art. 64 Rdnr. 22 f.; Walter Krebs, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V: Rechtsquellen, Organisation, Finanzen, 3. Aufl. 2007, § 108 Rdnr. 99; Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Organisationsgewalt im Bereich der Regierung, 2. Aufl. 1998, S. 290 ff. 96 Weber, Minderheitsregierung (Anm. 6), S. 110. 97 Hermann Butzer, in: Günter Dürig/Roman Herzog/Rupert Scholz (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Stand der 73. Erg.-Lfg. (Dezember 2014), Art. 82 Rdnr. 102. Zum Initiativmonopol bei Haushaltsvorlagen siehe unten sub IV. 4. b) dd) (2). 98 Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG i. V. m. § 13 Nr. 5, §§ 63 ff. BVerfGG.
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gesetz ausgefertigt, verkündet und in Kraft getreten, trifft die Bundesregierung, soweit sie betroffen ist, die Pflicht zur Beachtung und zur Ausführung.99 Zwar kann sich die Bundesregierung grundsätzlich auf einen Kernbereich exekutivischer Eigenverantwortung berufen, etwa dann, wenn in Bereiche und Materien eingegriffen wird, die ihr von Verfassungs wegen vorbehalten sind, etwa bei der Ausforschung der Entscheidungsgrundlagen und Beratungsdokumente des Kabinetts.100 Diese Grenze lässt sich gegen Gesetze der oppositionellen Mehrheit im Bundestag jedoch nicht in Stellung bringen. Eine gewisse Bastion des Widerstandes einer Minderheitsregierung, die gesetzlich überfahren zu werden droht, bietet indessen der bislang in der Verfassungspraxis unbedeutende Art. 113 GG.101 Nach dessen Absatz 1 Satz 1 und 2 bedürfen Gesetze, welche die von der Bundesregierung vorgeschlagenen Ausgaben des Haushaltsplanes erhöhen oder neue Ausgaben in sich schließen oder für die Zukunft mit sich bringen, der Zustimmung der Bundesregierung. Das gleiche gilt für Gesetze, die Einnahmeminderungen in sich schließen oder für die Zukunft mit sich bringen. Eine derartige Finanzwirksamkeit weisen im modernen Sozial- und Finanzstaat zahlreiche Gesetze auf. Die Vorschriften des Art. 113 GG schützen den Bund vor gesetzlich veranlassten Ausgabemehrungen oder Einnahmeminderungen, die gegen den Willen der Bundesregierung erfolgen sollen. Eine politisch erfolgreiche Minderheitsregierung lässt sich allein gestützt darauf nicht erreichen. (6) Verminderte Reaktionsfähigkeit in Krisen Die mögliche politische Uneinigkeit von Minderheitsregierung und oppositioneller Bundestagsmehrheit erreicht ihre KulWeber, Minderheitsregierung (Anm. 6), S. 114 f. BVerfGE 67, 100 (139), zuletzt BVerfGE 143, 101 (137 f.); siehe auch Sebastian Unger, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz (Anm. 12), Art. 44 Rdnr. 44 m. w. N. 101 Hierzu z. B. Christoph Gröpl, in: Wolfgang Kahl/Christian Waldhoff/Christian Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Stand der 175. Erg.-Lfg. (Oktober 2015), Art. 113 Rdnr. 35. 99
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mination, wenn dadurch die Reaktionsfähigkeit des Bundes in Krisen beeinträchtigt wird. Am Beispiel der „Covid-19-Krise“ und den in diesem Rahmen ergriffenen massiven und nachhaltigen Grundrechtseingriffen mag dies kurz angedacht werden: Zwar konnten Bundesregierung und vor allem die für die Ausführung des einschlägigen Infektionsschutzgesetzes102 zuständigen Landesregierungen103 zunächst mit Allgemeinverfügungen (§ 35 Satz 2 LVwVfG) und Rechtsverordnungen reagieren, die auf die bisherigen parlamentsgesetzlichen Rechtsgrundlagen gründeten. Diese erwiesen sich jedoch für die politischen Absichten des weitgehenden „Herunterfahrens“ des gesellschaftlichen Lebens schon sehr bald als unzureichend, so dass das Infektionsschutzgesetz mehrfach und ganz einschneidend ergänzt und geändert wurde.104 Verweigert die Bundestagsmehrheit einer Minderheitsregierung in solchen Situationen die Mitwirkung dadurch, dass von der Regierung initiierte notwendige Gesetze nicht beschlossen werden, kann dies zur Handlungsunfähigkeit des demokratischen Rechtsstaats führen. Eine Kompensation der fehlenden Kooperation des Bundestages durch Notkompetenzen des Bundespräsidenten, wie dies just Art. 48 Abs. 2 WRV für den Reichspräsidenten vorsah,105 enthält das Grundgesetz nicht. (7) Gesetzgebungsnotstand Wiewohl der Parlamentarische Rat bei den Beratungen zum Grundgesetz in den Jahren 1948/1949 die Macht des Bundesprä102 Gesetz vom 20.6.2000 (BGBl. I S. 1045), zuletzt geändert durch Gesetz vom 27.7.2021 (BGBl. I S. 4530). 103 Art. 83, 84 GG; vgl. i. Ü. nur §§ 32 und 54 IfSG. 104 Vgl. nur die vier aufeinanderfolgenden Gesetze zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 27.3.2020 (BGBl. I S. 587), vom 19.5.2020 (BGBl. I S. 1018), vom 18.11. 2020 (BGBl. I S. 2397) und vom 22.4.2021 (BGBl. I S. 802) sowie darüber hinaus das Gesetz zur Fortgeltung der die epidemische Lage von nationaler Tragweite betreffenden Regelungen (EpiRFortgeltG) vom 29.3.2021 (BGBl. I S. 370) sowie das Zweite Gesetz zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes und weiterer Gesetze vom 28.5.2021 (BGBl. I S. 1147). 105 Siehe oben sub III. 1.
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sidenten im Vergleich zum Reichspräsidenten dezidiert schmälern wollte, hatte er doch – in frischer Erinnerung der „Weimarer Verhältnisse“ 106 – legislatorische Krisen im Blick, die durch eine „Blockadehaltung“ der Bundestagsmehrheit gegenüber einer Minderheitsregierung heraufbeschworen werden konnten. Vor diesem Hintergrund fanden die Vorschriften über den Gesetzgebungsnotstand nach Art. 81 ihren Weg in das Grundgesetz,107 die seither – man darf betonen: glücklicherweise – ein Schattendasein gefristet haben. Art. 81 GG lässt sich als „unschädliches Überbleibsel“ von Art. 48 Abs. 2 WRV bezeichnen und ist auf Situationen einer Minderheitsregierung exakt zugeschnitten, indem die Vorschrift an Art. 68 GG und damit an eine gescheiterte Vertrauensfrage anknüpft, infolge deren der Bundestag nicht aufgelöst wird.108 In diesem außerordentlichen Gesetzgebungsverfahren können Bundesgesetze „am Bundestag vorbei“ verabschiedet werden, d.h., ohne dass sie durch die Mehrheit der abgegebenen Stimmen im Bundestag (Art. 77 Abs. 1 Satz 1, Art. 42 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 GG) beschlossen werden. „Gesetzesvorlagen“ im Sinne von Art. 81 GG umfassen formelle Gesetze aller Art, auch Haushaltsvorlagen (Art. 110 Abs. 3 GG) sowie Ermächtigungsgrundlagen für Rechtsverordnungen (Art. 80 Abs. 1 GG).109 So weit dieser sachliche Anwendungsbereich reicht, so schwierig und vielleicht auch unwahrscheinlich dürfte es in der – jedenfalls bisherigen – Staatspraxis sein, die Konsensvoraussetzungen von Art. 81 GG zu erfüllen. Denn die Vorschrift verlangt in einem mehrfach gestuften Verfahren ein wiederholtes Zusammenwirken von Bundesregierung, Bundespräsidenten und Bundes-
Siehe oben sub III. 1. Siehe Klaus-Berto v. Doemming/Rudolf Werner Füsslein/Werner Matz, Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes, Abschnitt V: Die Gesetzgebung des Bundes, JöR n. F. 1 (1951), S. 453 (592 f.). 108 Weber, Minderheitsregierung (Anm. 6), S. 135 f. Zum Gesetzgebungsnotstand vgl. auch Merdian, Minderheitsregierung (Anm. 37), S. 197 ff. 109 Weber, Minderheitsregierung (Anm. 6), S. 136 ff. 106 107
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rat: Zwischen diesen Verfassungsorganen muss politische Einigkeit über eine Gesetzesvorlage bestehen, im Bundestag hingegen darf dafür keine Mehrheit zu erzielen sein. Art. 81 Abs. 1 Satz 1 GG verlangt, dass die Bundesregierung das Vertrauen im Bundestag verloren hat und eine Gesetzesvorlage als „dringlich“ bezeichnet hat110 und der Bundestag diese gleichwohl ablehnt.111 Die Erklärung der Dringlichkeit ist nach Satz 2 der Vorschrift entbehrlich, wenn eine Gesetzesvorlage mit der Vertrauensfrage verbunden wurde.112 In jedem Fall erforderlich ist, dass die Bundesregierung den Gesetzgebungsnotstand beim Bundespräsidenten beantragt und der Bundesrat dem zustimmt.113 Die Erklärung des Gesetzgebungsnotstandes durch den Bundespräsidenten bedarf der Gegenzeichnung der Bundesregierung.114 Sodann hat die Bundesregierung die Gesetzesvorlage erneut in den Bundestag einzubringen. Lehnt der Bundestag die einschlägige Gesetzesvorlage erneut ab, nimmt er sie in einer unannehmbaren Fassung an oder verzögert er sie über vier Wochen, bedarf es erneut eines Beschlusses des Bundesrates, bevor das Gesetz als zustande gekommen „gilt“ (Art. 81 Abs. 2 GG). Zu seiner (äußeren) Wirksamkeit muss es die Bundesregierung anschließend gegenzeichnen,115 der Bundespräsident ausfertigen und das Bundesministerium der Justiz verkünden (Art. 82 Abs. 1 Satz 1 GG). Dass das Grundgesetz im Gesetzgebungsnotstand wegen Art. 81 Abs. 4 GG nicht angetastet werden darf, versteht sich in Erinnerung auf die Durchlöcherung der Weimarer Reichsverfassung durch die nationalsozialistische Gesetzgebung von selbst. Siehe hierzu § 99 GOBT (Anm. 14). Zur Frage der analogen Anwendung der Vierwochenfrist des Art. 81 Abs. 2 Satz 2 GG Weber, Minderheitsregierung (Anm. 6), S. 144. 112 Martin Kment, in: Jarass/Pieroth GG (Anm. 36), Art. 81 Rdnr. 3 m. w. N.; Frauke Brosius-Gersdorf, in: Dreier GG (Anm. 48), Art. 81 Rdnr. 15. 113 Zum Beschluss des Bundesrates siehe nur Art. 52 Abs. 3 Satz 1 i. V. m. Art. 51 GG. 114 Weber, Minderheitsregierung (Anm. 6), S. 157. 115 Vgl. Weber, Minderheitsregierung (Anm. 6), S. 161. 110 111
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Der Gesetzgebungsnotstand und damit die Möglichkeit des Zustandekommens von Gesetzen gegen den Willen der Mehrheit des Bundestags erstreckt sich gemäß Art. 81 Abs. 3 GG über sechs Monate;116 eine Verlängerung ist ausgeschlossen. Darin liegt eine doch enge zeitliche Begrenzung: Ein gesetzesgestütztes Regieren gegen den Bundestag ist einer Minderheitsregierung damit nur für ein halbes Jahr gestattet – immer vorausgesetzt, dass währenddessen politische Übereinstimmung mit dem Bundespräsidenten und dem Bundesrat besteht. Mithin verschafft der Gesetzgebungsnotstand keine Macht, um die Bundestagsmehrheit längerfristig von der Legitimation von Gesetzen und damit der Kontrolle der Regierung fernzuhalten – ein für das parlamentarische Regierungssystem und letztlich für die Demokratie begrüßenswertes Ergebnis. dd) Finanzgesetzgebung, insbesondere Haushaltsgesetzgebung (1) Steuergesetze „Beim Geld“ hört nicht nur „die Freundschaft auf“, sondern auch die Regierung. Ohne einen ausreichenden Zufluss an Einnahmen sowie ohne die Legitimation staatlicher Ausgaben ist die Ausübung von Staatsgewalt im demokratischen Rechtsstaat weder zulässig noch möglich. Gerade im Kontrast zum frühneuzeitlichen Ständestaat ist hervorzuheben, dass die bei Weitem wichtigsten Rechtsgrundlagen für staatliche Einnahmen, die Steuergesetze, überjährig fortgelten.117 Zentrale Wegmarke für die deutsche Rechtsentwicklung waren in diesem Zusammenhang Art. 108 der „oktroyierten“ und Art. 109 der „revidierten“ Verfassungsurkunde für den Preußischen Staat von 1848 bzw.
116 Erneuter Dringlichkeitserklärungen für weitere Gesetzesvorlagen bedarf es nicht; a. A. Brosius-Gersdorf, in: Dreier GG (Anm. 48), Art. 81 Rdnr. 23 m. w. N. 117 Näher Klaus Vogel/Christian Waldhoff, in: Wolfgang Kahl/Christian Waldhoff/Christian Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Stand der 81. Erg.-Lfg. (November 1997), Vorbem. z. Art. 104a ff. Rn. 115 ff.
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1850,118 wonach die bestehenden Steuern und Abgaben forterhoben wurden und alle Bestimmungen der bestehenden Gesetzbücher, einzelnen Gesetze und Verordnungen grundsätzlich in Kraft blieben. In den moderneren deutschen Verfassungen, insbesondere im Grundgesetz, wurde die Aufnahme einer solchen „Selbstverständlichkeit“ für entbehrlich gehalten. Dies bedeutet auch für Minderheitsregierungen, dass ihnen der „erste Geldhahn“ nicht „zugedreht“ werden kann, es sei denn, die oppositionelle Bundestagsmehrheit beschlösse gegen den Willen der Minderheitsregierung substantielle Steuerkürzungen oder gar die Aufhebung von Steuergesetzen – was bereits politisch kaum wahrscheinlich ist und wohl auch verfassungsrechtliche Bedenken hervorriefe, wenn ein solcher finanzrechtlicher „Amoklauf“ das primäre Ziel verfolgte, die Minderheitsregierung „lahmzulegen“.119 (2) Haushaltsgesetze Der soeben geschilderten „radikalen“ Maßnahmen bedürfte eine Bundestagsmehrheit gar nicht, um ihrer Opposition gegen die Minderheitsregierung Ausdruck zu verleihen. Das verfassungsrechtlich vorgesehene, probate Mittel ist insoweit die Verweigerung der Bewilligung des Bundeshaushalts. Ebenfalls seit preußischen Zeiten120 bedarf der Haushalt(-splan) in aller Regel jährlich der „Feststellung“ durch (Parlaments-)Gesetz.121 Dahinter steht das parlamentarische Budgetrecht, das für den Bund in 118 Verfassungsurkunde für den Preuß. Staat vom 5.12.1848 (Preuß. Gesetz-Sammlung S. 375); Verfassungsurkunde für den Preuß. Staat vom 31.1.1850 (Preuß. Gesetz-Sammlung S. 17). 119 Gegen ein solches Vorgehen des Bundestages könnte womöglich der Grundsatz der Organtreue zur Bundesregierung (siehe oben sub IV. 4. b) cc) (4) und das Prinzip der Bundestreue zu den Ländern (BVerfGE 1, 299 (315); 61, 149 (206); 81, 310 (337); 104 238 (247)) ins Feld geführt werden. 120 Vgl. Art. 98 PreußVerfUrk 1848 und Art. 99 PreußVerkUrk 1850 (Anm. 118). 121 Siehe einfachgesetzlich § 1 der Bundeshaushaltsordnung (BHO) vom 19.8.1969 (BGBl. I S. 1284) mit spät. Änd.: Der Haushaltsplan wird für ein oder zwei Rechnungsjahre, nach Jahren getrennt, vor Beginn des
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Art. 110 Abs. 1 und 2 GG festgeschrieben ist.122 Dieser – neben dem Staatsschuldenrecht (Art. 115 Abs. 1 GG) – zentrale finanzverfassungsrechtliche Gesetzesvorbehalt hat zwar keine individualrechtliche (Grundrechts-)Relevanz, was angesichts der Politik des „lockeren Geldes“ gerade in jüngster Zeit123 bedauert werden darf und womöglich bereut werden wird.124 Allerdings vermag er die Bundesregierung wirkungsvoll daran zu hindern, eine Ausgabenpolitik an der Bundestagsmehrheit vorbei zu betreiben. In der Situation von Minderheitsregierungen kann dies in aller Schärfe hervortreten: Die Bundesregierung benötigt bei allen ausgabenrelevanten Maßnahmen für jedes Kalenderjahr (Haushaltsjahr)125 eine gesetzliche Grundlage in Form des parlamentarisch festgestellten Haushaltsplans. Da hilft es wenig, dass Haushaltsvorlagen126 ausschließlich durch die Bundesregierung eingebracht, nicht aber vom Bundesrat oder aus der Mitte des Bundestages initiiert werden können, wie sich aus dem Regelungszusammenhang von Art. 110 Abs. 3 i. V. m. Art. 76 GG
ersten Rechnungsjahrs durch das Haushaltsgesetz festgestellt. Mit dem Haushaltsgesetz wird nur der Gesamtplan [. . .] verkündet. 122 Hierzu BVerfGE 45, 1 (32); 129, 124 (177 ff.); 132, 195 (239); 134, 366 (418); 146, 216 (254 f.) – st. Rspr.; Christoph Gröpl, in: Ders. (Hrsg.), Bundeshaushaltsordnung/Landeshaushaltsordnungen, Kommentar, 2. Aufl. 2019, § 1 Rdnr. 36 ff. m. w. N. 123 Zur überdimensionierten und verfassungsrechtlich fragwürdigen Nettoneuverschuldung aus Anlass der „Covid-19-Krise“ siehe Christoph Gröpl, Olafs „Wumms“ in die multiple Verfassungswidrigkeit, NJW 2020, S. 2523 ff. 124 Unter bestimmten Voraussetzungen kann sich der Einzelne aber gegen Entäußerungen des parlamentarischen Budgetrechts an die Europäische Union wehren, siehe BVerfGE 89, 155 (171 f.), 129, 124 (177); 132, 195 (238 f.); 134, 366 (396 f.); 146, 216 (249) – st. Rspr. 125 Zum Ausdruck kommt darin das haushaltsverfassungsrechtliche Jährlichkeitsprinzip, vgl. einfachgesetzlich § 8 Abs. 1 i. V. m. § 4 Satz 1 und § 9 Abs. 1 des Gesetzes über die Grundsätze des Haushaltsrechts des Bundes und der Länder (Haushaltsgrundsätzegesetz – HGrG) vom 19.8.1969 (BGBl. I S. 1273) mit spät. Änd. sowie entsprechend § 11 Abs. 1 i. V. m. § 4 Satz 1 und § 12 Abs. 1 BHO (Anm. 121). 126 Zur Definition siehe § 95 GOBT (Anm. 14).
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ergibt.127 Denn beschlossen werden muss der Haushalt durch den Bundestag (Art. 110 Abs. 2 Satz 1, Art. 77 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. Art. 42 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 1 GG). Immerhin ist es möglich, ein Haushaltsgesetz im Gesetzgebungsnotstand zustande kommen zu lassen;128 wegen dessen zeitlicher Begrenzung auf sechs Monate (Art. 81 Abs. 3 GG) verschafft dies einer Minderheitsregierung jedoch keinen über ein Kalenderjahr hinausgehenden Finanzierungs- und damit Handlungsspielraum.129 (3) Notbewilligungsrecht und Nothaushaltsrecht Gegen das Primat des parlamentarischen Budgetrechts kann eine (Minderheits-)Regierung auch mit den verfassungsrechtlich erlaubten Spezialinstituten des Notbewilligungsrechts (Art. 112 GG) und des Nothaushaltsrechts (Art. 111 GG) nur sehr begrenzt ansteuern. Während des Haushaltsjahres ermöglicht es Art. 112 GG dem Bundesminister der Finanzen, außer- oder überplanmäßige Ausgaben zu bewilligen, d.h. die Verwaltung zur Verausgabung von Finanzmitteln zu ermächtigen, die im Haushaltsplan nicht oder nicht in der erforderlichen Höhe enthalten sind. Bereits diese Systematik lässt jedoch erkennen, dass das Notbewilligungsrecht grundsätzlich nur zulässig ist, wenn
127 Nur Gesetzesvorlagen der Bundesregierung werden dem Bundesrat zugeleitet (siehe Art. 76 Abs. 1 Fall 1 i. V. m. Abs. 2 Satz 1 im Vergleich zu Abs. 1 Fall 2 und 3 i. V. m. Abs. 3 GG), wie dies Art. 110 Abs. 3 Halbs. 1 GG besagt; Christoph Gröpl, in: Wolfgang Kahl/Christian Waldhoff/Christian Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Stand der 174. Erg.-Lfg. (September 2015), Art. 110 Rdnr. 277; Brun-Otto Bryde, in: Ingo v. Münch/Philip Kunig: Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, 7. Aufl. 2021, Art. 76 Rdnr. 22; vgl. des Weiteren BVerfGE 45,1 (46); 70, 324 (357); siehe des Weiteren Werner Heun, in: Dreier GG (Anm. 48), Art. 110 Rdnr. 34 m. w. N. 128 Siehe oben sub IV. 4. b) cc) (7) mit Nachw. in Anm. 109. 129 Zwar kann die Bundesregierung versuchen, Rücklagen aufzulösen oder nach § 18 Abs. 3 BHO (Anm. 121) fortgeltende Kreditermächtigungen in Anspruch zu nehmen. Dies setzt allerdings voraus, dass solche „Reserven“ vorhanden sind. Zur Problematik kreditfinanzierter Rücklagen siehe nur Henning Tappe, in: Gröpl BHO/LHO (Anm. 122), Anh. z. § 62 BHO Rdnr. 1 ff., 11 ff. m. w. N.
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ein gültiger Haushaltsplan vorhanden ist, der seinerseits durch die Parlamentsmehrheit gesetzlich festgestellt worden sein muss.130 Im Übrigen, und das ist noch entscheidender, sind solche Notbewilligungen des Finanzministers nach Art. 112 Satz 2 GG nur zulässig, wenn und soweit ein „unvorhergesehenes und unabweisbares Bedürfnis“ (sprachlich besser: Bedarf) besteht.131 Zwar hat die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Voraussetzung der „Unvorhersehbarkeit“ faktisch als bedeutungslos angesehen; umso mehr Gewicht legt es aber auf die „Unabweisbarkeit“. Dies soll insbesondere nur bei zeitlicher Unaufschiebbarkeit der Fall sein, d.h. soweit ein Nachtragshaushalt nicht mehr auf- und festgestellt werden kann.132 Das bedeutet für den vorliegenden Zusammenhang, dass es dem Finanzminister einer Minderheitsregierung verwehrt ist, am Bundestag vorbei eine außer- oder überplanmäßige Ausgabe zu bewilligen, wenn die Verabschiedung eines Nachtragshaushalts133 möglich erscheint. Zuständig dafür ist aber wiederum der Bundestag (Art. 110 Abs. 2 Satz 1 i. V. m. Abs. 3 Fall 2 GG). Daraus folgt: Regieren im Sinne von Projekte umsetzen lässt sich mit dem Notbewilligungsrecht des Art. 112 GG nicht. Im Ergebnis nicht wesentlich anders verhält es sich mit dem Nothaushaltsrecht des Art. 111 GG. Diese Vorschrift ermöglicht die Fortfinanzierung der Verwaltung für den Fall, dass bis zum Beginn eines Haushaltsjahres entgegen der Verfassungsverpflichtung des Art. 110 Abs. 2 Satz 1 GG noch kein gültiger Haushaltsplan festgestellt wurde.134 Umfasst werden dadurch gerade auch Situationen, in denen eine oppositionelle Bundes130 Siehe soeben oben sub IV. 4. b) dd) (2). Zum Verhältnis von Notbewilligungs- und Nothaushaltsrecht zum Gesetzgebungsnotstand Bosch, Minderheitsregierung (Anm. 22), S. 173 ff. 131 Vgl. dazu einfachgesetzlich § 37 BHO (Anm. 121). 132 BVerfGE 45, 1 (36 ff.). Kodifiziert wurde diese Rspr. in § 37 Abs. 1 Satz 3 und 4 BHO (Anm. 121) durch Art. 1 Nr. 2 des 5. Gesetzes zur Änderung der BHO vom 22.9.1994 (BGBl. I S. 2605) mit Wirkung vom 1.1.1995. 133 Vgl. hierzu § 33 BHO (Anm. 121). 134 Zur Konkretisierung der Pflicht, den Haushaltsplan vor Beginn des betreffenden Haushaltsjahres festzustellen, siehe BVerfGE 45, 1 (33).
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tagsmehrheit die Bewilligung der Haushaltsvorlage der Minderheitsregierung verweigert. Zustände wie fast regelmäßig in den Vereinigten Staaten von Amerika, wo staatliche Einrichtungen geschlossen und Staatsbedienstete in den „Zwangsurlaub“ geschickt werden müssen, gibt es auf Bundesebene135 dank Art. 111 GG nicht. Ist bis zum Schluss eines Kalenderjahres der Haushaltsplan für das folgende Jahr (noch) nicht durch Gesetz festgestellt, ermächtigt Absatz 1 der Vorschrift die Bundesregierung,136 alle Ausgaben zu leisten, die nötig sind, um gesetzlich bestehende Einrichtungen zu erhalten und gesetzlich beschlossene Maßnahmen durchzuführen, um die rechtlich begründeten Verpflichtungen des Bundes zu erfüllen, um Bauten, Beschaffungen und sonstige Leistungen fortzusetzen oder Beihilfen für diese Zwecke weiter zu gewähren, sofern durch den Haushaltsplan eines Vorjahres bereits Beträge bewilligt worden sind. Art. 111 Abs. 2 GG enthält sogar eine verfassungsunmittelbare Kreditermächtigung, wenn die Bundesregierung die zur Aufrechterhaltung der Wirtschaftsführung erforderlichen Mittel bis zur Höhe eines Viertels der Endsumme des abgelaufenen Haushaltsplanes im Wege des Kredits flüssig machen darf. Zugegeben: Art. 111 GG enthält für die „haushaltslose Zeit“ sehr großzügige Ausgabe- und Kreditermächtigungen, die ein Weiterregieren auf komfortabler Basis ermöglichen.137 Allerdings eröffnet das Nothaushaltsrecht keine Finanzierung neuer Projekte, sondern stattet die Exekutive bewusst nur mit den Mitteln aus, um bestehende Einrichtungen zu erhalten, bereits beschlossene Maßnahmen durchzuführen und rechtlich schon begründete Verpflichtungen des Bundes zu erfüllen. Damit wird eine Minderheitsregierung in die Lage versetzt, vorübergehend den
135 In den Landesverfassungen bestehen vergleichbare Vorschriften, siehe nur Art. 80 Verf BW, Art. 78 Abs. 4 BayVerf, Art. 82 Verf NRW, Art. 98 SächsVerf u. dgl. 136 Entgegen dem zu eng geratenen Wortlaut richtet sich die Ermächtigung an die gesamte Bundesverwaltung, siehe Gröpl, in: Ders., BHO/ LHO (Anm. 122), Anh. zu § 1 BHO Rdnr. 24. 137 Gröpl, in: Ders., BHO/LHO (Anm. 122), Anh. zu § 1 BHO Rdnr. 20.
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Status quo zu erhalten. Dies läuft wiederum138 auf eine bloße „Staatsverwesung“ im Sinne von passiver Staatsverwaltung hinaus und stellt nicht die Instrumente für Neugestaltungen bereit. ee) Handeln nach außen Wie sieht es – abgesehen von haushaltsrechtlichen Voraussetzungen – mit den Kompetenzen und Handlungsmöglichkeiten einer Minderheitsregierung „nach außen“ aus? Ist der Aktionsradius hier weiter, da Rechte des Einzelnen und deren parlamentslegitimierte Ausgestaltung und Beschränkung insoweit womöglich von geringerer Relevanz sind?139 (1) Außenpolitik Die Pflege der auswärtigen Beziehungen ist nach Art. 32 Abs. 1 GG grundsätzlich Sache des Bundes. Entgegen dem ersten Anschein, den Art. 59 Abs. 1 GG vermitteln mag, agiert hier weniger der Bundespräsident als vielmehr die Bundesregierung, allen voran der Bundeskanzler und der Bundesminister des Auswärtigen (auswärtige Gewalt im materiellen Sinne).140 Daher sind auch die Mitglieder einer Minderheitsregierung selbstverständlich befugt und gehalten, Deutschland auf internationalen Konferenzen, Gipfeln oder – in schlechtem Neuhochdeutsch – „Meetings“ zu vertreten, am Meinungsaustausch teilzunehmen und politische „Statements“ abzugeben. Sollen aus solchen unverbindlichen „Kommuniqués“ und „Bemühenszusagen“ aber völkerrechtliche Verpflichtungen werden, ist – mit Blick auf die Volkssouveränität (Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG) und den Vorbehalt des Gesetzes141 die Vorschrift des Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG zu beachten. Danach bedürfen Verträge, welche die politischen Beziehungen des Bundes regeln Siehe bereits oben sub IV. 4. b) cc) (1). Vgl. dagegen oben sub IV. 4. b) bb). 140 Martin Nettesheim, in: Günter Dürig/Roman Herzog/Rupert Scholz (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Stand der 90. Erg.-Lfg. (Februar 2020), Art. 32 Rdnr. 53: Entscheidungsprärogative der Regierung. 141 Hierzu oben sub IV. 4. b) bb). 138 139
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oder sich auf Gegenstände der (Bundes-)Gesetzgebung142 beziehen, der Zustimmung oder der Mitwirkung der jeweils für die Bundesgesetzgebung zuständigen Körperschaften in der Form eines Bundesgesetzes. Auch hier trifft eine Minderheitsregierung also auf den politischen Willen der Bundestagsmehrheit. Parlamentarische Billigung in Form eines Bundesgesetzes erfordern demnach namentlich völkerrechtliche Übereinkommen zur territorialen Integrität und Unabhängigkeit Deutschlands, Friedens- und Bündnisverträge sowie völkerrechtliche Verträge, die innerstaatlich Rechte oder Pflichten für den Einzelnen begründen sollen. (2) Europapolitik Auch die Politik der Bundesrepublik in der Europäischen Union (Europapolitik i. e. S.143) ist – in einem ersten Zugriff – Angelegenheit des Bundes und namentlich der Bundesregierung, die den Europäischen Rat (Art. 15 EUV144) mit dem Bundeskanzler und den Rat (Art. 16 EUV) mit dem zuständigen Minister beschickt. Bereits aus dem sog. Europaartikel des Grundgesetzes – Art. 23 – wird indessen deutlich, dass in die Europapolitik i. e. S. neben dem Bundesrat auch maßgeblich der Bundestag eingebunden wird: Art. 23 Abs. 2 Satz 2 GG stattet die Bundesregierung mit Unterrichtungspflichten auch gegenüber dem Bundestag aus, Art. 23 Abs. 3 GG gibt dem Bundestag ein Recht zu 142 Entgegen dem missverständlichen Wortlaut ist die Frage der Kompetenz des Bundes unerheblich. Entscheidend ist vielmehr, ob zur Umsetzung eines völkerrechtlichen Vertrags nach dem Vorbehalt des Gesetzes ein formelles Gesetz erforderlich ist, siehe hierzu BVerfGE 1, 372 (389 f.); Dieter Haas, Abschluß und Ratifikation internationaler Verträge, AöR 78 (1952/53), S. 381 ff. (386); Nettesheim, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG (Anm. 140), Art. 59 Rdnr. 106. 143 Nicht erst seit dem „Brexit“ zum 31.1.2020 ist Europa größer als die Europäische Union, nicht nur geographisch, sondern auch in Bezug auf internationale Organisationen, siehe insb. den Europarat, die europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten i. d. F. der Bek. vom 22.10.2010 (BGBl. II S. 1198) mit spät. Änd. und den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte). 144 Nachw. in Anm. 81.
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Stellungnahmen beim Entstehungsprozess von Rechtsetzungsakten der Europäischen Union (Art. 288 AEUV145), die von der Bundesregierung zu berücksichtigen sind.146 Diese auf das sog. Sekundärrecht der Europäischen Union bezogenen Kooperationspflichten147 mögen im Alltag einer Minderheitsregierung trotz opponierender Mehrheit im Bundestag politisch noch zu verkraften sein. Anders sieht die Lage bei Änderungen des sog. Primärrechts aus, also vor allem der beiden Verträge zur Gründung der Europäischen Union.148 Soweit solche Reformen der Sache nach eine Änderung des Grundgesetzes bewirken oder bewirken können, bedürfen sie nach Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG eines Bundesgesetzes, das mit verfassungsändernden Mehrheiten (Zweidrittelmehrheiten) in Bundestag und Bundesrat verabschiedet wird (Art. 79 Abs. 2 GG). Und auch im Übrigen ist bei der Übertragung weiterer Hoheitsrechte auf die Europäische Union gemäß Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG ein Bundesgesetz vonnöten. Ohne entsprechenden Beschluss der Bundestagsmehrheit ist die Bundesregierung insoweit nicht handlungsfähig. Für eine Minderheitsregierung wirft dies naturgemäß besondere Probleme auf. Diese in Art. 23 Abs. 1 GG ausdrücklich vorgesehene Rückbindung von Primärrechtsänderungen an die Volksvertretung und die daraus folgende Beschränkung des Verpflichtungsspielraums der Bundesregierung wurde durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts beträchtlich ausgeweitet. Meilenstein war insoweit das sog. Lissabon-Urteil vom 30. Juni 2009.149 Gestützt auf das subjektive Wahlrecht aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG als grundrechtsgleiches Recht wurde dem Einzelnen gestat-
Nachw. in Anm. 80. Näher hierzu Art. 23 Abs. 3 Satz 3 GG i. V. m. dem Gesetz über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union (EUZBBG) vom 4.7.2013 (BGBl. I S. 2170), namentlich mit dessen §§ 8–9a. 147 Vgl. hierzu auch oben sub IV. 4. b) cc) (2). 148 Nachw. in Anm. 80 f. 149 BVerfGE 123, 267 ff. 145 146
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tet, einen Anspruch auf demokratische Selbstbestimmung, auf freie und gleiche Teilhabe an der in Deutschland ausgeübten Staatsgewalt sowie auf Einhaltung des Demokratiegebots einschließlich der Achtung der verfassungsgebenden Gewalt des Volkes zugesprochen.150 Daraus und aus der wegen Art. 79 Abs. 3 GG zu wahrenden Verfassungsidentität („Ewigkeitsgarantie“) entwickelte das Bundesverfassungsgericht eine besondere Verantwortung namentlich des Bundestages bei der Entwicklung der Europäischen Union: die „Integrationsverantwortung“.151 Daraus folgen für den hier interessierenden Zusammenhang „ungeschriebene“, an Art. 23 Abs. 1 GG angelehnte Gesetzesvorbehalte für das vereinfachte Änderungsverfahren nach Art. 48 Abs. 6 EUV, für das allgemeine Brückenverfahren nach Art. 48 Abs. 7 EUV, für die Flexibilitätsklausel des Art. 352 AEUV sowie für die Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen nach Art. 83 Abs. 1 UAbs. 3 AEUV.152 Auch im Rahmen der speziellen Brückenklauseln153 und des sog. Notbremseverfahrens154 bestehen Zustimmungs- und Weisungsvorbehalte zugunsten des Bundestages.155 Einfachgesetzlich umgesetzt wurde diese Rechtsprechung durch das Integrationsverantwortungsgesetz.156 Diese Gesetzesvorbehalte demonstrieren, dass Mitwirkungsakte der Bundesregierung nicht nur bei strukturellen Änderungen der Europäischen Union auf die Zustimmung der Bundestagsmehrheit angewiesen sind, sondern auch bei sonst „integrations-
BVerfGE 123, 267 (340). BVerfGE 123, 267 (340, 343 f., 347, 350 und 351 ff.). 152 BVerfGE 123, 267 (387, 391, 395, insb. 434 ff.). 153 Siehe hierzu Art. 31 Abs. 3 EUV, Art. 153 Abs. 2 UAbs. 4, Art. 192 Abs. 2 UAbs. 2, Art. 312 Abs. 2 UAbs. 2 sowie Art. 333 Abs. 1 und 2 AEUV. 154 Art. 48 Abs. 2, Art. 82 Abs. 3 und Art. 83 Abs. 3 AEUV. 155 BVerfGE 123, 267 (436). 156 Gesetz über die Wahrnehmung der Integrationsverantwortung des Bundestages und des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union (Integrationsverantwortungsgesetz – IntVG) vom 22.9.2009 (BGBl. I S. 3022) mit spät. Änd. 150 151
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relevanten“ Fragen, insbesondere wenn diese zur Ausweitung der Kompetenzen der Union führen. Anders gewendet: Eine Minderheitsregierung hätte in solchen Situationen nicht die Kraft, eine eigene Politik gegen den Willen des Bundestages durchzusetzen; die Bundesregierung könnte insoweit supra- und international nicht wirksam verpflichtet werden. Das „Primat der Regierung“ gilt in der Europapolitik i. e. S. mithin noch weniger als im allgemeinen Völkerrecht.157 (3) Einsätze der Bundeswehr Kriegserklärungen und der Einsatz der Streitkräfte waren im Konstitutionalismus das Vorrecht des (der) Monarchen, in Diktaturen werden diese Befugnisse von den jeweiligen Usurpatoren ausgeübt.158 Solche monokratischen, volksvertretungsfernen Entscheidungen ebneten Deutschlands Weg in die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts. Die richtige Antwort darauf gibt das Grundgesetz mit einem konstitutiven Parlamentsvorbehalt für den Einsatz deutscher Streitkräfte, dem wehrverfassungsrechtlichen Parlamentsvorbehalt.159 Für den Verteidigungsfall sieht dies Art. 115a Abs. 1 GG ausdrücklich vor, für die übrigen Fälle bewaffneter Einsätze im Ausland hat dies die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts klargestellt. Die Bundeswehr steht zwar nach Art. 65a GG unter der Befehls- und Kommandogewalt des Bundesministers der Verteidigung, im Verteidigungsfall gemäß Art. 115b GG unter der des Bundeskanzlers, ist jedoch davon völlig unberührt eine „Parlamentsarmee“.160 157 Vgl. Armin von Bogdandy, Demokratie, Globalisierung, Zukunft des Völkerrechts – eine Bestandsaufnahme, ZaöRV 2003, S. 853 ff.; Tobias Jaag, Demokratische Legitimation der EU-Außenpolitik nach Lissabon, EuR 2012, S. 309 ff. 158 Vgl. nur Art. 11 Abs. 1 Satz 2 und Art. 63 Abs. 1 RV 1871 (Anm. 57); Art. 47, 48 Abs. 1 und namentlich Art. 45 Abs. 2 WRV (Anm. 20) i. V. m. dem Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich (sog. Ermächtigungsgesetz) vom 24.3.1933 (RGBl. I S. 141). 159 BVerfGE 123, 267 (422 f.). 160 BVerfGE 90, 286 (383 ff.); 108, 34 (42 ff.); 121, 135 (153 ff.); 123 (360 f.); 140, 160 (187 f.); 152, 8 (28) – st. Rspr.
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Einfachgesetzlich konkretisiert wird dies durch das Parlamentsbeteiligungsgesetz vom 18. März 2005.161 Daraus folgt, dass militärische Maßnahmen der Bundesregierung in diesem Sinne grundsätzlich der vorherigen Zustimmung des Bundestages bedürfen. Abgesehen davon darf die Bundesregierung die Streitkräfte im Inland nach Art. 87a Abs. 4 Satz 1 i. V. m. Art. 91 Abs. 2 GG zur Abwehr einer drohenden Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes subsidiär beim Schutz ziviler Objekte oder bei der Bekämpfung organisierter und militärisch bewaffneter Aufständischer einsetzen, desgleichen gemäß Art. 35 Abs. 3 Satz 1 GG zur Unterstützung der Polizei bei überregionalen Katastrophenund Unglücksfällen. All diese Maßnahmen sind jedoch einzustellen, wenn der Bundestag bzw. der Bundesrat es verlangt.162 Dies zeigt deutlich, dass auch militärische (Re-)Aktionen, geschweige denn militärische „Eskapaden“ einer Bundesregierung, erst recht in der Situation einer Minderheitsregierung, ausgeschlossen sind. V. Fazit in Thesenform 1. Das demokratische Prinzip in Verbindung mit dem parlamentarischen Regierungssystem ist auf eine von der Mehrheit des Bundestages getragene Bundesregierung ausgerichtet, fordert sie jedoch nicht. 2. Art. 63 GG als Kernvorschrift zur Regierungsbildung auf Bundesebene lässt in seinem Absatz 4 Satz 3 Fall 1 eine Minderheitsregierung ausdrücklich zu, desgleichen Art. 68 GG, wenn der Bundestag nach einer gescheiterten Vertrauensfrage nicht auflöst wird. Dies verschafft einer Minderheitsregierung dieselbe verfassungsrechtliche Legitimation wie einer „Mehrheitsregierung“. 161 Gesetz über die parlamentarische Beteiligung bei der Entscheidung über den Einsatz bewaffneter Streitkräfte im Ausland (Parlamentsbeteiligungsgesetz – ParlBG) vom 18.3.2005 (BGBl. I S. 775), vgl. auch Weber, Minderheitsregierung (Anm. 6), S. 119 f. 162 Siehe Art. 35 Abs. 3 Satz 2 bzw. Art. 87a Abs. 4 Satz 2 GG.
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3. Eine Minderheitsregierung genießt verfassungsrechtliche Stabilität, solange der Minderheitskanzler nicht „zurücktritt“ oder der Bundestag mit den Stimmen der Mehrheit seiner Mitglieder nach Art. 67 i. V. m. Art. 121 GG einen neuen Kanzler wählt (Ablösung durch konstruktives Misstrauensvotum). 4. Die Handlungsfähigkeit einer Minderheitsregierung endet am Vorbehalt des Gesetzes – es sei denn, es gelingt dem Minderheitskanzler, im Bundestag jeweils Mehrheiten für die legislatorische Abstützung seiner Vorhaben zu organisieren (Art. 77 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. Art. 42 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 1 GG). 5. Im repräsentativ-demokratischen Rechtsstaat bildet das Parlament als vom Volk unmittelbar gewählte Staatsgewalt (Art. 38 GG) das zentrale Legitimationsorgan für die abstraktgenerelle Ausgestaltung und Beschränkung grundrechtlicher Freiheiten, für die Verwirklichung von Rechtsgleichheit, für den Einsatz staatlicher Finanzmittel, für internationale und grundlegende supranationale Verpflichtungen sowie für den Einsatz der Streitkräfte. Mittel dazu sind in erster Linie formelle Gesetze, im Übrigen sonstige Parlamentsbeschlüsse. 6. Die so umrissene grundgesetzliche Ordnung steht einem wirkungsvollen Regieren lediglich mit Rechtsverordnungen oder Verwaltungsvorschriften entgegen. 7. Verweigert die Bundestagsmehrheit einer Minderheitsregierung die Verabschiedung von deren Gesetzesvorlagen, kann dies insbesondere in Krisensituationen bei Anpassungsbedarf von Gesetzen zu spürbaren Nachteilen oder gar zu Gefahren für Gemeinwohl und Gemeinwesen führen. 8. Immerhin ermöglicht es der Gesetzgebungsnotstand nach Maßgabe von Art. 81 GG einer Minderheitsregierung, Gesetze gegen den Willen der Bundestagsmehrheit zu erlassen – dies allerdings nur im Einvernehmen mit dem Bundespräsidenten und dem Bundesrat sowie längstens für den knapp bemessenen Zeitraum von sechs Monaten. 9. Unter Berücksichtigung dieses verfassungsrechtlichen Rahmens bestätigt sich die weiter oben aufgestellte These: Der Erfolg einer Minderheitsregierung hängt vor allem von deren poli-
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Christoph Gröpl
tischem Geschick ab, ihre Gesetzesvorlagen durch den Bundestag beschließen und sich auf diese Weise „dulden“ zu lassen. Soweit sich dieses Geschick nicht nur auf „Hinterzimmer-Diplomatie“ reduziert, bringt das offene Ringen um das Gemeinwohl in Parlamentsdebatten einen demokratischen Vorteil. 10. Auf Dauer werden solche Konstellationen wohl keinen Bestand haben: Sind die politischen Gemeinsamkeiten zu gering, wird die Minderheitsregierung früher oder später an der Bundestagsmehrheit scheitern. Sind die Gemeinsamkeiten größer, steht zu erwarten, dass die Abgeordneten und Fraktionen, die die Minderheitsregierung dulden, in Form einer Mehrheitskoalition an der Regierung beteiligt werden wollen.
Opposition in Zeiten der parlamentarischen Polarisierung Herausforderungen der Oppositionsvielfalt Von Sebastian Kluckert I.
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172
II.
Oppositionsbegriff und Erscheinungsformen von Opposition . . 173
III. Parlamentarische Opposition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Überschneidung von Parlaments- und Oppositionsfunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verfassungsrechtliche Verortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Verfassungsgrundsatz effektiver Opposition . . . . . . . . . . . . . . . 4. Opposition als Parlamentsfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
174 175 176 178 179
IV.
Außerparlamentarische Opposition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180
V.
Parlamentarische Oppositionsvielfalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Begriffsdefinition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verfassungsrechtliche Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Oppositionsvielfalt im Mehrheitswahlsystem? . . . . . . . . . .
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b) Oppositionsvielfalt als Bestandteil verfassungsrechtlich vorausgesetzter Spielregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 3. Oppositionsvielfalt als Problem effektiver Opposition . . . . . . 187 VI. Herausforderungen durch Polarisierung im Parlament . . . . . . . . 1. Sanktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Besetzung von Gremien und Positionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Verfahrensrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Finanzausstattungsreduzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Verzicht auf oppositionelle Aktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Handlungsformenbezogener Verzicht . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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b) Themenbezogener Verzicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 c) Abstimmungsbeschränkungen bei der Ausübung von Minderheitenrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198
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Sebastian Kluckert d) Verzicht auf oppositionelle Aktion in der Krise . . . . . . . . . 199
VII. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200
I. Einleitung In der Bundesrepublik Deutschland ist seit einigen Jahren eine zunehmende Polarisierung der gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzung zu beobachten. Die liberale Demokratie steht unter Druck: einerseits durch Gruppierungen, die der liberalen Demokratie mehr oder weniger offen ablehnend gegenüberstehen oder – völlig unabhängig vom politischen System – als Anhänger von Verschwörungstheorien für das Sachargument überhaupt nicht mehr zu erreichen sind. Andererseits steht die liberale Demokratie auch unter Druck durch Gruppierungen – und von Angehörigen dieser Gruppierungen beeinflusste Institutionen –, die mit viel Moral im Gepäck die soziale Ausbürgerung aller Personen betreiben möchten, die sich nicht innerhalb eines von diesen Gruppierungen definierten politischen Konformitätskorridors bewegen. Die Sektion für Rechts- und Staatswissenschaft der Görres-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaft widmete sich auf ihrer Jahrtagung 2021 in Regensburg den gesellschaftlichen Herausforderungen und institutionellen Konsequenzen, die sich aus der „Polarisierung des Politischen“ ergeben. In einer parlamentarischen Demokratie bildet sich eine spürbare Polarisierung des Politischen früher oder später auch im Parlament ab. Dass hier die Opposition besonders betroffen ist, ergibt sich aus dem Umstand, dass neue radikale oder populistische Kräfte mangels einer Koalitionsaussicht in der Opposition ihr parlamentarisches Betätigungsfeld finden. Polarisierung kann die Oppositionsvielfalt und die Ausübung effektiver Opposition beinträchtigen. Wenn beispielsweise unter dem Einfluss der Polarisierung von Fraktionen auf oppositionelle Aktion im Parlament – etwa auf die Besetzung bestimmter Themen oder auf die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses – verzichtet wird, geht die neue „Vielfalt“ im Parlament paradoxerweise mit einem Verlust an Oppositionsvielfalt einher. Oppositionsvielfalt ist
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aber, wie noch zu zeigen ist, eine Funktionsbedingung der parlamentarischen Demokratie, die der Repräsentation und Integration unterschiedlicher politischer Strömungen und Ansichten dient. Bisher ist Oppositionsvielfalt noch kein geläufiger Begriff in der Rechtswissenschaft. Die Ausführungen beginnen daher mit einer Hinführung, um den Begriff der Oppositionsvielfalt für die Rechtswissenschaft zu erschließen. Anschließend werden die Herausforderungen für die Oppositionsvielfalt und effektive Opposition beleuchtet, die mit der parlamentarischen Polarisierung verbunden sind. II. Oppositionsbegriff und Erscheinungsformen von Opposition Ganz allgemein kann materiell mit dem Begriff der Opposition das Nichttragen bzw. Nichtstützen der Regierung bezeichnet werden.1 Der rein formale Aspekt, dass eine Gruppierung nicht an der Regierung beteiligt ist,2 mag im Ergebnis auch fast immer zur richtigen Zuordnung führen. Diese formale Betrachtungsweise ist aber schon allein mit Blick auf den Fall, dass eine Minderheitsregierung von bestimmten Parlamentsgruppierungen dauerhaft toleriert wird, zu kurz gegriffen. Bei dauerhafter Tole1 David Kuhn, Der Verfassungsgrundsatz effektiver parlamentarischer Opposition, 2019, S. 300 (LS 8). Vgl. Art. 26 Abs. 1 Verf MV: „Die Fraktionen und Mitglieder des Landtages, welche die Regierung nicht stützen, bilden die parlamentarische Opposition.“; ferner Art. 16a Abs. 2 Satz 1 BayVerf; Art. 19 Abs. 2 Satz 1 NdsVerf; Art. 85b Abs. 2 Satz 1 Verf RP; Art. 40 Abs. 2 SächsVerf; Art. 48 Abs. 1 Verf LSA; Art. 18 Abs. 1 Satz 3 Verf SH. Siehe ausf. zu einem materiellen Oppositionsbegriff und einzelnen damit verbundenen Abgrenzungsproblemen Ralf Poscher, Die Opposition als Rechtsbegriff, AöR 122 (1997), S. 444 ff. (460 ff.). 2 Lars Brocker, in: Wolfgang Kahl/Christian Waldhoff/Christian Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 40 Rdnr. 242 (Stand der Kommentierung: September 2019); Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Die Rolle der Opposition in der Demokratie, 2006, Ausarbeitung WD 3-285/06, S. 1. Siehe Poscher, Rechtsbegriff (Anm. 1), S. 459 zu einem formellen Oppositionsbegriff, für den die Anwendungssicherheit spreche.
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rierung wird eine Regierung gestützt, ohne an ihr beteiligt zu sein. Das ist keine Opposition,3 jedenfalls dann nicht, wenn diese Gruppierungen in die Regierungspolitik, bspw. mit Blick auf die Verabschiedung des Haushaltsplans, eingebunden werden. Opposition tritt in verschiedenen Erscheinungsformen auf: Im verfassungsrechtlichen Kontext wird damit regelmäßig verkürzt die parlamentarische Opposition bezeichnet. Daneben gibt es – im gesellschaftlichen Bereich verortet – eine außerparlamentarische Opposition. Des Weiteren kennt das rechtswissenschaftliche Schrifttum auch eine gubernative Opposition, die vom Bundesrat oder von einzelnen Landesregierungen ausgeübt werden kann, und sogar eine administrative Opposition, die von einzelnen Verwaltungsstellen auszugehen vermag.4 Verfehlt wäre es allerdings, jedes politische Kräftespiel, das die Regierung betrifft, mit dem Begriff der Opposition zu etikettieren. Dadurch würde der schon sehr weitläufige Oppositionsbegriff verwässert. III. Parlamentarische Opposition Die wichtigste und wirksamste Erscheinungsform von Opposition in einer parlamentarischen Demokratie ist die parlamentarische Opposition.5 Ist allerdings die Oppositionsvielfalt außerordentlich eingeschränkt, muss dieser Satz nicht unbedingt gelten. Während der ersten großen Koalition von 1966 bis 1969 bestand die parlamentarische Opposition allein aus der FDP, die ca. 10 Prozent der Bundestagsmandate hielt. Es kann hier der politikwissenschaftlichen Betrachtung überlassen werden, der Frage nachzugehen, ob die damalige außerparlamentarische Opposition nicht einen höheren Wirkungsgrad erzielte als die par3 Streitig, vgl. Poscher, Rechtsbegriff (Anm. 1), S. 460 ff.; Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 1984, S. 1038. 4 Albert Ingold, Das Recht der Oppositionen. Verfassungsbegriff – Verfassungsdogmatik – Verfassungstheorie, 2015, S. 613. 5 Kuhn, Verfassungsgrundsatz (Anm. 1), S. 31. Vgl. Stern, Staatsrecht (Anm. 3), S. 1039.
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lamentarische.6 Im Regelfall bleibt es aber dabei, dass die parlamentarische Opposition die wichtigste und wirksamste Erscheinungsform von Opposition ist. Sie steht daher im Mittelpunkt der hier anzustellenden Betrachtung zur Oppositionsvielfalt. 1. Überschneidung von Parlaments- und Oppositionsfunktionen Die Funktionen der parlamentarischen Opposition weisen zumindest strukturelle Parallelen zu einzelnen Teilfunktionen des Parlaments auf, können möglicherweise sogar unmittelbar aus diesen Teilfunktionen abgeleitet werden. Unter anderem gehört die Kontrolle der Regierung und die Repräsentation des Volkes zu den Funktionen des Parlaments.7 Spezielle Oppositionsfunktionen sind Kontrolle, Kritik und Alternativenbildung.8 Kritik und Alternativenbildung sind zum einen bereits Bestandteil und Ergebnis einer Kontrollausübung. Sie führen darüber hinaus auch zur Repräsentation konträrer politische Strömungen und Einzelansichten im Parlament. Mit dieser Seite der Repräsentation geht vom öffentlich bekundeten Dissens eine Integrationskraft aus,9 die zur Gesamtintegrationskraft des Parlaments beiträgt. Fehlende Oppositionsvielfalt kann daher auch ein Repräsentations- und Integrationsdefizit hervorrufen.
6 Vgl. Stern, Staatsrecht (Anm. 3), S. 1041 f. mit der Aussage, dass in dieser Zeit die Oppositionsfunktion beeinträchtigt war, weil die FDPFraktion bestimmte Quoren nicht erreichte, um bestimmte „Minderheitenrechte als ihre Waffe zu nutzen“ (siehe sub V. 3.). 7 Sebastian Kluckert, Das Grabenwahlrecht auf dem Prüfstand der Verfassung, NVwZ 2020, S. 1217 ff. (1218). 8 Poscher, Rechtsbegriff (Anm. 1), S. 465. Vgl. BVerfGE 142, 25 (63 Rdnr. 103); David Kuhn, Die Effektivität parlamentarischer Opposition. Überlegungen de lege lata et ferenda unter besonderer Berücksichtigung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 3. Mai 2016, ZParl 51 (2020), S. 449 ff. (451); Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Rolle der Opposition (Anm. 2), S. 3; vgl. Stern, Staatsrecht (Anm. 3), S. 1044. 9 Brocker, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Anm. 2), Art. 40 Rdnr. 238; Kuhn, Verfassungsgrundsatz (Anm. 1), S. 449.
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2. Verfassungsrechtliche Verortung Anders als die meisten Landesverfassungen kennt der Wortlaut des Grundgesetzes die parlamentarische Opposition nicht. Dennoch ist die Opposition in verschiedenen Verfassungsprinzipien mitgedacht. Dies gilt vornehmlich für das Demokratieprinzip – insbesondere in der besonderen Ausprägung eines Gemeinwesens als repräsentative Demokratie (vgl. Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG).10 Das Verfassungsprinzip Demokratie und das ihm immanente Mehrheitsprinzip setzen auf die Pluralität – und damit auch Gegensätzlichkeit – der politischen Meinungen.11 Die Pluralität der Meinungen ist letztlich Ausdruck der Schöpfungshöhe des Menschen und seines Geistes. Darin spiegelt sich wieder, dass Gott den Menschen nach seinem Abbild erschaffen hat.12 In der demokratischen Pluralitätsbewältigungsregel – dem Mehrheitsprinzip (vgl. Art. 42 Abs. 2 Satz 1 GG)13 – wurzelt die Idee eines Wettbewerbs unterschiedlicher politischer Kräfte,14 der naturgemäß eine Konkurrenz beinhalten muss – ansonsten wäre es kein Wettbewerb. Dementsprechend wird die über das Demokratieprinzip hinausreichende freiheitlich-demokratische Grundordnung des Grundgesetzes als eine Ordnung definiert, in der die Minderheit die reale Möglichkeit besitzt, zur Mehrheit zu werden.15
BVerfGE 70, 324 (363); 142, 25 (55 Rdnr. 86). Vgl. Pascale Cancik, Wirkungsmöglichkeiten parlamentarischer Opposition im Falle einer qualifizierten Großen Koalition, NVwZ 2014, S. 18 ff. (19). 12 Gen 1:27; vgl. Gen 5:1; 2 Kor 3:18; Jak 3:9. 13 Siehe zum Mehrheitsprinzip auch Kluckert, Grabenwahlrecht (Anm. 7), S. 1221. 14 BVerfGE 123, 267 (341 f.); 142, 25 (55 Rdnr. 86). Siehe auch Sebastian Müller-Franken, Demokratie als Wettbewerbsordnung, DVBl. 2019, S. 1072 ff. Vgl. zur Bedeutung der Konkurrenz um die Mehrheit in Demokratietheorien, die auf Pluralität setzen und nicht von einem einheitlichen, identitären Volkswillen ausgehen: Poscher, Rechtsbegriff (Anm. 1), S. 446 ff. 10 11
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Auf der Mikroebene leitet sich der verfassungsrechtliche Schutz der parlamentarischen Opposition aus dem freien Mandat des Abgeordneten (Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG) ab.16 Dem an Aufträge und Weisungen nicht gebundenen, nur seinem Gewissen unterworfenen Abgeordneten wird als Volksvertreter die volle individuelle Handlungsfreiheit gewährleistet – auch gegenüber seiner Partei und Fraktion.17 Diese Handlungsfreiheit umfasst das Opponieren.18 Opposition kann daher auch durch einzelne Abgeordnete ausgeübt werden,19 und zwar insbesondere über parlamentarische Informationsrechte, persönliche Stellungnahmen und Debattenbeiträge. Schließlich findet die Opposition ihren verfassungsrechtlichen Widerhall auch im Gewaltenteilungsgrundsatz,20 der selbst wiederum dem Rechtsstaatsprinzip zuzuordnen ist und neben der Gliederung der Staatsgewalt in gesetzgebende, vollziehende und rechtsprechende Gewalt auch die parlamentarische Kontrolle von Regierung und Verwaltung umfasst. Wird die Wahl der Regierung dem Parlament überlassen, verläuft die Trennlinie der Gewalten in der Realität allerdings nicht primär zwischen Parlament und Regierung. Sie verläuft vielmehr zwischen der Regierung und den sie tragenden Parlamentskräften einerseits und der parlamentarischen Opposition andererseits. Dieser von der ursprünglichen konstitutionellen Trennlinie21 zwischen Standesvertretung und vom Monarchen eingesetzter Regierung abwei15 BVerfGE 5, 85 (198 f.); 44, 125 (145); 138, 102 (109 f. Rdnr. 28); 144, 20 (196 Rdnr. 517); vgl. BVerfGE 123, 267 (367). 16 BVerfGE 142, 25 (57 Rdnr. 89); Ingold, Oppositionen (Anm. 4), S. 610. 17 Vgl. Hans-Heinrich Trute, in: Ingo von Münch/Philip Kunig (Hrsg.), Grundgesetz – Kommentar, Bd. 1, 7. Aufl. 2021, Art. 38 Rdnr. 118 ff. 18 BVerfGE 142, 25 (57 Rdnr. 89). 19 Vgl. die ausdrücklichen Erwähnungen von Oppositionsarbeit durch einzelne „Mitglieder des Landtages“ in Art. 16a Abs. 2 Satz 1 BayVerf; Art. 26 Abs. 1 Verf MV; Art. 19 Abs. 2 Satz 1 NdsVerf; Art. 85b Abs. 2 Satz 1 Verf RP; Art. 48 Abs. 1 Verf LSA. 20 BVerfGE 142, 25 (56 Rdnr. 87). 21 Vgl. Ingold, Oppositionen (Anm. 4), S. 14 ff.; Poscher, Rechtsbegriff (Anm. 1), S. 445.
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chende Gegensatz wird als „neuer Dualismus“ bezeichnet.22 Der neue Dualismus wird vom Bundesverfassungsgericht ausdrücklich anerkannt, wenn es bemerkt, dass die „Kontrolle der Regierung nicht nur dem Parlament als Ganzem [obliegt], sondern insbesondere und gerade auch den Abgeordneten und Fraktionen, die nicht die Regierung tragen“.23 Die Sicherung der Gewaltenteilung einschließlich der Ausübung der darin angelegten Parlamentsfunktionen (insb. Kontrollfunktion) erfordert demnach verfassungsrechtliche Anerkennung und Schutz für die parlamentarische Opposition. 3. Verfassungsgrundsatz effektiver Opposition Die aus den genannten Verfassungsprinzipien und -grundsätzen abzuleitende verfassungsrechtliche Anerkennung der Opposition beschränkt sich nicht auf das „Ob“ von Opposition. Eine solche Beschränkung hätte man möglicherweise noch in der bisher geläufigen Formulierung „Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition“ 24 erkennen können.
22 Ingold, Oppositionen (Anm. 4), S. 28 ff.; Stephan Klenner, Verfassungswidriger Oppositionszuschlag auf Bundesebene, DÖV 2018, S. 563 ff. (567); Poscher, Rechtsbegriff (Anm. 1), S. 453 f., 455 mit dem Hinweis, dass im neuen Dualismus „ein funktionales Äquivalent für die klassische Gewaltenteilung zwischen Exekutive und Legislative gesehen“ wird und sich alter und neuer Dualismus in der Verfassungspraxis überlagern. 23 BVerfGE 142, 25 (56 Rdnr. 87). Siehe bereits BVerfGE 49, 70 (85 f.): „Das ursprüngliche Spannungsverhältnis zwischen Parlament und Regierung, wie es in der konstitutionellen Monarchie bestand, hat sich in der parlamentarischen Demokratie, deren Parlamentsmehrheit regelmäßig die Regierung trägt, gewandelt. Es wird nun vornehmlich geprägt durch das politische Spannungsverhältnis zwischen der Regierung und den sie tragenden Parlamentsfraktionen einerseits und der Opposition andererseits. Im parlamentarischen Regierungssystem überwacht daher in erster Linie nicht die Mehrheit die Regierung, sondern diese Aufgabe wird vorwiegend von der Opposition – und damit in der Regel von einer Minderheit – wahrgenommen.“ 24 BVerfGE 2, 1 (13); 5, 85 (140, 224); 44, 308 (321); 144, 20 (203 f. Rdnr. 531).
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In seinem grundlegenden Urteil vom 3.5.2016 hat das Bundesverfassungsgericht im Grundgesetz einen allgemeinen Verfassungsgrundsatz effektiver Opposition erkannt. Die parlamentarische Opposition „darf bei der Ausübung ihrer Kontrollbefugnisse nicht auf das Wohlwollen der Parlamentsmehrheit angewiesen sein. Denn die Kontrollbefugnisse sind der parlamentarischen Opposition nicht nur in ihrem eigenen Interesse, sondern in erster Linie im Interesse des demokratischen, gewaltengegliederten Staates – nämlich zur öffentlichen Kontrolle der von der Mehrheit gestützten Regierung und ihrer Exekutivorgane – in die Hand gegeben“.25 Die praktische Bedeutung des Verfassungsgrundsatzes bleibt aber begrenzt, denn das Bundesverfassungsgericht betonte zugleich, dass das Grundgesetz weder explizit spezifische Oppositions(fraktions)rechte begründe, noch sich ein Gebot der Schaffung solcher Rechte aus dem Grundgesetz ableiten ließe.26 Der Verfassungsgrundsatz effektiver Opposition wirkt danach vor allem als Maxime für die Auslegung von Normen der Verfassung, des einfachen Rechts und der Geschäftsordnung des Bundestages, die auf Wirksamkeit hin ausgelegt werden müssen. Allerdings trifft der Verfassungsgrundsatz effektiver Opposition auf gegenläufige Prinzipien – wie das Mehrheitsprinzip, die Abgeordneten- und Fraktionsgleichheit sowie die Funktionsfähigkeit von Regierung und Parlament –,27 sodass es sich hierbei insgesamt wohl um ein Optimierungsgebot handelt. 4. Opposition als Parlamentsfunktion Der Wunsch, prägnant zu formulieren, führt regelmäßig dazu, von der Opposition zu sprechen. Allerdings ist die parlamentarische Opposition keine organisatorisch-institutionelle Einheit. Gegenteiliges könnte man jedoch vermuten, wenn man einige BVerfGE 142, 25 (57 f. Rdnr. 90). BVerfGE 142, 25 (58 ff. Rdnr. 91 ff., 60 ff. Rdnr. 95 ff.). Kritisch Pascale Cancik, „Effektive Opposition“ im Parlament – eine ausgefallene Debatte?, ZParl 48 (2017), S. 515 ff. (527 ff.). 27 Vgl. Kuhn, Verfassungsgrundsatz (Anm. 1), S. 146 ff. 25 26
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Landesverfassungen liest, die ausdrücklich die Opposition erwähnen.28 So heißt es in Art. 24 Abs. 1 der Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg: „Die Opposition ist wesentlicher Bestandteil der parlamentarischen Demokratie“. Die Verfassung von Schleswig-Holstein vergibt in ihrem Art. 18 Abs. 2 Satz 1 sogar an den Vorsitzenden der stärksten die Regierung nicht tragenden Fraktion den Titel des „Oppositionsführers“, was zwangsläufig die Vorstellung erweckt, die Opposition wäre eine Formation, die man geschlossen in die Schlacht führen könnte. Parlamentarische Opposition ist aber keine organisatorisch zu bestimmende Institution oder Einheit, sondern eine Funktion, und zwar eine Parlamentsfunktion.29 Diese Parlamentsfunktion ist verhaltensbezogen.30 Für die Ausübung von Opposition kommen vielfältige Verhaltensweisen in Betracht. Diese Vielfalt in der Funktionserfüllung ist zugleich die Grundlage der hier näher zu betrachtenden Oppositionsvielfalt, die durch eine Polarisierung des Politischen bedroht ist. IV. Außerparlamentarische Opposition Der außerparlamentarischen Opposition gilt ein kurzer Seitenblick. Sie hat mit der parlamentarischen Opposition die Gemeinsamkeit, der Regierung insgesamt oder einzelnen von der Regierung verfolgten Projekten ablehnend gegenüberzustehen. Diese Erscheinungsform von Opposition ist schwer zu fassen und kann erst recht keine organisatorische Einheit darstellen. Poscher, Rechtsbegriff (Anm. 1), S. 458 f. Horst Dreier, in: Ders. (Hrsg.), Grundgesetz – Kommentar, Bd. II, 3. Aufl. 2015, Art. 20 (Demokratie) Rdnr. 75; Cancik, „Effektive Opposition“ (Anm. 26), S. 523 f.; Albert Ingold, Oppositionsrechte stärken?, ZRP 2016, S. 143 ff. (144); Jens Kersten, Parlamentarisches Regierungssystem, in: Matthias Herdegen/Johannes Masing/Ralf Poscher/Klaus Ferdinand Gärditz (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 2021, § 11 Rdnr. 28; Stern, Staatsrecht (Anm. 3), S. 1038. 30 Vgl. BVerfGE 142, 25 (62 Rdnr. 102) unter Berufung auf Ingold, Oppositionen (Anm. 4), S. 434 – „verhaltensbezogen-prozedurale Oppositionsmöglichkeit“, vgl. auch S. 612 – „funktional-verhaltensbezogen“. 28 29
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Nichtsdestotrotz setzt außerparlamentarische Opposition einen gewissen Organisationsgrad voraus, um politisch relevant zu werden. Jüngste Beispiele sind Pegida, Fridays for Future und die Querdenker-Bewegung. Im Internetzeitalter kann allerdings der Organisationsgrad auch durch eine anderweitige soziale Wirkmächtigkeit ersetzt werden – beispielsweise durch soziale Reichweite in Form von Followern, wie das Phänomen Rezo zeigt. Verfassungsrechtlichen Schutz erfahren Aktivitäten außerparlamentarischer Opposition durch die Grundrechte der Meinungs(Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG), Versammlungs- (Art. 8 Abs. 1 GG), Vereinigungs- (Art. 9 Abs. 1 GG) und Pressefreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG), ferner durch die Parteienfreiheit (Art. 20 Abs. 1 Satz 2 GG) und das Demokratieprinzip, das den Prozess der Willensbildung im Staat grundsätzlich „von unten nach oben“, d.h. vom Volk zu den Staatsorganen organisiert.31 Die Bildung einer außerparlamentarischen Opposition wird wahrscheinlich, wenn im Parlament eine zu geringe Oppositionsvielfalt besteht.32 Zwischen parlamentarischer und außerparlamentarischer Oppositionsvielfalt besteht ein reziproker Zusammenhang: – Während der ersten großen Koalition zwischen 1966 und 1969 – mit der FDP als alleiniger Parlamentsopposition – entsteht eine außerparlamentarische Bewegung, die mit dem Begriff „68’er“ ihre Kurzbezeichnung erhalten hat. – Die Flüchtlingspolitik um das Jahr 2015 lässt – wiederum während einer großen Koalition, wobei hier die Opposition nur aus linken Kräften bestand, die die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung im Wesentlichen begrüßten – die PegidaBewegung entstehen und mit der AfD eine bis dahin noch nicht im Bundestag vertretene Partei erstarken. 31 BVerfGE 44, 125 (140 f.); 107, 339 (361); 123, 39 (68 f.); 131, 316 (335). 32 Vgl. Ulrich Becker/Jens Kersten, Demokratie als optimistische Staatsform – Zehn Fragen zur Flüchtlingskrise, NVwZ 2016, S. 580 ff. (584).
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– Auch das Entstehen der Querdenker-Bewegung als Antwort auf die Corona-Politik dürfte auf eine als unzureichend empfundene parlamentarische Vertretung der betreffenden Anliegen zurückzuführen sein. Jedenfalls fehlte dem durch AfD und etwas später durch die FDP öffentlich und parlamentarisch bekundeten Dissens für die betreffenden Bevölkerungsschichten die erforderliche Integrationskraft,33 um die Entstehung einer außerparlamentarischen Opposition zu verhindern. V. Parlamentarische Oppositionsvielfalt Nun ist bereits öfter der Begriff der Oppositionsvielfalt angeklungen, der im Folgenden näher untersucht und verfassungsrechtlich eingeordnet werden soll. Ein Aspekt dieser bestehenden oder fehlenden Vielfalt betrifft die oben beschriebene Wechselwirkung von parlamentarischer und außerparlamentarischer Opposition.34 Ein anderer Aspekt ist die Frage, welches Ausmaß an Vielfalt innerhalb der parlamentarischen Opposition zu beobachten ist. Letztlich ist es auch diese zweite Frage, deren Antwort den reziproken Zusammenhang von parlamentarischer und außerparlamentarischer Opposition bestimmt, denn die Formierung außerparlamentarischer Opposition(en) wird umso wahrscheinlicher, je geringer die Oppositionsvielfalt im Parlament ist. Daher – und mit Blick auf ihre Bedeutung in einer parlamentarischen Demokratie35 – steht die parlamentarische Oppositionsvielfalt im Mittelpunkt der nachfolgenden Betrachtungen. Die Polarisierung des Politischen stellt die parlamentarische Oppositionsvielfalt vor besondere Herausforderungen. 1. Begriffsdefinition Oppositionsvielfalt ist – soweit ersichtlich – bisher kein Gegenstand rechtswissenschaftlicher Betrachtungen gewesen. Par33 Vgl. oben sub III. 1. sowie Brocker, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Anm. 2), Art. 40 Rdnr. 238; Kuhn, Verfassungsgrundsatz (Anm. 1), S. 449. 34 Siehe oben sub IV. 35 Siehe oben sub III.
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lamentarische Oppositionsvielfalt lässt sich definieren als ein Zustand, der zwei Bedingungen erfüllt. Erstens: Es sind alle wesentlichen politischen Strömungen mit einer Fraktion oder Gruppe (vgl. § 10 Abs. 4 GOBT) im Parlament vertreten. Zweitens: Pro und Contra finden bei einzelnen kontroversen Grundentscheidungen des Zusammenlebens im Parlament ihre angemessene Abbildung, und zwar in der Weise, dass der oppositionelle Standpunkt bei strömungszentralen Sachfragen bzw. kontroversen Grundentscheidungen des Zusammenlebens auch tatsächlich vertreten wird. 2. Verfassungsrechtliche Bedeutung Zu hinterfragen ist, ob und ggf. als was (z. B. Postulat, Gebot, Prinzip, Grundsatz etc.) sich Oppositionsvielfalt verfassungsrechtlich überhaupt herleiten lässt. a) Oppositionsvielfalt im Mehrheitswahlsystem? Mit einer Kontrollüberlegung zum Wahlrecht könnte bereits die Frage nach einer verfassungsrechtlichen Verortung der Oppositionsvielfalt kurzerhand zu verneinen sein. Nach herrschender Ansicht ist auch die Etablierung eines Mehrheitswahlrechts eine verfassungsrechtlich zulässige Alternative zu dem auf Bundesebene bestehenden Wahlsystem der (personalisierten) Verhältniswahl.36 Das Mehrheitswahlrecht hat regelmäßig ein 36 Vgl. nur BVerfGE 95, 335 (349); 121, 266 (298); Christoph Degenhart, Staatsrecht I: Staatsorganisationsrecht, 37. Aufl. 2021, Rdnr. 80. Kritisch bzw. ablehnend zum Mehrheitswahlsystem: Rainer Bakker, Verfassungswidrigkeit des Mehrheitswahlrechts, ZRP 1994, S. 457 ff.; Hans Meyer, Demokratische Wahl und Wahlsystem, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), HStR III, 3. Aufl. 2005, § 45 Rdnr. 31 ff.; Martin Morlok, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz – Kommentar, Bd. II, 3. Aufl. 2015, Art. 38 Rdnr. 106; Martin Morlok/Lothar Michael, Staatsorganisationsrecht, 5. Aufl. 2021, Rdnr. 208 f. Vgl. ferner Peter Badura, in: Wolfgang Kahl/Christian Waldhoff/Christian Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Anh. z. Art. 38: BWahlG Rdnr. 50 (Stand der Kommentierung: Oktober 2018), der strenge tatsächliche Voraussetzungen für die Einführung eines Mehrheitswahlrechts benennt.
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Zwei-Parteien-System zur Folge. In einem solchen System würde folglich die parlamentarische Opposition aus einer einzigen Fraktion bestehen. Daraus könnte man schließen, dass das Grundgesetz doch dann auch keine Vielfalt der Opposition anstreben oder voraussetzen könne. Eine solche Antwort würde jedoch Folgendes übersehen. Bestandteil der mit dem Mehrheitswahlsystem verbundenen Annahmen ist vielmehr die Herausbildung von zwei großen, verschiedene politische Strömungen aufnehmenden Blöcken.37 Wie in anderen Ländern würde bei einem Mehrheitswahlrecht das Spektrum der einen großen Partei vom Sozialliberalismus bis zum Linkspopulismus reichen, das Spektrum der anderen großen Partei vom Wirtschaftsliberalismus bis zum Rechtspopulismus. Folglich wären vielfältige gesellschaftlich relevante politische Strömungen mit und in nur zwei Parteien vertreten.38 Oppositionsvielfalt würde sich daher innerhalb der jeweiligen Oppositionspartei bzw. Oppositionsfraktion verwirklichen (können). b) Oppositionsvielfalt als Bestandteil verfassungsrechtlich vorausgesetzter Spielregeln Oppositionsvielfalt ist eine Funktionsbedingung der parlamentarischen Demokratie, ohne dabei selbst zu einem verfassungsrechtlichen Gebot, Postulat, Grundsatz oder Prinzip zu erstarken. Sie ist Bestandteil eines das freiheitlich demokratische Staatswesen der Bundesrepublik Deutschland ausgestaltenden Systems rechtlich gesetzter und vorausgesetzter Spielregeln in Gestalt einer vorausgesetzten Spielregel.39 So lebt bekanntlich
Kluckert, Grabenwahlrecht (Anm. 7), S. 1221. Kluckert, Grabenwahlrecht (Anm. 7), S. 1221. Vgl. Badura, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Anm. 36), Anh. z. Art. 38: BWahlG Rdnr. 50. 39 Vgl. BVerfGE 5, 85 (199): Dass die freiheitlich demokratische Grundordnung funktionieren kann, „wird durch ein System rechtlich gesetzter oder vorausgesetzter Spielregeln sichergestellt, die sich [. . .] in einer langen historischen Entwicklung ergeben haben“. 37 38
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der freiheitlich demokratische Staat von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.40 Im demokratischen Staatswesen muss unter jedem geltenden Wahlsystem auch das für die Funktion des Parlaments als Volksvertretung erforderliche Ziel der Repräsentation in einem vertretbaren Maße erreicht werden.41 Parlamentarische Oppositionsvielfalt wird benötigt, um eine ausreichende Repräsentationsleistung und Integrationskraft im System der repräsentativen Demokratie zu erzeugen.42 Die Wahl wird regelmäßig nur dann zu dem angestrebten Integrationsakt43, wenn sie in ausreichendem Maße Oppositionsvielfalt erzeugt. Relevante minoritäre Meinungen müssen für die Öffentlichkeit wahrnehmbar im Parlament hinreichend zum Ausdruck kommen.44 Das Ausmaß benötigter Vielfalt ist abhängig vom Wählerbindungsgrad der im Parlament als Fraktion oder Gruppe vertretenen Parteien. Lässt der Bindungsgrad nach, kann bzw. wird daraus früher oder später eine breitere Parteienlandschaft und ggf. Oppositionslandschaft folgen.
40 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: Ders., Staat, Gesellschaft, Freiheit. Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht, 1976, S. 42 ff. (60). 41 Hans H. Klein/Kyrill-Alexander Schwarz, in: Günter Dürig/Roman Herzog/Rupert Scholz, Grundgesetz-Kommentar, Art. 38 Rdnr. 182 (Stand der Kommentierung: Januar 2021). 42 Vgl. auch BVerfGE 44, 125 (140) – Hervorhebungen durch Verf.: „Die Regierung und die sie tragenden politischen Kräfte im Parlament ebenso wie die Opposition werden bei ihrem Verhalten stets auch den Wähler im Blick haben. Dies alles ist Teil des politischen Prozesses einer freiheitlichen Demokratie, wie das Grundgesetz ihn versteht.“ 43 BVerfGE 95, 408 (418); 157, 300 (315 Rdnr. 38, 316 Rdnr. 40) – „Integrationsvorgang“; Markus Kotzur, Freiheit und Gleichheit der Wahl, in: Hans-Jürgen Papier/Detlef Merten (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. V, 2013, § 120 Rdnr. 11. 44 Kuhn, Effektivität (Anm. 8), S. 457 f. Vgl. Michael Lysander Fremuth, Demokratie à rebours? – Zur Einführung einer unionsrechtlichen Mindestsperrklausel für die Wahl des Europäischen Parlaments, ZRP 2018, S. 207 ff. (208).
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Oppositionsvielfalt sichert damit zugleich die Akzeptanz des Mehrheitsprinzips als parlamentarische Entscheidungsregel. Das Mehrheitsprinzip ist kein selbsttragendes Prinzip. Es „bedarf vielmehr gewisser Voraussetzungen dafür, daß [es] als legitimes Entscheidungsverfahren Anerkennung auch bei der jeweiligen Minderheit findet“.45 Dauerhaft fehlende Repräsentation eigener Grundüberzeugungen im Parlament verringert die Akzeptanz von Parlamentsentscheidungen, in denen sich das Gemeinwohl in Gestalt der gegenwärtig maßgeblichen Abwägung aller betroffenen privaten und öffentlichen Interessen widerspiegeln sollte. Ferner dient Oppositionsvielfalt der Absicherung der Kontrollfunktion des Parlaments. Die Kontrolle der Exekutive durch das Parlament, der im Rahmen der Gewaltenteilung besonderes Gewicht zukommt, ist „nur gewährleistet, wenn zwischen Parlament und Regierung ein politisches Spannungsverhältnis besteht“.46 Da es zwischen einzelnen Oppositionsfraktionen und der Koalition/Regierung hin und wieder Übereinstimmung in bestimmten Sachfragen gibt, kann Oppositionsvielfalt erreichen, dass das bedeutsame Spannungsverhältnis fortwährend aufrechterhalten bleibt, mithin keine Bereiche des Regierungshandelns vom kontrollierenden Parlament unbeleuchtet bleiben. Schließlich funktioniert die in Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG angelegte Mittlerrolle der politischen Parteien bei fehlender Oppositionsvielfalt nur eingeschränkt: Die politischen Parteien „sind Zwischenglieder zwischen dem Bürger und den Staatsorganen, Mittler, durch die der Wille der Bürger auch zwischen den Wahlgängen verwirklicht werden kann“.47 Sie „sammeln die auf [. . .] politische Macht und ihre Ausübung gerichteten Meinun45 Dreier, in: Ders. (Anm. 29), Art. 20 (Demokratie) Rdnr. 70 – Hervorhebung weggelassen. Vgl. auch Kluckert, Grabenwahlrecht (Anm. 7), S. 1221 zu der Voraussetzung, dass Mehrheiten im Parlament grundsätzlich auch Mehrheiten in der Wählerschaft spiegeln müssen, damit die Bereitschaft der Minderheit erwartet werden kann, sich den von der Mehrheit getroffenen Entscheidungen zu unterwerfen. 46 BVerfGE 49, 70 (85). 47 BVerfGE 44, 125 (145); 60, 53 (66).
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gen, Interessen und Bestrebungen [. . .] und versuchen, ihnen auch im Bereich der staatlichen Willensbildung Geltung zu verschaffen“.48 Die politischen Parteien „beeinflussen die Bildung des Staatswillens, indem sie in das System der staatlichen Institutionen und Ämter hineinwirken, und zwar insbesondere durch Einflußnahme auf die Beschlüsse und Maßnahmen von Parlament und Regierung“.49 In diese Mittlerrolle bezieht das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich auch die Oppositionsparteien ein.50 Nun wäre es aber blauäugig zu glauben, dass jede Partei jede relevante Meinung gleichermaßen „nach oben“ transportieren oder zu jeder relevanten Wählergruppe gleichermaßen eine Rückkoppelung herstellen würde. Fehlende Oppositionsvielfalt kann daher zur partiellen Dysfunktionalität der im Grundgesetz angelegten Parteiendemokratie führen. 3. Oppositionsvielfalt als Problem effektiver Opposition Wenn dieser Beitrag in seiner Überschrift nach den „Herausforderungen der Oppositionsvielfalt“ fragt, so ist die Oppositionsvielfalt danach positiv konnotiert. Mit Blick auf die Polarisierung des Politischen und die in Gang gesetzte Veränderung der deutschen Parteienlandschaft wird Oppositionsvielfalt in der rechtswissenschaftlichen Literatur jedoch vielfach als Problem dargestellt. Es wird dann darauf aufmerksam gemacht, dass Oppositionsvielfalt die Effektivität der Opposition zu reduzieren vermag.51 Fragmentierung und Zersplitterung sind diejenigen Stichworte, mit denen diese negative Seite der Oppositionsvielfalt apostrophiert wird.
BVerfGE 20, 56 (101). BVerfGE 20, 56 (101). 50 Vgl. BVerfGE 44, 125 (145); 60, 53 (66 f.). 51 Vgl. Cancik, „Effektive Opposition“ (Anm. 26), S. 517, 520 f.; Kersten, Parlamentarisches Regierungssystem (Anm. 29), Rdnr. 63; KyrillAlexander Schwarz, Unkontrollierbare Regierung – Die Rechte der Opposition bei der Bildung einer Großen Koalition im Deutschen Bundestag, ZRP 2013, S. 226 ff. (228). 48 49
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Einige bedeutsame Druck- und Kontrollrechte des Parlaments sind als Minderheitenrechte ausgestaltet. Sie können bereits, aber auch nur bei einem Quorum von einem Viertel oder einem Drittel ausgeübt werden. Eine solche Ausgestaltung wird bei bestimmten Rechten für erforderlich gehalten, weil im neuen Dualismus die Parlamentsmehrheit regelmäßig keine öffentlichkeitswirksame Kontrolle der Regierung ausübt.52 Zu den Minderheitenrechten gehören die Subsidiaritätsklage zum EuGH (Art. 23 Abs. 1a Satz 2 GG), die Einberufung des Bundestages (Art. 39 Abs. 3 Satz 3 GG), die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses (Art. 44 Abs. 1 Satz 1, Art. 45a Abs. 2 Satz 2 GG), die Einleitung eines abstrakten Normenkontrollverfahrens beim Bundesverfassungsgericht (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG) und – auf Geschäftsordnungsebene – die Einsetzung einer Enquete-Kommission (§ 56 Abs. 1 Satz 2 GOBT) sowie die Durchführung einer öffentlichen Ausschussanhörung (§ 70 Abs. 1 Satz 2 GOBT). Prozessual wird der Schutz dieser vornehmlich oppositionellen Minderheitenrechte im Organstreitverfahren (Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, § 13 Nr. 5, §§ 63 ff. BVerfGG) abgebildet, wo beispielsweise die zur Einsetzung eines Untersuchungsausschusses berechtigte Minderheit oder eine die Einsetzungsminderheit im Untersuchungsausschuss repräsentierende Anzahl von Angeordneten als ein zur Prozessstandschaft berechtigter Organteil (vgl. § 64 Abs. 1 BVerfGG) angesehen wird53 und beide befugt sind, neben den eigenen Minderheitenrechten54 im Organstreitverfahren auch die von Minderheiten durchsetzbaren Untersuchungsrechte des Bundestages, insbesondere das Beweiserhebungsrecht, geltend zu machen.55 Fragmentierung und Zersplitterung führen dazu, dass mitunter keine Oppositionsfraktion allein die zur Erreichung des 52 Vgl. BVerfGE 142, 20 (57 f. Rdnr. 90); Poscher, Rechtsbegriff (Anm. 1), S. 454. 53 BVerfGE 124, 78 (106 f.); Frank Schorkopf, in: Christian Burkiczak/ Franz Wilhelm Dollinger/ders. (Hrsg.), Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 2. Aufl. 2021, § 63 Rdnr. 36. 54 Vgl. BVerfGE 143, 101 (124 f. Rdnr. 76 f.). 55 BVerfGE 105, 197 (220 f.); 124, 78 (106 f.).
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Quorums erforderliche Stärke aufweist. Oppositionsvielfalt führt dann dazu, dass eine Kooperation bei der Ausübung der genannten Druck- und Kontrollrechte unbedingt erforderlich wird. So hat das Bundesverfassungsgericht bereits in früheren Zeiten einer schlankeren, durch die Existenz von zwei größeren „Volksparteien“ geprägten Parteienlandschaft – u. a. mit Blick auf den neuen Dualismus56 – ausgesprochen, das moderne Parlament müsse „Strategien des arbeitsteiligen Zusammenwirkens und der Koordination der politischen Willensbildung entwickeln, will es seine Arbeitsfähigkeit nicht einbüßen“.57 Zu einem Problem der effektiven Opposition kann diese Kooperationsnotwendigkeit dann werden, wenn Oppositionsfraktionen untereinander nicht kooperationsbereit sind. In einer solchen Situation besteht das Risiko, dass bedeutsame Teilaspekte der parlamentarischen Kontrollfunktion und speziell der Oppositionsfunktion dauerhaft ausfallen.58 Neben einem fehlenden gemeinsamen politischen Interesse von Oppositionsfraktionen an einem bestimmten Thema kann die fehlende Bereitschaft, in der Opposition zusammenzuarbeiten, ihren Grund auch in der Polarisierung des Politischen finden. Ein solcher Kooperationsausschluss trägt zugleich zur weiteren Polarisierung bei, weil er nach außen deutlich macht, dass der Ausschließende den Ausgeschlossenen als „Schmuddelkind“ betrachtet, mit dem er nichts zu tun haben möchte. Nebenbei bemerkt findet hier ein Problem sein Spiegelbild im Bereich der Opposition, das ansonsten im Zusammenhang mit dem Wahlrecht hinsichtlich der Regierung bzw. Koalition beschrieben wird. Die Fünf-Prozent-Hürde wird unter dem Gesichtspunkt gerechtfertigt, dass Fragmentierung und Zersplitterung die Regierungsbildung im Parlament und die Kompromissfindung in einer Regierungskoalition erschweren.59 Die Proble-
Vgl. zum neuen Dualismus bereits oben sub III. 2. BVerfGE 102, 224 (236). 58 Cancik, „Effektive Opposition“ (Anm. 26), S. 520 f. 59 Vgl. BVerfGE 82, 322 (388); 95, 408 (418); 129, 300 (320 f.); Christoph Gröpl, Staatsrecht I – Staatsgrundlagen, Staatsorganisation, Verfas56 57
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me der Oppositionsvielfalt liegen dennoch etwas anders, da die Aktionen der Opposition – im Gegensatz zu denen einer Koalition – nicht vom Mehrheitsprinzip60 kanalisiert werden.61 VI. Herausforderungen durch Polarisierung im Parlament In der Bundesrepublik Deutschland ist seit einigen Jahren eine zunehmende Polarisierung der gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzung zu beobachten. Arnd Uhle und Matthias Friehe schreiben in ihrer Einladung zur Jahrestagung 2021 der Sektion für Rechts- und Staatswissenschaft der GörresGesellschaft zur Pflege der Wissenschaft, dass die Politik der Mitte sich enormen gesellschaftlichen Fliehkräften ausgesetzt sieht. So war möglicherweise das Interesse an dieser Tagung nicht allein rein wissenschaftlicher Natur, sondern auch Ausdruck der Sorge um unser Gemeinwesen. Die Polarisierung hinterlässt ihre Spuren auch im Parlamentsbetrieb. Sie kann die Oppositionsvielfalt und die Ausübung effektiver Opposition beinträchtigen. Wenn aber eine Parlamentsfunktion nicht ordnungsgemäß erfüllt wird, nimmt der Parlamentarismus insgesamt Schaden. Am Beispiel radikaler oder populistischer Oppositionskräfte statuierte Exempel färben fast zwangsläufig negativ auf die gesamte Opposition ab. Im Einzelnen können folgende Herausforderungen identifiziert werden: 1. Sanktionen Die Polarisierung im Parlament führt dazu, dass von Sanktionsinstrumenten verstärkt Gebrauch gemacht wird.62 Ordsungsprozess, 13. Aufl. 2021, Rdnr. 963; Morlok/Michael, Staatsorganisationsrecht (Anm. 36), Rdnr. 207. 60 Vgl. zum Mehrheitsprinzip bereits oben sub III. 2. 61 Vgl. dazu auch unten sub VI. 5. c). 62 Vgl. Deutscher Bundestag, Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages, Kap. 7.16 (Ordnungsmaßnahmen), S. 2 (Stand: 27.9.2021), wonach in der 19. Wahlperiode (2017–2021) mit 47 Ordnungsrufen mehr Ordnungsrufe erteilt wurden als in den vorangegange-
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nungsruf (§ 36 GOBT), Ordnungsgeld (§ 44e Abs. 1 Satz 1, 2, Abs. 2 AbgG, § 37 GOBT) und Sitzungsausschluss bis zu 30 Sitzungstagen63 (§ 44e Abs. 1 Satz 3 AbgG, § 38 GOBT) sind im Abgeordnetengesetz bzw. in der Geschäftsordnung des Bundestages vorgesehene Instrumente. Zudem wurde in der 19. Wahlperiode mit der Abwahl eines Ausschussvorsitzenden eine Sanktion implementiert, die in der Geschäftsordnung des Bundestages gar nicht vorgesehen ist.64 Eine solche Abwahl wurde bis dahin entweder als unzulässig angesehen oder zumindest für ein Tabu gehalten.65 Das verstärkte Gebrauchmachen von Sanktionen ist mit der Gefahr verbunden, dass die Verhängung von Sanktionen gegenüber Abgeordneten zunehmend als ein normaler Vorgang empfunden wird. Wenngleich zunächst wenige von der Sanktionspraxis tatsächlich betroffen sind, so ist der Boden für eine kontinuierliche Ausdehnung bereitet. Über Sanktionen, deren Ausspruch gar nicht mehr ungewöhnlich erscheint, gewinnt die Parlamentsmehrheit Kontrolle über Oppositionsfraktionen. Denn eine Sanktionspraxis kann nicht gegen die Mehrheit im Parlament etabliert werden. Dies gilt sowohl für Ordnungsmaßnahmen – über die das Plenum nach einem Einspruch des betroffenen Abgeordneten abzustimmen hat (§ 39 GOBT) – als auch für die Abwahl – die naturgemäß eine einfache oder qualifizierte Mehrheit erfordert. Mit diesem Bezug zwischen Sanktion und Mehrheit schützte der Umstand, dass die Abwahl eines Ausschussvorsitzenden bisnen fünf Wahlperioden zusammen (abrufbar unter: www.bundestag.de/ datenhandbuch; zuletzt abgerufen am 15.7.2022). Allerdings wurden auch in der 12. und 13. Wahlperiode mit 35 bzw. 32 Ordnungsrufen relativ hohe Werte erreicht. 63 Vgl. zu berechtigten Zweifeln an der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit eines Ausschlusses für die Dauer von bis zu 30 Sitzungstagen Morlok, in: Dreier (Anm. 36), Art. 38 Rdnr. 164. 64 Es handelt sich dabei um den AfD-Abgeordneten Brandner, der am 13.11.2019 mit 37 Ja-Stimmen gegen sechs Nein-Stimmen vom Vorsitz des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz abberufen wurde. 65 Vgl. zur verfassungsrechtlichen Umstrittenheit BVerfG, NVwZ 2020, 1034 (1036 Rdnr. 32) m. w. N.
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lang als Tabu galt, vor allem Oppositionspolitiker. Führt die Polarisierung dazu, dass der Parlamentsmehrheit ein Ausschussvorsitzender aufgrund seiner Provokationen als unerträglich erscheinen muss und abgewählt wird, geht damit letztlich auch ein Stück weit Oppositionsfreiheit für alle anderen verloren. Zudem kann das parlamentsinterne Ordnungsrecht instrumentalisiert werden, um die Grenzen des Sagbaren im Parlament zu verschieben. Im Mai 2021 beendete ein AfD-Politiker seine Rede mit den Worten: „Ich wünsche der Israel Defense Force viel Soldatenglück – und speziell der israelischen Luftwaffe bei der Suche nach den Terrorführern der Hamas eine gute Jagd und fette Beute.“ 66 Dafür wurde ihm von der sitzungsleitenden Vizepräsidentin ein Ordnungsruf erteilt. Der dagegen eingelegte Einspruch gemäß § 39 GOBT wurde am nächsten Tag mit großer Mehrheit vom Plenum zurückgewiesen.67 Die Wortwahl ist sicherlich speziell, aber es sollte keinen Zweifel daran geben, dass ein solcher Satz in einem Parlament ohne Weiteres gesagt werden darf. 2. Besetzung von Gremien und Positionen Die Polarisierung im Parlament führt zu einem weiteren Gewöhnungseffekt, der sich mit der Zeit nachteilig auf die gesamte Opposition auswirken kann und die Besetzung von parlamentarischen Gremien betrifft, die normalerweise einer Spiegelbildlichkeit von Plenum und Gremium folgt. Da das Recht der einzelnen Abgeordneten, sich zu Fraktionen zusammenzuschließen (Assoziationsrecht), aus dem freien Mandat (Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG) abzuleiten ist, sind die Fraktionen ebenso gleich und entsprechend ihrer Stärke zu behandeln wie die Abgeordneten untereinander.68 Daraus und aus der Repräsentationsfunktion des Parlaments lässt sich jedenfalls für die Zusammensetzung von Ausschüssen und Unterausschüssen des Parlaments, nicht PlProt. 19/229, S. 29305 (D) – 229. Plenarsitzung vom 19.5.2021. PlProt. 19/230, S. 29479 (A), 29490 (C) – 230. Plenarsitzung vom 20.5.2021. 68 BVerfGE 112, 118 (133); 140, 115 (150 f. Rdnr. 92). 66 67
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jedoch für Gremien die lediglich organisatorischer Art sind,69 ein verfassungsrechtlicher Grundsatz der Spiegelbildlichkeit ableiten, nach dem das betreffende Gremium „ein verkleinertes Abbild des Plenums sein und in seiner Zusammensetzung die Zusammensetzung des Plenums in seiner politischen Gewichtung widerspiegeln“ muss.70 Heute praktisch weniger relevant ist der Zuschnitt von Gremien unter Ausschluss einer Oppositionsfraktion. Nach dem Einzug der Grünen in den Bundestag erlaubte es das Bundesverfassungsgericht, das Gremium zur parlamentarischen Haushaltskontrolle der Nachrichtendienste zahlenmäßig so klein zu fassen, dass auf die kleinste Fraktion – die Grünen – kein Sitz mehr entfiel.71 Diese der Mehrheit überantwortete Gestaltungsoption, die sich angeblich mit dem Geheimschutz rechtfertigen lässt,72 hat jedoch nur begrenztes Potential: Mit ihr kann nur die kleinste Fraktion außen vor gehalten werden. Die kleinste Fraktion könnte aber sogar eine Koalitionsfraktion sein. Größere Konformitätserwartungen können von der Mehrheit gegenüber jeder Oppositionsfraktion formuliert und durchgesetzt werden, wenn Gremien oder Ämter im Wege eines Wahlakts besetzt werden. In unmittelbaren Konflikt zum freien und gleichen Mandat (Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG), zum Verfassungsgrundsatz effektiver Opposition und zum Grundsatz der Spiegelbildlichkeit treten Konstruktionen, nach denen die Besetzung eines Gremiums, in dem wesentliche Teile der dem Parlament zustehenden Informations-, Kontroll- und Untersuchungsaufgaben wahrgenommen werden, von einer Wahl durch das Plenum abhängig gemacht wird.73 Die Personalauswahl der OppositiBVerfGE 140, 115 (151 Rdnr. 94). BVerfGE 112, 118 (133); vgl. BVerfGE 130, 318 (353 f.). 71 BVerfGE 70, 324 (362 ff.). 72 A. A. Sondervotum des Richters Ernst Gottfried Mahrenholz, BVerfGE 70, 366 (372 f.). 73 Eine solche Wahl durch das Plenum wurde in BVerfGE 70, 324 (365) für das Gremium zur parlamentarischen Haushaltskontrolle der Nachrichtendienste für verfassungsrechtlich zulässig erachtet; sie ist aber selbst danach „nur in engen Grenzen verfassungsrechtlich hinnehmbar“. 69 70
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onsfraktionen wird hier von dem Plazet der Mehrheit abhängig gemacht. Sieht man entsprechend dem neuen Dualismus Regierung und Mehrheitsfraktionen als in einem Lager stehend an, erlaubt es diese Konstruktion, dass sich die Regierung ihre Kontrolleure auszusuchen vermag. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner jüngeren Rechtsprechung aber zu Recht ausgesprochen, die parlamentarische Opposition dürfe „bei der Ausübung ihrer Kontrollbefugnisse nicht auf das Wohlwollen der Parlamentsmehrheit angewiesen sein“.74 Das den Ausnahmecharakter der Besetzung durch Wahl unterstreichende Argument, gerade in dem betreffenden Ausschuss gehe es doch um sehr sensible Informationen, ist nur von begrenzter Tragweite. Einerseits dürfte es mildere Mittel geben, um einzelne Ausschussmitglieder im Falle eines konkreten Missbrauchsverdachts von bestimmten Informationen abzuschneiden. Andererseits dürfte es im Bundestag – und wohl auch in den Landtagen – letztlich keinen Ausschuss geben, der unwichtig ist, weil die Mitglieder nichts bewirken können und nur Zugang zu belanglosen Informationen erhalten. Ungeklärt ist die Rechtslage hinsichtlich der Frage, ob einzelne Fraktionen einen Anteil an Vizepräsidentenpositionen und Ausschussvorsitzenden in der Weise beanspruchen können, dass sich die Zurückweisung aller bisherigen Personalvorschläge einer Fraktion als Verstoß gegen ihre verfassungsmäßigen Rechte erweist. Werden solche Ämter obligatorisch wie bei den Vizepräsidenten des Bundestages (vgl. Art. 40 Abs. 1 Satz 1 GG) oder in einer rechtlichen Grauzone wie bei den Ausschussvorsitzenden75 durch Wahl vergeben, muss ein Personalvorschlag eine Mehrheit finden. Bisher war es mit Blick auf den Grundsatz der Gleichbehandlung der Fraktionen, der sich auf die Mitwirkungsbefugnis der Abgeordneten in den Ausschüssen des Deutschen Bundestages erstreckt,76 eher ein theoretischer Fall, BVerfGE 142, 25 (57 Rdnr. 90). Vgl. § 58 GOBT, wonach die Ausschüsse ihre Vorsitzenden und deren Stellvertreter nach den Vereinbarungen im Ältestenrat „bestimmen“, mithin eine Wahl nicht ausdrücklich vorgesehen ist. 76 BVerfG, NVwZ 2020, 1034 (1035 Rdnr. 29). 74 75
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dass Oppositionspolitiker von der Mehrheit abgelehnt und an der Amtsübernahme gehindert werden. Die Polarisierung im Parlament bringt es mit sich, dass aus theoretischen Möglichkeiten reale Erscheinungen werden. Ist es erst einmal nicht mehr ungewöhnlich, dass eine Oppositionsfraktion leer ausgeht, besteht die Gefahr einer schleichenden Erhöhung des von der Mehrheit verlangten Konformitätsgrades. 3. Verfahrensrechte Die Polarisierung im Parlament bedroht die Handlungsmöglichkeiten der Opposition durch einen normativen oder faktischen Abbau von geschäftsordnungsmäßigen Verfahrensrechten. Bildet sich die Polarisierung des Politischen erst einmal im Parlament ab, kann beobachtet werden, dass verfahrensmäßige Rechte von den Rändern mitunter zur Behinderung des Parlamentsbetriebs eingesetzt werden. Besonders interessant ist dabei das geschäftsordnungsmäßige Recht einer Fraktion, die Beschlussfähigkeit anzuzweifeln (§ 45 Abs. 2 GOBT).77 Solche Rechte geraten daher zwangsläufig unter Druck, weil die Begehrlichkeit zunimmt, diese Rechte mit höheren Ausübungshürden zu versehen. Derartige Rechte geraten aber auch dadurch unter Druck, wenn sie faktisch beseitigt werden: So wurde in den Morgenstunden des 28. Juni 2019 die Beschlussfähigkeit des Bundestages wieder einmal von der AfD-Fraktion angezweifelt. Nach der Geschäftsordnung des Bundestages ist der Deutsche Bundestag beschlussfähig, wenn mehr als die Hälfte seiner Mitglieder im Sitzungssaal anwesend ist (§ 45 Abs. 1 GOBT), wobei dieses Anwesenheitsquorum irrelevant bleibt, solange die Beschlussfähigkeit nicht angezweifelt wird. Obwohl Kameraauf77 Deutscher Bundestag, Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages, Kap. 7.15 (Feststellung der Beschlussfähigkeit/Beschlussunfähigkeit), S. 2 (Stand: 13.1.2021), wonach in der 19. Wahlperiode (2017–2021) ein Anstieg zu verzeichnen war (abrufbar unter: www. bundestag.de/datenhandbuch; zuletzt abgerufen am 15.7.2022).
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nahmen zufolge78 zu dieser Stunde kaum 100 Abgeordnete im Sitzungssaal zugegen waren, stellte die sitzungsleitende Vizepräsidentin nach Absprache mit dem Sitzungsvorstand fest: „Also, wir haben hier oben miteinander diskutiert. Wir sind der Meinung, dass die Beschlussfähigkeit gegeben ist.“ 79 Die Sitzung ging dann weiter. 4. Finanzausstattungsreduzierung Die Polarisierung im Parlament kann dazu führen, dass Verteilungsschlüssel für die finanzielle Ausstattung von Fraktionen unter Hinnahme von Kollateralschäden angepasst werden. Die Oppositionsarbeit wird im Ganzen beeinträchtigt, wenn finanzielle Grundlagen von Oppositionsfraktionen beschnitten werden, um extremistischen Fraktionen das Handwerk zu legen. Ein solcher Fall ereignete sich im Jahr 2006 in MecklenburgVorpommern. Hier wurde die Fraktionsfinanzierung als Reaktion auf den Einzug der NPD geändert, sodass kleinere Fraktionen 30 Prozent weniger Mittel erhielten.80 Zugleich wurde den größeren Fraktionen, insbesondere den Koalitionsfraktionen, die bei den kleinen Fraktionen eingesparten Mittel zugeschoben. Selbst die kleine Oppositionsfraktion der FDP stimmte ihrer finanziellen Amputation zu. Den (durch Polarisierung ausgelösten) Verhaltenserwartungen zu genügen, war ihr offensichtlich dringlicher, als eine gute finanzielle Grundlage für die eigene Oppositionsarbeit einzufordern. 5. Verzicht auf oppositionelle Aktion Die Polarisierung im Parlament führt zu einer Stärkung der Regierung, sofern auf oppositionelle Aktion verzichtet wird. 78 Siehe das Video in der Mediathek des Deutschen Bundestages, abrufbar unter: https://www.bundestag.de/mediathek?videoid=7367876 #url=bWVkaWF0aGVrb3ZlcmxheT92aWRlb2lkPTczNjc4NzY=&mod= mediathek (zuletzt abgerufen am 15.7.2022). 79 PlProt. 19/107, S. 13295 (A) – 107. Plenarsitzung vom 27.6.2019. 80 Vgl. im Internet: www.spiegel.de/politik/deutschland/schwerinerlandtag-eklat-zur-parlaments-premiere-der-npd-a-442894.html (zuletzt abgerufen am 15.7.2022).
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a) Handlungsformenbezogener Verzicht Der Verzicht auf oppositionelle Aktion kann bestimmte Handlungsformen betreffen. Zu Beginn der 19. Wahlperiode des Deutschen Bundestages standen Vorgänge in einer Außenstelle des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) im Mittelpunkt der öffentlichen Debatte. Es wurde der Vorwurf erhoben, in dieser Außenstelle seien massenhaft falsche Asylbescheide erlassen worden. Längere Zeit wurde von den Oppositionsparteien die Einsetzung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses zum sog. BAMF-Skandal erwogen. Letztlich erfolgte diese Einsetzung jedoch nicht, weil das erforderliche Quorum dafür nicht aufgebracht werden konnte. Dass Grüne und Linksfraktion letztlich keinen Untersuchungsausschuss mehr auf den Weg bringen wollten, war von dem Gedanken beeinflusst, der AfD keine Bühne für populistische Agitation zu geben. Der Verzicht auf das besonders wirksame oppositionelle Aufklärungsinstrumentarium durch einzelne Oppositionsfraktionen ist letztlich aufgrund eines Seitenblicks auf die AfD erfolgt.81 b) Themenbezogener Verzicht Der Verzicht auf oppositionelle Aktion beschränkt sich nicht auf bestimmte Handlungsformen, wie bspw. einen Untersuchungsausschuss. Gefährlicher für die Oppositionsvielfalt ist es, wenn in bestimmten Themenbereichen, die von einer populistischen Kraft besetzt sind, der Dissens zur Regierung oder anderen Oppositionsfraktionen nicht mehr ausgesprochen wird, weil der eigene Standpunkt Applaus von der „falschen Seite“ erzeugen könnte. Der Applaus selbst ist dabei nicht das Problem. Die Polarisierung bringt es jedoch mit sich, dass der „falsche Applaus“ von den politischen Wettbewerbern dazu genutzt, das Anliegen öffentlich als Position von Extremisten zu diskreditieren. Gibt eine Oppositionsfraktion dem Druck nach, wird sie – jedenfalls 81 Vgl. Jens Kersten, Parlamentarismus und Populismus, JuS 2018, S. 929 ff. (933).
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für das betreffende Anliegen – nicht mehr als Alternative zur populistischen Kraft angesehen. Polarisierung kann also dazu führen, dass das Spielfeld den Polen freiwillig überlassen wird. Polarisierung fördert die Erwartung, sich auf die vermeintlich richtige Seite schlagen zu müssen. Die im freien Mandat (Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG) wurzelnde Handlungsfreiheit von Oppositionsakteuren kann dadurch unter Druck geraten. c) Abstimmungsbeschränkungen bei der Ausübung von Minderheitenrechten Mit der Polarisierung im Parlament geht die Forderung einher, dass es mit bestimmten Oppositionsfraktionen keine Zusammenarbeit geben darf und Mehrheiten nicht auf den Stimmen dieser Oppositionsfraktionen beruhen dürfen. Verständlich ist die Forderung, dass sich Regierungspolitik nicht in eine Abhängigkeit von Extremisten begeben darf. Dieses Postulat ist aber auf die Opposition nicht übertragbar. Oppositionelles Handeln wird nicht durch das Mehrheitsprinzip kanalisiert. Mithin ist oppositionelles Handeln auch dann funktionsadäquat, wenn es im Parlament keine Mehrheit findet bzw. nicht von der Mehrheit der Abgeordneten getragen ist. Folglich kann Oppositionspolitik sich grundsätzlich weder von der Mehrheit noch von der Minderheit abhängig machen. Wie verhält es sich aber mit der Geltendmachung von Minderheitenrechten, die ein Quorum erfordern,82 das eine Oppositionsfraktion allein nicht aufbringen kann – z. B. bei Anträgen auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses oder auf Durchführung einer Anhörung in einem Ausschuss? Müssen ohne vorherige Absprache gestellte Anträge zurückgezogen werden, wenn sie mit den Stimmen von der „falschen Seite“ angenommen werden könnten? Dann würde die Polarisierung im Parlament wiederum zu einer Stärkung der Regierung führen, weil im Ergebnis auf Informationsgewinnung und Kontrolle verzich-
82
Vgl. zu diesen Rechten bereits oben sub V. 3.
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tet wird. Derartige Ansinnen münden in die Konsequenz, dass die Parlamentsfunktion der Opposition beschädigt wird. d) Verzicht auf oppositionelle Aktion in der Krise Die Corona-Pandemie hat auf eine weitere Herausforderung für die Oppositionsvielfalt aufmerksam gemacht. Krisenzeiten werden vielfach als „Stunde der Exekutive“ bezeichnet.83 In der Gesetzmäßigkeit einer Krise scheinen Parlamente nebensächlich und Opposition abträglich zu sein. „Rally-Round-the-Flag“-Effekt nennt die Politikwissenschaft eine Situation, in der sich die gesamte politische Führung eines Landes temporär hinter ihrer Regierung versammelt.84 Die Corona-Politik der Bundesregierung hat zu in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland beispiellosen Grundrechtseingriffen geführt und war mit einer Kompetenzverlagerung vom Parlament auf die Exekutive verbunden.85 Gleichwohl hat sich während der ersten Welle beispielsweise auch die damals oppositionelle FDP – eine Partei, der Freiheit und Bürgerrechte zentrale Anliegen sind – hinter die Bundesregierung gestellt und ihre Kritik auf ein Minimum reduziert.86 83 Vgl. Tristan Barczak, Die „Stunde der Exekutive“ – Rechtliche Kritik einer politischen Vokabel, RuP 56 (2020), S. 458 ff.; Christoph Gusy, Katastrophenrecht, GSZ 2020, S. 101 ff. (104); Mario Martini/Bianca Thiessen/Jonas Ganter, Zwischen Vermummungsverbot und Maskengebot: Die Versammlungsfreiheit in Zeiten der Corona-Pandemie, NJOZ 2020, S. 929 ff. (929). 84 Vgl. Matthew A. Baum, The Constituent Foundations of the RallyRound-the-Flag Phenomenon, International Studies Quarterly 46 (2002), S. 263 ff. (264) m. w. N. Die Bezeichnung kann sich auch auf eine hohe Zustimmung für die Regierung in der Bevölkerung beziehen (vgl. ebenda). 85 Vgl. Sebastian Kluckert, Verfassungs- und verwaltungsrechtliche Grundlagen des Infektionsschutzrechts, in: Ders. (Hrsg.), Das neue Infektionsschutzrecht, 2. Aufl. 2021, § 2 Rdnr. 105, 131 ff. 86 Vgl. bspw. die Rede von Christian Lindner im Plenum des Deutschen Bundetages (u. a.) zum (Ersten) Bevölkerungsschutzgesetz (PlProt. 19/154, S. 19124 [D] – 154. Plenarsitzung vom 25.3.2020): „Wir sind gemeinsam als Fraktionen doch durch ein Ziel verbunden, nämlich Schaden
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Rallying ’round the flag ist jedoch regelmäßig nicht davon getragen, dass die Opposition der Ansicht ist, die Regierung mache alles richtig. Der Effekt tritt vielmehr regelmäßig deshalb ein, weil man befürchtet, medial mit der Kritik unter die Räder zu geraten. Im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik kann zudem der Umstand hinzutreten, dass das Land nach außen als geeint erscheinen soll. Der Verzicht auf oppositionelle Aktion muss jedoch genau hinsichtlich seiner Auswirkungen beobachtet werden: Wenn Oppositionsvielfalt zum Erliegen kommt, können Repräsentationsdefizite entstehen. In dem reziproken Verhältnis87 zwischen parlamentarischer und außerparlamentarischer Opposition wächst die Wahrscheinlichkeit neuer gesellschaftlicher Bewegungen. Tritt der „Rally-Round-the-Flag“-Effekt auf Parlamentsebene nicht vollständig ein, besteht die Gefahr, dass die von Teilen der Bürgerschaft erwartete öffentliche Bekundung des Dissenses einer einzigen Oppositionspartei überlassen wird, ggf. sogar einer radikalen Kraft. VII. Fazit Oppositionsvielfalt ist eine Funktionsbedingung der parlamentarischen Demokratie. Sie ist Bestandteil eines das freiheitlich demokratische Staatswesen der Bundesrepublik Deutschland ausgestaltenden Systems rechtlich gesetzter und vorausgesetzter Spielregeln in Gestalt einer vorausgesetzten Spielregel. Parlamentarische Oppositionsvielfalt besteht, wenn (1) alle wesentlichen politischen Strömungen mit einer Fraktion oder Gruppe im Parlament vertreten sind und (2) Pro und Contra bei einzelnen kontroversen Grundentscheidungen des Zusammenlebens im Parlament ihre angemessene Abbildung finden, und zwar in der Weise, dass der oppositionelle Standpunkt bei strömungs-
vom deutschen Volk und der Bevölkerung abzuwenden. Deshalb werden wir trotz aller Bedenken im Detail den Beschlussvorlagen der Regierung heute zustimmen.“ 87 Vgl. oben sub IV.
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zentralen Sachfragen bzw. kontroversen Grundentscheidungen des Zusammenlebens auch tatsächlich vertreten wird. Parlamentarische Opposition ist eine verhaltensbezogene Parlamentsfunktion. Vom öffentlich bekundeten Dissens geht eine Integrationskraft aus, die zur Gesamtintegrationskraft des Parlaments beiträgt. Fehlende Oppositionsvielfalt kann ein Repräsentations- und Integrationsdefizit hervorrufen. Zwischen parlamentarischer und außerparlamentarischer Oppositionsvielfalt besteht ein reziproker Zusammenhang. Die Formierung von außerparlamentarischen Oppositionen wird umso wahrscheinlicher, je geringer die Oppositionsvielfalt im Parlament ist. Die Polarisierung im Parlament kann die Oppositionsvielfalt und die Ausübung effektiver Opposition beeinträchtigen und damit dem Parlamentarismus insgesamt schaden. Am Beispiel radikaler oder populistischer Kräfte statuierte Exempel färben fast zwangsläufig negativ auf die gesamte Opposition ab. Eine im Parlament angekommene Polarisierung des Politischen führt zur Stärkung der Regierung, zur Ausweitung der Einwirkungsmöglichkeiten der Parlamentsmehrheit auf die Minderheit und zum Verzicht auf oppositionelle Aktion. Die Herausforderungen der Oppositionsvielfalt und einer effektiven Opposition sind vielfach nicht auf normativer Ebene angesiedelt. Es geht für die Opposition vielmehr in erster Linie darum, mit Weitblick statt Kurzsichtigkeit der eigenen Demontage entgegenzutreten.
Junges Forum der Sektion
Krise der freien Rede? Zur (akademischen) Redefreiheit an deutschen und amerikanischen Universitäten in Zeiten politischer Polarisierung Von Manuel Joseph I.
II.
Einleitung: Krise der freien Rede an Universitäten? . . . . . . . . . . . 1. Krisensymptome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ein Blick in die USA: Free Speech on Campus . . . . . . . . . . . . 3. Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen für Kommunikation im (Sub-)System der Universität . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Quellen möglicher Freiheitsgefährdungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 1. Hochschullehrende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 2. Studierende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211
III. Redefreiheit an Universitäten in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . 212 1. Polytomie der Grundrechtsverhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 a) Grundrechtsberechtigung und -verpflichtung der Universitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 b) Grundrechtsverpflichtung von Hochschullehrenden und Studierenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 2. Grundrechtliche Stellung von Hochschullehrenden . . . . . . . . 218 a) Schutz wissenschaftlicher Kommunikationszusammenhänge durch Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 b) Grenzen wissenschaftlicher Kommunikation . . . . . . . . . . . 224 c) Freiheitsausübungskonflikte unter dem Dach der Universität – Universitäten als Garanten grundrechtlicher Freiheiten von Universitätsangehörigen . . . . . . . . . . . . . . . . 231 IV.
Schutz wissenschaftlicher Kommunikationszusammenhänge in den USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 1. Vorherrschend: Private Universitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 2. Wissenschaftsfreiheit im US-amerikanischen Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237
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Manuel Joseph 3. Schutz wissenschaftlicher Kommunikation (nur) im Rahmen allgemeiner First Amendment Doctrine . . . . . . . . . . . . . . a) First Amendment als universales Kommunikationsgrundrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Free Speech in den USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Free Speech im Kontext der Universität . . . . . . . . . . . . . . .
V.
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Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249
I. Einleitung: Krise der freien Rede an Universitäten? Die gesellschaftliche Polarisierung macht anscheinend nicht Halt vor dem sozialen Subsystem der Universität. Es scheint, als stürze die allerorts beklagte politische Polarisierung auch die Universitäten in eine Krise der freien Rede.1 Eine solche Krise erschiene besonders bedenklich: Universitäten dienen der Generierung neuen Wissens. Zugleich sollen sie junge Menschen bilden, ihnen Diskursräume schaffen, in denen sie sich mit der Kraft des Verstandes frei streiten, messen und erproben können.2 Gefährdungen der freien Kommunikation in der Universität wären besorgniserregend. Sollte die Universität als herrschaftsfreier Diskursraum im Schwinden begriffen sein, wie wäre es dann um die Zukunft der freien Rede in anderen Diskursräumen in der Zukunft bestellt? 1. Krisensymptome (Vermeintliche) Krisensymptome für die freie bzw. nicht so freie Rede an den Universitäten in Deutschland lassen sich rasch 1 Zu Begriff und Konzept der „Polarisierung“ im Überblick German Neubaum, in: Isabelle Borucki u. a. (Hrsg.), Handbuch Politische Kommunikation, 2021, S. 1 (2 ff.); Elif Özem (Hrsg.), Wissenschaftsfreiheit im Konflikt. Grundlagen, Herausforderungen und Grenzen, 2021, widmete dieser Frage einen (vorrangig philosophischen) Sammelband. 2 Klassisch etwa Karl Jaspers, Die Idee der Universität, 1961; Jürgen Habermas, Die Idee der Universität – Lernprozesse, Zeitschrift für Pädagogik 32 (1986), S. 703 (703 ff.); Konrad Schmidt, Wozu sind Universitäten da? Erinnerungen an ein Ideal, Zurich Open Repository and Archive, 2004, abrufbar unter: https://doi.org/10.5167/uzh-68151, zuletzt abgerufen am 15.7.2022.
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ausmachen. Die überregionale Presse ist reichlich gefüllt mit den Bekundungen ernsthafter Sorge um die (Meinungs-)Freiheit an deutschen Universitäten.3 So nahmen etwa die Hochschulrektorenkonferenz4 oder der Verein zur Förderung des deutschen und internationalen Wissenschaftsrechts5 sich des Themas der Meinungs- und Lehrfreiheit an deutschen Universitäten an. Eine Studie der Soziologen Richard Traunmüller und Matthias Revers scheint, trotz aller an der Studie geübten methodologischen Kritik alarmierend: Raunmüller und Revers befragten an der, so die Autoren, tendenziell eher links politisierten Studierendenschaft der Sozialwissenschaften an der Goethe-Universität Frankfurt, ihnen zur Folge ein „most-likely-case“ die Studierenden. Sollte selbst in der linken Studierendenschaft der Sozialwissenschaften der Universität Frankfurt kein Beleg dafür auffindbar sein, dass diese sich für die Einschränkung von Redefreiheit aussprächen, so wäre dies den Forschern zufolge vermutlich auch an keiner anderen deutschen Universität möglich.6 3 Alexander Grau, Ohne Freiheit ist Wissenschaft keine Wissenschaft, Cicero, 13.4.2019, abrufbar unter: www.cicero.de/kultur/universitaetmeinungsfreiheit-debattenkultur-wissenschaft-gesellschaft, zuletzt abgerufen am 15.7.2022; Johanna Schloemann, Die Empfindlichkeit kann auch zu weit gehen, 16.2.2021, abrufbar unter: www.sueddeutsche.de/kultur/ cancel-culture-universitaet-wissenschaft-hochschule-1.5206719?reduced= true, zuletzt abgerufen am 15.7.2022; anderslautend etwa Daniel Kretschmar, Der Feind in deinem Hörsaal, taz, 18.11.2020, abrufbar unter: https://taz.de/Meinungsfreiheit-an-Universi taeten/!5638144/, zuletzt abgerufen am 15.7.2022. 4 Hochschulrektorenkonferenz (Hrsg.), 70 Jahre Artikel 5 – Wissenschaftsfreiheit und Verantwortung der Hochschulen. HRK-Jahresversammlung 2019, 2019. 5 Karoline Haake, Meinungs- und Lehrfreiheit – Was müssen Hochschulen aushalten. Bericht über die Tagung des Vereins zur Förderung des deutschen und internationalen Wissenschaftsrechts e.V. am 24.6.2021. 6 Richard Traunmüller/Matthias Revers, Is Free Speech in Danger? Some Preliminary Evidence from a Most Likely Case, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 2020, S. 471 (471 ff.); methodologische Kritik übt Lars Meier, Eine soziologische Unschärferelation. Replik zum Aufsatz „Is Free Speech in Danger on University Campus? Some Preliminary Evidence from a Most Likely Case“ von Matthias Revers und Richard Traunmüller, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozial-
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Ihre Befunde klingen dramatisch. Um eine Auswahl zu geben: Je nach Fall sprechen sich rund 44 bis 69 Prozent der Befragten dafür aus, Personen, die „konservative“ oder „rechte Meinungen“ zum Islam, der Immigration, der Homosexualität oder zu den Unterschieden zwischen den Geschlechtern besitzen und diese kundtun wollen, nicht an der Universität sprechen zu lassen. 17 bis 36 Prozent lehnten es ab, dass diese Personen an der Universität unterrichten dürfen.7 In Deutschland hat die Sorge um die Redefreiheit an Universitäten durch jüngere Ereignisse und die genannte Studie Auftrieb erfahren. Gänzlich neu sind solche Fragen freilich nicht. Die Studentenproteste der 1960er Jahren etwa warfen vergleichbare Fragen auf. Bodo Pieroth beschäftigte sich schon im Jahr 1976, wohl in den Nachwehen der Studentenproteste, mit den verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen für „Störung, Streik und Aussperrung an der Hochschule“.8 2. Ein Blick in die USA: Free Speech on Campus Vieles von dem, was an deutschen Universitäten heute passiert, findet in den Vereinigten Staaten Vorläufer und Parallelen und beherrscht dort seit geraumer Zeit den Diskurs. In den 1960er Jahren stritt man in den USA um den Vietnam-Krieg und die durch Rassismus induzierte Ungleichheit, in den 1990er Jahren dominierte die Debatte um „political correctness“. Heute psychologie, 2021, S. 129 (129 ff.); Duplik auf diese Kritik Richard Traunmüller/Matthias Revers, Meinungsfreiheit an der Universität. Unschärfen und Strohmänner (Antwort auf Lars Meier), Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 2021, S. 137 (137 ff.). 7 Traunmüller/Revers, Free Speech (Anm. 6), S. 482; die Studie schlug medial hohe Wellen, s. etwa Thomas Thiel, Toleranz im geschlossenen Zirkel, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.11.2020, abrufbar unter: www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/toleranz-studie-ueber-meinungs freiheit-an-hochschulen-17044294.html, zuletzt abgerufen am 15.7.2022; Nils Erich, Die Uni ist nichts für Schneeflocken, Zeit Online, 12.1.2020, abrufbar unter: www.zeit.de/kultur/2020-11/meinungsfreiheit-universi taeten-studie-cancel-culture-gesellschaft, zuletzt abgerufen am 15.7. 2022. 8 Bodo Pieroth, Störung, Streik und Aussperrung an der Hochschule. Ein Beitrag zur Konkretisierung von Grundrechten und zum Hochschulverwaltungsrecht, 1976.
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streitet man meist über „hateful“ und „offensive speech“ an Universitäten und legale Wege, bestimmte Kommunikationen aus dem universitären Alltag auszuschließen, die konfrontativ, von Einzelnen als verletzend oder verstörend empfunden werden könnten. Universitäten in den USA streben nach einem diversen, inklusiven und diskriminierungsfreien Umfeld und suchen dies etwa durch die Etablierung von sogenannten SafeSpaces zu verwirklichen, in denen nicht alles gesagt werden darf, was diesem Streben zuwiderlaufen könnte. Lehrende werden verpflichtet, die Konfrontation in Lehrveranstaltungen auf ein Minimum zu reduzieren und auf eine bestimmte Wortwahl zu verzichten, die als Mikroagression verstanden werden könnte. Universitäten drängen darauf, dass Ausschreibungen von Lehrveranstaltungen mit sogenannten Trigger-Warnings versehen werden, um Studierende vor möglicherweise verstörenden Inhalten zu warnen. Auch Studien in den USA zu der Haltung von Studierenden kommen zu ähnlichen Befunden wie die Studie von Traunmüller und Revers.9 3. Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen für Kommunikation im (Sub-)System der Universität Unabhängig davon, ob bestimmte Vorkommnisse an deutschen und amerikanischen Universitäten sowie die Befunde der Studien eine Krisenrhetorik rechtfertigen und auf strukturelle Defizite hindeuten, lohnt das Nachdenken über die rechtlichen, allen voran verfassungsrechtlichen Determinanten der verschiedenen Formen von Kommunikation im (Sub-)System der Universität. Wie ist es um die verfassungsrechtlich garantierte Redefreiheit an Universitäten bestellt? Zugleich gestattet eine Untersuchung der Redefreiheit an deutschen und amerikanischen Universitäten den Blick über den referentiellen Wahrnehmungshorizont hinaus. Grundrechte gelten landläufig als geronnene Gefährdungs- und Verletzungserfahrungen menschlicher Freiheit und verarbeiten oft Gefähr9 Knight Foundation (Hrsg.), The First Amendment on Campus 2020 Report: College Students’ Views of Free Expression, 2020.
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dungsempfindungen und Befürchtungen derjenigen, die der einzelnen Grundrechtsnorm ihre Gestalt gaben.10 Rechtliche Rahmenbedingungen freier Rede können daher mitunter sehr kontingent sein. Nicht allein die textliche Gestaltung der Freiheitsgarantie hat jedoch Einfluss auf die Substanz der Freiheitsgewährleistung, sondern auch der methodische Zugriff, den Gerichte bei der autoritativen Durchsetzung dieser Rechte wählen. Die USA sind in mancherlei Hinsicht ein „Outliner“ – sowohl im methodologischen Zugriff auf die Garantie der Redefreiheit als auch im Hinblick auf die sich daran anschließenden substantiellen Konsequenzen.11 II. Quellen möglicher Freiheitsgefährdungen Mögliche Bedrohungen für die freie Rede an Universitäten sind vielgestaltig und komplex: Sie stehen in Verbindung mit der Vielfalt an Akteuren, die in der Universität zusammenkommen und dort aufeinandertreffen. Wer über die freie Rede und ihre möglichen Einengungen sowie Gefährdungen an der Universität spricht, muss sich deshalb klar darüber sein, dass es sich bei dem Schlagwort der Redefreiheit an Universitäten allenfalls um eine Zusammenfassung für sehr verschiedene Anlässe, Formen und Zusammenhänge von Kommunikation handelt, die unter dem Dach der Universität stattfinden. Man kann auch anders sagen, dass die (schlichte) Frage nach der Redefreiheit an deutschen und amerikanischen Universitäten die wirklich interessie10 Horst Dreier, in: Ders. (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Vorb. Art. 1 Rn. 7; Fabian Wittreck, Zur Bedeutung einzelstaatlicher Grundrechte für die deutsche Grundrechtsentwicklung – Vom Frühkonstitutionalismus bis zur Gründung der Bundesrepublik Deutschland, in: Detlef Merten/Hans-Jürgen Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. VIII, 2017, § 231 Rn. 131; Jonas Plebuch, Die Wiederentdeckung grundrechtlicher Schutzbereiche in der Pandemie, JuS 2021, S. 316 (316); aus der Rspr. exemplarisch BVerfG, Beschl. v. 8.7.1982 – 2 BvR 1187/80, BVerfGE 61, 82 (100 f.). 11 Frederick Schauer, The Exceptional First Amendment, in: Michael Ignatieff (Hrsg.), American Exceptionalism and Human Rights, 2005, S. 29 (30 ff.), unterscheidet „substantive and methodological exceptionalism“.
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renden Kommunikationszusammenhänge invisibilisiert. Die tatsächlichen oder vermeintlichen Gefährdungen sind außerordentlich diffus. Aus diesem Grund müssen zuerst die unterschiedlichen Kommunikationszusammenhänge und beispielhaft ihre möglichen Gefährdungen identifiziert werden, ehe darüber nachgedacht werden kann, ob und wie das deutsche und das amerikanische Verfassungsrecht diese Zusammenhänge schützen oder bestimmte Akteure mit ihrer konfliktschlichtenden Koordination beauftragen. Die Universität konstituiert sich durch ihre Mitglieder. Auch wenn in den vergangenen Jahren, in denen die Welt in einer Pandemie versunken war, weder Studierende noch Hochschullehrende regelmäßig und in größerer Zahl in den Räumlichkeiten der Universitäten anzutreffen waren, machen diese den Alltag des Lehr- und Wissenschaftsbetriebs aus und füllen es mit Leben. 1. Hochschullehrende Hochschullehrende können durch die Universitätsleitung oder durch Universitätsgremien für bestimmte Äußerungen innerhalb und außerhalb der Universität die Adressaten von Maßnahmen sein, die auf einer Skala der Eskalation von Erkundigungen, über öffentliche Stellungnahmen und Distanzierungen bis hin zu förmlichen Untersuchungen und Disziplinarmaßnahmen reichen können. Hochschullehrende können ebenso das Ziel studentischer Aktionen werden. Studierende können Vorlesungen oder Veranstaltungen stören, boykottieren oder ihre Durchführung verhindern. Dies sind die Fälle, die medial Furore machten und der Sorge um die Meinungsfreiheit an Universitäten Auftrieb gaben. 2. Studierende Studierende können Adressaten universitärer Ordnungsgewalt werden oder dem Handeln eines einzelnen Hochschullehrenden ausgesetzt sein, wenn sie zum Beispiel für bestimmte Äußerung gescholten oder der Lehrveranstaltung verwiesen werden. Förmliche Verhaltensregeln der Universitäten können darauf
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hinwirken, bestimmte Meinungen aus dem Universitätsbetrieb fernzuhalten, indem die Universität z. B. Bereiche schafft, in denen Studierende nicht bestimmten Themen ausgesetzt werden, die bei ihnen Unwohlsein verursachen können. Studierende können zudem der Adressat von Kundgaben anderer Studierender sein, die diese als zutiefst verletzend empfinden. III. Redefreiheit an Universitäten in Deutschland Das Verfassungsrecht bietet rechtliche Lösungsinstrumente für Kommunikationskonflikte an Universitäten. Es bestimmt den rechtlichen Rahmen für die zulässige Kommunikation an Universitäten. Unter dem Dach der Universität kommen nicht nur verschiedene Akteure, sondern auch mehrere Grundrechtsträger zusammen. Das Grundgesetz schützt die verschiedenen Formen ihrer Kommunikation durch unterschiedliche Grundrechte. Für die Kommunikation an der Universität sind zwei Grundrechtsnormen von besonderer Relevanz: Einerseits das Recht auf Meinungsfreiheit in Art. 5 Abs. 1 S. 1 Var. 1 GG, andererseits das Recht auf Wissenschaftsfreiheit in Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG. Der Fokus der weiteren Betrachtung liegt auf den Hochschullehrenden und deren Recht zur (akademischen) freien Rede. Es wird sich deshalb im Weiteren auf Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG konzentriert, da dieses für den einschlägigen Sachbereich im ersten Zugriff das sachnähere Grundrecht bildet. Das Recht zur akademischen Rede gewinnt zumeist in der Form des grundrechtlichen Abwehrrechts an Bedeutung, das unter bestimmten Voraussetzungen einen Abwehr- und Unterlassungsanspruch des Hochschullehrenden gegen Beeinträchtigungen seiner Wissenschaftsfreiheit begründet.12 Grundrechtsdogmatisch begründet ein verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigter Eingriff in
12 Das sog. Grundrechtsverhältnis ist nichts anderes als ein Rechtsverhältnis, das sich durch eine dreistellige Rechte-Verpflichtungs-Relation auszeichnet und durch eine Grundrechtsnorm begründet wird, instruktiv aus der Ausbildungsliteratur Fabian Michl, Die Bedeutung der Grundrechte im Privatrecht, JURA 2017, S. 1062 (1062 f.).
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den Schutzbereich der Wissenschaftsfreiheit einen solchen Abwehr- und Unterlassungsanspruch.13 1. Polytomie der Grundrechtsverhältnisse Die Universität ist ein Ort, an dem wegen der Vielzahl an Akteuren und Grundrechtsträgern multiple (Rechtsausübungs-)Konflikte entstehen können. Möchte man diese Konflikte ordnen und untersuchen, welche rechtliche Lösung das Grundgesetz für die Konflikte bereithält, hilft es, wenn man sich den Konflikten zwischen den verschiedenen Akteuren in ihrem Zusammenspiel analytisch relational nähert.14 Die Beziehungen der verschiedenen Akteure untereinander sind danach abzuschichten, zwischen welchen Akteuren (Grund-)Rechtsverhältnisse überhaupt zustande kommen können. Jedes Grundrecht weist – wie auch andere Rechte (sog. Hohfeld’sche claim-rights) – eine dreistellige Struktur auf. Diese zeichnet sich durch einen Verpflichteten, einen Berechtigten und einen Freiheitsgegenstand aus.15
13 Grundrechtsdogmatisch begründet ein verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigter Eingriff in den Schutzbereich eines Grundrechts einen Abwehr- und Unterlassungsanspruch, dazu eingehend i. S. eines „Schutzgut/Eingriffs-Tatbestand[s]“ Robert Alexy, Theorie der Grundrechte (1985), 7. Aufl. 2015, S. 273 ff.; Ralf Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, 2003, S. 156 f.; Michael Sachs, Abwehrrechte, in: Detlef Merten/ Hans-Jürgen Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. II, 2006, § 39 Rn. 12; Dreier, in: Ders., GG I (Anm. 10), Vorb. Art. 1 Rn. 84. 14 Zum Phänomen der sog. Grundrechtskollision Herbert Bethge, Zur Problematik von Grundrechtskollisionen, 1977. 15 Ausgehend von der Grundstruktur eines Rechts zeichnet sich auch ein (grundrechtlicher) Anspruch auf Unterlassung ungerechtfertigter Schutzbereichseingriffe durch eine dreistellige Relation aus, implizit zur dreistelligen Struktur Wesley Newcomb Hohfeld, Fundamental Legal Conceptions as Applied in Judicial Reasoning, The Yale Law Journal 26 (1917), S. 710 (746); Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. 1960, S. 132 ff.; Alexy, Theorie (Anm. 13), S. 163 ff.; Poscher, Grundrechte (Anm. 13), S. 110, 156; Bernd Rüthers/Cristian Fischer/Axel Birk, Rechtstheorie mit Juristischer Methodenlehre, 11. Aufl. 2020, § 2 Rn. 63; dazu auch Manuel Joseph, Zwischengemeindliche Konfliktbewältigung durch Gesetz und Verfassung (im Erscheinen). Analytisch gesprochen bedeutet
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Der Tatbestand eines Grundrechtsverhältnisses setzt daher zuerst voraus, dass die Akteure, zu denen ein Grundrechtsverhältnis entstehen soll, einerseits durch Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG überhaupt verpflichtet, andererseits berechtigt werden. Nur dann kann in dem Handeln, das ein grundrechtlich geschütztes Verhalten verkürzt, ein Grundrechtseingriff erblickt werden, der nach der grundrechtlichen Verteilung von Rechtfertigungslasten zur Rechtfertigung zwingt. a) Grundrechtsberechtigung und -verpflichtung der Universitäten In Deutschland ist Hochschulausbildung nach wie vor weit überwiegend eine staatliche Domäne und wird zum überwiegenden Teil durch körperschaftlich verfasste staatliche Universitäten erfüllt.16 Universitäten stellen dabei nicht nur den institutionellen Rahmen, in dem viele der skizzierten Konflikte entstehen können, sondern von staatlichen Universitäten können selbst so-
die Grundstruktur, dass a gegenüber b ein Recht auf hat, wobei etwa eine positive Handlung oder ein Unterlassen sein kann. Das heißt zum Beispiel, dass a gegenüber b ein Recht darauf, dass b ihm hilft ( = Hilfe). Diese Struktur liegt schon dem Bürgerlichen Gesetzbuch zugrunde: Ein Anspruch ist das Recht, von einem anderen (b) ein Tun oder Unterlassen () zu verlangen (vgl. § 194 I BGB). Das Recht (der Anspruch) besteht damit immer nur in einem bestimmten Verhältnis; zwischen a und b. Mit dem Anspruch logisch äquivalent ist die relationale Verpflichtung des b gegenüber a. Dass a ein Recht (einen Anspruch) auf hat, ist die Verpflichtung des b zu gegenüber a. 16 Im Wintersemester 2018/2019 gab es in Deutschland insgesamt 427 Hochschulen. Mit einer Anzahl von 107 waren die meisten davon öffentliche Fachhochschulen, öffentliche Universitäten waren in dem genannten Zeitraum in Deutschland 93 Mal vertreten. Demgegenüber gab es im Wintersemester 2018/2019 88 private Fachhochschulen und 19 private Universitäten, s. Statistisches Bundesamt, zitiert nach de.statista.com, 2021, Anzahl der Hochschulen in Deutschland nach Hochschulart und Trägerschaft in den Wintersemestern von 1995/1996 bis 2018/2019. In den USA dagegen sind private Hochschulen verbreiteter vgl. U. S. Department of Education, National Center for Education Statistics. Digest of Education Statistics, 2019 (NCES 2021–009), 2021.
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wohl für die Hochschullehrenden als auch die Studierenden Freiheitsgefährdungen ausgehen. Universitäten sind als juristische Personen des öffentlichen Rechts grundrechtsverpflichtet. Ihr Handeln stellt sich als Ausübung öffentlicher Gewalt im Sinne von Art. 1 Abs. 3 GG dar. Die Grundrechtsgebundenheit der Universität besteht vor allem gegenüber ihren Mitgliedern, d. h. gegenüber den Hochschullehrenden und den Studierenden.17 Daran ändert auch nichts, dass sich Universitäten selbst in ihrer Eigenschaft als Körperschaft des öffentlichen Rechts als Teil der sogenannten Ausnahmetrias auf die Wissenschaftsfreiheit in Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG berufen können.18 Die (partielle) Grundrechtsberechtigung bewirkt nicht, dass Berechtigung und Verpflichtung zusammenfallen, wie es das Konfusionsargument für unzulässig erachtet.19 Universitäten sind im Verhältnis zu ihren Studierenden oder ihren Hochschullehrenden grundrechtsverpflichtet, obwohl sie gegenüber dem Staat im engeren Sinne selbst grundrechtsberechtigt sind.
17 Aus der Kommentarliteratur Klaus F. Gärditz, in: Günter Dürig/ Roman Herzog/Rupert Scholz (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, Bd. I, Art. 5 Abs. 3 (November 2018), Rn. 133; Matthias Herdegen, in: Dürig/Herzog/Scholz (Anm. 17), Art. 1 Abs. 3 (Januar 2021), Rn. 54; gleichsinnig, insb. auch zur „relativen Reichweite“ des universitären Grundrechtsschutzes Klaus F. Gärditz, Hochschulorganisation und verwaltungsrechtliche Systembildung, 2009, S. 376 f.; Bernhard Kempen, Grundrechtsverpflichtete, in: Detlef Merten/Hans-Jürgen Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. II, 2006, § 54 Rn. 4 ff. 18 Gärditz, in: Dürig/Herzog/Scholz (Anm. 17), Art. 5 Abs. 3 Rn. 132, 154; Gabriele Britz, in: Dreier, GG I (Anm. 10), Art. 5 Abs. 3 Rn. 66; Barbara Remmert, in: Günter Dürig/Roman Herzog/Rupert Scholz (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, Bd. III, Art. 19 Abs. 3 (Mai 2009), Rn. 49, 102; Gärditz, Hochschulorganisation (Anm. 17), S. 375 f.; stellvertretend aus der Rspr. s. BVerfG, Beschl. v. 17.2.2016 – 1 BvL 8/10, BVerfGE 141, 143 (164). 19 Entscheidend ist, dass Grundrechte „in ihrer primären Eigenschaft als Abwehrrechte [. . .] rechtslogisch nicht denselben [Kursivierung nicht im Original, M. J.] Rechtsträger gleichzeitig berechtigen und verpflichten“ können Stefan Storr, Der Staat als Unternehmer, 2001, S. 188.
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b) Grundrechtsverpflichtung von Hochschullehrenden und Studierenden Schwieriger zu beantworten ist, ob die Grundrechte von Hochschullehrenden und Studierenden unmittelbar zueinander wirken, also ein Grundrechtsverhältnis im Sinne einer dreistelligen Rechte-Verpflichtungs-Relation zwischen ihnen zustande kommen kann. Relevant kann auch werden, ob ein solches zwischen Hochschullehrenden und verfasster Studierendenschaft, etwa in Form des Allgemeinen Studierendenausschusses entstehen kann.20 Sollten Freiheitsgefährdungen von Studierenden ausgehen, weil sie Lehrveranstaltungen stören oder ihre gefahrfreie Durchführung gänzlich unmöglichen machen, greifen die Studierenden selbst in die Wissenschaftsfreiheit des Hochschullehrenden ein? Kann der Hochschullehrende in die Grundrechte der Studierenden eingreifen, wenn er einen Studierenden beispielsweise von seinem Proseminar ausschließt? Zum Teil heißt es, dass den Universitätsangehörigen als hoheitsunterworfenen Grundrechtsträgern und kollegialem Teilorgan des grundrechtspflichtigen Hoheitsträgers ein Doppelstatus zukomme: mal als Grundrechtsberechtigter, mal als Grundrechtspflichtiger.21 So formulierte Rupert Scholz, dass sich „Universitätsangehörige in ihrem gemeinsamen, öffentlichrechtlich und grundrechtlich verfassten Sonderstatus als Universitätsmitglieder gegenüber“ stünden. „Kraft organisationsrechtlicher Grundrechtstransformation berechtigt und verpflichtet
20 Zur verfassten Studierendenschaft knapp Bernd Kleinmann, Universitätsorganisation und präsidiale Leitung. Führungspraktiken in einer multiplen Hybridorganisation, 2016, S. 128 Anm. 170. 21 Pieroth, Störung (Anm. 8), S. 101 f.; Rupert Scholz, in: Theodor Maunz/Günter Dürig (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, Bd. I, Art. 5 Abs. 3 (Grundwerk), Rn. 130 (Kommentierung bis zur 87. Ergänzungslieferung); affirmativ Judith Froese, Der Universitätscampus als „Safe Space“: Verlangt die Rechtsordnung die Gewährleistung einer Wohlfühlatmosphäre?, JZ 2018, S. 480 (483 f.).
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Art. 5 Abs. III [sic] jedes Universitätsmitglied unmittelbar.“ 22 Es trifft zwar zu, dass der Hochschullehrende mal in seiner Funktion als Träger öffentlicher Gewalt agiert und mal selbst Freiheitsrechte, besonders gegenüber der Universität in Anspruch nimmt. Eine solche Sichtweise vermischt jedoch die Frage, wer handelt und zu wem ein Rechtsverhältnis entsteht. Auch wenn der Hochschullehrende grundrechtsgebunden agiert, entsteht nicht zwischen ihm als Person und den Studierenden ein Grundrechtsverhältnis, sondern ausschließlich zwischen der Universität als Rechtsträger und dem Studierenden. Zuordnungsendpunkt ist stets, auch wenn der Hochschullehrende handelt, die Universität als Rechtsträger. Es führt damit nicht weiter, einen Doppelstatus anzunehmen. Studierende sind demgegenüber unzweifelhaft selbst nicht grundrechtsgebunden.23 Obschon vereinzelte verwaltungsgerichtliche Judikate aus den 1970er Jahren im Streit um Studentenproteste und Studentenstreiks gelegentlich davon sprachen, dass die Studierenden in das Freiheitsrecht des Hochschullehrenden „eingriffen“, handelt es sich bei diesen Handlungen nicht Eingriffe im grundrechtsdogmatischen Sinne, also nicht um Handlungen eines Grundrechtsgebundenen.24 Die durch die Immatrikulation begründete Einbeziehung der Studierenden in das korporationsrechtliche Verhältnis, das die Universität als mitgliedschaftlich verfassten Zusammenschluss ausmacht, bewirkt nicht, dass die Studierenden selbst zur öffentlichen GeScholz, in: Maunz/Dürig (Anm. 21), Art. 5 Abs. 3 Rn. 130. Im Ergebnis wohl Pieroth, Störung (Anm. 8), S. 100; gegen eine Grundrechtsgebundenheit der Studierenden auch Froese, Universitätscampus (Anm. 21), S. 484. 24 Zum Teil gebrauchten die Gerichte Terminologien, die auf eine Grundrechtsgebundenheit der Studierenden hindeuteten: Das VG München, Beschl. v. 14.5.1974 – M 150 III 74, etwa sprach im Zusammenhang mit einem studentischen Streikaufruf von einem „Eingriff in die Lehrfreiheit“; weitere Nachweise aus der damaligen Rspr. sowie umfassend zu der Frage einer (unmittelbaren) Drittwirkung von Art. 5 III GG Pieroth, Störung (Anm. 8), S. 147 Anm. 10, S. 149 Anm. 19; wohl auch einen Eingriff für möglich erachtet Scholz, in: Maunz/Dürig (Anm. 21), Art. 5 Abs. 3 Rn. 130. 22 23
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walt im Sinne des Art. 1 Abs. 3 GG avancieren.25 Sie sind ausschließlich grundrechtsberechtigt gegenüber der Universität. Zwischen Studierenden und Hochschullehrenden kann daher a priori kein Grundrechtsverhältnis zustande kommen. Die Grundrechte als verfassungsunmittelbare Grundlage für einen Abwehr- und Unterlassungsanspruch zwischen Hochschullehrenden und Studierenden scheiden aus. 2. Grundrechtliche Stellung von Hochschullehrenden Das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit bildet für die Beschreibung des Umfangs und der Grenzen der Redefreiheit an Hochschulen den ersten Zugriff, geht es an Universitäten doch zu allererst um die wissenschaftliche Kommunikation – besonders dann, wenn man die Hochschullehrenden in den Blick nimmt. Die Freiheit der Wissenschaft als individuelles Abwehrrecht ist gegenüber den anderen in Art. 5 GG versammelten Grundrechten spezieller, wenn sich der Hochschullehrende wissenschaftlich betätigt. Es unterliegt nach der grundgesetzlichen Systematik anderen Einschränkungsmöglichkeiten als diese.26 Es handelt sich bei dem durch Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG fundierten Grundrecht auf Freiheit der Wissenschaft jedoch keinesfalls um ein Sondergrundrecht der Hochschulangehörigen, obwohl es in aller Regel die Hochschullehrenden sind, die sich durch ihre Funktion im Universitätsbetrieb auf den Schutz der Wissenschaftsfreiheit verlassen können.27 Geschützt ist nur derjenige, der „wissenschaftlich tätig ist oder tätig werden will“. 28 Darun25 Das mag für studentische Vereinigungen wie dem Allgemeinen Studierendenausschuss anders sein, wenn er als teilrechtsfähiges Organ der Universität agiert. 26 Gärditz, in: Dürig/Herzog/Scholz (Anm. 17), Art. 5 Abs. 3 Rn. 28, 32; zur Wissenschaftsfreiheit als (individuelles) Abwehrrecht ders., in: Dürig/Herzog/Scholz (Anm. 17), Art. 5 Abs. 3 Rn. 47. 27 Gärditz, in: Dürig/Herzog/Scholz (Anm. 17), Art. 5 Abs. 3 Rn. 50, 130. 28 BVerfG, Beschl. v. 3.3.1993 – 1 BvR 757/88, 1 BvR 1551/88, BVerfGE 88, 129 (136).
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ter fallen nicht die Studierenden, wenn sie (lediglich) studieren. Für sie gilt das berufsbezogene Recht der Studierfreiheit aus Art. 12 GG als Ausprägung des einheitlichen Rechts auf Berufsfreiheit.29 Etwas anderes gilt dann, wenn sie sich selbst wissenschaftlich betätigen, etwa eine Seminararbeit schreiben oder promovieren.30 a) Schutz wissenschaftlicher Kommunikationszusammenhänge durch Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG In Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG heißt es: „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei.“ Die durch Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG fundierte Freiheit der Wissenschaft schützt in der Form des individuellen Abwehrrechts den wissenschaftlichen Kommunikationsprozess davor, dass sich die öffentliche Gewalt als Bindungsadressatin des Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG mit der Macht des staatlichen Apparates als unmittelbare Teilnehmerin des wissenschaftlichen Kommunikationsprozesses installiert.31 Der Staat greift in die Wissenschaftsfreiheit ein, wenn er auf Wissenschaftsinhalte autoritativ Einfluss zu nehmen oder Methoden vorzugeben versucht.32 Bislang äußerte sich das Bundesverfassungsgericht nur selten zum individuellen Freiheitsrecht des Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG.33 29 Gärditz, in: Dürig/Herzog/Scholz (Anm. 17), Art. 5 Abs. 3 Rn. 122; Ekkehart Stein, Die Wissenschaftsfreiheit der Studierenden, JA 2002, S. 253 (253 ff.); umfassend zum Streitstand m. w. N. offenlassend VGH BW, Urt. v. 21.11.2017 – 9 S 1145/16, BeckRS 2017, 133435 Rn. 37 f. 30 Gärditz, in: Dürig/Herzog/Scholz (Anm. 17), Art. 5 Abs. 3 Rn. 129; BVerfG, Beschl. v. 17.2.2016 – 1 BvL 8/10, BVerfGE 141, 143 (167), meint sogar, dass „das Recht, sich im Rahmen des Studiums am wissenschaftlichen Gespräch aktiv zu beteiligen“ von Art. 5 Abs. 3 GG geschützt sei. 31 Gärditz, in: Dürig/Herzog/Scholz (Anm. 17), Art. 5 Abs. 3 Rn. 149; ders., Die äußeren und inneren Grenzen der Wissenschaftsfreiheit. Zur politischen Struktur von Forschung und Lehre, WissR 51 (2018), S. 5 (9). 32 Gärditz, in: Dürig/Herzog/Scholz (Anm. 17), Art. 5 Abs. 3 Rn. 144. 33 In der Rspr. des BVerfG spielt die Wissenschaftsfreiheit als individuelles Abwehrrecht nur eine untergeordnete Rolle. Zumeist geht es um die organisatorische Dimension von Art. 5 Abs. 3 GG. Erstmals zur individuellen Berechtigungsdimension von Art. 5 Abs. 3 GG äußerte sich das
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Wissenschaftsfreiheit unterscheidet sich von der Meinungsfreiheit nicht zwangsläufig darin, dass der sich (wissenschaftlich) Äußernde eine besondere Beziehung zu seiner Aussage aufbaut. Der Wissenschaftler steht nicht selten mit seiner ganzen Person für seine Äußerung ein. Was unterscheidet aber die akademische, wissenschaftliche Rede von den anderen in Art. 5 GG versammelten Kommunikationsgrundrechten? Anders als die Meinungsfreiheit, bei der ganz und gar das wertende Element das Dafürhaltens und Meinens im Vordergrund steht, zeichnet sich die wissenschaftliche „Meinung“ dadurch aus, dass diese Form des wissenschaftlichen Meinens und Dafürhaltens gerade nicht emotional, unsachlich, polemisch oder unbegründet sein darf.34 Wissenschaftsfreiheit zeichnet sich im Gegensatz zur Meinungsfreiheit dadurch aus, dass der Äußernde gewisse professionelle Standards einhalten muss.35 Wissenschaftliche Kommunikation muss um intersubjektive Nachvollziehbarkeit und Objektivität bemüht sein. Ganz in diesem Sinne beschreibt das Bundesverfassungsgericht, dass Wissenschaft nur ist, was „nach Inhalt und Form“ als ein „ernsthafter planmäßiger Versuch zur Ermittlung der Wahrheit“ angesehen werden kann.36 Sie muss der Erforschung der WahrBVerfG bei der Verpflichtung von Wissenschaftlern, die gesellschaftlichen Folgen ihres Tuns mitzubedenken, BVerfG, Beschl. v. 1.3.1978 – 1 BvR 333/75 u. a., BVerfGE 47, 327 (367 ff.). 34 Stellvertretend Sebastian Müller-Franken, Meinungsfreiheit im freiheitlichen Staat. Verfassungserwartungen und Verfassungsvoraussetzungen einer gefürchteten Freiheit, 2013, S. 31 ff.; nach ständiger Rspr. des BVerfG zeichnet sich eine Meinung durch das „Element der Stellungnahme, des Dafürhaltens, des Meinens im Rahmen einer geistigen Auseinandersetzung“ aus, s. BVerfG, Beschl. v. 19.11.1985 – 1 BvR 934/82, BVerfGE 71, 162 (179), unabhängig davon, „ob die Äußerung rational oder emotional, begründet oder grundlos ist und ob sie von anderen für nützlich oder schädlich, wertvoll oder wertlos gehalten wird“, s. BVerfG, Beschl. v. 10.10.1995 – 1 BvR 1476/91 u. a., BVerfGE 93, 266 (289); aus der Kommentarliteratur Helmuth Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG I (Anm. 10), Art. 5 Abs. 1–2, Rn. 62. 35 Gärditz, Grenzen (Anm. 31), S. 19. 36 BVerfG, Beschl. v. 1.3.1978 – 1 BvR 333/75 u. a., BVerfGE 47, 327 (367).
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heit verpflichtet sein. Die gängige Umschreibung des Schutzgegenstands der Wissenschaftsfreiheit als der ernsthafte und planmäßige Versuch zur Ermittlung der Wahrheit darf allerdings nicht verkürzend dahingehend (miss-)verstanden werden, dass nur solche Bemühungen Wissenschaft sind, die des objektiven Beweises zugänglich sind. Die Wissenschaft muss sich ihre epistemologische Offenheit bewahren, denn jedwedes menschliche Erkennen ist notwendigerweise begrenzt.37 Der Begrenztheit menschlichen Erkennens muss man sich bei der Normerkenntnis des Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG öffnen und bei der Definition des Schutzgegenstands berücksichtigen. Es ist damit nicht der Wahrheitsbezug, sondern das ernstliche Bemühen um Rationalität, das die wissenschaftliche Kommunikation auszeichnet.38 Eine Wissenschaft, die sich auf die Emotionalität, die Polemiken oder die Irrationalitäten der allgemeinen politischen Kommunikation einlässt, ist keine Wissenschaft, sondern (politische) Meinung.39 Die Demarkation zwischen wissenschaftlicher Kommunikation und Meinungskundgabe ist allerdings außerordentlich schwierig und hängt von vielen Faktoren ab. Auf eine Grenzziehung zwischen beiden kann aber nicht verzichtet werden, weil diese häufig ergebnisrelevant für die Zulässigkeit der Regulierung von Äußerungen ist.40 Die Wissenschaftlichkeit von Forschung und Lehre macht diese Kommunikationsformen von anderen Formen der Kommunikation erst unterscheidbar.41 An einem Bezug zur Wissenschaft mangelt es bei Äußerungen, die ganz 37 Gärditz, in: Dürig/Herzog/Scholz (Anm. 17), Art. 5 Abs. 3 Rn. 55 ff., 70, 77; die Kategorie der „Wahrheit“ sei, so ders., Grenzen (Anm. 31), S. 22, „epistemologisch zumindest problembeladen“. 38 Gärditz, in: Dürig/Herzog/Scholz (Anm. 17), Art. 5 Abs. 3 Rn. 81, elaboriert Unzulänglichkeiten, die der Qualifikation als wissenschaftliche Argumentation entgegenstehen können: Evidenzmaßstab, Kognitionsgebot, Argumentationsgebot. 39 Gärditz, Grenzen (Anm. 31), S. 19. 40 Zur divergierenden Schutzqualität sowie zu den unterschiedlichen Freiheitssicherungsfunktionen Gärditz, in: Dürig/Herzog/Scholz (Anm. 17), Art. 5 Abs. 3 Rn. 53; ders., Grenzen (Anm. 31), S. 14, 21. 41 Gärditz, in: Dürig/Herzog/Scholz (Anm. 17), Art. 5 Abs. 3 Rn. 52.
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überwiegend nicht methodologischer Objektivität, Rationalität und Nachvollziehbarkeit verpflichtet sind, sondern dem subjektiven Dafürhalten des Äußernden.42 Gärditz formuliert treffend: „Wissenschaft als Kommunikationszusammenhang reißt ab, wenn das Selbstverständnis der handelnden Personen nicht mehr als zumindest denkbarer Beitrag im wissenschaftlichen Diskurs vermittelt werden kann.“ 43 Der Schutzbereich von Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG muss damit zwangsläufig auf Grundlage von wissenschaftsimmanenten Kriterien konturiert werden, wenn über die Wissenschaftlichkeit eines Kommunikationszusammenhangs Auskunft gegeben werden soll. Welche konkreten Rationalitätsstandards ein Fach pflegt, kann nur jede Disziplin für sich beantworten.44 Die Angewiesenheit des grundrechtlichen Schutzgegenstands auf fachliche Standards einer Scientific Community verwundert zunächst. Die Angewiesenheit auf gewisse Standards darf jedoch nicht damit verwechselt werden, dass es die Wissenschaftsgemeinschaft selbst in der Hand hätte, über den Umfang und die Grenzen individueller Wissenschaftsfreiheit zu entscheiden und damit vermeintlich Abtrünnige des eigenen Fachs vom Schutz der Wissenschaftsfreiheit auszunehmen.45 Als individuelles Abwehrrecht muss die Wissenschaftsfreiheit auch vor versteinerten
42 Scholz, in: Maunz/Dürig (Anm. 21), Art. 5 Abs. 3 Rn. 93; Gärditz, Grenzen (Anm. 31), S. 23 f.; BVerfG, Beschl. 14.1.1969 – 1 BvR 553/64, BVerfGE 25, 44 (63): „Ein Verstoß gegen Art. 5 Abs. 3 GG liegt nicht vor, da der Beschwerdeführer seine Ansichten nicht als wissenschaftliche Theorie zur Diskussion stellte. Grund der Verurteilung war vielmehr seine aktive politische Betätigung, mag diese auch von der Theorie des Marxismus-Leninismus bestimmt gewesen sein“. 43 Gärditz, in: Dürig/Herzog/Scholz (Anm. 17), Art. 5 Abs. 3 Rn. 79; gleichlautend ders., Grenzen (Anm. 31), S. 24. 44 Gärditz, Grenzen (Anm. 31), S. 24, 25 f.; Thomas Gutmann, Freiheit der Wissenschaft, Freiheit der Meinung, in: Özem, Wissenschaftsfreiheit (Anm. 19), S. 1 (2 f.). 45 Nicht zu verwechseln mit einer zu Recht kritisch gesehenen „Drittanerkennung“ oder gar „Selbstdefinition“ Scholz, in: Maunz/Dürig (Anm. 21), Art. 5 Abs. 3 Rn. 89; mit ähnlicher Stoßrichtung BVerfG, Beschl. v. 11.1.1994 – 1 BvR 434/87, BVerfGE 90, 1 (12 f.).
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Standards einer Disziplin schützen: Der Kuhn’schen wissenschaftlichen Revolution46, die gerade mit überkommenen Auffassungen und womöglich auch Methoden der eigenen Disziplin bricht, darf nicht die Wissenschaftlichkeit abgesprochen werden.47 Aus diesem Grund ist die Bestimmung des Rationalitätsstandards stets rückgebunden an die individuelle Schutzfunktion von Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG.48 Die wissenschaftliche Kommunikation wird durch die beiden Teilgewährleistungen des Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG, der wissenschaftlichen Forschung49 und der wissenschaftlichen Lehre50 geschützt.51 Bei der akademischen Redefreiheit an Universitäten sind die kommunikationsbezogenen Elemente der Wissenschaftsfreiheit und weniger die nichtkommunikativen Erkenntnisprozesse betroffen. In der Ausprägung der Freiheit zur wissenschaftlichen Forschung schützt Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG die Kommunikation mit der Fachöffentlichkeit und die Publikation
46 Thomas Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 2. Aufl. 1979. 47 Plastisch spricht Gärditz, in: Dürig/Herzog/Scholz (Anm. 17), Art. 5 Abs. 3 Rn. 80, daher auch von einem „Grundrecht der Abweichler“; Gärditz, Grenzen (Anm. 31), S. 27; so auch das BVerfG, Beschl. v. 11.1.1994 – 1 BvR 434/87, BVerfGE 90, 1 (13): „Einem Werk kann allerdings nicht schon deshalb die Wissenschaftlichkeit abgesprochen werden, weil es Einseitigkeiten und Lücken aufweist oder gegenteilige Auffassungen unzureichend berücksichtigt. All das mag ein Werk als fehlerhaft im Sinn der Selbstdefinition wissenschaftlicher Standards durch die Wissenschaft ausweisen. Dem Bereich der Wissenschaft ist es erst dann entzogen, wenn es den Anspruch von Wissenschaftlichkeit nicht nur im einzelnen oder nach der Definition bestimmter Schulen, sondern systematisch verfehlt.“ 48 Gärditz, Grenzen (Anm. 31), S. 26. 49 Gärditz, in: Dürig/Herzog/Scholz (Anm. 17), Art. 5 Abs. 3 Rn. 94 ff.; das BVerfG, Urt. v. 29.5.1973 – 1 BvR 424/71 u. a., BVerfGE 35, 79 (113), bezeichnet Forschung als „die geistige Tätigkeit mit dem Ziele, in methodischer, systematischer und nachprüfbarer Weise neue Erkenntnisse zu gewinnen“. 50 Gärditz, in: Dürig/Herzog/Scholz (Anm. 17), Art. 5 Abs. 3 Rn. 115. 51 Gärditz, in: Dürig/Herzog/Scholz (Anm. 17), Art. 5 Abs. 3 Rn. 50; BVerfG, Urt. v. 29.5.1973 – 1 BvR 424/71 u. a., BVerfGE 35, 79 (113).
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der Forschungsergebnisse.52 Neben der Freiheit der wissenschaftlichen Forschung hebt das Grundgesetz eigens die Freiheit der Lehre hervor. Die Freiheit zur wissenschaftlichen Lehre betrifft die Kommunikation, die auf die Studierenden ausgerichtet ist und die forschungs- und wissenschaftsbezogene Wissensvermittlung, die sowohl auf die Vermittlung eigener als auch fremder Forschungsergebnisse ausgerichtet sein darf.53 Der Wissenschaftsbezug der Lehre macht deutlich, dass die Lehrfreiheit nicht als Plattform für die Kundgabe von politischen Meinungen dienen darf. Wissenschaftliche Lehre bleibt wissenschaftliche Lehre, solange und soweit sie der rationalen Begründung ihrer Ergebnisse treu bleibt; sie darf dabei durchaus prononciert, womöglich auch tendenziös sein und im gewissem Grad die Neutralität vermissen lassen. Entscheidend ist ein innerer Zusammenhang zum Lehrbetrieb und zur wissenschaftlich reflektierten Wissensvermittlung.54 Aus der grundgesetzlich geschützten Wissenschaftskommunikation fallen erst diejenigen Äußerungen heraus, die nicht mehr methodologisch angeleitet sind und nicht mehr um Rationalität bemüht sind.55 Fehlt ein solcher Bezug, so ist das Handeln des Hochschullehrenden schon prima facie nicht von Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG geschützt. b) Grenzen wissenschaftlicher Kommunikation Die Freiheit zur wissenschaftlichen Kommunikation hat Grenzen. Diese ergeben sich einerseits aus dem geschützten Ge52 Gärditz, in: Dürig/Herzog/Scholz (Anm. 17), Art. 5 Abs. 3 Rn. 111; BVerfG, Urt. v. 29.5.1973 – 1 BvR 424/71 u. a., BVerfGE 35, 79 (79 Ls. 1, 112). 53 Gärditz, in: Dürig/Herzog/Scholz (Anm. 17), Art. 5 Abs. 3 Rn. 118, unter der Einschränkung, dass die Vermittlung fremder Forschungsergebnisse wissenschaftlich reflektiert sein müsse. 54 Gärditz, in: Dürig/Herzog/Scholz (Anm. 17), Art. 5 Abs. 3 Rn. 117. 55 Als nicht mehr ausreichend erachtete das BVerfG, Urt. v. 17.8.1956 – 1 BvB 2/51, BVerfGE 5, 85 (146), in seinem KPD-Urteil für einen Wissenschaftsbezug, dass sich politisches Handeln auf marxistisch-leninistisches Gedankengut und Theorien gründet; gleichsinnig BVerfG, Beschl. 14.1.1969 – 1 BvR 553/64, BVerfGE 25, 44 (63); so auch Scholz, in: Maunz/Dürig (Anm. 21), Art. 5 Abs. 3 Rn. 93.
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währleistungsgegenstand, der notwendigerweise einer Definition bedarf und wegen der norminternen Systematik bereits auf dieser Ebene etwa (bloße) Meinungskundgaben ausscheidet. Die Definition eines grundrechtlichen Schutzbereichs heißt immer auch (innere und äußere) Grenzziehung.56 Das Problem der Grenzziehung zeigt sich insbesondere im US-amerikanischen Verfassungsrecht, in dem die Definition des Schutzgegenstands häufig im Sinne eines alles oder nichts über den Schutz schlechthin entscheidet.57 In der Tendenz ist der Schutzbereich von Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG eher großzügig zu bemessen, da prima facie Schutz nicht auch einen definitiven bedeutet.58 Die Wissenschaftsfreiheit unterliegt andererseits auch äußeren Grenzen. Grundrechte unterliegen gelegentlich sehr disparaten Rechtfertigungsmöglichkeiten von Einschränkungen. Die grundgesetzlich geschützte Meinungsfreiheit des Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG kann durch die allgemeinen, das sind die sich nicht gegen eine bestimmte Meinung als Sonderrecht richtenden Gesetze, eingeschränkt werden.59 Im Gegensatz dazu ist der Wissenschaftsfreiheit ein Vorbehalt der allgemeinen Gesetze nicht bekannt.60 Bereits die norminterne Systematik des Art. 5 GG sperrt sich 56 Mit dem Ziel bereits die Schranken bei der Bestimmung des Schutzbereichs zu bedenken Ernst-Wolfgang Böckenförde, Schutzbereich, Eingriff, verfassungsimmanente Schranken. Zur Kritik gegenwärtiger Grundrechtsdogmatik, Der Staat 42 (2003), S. 165 (165 ff.); zur Bedeutung des grundrechtlichen Schutzbereichs Plebuch, Wiederentdeckung (Anm. 10), S. 316 ff. 57 Eingehender dazu siehe IV. (S. 235 ff.). 58 Unterscheidung eines „definitiven“ und „prima facie Schutzbereichs“ Alexy, Theorie (Anm. 13), S. 87 ff. 59 Stellvertretend Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG I (Anm. 10), Art. 5 Abs. 1–2 Rn. 136 ff.; grundlegend BVerfG, Urt. v. 15.1.1958 – 1 BvR 400/ 51, BVerfGE 7, 198, (209 f.): Allgemeine Gesetze sind solche Gesetze, die nicht eine Meinung als solche verbieten, die sich nicht gegen die Äußerung der Meinung als solche richten, die vielmehr dem Schutze eines schlechthin, ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung, zu schützenden Rechtsguts dienen, dem Schutze eines Gemeinschaftswerts, der gegenüber der Betätigung der Meinungsfreiheit den Vorrang hat. 60 Gärditz, in: Dürig/Herzog/Scholz (Anm. 17), Art. 5 Abs. 3 Rn. 53; BVerfG, Beschl. v. 11.1.1994 – 1 BvR 434/87, BVerfGE 90, 1 (12).
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gegen eine Übertragung des Schrankenvorbehalts der allgemeinen Gesetze in Art. 5 Abs. 2 GG auf das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit. Der Parlamentarische Rat war sich zunächst nicht vollends einig darin, ob die Freiheit der Wissenschaft anderen äußeren Grenzen unterliegen soll als etwa die Meinungsoder Pressefreiheit.61 Er entschloss sich schlussendlich aber, die Wissenschaftsfreiheit keinem ausdrücklichen Schrankenvorbehalt zu unterwerfen. Wie die anderen vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechte findet die Wissenschaftsfreiheit ihre Grenzen ausschließlich in den Freiheitsrechten anderer oder – nicht unumstritten – anderen Werten mit Verfassungsrang.62 Denn, so das Bundesverfassungsgericht, „nach dem die Verfassungsinterpretation leitenden Prinzip der Einheit der Verfassung ist eine Betrachtungsweise zu vermeiden, die einzelne Werte und Prinzipien gegenüber anderen einseitig vorzieht oder verwirf“.63 Als Gegenrechte für die Wissenschaftsfreiheit kommen neben der durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützten berufsbezogenen Studierfreiheit der Studierenden64 etwa ihre Menschenwürde aus Art. 1 Abs. 1 GG65, ihr Grundrecht auf Glaubens und Gewissensfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG66, das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG67, das allgemeine
61 Der Abg. Bergsträsser erwog etwa in dem von ihm verfassten Katalog der Grundrechte, Anregungen von Dr. Bergsträsser als Berichterstatter vom 21.9.1949, in: Deutscher Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948–1949. Akten und Protokolle, Bd. V, 1993, S. 15 (23 f.), die Wissenschaftsfreiheit vollends in die Meinungsfreiheit zu integrieren und denselben Grenzen zu unterwerfen; dazu auch Gärditz, Grenzen (Anm. 31), S. 14 Anm. 43. 62 Allgemein zu verfassungsimmanenten Schranken Dreier, GG I (Anm. 10), Vorb. Art. 1 Rn. 139 ff.; speziell zu Art. 5 III GG Gärditz, in: Dürig/Herzog/Scholz (Anm. 17), Art. 5 Abs. 3 Rn. 151 ff.; ders., Grenzen (Anm. 31), S. 29. 63 BVerfG, Urt. v. 12.6.2018 – 2 BvR 1738/12 u. a., BVerfGE 148, 296 (358). 64 Gärditz, in: Dürig/Herzog/Scholz (Anm. 17), Art. 5 Abs. 3 Rn. 162. 65 Gärditz, Grenzen (Anm. 31), S. 29. 66 Gärditz, in: Dürig/Herzog/Scholz (Anm. 17), Art. 5 Abs. 3 Rn. 164 f. 67 Gärditz, Grenzen (Anm. 31), S. 29.
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Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG68, die Versammlungsfreiheit aus Art. 8 GG69 oder die Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 S. 1 Var. 1 GG in Betracht.70 Auch Aspekte des Rechts auf Gleichbehandlung bzw. Diskriminierungsfreiheit mögen einzelfallabhängig ein Gegenrecht zu der Wissenschaftsfreiheit des Hochschullehrenden bilden.71 Belange, die keine grundgesetzliche Verrechtlichung erfahren haben, wie eine „atmosphärische Konfliktfreiheit“ 72, bilden kein genügendes Gegenrecht, das eine Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit rechtfertigen könnte.73 Viele der Vorkommnisse, die jedenfalls in Deutschland die öffentliche Debatte prägten, fallen bereits aus dem gegenständlichen Schutzbereich des Grundrechts auf Wissenschaftsfreiheit heraus74. Der Hochschullehrende, der sich zu Themen äußert, Gärditz, in: Dürig/Herzog/Scholz (Anm. 17), Art. 5 Abs. 3 Rn. 163. Pieroth, Störung (Anm. 8), S. 166 ff., speziell zum studentischen Streik. 70 Dazu auch Gärditz, Grenzen (Anm. 31), S. 29 f.; Froese, Universitätscampus (Anm. 21), S. 484. 71 Gärditz, in: Dürig/Herzog/Scholz (Anm. 17), Art. 5 Abs. 3 Rn. 166; Froese, Universitätscampus (Anm. 21), S. 488. 72 Gärditz, in: Dürig/Herzog/Scholz (Anm. 17), Art. 5 Abs. 3 Rn. 168. 73 Froese, Universitätscampus (Anm. 21), S. 485 ff., mit umfassenden Nachweisen aus der Rspr. des BVerfG zu „unliebsamen Kommunikationsinhalten“; auch das „bloße Empfinden der Lernenden, [. . . ] Unangenehmes unterhalb der Schwelle von Persönlichkeitsrechtsverletzungen oder individuellen Diskriminierungen“ genügen nicht, so Gärditz, Grenzen (Anm. 31), S. 39 f. (Zitat S. 39); illustrativ etwa BVerfG, Urt. v. 22.2. 2011 – 1 BvR 699/06, BVerfGE 128, 226 (266): „Ein vom Elend der Welt unbeschwertes Gemüt des Bürgers ist kein Belang, zu dessen Schutz der Staat Grundrechtspositionen einschränken darf.“; einschränkend fügte das BVerfG, Urt. v. 12.12.2000 – 1 BvR 176/95, 1 BvR 1787/95, BVerfGE 102, 347 (364), in der vorausgegangenen Entscheidung, der die Sentenz entstammt, relativierend hinzu: „Anders kann es zu beurteilen sein, wenn ekelerregende, furchteinflößende oder jugendgefährdende Bilder gezeigt werden.“ 74 Gärditz, in: Dürig/Herzog/Scholz (Anm. 17), Art. 5 Abs. 3 Rn. 163: „In der Regel werden Persönlichkeitsrechtsverletzungen schon nicht den Schutz des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG genießen, weil es an rational-methodischer Erkenntnis bzw. Erkenntnisvermittlung fehlt (z. B. [sic] sexuelle 68 69
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die nicht mehr durch die äußeren Grenzen seiner Disziplinarität abgesteckt werden, kommuniziert nicht im Schutzbereich der Wissenschaftsfreiheit, sondern äußert eine Meinung im Sinne von Art. 5 Abs. 1 GG.75 Deutlich wird dies besonders dort, wo etwa ein Rechtswissenschaftler sich zur Selektionstheorie äußern würde.76 Häufig geht es in den Fällen, in denen es zu Konflikten zwischen Studierenden und Hochschullehrenden einerseits oder Hochschullehrenden und ihren Universitäten andererseits kommt, daher weniger um die Freiheit der Wissenschaft als vielmehr um die Grenzen politischer Meinungskundgabe. Nicht unbesehen bleiben darf allerdings, dass auch hier die Grenzziehung Probleme bereiten kann, da die (äußeren) Fächergrenzen einerseits nicht klar definiert sind, andererseits die Grenzen der eigenen Fachlichkeit stetigen Wandlungen unterliegen können.77 Bewegen sich die Äußerungen noch im Schutzbereich der Wissenschaftsfreiheit, so lassen sich Einschränkungen der Lehrfreiheit durch die grundrechtsverpflichtete Universität gegenüber ihren Hochschullehrenden in aller Regel nicht rechtfertigen. Verfassungsrechtlich relevante Gegenrechte lassen sich meist nicht ausmachen. Der Inhalt der Kommunikation kann im Grundsatz nicht zum Anlass einer Einschränkung genommen werden. Größeren Einschränkungsmöglichkeiten unterliegt die äußere Form der Kommunikation, die sich als ein Angriff auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht einzelner Studierender erBelästigungen, ,Herrenwitze‘ in Vorlesungen, rassistische Beleidigung von Studierenden).“ Ähnlich ders., Grenzen (Anm. 31), S. 31 f. 75 Wie schwierig die Abgrenzung am Maßstab der Grenzen der eigenen Disziplinarität sein kann, zeigen die Beispiele, die Gärditz, in: Dürig/Herzog/Scholz (Anm. 17), Art. 5 Abs. 3 Rn. 118 Anm. 8, nennt. – Ein illustratives Beispiel, wie sich die Grenzen der eigenen Fachlichkeit wandeln können, bietet die Entwicklung der rechtswissenschaftlichen (Sub-)Disziplin Rechtssoziologie, die sich erst nach und nach als eigenständige Disziplin etablierte, vgl. zur Geschichte der Rechtssoziologie Manfred Rehbinder, Rechtssoziologie, 1977, S. 36 ff. 76 Ähnliche Beispiele bei Gärditz, Grenzen (Anm. 31), S. 31 f. 77 Es ließe sich die durchaus berechtigte Frage stellen, ob nicht nahezu alles auch (verfassungs-)rechtliche Implikationen hat, sodass etwa Fragen von Diversität immer auch eine juristische Dimension aufweisen.
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weisen kann. Dazu kann es etwa kommen, wenn Lehre begleitet wird von offensichtlich sexistischen und rassistischen Herablassungen. Häufig handelt es sich bei solchen Äußerungen nicht mehr um Kommunikation, die den Grundsätzen der Fachlichkeit verpflichtet ist. Sie fällt damit gegenständlich nicht mehr in den Schutzbereich der Wissenschaftsfreiheit.78 Ob die Grenzen der Fachlichkeit überschritten sind oder die Form der Kommunikation grundrechtliche Gegenrechte beeinträchtigt, weil sie sexistisch oder rassistisch ist, ist eine juristische Frage. Sie ist nicht in das subjektive Empfinden eventuell Betroffener gestellt. Vieldimensionale Begriffe wie z. B. Sexismus, müssen zur Grenzbestimmung grundgesetzlicher Freiheiten stets grundgesetzlich rückgekoppelt werden.79 Die Bestimmung der Gegenrechte, die dem Hochschullehrenden einzelfallabhängig entgegengehalten werden können und die unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit eine Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit rechtfertigen können, bereitet im Detail durchaus Schwierigkeiten. Die Festlegung des möglicherweise betroffenen kollidierenden Verfassungsrechts ist nicht beliebig. Man darf nicht darauf hoffen, dass die Schranken-Schranke der Verhältnismäßigkeit für sich allein den Grenzen der akademischen Redefreiheit Konturen verleiht. Die Verhältnismäßigkeitsprüfung ist wie jede Abwägungsentscheidung darauf angewiesen, dass im Rahmen einer Zweck-Mittel-Relation die Wertigkeiten von Interessen einander gegenübergestellt werden. Es ist unabdingbar, exakt die Gegenrechte herauszuarbeiten.80 Tut man dies, verliert die Sorge um das Ende der Redefreiheit an Universitäten viel von ihrem Schrecken. Dem etwaigen Bemühen von Universitäten,
Gärditz, Grenzen (Anm. 31), S. 38. Zu pauschal Gärditz, in: Dürig/Herzog/Scholz (Anm. 17), Art. 5 Abs. 3 Rn. 178. 80 Oliver Lepsius, Die Chancen und Grenzen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, in: Matthias Jestaedt/ders. (Hrsg.), Verhältnismäßigkeit. Zur Tragfähigkeit eines verfassungsrechtlichen Schlüsselkonzepts, 2015, S. 2 (39): „Die Bestimmung des legitimen Zwecks als Schaltstelle der Prüfung“; ders., s. v. Abwägung, in: Görres-Gesellschaft/Verlag Herder (Hrsg.), Staatslexikon, Bd. I, 8. Aufl. 2017, Sp. 39 (42 ff.). 78 79
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die Hochschullehrenden zu sogenannten Trigger-Warnings zu verpflichten oder sogenannte Safe-Spaces als konfrontationsfreie Räume an der Universität zu schaffen, korrespondiert jedenfalls verfassungsrechtlich etwa mit einem Recht auf eine konfrontationsfreie Atmosphäre kein Gut von Verfassungswert.81 Der Zulässigkeit der Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit ist daher eine klare Absage zu erteilen, wenn sich schon keine Rechte der Studierenden finden lassen, die als kollidierendes Verfassungsrecht einen Grundrechtseingriff in die Lehrfreiheit des Hochschullehrenden rechtfertigen können. Sofern es um beamtetes Hochschulpersonal geht – in Deutschland ist dies weit überwiegend der Fall – könnte die Verpflichtung zur politischen Loyalität und das Gebot der Mäßigung als Bestandteile der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums nach Art. 33 Abs. 5 GG neben den Rechten Dritter der Wissenschaftsfreiheit der Hochschullehrenden weitere verfassungsimmanente Grenzen ziehen.82 Bei der Frage der Grenzziehung wird damit der oben abgelehnte Doppelstatus des beamteten Hochschullehrenden relevant. Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG überlagert allerdings die beamtenrechtlichen Grundsätze, wenn und soweit der Hochschullehrende Aufgaben wahrnimmt, die in den Schutzbereich der Wissenschaftsfreiheit fallen.83 Dafür, dass Art. 33 Abs. 5 GG nicht für die spezifisch wissenschaftlichen Verhaltensweisen gilt, spricht Art. 5 Abs. 3 S. 2 GG. Die auf die 81 Gärditz, Grenzen (Anm. 31), S. 39; Froese, Universitätscampus (Anm. 21), S. 484 ff. 82 BVerfG, Urt. v. 24.9.2003 – 2 BvR 1436/02, BVerfGE 108, 282 (316): „Wer Beamter werden will, darf deshalb das Gebot der Mäßigung und der beruflichen Neutralität nicht ablehnen, weder generell noch in Bezug auf bestimmte, vorweg erkennbare dienstliche oder außerdienstliche Konstellationen.“; Gärditz, in: Dürig/Herzog/Scholz (Anm. 17), Art. 5 Abs. 3 Rn. 176; grundlegend zum Zusammenspiel von Art. 33 V GG und Art. 5 III GG Carsten Bäcker, Wissenschaft als Amt: Das verfassungsrechtliche Hochschulbeamtenrecht aus Art. 33 Abs. 5 GG i.V. m. Art. 5 Abs. 3 GG, AöR 135 (2010), S. 78 (78 ff.). 83 Gärditz, Grenzen (Anm. 31), S. 35 f.; BVerfG, Beschl. v. 28.10. 2008 – 1 BvR 462/06, BVerfGE 122, 89 (106); BVerfG, Urt. v. 14.2.2012 – 2 BvL 4/10, BVerfGE 130, 263 (299).
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Lehre bezogene Treueklausel des Art. 5 Abs. 3 S. 2 GG muss als Privilegierung zum allgemeinen Mäßigungsgebot als Bestandteil der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums verstanden werden.84 Sie verlöre ihren Sinn, wenn sie die Wissenschaftsfreiheit nicht von der Strenge des Mäßigungsgebots freistellte, wenn der Wissenschaftler forscht oder lehrt. Der Hochschullehrende ist allerdings nicht von seinen beamtenrechtlichen Pflichten befreit, wenn er allgemeine, nicht-wissenschaftliche Dienstaufgaben erfüllt. Dasselbe gilt für die äußere Form der Erfüllung von Aufgaben.85 In diesen Fällen kann Art. 33 Abs. 5 GG Freiheitseinschränkungen rechtfertigen.86 Die Treueklausel ist jedoch auch dann nicht bedeutungslos: Sie bildet für den Funktionsbereich der Lehre einen besonderen, qua Spezialität gegenüber Art. 33 Abs. 5 GG vorrangigen Maßstab. Die Treuebindung markiert eine unübersteigbare Hürde gegen die Vermachtung des Hörsaals für politische Agenden des Hochschullehrenden.87 Für Hochschullehrende hat das beamtenrechtliche Mäßigungsgebot insgesamt damit nur eine eingeschränkte Bedeutung, weil andernfalls das individuelle Recht auf freie Wissenschaft allzu sehr an Substanz verlöre.88 Dies ist die Konsequenz des Grundrechts im Amt: Wissenschaftsperson und Amtsperson lassen sich nicht trennen. c) Freiheitsausübungskonflikte unter dem Dach der Universität – Universitäten als Garanten grundrechtlicher Freiheiten von Universitätsangehörigen Gelegentlich geht es nicht um direkte Konflikte zwischen der Universität und den Hochschullehrenden; jedenfalls nicht im ersten Zugriff. Freiheitsgefährdungen gehen zumeist von den 84 In diesem Sinn Gärditz, in: Dürig/Herzog/Scholz (Anm. 17), Art. 5 Abs. 3 Rn. 177; ders., Grenzen (Anm. 31), S. 36. 85 Gärditz, in: Dürig/Herzog/Scholz (Anm. 17), Art. 5 Abs. 3 Rn. 176, 178. 86 Gärditz, in: Dürig/Herzog/Scholz (Anm. 17), Art. 5 Abs. 3 Rn. 176. 87 Gärditz, in: Dürig/Herzog/Scholz (Anm. 17), Art. 5 Abs. 3 Rn. 178; ders., Grenzen (Anm. 31), S. 32. 88 Gärditz, Grenzen (Anm. 31), S. 37.
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nicht selbst an die Grundrechte des Hochschullehrenden gebundenen Studierenden aus. Man hat hier beispielsweise die Bilder vor Augen, in denen Störungen oder Blockaden des Lehrbetriebs durch Studierende dokumentiert sind. Die Situation fehlender Bindung von Hochschullehrenden und Studierenden an die jeweiligen grundrechtlichen Positionen des anderen entspricht strukturell den Horizontalkonflikten zwischen Privaten, auch wenn der (verbeamtete) Hochschullehrende selbst in den Staat eingegliedert und ein Grundrechtsträger im Amt ist. Wäre der Studierende der Staat, so läge in seinem Handeln ein Eingriff in den Gewährleistungsgehalt des Grundrechts des Hochschullehrenden. Man kann in dieser Situation von einem Übergriff sprechen.89 Kommt es zu einem Übergriff auf eine im Verhältnis zur Universität grundrechtlich geschützten Position, kann die Universität das übergriffige Verhalten möglicherweise untersagen oder muss es sogar. Ergreift die Universität zum Schutz seines Hochschullehrenden eine Ordnungsmaßnahme, kommen die Grundrechte dem sanktionierten Studierenden gegenüber in ihrer klassischen abwehrrechtlichen Dimension zugute.90 Die Grundrechte wirken in diesem Fall unmittelbar nur zwischen der Universität und den sanktionierten Studierenden. Die Universität kann allerdings gerade dazu aufgerufen sein, (eingreifend) tätig zu werden, um den Hochschullehrenden etwa 89 Der Begriff des (grundrechtsdogmatischen) Übergriffs umfasst im Gegensatz zu dem Eingriff alle Handlungen eines Nicht-Adressaten einer Grundrechtsbestimmung. Den „Grundrechtseingriff Privater“ als einen Eingriff im engeren dogmatischen Sinn lehnt zu Recht ab Poscher, Grundrechte (Anm. 13), S. 156 f., der jedoch die Beeinträchtigung als Gegenbegriff zum Eingriff verwendet; gegen den Grundrechtseingriff Privater Franz-Joseph Peine, Der Grundrechtseingriff, in: Detlef Merten/ Hans-Jürgen Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. III, 2009, § 57 Rn. 37; Christian Hillgruber, Grundrechtlicher Schutzbereich, Grundrechtsausgestaltung und Grundrechtseingriff, in: Josef Isensee/ Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IX, 3. Aufl. 2011, § 200 Rn. 87. 90 Das OVG Hamburg, Beschl. v. 26.5.1977 – Bs. III 20/77, NJW 1977, S. 1254 (1254 f.), erachtete die Universität als verpflichtet, Störungen des Vorlesungsbetriebes mit den Mitteln des Ordnungsrechts entgegenzuwirken.
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vor der Störung seiner Lehrveranstaltung, falls diese die verfassungsrechtliche Relevanzschwelle überschreitet, zu schützen. Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG fundiert zugunsten des Hochschullehrenden eine Schutzpflicht, welche die allgemeine beamtenrechtliche Fürsorgepflicht aus Art. 33 Abs. 5 wissenschaftsspezifisch anreichert und verstärkt.91 Zwar ist die durch Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG fundierte Schutzpflicht, wie auch andere grundrechtliche Schutzpflichten, zuvörderst an den Gesetzgeber gerichtet.92 Doch auch die anderen staatlichen Einrichtungen sind dazu verpflichtet, den verfassungsrechtlichen Schutzauftrag funktionsspezifisch umzusetzen.93 Der Schutz, den die Universität zugunsten eines Universitätsmitglieds organisiert, wirkt janusköpfig: Der Schutz des einen Hochschulangehörigen zulasten eines anderen Angehörigen der Universität wird zumeist im Modus des Eingriffs erfolgen.94 Der Schutz des einen ist nur um den Preis der Beschneidung von Handlungsmöglichkeiten des anderen möglich. Auf diese Weise werden die Rechte des Akteurs, zu dessen Gunsten der Eingriff erfolgt, einerseits Posten bei der Rechtfertigung dieses Eingriffs. Andererseits sind die Rechte desjenigen Akteurs, in dessen Rechte eingegriffen wird, Posten bei der Entscheidung der Universität, ob ein schützender Eingriff geboten 91 Gärditz, in: Dürig/Herzog/Scholz (Anm. 17), Art. 5 Abs. 3 Rn. 269, spricht von einer „wissenschaftsspezifischen“ Verstärkung; so auch BVerfG, Beschl. v. 7.10.1980 – 1 BvR 1289/78, BVerfGE 55, 37 (68): „Der Gesetzgeber ist gehalten, durch geeignete organisatorische Maßnahmen sicherzustellen, daß Störungen und Behinderungen der Wissenschaftsfreiheit der Hochschullehrer, auch ihrer Lehrfreiheit, durch Einwirkungen studentischer Gruppen soweit wie möglich ausgeschlossen werden“. – Zur allgemeinen Fürsorgepflicht BVerfG, Beschl. v. 15.12. 1976 – 2 BvR 841/73, BVerfGE 43, 154 (165). 92 Die Schutzpflicht verlangt zuvörderst vom Gesetzgeber eine Gestaltung der Rechtsordnung, welche dem Schutzanliegen der Grundrechte gerecht wird Christian Bumke, Ausgestaltung von Grundrechten, 2009, S. 45 f.; konkret zum Gesetzgeber als Primäradressaten der Schutzpflicht aus Art. 5 III GG Gärditz, in: Dürig/Herzog/Scholz (Anm. 17), Art. 5 Abs. 3 Rn. 269. 93 Rainer Wahl/Johannes Masing, Schutz durch Eingriff, in: JZ 1990, S. 553 (559). 94 Wahl/Masing, Schutz (Anm. 93), S. 553 ff.
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ist. Die Universität kann aus diesem Grund nicht beliebig das Verhältnis der Hochschulmitglieder untereinander organisieren. Ein Eingriff in eine ihr gegenüber grundrechtlich geschützte Position ist nur dann zulässig, wenn in dem Verhalten des einen Universitätsmitglieds auch tatsächlich ein Übergriff auf ein Schutzgut vorliegt, das von der Universität geschützt werden muss. Äußert sich ein Hochschullehrender und unterfällt seine Aussage nicht mehr dem wissenschaftlichen Kommunikationszusammenhang, der durch Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG geschützt wird, dann entfällt schon das Schutzsubstrat. Die Meinungsfreiheit verlangt zwar ebenfalls den Schutz, dieser ist aber schwächer ausgebildet. Nicht immer greift die Universität aber in ein Grundrecht eines Studierenden ein, wenn sie sich schützend vor ihre Hochschullehrenden stellt. Die Universität muss sich nicht (mehr) gegenüber den Studierenden rechtfertigen, wenn sie zum Schutz der Wissenschaftsfreiheit des Hochschullehrenden eingreift, um Studierende daran zu hindern, die Lehrveranstaltung gewaltsam zu stürmen. In dieser Situation unterfällt das Handeln der Studierenden schon nicht mehr dem Gewährleistungsbereich der Meinungsfreiheit, da dieses seinem Schutzgegenstand nur auf eine geistig-intellektuelle Auseinandersetzung ausgerichtet ist.95 Ebenso können sich die Studierenden nicht mehr auf ihr Versammlungsrecht berufen, wenn die Aktion auf dem Campus einen aufrührerischen Verlauf nimmt.96 Hier bestehen im Detail schwierige Abgrenzungsfragen, die nur im Einzelfall beantwortet werden können. Der Universität kommt damit die Aufgabe zu, die involvierten Interessen der Beteiligten zu koordinieren und zu einem gerechten Ausgleich zu bringen.97 Die Grundrechte wirken
Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG I (Anm. 10), Art. 5 Abs. 1–2 Rn. 72 f. Zur sachlichen Schutzbereichsbeschränkung der Unfriedlichkeit Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG I (Anm. 10), Art. 8 Rn. 41. 97 Wie hier Froese, Universitätscampus (Anm. 21), S. 484, die von der „Herstellung praktischer Konkordanz in mehrpoligen Rechtsverhältnissen“ spricht. 95 96
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im Verhältnis von Hochschullehrenden und Studierenden (nur) gesetzesmediatisiert und vermittelt durch die Universität. Die grundrechtlichen Positionen der Universitätsmitglieder bleiben uneingeschränkt staatsgerichtet. Das verfassungsrechtliche Anforderungsprofil für schützende Maßnahmen der Universität kann wegen ihrer ambivalenten Wirkweise nur relational vermessen werden. Die Universität hat die abstrakte Gewichtigkeit etwa der vorbehaltlosen Wissenschaftsfreiheit und der unter einfachem Gesetzesvorbehalt stehenden Meinungs-, Versammlungs- oder Berufsfreiheit der Studierenden zu berücksichtigen. IV. Schutz wissenschaftlicher Kommunikationszusammenhänge in den USA Trotz deutlicher Angleichung der Grundrechtskataloge auf aller Welt weisen die Grundrechtkataloge nationaler Verfassungen erhebliche normtextliche Unterschiede auf. Das gilt in besonderer Weise für die US-Verfassung, die sich von anderen Verfassungen nicht nur durch ihr Alter, sondern auch durch ihre besondere Textarmut und Fragmentarität auszeichnet. Anders als etwa das Grundgesetz kennt die US-Verfassung keinen lückenlosen Grundrechtsschutz.98 Der unterschiedliche Stil der US-amerikanischen Verfassung und des deutschen Grundgesetzes machen sich auch bei dem Schutz der Kommunikation bemerkbar: Die US-Verfassung und das Grundgesetz schützen Kommunikation auf unterschiedliche Art und Weise und in unterschiedlichen Grenzen. Die Freiheit der Rede (Free Speech), die durch das First Amendment zu der US-Verfassung garantiert ist, steht in den Vereinigten Staaten unter anderen Vorzeichen als in Deutschland. Auch die vorherrschende Debatte um Redefreiheit „on Campus“ befasst sich mit Themen, die in Deutschland nicht in dem Umfang Relevanz haben, wie in den USA. Universitäten in den USA versuchen erheblich auf die Kommunikation ihrer Stu98 Thomas Kleinlein, Grundrechtsföderalismus. Eine vergleichende Studie zur Grundrechtsverwirklichung in Mehrebenen-Strukturen – Deutschland, USA und EU –, 2020, S. 322.
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dierenden und Hochschullehrenden regulatorisch Einfluss zu nehmen.99 1. Vorherrschend: Private Universitäten Die Freiheiten, die ein Hochschullehrender an einer amerikanischen Universität genießt, werden in einem deutlich größeren Umfang als in Deutschland durch das Vertragsrecht („law of contracts“) dominiert.100 Das beruht unter anderem darauf, dass 99 Aus dem umfangreichen Schrifttum: Charles R. Lawrence. III, If He Hollers Let Him Go: Regulating Racist Speech on Campus, Duke Law Journal 1990, S. 431 (431 ff.); Lee Ann Rabe, Sticks and Stones: The First Amendment and Campus Speech Codes, Marshall Law Review 37, (2003), S. 205 (205 ff.); Thomas J. Davis, Assessing Constitutional Challenges to University Free Speech Zones under Public Forum Doctrine, Indiana Law Journal 79 (2004), S. 267 (267 ff.); Erwin Chemerinsky, Unpleasant Speech on Campus, Even Hate Speech, is a First Amendment Issue, William and Mary Bill of Rights Journal 17 (2009), S. 765 (765 ff.); Cara McClellan, Discrimination as Disruption: Addressing Hostile Environments without Violation the Constitution, Yale Law & Policy Review Inter Alia 34 (2015–2016), S. 1 (1 ff.); Geoffrey R. Stone, Freedom of Expression on Campus, Bulletin of the American Academy of Arts and Sciences 68 (2015), S. 60 (60 f.); Susan DuMont, Campus Safety v. Freedom of Speech: An Evaluation of University Responses to Problematic Speech on Anonymous Social Media, Journal of Business and Technology Law 11 (2016), S. 239 (239 ff.); Cagle Juhan, Free Speech, Hate Speech, and the Hostile Environment, Virginia Law Review 98 (2012), S. 1577 (1577 ff.); Clay Calvert, Reconsidering Incitement, Tinker and the Heckler’s Veto an College Campuses: Richard Spencer and the Charlottesville Factor, Northwestern University Law Review 109 (2017–2018), S. 109 (109 ff.); Alexander Tsesis, Campus Speech and Harassment, Minnesota Law Review 101 (2017), S. 1863 (1863 ff.); Suanne B. Goldberg, Free Expression on Campus: Mitigating the Costs of Contentious Speakers, Harvard Journal of Law & Policy 163 (2018), S. 163 (163 ff.); Thomas Healy, Return of the Campus Speech Wars, Michigan Law Review 117 (2019), S. 1063 (1063 ff.). 100 „At private universities, not bound by the First Amendment, the law of contracts is the only legal source for academic freedom rights“, A. Smolla, Smolla and Nimmer on Free Speech, 2009, § 17:31 (S. 15–52, 46 f.); zu der Gestaltung von Anstellungsverträgen an amerikanischen Hochschulen Julee T. Flood/Terry L. Leap, Managing Risk in HighStakes Faculty Employment Decisions, 2018, S. 80 ff., insb. zur vertraglichen Garantie akademischer Freiheit S. 98 f.
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viele der amerikanischen Universitäten private Einrichtungen sind. Sie sind aus diesem Grund nicht an die Verfassung gebunden. Einen Mindestschutz akademischer Redefreiheiten vermittelt die Verfassung Hochschullehrenden daher nur an staatlichen Universitäten.101 Mögen die Präsidenten der privaten amerikanischen Universitäten auch noch so die Freiheit der Rede an ihren Universitäten (medial wirksam) und den Respekt vor dem durch das First Amendment garantierten Recht auf Free Speech kundtun: als private Bildungseinrichtungen findet das First Amendement auf sie keine Anwendung.102 Der Schutz von Free Speech mag als moralischer Appell verstanden werden. Die Imperativität des positiven (Verfassungs-)Rechts besitzen solche Verlautbarungen nicht.103 2. Wissenschaftsfreiheit im US-amerikanischen Verfassungsrecht Ist eine öffentliche Universität involviert, stellt sich die Frage, ob die US-Verfassung den Hochschulangehörigen ein spezifisches Recht der akademischen Freiheit (Wissenschaftsfreiheit), ein sogenanntes Right of Academic Freedom garantiert. Wissenschaftsfreiheit verstanden in diesem Sinne zeichnet sich durch eine eigenständige verfassungsrechtliche Fundierung aus, die sich von dem Recht auf freie Meinungsäußerung unterscheidet.104 Ob ein Recht auf Wissenschaftsfreiheit als ein eigenständiges Recht, das neben den anderen durch das First Amendement als gesichert anerkannten Rechten existiert, ist nach wie vor nicht eindeutig beantwortet. Zumindest verbal hat die WisSmolla, Free Speech (Anm. 100), § 17:32 (S. 17-52.47). Wohl mehr als moralischer Appell zu verstehen das Buch von Erwin Chemerinsky, Free Speech on Campus, 2018. 103 In diesem Sinne ist wohl auch American Association of University Professors (Hrsg.), 1940 Statement of Principle on Academic Freedom and Tenure, abrufbar unter: www.aaup.org/file/1940%20Statement.pdf, zuletzt abgerufen am 15.7.2022, zu verstehen. 104 Englischsprachiges Originalzitat bei Smolla, Free Speech (Anm. 100), § 17:31.50 (S. 17–52.48), „distinct legal menaing and a dinstinct legal source (the implied right of ,academic freedom‘.“ Ist von„academic freedom“ die Rede, ist damit also ein „distinct set of rights deriving from a distinct constitutional source unique to academics“ gemeint, Zitat ebda. 101 102
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senschaftsfreiheit bereits in viele U. S. Supreme-Court-Entscheidungen und Entscheidungen anderer Gerichte Eingang und Beschwörung gefunden.105 Erstmals beschäftigte sich der U. S. Supreme Court in der Entscheidung Sweezy v. New Hampshire aus dem Jahr 1957 ausführlicher mit der Wissenschaftsfreiheit.106 Die amerikanische Rechtswissenschaft und die anderen Bundesgerichte haben Sweezy v. New Hampshire jedoch kein klares Bekenntnis zu einem selbstständigen Recht auf Wissenschaftsfreiheit entnommen. Vielmehr dominieren nach wie vor zwei Lesarten der Supreme-Court-Entscheidung: Einige verstehen den in Sweezy v. New Hampshire gesetzten Standard nur als eine Beschreibung genereller und allgemein gültiger First-Amendement-Prinzipien, wie sie (nur) im spezifischen Kontext der Colleges und Univer105 Locus classicus Sweezy v. State of N. H. by Wyman, 354 U.S. 234, 250, 77 S. Ct. 1203 (1957); ähnlich pathetisch Keyishian v. Board of Regents, 385 U.S. 589, 603, 87 S. Ct. 675 (1967) („Our Nation is deeply committed to safeguarding academic freedom, which is of transcendent value to all of us, and not merely to the teachers concerned. That freedom is therefore a special concern of the First Amendment, which does not tolerate laws that cast a pall of orthodoxy over the classroom.“); gleichsinnig Healy v. James, 408 U.S. 169, 180–181, 92 S. Ct. 2338 (1972) („The college classroom, with its surrounding environs, is peculiarly the ,marketplace of ideas,‘ and we break no new constitutional ground in reaffirming this Nation’s dedication to safeguarding academic freedom.“). Vielfach wurde „academic freedom“ auch als eigenständiges Recht gerichtlich versucht in Stellung zu bringen, ohne jedoch damit im Ergebnis durchzudringen. Beispielhaft stehe etwa die Entscheidung des United States Court of Appeals for the Second Circuit, in dem sich die Mitglieder der Yale Faculty of Law gegen die sog. Solomon Amendments wendeten. Das Gericht gebrauchte zwar zunächst eine Sprache, die auf die Garantie der Wissenschaftsfreiheit hindeutete und gebrauchte Sentenzen wie „[t]he First Amendment guarantee of academic freedom“, Burt v. Gates, 502 F.3d 183, 190, 225 Ed. Law Rep. 115 (2d Cir. 2007), sprach sich aber im Zuge der weiteren Analyse klar gegen ein solches Recht aus; gegen ein „right of academic freedom“ ebenfalls University of Pennsylvania v. E.E.O.C., 493 U.S. 182, 190–200, 110 S. Ct. 577 (1990); unlängst Emergency Coalition to Defend Educational Travel et al. v. U. S. Dep. Of the Treasury, 545 F.3d 4, 11, 238 Ed. Law Rep. 45 (D. C. Cir. 2008). 106 Sweezy v. State of N. H. by Wyman, 354 U.S. 234, 250, 77 S. Ct. 1203 (1957).
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sitäten angewendet werden.107 Wissenschaftsfreiheit in diesem Sinne ist damit nichts anderes als eine Heuristik für alle rechtlichen Regeln, die die allgemeinen First-Amendement-Prinzipien auf die Universitäten anwenden.108 Andere dagegen sind der 107 So die befürwortete Lesart bei Smolla, Free Speech (Anm. 100), § 17:31.50 ff. (S. 17–52 47 ff.), der „academic freedom“ nur als die Anwendung allgemeiner First-Amendment-Prinzipien im Kontext der Universität einstuft („While the second interpretation of ,academic freedom‘ described here is valid – the interpretation that acknowledges that the academic setting is often a critical salient element of the context that informs standard First Amendment analysis – the [. . .] interpretation of ,academic freedom,‘ that the right stands alone on its own bottom, is not.“); offenlassend die Majority Opinion in Emergency Coalition to Defend Educational Travel et al. v. U. S. Dep. Of the Treasury, 545 F.3d 4, 11 (D. C. Cir. 2008): „Assuming that the right to academic freedom exists and that it can be asserted by an individual professor, its contours in this case are certainly similar to those of the right of free speech.“; besonders aufschlussreich die Diskussion zwischen Richter Laurence Silberman und Richter Harry Edwards in der genannten Entscheidung. So ließ Edwards ausdrücklich offen, ob es ein solches Recht gibt und warf eine Vielzahl unbeantworteter Fragen auf, Defend Educational Travel et al. v. U. S. Dep. Of the Treasury, 545 F.3d 4, 15 (D. C. Cir. 2008): „The disposition of the First Amendment issue in this case on grounds other than academic freedom is relatively straightforward and uncomplicated. Therefore, it is unnecessary for us to parse the many difficult issues relating to the concept and scope of ,academic freedom,‘ including, inter alia: whether academic freedom is a constitutional right at all; the breadth of academic freedom; whether academic freedom implicates additional constitutional interests that are not fully accounted for by the Supreme Court’s customary employee speech jurisprudence; whether a professor may assert an individual constitutional right of academic freedom against a university employer; how academic freedom should be enforced in public versus private universities; whether and how we distinguish between the university-as-a-speaker and the university-as-an-employer in assessing the contours of academic freedom; and the extent to which professors have rights of academic freedom in university governance.“ Deutlich prononcierter gegen ein solches Recht Richter Silberman in Defend Educational Travel et al. v. U. S. Dep. Of the Treasury, 545 F.3d 4, 18 (D. C. Cir. 2008): „The very notion of academic freedom – as a concept distinct from the actual textual provisions of the First Amendment – is elusive.“ 108 „Academic freedom“ in dieser Lesart, wie Smolla, Free Speech (Anm. 100), § 17:31.50 (S. 17-52.48), treffend schreibt, „a description of general [Kursivierung im Original, M. J.] First Amendment principles
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Auffassung, dass Wissenschaftsfreiheit nicht nur auf einer eigenständigen verfassungsrechtlichen Basis fußt, sondern sich auch von den durch das First Amendement vermittelten Freiheiten emanzipiert habe und einen eigenständigen Freiheitsgegenstand schütze.109 Ein eigenständiges Recht auf Wissenschaftsfreiheit verleihe dem Hochschullehrenden einen substantiell stärkeren Schutz als das First Amendement in anderen Fällen. Die Wortmächtigkeit, mit der amerikanische Gerichte ein Recht auf freie Wissenschaft ins Feld führen, kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass ein solches eigenständiges Recht auf Wissenschaftsfreiheit bis heute wohl in keiner einzigen Entscheidung zu einem substantiellen Mehr an Schutz geführt hat, als nicht bereits durch das First Amendement vermittelt.110 Weder den Schutzgegenstand noch den Schutzumfang konturierten die Gerichte. In der Rechtsprechung fehlen bislang klare normative Bekenntnisse für ein eigenständiges Recht auf Wissenschaftsfreiheit. 3. Schutz wissenschaftlicher Kommunikation (nur) im Rahmen allgemeiner First Amendment Doctrine In Ermangelung eines eigenständigen Rechts, das Wissenschaftler in ihrer spezifischen Tätigkeit schützt, gelten die allgemeinen Grundsätze, welche der Supreme Court im Laufe der Zeit etabliert hat auch für die Angehörigen von Universitäten. Es stellt sich damit die Frage, welchen Schutzumfang das First Amendement hat. Der Supreme Court konstatierte einst in sei(such as freedom of speech or freedom of association principles) as they are applied [Kursivierung im Original, M. J.] in the context of colleges and universities.“, also „[a] convenient shorthand for grouping together the bundle of freedom of speech [. . .] analysis in a college or university setting“. 109 So wohl J. Peter Byrne, Academic Freedom: A „Special Concern of the First Amendment, The Yale Law Journal 99 (1989), S. 251 (251 ff., insb. S. 331 ff.). 110 Treffend Cohen v. San Bernardino Valley College, 883 F. Supp. 1407, 1412 (C. D. Cal. 1995) („While Supreme Court cases contain strongly worded defenses of ,academic freedom,‘ their rhetoric is broader than their holdings.“).
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ner wohl berühmtesten Sentenz in Tinker v. Dei Moises im Zusammenhang mit Freiheitsrechten von Schülern und Lehrern: „It can hardly be argued that either students or teachers shed their constitutional rights to freedom of speech or expression at the schoolhouse gate.“ 111 In Analogie könnte man fragen: Was bedeutet diese Bekräftigung der Redefreiheit an Schulen für die Redefreiheit von Hochschullehrende an Universitäten? Die Sentenz lädt dazu ein, darüber nachzudenken, welche First-Amendement-Rechte Schüler und Lehrer sowie Hochschullehrende vor dem „schoolhouse gate“ haben. a) First Amendment als universales Kommunikationsgrundrecht Im First Amendment heißt es: „Congress shall make no law (. . .) abridging the freedom of speech, or of the press; or the right of the people peaceably to assemble (. . .).“ Das First Amendement zur US-Verfassung in der Ausprägung der SupremeCourt-Judikatur unterscheidet normtextlich in deutlich geringerem Umfang nach unterschiedlichen Kommunikationszusammenhängen als das Grundgesetz in Art. 5 GG. Die Rechtsprechung des U. S. Supreme Courts, der in unzähligen Entscheidungen seit seinem Bestehen besonders häufig zum First Amendement Stellung bezogen hat, ist nach wie vor wenig bestrebt, den einzelnen im First Amendement zusammengefundenen Rechten wie der Meinungsfreiheit, der Pressefreiheit, der Informationsfreiheit oder der Versammlungsfreiheit eigenständige Bedeutung beizumessen.112 Die First-Amendement-Jurisprudenz des U. S. Supreme Courts zeichnet sich durch ein Agglomerat von unzähligen Theorien, 111 Tinker v. Des Moines Indep. Community Sch. Dist., 393 U.S. 503, 506, 89, S. Ct. 733 (1969). 112 Zur Bedeutung der Pressefreiheit etwa Houchins, Sheriff of the County of Alameda, California v. KQED, Inc. et al., 438 U.S. 1, 17, 98, S. Ct. 2588 (1978); zurückhaltender gegen eine Sonderstellung der Presse s. Branzburg v. Hayes et al., 408 U.S. 665, 92 S. Ct. 2646 (1972); gegen eine rechtliche Sonderstellung der Presse gegenüber anderen Bürgern Smolla, Free Speech (Anm. 100), § 17:31.50 (S. 12–52.56).
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Methoden, Formeln, Tests und Doctrinen aus, die in den sehr disparaten Zusammenhängen zur Anwendung kommen.113 Es ist damit schwierig, sich einen umfassenden Überblick über die Rechtsprechung zum First Amendement zu verschaffen. Das gilt in Sonderheit für die Entscheidungen, die Gerichte im Zusammenhang mit Hochschulen und Universitäten trafen.114 b) Free Speech in den USA Im Laufe der vergangenen Jahrzehnte hat der Supreme Court nach einer anfänglich eher restriktiven Handhabung von FreeSpeech-Rechten dem Schutz von Free Speech zu einer – auch im internationalen Vergleich115 – beispiellosen Weite verholfen. Seit ungefähr den 1930er Jahren formte der Supreme Court den durch das First Amendement vermittelten Schutz außerordentlich rigide aus.116 Der Supreme Court lehnt es mit Ausnahme sehr eng definierter Kategorien etwa sogenannter „Fighting Words“ 117, „Hate Speech“ 118, „Obscenity“ 119 oder „Violence 113 Eindrücklich das mehrere tausend Seiten starke, mehrbändige Werk von Smolla, Free Speech (Anm. 100). 114 Exemplarisch: Zu curricularen Vorgaben und der Benotungspolicy etwa Lovelance v. Southeastern Massachusetts University, 793, F.2d 419, 424 (1st Cir. 1986) („[C]ourse content, homework load, and grading policy are core university concerns“); Edwards v. California University of Pennsylvania, 156 F.3d 488, 491 (3rd Cir. 1998) („The First Amendment does not place restrictions on a public university’s ability to control its curriculum“, „[A] public university professor does not have a First Amendment right to decide what will be taught in the classroom“); zur Kontrolle über Disskussionen im Klassenraum z. B. Cohen v. San Bernardino Valley College, 883 F. Supp. 1407 (C. D. Cal. 1995) („While Supreme Court cases contain strongly worded defenses of ,academic freedom,‘ their rhetoric is broader than their holdings.“). 115 Schauer, Exceptional First Amendment (Anm. 11), S. 32 ff. 116 Einen instruktiven Überblick über die Entwicklung des First Amendments bietet Stephen M. Feldman, Free Speech and Free Press, in: Mark Tushnet/Mark A. Graber/Sandford Levinson (Hrsg.), The U. S. Constitution, 2015, S. 629 (629 ff.). 117 Chaplinsky v. New Hampshire, 315 U.S. 568, 571–72, 62 S. Ct. 766 (1942) („There are certain well defined and narrowly limited classes of speech, the prevention and punishment of which have never been thought to raise any Constitutional problem.“).
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and Imminent Lawless Action“ 120 ab, Free Speech alleine auf Grundlage ihres Inhalts zu verbieten.121 Das Gericht operiert hier mit dem Test der „Content-Neutral v. Content-Based Distinction“.122 Aus der reichhaltigen Rechtsprechung seien einige Beispiele genannt: Der Supreme Court anerkannte etwa das Recht, die Nationalflagge zu verbrennen123, das Recht, ein Kreuz als Ausdruck von Rassenwahn und Rassenhass zu verbrennen124, das Recht zu implizieren, dass Afro-Amerikaner zurück nach Afrika, Juden zurück nach Israel geschickt werden sollen125, das Recht, Ku-Klux-Klan-Regalia zu tragen126, das Recht, Bilder 118 Einen eingehenden Überblick mit umfassenden Nachweisen bietet Smolla, Free Speech (Anm. 100), § 12; Burtin Caine, The Trouble with Fighting Words: Chaplinsky v. New Hampshire Is a Threat to the First Amendment Values and Should Be Overruled, Marquette Law Review 88 (2004), S. 441 (441 ff.). 119 Smolla, Free Speech (Anm. 100), § 14. 120 Brandenburg v. State of Ohio, 395 U.S. 444, 447, 89 S. Ct. 1827 (1969) („Freedoms of speech and press do not permit a State to forbid advocacy of the use of force or of law violation except where such advocacy is directed to inciting or producing imminent lawless action and is likely to incite or produce such action.“); Smolla, Free Speech (Anm. 100), § 10:23 ff. (S. 10–26.15 ff.). 121 Smolla, Free Speech (Anm. 100), § 3.1 (S. 3–2 f.) („The distinction between content-based and content-neutral regulation of speech is one of the central tenets of contemporary First Amendment jurisprudence.“ „Content-based laws generally trigger heightened scrutiny in one of its manifestations, and when heightened scrutiny is applied, the odds are quite high that the law will be struck down“); treffend konstatierte der U. S. Supreme Court in Reno v. American Civil Liberties Union, 521 U.S. 844, 885, 117 S. Ct. 2329 (1997): „As a matter of constitutional tradition, in the absence of evidence to the contrary, we presume that governmental regulation of the content of speech is more likely to interfere with the free exchange of ideas than to encourage it.“ 122 Smolla, Free Speech (Anm. 100), § 3. 123 Texas v. Johnson, 491 U.S. 397, 109 S. Ct. 2533 (1989). 124 Virginia v. Black, 538 U.S. 343, 123, S. Ct. 1536, (2003). 125 Brandenburg v. State of Ohio, 395 U.S. 444, 89 S. Ct. 1827 (1969). 126 National Socialist Party v. Village of Skokie, 432 U.S. 43, 97 S. Ct. 2205 (1977).
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von Welpen zu zeigen, die von High-Heels zertreten werden127, das verfassungsfundierte Recht, über Amtsträger und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens Unwahrheiten zu veröffentlichen, sofern dies nicht in Kenntnis ihrer Unwahrheit oder unter leichtfertiger Missachtung geschieht128 oder das Recht, ein Plakat in unmittelbarer Nähe der Beerdigung eines im Krieg gefallenen homosexuellen Soldaten hochzuhalten mit der Aufschrift „god hates fags“.129 c) Free Speech im Kontext der Universität Gelten also all diese aus der Sicht unserer Verfassungsordnung überbordenden Freiheitsgewährleistungen des First Amendements, die das Docket des U. S. Supreme Courts über viele Jahre hinweg dominierten, auch für den Hochschullehrenden an öffentlichen Universitäten? Trotz dieser scheinbaren ausnahmslosen Strenge im Rechtfertigungsmaßstab lässt das Gericht unterschiedliche Rechtfertigungsniveaus zu. Diese finden vermittels diverser weiterer Fallgruppen Eingang in die Rechtsprechung des Gerichts. Ein besonders wichtiger Faktor für die Bestimmung des Rechtfertigungsniveaus bildet der Kontext, in dem Free Speech stattfindet.130 Wenig bis keine Bedeutung hat das Gericht demgegenüber der Institution beigemessen.131 Bei der Bestimmung des Rechtfertigungsniveaus laufen mehrere Dogmatiken des Gerichts ineinander, überlappen und ergänzen sich. Das markanteste Beispiel einer kontextabhängigen Variabilität in der Rechtfertigungsfähigkeit von Free-Speech-Einschränkungen ist wohl die
United States v. Stevens, 559 U.S. 460, 130 S. Ct. 1577 (2010). New York Times Co. v. Sullivan, 376 U.S. 254, 84 S. Ct. 710 (1964). 129 Snyder v. Phelps, 562 U.S. 443, 131 S. Ct. 1207 (2011) 130 Smolla, Free Speech (Anm. 100), § 2:68 (S. 2–67), § 2:72 (S. 2–72). 131 Umfassende Analyse bei Frederick Schauer, Principles, Institutiones, and the First Amendment, Harvard Law Review 112 (1989), S. 84 (84 ff.). 127 128
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„Public Forum Doctrine“ 132 oder die Einschränkungen, die das Gericht Mitarbeitern des Staates („Goverment Employee Speech)133 auferlegt.
132 Die sog. public forum doctrine unterscheidet danach, ob und in welchen Umfang (öffentliche) Diskursräume bestehen, locus classicus Perry Education Association v. Perry Local Educators’ Association, 460 U.S. 37, 45, 103 S. Ct. 948 (1983). Der Supreme Court unterscheidet verschiedene Typen von Foren („traditional“, „designated“ und „nonforum“), die Einfluss auf den Prüfmaßstab- und die Kontrolldichte haben. Gelegentlich erkennen Gerichte auch ein „limited public forum“ an, s. Child Evangelism Fellowship of MD, Inc. v. Montgomery County Public Schools, 457 F.3d 376 (4th Cir. 2006). Bei einem sog. public forum handelt es sich, so der Supreme Court in Perry Education Association v. Perry Local Educators’ Association, 460 U.S. 37, 45, 103 S. Ct. 948 (1983), um Orte, die „immemorially have been held in trust for the use of the public and, time out of mind, have been used for purposes of assembly, communicating thoughts between citizens, and discussing public questions“. Einschränkungen erfordern wegen der Anwendung sog. strict scrutiny ein zwingendes staatliches Interesse („compelling state interest“), es ist erforderlich, dass sie „narrowly drawn to achieve that end“ und lassen maximal „Time, Place or Manner“-Beschränkungen zu („enforce regulations of the time, place, and manner of expression which are content-neutral, are narrowly tailored to serve a significant government interest, and leave open ample alternative channels of communication“); zur Einordnung etwa des Vorlesungssaals Widmar v. Vincent, 454 U.S. 263, 102 S. Ct. 269 (1981); eingehende Public-Forum-Analyse bei Davis, Free Speech Zones (Anm. 99), S. 270 ff., insb. S. 274; eingehend zur Public Forum Doctrine sowie ihren weiteren Kategorien mit umfassenden Rechtsprechungsnachweisen Smolla, Free Speech (Anm. 100), § 8:3 ff. (S. 8–3 ff.). 133 Auf die Rechtsprechung zu „government employee speech“ baute etwa die Analyse des Gerichts in der Entscheidung Cohen v. San Bernardino Valley College, 883 F. Supp. 1407, 1412 (C. D. Cal. 1995) („The state is also precluded from punishing a teacher for publicly expressing his views on matters of public concern in regards to education“), auf; ähnlich auch Rosenberger v. Rector and Visitors of the University of Virginia, 515 U.S. 819, 833, 115 S. Ct. 2510 (1995) („ [W]hen the State is the speaker, it may make content-based choices. When the University determines the content of the education it provides, it is the University speaking, and we have permitted the government to regulate the content of what is or is not expressed when it is the speaker or when it enlists private entities to convey its own message.“; Edwards v. California University of Pennsylvania, 156 F.3d 488, 491 (3rd Cir 1998): „First Amend-
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Das Gericht befindet sich allerdings nach wie vor im Entwicklungsprozess, in welchen Zusammenhängen es reduzierte Rechtfertigungsanforderungen zulassen möchte.134 Dazu gehören etwa Regelungen, die nur beiläufig auch die Meinungskundgabe regeln135 oder solche Regelungen, die auf die Auswirkungen der Meinungsäußerung auf die Umwelt136 abstellen. Ein reduzierter Rechtfertigungsmaßstab darf dabei nicht mit einem einheitlichen Maßstab verwechselt werden. Das Gericht hat vielmehr eine unüberschaubare Anzahl an unterschiedlich komplexen Tests etabliert. All diese unterschiedlichen kontextabhängigen Rechtfertigungsniveaus machen es nahezu unmöglich, ihre Regeln zu generalisieren. Hochschullehrende unterliegen den allgemeinen Einschränkungen von Free Speech. Einschlägig sind insbesondere die Einschränkungen, die für Staatsbedienstete gelten. Anders als das deutsche Verfassungsrecht kennt das US-Verfassungsrecht keine Privilegierung von Hochschullehrenden, die diese von den sonst üblichen Restriktionen freier Meinungsäußerung für den Funktionsbereich der Forschung und der Lehre partiell freistellen. Staatsbedienstete können sich ausschließlich auf das First Amen-
ment does not place restrictions on a public university’s ability to control its curriculum is consistent with the Supreme Court’s jurisprudence concerning the state’s ability to say what it wishes when it is the speaker.“); aus dem Schrifttum knapp Flood/Leap, Faculty Employment Decisions (Anm. 100), S. 166. 134 Smolla, Free Speech (Anm. 100), § 17:35 (S. 17-73): „The court introduced a sliding balance scale test in comparing interests of professors in the speech and the interest of the government in limiting speech.“; stellvertretend Jeffries v. Harleston, 51 F.3d 9, 15 (2nd Cir.1995): „[T]he closer the employee’s speech reflects on matters of public concern, the greater must be the employer’s showing that the speech is likely to be disruptive before it may be punished.“ 135 Sog. O’Brien Test; vgl. United States v. O’Brien, 391 U.S. 367, 88 S. Ct. 1673 (1968). 136 Klassisch der „three-part-test“ des U. S. Supreme Courts in Sachen „Time, Place and Manner“-Beschränkungen Ward v. Rock Against Racism, 491 U.S. 781, 791, 109 S. Ct. 2746 (1989).
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dement berufen, wenn sie als Privatpersonen sprechen.137 Äußern sie sich im Rahmen ihrer dienstlichen Pflichten, schirmt sie das First Amendement nicht vor Disziplinarmaßnahmen ab. Das Gericht hat einen Multifaktortest entwickelt: „[T]he First Amendment protects a public employee’s right, in certain circumstances, to speak as a citizen addressing matters of public concern.“ 138 In einem ersten Schritt kommt es darauf an, ob der Bedienstete in seiner Funktion als Bürger oder Bediensteter des Staates spricht. Das Gericht fragt in diesem Schritt, ob es sich bei seiner Rede um eine Angelegenheit von öffentlichem Interesse („matter of public concern“) handelt.139 Betrifft die Äußerung kein solches Interesse, fällt die Äußerung a priori aus dem Schutz des First Amendements heraus.140 Eine Äußerung wird dann als Angelegenheit von öffentlichem Interesse betrachtet, wenn sie sich auf ein soziales, politisches oder gemeinschaftliches Thema bezieht. Dabei kommt es auf den Inhalt, die Form und den Kontext der Äußerung an.141 Sexistische oder diskriminierende Aussagen sollen nach einigen Bundesgerichten schon nicht mehr von öffentlichem Interesse sein.142 Die Rechtsprechung gibt für die konkrete Bestimmung nur wenig Leitlinien vor: Nach Garcetti v. Ceballos soll eine Äußerung in der Funk137 Zu „government employee speech“ sind eine Vielzahl von Entscheidungen ergangen, die wichtigsten Leitentscheidung dazu bilden u. a. Pickering v. Board of Education, 391 U.S. 563, 88 S. Ct. 1731 (1968); Connick v. Meyer, 461 U.S. 138, 103 S. Ct. 1684 (1983); Water v. Churchill, 511 U.S. 661, 114 S. Ct. 1878 (1994), die heute nur unter dem sog. Pickering-Connick-Waters-Test bekannt sind, dazu etwa Smolla, Free Speech (Anm. 100), § 18:6 ff. (S. 18–6 ff.); aus neuerer Zeit Garcetti v. Ceballos, 547 U.S. 410, 126 S. Ct. 1951 (2006). 138 Garcetti v. Ceballos, 547 U.S. 410, 417, 126 S. Ct. 1951 (2006). 139 Pickering v. Board of Education, 391 U.S. 563, 568, 88 S. Ct. 1731 (1968). 140 Connick v. Meyer, 461 U.S. 138, 147, 103 S. Ct. 1684 (1983). 141 Adams v. Trs. of the Univ. of N. Carolina-Wilmington, 640 F.3d 550, 564 (4t Cir. 2011). 142 Exemplarisch Trudeau v. Univ. of N. Tex., 861 Fed. Appx. 604, 610 (5th Cir. 2021) („[I]i is plain that the alleged comments relating to students’ sex lives, encouraging nudity in class, and commenting on students’ mental health, did not involve a matter of public concern.“).
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tion als Mitarbeiter des Staates erfolgen, wenn die Äußerung im Zusammenhang mit dem Pflichtenprogramm des Mitarbeiters steht.143 Das offizielle Pflichtenprogramm eines Angestellten soll sich aber nicht allein nach der offiziellen Stellenbeschreibung des Angestellten bestimmen. Bereits der erste Schritt bereitet bei Hochschullehrenden allerdings Probleme, denn das Pflichtenprogramm eines Hochschullehrenden ist nicht klar definiert. Wenn sich ein Staatsbediensteter als Privatperson zu einer Angelegenheit von öffentlichem Interesse äußert, lautet in einem zweiten Schritt die Frage, ob das Interesse des Dienstherren an der effizienten Erfüllung seiner öffentlichen Aufgaben größer ist als das Interesse des Bediensteten an der freien Meinungsäußerung.144 Es kommt damit zu einer Interessenabwä143 Garcetti v. Ceballos, 547 U.S. 410, 421, 126 S. Ct. 1951 (2006). („[W]hen public employees make statements pursuant to their official duties, the employees are not speaking as citizens for First Amendment purposes, and the Constitution does not insulate their communications from employer discipline.“); gegen die Anwendung dieses Standards im Kontext der Universität jüngst Meriwether v. Hartop, 992 F.3d 492, 505– 07 (6th Cir. 2021), mit wichtigen Implikationen für die akademische Redefreiheit: „As a result, our court has rejected as ,totally unpersuasive‘ ,the argument that teachers have no First Amendment rights when teaching, or that the government can censor teacher speech without restriction.‘“, denn „under the First Amendment, ,the mere dissemination of ideas [. . .] on a state university campus may not be shut off in the name alone of ,conventions of decency.‘“ „[T]he lesson of Pickering and the Court’s academic-freedom decisions is that the state may do so only when its interest in restricting a professor’s in-class speech outweighs his interest in speaking.“ „The academic-freedom exception to Garcetti covers all classroom speech related to matters of public concern, whether that speech is germane to the contents of the lecture or not. The need for the free exchange of ideas in the college classroom is unlike that in other public workplace settings. And a professor’s in-class speech to his students is anything but speech by an ordinary government employee.“; ähnlich zuvor gegen die Anwendung von Garcetti etwa Adams v. Trs. of the Univ. of N. Carolina-Wilmington, 640 F.3d 550, 562 (4th Cir. 2011); aus dem Schrifttum Oren R. Griffin, Academic Freedom and Professorial Speech in the Post-Garcetti World, Seattle University Law Review 37 (2013), S. 1 (1 ff.). 144 Pickering v. Board of Education, 391 U.S. 563, 568, 88 S. Ct. 1731 (1968); Connick v. Meyer, 461 U.S. 138, 150, 103 S. Ct. 1684 (1983).
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gung zwischen den privaten und den dienstlichen Interessen. Die Gerichte prüfen das Interesse des staatlichen Arbeitgebers anhand verschiedener Faktoren. Durch die Anwendung dieser Maßstäbe kommen Rechte der Studierenden im Kontext der Universität nicht selbst unmittelbar im Verhältnis zur Redefreiheit des Hochschullehrenden zum Tragen, sondern nur mittelbar über die Interessen des Dienstherren. Die konkrete Anwendung dieses Schutzes im akademischen Kontext ist verwirrend. Diverse weitere Nuancierungen finden sich in der Rechtsprechung. Einstweilen muss die Frage wohl als höchstrichterlich ungeklärt gelten, welche Rechte Hochschullehrende haben. V. Schlussbetrachtung Der Schutz der freien Rede ist in den USA im Grundsatz vermutlich substantiell stärker ausgeformt als in Deutschland. Umso mehr fällt daher zuerst auf, dass dies für den Schutz der akademischen Rede von Hochschullehrenden nicht gleichermaßen gilt. Für die spezifischen Funktionsbedingungen von wissenschaftlicher Forschung und Lehre ist das landläufig als recht kontextsensibel geltende US-Verfassungsrecht anscheinend wenig(er) empfänglich.145 Die Judikatur der US-Gerichte zum First Amendement bietet dafür ein eindrückliches Beispiel. Intuitiv würde man durch die tatbestandliche Ausformung von speziellen Freiheitsrechten ein Mehr an definitivem Schutz vermuten. Der Vergleich mit dem First Amendment zeigt aber, dass diese Intuition nicht immer richtig sein muss. Für den Schutz der spezifischen Funktionsbedingungen der Wissenschaft und akademischen Rede wirkt es sich demgegenüber in der Tat aus, dass es an einer eigenständigen Fundierung eines solchen Rechts in den Vereinigten Staaten fehlt. Die US-Gerichte haben den besonderen Bedingungen, unter denen Wissen145 Oliver Lepsius, Was kann die deutsche Staatsrechtslehre von der amerikanischen Rechtswissenschaft lernen?, in: Helmuth Schulze-Fielitz (Hrsg.), Staatslehre als Wissenschaft, Die Verwaltung, Beiheft 7 (2007), S. 320 (336 ff.); ders., Vom Reiz der US-amerikanischen Rechtsgeschichte, Rechtsgeschichte 19 (2011), S. 190 (196 f.); ders., Themen einer Rechtswissenschaftstheorie, in: Matthias Jestaedt/ders. (Hrsg.), 2008, S. 1 (45 f.).
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schaft agiert, bislang nur wenig eigenständig Rechnung getragen. Entscheidungen, die sich für eine Ausnahme zu der Garcetti-Regel aussprechen, belegen allerdings, dass hier viel in Bewegung ist. Dass im US-Recht Wissenschaft weniger Schutz als in Deutschland erfährt, beruht wohl zusätzlich darauf, dass sich der U.S. Supreme Court methodologisch auf einen tendenziell eher kategorialen Ansatz zurückgezogen hat.146 Methodologisch ist dies wohl die markanteste Unterscheidung zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die man ohne Übertreibung als „Verhältnismäßigkeitsrechtsprechung“ bezeichnen kann. Eine übergreifende Struktur wie den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gibt es in dieser Form im US-amerikanischen Verfassungsrecht nicht.147 Das wirkt sich gerade bei der Lösung von multipolaren Freiheitsausübungskonflikten aus. Das USRecht hat größere Schwierigkeiten, routinemäßig Gegenpositionen bei Freiheitskonflikten systematisch und geordnet zu verarbeiten. Individuelle Gegenpositionen spielen, wie die wenigen Beispiele zeigten, die für den deutschen Leser Verwunderung auslösen mögen, keine entscheidende Rolle. Selbst dort, wo das 146 In diesem Sinne Schauer, Exceptional First Amendment (Anm. 11), S. 31, 53 ff.; sehr differenziert Joseph Blocher, Categoricalism and Balancing in First and Second Amendment Analysis, New York University Law Review 84 (2009), S. 375 (381 ff.); Smolla, Free Speech (Anm. 100), § 2:71 ff. (S. 2–71 ff.); komparativ Guy E. Carmi, Dignity Versus Liberty: The Two Western Cultures of Free Speech, Boston University International Law Journal 26 (2008), S. 277 (338 ff.); Daniel Halberstam, Desperately seeking Europe: On comparative methodology and the conception of rights, International Journal of Constitutional Law 5 (2007), S. 166 (177 ff.), der sehr treffend zwischen einem „retail“ und einem „wholsesale“ balancing unterscheidet („Europeans engage in ,retail‘ balancing (that is, at the individual case level), whereas U.S. courts engage in ,wholesale‘ balancing (at the level of defining general categories)“; aus deutscher Perspektive Andrea Nußberger, Kommunikationsfreiheiten, in: Matthias Herdegen u. a. (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 2021, § 20 Rn. 30. 147 Moshe Cohen-Eliya/Iddo Porat, Proportionality and Constitutional Culture, 2013, S. 14 ff.; zu Anwendungsbereichen von „Proportionality Principles“ sowie einem Plädoyer für eine elaboriertere „proportionality doctrine“ Vicki C. Jackson, Constitutional Law in an Age of Proportionality, Yale Law Journal 124 (2015), S. 3094 (3104 ff., 3130 ff.).
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Gericht im Zuge diverser „tests“ „balancing“ betreibt, spielen die Rechte des Einzelnen nur eine untergeordnete Rolle.148 Stattdessen gehen sie, wie sich bei der „Government-Employee“-Rechtsprechung zeigte, in den Gemeinwohlbelangen des Staates auf. Auch wenn es übertrieben wäre, von einem „First-Amendement-Absolutismus“ zu sprechen, führt die Rechtsprechung des Supreme Courts durch die implizite Abneigung gegen eine flächendeckende Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit jedenfalls im Anwendungsbereich des First Amendments zu einem deutlichen Schwergewicht der Rechtsposition des Übergriffigen.
148 Zur Unterscheidung von „Verhältnismäßigkeit“ und „balancing“ Cohen-Eliya/Porat, Proportionality (Anm. 147), S. 16 ff.
Autoren und Herausgeber Philipp Austermann, Prof. Dr. iur., Studium der Rechtswissenschaft an den Universitäten Passau und Göttingen, Promotion an der Universität München. Professor für Staats- und Europarecht am Zentralen Lehrbereich der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung, Brühl. Matthias Friehe, Prof. Dr. iur, Studium der Rechtswissenschaft und der Philosophie an den Universitäten Marburg und Poitiers mit weiteren Stationen in Kaliningrad, Eriwan und Tel Aviv. Promotion an der Universität Marburg. Inhaber der Qualifikationsprofessur für Staatsund Verwaltungsrecht an der EBS Law School Wiesbaden. Seit 2020 Co-Leiter der Sektion für Rechts- und Staatswissenschaft der GörresGesellschaft. Christoph Gröpl, Prof. Dr. iur., Studium der Rechtswissenschaft mit wirtschaftswissenschaftlicher Zusatzausbildung an den Universitäten Bayreuth, Genf (Schweiz) und München. Promotion an der Universität München, Habilitation an der Universität Regensburg. Inhaber des Lehrstuhls für Staats- und Verwaltungsrecht, deutsches und europäisches Finanz- und Steuerrecht an der Universität des Saarlandes. Eckhard Jesse, Prof. em. Dr. phil., Studium der Politikwissenschaft und der Geschichtswissenschaft an der Freien Universität Berlin, Promotion und Habilitation an der Universität Trier. Von 1993 bis 2014 Inhaber des Lehrstuhls für Politische Systeme, Politische Institutionen am Institut für Politikwissenschaft der Philosophischen Fakultät der Technischen Universität Chemnitz. Manuel Joseph, Dr. iur., LL.M. (Virginia), Studium der Rechtswissenschaft sowie Promotion an der Universität Münster. Rechtsreferendar am Oberlandesgericht Hamm. Vorsitzender des Jungen Forums der Görres-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaften. Sebastian Kluckert, Prof. Dr. iur., Studium der Rechtswissenschaft, Promotion und Habilitation an der Freien Universität Berlin. Inhaber der Professur für Öffentliches Recht, insbesondere Öffentliches Wirtschaftsrecht und Sozialrecht an der Bergischen Universität Wuppertal.
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Autoren und Herausgeber
Heinrich Lang, Prof. em. Dr. iur., Dipl. Sozialpäd., Studium der Sozialpädagogik an der FH München und der Rechtswissenschaft an der Universität Köln, Promotion und Habilitation an der Universität Köln. Bis 2021 Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Sozialund Gesundheitsrecht an der Universität Greifswald. Arnd Uhle, Prof. Dr. iur., Studium der Rechtswissenschaft an der Universität Bonn, Promotion und Habilitation an der Universität München. Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, insbesondere für Staatsrecht, Allgemeine Staatslehre und Verfassungstheorie an der Universität Leipzig sowie Richter des Verfassungsgerichtshofes des Freistaates Sachsen. Seit 2012 Leiter der Sektion für Rechts- und Staatswissenschaft der Görres-Gesellschaft.