Europäische Ungastlichkeit und "identitäre" Vorstellungen: Fremdheit, Flucht und Heimatlosigkeit als Herausforderungen des Politischen 9783787336357, 9783787336340

Die Weltkriege haben das alte Europa zu einer ungastlichen Sphäre gemacht, in der jeder jederzeit zum Flüchtling werden

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German Pages [346] Year 2019

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Europäische Ungastlichkeit und "identitäre" Vorstellungen: Fremdheit, Flucht und Heimatlosigkeit als Herausforderungen des Politischen
 9783787336357, 9783787336340

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Europäische ­Ungastlichkeit und ­›identitäre‹ ­Vorstellungen Fremdheit, Flucht und H ­ eimatlosigkeit als Herausforderungen des Politischen Burkhard Liebsch

Meiner

Burkhard Liebsch

Europäische ­Ungastlichkeit und ›identitäre‹ Vorstellungen Fremdheit, Flucht und Heimatlosigkeit als Herausforderungen des Politischen

Meiner

Den Geschwistern der emsländischen Diaspora Norbert, Christoph und Ansgar, Monika, Berthold und Wolfgang

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-3634-0 ISBN eBook: 978-3-7873-3635-7

www.meiner.de © Felix Meiner Verlag Hamburg 2019. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspei­cherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, s­oweit es nicht §§  53, 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Satz: Reemers Publishing Services, Krefeld. Druck und Bindung: Druckhaus Nomos, Sinzheim. Werk­ druck­­papier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany.

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

Teil I Europäische Gewaltgeschichte und Ungastlichkeit Kapitel I Europa im Zeichen der Gastlichkeit Angefeindet von innen und außen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 1. Europa zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft 23 | 2. Europas gelebte Wirklichkeit in historischer Perspektive 28 | 3. Europäische Gewaltgeschichte, primäre und sekundäre Gastlichkeit 33 | 4. Europa im Zeichen der Gastlichkeit: Spielräume des Verhaltens 38  |  5. Gastlichkeit vs. Souveränität – Auskehr aus dem ­Europäischen? 42  |  6. Europa im Zeichen des Hasses 46 | 7. Normative Folgerungen? 49

Kapitel II Heimat für Heimatlose? Politische Überlegungen zur Literatur der Verlassenheit . . . . . . 54 1. Eine verdächtige Renaissance 54 | 2. Anzeichen politischer Heimatlosigkeit 56 | 3. Vielfältige Quellen der Heimatlosigkeit  57 | 4. Eine politisch gefährliche Illusion? 61 | 5. HeimatOntologie und Gastlichkeit des Politischen 62 | 6. Verlassenheit 65

Kapitel III Europäische Winterreisen Landschaften der Verlassenheit − Bilder des Desasters . . . . . . . 72 1. Präludium 72  |  2. Landschaft und Gewalt 75 | 3. Desaströse Topographien 78  |  4. Spielarten der Verlassenheit 82 | 5. Hinterlassene Bilder der Verlassenheit 87  |  6. Befremdliche Bildlichkeit: Auslieferung und Zeugenschaft 92 |  5

Kapitel IV Unaufhebbare Welt-Fremdheit ›Nomadisches‹ Leben, Bleibe und Staatlichkeit . . . . . . . . . . . . . 99 1. Vom nomadischen Wesen zum new nomadism 101  |  2. Alte und neue Nomaden: Atavismus, Pathologie oder ­ Avantgarde? 104 |  3. Jüdische Variationen − mit Blick auf Martin Buber 107 | 4. »Humanes Wesen des Nomadentums« und das »rechte ­ Erdendasein« 113  |  5. Wahrheit vs. Sesshaftigkeit in politischer Hinsicht 117

Überleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128

Teil II Sprache als Gastlichkeit und das páthos des Politischen Kapitel V Soziale Gastlichkeit Radikal, selbstverständlich, angefeindet . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 1. Eine Geste der Einladung 137 | 2. ›Ohne Aufenthaltsgenehmigung‹ oder empfangen? 139  |  3. Verschiedene Typen von Gastlich­ keit  147 | 4. Primäre, sekundäre und tertiäre Gastlichkeit 149 | 5. Praktische Perspektiven 151 | 6. Schluss 156

Kapitel VI Sprache, Gewalt und die Gastlichkeit des (Zu-)Hörens . . . . . . . . 157 1. Einführung 157  |  2. Sprache und Gewalt: kongruent und allgegenwärtig? 159  |  3. Zwischen Gewaltsamkeit und Gewalttätigkeit: ­differenzielle  Fragen 162  |  4. Ausweglose Gewalt? 165

Kapitel VII Am Tisch mit Feinden Zur politischen Metaphorik der Gastlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . 172 1. Der Tisch als Ding, Metonymie und Metapher 173  |  2. Haus, Herd und Tisch in kulturgeschichtlicher Perspektive 175 | 3. Immanuel Kant und die »Tischgesellschaft« 176  |  4. Was geschieht ›bei‹ bzw. am Tisch? 178 | 5. Am Tisch mit Feinden. Übergang zum Politischen 180

6  |  Inhalt

Kapitel VIII Die pathische Dimension des Politischen und die zweifelhafte Politisierbarkeit negativer Erfahrungsansprüche . . . . . . . . . . . . . 188 1. Zur ›thymotischen‹ Vitalität des Politischen 190 | 2. Rückgang auf Widerfahrnisse der Seele (Aristoteles) 194  |  3. Das seelische Un-Ding: weltlich/weltfremd 196 | 4. Zur originären Politisierung negativer Erfahrungsansprüche 203 | 5. Schluss 207

Kapitel IX »Ich empöre mich, also sind wir«? Zur fragwürdigen Politisierbarkeit einer ›rebellischen‹ Energie . 211 1. Hiobs Erbe 211  |  2. Erinnerung an aktuelle Rebellionen 214 | 3. Empörung und politische (Ko-)Existenz. Zur Aktualität von Albert Camus’ Schrift über die Revolte 220  |  4. Vom Negativismus zum ­Politischen 223

Kapitel X Bewährt sich das ›Licht der Öffentlichkeit‹ noch als ­Metapher? Zur radikalen Frage, was die Welt ›hell‹ macht . . . . . . . . . . . . . . 227 1. Die Welt, Tatsachen und ihre Bestimmung 227  |  2. Ein ›verdunkeltes‹ Bild der Welt 231  |  3. Wodurch es ›hell‹ wird: vier umstrittene Vorschläge 234  |  4. Licht in wörtlicher und übertragener Bedeutung 236  |  5. Auf die Welt kommen: Sichtbarkeit und Hörbarkeit ursprünglich und öffentlich 239  |  6. Das Politische und die Re-Privatisierung der Öffentlichkeit 247

Epilog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusätzliche Internetquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt  |  7

Vorwort Die Kräfte, die uns vertrieben, waren die Feinde Europas. Als man in Europa nicht mehr als Europäer leben konnte, genau da mußten wir gehen, um unser bloßes Leben zu retten. Wir mußten aus Europa gehen, gerade weil wir Europäer waren. Und eben dies machte uns zu Exilierten, ‒ ein Titel, der in ­f rüheren Zeiten sehr respektiert war. Aron Gurwitsch1

Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts fragten sich viele Europäer, ob Europa je mehr war und ob es je mehr sein wird als ein geografischer Begriff. Nicht zuletzt dank der ›Nachhilfe‹ zweier Weltkriege gibt die EU in ihrer gegenwärtigen Verfassung zweifellos eine institutionelle, politisch-rechtliche Antwort auf diese Frage. Jedoch leidet diese Antwort noch immer an ihrer einseitig ökonomischen Fundierung als Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), deren politische Geburtsfehler durch die Einführung des Euro noch verschärft worden sind. Auch ihr eigentlicher Sinn erscheint nach wie vor und sogar mehr denn je fragwürdig. Weniger deshalb, weil sich Europa von außen bedroht fühlen müsste, als vielmehr aufgrund einer inneren Aushöhlung, die die populistische Agitation in Großbri­tannien und die jüngst gegen Ungarn und Polen wegen Verletzung elementarer rechtsstaatlicher Prinzipien angestrengten Verfahren offensichtlich gemacht haben. Da die entsprechenden Prozesse am Ende der Einstimmigkeit bedürfen, um zu wirksamen Ergebnissen zu gelangen, fällt es ungeschminkt anti-­europäisch agierenden Vertretern aktuell amtierender Regierungen leicht, sich von vornherein gegenseitig der Unwirksamkeit aller gegen sie ausgedachten Maß­­nahmen zu versichern. Was immer die Europäer gegen euch im Schilde führen, wir werden zu euren Gunsten ein Veto einlegen, signalisiert man sich von Budapest und Warschau aus, wo man allerdings gerne von weiteren Milliarden ›aus Brüssel‹ profitieren möchte, sich aber bedenkenlos einer erklärtermaßen

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»illiberalen« Polemik gegen genau dasjenige befleißigt, was Europa ausmacht. Aber worum handelt es sich dabei eigentlich? So wie die Zweifler anfänglich nicht wussten, ob Europa je mehr wird sein können als ein Kontinent ohne ›ursprüngliche‹ Bestimmung, so sehen sich erklärte Europäer heute unter dem Druck des aus dem Innern Europas aufkeimenden Antieuropäischen gezwungen, nachträglich zu bestimmen, wo­zu die Verflechtung der europäischen Lebensverhältnisse gut sein soll. Zur nachhaltigen, rechtsstaatlich abgesicherten Befriedung dieses Kontinents, heißt es immer wieder. Wer um die europäische Gewaltgeschichte weiß, kann m. E. ‒ unge­achtet aller begründeten Skepsis und Vorsicht im Umgang mit Begriffen wie Freund­schaft und Versöhnung zwischen den Völkern ‒ nicht umhin, darin in der Tat einen welt­weit einzigartigen Fortschritt zu sehen, dass man sich zwischen weit über zwanzig Staaten um nachhaltige Befriedung bemüht. Umso fassungsloser steht man dem Befund gegenüber, dass ausgerechnet derart schwer von dieser Gewaltgeschichte in Mitleidenschaft gezogene Nationen wie Polen und Ungarn, die ihre Liberalität hatten hart erkämpfen müss­en, nunmehr den Eindruck erwecken, abgesehen von ihrer eigenen, inzwischen konsequent nationalisierten Vorgeschichte vom Sinn Europas gar nichts mehr zu wis­sen. Dieser Sinn kann nach wie vor nicht als ›ursprünglich gestifteter‹ gelten, wie er in Edmund Husserls berühmter Krisis-Abhandlung aufgefasst wird.2 Vielmehr erwächst er, wenn überhaupt, immer wie­der nachträglich aus Einsprüchen gegen das, was man mit der Befriedung, Verflechtung und offenen weiteren Gestaltung der europäischen Lebensverhältnisse für unvereinbar hält. Allen­falls durch die mehr oder weniger bestimmte Negation der entsprechenden Negativität entdeckt man auch die konkrete Gestalt dessen, wer ›wir‹, als Europäer, sind bzw. wohin wir als solche unterwegs sind. Hoffentlich in eine gut gesicherte Festung, erklären unumwunden die einen, die ›unter sich‹ bleiben wollen (ohne anzugeben, wie sie ‒ wenn sie ans Ziel ihrer Träume gelangt sind ‒ gegebenenfalls mit der weit überwiegenden Mehrheit der­jenigen verfahren möchten, die unmöglich hinnehmen können, in einer derart gewaltträchtigen, angemaßten Homogenität aufgehen zu sollen); hoffentlich in eine gastliche Zukunft, erklären die anderen, die in der Vorstellung, mit populistischen Polemikern und ihren gewalttätigen 10  |  Vorwort 

Gefolgsleuten ›unter sich‹ bleiben zu sollen, nur den Schrecken einer gewaltsamen Zwangsintegration und zudem eine kulturelle Absurdität erkennen können. Wird kulturelles Leben nicht geradewegs unmöglich gemacht, wenn man ›unter sich‹ bleibt? Steht und fällt es nicht damit, dass es Andere einlässt? In diesem Sinne ist Gastlichkeit genau das, was kulturelles Leben geradezu ausmacht. Diejenigen, die ganz ›unter sich‹ bleiben wollen, verteidigen damit nicht etwa das ›Eigene‹, ihre lokale ›Identität‹, ›Deutschland‹ oder gar ›das Abendland‹, dessen Geschichte weit über Auschwitz, Ostund Westrom, Athen und Jerusalem hinaus bis ins heute irakische Mesopotamien, nach Ägypten und bis ins Herz Afrikas verweist; vielmehr bringen sie diese Begriffe um ihren historischen Gehalt, um sie als derart entleerte Worthülsen für polemischen Einsatz gegen Andere brauchbar zu machen. Am Ende dieses Weges zeichnet sich nur eines ab: ein exklusives und dadurch um seine kulturelle Dimension gebrachtes Für-sich-sein ohne Andere, in dem auch kein(e) Integrierte(r) mehr als ›Andere(r)‹ auffallen dürfte, der bzw. die noch »ohne Angst anders« sein, leben und denken könnte, um Theodor W. Adornos bekanntes, aber revisionsbedürftiges Diktum zu zitieren. (Ganz frei von der Angst, um die es hier geht, werden wir niemals ›anders‹ sein können.) In der Gewaltsamkeit eines solchen Für-sich-seins dürfte es ironischerweise auch kein ›eigenes‹ Leben mehr geben. Wer sich ›die Anderen‹ ganz vom Leib halten will, muss auch ›das Eigene‹ ruinieren. Das haben offenbar die politischen Geg­ner begriffen, die für Europa eine gastliche Zukunft oder gar keine Zukunft mehr sehen; eine Zukunft, die jeden seiner politischen Existenz versichert, notfalls durch die Gewährung von Asyl, Duldung und Bleiberecht bis auf weiteres, idealiter aber dadurch, dass weltweit von vornherein für Lebensbedingungen gesorgt wird, die niemanden zur Flucht nötigen müssen und globale Freizügigkeit verbürgen. Keineswegs stehen sich so ›Iden­­titäre‹ als Ver­teidiger des ›Eigenen‹ und sogenannte Kosmopoliten als angebliche Freun­­de aller Fremden, sondern Ungastliche und Gastliche gegenüber. Die Identitären vertei­digen nicht etwa, sondern verraten den aus den Desastern seiner Kriege hervorgegangenen Sinn Europas, in dem das Eigene gerade als die gastliche Aufgeschlossenheit für den Fremden gilt ‒ und gerade nicht eine nur gewaltsam vorzustellende Integration aller ins national Ho­mo­ge­ni­sier­te. Die Vorwort  |  11

Schwierigkeit liegt hier allerdings darin, dass gerade dieses ›Eigene‹ nicht exklusiv anzueignen ist, wenn es denn zutrifft, dass es ohne die Achtung des Fremden als solchen nicht zu denken ist, die die Gastlichen jedem entgegenbringt, ohne darum in den politischen Kitsch einer universalen Freundschaft mit jedermann zu verfallen. Warum aber soll dies so sein? Und was hat das mit ›Europäität‹ in geschichtlicher Perspektive zu tun? Die Weltkriege haben »die alte Welt«, Europa, diesen »westlichen Ausläufer Asiens« (Paul Valéry3), zu einer Sphäre der Flucht gemacht, in der jeder jederzeit zum Flüchtling ‒ anderswohin oder in den Wahnsinn oder aus jeglicher Welt, die ihren Namen verdient4 ‒ werden konnte. So ist es im Prinzip bis heute, auch wenn die äußeren Umstände diesen Ein­druck nicht erwecken mögen. Muss man daran erinnern, dass das Damoklesschwert der (zivilen und militärischen) atomaren Bedrohung nach wie vor und scheinbar unabwendbar über Europa und über der Welt hängt?5 Wer so bedroht ist, kann sich allenfalls in einer faden­scheinigen Sicherheit wähnen, müsste aber wissen, dass auch eine eingebildete ›autochthone‹, angeblich ›tief ver­w urzelte‹ Existenz, die sich nicht verrücken lassen will, nur bis auf weiteres und nur dank Anderer davor bewahrt werden kann, in die Flucht geschlagen zu werden und nur dank Anderer gegebenenfalls anderswo Aufnahme finden wird. Auf diesem Kontinent müsste man, historisch belehrt, wissen, dass jeder im Grunde ein potenzieller Flüchtling ist. Auch wenn zur Flucht aktuell kein Anlass vorliegt, gilt: Jede(r) lebt sozial und politisch (über ›nacktes Leben‹ hinaus) nur dank Anderer, die ihm/ ihr bis auf weiteres, niemals ›endgültig‹, eine Bleibe eingeräumt haben, sei es nur unter Brücken, sei es lediglich in Notunter­künften, sei es zur Miete oder in legalisiertem Eigentum. Jede(r) existiert sozial und politisch nur als von Anderen so oder so Aufgenommene(r) ‒ und kann als solche(r) grundsätzlich jederzeit vertrieben und in die Flucht geschlagen werden. Das ist gewiss keine exklusiv europä­ ische Erfahrung, wohl aber eine Einsicht, an der Europa in seiner Geschichtlichkeit nicht vorbeikommen kann. Entweder es verhält sich ›offen‹ dazu, oder es verschanzt sich ›identitär‹ in historischer Ignoranz ‒ nicht nur jetzt begegnenden Flüchtlingen, sondern auch sich selbst gegenüber. Für ein Europa, das den Anspruch erhebt, sich nicht-ignorant zu seiner eigenen Ge­waltgeschichte zu verhal12  |  Vorwort 

ten, kann die Frage nur lauten, wie (nicht ob) die fragliche ›Offenheit‹ seines Verhaltens zum Fremden (der jeder auch sich selbst ist6) praktisch Gestalt annehmen soll. Das ist eine politisch höchst virulente Frage nicht bloß jenes abstrakten Gebildes, dessen Recht und institutionelle Realität im acquis com­mu­nau­taire7 auf sage und schreibe 108.000 Dokumenten, 40.000 legal acts, 15.000 court verdicts und 62.000 internationalen Standards beruht, »all of which must be respected and obeyed by citizens and companies in the EU« (obgleich von all dem zweifellos nur eine ver­schwindende Minderheit der Europäer überhaupt Kenntnis haben wird). Es handelt sich nicht nur um eine Herausforderung an die Adresse verrechtlichter Hospitalität (die im klassischen Verständnis Kants lediglich eine Art Besuchsrecht meint und nur in Ausnahmefällen auch einen Anspruch auf Asyl vorsieht), sondern auch an die Adresse gelebter Europäität, die sich weder im Sinne universaler Gastfreundschaft zur Pflicht machen lässt 8 noch auch darauf beschränken kann, Andere wenigstens »nicht feindselig« zu behandeln, wie es Kant verlangte 9. Ohne Europäer, die sich nicht im ›Eigenen‹ verschanzen, wird es kein Europa mehr geben. Liegt Europäität also paradoxerweise gerade in dem, was wir uns niemals ganz zu ei­gen machen können? Können sich die Europäer in ihren Verhältnissen untereinander selbst davon überzeugen, um nicht Populisten und Demagogen aufzusitzen, die ihnen weiß machen, sie müssten lediglich die Bevormundung ›Brüssels‹ und ›die Fremden‹ wieder loswerden, um wieder ganz bei sich zu sein? Wenn Europa in historischer Perspektive überzeugende politische Kraft entfalten kann, so liegt sie gewiss weder in tausenden Seiten von Papier des EU-Rechts noch auch in serienweise abgewickelten Konferenzen, Beschlussfassungen und Verordnungen, sondern vor allem darin, dass ein als Antwort auf die europäische Gewaltgeschichte konzipiertes Europa wirklich gelebt wird ‒ von uns und allen Fremden, die zu uns kommen, sei es auf Zeit, sei es auf Dauer, um mit uns zu leben ‒ in Freiheit, gewiss, aber auch in Auseinandersetzungen, die erst zu zeigen und zu bewähren haben, wer man ist und sein will ‒ unter zahllosen Anderen, die einander nicht einmal dem Namen nach kennen und denen dennoch ein gastliches Zusammenleben zu versprechen ist, ohne sie einfach ›eingemeinden‹ und so um ihre Fremdheit bringen zu wollen. Vorwort  |  13

Kein Zweifel: Diese praktische Europäität wird als politische Kraft besonders im Verhältnis zum Nahen Osten, zum ganzen arabischen Kulturraum und zum globalen Islam welt­­weit so dringend gebraucht wie niemals zu­vor. Dabei sind die Kräfte längst am Werk, die sie wieder ruinieren werden, wenn sie an die Macht kommen. Die Geringschätzung, mit der sie sich zur europäischen Gewaltgeschichte bis hin zu Auschwitz, diesem radikalen Desaster, äußern, ist der deutlichste Hinweis darauf. Offenbar wollen sogenannte Rechtspopulisten beides, die Erinnerung an diese Vergangenheit und jegliche Verpflichtung Fremden gegenüber, in einem Handstreich loswerden. Die begründete Vermutung, dass beides miteinander zusammenhängen könnte, löst leider auch bei anderen vielfach stereotype, der Sachlage in keiner Weise gerecht werdende Reflexe aus. So behauptete Alain Finkielkraut, »die Deutschen« könnten bis heute nicht der »Versuchung« entgehen, »den Respekt vor dem Anderen zum moralischen und politischen Kardinalprinzip zu erheben«, nur (!) weil sie auf diese Weise die historische Schuld an jenem Desaster abzutragen hoffen. Matthias Krupa und Bernd Ulrich geben zu bedenken, ob so nicht tatsächlich eine direkte Linie »von Auschwitz zum Münchner Hauptbahnhof« führt. In die gleiche Kerbe schlägt der Historiker Heinrich A. Winkler, wenn er sich gegen den »hohen Ton« wendet, mit dem sich ein nur in Deutschland zu findendes historisches Schuld­bewusstsein »als ehemals schlechter, heute besser als alle anderen« hinstellen will, um sich vor der belehrten Welt als moralische Avantgarde aufzuspielen.10 An diesen gängigen und stereotypen Invektiven ist so ziemlich alles falsch. Angefangen bei der längst erledigten, gleichwohl immer wieder unterstellten Kollektivschuld über deren ebenfalls suggerierte, aber durch nichts zu belegende Erblichkeit bis hin zu deren eigentümlicher Verkehrung zu einer Art »Schuldstolz« (Günter Grass), der angeblich eine »kollektive Selbstverurteilung« in die Selbstaffirmation eines »negativen Nationalismus« ummünzt, um auf diese Weise noch aus den ärgsten Verbrechen moralisches, nationales und identitäres Kapital zu schlagen.11 Schon von Immanuel Kant hätte man lernen können, dass unvermeidlich jede Generation gleichsam bei Null wieder anfangen muss und sich nur historisch, d. h. nachträglich in eine Vorge14  |  Vorwort 

schichte einfügen kann, die sich nicht wie von selbst moralisch ›vererbt‹. Karl Jaspers hat den Begriff der Kollektivschuld beizeiten mit guten Gründen zurückgewiesen. Und eine darauf folgende Hermeneutik und Dekonstruktion der ›Geschichtlichkeit‹, ohne die es keine Generationszusammenhänge geben kann, hat gezeigt, wie sie von einer Alterität unterwandert wird, der sie niemals Herr wird.12 So wurde schließlich Geschichte im Zeichen des Anderen denkbar, dessen Anspruch sich niemals identitär oder moralisch vereinnahmen lässt.13 Gewiss geht aus der europäischen Gewaltgeschichte, die darauf hinauslief, diesen Anspruch radikal aus der Welt zu schaffen, nicht ohne weiteres hervor, wie ihm heute gerecht zu werden ist. Aber die Polemiker übersehen geflissentlich, dass sie oberflächlich nur darum streiten, wie man sich ‒ sei es durch schieres Vergessen, sei es durch offensives Ver­drängen und Leugnen, sei es auch durch moralische Okkupation ‒ dieser Ge­schichte bemächtigt, und übergehen dabei die Frage, ob und inwieweit die fragliche Vergangenheit überhaupt geschichtlicher Deutungsmacht zur Disposition stehen kann. Ohne diese an anderer Stelle bereits breit diskutierte Frage hier noch einmal ganz neu aufzuwerfen, gehe ich mit Denkern der Alterität wie Jacques Derrida, Emmanuel Levinas und Paul Ricœur (ungeachtet ihrer Divergenzen) davon aus, dass diese Vergangenheit sich nur im Sinne eines sozialen, kulturellen und politisch-rechtlich formierten Lebens verstehen lässt, das den Anderen als solchen einlässt14 (Kap. I) und sich insofern als gastliches bzw. zur Gastlichkeit bestimmtes erweist. Aber in welcher ›Rolle‹ Andere als solche auftreten und sich uns entziehen ‒ ob als Heimatlose (Kap. II), als Verlassene (Kap. III) oder als Welt-Fremde (Kap. IV) (Étienne Balibar nennt sie allesamt errants, »Umherirrende«) ‒, ist eine andere Frage, die nach wie vor drängende Pro­ bleme der politischen Ge­stal­tung gastlicher, zur Aufnahme Anderer unter endlichen, stets beschränkten Be­dingungen auch bereiter Lebensformen auf­w irft. Ohne diese sich daraus ergebenden, höchst umstrittenen praktischen Probleme gering zu schätzen, insistiere ich darauf, dass die Gastlichkeit menschlicher Lebensformen mit deren Aufgeschlossenheit für den Anspruch des Anderen steht und fällt, der immer schon im Spiel sein muss, bevor man sich fragen kann, wie man sich zu ihm verhalten kann. Genau darin liegt auch das páthos des Politischen (was mit anmaßender Rhetorik nicht Vorwort  |  15

zu verwechseln ist). In diesem weiten Sinne handelt es sich um ein Problem der Sprache (Kap. V), des Zuhörens (Kap. VI) und des Gehörs, das man selbst Feinden schenkt, mit denen man sich an einen Tisch setzt (Kap. VII). Alle diese Phänomene, in denen sich par excellence die elementare Sozialität menschlicher Lebensformen manifestiert, erweisen sich nun aber als umstritten ‒ zwischen dem Widerfahrnis (páthos) des Anspruchs des Anderen und dessen polemischer Zurückweisung (Kap. VIII), die rebellische politische, aber auch anti-politi­sche Energien freisetzt (Kap. IX) und auf diese Weise Gefahr läuft, das »Bild der Welt« weitgehend zu verdunkeln, das sich selbst Friedrich Nietz­sche, dem ich diese Worte entlehne15 , nur als ein zutiefst von der okzi­dentalen Meta­physik des Lichts bestimmtes, nämlich als ›erhelltes‹ vorstellen wollte. Ob sich licht­meta­physische Metaphorik noch bewährt, wo es um die Kritik einer solchen Verdun­kelung geht, steht dahin. Ins ›Licht‹ des politischen Lebens kann jedenfalls nur jemand treten, der auch gehört wird. Nur wer gehört wird, existiert auch politisch. Und genau das hat politisches Handeln zuallererst zu gewährleisten: dass diejenigen, denen es verpflichtet ist, Staats- und MitbürgerInnen, Zugereiste, Fremde, Migranten und Flüchtlinge, nicht einem nackten, depo­litisierten Leben überantwortet werden, in dem sie praktisch aufhören, überhaupt politisch zu existieren ‒ was noch nichts über die Berechtigung inhaltlicher Ansprüche sagt, die allemal auszuhandeln bleibt. Dem steht die Selbstgerechtigkeit im Wege, mit der vielfach dagegen protestiert wird, nicht beachtet und nicht gehört zu werden. Wer protestiert, konterkariert den Sinn seines Protests, wenn er es in seiner Wut, seinem Zorn oder seiner Empörung nicht akzeptieren kann, dass die jeweiligen Adressaten anderer Meinung sind. Abgesehen von solchen Pathologien des Politischen bedeutet seine Stimme zu erheben nicht nur, gehört, sondern darüber hinaus, als ›politisch existent‹ betrachtet werden zu wollen, notfalls auch durch mehr oder weniger gewalt­same Erinnerung daran, dass ganze Schichten, Klassen oder solche, die sich für ›das Volk‹ halten, wirklich ›da‹ sind. Keineswegs ist die fragliche ›Aufgeschlossenheit‹ für den An­spruch des Anderen nur eine ›auswärtige‹ Angelegenheit Fremden gegenüber. Sie müsste vielmehr jedem zugute kommen können, der den Anspruch erhebt, gehört zu werden. Der 16  |  Vorwort 

Nachdruck, mit dem Margi­na­li­sierte, zahllose prekär Le­bende und sogenannte »Überflüssige« gelegentlich daran erinnern, dass sie nicht zu vernachlässigen sind, ist ein Warnzeichen.16 Wenn es nicht wahrgenommen wird, folgt u. U. eine Gewalt auf dem Fuße, die sich nach aller Erfahrung an den nächst­besten Schwachen schadlos hält. Dabei ist die Gewalt selbst das sichtbarste Anzei­chen von Schwäche und Machtlosigkeit. Das gilt für die lauthals gegen angebliche Überfremdung Polemisierenden, die niemanden mehr zu kennen scheinen, dem es schlech­ter geht als ihnen selbst, genauso wie für die vielen, die keine fairen Startchancen haben, in Ghettos aufwachsen und nie­manden mehr kümmern, so dass sie nur noch mit Gewalt glauben unmissverständlich zeigen zu können, dass sie ›da‹ sind. Werden in Folge dessen nun Millionen Deklassierte, prekär Lebende, sich selbst Über­lasse­ne und auf diese Weise Gedemütigte zu einer selbstdestruktiven Gefahr für Euro­pa? Tatsächlich könnte eine generalisierte Verweigerungshaltung um sich greifen, die im Kern besagt: Man hat uns uns selbst überlassen und sich schließlich damit arrangiert, dass wir in keiner Weise mehr ›zählen‹; wir sind also politisch irrelevant und hören auf, für Andere überhaupt ›da‹ zu sein, also lassen wir keine ›Anderen‹ mehr herein. (Wobei man sich von letzteren nicht selten durch othering auch ohne eigene Erfahrung ein höchst eigen­w illiges Bild macht.17) Politisch vernachlässigt zu werden, kann am Ende jegliche Aufge­ schlossenheit aufzehren und in die Gewaltsamkeit ei­ner politischen Verweigerungs­haltung münden, die in manifeste Gewalttätigkeit umso leich­ter umschlägt, wie ihr durch populistische Propaganda probate Objekte angeboten werden, an denen sie sich schadlos halten kann. Es geht hier darum, auf das letztlich selbstdestruktive Potenzial eines politischen Han­delns hinzuweisen, das die von einem seinerseits fatalen Wachstumskurs Abgehängten vergisst und sich einem Primat des Ökonomischen unterwirft, das heute in einem para­ sitären Verhältnis zum Sozialen steht. Es nährt sich immerfort von ihm und betreibt zu­gleich dessen ständige Vernachlässigung und Auszehrung, die sich überall dort bemerkbar macht, wo unentgeltlich soziale Leistungen erbracht werden, die für den Fortbe­stand leidlich funktionierender Gesellschaften absolut unentbehrlich Vorwort  |  17

sind ‒ von der Für­sorge für Kin­der, Kran­ke, Benachteiligte und Behinderte bis hin zur Pflege alter Menschen und Ster­bender. Kurz gesagt: Europa wird ein sozialstaatliches Gebilde sein ‒ oder es wird in absehbarer Zeit nicht mehr sein, wenn es dem Druck populistischer Rhetorik nachgeben muss. Es wird nur auf sozialstaat­ licher Basis die gastliche Aufgeschlossen­heit für Fremde praktisch gewährleisten können, ohne die auch eine ökonomische Freizügigkeit selbst bei engster Auslegung nicht Bestand haben kann ‒ oder es wird identitäre Rückzüge auf das ›Ei­gene‹, ein entleertes nationales oder lokales Selbst hervorbringen, die vermeintlich das eigene Haus schüt­zen sollen, es in Wahr­heit aber unbewohnbar machen, wenn es denen, die keine Blei­be haben und fremd sind, nicht offen steht. In einem lokalen, nationalen oder europäischen Haus, in dem niemand, also auch wir selbst nicht, fremd sein dürfte, könnten wir es genauso wenig aushalten. So müssen wir wählen zwi­schen der geschlossenen politischen bzw. anti-politi­schen, kein freies Leben mehr zulassenden Anstalt und der Gast­lich­keit Europas18 ‒ allen Zwei­feln zum Trotz, in die uns stürzen muss, was sich an den Grenzen der spanischen Exklaven Ceuta und Melilla, in Italien, in der Ägäis und in Ungarn gegenwärtig abspielt. Wie gerade diese Vorgänge zeigen, ist Gastlichkeit kein wohlfeiler politischer Euphemismus einer politisch angeblich sub­ stanzlosen »philan­t ropischen Mittelstandsglück­selig­­keit« (Adam Soboczynski), die noch immer nicht be­griffen hat, dass man die bloß idyllische Idee einer offenen Gesellschaft bereits nach den Morden an Pim Fortuyn und Theo van Gogh zu Grabe tragen musste.19 Tatsäch­lich ist diese Idee alles andere als idyllisch, denn sie läuft darauf hinaus, sich für Andere zunächst unbedingt zu öffnen (bzw. sich als immer schon und unvermeidlich für den Anspruch des Anderen ›offen‹ zu begreifen), um dann erst zu fragen, wie man klugerweise mit der darin liegenden Überforderung politisch umgehen kann und soll. Wir müssen diese Idee nicht infolge einer Kapitulation vor der ›rechten‹ Gewalt begraben, um letzterer damit den schönsten Gefallen zu tun, sondern sie radikal revidieren und zeitgemäß reformulieren. Dabei wird uns der britische Stichwortgeber, auf den man sich in diesem Zusammenhang gerne berufen hat, Sir Karl Popper nämlich 20 , wenig weiterhelfen, denn er ahnte offenbar nichts vom Sinn einer politischen Kultur, die ihren 18  |  Vorwort 

Namen nur verdient, wenn sie den Anderen vorbehaltlos hereinlässt; aber so, dass sie denjenigen, die schon da sind, Bewohnern desselben oîkos und Nachbarn, ebenfalls gerecht wird. Dabei muss die Ethik einer solchen Kultur mit politischer Umsichtigkeit Hand in Hand gehen 21 und, statt sich auf ein politisch blindes Willkommen zu reduzieren, den politisch-ökono­mischen und weltweiten Ursachen dafür auf den Grund gehen, dass die Gastlichkeit Europas inzwischen als notorisch überforderte dargestellt werden kann. Damit hat es vielleicht erst ein Ende, wenn sich weltweit nicht mehr Tausende und Millionen dazu gezwungen sehen werden, die (vielleicht nur von Illusionen geprägte) Flucht zu ergreifen. Aber global gerechte Lebensverhältnisse, die sich so viele akademische Gerechtigkeitsforscher als utopisches Palliativ ausdenken, werden bis auf weiteres nicht die dem Kapitalismus angelastete Gewalt zu tilgen versprechen, die wir u. a. angesichts der aktuellen Flüchtlingsbewegungen nun auf Europa zurück­schlagen sehen. Globale Gerechtigkeit wird lange nicht realisierbar sein, wenn über­­haupt je. Bis dahin müssen sich auch die scharfzüngigen Kritiker der gegenwärtig so dramatisch herausgefor­derten und nicht nur offiziell in Ungarn und Polen rundweg zurückgewiesenen Gastlichkeit Europas der im Hier und Jetzt zu beantwortenden Frage stellen, was angesichts jedes Anderen, jedes Fremden zu tun ist, der fürchten muss, auf ein nacktes, depolitisiertes und daher kaum mehr ›lebbares‹ Leben reduziert zu werden. Mit Derrida glaube ich, dass Europa ‒ um das Min­deste zu sagen ‒ nach einschlägigen historischen Erfahrungen für das Versprechen steht, sich dieser Frage angesichts keines einzigen Anderen einfach zu entziehen im Rückzug auf eine längst anachronistische politische Souveränität. Darin liegt eine elementare ethische Herausforderung und gewiss auch ein kulturelles Überforderungspotenzial. Dem aber kann man sich letztlich nur um den Preis einer kulturellen Absurdität zu entziehen versuchen; dadurch nämlich, dass man sich in einem eminent gewaltträchtigen Für-sich-sein zu verschanzen trachtet. Diese Herausforderung anzunehmen, bedeutet umgekehrt nicht, dass man das politisch naiv und in ökonomi­scher Hinsicht blind oder unkritisch tun dürfte. Wer das Gegenteil suggeriert, spielt am Ende all jenen in die Hän­de, die Europas Zukunft nur in der Zu­flucht zu einem souveränen Selbstsein zu finden meinen, das heißt in der VerneiVorwort  |  19

nung gerade dessen, was es historisch ausmacht. Der Ausgang der Auseinandersetzungen um diese Frage bleibt vorläufig offen. Noch immer, heißt das, wissen wir nicht ›definitiv‹, ob es Europa ‒ als verlässliche soziale, kulturell und politisch ›aufgeschlossene‹ Realität ‒ gibt oder weiterhin geben wird. In diesem Sinne sollen die hier versammelten Beiträge zu Europa, zur Lage der Umherirrenden und des Sozialen dazu beitragen, die politische Gegenwart besser zu verstehen ‒ zwischen unaufhebbarer Welt-Fremdheit, die jedem von Geburt an eignet, einerseits und dem ›Licht der Öffentlichkeit‹ andererseits, auf das jene Auseinandersetzungen angewiesen sind, das aber niemand lange erträgt. Die erste Anregung zu diesem Buch ging im Anschluss an ein vorangegangenes Projekt zu Fragen »politischer Sensibilisierung im Kontext westlicher Gewaltgeschichte«, das inzwischen als Sonderband der Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft (2018; Sonderheft 17) realisiert worden ist, von Marcel SimonGadhof aus. Ihm möchte ich für das ausgezeichnete Lektorat an dieser Stelle besonders danken. Fbr., im Dezember 2018

20  |  Vorwort 

TEIL I EUROPÄISCHE GEWALTGESCHICHTE UND UNGASTLICHKEIT

K A PI T EL I Europa im Zeichen der Gastlichkeit Angefeindet von innen und außen Mit »Haus und Hof« beginnt die ­europäische Geschichte. Ferdinand Seibt 21 Es häufen sich Anzeichen für ein neues Unbehaustsein. Vilém Flusser2

1. Europa zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft

Unzählige Male ist gefragt worden, was Europa ist ‒ wenn nicht bloß ein gewisser Konti­nent oder eine höchst mangelhaft legitimierte, bürokratisch verselbständigte und weitgeh­end in­trans­­ parente institutionelle Realität, die den weitaus meisten Eu­­ropäern offenbar nur als eine ferne Schimäre vorkommt. Das gilt gewiss ganz be­­sonders für die Bevölkerungen nicht nur ökonomisch vielfach vernachlässigter Staaten Osteuropas, ob es sich nun um Mitglieder der EU wie Bulgarien, um bislang assozi­ierte Anwärter auf Vollmitgliedschaft wie Montenegro und Serbien oder um Nachbarn mit vorläufig unklarer Beitrittsperspektive wie Mol­­da­ wien handelt. Auch in den rechtlich voll integrierten EU-Staaten erweckt Europa allzu oft den Eindruck eines Trugbildes. Behaupten nicht gerade diejenigen im Namen Europas handeln zu dürfen, deren Verbindung zur gelebten Realität, für die dieser Begriff doch auch stehen müss­te, am allerwenigsten überzeugt? Die TTIP-Geheimver­handlungen waren dafür nur das bezeichnendste Beispiel. Wie konnten diejenigen, die sie führten, vergessen, dass ihre kaum mehr zu überbietende, undemokratische Distanz zur gelebten Realität der Europäer ein eklatantes Legitimationsproblem heraufbeschwören muss? Wie konnten sie derart fahrlässig das po  |  23

litische Prinzip aufgeklärter Publizität ignorieren? Die absehbare Folge wie­­derholter Erfahrungen dieser Art ist, dass man Europa paradoxerweise gerade dort lokalisiert, wo man es mit Akteuren zu tun hat, die sich von Europa weitestgehend entfremdet zu haben scheinen, obwohl sie in seinem Namen handeln. Europa wäre demnach vor allem dort, wo man es versäumt bzw. vergisst, sich davon Rechenschaft abzulegen, was es eigentlich ausmacht, wo man sogar dieses Vergessen in Vergessenheit fallen lässt und dessen ungeachtet im Namen Europas handelt. Doch einem solchen Vergessen des Vergessens kann man nicht einfach eine europäische Realität entgegenhalten, die ausmachen würde, was Europa wirklich ist. Auf diese Was-Frage war bislang keine befriedigende Antwort zu finden. Deshalb wich man in die Geschichte aus und fragte sich, seit wann es Europa gibt. Weitläufigen Diskussionen um diese Frage konnte die v. a. von Friedrich Nietzsche vorgebrachte rigorose Kritik solchen Ursprungsdenkens bislang wenig anhaben. 3 Immer noch glaubt man, um Ana­ chronismen weitgehend unbesorgt, bei Hesiod, bei Karl dem Großen, bei Dante Alighieri und seinem Zeitgenossen Pierre Dubois, in den Augsburger und westfälischen Friedensverträgen von 1555 und 1648, bei Friedensdenkern der frühen Aufklärung wie dem Herzog von Sully, bei William Penn und dem Abbé Castel de SaintPierre fündig zu werden.4 Dabei hat es sich längst herausgestellt, dass es »keine frühen Vorläufer« der politischen europäischen Einigungsbewegung des 20. Jahrhunderts gibt. 5 Stößt man unabhängig davon aber nicht im Investiturstreit des späten 11. und des frühen 12. Jahrhunderts, in der Mag­na Charta (1215), im Habeas-CorpusAct (1679) und in der Ideologie der Französischen Revolution von 1789 wenigstens auf moralische Ursprünge des Europäischen, so wie wir es heute als auf die Achtung der Menschenrechte verpflichtet vorfinden?6 Auch in diesem Fall müssen wir zurückfragen: Ist nicht die moralische Vorgeschichte dieser Rechte überhaupt nur nachträg­lich als deren Genealogie zum Vorschein gekommen? Hat man sich auf diese Rechte nicht erst zurückbesonnen, als radikale, extreme und exzessive Gewalt deren end­­gültige Negation heraufzube­schwören drohte? Kritiker jenes Ursprungsdenkens weisen mit Rémi Brague in diesem Sinne auf die »Se­kun­darität« Europas hin. Demzufolge 24  |  Kapitel I 

hat Europa ›ursprünglich‹ überhaupt nichts allein aus sich heraus. Immerfort hat es sich vielmehr durch nachträgliche Antworten herausge­bildet, die ihm von woanders her abverlangt wurden: vom Alten und Neuen Testament, vom griechischen und römischen ›Erbe‹, durch die Konkurrenz weltlicher und religiöser Macht, die islamische Herausforderung und schließlich durch selbstdestruktive kollektive Gewalt.7 Durch kriegerische Ge­waltverhältnisse wurde man auf dem europäischen Kontinent derart sich selbst fremd, dass man sich nach den großen Kriegen, die ihn wiederholt exzessiv verwüstet haben, fragen musste, was man angesichts dieser Gewalt überhaupt miteinander gemeinsam hat. Nichts, so schien es, wenn nicht wenigstens die Negation dieser Gewalt in dem unbedingten Willen, sich ihr niemals mehr widerstandslos hinzugeben und auszuliefern. Auch dieser minimale Wille ist aber in der Geschichte Europas, die sich nur aus mannigfaltigen Verflechtungen inkompossibler europäischer Geschichten zusammensetzt, nirgends als ›ursprünglicher‹ anzutreffen. Er hat sich vielmehr ebenfalls nur als nach­­­­trägliche Antwort auf eine Gewalt artikuliert, deren künftige Wiederholung man auszuschließen hoffte. 8 So konnte sich die weder im Rekurs auf die Ver­­gan­genheit noch mit Blick die Gegenwart befriedigend beantwortbare Frage, was Europa ist oder war, auf die Be­stimmung seiner Zu­kunft verlagern. Europa, das ist dem­nach genau das, was es erst werden soll. Kann bzw. darf sich Europa als ›Pro­jekt‹ aber in seiner bloßen Zukünftigkeit erschöpfen? Wird es niemals darüber hin­aus gelangen, Europa erst zu werden und auf diese Weise unaufhörlich nur auszustehen?9 Genüsslich weisen überzeugte Europa-Kritiker darauf hin, wie schlecht es um ein politi­sches Gebilde stehen muss, das allenfalls eine nie­mals verwirklichte Zukunft, aber gar keine unstrittige Geschichte oder Gegenwart hat. Angesichts immer neuer Krisen meinen sie denn auch für den Fall, dass man sich nicht auf ein verbindliches ›Erbe‹ einigen sollte, jederzeit das Ende Europas sich abzeichnen zu sehen, während andere ein Leben im Krisen­ modus für ganz normal halten und davor warnen, immerzu Europas früher oder später unvermeidlichen Rückfall in längst überwunden geglaubte Zeiten oder seinen baldigen Zusammenbruch herbei­zureden. In Anbetracht dieser verworrenen Diskussionslage erscheint es als bloß frommer Wunsch, im Fragen nach dem UrEuropa im Zeichen der Gastlichkeit  |  25

sprung, nach der Gegenwart und nach der Zu­kunft Euro­pas Einigkeit erzielen zu wollen. Der Phänomenologe Edmund Husserl, der noch im nazistisch beherrschten Freiburg der 1930er Jahre, wo sich sein ehemaliger Schüler Martin Heidegger den »Herrenmenschen« andiente, unverdrossen die anzustrebende Europäisierung Europas beschrieben hat, insistierte dagegen darauf, dass alle drei Fragen, die nach dem Ursprung, nach der Gegen­wart und nach der Zukunft Europas, nur auf einmal zu beantworten seien. Im griechischen Vernunftdenken meinte er den Ursprung Europas und dessen weiterhin unangefochten wirk­­samen teleologischen Sinn seiner künftigen Verwirklichung erkennen zu können. Europa konnte für ihn nichts anderes sein als ein ständiges Vernunft-Werden und in diesem Sinne ein fortwährender, allenfalls vorübergehend aufzuhaltender, aber niemals wirklich ab­zu­­bre­ch­ender Prozess der Europäisierung ‒ inklusive aller »fremden Menschheiten«, die seiner Mei­nung nach nur dem von Europa vor­gezeichneten Weg nachfolgen konnten, so dass sich schließlich deren Schein-Plu­ra­lität genauso wie eine spezielle Identität der Europäer in einer universalen Menschheit auflösen müsste.10 Während die Vernichtungspolitik der Nazis schon ihren Lauf nimmt, verficht dieser deut­sche Jude einen Vernunft-Optimismus, der im integralen Zusammenschluss des Ursprungs, der Gegenwart und der Zukunft Europas keinen Gedanken an ein Scheitern aufkommen lässt, das wenige Jahre später, spätestens 1945, nicht länger zu leugnen war. Die düsteren Prophezeiungen August Bebels, Friedrich Engels’ und Helmuth v. Moltkes, die schon Ende des 19. Jahrhunderts in die­se Richtung gewiesen hatten, hat Husserl scheinbar nicht wahrgenommen.11 Und ungeachtet seiner am eigenen Leib erfahrenen Diskriminierung als Jude glaubte er wie schon Hegel unbeirrt an die Kraft einer jeden Untergang überlebenden Vernunft12 , deren Verwirklichung sich weder von der Kürze individuellen Lebens noch von Gründen millionenfachen Umkommens aufhalten lässt. Für Husserl war Europa von Anfang an definiert durch die ihm gewissermaßen ein­ge­borene Idee der Vernunft. Dagegen wäre mit Nietzsche darauf hinzuweisen, dass man im mathematischen (offenbar Husserl vorschwebenden) Sinne nur definieren kann, was keine Geschichte hat. Hat sich Europa in der ihm eigenen Sekunda26  |  Kapitel I 

rität und Exzentrizität aber nicht als rück­haltlos vergeschichtlicht erwiesen? Muss nicht jeder Versuch, etwas derart Geschichtliches wie Europa definieren und dadurch auf einen seinerseits nicht geschichtlich anfechtbaren Sinn seines Ursprungs, seiner Gegenwart und seiner aus ihr hervorgehenden Zukunft festlegen zu wollen, als ganz und gar verfehlt erscheinen? Heißt das nun, dass Europa rückhaltlos einer massiven Kontingenz ausgesetzt ist, die es ständig auf unabsehbare Art und Weise verändert und künftig in etwas anderes verwandeln wird? Muss man es sich wie alles andere rückhaltlos von der Zeit beherrscht denken, die früher oder später aus allem Anderes macht, in dem sich das Vor­angegangene kaum mehr wiedererkennen lässt ‒ sofern nicht ein identitäres kollektives oder kulturelles Gedächtnis jegliche Alterität leugnet, die es daran hindern könnte, im gegenwärtig Erinnerbaren und Antizipierbaren nur die Wie­derkehr des Selben wahrzunehmen?13 Wird sich Europa, wenn es seine ›Identität‹ nicht anders behaupten kann als dadurch, seine radikale Verzeitlichung zu leugnen14 , früher oder später doch auf seine rein geografische Bedeutung zurückgeworfen sehen, wie sie noch zu Anfang des 20. Jahrhunderts für viele allein verständlich war? Überzeugt davon, dass aus der Vergangenheit kein begriffliches Licht mehr auf die Zukunft falle und dass seine eigene Sprache nur überholte Worte zum Verständnis einer weitgehend »beispiellosen« Zeit zur Verfü­g ung stelle, bekannte Paul Valéry15 in seinem 1931 in erster Fassung, 1945 schließlich in endgültiger Form veröffentlichten Buch Blicke auf die gegenwärtige Welt, dass er es sich früher nicht habe träumen lassen, »daß es in der Tat ein Europa gebe. Der Name war für mich eine geografische Bezeichnung, nichts weiter.«16 Im Zuge seiner bereits nach dem Ersten Weltkrieg einsetzenden Befragung der europäischen Gegenwart daraufhin, ob Europa inzwischen mehr als nur ein geogra­fischer Terminus sei, kommt Valéry (wie vor ihm schon Voltaire und Sigmund Freud) zunächst zu dem Schluss, Europa stehe nach wie vor bloß für ein Geflecht von Chro­nologien der Gewalt. Die übrig gebliebenen Trümmer seien von später Le­benden stets nur nachträglich und zufällig geschichtlich gedeutet wor­den.17 Was dabei als »Geist« zum Vorschein gekommen sei, habe sich ebenfalls als »tödlich verletzt« erwiesen, als sich die vorherrschenden europäischen Mäch­te daEuropa im Zeichen der Gastlichkeit  |  27

ran machten, den Untergang Europas zu besiegeln, bevor ein anderes Europa überhaupt die geringste Chance haben konnte, sich dagegen zu behaupten. »Wir sehen jetzt, daß der Abgrund der Geschichte«, in den Europa endgültig zu stürzen drohte, »groß genug ist für die ganze Welt«, schreibt Valéry 1932.18 Was sich im Ersten Weltkrieg ankündigte, sollte in der Tat die Welt heimsu­chen. Aber im doppelten Sinne: welt-weit wurde töd­ liche Gewalt entfesselt; zu­gleich drohte durch eine Politik, die unter den Nazis als Vernichtungs­­­politik ihrem Namen spottete, jegliches Verständnis einer gemeinsamen, zu teilenden und politisch zu gestaltenden Welt, die ihren Namen verdient, ganz und gar ruiniert zu werden19 ‒ nicht nur im Sinne des schieren Ausmaßes und seiner ge­o­­­­­grafischen Dimensionen, sondern auch im Sinne der Zerstörung jeglichen Begriffs, den man sich von einer politisch­en Welt machen müsste, um im Mindesten an­geben zu können, was man sich unter Europa überhaupt (noch) vorstellen möchte.20 Dass es nach 1945 irgendwie weiter gegangen ist und dass man mit der Montan­­union, mit der EWG, der EG und schließlich der EU weitergemacht hat, beweist in dieser Hinsicht wenig. Jedenfalls ist man seither in der Frage, was Europa ist, war oder sein wird, kaum weiter gekommen. So bleibt der Eindruck zurück, Europa sei nur da, wo darum gestritten wird, was es ausmacht oder ausmachen müsste. Dem­nach wäre Europa wenn nicht nur, so doch in erster Linie ein diskursives Phä­no­men, von dem aus man nicht auf irgendeine europäische Wirklichkeit schließen soll­te. Aus endlosen Europadiskussionen wäre nicht zu folgern, dass es Europa prak­ tisch wirklich ›gibt‹.

2. Europas gelebte Wirklichkeit in historischer Perspektive

Dass Europa nur ein Artefakt der Diskussion um diesen Begriff sein soll, damit wol­len sich viele begreiflicherweise allerdings nicht abspeisen lassen.21 Gibt es nicht wirk­lich eine ›gelebte Europäität‹? Man denke nur an Erfahrun­gen der Ar­beits-Mi­­­­gration und binatio­naler Eheschließ­ung­en, an Au-Pair-Aufenthalte, an das Eras­ mus-Pro­gramm und an transnationalen Schüleraustausch. Ist es auf diesen Wegen nicht längst zu einer friedlichen Ver­flech­tung 28  |  Kapitel I 

diverser euro­päi­scher Lebensverhält­nisse gekommen? Könnte es nicht sein, dass sie gewissermaßen unterhalb der großen eu­ropä­­ ischen Ge­schichte und der transnationalen, verrechtlichten Institutionen, die man unter dem Kürzel EU zusammenfasst, die eigentliche eu­ro­pä­ische Erfahrung ausmacht, wie schon öfter vermutet wurde? Gewiss: nichts, was zu dieser Verflechtung beigetragen hat, ist ex­klu­siv ›europäischer Natur‹. Aber die Frage ist doch berechtigt, ob es nicht eine le­bens­prak­tisch erwiesene Europäität gibt, die sich nicht in einem bloß diskursiven Phänomen (oder Phantom) erschöpft. Lässt sich andererseits Europa als praktizierte Europäität ohne jegliche geschichtliche Einbettung verstehen? Wird sie im Ver­hältnis zu Nachbarländern nicht stets mehr oder weniger sensibel praktiziert mit Rücksicht auf vielfach konträre und keineswegs generell versöhnte Erinnerungen an Zeiten, in die über meh­rere Generatio­nen sich er­streck­ende kollektive Gedächtnisse zurückreichen? (Man denke nur an das deutsch-tsche­chi­sche und an das deutsch-polnische Verhältnis.22) Das bedeutet nicht, dass wir es hier wieder mit fragwürdigen Ursprüngen Europas zu tun bekommen. Gewiss hat inter-kul­turelle und inter-nationale europäische Praxis immer einen lokalen und temporalen Index, der besagt, wo sie stattfindet ‒ anknüpfend an welche Geschichte(n) und weiter­führend in wessen Zukunft. Aber die lokale, grenzüberschreitende Verflech­­tung geschichtlicher Bezüge kann nicht auf einen Ursprung Europas rekurrieren. Und sie sollte nicht die gleichen mythologisierenden Erinnerungsmuster des nationalistischen Zeitalters wiederholen, in dem man nicht müde wurde, sich eines au­toch­t ho­nen Bulgarien, Polen, Tschechien, Ungarn, Frankreich oder Deutschland vergewissern zu wollen ‒ stets um den Preis einer gewalt­trächtigen ethnischen Fiktion, die gefährlich darauf hinauslief, An­dere vom eigenen, an­maßend exklusiv in Besitz genommenen Grund und Bo­den und oft genug zu­gleich von der eigenen Geschichte und Zukunft auszuschlie­ßen. Nirgends vermag heute eine vergleich­­bar gewaltsame mythologische Kraft einen Ur­sprung Europas zu stif­ten und die vielen Verflechtungen europäischer Ge­dächt­nisse, Erinnerungen und Geschichten in einer einzigen transnationalen Geschichte aufzuheben, denn der Plural der Geschichten lässt sich nicht zu einer Geschichte synthetisieren.23 Sosehr sich auch eine Phalanx von Europahistorikern da­ran Europa im Zeichen der Gastlichkeit  |  29

machen mag, alle kollektiven Vergangenheitsbezüge zu europä­ isieren, eine, der nationalen Identität vergleichbare, europäische, historisch fundierte Identität wird dabei nicht herauskom­men. Letztere ist weder auf akademischen We­­gen herbeizuschreiben noch ›von oben‹ politisch zu verordnen. Und darüber sollte man nicht unglücklich sein. Das na­­tionalistische Muster der »Konstruktion«, »Erfindung« oder auch eines lüg­­nerischen Fin­­­gierens einer einheitlichen, Fremde stets ausschließenden Super-Ge­schichte hat ‒ ungeachtet anachronistischer Rückgriffe, wie man sie in Polen und Ungarn versucht ‒ längst ausge­dient, sowohl auf staatlicher als auch auf transnationaler Ebene. Dennoch erschöpft sich jene Verflechtung nicht bloß darin, ein unübersehbares Netz ge­­­schichtlicher, europaweit lateral miteinander verknüpfter Bezüge zu erzeu­gen. Denn sie kommt als europäische nicht an dem Befund vorbei, dass sich Europa auf den Trümmern seiner Vorgeschichte erhebt, so dass es in historischer Perspektive nur als Antwort auf die Negativität Gestalt annehmen kann, die es fast zum Untergang verurteilt hat und gegen deren Wiederkehr es sich mit aller Macht stemmen muss. Das bedeutet keineswegs, dass man auf diesem Kontinent für immer dazu verdammt sein müsste, die »Gespenster der Vergangenheit« abzuwehren, die vielleicht nur dadurch in einem wahnhaften »Schuldkomplex«24 lebendig bleiben würden. Schon gar nicht ist man da­zu in allen Staaten Europas gleichermaßen verurteilt. Polen (man denke nur an Katyn), Tschechen (man erinnere sich nur an Lidice), Litauer (wo schon in der Endphase des Zweiten Weltkriegs die NS-Fol­ter­keller in Vilnius vom stalinistischen Regime nahtlos übernommen werden konnten 25) haben jeweils ganz anders gelagerte Probleme mit ›ihrer‹ Vergangenheit. Um das zu verstehen, bedarf es vielfältiger Querverflechtungen zwi­schen bislang allzu getrennt von­ein­­ander sich behauptenden kollektiven, kommunikativen und kulturellen Gedächtnissen.26 Aber überall dort, wo man europäische Gegenwart überhaupt mit europäischer Zukunft verknüpft, kann man nicht umhin, sich zu einer Vergangenheit zu verhalten, die neben allem beerbten kulturellen Reichtum auch eine eminente Gefahr der Selbstzerstörung heraufbeschworen hat. Das festzustellen bedeutet nicht, Europa historisch darauf zu reduzieren, in der Shoah »die Offenbarung des Wesens des 30  |  Kapitel I 

Abendlandes«­­27 zu sehen oder ihm eine mysteriöse schick­­­­­­salhafte Bestimmung im Sinne dieser Gefahr zuzu­schreiben, wie es in unterschiedlicher Weise Philippe Lacoue-Labarthe und noch Daniel J. Goldhagen getan haben.28 Wer so vorgeht, deutet Europa jedenfalls nicht geschicht­lich. Denn etwas geschichtlich zu verstehen bedeutet nach heutigem Standard, es auch in seiner historischen Kontingenz zu verstehen, einschließlich einer anderen Zu­kunft, die anders hätte kommen können. Das bedeutet wiederum nicht, die Kon­tingenz dessen, was geschichtliche Wirklichkeit geworden ist, in schierer Belie­big­keit aufzulösen, sondern zunächst nur, sich einer logificatio post festum (Theodor Lessing) zu widersetzen, die historische Realität auf eine eindeutige, ihr im Nach­hinein unterlegte Prä­de­ter­mi­na­tion reduzieren würde.29 Einer solchen Umfälschung kontingenter ge­schicht­licher Wirklichkeit in kausale Folgen eines vorweg festliegenden Schicksals muss man sich nicht schul­dig machen, wenn man festhält, dass Europa eine töd­liche Gefahr für sich selbst und die ganze Welt dargestellt hat – gewiss zu verschiedenen Zeiten und in ganz unterschiedlichen Formen, die nicht mit zwingender Notwendigkeit aus­ein­a n­der hervorgegangen sind. Dem entsprechend war den Europäern erst nach und nach, im im­mer stärker sich Geltung verschaffendem Einspruch gegen Ko­­lo­nialismus, Imperialismus, nationalistischen Militarismus und schließlich vor allem von Deutschen zu verantwortende seri­elle Vernichtung von Milli­on­en Mensch­en zu historischer Besinnung zu verhelfen, um sie zu zwingen, sich darüber Rechenschaft abzulegen, wie gewaltsam tatsächlich abgelaufen ist, was Philosophen wie Husserl allzu ger­ne als einen bloßen Vernunftprozess reiner Rationalisierung dargestellt haben.30 Europa ist nicht die Resultante eines derart sublimen, angeblich sogar dem Sinn nach ganz und gar gewaltlosen31 Projekts fortschrei­tender Europäisierung; jedenfalls nicht in den Augen derje­nigen, auf deren Kosten sich die gewaltsame Genealogie Europas vollzogen hat, bis sie schließlich in einer schon vor dem Ersten Weltkrieg vorausgesehenen Selbst­­­zerstörung kulminierte, die immerhin ein klares Ergebnis zu haben schien. Denn jetzt konnte man wissen, woran man unter keinen Umständen wieder (mit-) schuldig werden wollte.

Europa im Zeichen der Gastlichkeit  |  31

Bei näherem Hinsehen zeigt sich allerdings, dass es mit der Einigkeit in dieser Hinsicht nicht sehr weit her ist. Lehnt man Faschismus und Totalitarismus als For­men »totaler Herrschaft« ab (Hannah Arendt)? Oder die Wiederholung von Auschwitz (Theodor W. Adorno)? Oder, wie es scheinbar der Artikel 1 des Deutschen Grundge­setzes suggeriert, jegliche entwür­digende Gewalt, die ein ganzes politisches System von Anfang an ›auf die schiefe Bahn‹ bringen und desaströs scheitern lassen kann (worauf u. a. Avishai Margalit aufmerksam gemacht hat)? Kann man solcher Gewalt überhaupt Herr werden, wenn der Verdacht mit Recht besteht, jedes politische System sei von der Antike bis heute wesentlich um den Preis radikaler Exklusionen möglich geworden (wie Giorgio Agamben und Jacques Rancière argumentiert haben), so dass von einer alle Anderen wür­digenden Politik der »Einbeziehung« (Jürgen Habermas) eines jeden nicht die Rede sein kann? Lassen sich überhaupt politische Systeme denken, die je­dem Anderen als solchem gerecht zu werden versprechen sollten (wie es Emmanuel Levinas, Jean-François Lyotard und Jacques Derri­da nahelegen)? Handelt es sich hierbei um einen überspannten, jegliche Politik über­for­dern­den hyperbolischen Anspruch oder um eine Ethik der Unverfügbarkeit jedes An­deren, die allein das Politische davor bewahren kann, ganz allein das Feld der so­zialen Beziehungen zu beherrschen, gegebenenfalls eben auch im Zuge der Exklusion, der Ver­­gleichgültigung oder der Vernich­tung Anderer? Was auch immer die europäische Geschichte, die sich Europäer nachträglich als ihre eigene Vergangenheit angeeignet haben, an materiellen, architektonischen, ideengeschichtlichen, ästhetischen… Reichtümern in sich bergen mag, die man gewiss nicht nachträglich unterschiedslos für an dem Desaster Europas, das im 20. Jahrhundert eingetreten ist, ›historisch mitschuldig‹ er­k lären und insofern als »Müll« (Adorno) abtun kann, es ist doch unzweifelhaft mit dem Primat des Dringlichsten kon­­­f rontiert, das politisch unbedingt zu ver­hüten bzw. abzuwenden ist. Wenn Europa das nicht versprechen könnte, welches (politische) Vertrauen sollte man dann überhaupt in es set­­zen? Und welchen Glauben sollte man dann erst einer politischen Rhetorik schenken, die Europa regelmäßig mit viel weiter und höher zielenden Aspirationen in Verbindung bringt? 32  |  Kapitel I 

3. Europäische Gewaltgeschichte, primäre und sekundäre ­Gastlichkeit

Auf diese Fragen gibt die Rhetorik der Menschenrechte scheinbar seit langem proba­te Ant­wor­ten. Repräsentieren diese Rechte nicht genau jenes Minimum, das (welt-weit) am dringlich­sten durchzusetzen und dessen Verletzung unbedingt, unter allen Umständen und unver­züg­lich abzuwenden ist? Derrida, der neben ander­en Europa explizit als Versprechen ge­deutet hat 32 , hat das m. W. insofern nicht be­stritten, als auch für ihn diese Rechte unverzichtbare Ansprüche auf ein mensch­en­w ürdiges Leben repräsentieren. Im juridischen Diskurs, der über sie geführt wird, wird gleichwohl eines weitgehend übersehen: Vor jedem An­spruch, den jemand auf etwas soll haben oder erheben dürfen, liegt die Möglichkeit oder Unmöglichkeit, An­dere im Sinne eines solchen Anspruchs tatsächlich anzusprechen bzw. in Anspruch zu neh­men. Der Anspruch an die ›Adresse‹ Anderer geht dem Anspruch auf et­­­was vor­aus. Die unabdingbare, nicht verhan­delbare ›Aufgeschlossenheit‹ für das Inan­spruch­­­­­genommenwerden vom Anderen (die nichts mit einer bloß psychologischen Disposition zu tun hat) versteht Derrida mit Levinas als Gast­lichkeit mensch­licher Subjektivität.33 Die radikalste (nicht: die exzessivste oder brutalste) Ge­walt, die sich denken lässt, liegt in dieser Perspektive genau darin, von dieser Aufgeschlossenheit ›nichts wissen‹ zu wollen, mit der Folge, dass Andere als Subjekte möglicher Inan­spruch­nahme gewissermaßen aufhören zu existieren. Insofern kom­men sie nicht einmal als Objekte menschlicher Gewalt in Betracht, von denen der Anspruch ausgeht, ihnen keine Gewalt anzutun. Diejenigen, denen man nicht einmal das zuschreiben müsste, würden als ethische Subjekte gar nicht existieren. Mit ihnen könn­te man nach eigenem Gutdünken beliebig verfahren. Was auch im­mer man faktisch Anderen antun kann, ethisch ist jegliche Beliebigkeit jedoch ganz und gar in dem Moment ausgeschlossen, wo dieser Anspruch vom Anderen ausgeht (und wo er als sol­cher auch wahrgenommen wird). Dass wir im Zeichen dieses Anspruchs als für ihn unweigerlich aufgeschlossene, gastliche Subjekte zu verstehen sind, ist allerdings durch nichts zu beweisen. Wie Levinas, so verlagert auch Derrida diese Frage rückhaltlos ins Feld einer problematischen Bezeugung, Europa im Zeichen der Gastlichkeit  |  33

die niemals einen Beweis für das Bezeugte wird erbringen kön­ n­en.34 Mit Levinas ist er dessen ungeachtet davon überzeugt, dass wir im skizzierten Sinne zur Gastlichkeit bestimmt sind und dass wir nur unter dieser Voraussetzung auch in einem nicht-indifferenten Verhältnis zu jeglicher Gewalt stehen, die Anderen angetan wird, ob in subtiler und unauffälliger oder in eklatanter, spektakulärer und skandalöser Art und Weise. Doch wie soll man die Rede von Gastlichkeit hier verstehen? Gemeint ist bei Derrida of­fenbar zunächst nur eine primäre Gastlichkeit menschlicher Subjektivität, die uns unvermeidlich und auch unfreiwillig für den Anspruch des Anderen ›aufschließt‹, den wir gewissermaßen in uns beherbergen, um ihn einzuräumen und ihm gegebenenfalls stattzugeben. Es handelt sich noch nicht um eine bejahte und aktiv praktizierte, dem Anderen ›entgegengebrachte‹ Gastlichkeit oder Gastfreundschaft 35 , die man auch verweigern kann. Je­der, argumentiert Derrida sinngemäß, der das tun will, kann gleichwohl nicht umhin, sich ›immer schon‹ in einem zur Gastlichkeit herausfordernden Verhältnis zum An­­deren zu befinden. Angesichts des Anderen ziehen wir uns demnach ‒ selbst dann, wenn er sich »dem Unrecht hingibt«36 ‒ diese Her­ausforderung unvermeidlich und unfreiwillig zu, so dass sich sowohl die be­jahte als auch die verweigerte Gastfreundschaft nur nachträglich zu ihr verhalten können ‒ sei es überschwänglich, unkritisch und generös, sei es rigoros abwehrend und da­rü­ber hinaus jegliche vorgängige Bestimmung zur Gastlichkeit leugnend. Der Diskurs über die radikale, primäre Gastlichkeit richtet sich genau dagegen, diese Be­stimm­ung absolut zu leugnen. Keineswegs wollten Levinas und Derrida bestreiten, dass es empirisch mög­lich ist, sich ihr ganz und gar entziehen zu wollen. Aber sie insistierten darauf, dass auf diese Weise die angesichts Anderer immer schon wirksame Herausforderung zur Gastlichkeit nicht aus der Welt geschafft wird. Sie zu leugnen oder anders abzuwehren, ist nicht das Gleiche wie ihre radikale Liquidierung. Darum aber scheint es sich bei den radikalsten und exzessivsten Verbrechen gehandelt zu haben, die im (europäischen) 20. Jahrhundert das Licht der Welt erblickten. Was schließ­­­­­­lich in diesen Verbrechen kulminierte, bezeichnen Levinas und Derrida nicht mit Titeln wie Vernichtungspolitik, Weltkrieg oder Genozid. Sie verstehen diese Verbrechen 34  |  Kapitel I 

‒ ganz absehend von derartigen Begriffen politisch-­hi­sto­rischer Analysen ‒ vielmehr als einen groß angelegten Versuch, sich jeg­ lichen ethi­schen Bezugs zum Anderen zu entledigen. Das heißt, dass die fraglichen Untaten da­rauf hinausliefen, jegliche ethische Ansprechbarkeit durch bestimmte Andere in Abrede zu stellen (und sogar zu bestreiten, dass dergleichen überhaupt erforderlich ist, um mit ihnen umspringen zu können, wie man es im Rahmen vernichtender, rassistischer Politik für ›richtig‹ hielt). Wenn Levinas in seinem ersten, auf diese barbarische ›Po­litik‹ gemünzten philosophisch­en Hauptwerk Totalität und Unendlichkeit (1961)37 demgegenüber schrieb, das menschliche Subjekt sei »ein Gastgeber« (hôte)38 , so wollte er vor allem auf diese seiner Meinung nach un­hintergehbare Ansprechbarkeit hinweisen, aus der er dann allerdings weitergehend eine Bestimmung zu einem verantwortlichen Verhältnis zum An­deren herauslas. Wo immer ein Anderer uns anspricht, nimmt er uns dem­nach auch schon in Anspruch im Sinne der Verantwortung, die er uns ›gibt‹ ‒ selbst wenn es sich um einen Verfolger und Feind han­­deln sollte. Nicht einmal die Tatsache, sich angesichts eines Gewalttäters nur noch als dessen vollkommen wehr­loses Opfer begreifen zu müssen, kann daran etwas ändern, will Levinas sagen. Wir sind demnach allemal auch diesem Anderen gegenüber und für ihn verantwortlich. Was ein mensch­liches Subjekt auf diese Weise sozusagen gastlich beherbergt, ist gerade die Gabe der Verantwortung selbst. Dass und ob es sie ›gibt‹ bzw. dass sie uns ›gegeben‹ ist (und wie das ggf. als eine ›Gegebenheit‹ im phänomenologischen Sinne aufzuweisen ist), ist bis heute umstritten.39 Und dieser Streit wird, nach seinem bishe­rigen Verlauf zu urteilen, wohl auch niemals zu schlichten sein, denn nichts kann beweisen, dass wir uns unter allen Umständen in einem verantwortlichen Ver­ hältnis zum Anderen, zu jedem anderen, befinden müssen und dass weder radikale Verbrechen noch auch rigorose Abschottungsversuche diesem Verhältnis entkommen. Ohne sich auf irgendein fragwürdiges, vermeintlich beweiskräftiges Wissen zu be­rufen, behauptet Derrida mit Blick auf Europa denn auch nur, es habe sich »als ein Versprechen angekündigt«40 ‒ und zwar als ein Versprechen der Gastlichkeit als der Bestimmung zur Verantwortlichkeit angesichts jedes Anderen, der sie uns zumutet wie eine Gabe. Dank dieser Gabe können wir demnach Europa im Zeichen der Gastlichkeit  |  35

überhaupt nur ethische Subjekte sein. Dank dieser Gabe müssen wir uns aber auch unvermeidlich als ethische Subjekte erweisen.41 Und das wird selbst dann unweigerlich der Fall sein, wenn wir jene primäre Gastlichkeit leugnen oder wenn wir uns auf eine sekun­ däre (private, ökonomisierte, verrechtlichte) Gastlichkeit zurückziehen wollen, die wir nur ausgewählten Anderen entgegenbringen möchten.42 Nur so kennt man normalerweise die Gastlichkeit: als freiwillig, zu eigenen Be­din­gun­gen gewährten, willkommenen Aufenthalt (sei es unentgeltlich und gene­rös, sei es zu bestimmten ökonomischen und rechtlichen Bedingungen), über den ein im eigenen Raum Sou­­ veränität genießendes Subjekt befindet, um Andere willkommen zu heißen. Ob es sich um einen geladenen oder ungebetenen Gast, um eine vorübergehende oder für längere Zeit einem ›Dauergast‹ eingeräumte Gastlichkeit geht, ist in dieser Hinsicht einerlei. Jedes Mal wird normalerweise unterstellt, sie werde von einem solchen Subjekt (grundsätzlich widerruflich) gewährt und ihr könne im Prinzip jederzeit von ihm der Boden entzogen wer­den. So gesehen bleibt dieses Subjekt gerade in der Gastlichkeit ganz und gar ›bei sich‹, so dass sie seiner Souveränität unterstellt bleibt, auch wenn es im Einzelfall den gegenteiligen Anschein haben mag. Dagegen muss die von Levinas und Derrida beschriebene primäre Gastlichkeit genau dem zuwiderlaufen. Wenn wir gar nicht anders können, als die Gabe der Ver­­­antwortung in Empfang zu nehmen, wenn wir insofern im Zeichen des An­spruchs des Anderen unvermeidlich gastliche Subjekte sein müssen, dann sind wir als solche niemals souverän. Derridas rätselhafte Aussage, Europa habe sich als ein Versprechen angekündigt, ist in dieser Perspektive so zu verstehen, dass in der europäischen Geschichte nicht nur der Anspruch des Anderen als im skizzierten Sinne unverfügbarer, jegliche Souveränität unterlaufender zum Vorschein, sondern auch die Achtung ihm gegenüber zur Geltung gekommen ist. Versprach diese Ach­tung bzw. verspricht sie bis heute nicht, diesem Anspruch gerecht zu werden? Und lag bzw. liegt darin nicht bis heute mehr als nur die Unverbindlichkeit eines In-Aussicht-Stellens? Ist dieses ›mehr‹ nicht in der Tat als die Ver­­bindlichkeit eines Ver­­sprechens zu verstehen, das eine nachfolgende Zukunft zu seiner wirklichen Einlösung erfordert? 36  |  Kapitel I 

Hat man in diesem Sinne im Horizont der anhaltenden Sekun­ darität des Europäisch­en, das sich nachträglich nicht nur zum Alten Testament und zu Griechenland43, sondern auch zu Südamerika, Afrika und zu seiner eigenen kolonialistischen Geschichte ins Ver­­ hältnis setzt, den Anspruch des Anderen als Herausforderung zu einer gastlich­­­en Subjektivität realisiert, die sich als solche auch wirklich erweisen sollte ‒ wenn wir es hier tatsächlich mit einem für die Zukunft Europas verbindlichen ›Versprechen‹ zu tun haben? Doch was heißt hier ›tatsächlich‹? Wie soll man feststellen, ob es sich ›wirklich‹ so ver­hält? Ersichtlich haben wir es hier nicht mit geschichtswissenschaftlichen, em­­pirisch abgestützten Befunden zu tun. Es wäre denn auch ganz verfehlt, zu fragen, wo und wann denn jenes Versprechen ›abgegeben‹ worden sein soll. Es geht vielmehr darum, wie ein provisorisches Europa44 im Lichte der nachträglich er­in­ner­ ten ›eigenen‹ Geschichte gewissermaßen sich selbst europäisiert, indem es in vielfachen Antworten auf die Negativität seiner Vergan­ genheit zu erkennen gibt, was es nicht (mehr) sein will, woran es nicht (mehr) mitschuldig werden will. So erwächst Europa aus seiner Vorgeschichte, die es angesichts von Ver­brechen hin­ter sich zu lassen versucht, die besagen, was man als mit dem Europäischen absolut unvereinbar betrach­­­tet. Mit dem Europäischen absolut unvereinbar erscheint heute ‒ wiederum nach­­träg­lich, im dunklen Licht einer niemals ›aufzuhebenden‹ Vergangenheit45 ‒, dass man sich zum Anspruch des Anderen erneut ganz und gar indifferent verhält, so als ginge er einen ethisch überhaupt nichts an, als könne man Andere (einzeln, aber auch tausend- und millionenfach) einem ethisch indifferenten, insofern nackten Leben überlassen. Dem steht nicht bloß jene primäre Gast­lichkeit menschlicher Subjektivität entgegen; dem widersetzt sich auch die (se­kundäre) Bereitschaft, sich vom Anderen bedingungslos oder unter Vorbehalten an­sprechen und in Anspruch nehmen zu lassen (was keineswegs bedeutet, einem bestimmten Anspruch auf etwas auch ›statt zu geben‹ oder ihn ohne weiteres in ein Anrecht um­­zu­münzen). Die radikale ethische Herausforderung, die darin liegt, wird notorisch verkannt, wenn man sie sogleich in ein Recht übersetzt, sei es in das Arendt’sche elementarste »Recht, Rechte zu haben«, sei es in die Pluralität der Menschenrechte, die Eu­ro­­pa tatsächlich zu achten versprechen muss. Genau so lassen sich in der Tat die ein­schlä­gi­gen Gründungsdokumente europäischer Europa im Zeichen der Gastlichkeit  |  37

Verfassungs­wirklichkeit deuten. Aber was nüt­z­en alle Rechte, wenn sich diejenigen, die deren wirkliche Achtung garantieren müssten, nicht auch in diesem juridisch nicht zu fassenden Sinne ansprechen lassen würden? Und was würden sie denjenigen nüt­zen, die, wenn sie die Verletzung gewisser Rechte beklagen wollen, gar nicht auf die An­sprech­barkeit Anderer zählen können, denen solche Klagen erst einmal zu Gehör gebracht werden müssen? Auf dieser vor-juridischen Ebene tatsächlicher Ansprechbarkeit und ›Erreichbar­­keit‹ An­­­derer liegt das, was man mit Levinas und Derrida als Herausforderung einer primären (durch nichts zu beweisenden, nur zu bezeugenden) Gastlichkeit gegenüber dem Anspruch des Anderen verstehen kann. Diese primäre und radika­le, den ethischen Sinn menschlicher Subjektivität ausmachende Gastlichkeit erübrigt in keiner Weise, sondern erfordert gerade eine sekundäre, beschränkte, in Gren­­­­­zen bejahte (und nur so vor absoluter Überforderung zu bewahrende) Gastlich­­­keit, die sich konkret in verschiedenen kulturellen, sozialen, ökonomischen und rechtlichen Dimensionen ausprägt und unter lokal und geschichtlich höchst un­terschiedlichen Bedingungen auch unweigerlich kontingente Formen annehmen muss. In Folge dessen ist es unvermeidlich, dass die (primäre) Gastlichkeit sich auf der (sekundären) Ebene konkreter Formen des Willkommenheißens, der Aufnah­me und Beherbergung Anderer in eine Vielzahl unterschiedlichster Gastlichkeiten ausdifferenzieren muss ‒ darunter auch fragwürdige, jegliche unverfügbare Gastlichkeit konterkarierende Formen, die man rhetorisch zum eigenen Vorteil in Beschlag nimmt, um sich selbst in ein positives Licht zu rücken, wie man es hierzulande erlebt hat, als man alle Welt als »zu Gast bei Freunden« willkomm­en geheißen hat, um vor allem ökonomische Vorteile daraus zu ziehen.

4. Europa im Zeichen der Gastlichkeit: Spielräume des ­Verhaltens

Dabei gehört die Gastlichkeit niemandem, wie mit Recht der Kulturanthropo­lo­ge Mi­chael Herz­feld betont: »Hospitality is not […] a prerogative of any particu­lar area of the world, al­though many […] so­cieties […] claim it as quin­tessentially their own […].«46 Gastlichkeit ist kein symbolischer Besitz, sondern eine Heraus­for­ 38  |  Kapitel I 

derung, die uns von Anderen her wider­f ährt; und zwar zunächst überall dort, wo sie uns ansprechen und in Anspruch nehmen, ob sie nun als Gast auftreten oder nicht. Erst wo letzteres der Fall ist, geht es um die le­bens­praktische Einrichtung gastlicher Spielräume sozialen Verhaltens, nicht zu­letzt auch auf transnationalen politischen Ebenen wie der EU mit ihrer Politik der inzwischen viel­fach eingeschränkten Freizügigkeit und des Schutzes vor Verfol­g ung. Diese Politik lässt da­ran zweifeln, ob Europa nicht längst diese so oft beschwo­renen ›Werte‹ verrät. Wäre es nicht pure Ideologie, Gastlichkeit für Euro­pa in Anspruch zu nehmen und von einem gastli­chen Europa so zu sprechen, als hand­le es sich um eine nachweisbare und unstrittige kulturelle oder sittliche Rea­lität? Diesen berechtigten Einwand zieht man sich nicht zu, wenn man Europa im Zei­chen der Gastlichkeit als einer gerade vom Anderen als Fremdem her wider­fah­renden Herausforderung (und insofern ›pathologisch‹ bzw. ›pathisch‹47) bedenkt. Über das páthos dieser Herausforder­ung verfügt nie­mand. In ihrem Widerfahrnis­ charakter widersetzt sich die Gast­­lichkeit jeglicher Aneignung ‒ und damit auch einer Euro­päi­sie­r­ung, die dazu führen könnte, dass man sie auf unserem Kon­tinent, der sich bis 1945 als der weltweit ungastlichste überhaupt erwiesen hat, als einen ›Wert‹ in Beschlag nimmt, um damit symbolische Politik zu machen. Niemals wird es ein im Ganzen gastliches Europa ge­ben können, ein Europa der Gastlich­keit, das sie für sich in Anspruch nehmen dürfte, um sich im Narziss­­mus eines hospitablen Selbst­bildes zu gefallen. Sobald die Gastlichkeit nicht mehr als Heraus­for­der­ung vom An­deren her begriffen, sondern zum inte­gralen Moment kol­lektiven Selbstbe­ wusst­­­seins erklärt wird, läuft sie Gefahr, einer an­gemaßten politischen Souverä­ni­tät zum Opfer zu fallen, die perverserweise auch das Unver­f ügbare des An­­spruchs des Anderen sich zu eigen macht. Mit Recht hält Hannah Arendt da­gegen, souverän sein zu woll­en laufe darauf hinaus, die Freiheit (des Anderen) abzuschaffen.48 Die letzte, poli­ti­scher Souveränität den größten (wenn auch passiven) Widerstand entgegensetzen­de Frei­heit aber liegt in der Fremdheit des Anderen, wie Levinas un­aufhörlich betont hat.49 Und ge­rade von ihr wird die Gastlichkeit auf ihre eigentliche Probe gestellt. Selbst der schon ver­traute und der ge­ladene Gast kann sich im Prinzip jederzeit als ganz Anderer her­aus­stel­len. Entweder die Gast­lichkeit Europa im Zeichen der Gastlichkeit  |  39

manifestiert die Aufnahme des Anderen in seiner Fremd­heit, oder sie reduziert sich auf einen harmlosen Euphemismus, auf eine mehr oder weniger unverbind­liche, generöse Pra­xis souveräner Subjekte, die nicht im Traum daran denken, in der Gastlichkeit irgendeine Einschränkung oder Subversion ihrer Herrschaft über den Raum erkennen zu wollen, den sie Anderen stets nur aus freien Stück­en, befristet und zu ihren Bedingungen einräumen. Gastlichkeit in diesem Sinne wider­spricht politischer Souveränität nicht, sondern erweist sich lediglich als deren dem Anschein nach generöseste Manifestations­form, wohingegen die der Freiheit und Fremd­­­­heit des Anderen Antwort ge­bende Gastlichkeit mit allen überlie­ferten Vorstellungen von Souveränität unvereinbar ist. Niemals wird man es sich in der radikalen Gastlichkeit, zu der wir vom Ander­en her herausgefordert sind, gemütlich einrichten können. Denn als radikale Her­ausforderung geht sie uns in unberechenbarer Art und Weise voraus und lässt unserem Verhalten zu ihr nur nachträgliche Spielräume. Umso mehr kommt es dann aber darauf an, wie diese gestaltet wer­den. Aufgenommen werden alle­mal Andere als leibhaftige Wesen mit allem, was sie konkret als verschieden und fremd erscheinen lässt: ihre fremde Sprache, ihre Umgangsfor­men, Ge­wohn­heiten und Sitten, ihr kulturelles, ethnisches und politisches Selbstverständnis, das vielfach tiefgreifende Feindschaften beerbt. (Man denke nur an die Millionen Flüchtlinge aus dem Nahen Osten, die vor dem sunnitisch-schiitischen Schisma, vor dem Terror des IS, vor dem syrischen Bürgerkrieg und/oder vor türkisch-kurdischen Konflikten fliehen.) Es wäre politisch naiv, annehmen zu wollen, Frem­de brächten als Gäste stets nur Dankbarkeit für ihre gastfreundliche Aufnah­me und zu erwidernde Freundschaft mit. Apriori besteht überhaupt kein Grund dazu, nicht anzunehmen, dass sie ‒ von möglicherweise irregeleiteten Hoffnungen und übertriebenem Misstrauen, Traumata, Furcht und Resignation bis hin zu arroganten Anspruchshaltungen und strategisch­em Missbrauch erzwungener Aufnahme anderswo ‒ alles mitbringen können, was Menschen um­treibt. Das ist normaler­ weise zu erwarten und genau deshalb wiederum überhaupt kein Grund, in fremden Gästen eine beson­dere Bedrohung oder gar potenzielle Feinde zu sehen. Zwischen Feindschaft und Freundschaft gibt es mannigfaltige Abstufungen und darü­ber hinaus weitere so40  |  Kapitel I 

ziale Spiel­­räume ‒ etwa der Gleichgültigkeit, aber auch eines gelassenen Neben­einanders und eines formellen, zivilen Respekts ‒, die sich gar nicht auf den Gegensatz von Freund und Feind auf­zäumen lassen, mit dem ein auf den Spuren Carl Schmitts wandelnder politischer Existenzialismus in jüngster Zeit wieder liebäugelt. Ginge es in der Gast­­lichkeit wieder nur darum, zwischen Freund und Feind ›richtig‹ zu unterscheiden, wie es laut Schmitt und seinen Anhängern angeblich für die Behauptung politischer Existenz absolut notwendig ist, so wären wir über das tradierte Souveränitätsdenken keinen Schritt hinaus gelangt. 50 Gibt die Gastlichkeit, die uns pathisch vom Anderen her herausfordert, aber nicht anders zu den­­ken, wenn uns ihr páthos gar nicht zur Disposition steht? Letzteres bedeutet nicht, dass wir der Gastlichkeit unterworfen sind wie Knech­te und dass wir dazu verurteilt sind, der Freiheit des Anderen, die nun in seiner Fremdheit liegen soll, widerspruchslos gerecht zu werden. Dieser Schluss ergibt sich deshalb nicht aus der ›pathisch‹ verstandenen Gastlichkeit, weil sie qua Herausforderung noch keinen bestimmten Anspruch auf etwas und schon gar kein bestimmtes Anrecht bedeutet. Zu ermitteln, wozu genau die Gastlichkeit herausfordert und wie ihr unter gegebenen Um­ständen Rechnung zu tragen wäre, bleibt stets eine Angelegenheit der Spielräume sozialen und politischen Verhaltens, das sich einer primären (unbe­dingten) Gastlichkeit nur stellen kann, wenn es sie in unvermeidlich beschränkter (sekundärer) Form Gestalt annehmen lässt. Da­bei wird die primäre Gastlichkeit nicht etwa eliminiert, sondern in der Beschränkung zur Geltung gebracht. Und zwar doppelsinnig: als Überforderung (die unterschiedliche Aus­maße annehmen kann) und als Inspiration, die nach mehr und besserer Praxis der Gastlichkeit verlangt. Nur wo beides, Inspiration und Überforderung, zugleich im Spiel bleibt, verkümmert die sekundäre Gastlichkeit nicht unter dem irreführenden Anspruch, durch sie doch wieder eine souveräne Beherrschung der vom fremden Anderen ausgehenden Herausforderung erreichen zu können. Vor destruktiver Überforderung wird sekundäre Gastlichkeit nicht durch ver­meintlich souveräne Situationskontrolle, sondern nur dadurch zu bewahren sein, dass sie den auf Zeit Aufgenommenen, den befristet Geduldeten und anerkannten Asylanten das Vertrauen entge­genbringt, dass sie ihren Status nicht missbrauchen Europa im Zeichen der Gastlichkeit  |  41

werden. Erst wenn sich die Gastlichkeit in diesem Sinne praktisch bewährt ‒ und dazu gehört wesentlich, wie sie sich gegen ihren Missbrauch zu behaupten versteht ‒, kann sie mittel- und langfristig zu einer verlässlichen kulturellen Praxis werden, die jedoch niemals die Form einer ganz normalen Institution wird annehmen können. Dazu hängt sie zu sehr von immer neuer ›Zufuhr‹ unabsehbarer Fremdheit ab, die sich nicht in der radikalen Fremdheit Anderer erschöpft, von der Levinas spricht, sondern viele konkrete und relative ›Fremdheiten‹ ins Spiel bringt 51, die sich durch kein Recht der Welt mit heterogenen Lebensformen zum Ausgleich brin­gen lassen. Hier kolli­dieren im Konfliktfall nicht etwa (nur) unvereinbare Geltungsansprüche, son­dern (auch) unterschiedliche Erfahrungsansprüche in gegenseitiger Wahrnehmung, die je­der Beur­teilung vorausgeht. Schon hier, auf der Ebene einer spannungs­ reichen aisthēsis, ent­­­schei­det sich, ob und wie es zu Widerstreit, Dissens und kulturellen Dis­soziationen kommt, die auf dem Weg der Rationalisier­ung (durch Verstän­digung mit dem Ziel kognitiver Übereinstimmung) erfahr­ungs­gemäß kaum aufzuheben sind. Andere sind uns keineswegs nur ›radikal‹ fremd, insofern sie uns in ihrer unaufhebbaren Alterität entzogen bleiben. Vielmehr muten sie uns (und muten wir ihnen) vielfach konkret Befremdliches zu, da­run­ter nicht zuletzt das giftige Erbe tiefster Verfeindungen, wie es in jüngster Zeit Flüchtlinge aus dem Na­hen Osten nach Europa mitbringen ‒ nicht selten, ohne genug zu realisieren, dass sie nur in dem Vertrauen aufgenommen werden können, dass sie ihre Feind­ schaft (sei es gegen den IS, sei es gegen das Assad-Regime, Sunniten oder Schiiten, kurdische Pesch­mer­ga oder türkische Grenztruppen und Geheimdienstler…) nicht auf europäischem Boden weiter kultivieren, propagieren und austragen.

5. Gastlichkeit vs. Souveränität – Auskehr aus dem ­Europäischen?

Angesichts solcher Risiken mag man sich fragen, ob die Praxis der Gastlichkeit nicht jederzeit darauf bedacht sein muss, dass man selbst ›Herr im eigenen Hause‹ bleibt, statt in nicht souverän gewährter Gastlichkeit Gefahren heraufzube­schwören, auf die man sich unnötigerweise eingelassen hat. Wo eine Selbst-Herrschaft 42  |  Kapitel I 

(Ipsokratie 52) in diesem Sinne das letzte Wort hätte, könnte man scheinbar ganz ›bei sich‹ und ›unter sich‹ bleiben, wenn man jegliche Gastlichkeit zurückweist, sofern sie die eigene Souveränität in Frage stellt. In diesem Sinne lässt Franz Kafka die Bewohner des Schlosses »K.« den Bescheid geben: »Wir brauchen keine Gäste«53; d. h. wir genügen uns selbst; wir sind nicht auf Andere angewiesen; wir bleiben unter uns und jeder bei sich. Wenn man das Risiko nicht eingehen will, das im Fremden liegen mag, ist die unausbleib­liche Folge davon, dass man sich zur Gefangenschaft im Eigenen verur­teilt. Dabei verspricht nur das auch Leben, was wir gastlich aufnehmen. Exklusiv bei sich bleiben zu wollen, ist eine Art Tod. Denn es bedeutet, sich zum Anderen in seiner Fremdheit überhaupt nicht mehr verhalten und diese nicht einmal mehr als pathische Herausforderung akzeptieren zu w ­ ollen. Das würde schließlich bedeuten, überhaupt keine Herausforderung mehr zulassen zu wollen, die man nicht von Anfang an souverän im Griff hat. So gesehen läuft sou­veräne Ipsokratie auf die konsequente Negation jeglichen Widerfahrnisses und auf das Ende jeglicher Erfahrung hinaus, die ihren Namen verdient. Strenggenommen ›macht‹ man ja überhaupt keine Erfahrung, wenn sie nicht auch widerfährt. 54 Wo aber nichts widerfährt, kann auch die souveräne Selbstherrschaft im Grunde über nichts An­deres mehr herrschen. So müsste sie sich, zu Ende gedacht, in der Herrschaft über sich ‒ also über nichts Anderes ‒ erschöpfen. Die Gefahr, die man stereotyp dem Fremden zuschreibt, liegt in Wahrheit in einem Für-sich-sein, das keinen Ausweg mehr aus sich selbst findet und am Ende als souveränes gar kein Verhältnis zu Anderem hätte, das ihm in seiner Fremdheit entzogen bleiben könnte. Ein solches Für-sich-sein würde auf ein Existieren ›bei geschlossenen Türen‹ hinauslaufen; gegebenenfalls auch zu Mehreren. Jean-Paul Sartre hat im Drama gleichen Namens (frz. Huis Clos; 1947) die Klaustrophobie vor Augen geführt, die in der Angst liegt, keinen Aus­weg mehr zu finden ‒ sei es aus sich selbst oder aus einer Zweisamkeit, in der es niemals Nacht würde, insofern man ständig dazu verurteilt wäre, in der Helle des Blicks der Anderen zu existieren. 55 Wenn es stimmt, dass wir für alles selbst verantwortlich sind, selbst für das, was uns scheinbar passiv widerfährt, wie Sartre an anderer Stelle behauptete 56 , dann entkommen Europa im Zeichen der Gastlichkeit  |  43

wir uns allerdings niemals ‒ und am allerwenigsten dann, wenn wir glauben, nur zu reagieren auf Frem­des, das uns pathisch widerfährt. Beginnt nicht alle Unaufrichtigkeit dort, fragte Sartre, wo man behauptet, nur noch auf Fremdes reagieren zu müssen, an dem man gar keinen Anteil zu haben glaubt? Fallen wir nicht gerade in der selbst verschuldeten Auslieferung an einen solchen Glauben an das Fremde am meisten auf uns selbst zurück, ohne es zu merken? Sosehr Sartre recht haben mag damit, dass der Herausforderung zur Freiheit nicht einfach dadurch zu entkommen ist, dass man auf objektiv Gegebenes ver­weist, auf das man nur zu reagieren behauptet, so fragwürdig ist seine Tendenz, im gleichen Zug jegliche echte Fremdheit ganz und gar in Abrede zu stellen, um auf diese Weise jener Klaustrophobie unfreiwillig eine ontologische Rechtfertigung zu verleihen. Be­geg­nen wir uns nicht immer nur selbst ‒ sogar in widrigen Krank­hei­ten, für die uns Sartre ebenfalls verantwortlich macht, da wir sie doch leben (im transitiven Sinne des Wortes)? Können wir auf diese Weise überhaupt je zum fremden Anderen vordringen oder uns vom Frem­den in Anspruch neh­men lassen? Bestätigt die Lehre politischer Souveränität nicht genauso wie eine solche The­orie menschlicher Freiheit eine eigentümliche Unfähigkeit, den Anderen und das Andere in seiner Fremdheit zu denken bzw. von beidem überhaupt betroffen zu werden? Europa hat man unaufhörlich genau diese Unfähigkeit vorgeworfen. So mach­te Levinas das von Platon und Aristoteles her vertraute europäisch-ontologische Denken, das man so oft mit universaler Vernunft identifiziert hat, dafür verantwortlich, keine wahrhafte »Exteriorität« des Anderen zu kennen. Dieses Denken habe sich im Gegenteil Macht über alles Fremde angemaßt, auch über die Fremdheit des Anderen. Durfte sich Levinas nicht in der wesentlich auf Niccolò Machiavelli und Thomas Hobbes zurückgehenden Ideologie der Macht und in ihren späteren kolonialistischen, national-staat­lichen und imperialen Manifestatio­nen bestätigt sehen? Oder lässt sein maßloser Vorwurf57 an die Adresse eu­­ro­päi­schen Denkens, der uns letztlich eine Auskehr aus ihm ans Herz legt, allzu vieles übersehen? War das neuzeitliche Europa nicht ein ständiger Einspruch gegen sich selbst? Ist es sich nicht immer wieder selbst gewisserma44  |  Kapitel I 

ßen ins Wort gefallen? Man denke nur an die von Tzvetan Todorov reaktualisierte Kolonialismus-Kritik 58 , an die Forderung nach Toleranz und Gewissensfreiheit (Pierre Bayle u. a.59), an Immanuel Kants Apologie einer für »fremde Vernunft« aufgeschlossenen »erweiterten Denkungsart«60 und an die moderne Dialektik, die das überlieferte Differenzdenken der­a rt radikalisierte, dass Derrida Levinas entgegenhalten konnte, niemand sei sei­nen Einwänden mehr entgegengekommen als gerade Hegel. 61 Allerdings: nagende Zweifel bleiben. Gelangt ein vernünftiges Subjekt über­haupt je aus sich heraus? Von Johann G. Fichte über Ernst Mach bis hin zu Richard Avenarius und schließlich Edmund Husserl reicht die Phalanx derjenigen, welche die finstere Aussicht beunruhigt hat, kein Weg nach ›draußen‹ sei mehr offen. 62 Auf andere Weise sind die modernen Dialogisten mit Ludwig Feuerbach und Mar­­tin Buber in die glei­che Richtung vorgestoßen, bis Max Scheler, Karl Löwith und vor allem Ed­mund Husserl mit seinen auf das Jahr 1929 zurückgehenden Cartesianischen Meditationen (erstmals frz. 1931) dann die Möglichkeit echter Fremderfah­r­ung explizit zum Thema gemacht haben, die bis heute anhaltende Diskussionen um den von den schottischen Moralisten entdeckten moral sense, um Mitleid und Empathie umtreibt. 63 Levinas schrieb sich mit seinem ersten Haupt­werk (1961) in diese Strömungen selektiv ein und legte schließ­lich nahe, dass man der Leug­nung unaufhebbarer Fremdheit des Anderen nur dadurch entgegentreten könne, dass man gleichsam rückwärts (nämlich in Richtung auf das Alte Testa­ment) aus ›europäischem Denken‹ austrete. 64 Derridas frühzeitige, bis heute unübertroffene Auseinandersetzung mit dieser Position von Levinas hat allerdings unmissverständlich deutlich gemacht, dass der­­artige Dekrete nicht genügen, um in der Sache weiterzukommen, d. h. eine derartige Fremdheit denkbar zu machen. Dafür reicht es nicht aus, wie Levinas zu bezeugen oder zu beschwören, ihrer Spur zu folgen. 65 Anderen Apologien wahrhafter Fremdheit bzw. echter Exteriorität, eines nicht dialektisierbaren ›Außen‹ jeglichen Denkens oder eines ›Anderen der Vernunft‹ ist es ‒ von Michel Foucault über Mau­rice Blanchot bis hin zu Hartmut und Gernot Böhme ‒ kaum besser ergangen.­ Ungeachtet Derridas Einspruch dagegen, das europäische Denken des Anderen einer no­­­torischen, mit ›griechischen‹ Mitteln anEuropa im Zeichen der Gastlichkeit  |  45

geblich nicht zu kurierenden Verfehlung der wahren Alterität des Anderen zu bezichtigen, hat Levinas offenbar an dieser Kritik festgehalten. Die Widmung seines zweiten Hauptwerkes, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht (frz. 1974/dt. 1992), lässt in dieser Hinsicht kaum Zweifel. Was früher Exteriorität hieß, wird nun von der Spur des Anderen aus in Richtung auf ein Jenseits jeglicher Ontologie und Metaphysik thematisiert, das Levinas ursprüng­­lich im jüdischen Denken zur Sprache gebracht fand. (Freilich gerade nicht als ›Thema‹ im üblichen Sinne des Wortes, sondern im Sinne ständigen Widerrufens seiner Sagbarkeit.) Und nur diesem ›anderen‹ Denken des Anderen, das ihn nicht als diskursiven Gegenstand verhandelt, son­­­­dern bezeugt, mochte er offenbar zutrauen, von der Alterität des Anderen wirklich Rech­enschaft abzulegen. Um nichts anderes als dieses Zeugnis ging es ihm letztlich. Und nur aufgrund dieses Zeugnisses glaubte er jenem Antisemitis­mus widersprechen zu können, der, wie er meinte, nicht bloß seine eigene litauische Familie und nicht nur Millionen von Juden, sondern im Grunde »Abermillionen von Menschen aller Konfessionen und aller Nationen« als »Opfer desselben Hasses auf den anderen Menschen, desselben Antisemitismus« das Leben (und noch viel mehr) gekostet hat. 66

6. Europa im Zeichen des Hasses

Unwillkürlich hält man den Atem an angesichts der Wucht dieser mehrfachen Gleichsetzungen: Meine Angehörigen, schreibt Levinas, und die Angehörigen aller Anderen ‒ ausnahms­­­­­­los sind sie Opfer der gleichen Ursache: desselben Hasses… Aber letzteres lässt Raum für Zweideutigkeiten: Unterscheidet sich vulgärer Hass, der nicht speziell Juden gilt, nicht vom Hass auf sie? Handelt es sich beim Hass auf Juden insofern um ganz gewöhnlichen Hass? Oder will Levinas im Gegenteil sagen, dass es beim Hass auf den anderen Menschen, gleich um wen es sich handelt, im Grunde um Antisemitismus geht? Wenn es sich so verhält, dass letztlich nur ›jüdisches Denken‹ darüber aufklären kann, was Hass auf den An­ deren als Anderen eigentlich ›bedeutet‹, weil nur das Judentum über ursprüngliche Einsicht in die unaufhebbare Alterität des Anderen verfügt, gegen die sich der Hass zu richten scheint, dann 46  |  Kapitel I 

liegt in der Tat die zweite Deutung nahe: Jeder wirkliche, zutiefst dem Anderen als solchem geltende Hass müsste sich letzt­­lich insofern als antisemitischer Hass herausstellen, als das, was den Anderen als Anderen ausmacht, gerade die Wahrheit des Judentums darstellt. Ohne das Judentum wüssten wir womöglich überhaupt nichts mit diesem scheinbaren Pleonasmus anzufangen, mit dem wir die meist unbedachte Rede vom An­deren gleich­sam verdoppeln, indem wir insistieren, dass vom Anderen als Anderem die Rede sein soll (und gerade nicht bloß von anderen als irgendwie von uns Verschiedenen, die eine soge­nannte Politik der Differenz in einer allgemeinen Diversität aufgehen lässt, so als ob es sich um eine quasi botanische Vielfalt handeln würde). Nun verhält es sich aber keineswegs so, dass man sich einfach auf ›das Juden­tum‹ oder auf ein besonderes ›jüdisches Denken‹ als eine ›andere‹ Vernunft neben, vor oder über… einer mit der Genealogie Europas identifizierten Vernunft berufen könnte. Niemand verfügt über eine Vernunft, die vernünftiger wäre als die Vernunft. Aber letztere kann auch nicht ohne weiteres in einer einheitlichen Form vorliegen, wenn sie nur in einer Vielzahl von sich überkreuzenden, mehr oder we­ni­ger verwandten und vielfach interferierenden, jedoch zugleich unaufhebbar pluralen Idiomen des Denkens begegnet. 67 In heterogenen Idiomen artikuliert sich die Herausforderung unaufhebbarer Alterität, ohne dass aber eines von ihnen ihr in Mo­di des Sagbaren vollkommen gerecht zu werden verspräche. Levinas selbst hat die Alterität immer wieder dem Sagbaren zu entziehen versucht, mit Mitteln der Sprache (bzw. des Französischen) wohlgemerkt, um zu dementieren, aussa­gen­de Rede bzw. ein assertorischer Diskurs könne ihr je gerecht werden. Letzteres kann, wenn wir Levinas’ eigenen Denk­­­wegen folgen, überhaupt kein Privileg irgendeiner Sprache bzw. irgendeines Idioms sein. Vor dem Phänomen des Hasses auf den An­deren als Anderen stehen denn auch alle Sprachen in gewisser Weise gleich rat- und sprachlos. So hat auch Sartre den Hass diskutiert, aber dabei eine zu Levinas ge­gen­läufige Interpretation nahegelegt: Im Antisemitismus zeigt sich ›derselbe‹ Hass, der auch sonst überall anzutreffen ist ‒ nämlich als Hass auf das »Prin­zip der Existenz Anderer« als solcher. 68 Levinas sagt: Jeder (radikale 69) Hass muss letztlich als Antisemitismus verstanden werden. Mit Sartre wäre dagegen zu halten: Europa im Zeichen der Gastlichkeit  |  47

Antisemitismus ist eine besondere Form vulgären Hasses, der kein privilegiertes Objekt kennt, sondern sich beliebige Andere sucht, Haupt­­­sache, er kann sich ver­nichtend gegen sie wenden, ob in der Phantasie oder re­a liter. Wichtiger als diese Gegenläufigkeit der Interpretationen des Hasses ist der Befund, dass beide, Levinas, der religiöse Mensch, und Sartre, der erklärte Atheist, vor diesem Phäno­­men gleichermaßen begrifflich entwaffnet stehen, wenn es da­rum geht, anzugeben, was denn den An­deren als Anderen zu etwas derart Hassenswertem macht, wenn er sich uns in seiner Alterität doch so entzieht, dass über­haupt keine Sprache hinreicht, um befriedigend zu sagen, was es mit ihr auf sich hat. Warum zieht ›etwas‹ uns derart Entzo­genes, das sich gar nicht als ›etwas‹ oder als ›jemand‹ identifizieren lässt, Hass auf sich? Müsste der Hass nicht etwas vom Anderen als Anderem ›wissen‹, um sich als Hass begreifen zu können? Oder ist der Hass mangels jeglichen Wissens dieser Art notorisch ›blind‹, sobald er sich ge­gen die Existenz Anderer als Anderer selbst richtet? Muss man, anders gefragt, aus dem ›europäischen‹ Denken auskehren, um diese Frage auch nur angemessen aufwerfen zu können? Ist es nicht vielmehr so, dass einerseits dem Ju­dentum keineswegs eine andere Vernunft offen steht, die hier wei­terhelfen könnte, und dass sich andererseits Europa in seiner extrem gewaltsa­men Genealogie immer wieder gegen sich selbst gewandt hat, um die Frage aufzuwerfen, was man dem Anderen als solchem schuldig ist? Gewiss: Auch Autoren, die wie Tzvetan Todorov und Achille Mbembe diese Frage explizit stellen, werfen sie im Nach­­­­­­hinein auf, indem sie sie herauslesen aus der Kritik kolonialistischer Gewalt etwa.70 Auch Derrida verfährt im Grunde so, wenn er zu dem Schluss gelangt, dass sich Europa als ein Versprechen angekündigt habe. Damit soll keine neue Ursprungserzählung nahegelegt und kein neuer Mythos gestiftet werden, mit dessen Hilfe sich ›gute Europäer‹ nur selbst ver­zaubern würden, ohne aber eine desaströse europäische Gewaltgeschichte damit be­män­teln zu können, die man wenigstens andernorts in Erinnerung behalten wird. Vielmehr kommt man zu dem Schluss, dass sich der als Versprechen zu deutende Anspruch, dem An­deren als solchem gerecht zu werden, im Zuge vielfacher kritischer Wendungen gegen eine ex­ trem gewaltsame Geschichte von Europäisierungsprozessen nach und nach Geltung verschafft hat. 48  |  Kapitel I 

7. Normative Folgerungen?

Das ist indessen nicht so zu verstehen, als könne dieser Anspruch ohne weiteres eine nor­ma­­tive Form annehmen und in klare und eindeutige Forderungen eingehen. Es ist vielmehr gerade die Unbestimmtheit dieses Anspruchs, die für produktive Unruhe sorgt, insofern sie jeglichem selbstgerechten Wissen im Weg steht, wie dem Anderen Genüge getan werden und ob das jemals zureichend gelingen kann. In Folge dessen steht dieser Anspruch auch jeg­ licher Selbstbeweihräucherung und allen identitären Aneignungen im Weg, die darauf hinauslaufen würden, ihn für sich selbst in Anspruch zu nehmen. Das heißt, dass man sich vom Anspruch des An­deren her nur dazu bestimmen lassen kann, ihm selbstverantwortlich zu antworten, ohne dass der Anspruch aber je in der Antwort aufzuheben sein wird, die er findet. Wer aber ist überhaupt der Andere? Nirgends begegnet uns konkret ein hypostasierter, absoluter Anderer (von dem bei Levinas immer wieder die Rede ist); vielmehr haben wir es je nur mit leibhaftig oder virtuell in Erscheinung tretenden (und sich allenfalls in ihr zugleich sich uns entziehenden) Anderen zu tun, die an einer unübersehbaren Pluralität Anderer teilhaben, so dass sich unvermeidlich Fragen der Auswahl und Probleme beschränkter Bezugnahme auf sie stellen. Welche Anderen verdienen besondere Beachtung? Wie geht ein Anspruch an uns in einen Anspruch auf etwas über? Wessen Anspruch lässt sich am ehesten mit einem Anrecht verknüpfen? Hier stellen sich schwierige Fragen der Artikulation, der Repräsentation und der Normativier­ ung von Ansprüchen, die keineswegs ›immer schon‹ in normativer Form be­­­gegnen.71 Wenn sich eine dem Anspruch des Anderen verpflichtete responsive Vernunft72 nicht in normativistischer Selbst­­ ge­rechtigkeit einschließen soll, die genau das glau­ben machen würde, muss sie sich immer wieder unabsehbaren und unberechenbaren Ansprüchen aussetzen, deren normative Implikationen niemals im Vorhinein feststehen können. Das gilt sogar für das Mindeste, was man scheinbar jedem Anderen schuldig ist: seinem Anspruch we­­nigstens Gehör zu schenken. Es ist vollkommen unmöglich, jedem gegenüber jederzeit (und ganz unabhängig vom Inhalt seines Anspruchs) dazu bereit zu sein. Eine entsprechende Europa im Zeichen der Gastlichkeit  |  49

nor­­­­­­­mative Forderung müsste darauf hinauslaufen, das Mindeste ad absurdum zu führen, von anspruchsvolleren Forderungen ganz abgesehen. Als leibhaftige, endliche Subjekte wer­­­­den wir immer und unvermeidlich hinter eine unbedingte Gastlichkeit zurückfallen, die das ›Gehör‹ bestimmt73 , insofern sie uns im Prinzip jederzeit von jedem beliebigen Anderen her dazu herausfordern kann, seinem Anspruch Aufmerksamkeit entgegenzubringen.74 Als für diese Gastlichkeit ›aufgeschlossene Subjekte wer­den wir uns andererseits niemals auf bestimmte Normen zurückziehen können, die in allgemein-ver­bind­licher Form festlegen würden, welche Ansprüche als Anrechte auf etwas zu berücksich­tigen sind. Wo der Überschuss möglicher Ansprüche in definierten Anrechten gleichsam aufgesogen wird, gerät eine gastlich und unbedingt für den Anspruch des Anderen aufgeschlossene Sub­­­jektivität bereits aus dem Blick. Umgekehrt würde eine ohne jeglichen Rückhalt in Nor­men bedingungslos die­sem Anspruch verpflichtete Subjektivität jederzeit Gefahr laufen, durch ihre eigene Überforderung erstickt zu werden. So steht nur der mittlere Weg einer zwischen unbedingten Ansprüchen und be­­stimmten Normen lavierenden, notorisch instabilen Subjektivität offen, die sich ersteren nicht stellt, ohne wenigstens die Frage nach ihrer Normierbarkeit aufzuwerfen, und die sich umgekehrt niemals mit letzterer zufrieden geben kann, insofern sie wissen muss, in unbedingter Gastlichkeit jederzeit auf andere Weise dazu herausgefordert werden zu können, den unabsehbaren Ansprüchen Anderer Antwort zu geben, denen niemals durch allgemeine Normen zureichend gerecht zu werden ist. Nur eine derart instabile Subjektivität wird es auch mit dem Hass aufnehmen können, dem keine allgemeine Norm beikommt. Gewiss: Der Hass eröffnet erfahrungsgemäß den Weg in das Schlimmste, was Anderen widerfahren kann. So gesehen läge es nahe, ihn (oder wenigstens alle Formen seiner Äußerung) zu verbieten. Doch hate speech versteht es raffiniert, sich zu tarnen, so dass es weitgehend aussichtslos erscheint, sie normativ bändi­gen zu wollen.75 Zwar können bestimmte Manifestationen einer Sprache des Hasses (Verunglimpfung, üble Nachrede, Volksverhetzung usw.) unter Strafe gestellt werden, doch damit kommt man dem Hass selbst kaum bei, der sich jederzeit andere Wege suchen kann, um Andere vernich50  |  Kapitel I 

tend zu treffen. So ›grundlos‹ und ›abgründig‹ der An­deren als Anderen geltende Hass sein mag, so erfinderisch ist er, wenn es darum geht, sich durch ihn am Leben zu erhalten ‒ nach der Devise: »Ich hasse, also bin ich«; »Wir hassen, also sind wir«. Wo und wie Hass seine Ziele verfolgt und erreicht, bleibt deshalb eine stän­dige Her­­­­­­aus­forderung für diejenigen, die eingedenk einer desaströsen und hasserfüllten europäisch­en Ge­schichte versuchen müssen, Hass ‒ auf wen auch immer ‒ wenigstens keine po­liti­sche Chance zu geben. Das sind sie all jenen schul­dig, denen gegenüber das Versprechen der Achtung ihrer Alterität immer wieder gebrochen worden ist: den Schwächsten, die man zur Zielscheibe des Hasses macht, den man längst in sich trägt, bevor er sich an gerade denen schadlos zu halten versucht, die sich nicht gegen ihn wehren können. Politischer Hass ist das Verbrechen der Feigen, die nur in der Zusammenrottung überhaupt ›jemand‹ sind und angeblich ›für sich bleiben‹ wollen, fern von jeglicher Alterität. So absurd und selbstmörderisch das im Grunde ist ‒ mit solchem Für-sich-sein und mit Ideologien der Rei­­­­nigung und der endgültigen Befreiung vom ›Anderen‹ wird man immer liebäugeln. Und wo man ›des‹ Anderen nicht habhaft wird, wird man sich ersatzweise immer an beliebigen Fremden oder Schwachen schadlos halten, die man risikolos identifizieren kann.76 Ganz vergeblich hat man gefragt, was (wir als) Europäer sind, was sie bzw. uns der­art ausmacht, dass man mittels dieser Bestimmung auch Europa ›definieren‹ könnte. Doch Europa hat sich als durch und durch vergeschichtlicht erwiesen, so dass es sich nicht definieren lässt. Es hat nichts Ursprüngliches, das ihm ganz und gar zu eigen wäre. In seiner unausweichlichen Sekundarität und Exzentrizität gelingt es ihm auch nachträglich nicht, sich eine nachgeholte oder nachgeahmte, ursprüngliche, gegenwärtige und/ oder zukunftsweisen­de Identität anzueignen. Daran hat die Destruktivität den größten Anteil, mit der sich Europa beinahe zum endgültigen Untergang verurteilt hat ‒ um nur durch energischen Wider­stand gegen sie nachträgliches Profil zu gewinnen. Am ehesten hier zeichnet sich eine ›re­sponsive‹ Europäität ab ‒ in der Form bestimmter Negationen, die gewiss nicht zureichend vorzeich­nen, was Europa ist, sein kann oder sein wird, die aber deutlich machen, was es zurückweist: Allem voran den Hass auf den Anderen Europa im Zeichen der Gastlichkeit  |  51

als Anderen, der ihn nicht einmal neben sich dulden, sondern aus dem Weg räumen, zerstören, endgültig und ›restlos‹ vernichten will, auch auf die Gefahr hin, sich dabei selbst zu ruinieren. Der Hass liebäugelt schließlich mit einer Welt, in der es den Anderen als solchen nicht mehr gäbe, so dass Hass unmöglich werden müsste. Erfahrungsgemäß liegt den Hassenden aber derart viel am Hass, durch den allein sie im Grenz­fall überhaupt ›jemand‹ sind, dass sie vor dieser Konsequenz selbst aus­weichen und sich neue Hass-Objekte suchen, damit ihr Hass die Vernichtung des Gehassten überleben kann ‒ ohne allerdings je des Anderen als solchen habhaft werden zu können. Nun wäre es weltfremd, Hass als solchen eliminieren (›ausrotten‹) zu wollen. Ein gastliches Europa, das die Lektionen beherzigt, die politischer Hass ihm er­teilt hat, wird auch gegen ihn keine »Endlösungen« ersinnen. Es muss, wenn es in primärer Gastlichkeit den Anderen hereinlässt, und zwar bedingungslos, auch den Hassenden Einlass gewähren und darf sich keinen Illusionen der Reinheit bzw. der Befreiung von ihnen hingeben. Hass ein- und zulassen bedeutet jedoch nicht, ihm auch noch politische Spielräume zu gewähren. Wenn das geschieht, nimmt eine Destruktivität bedrohlich ihren Lauf, die, wenn sie an die Macht kommt, nur in einem Desaster enden kann. Wie weit man auch zurückgehen mag mit Autoren wie Emmanuel Levinas, Philippe Lacoue-La­barthe, Maurice Blanchot oder auch Giorgio Agamben, die fragen, wie tief das Desas­tröse in der europäischen Geschichte, speziell in der Geschichte europäischen Denkens, verwurzelt ist (um prompt bereits in der Antike, im ›Griechischen‹, in der Tradition der Ontologie und in einer nach wie vor nicht abzuschüttelnden metaphysischen Erblast fün­dig zu werden), ein politisches Desaster, in dem das Politische selbst mit vernichtet wird, ist niemals das schicksalhaft uns aufgezwungene Resultat des Hassens. Denn der Hass gedeiht nicht, er ge­w innt keine politische Kraft in polemogenen Antagonismen, wenn man ihm nicht auch ›statt gibt‹, wenn man sich nicht auch politisch solidarisiert im Zeichen des Hasses auf Andere und schließlich zu verbalen und anderen Waffen greift. All das ist zusätzlich nötig, wenn sich dem Hass politische Optionen eröffnen sollen, über die er kei­neswegs ohne unser Zutun verfügt.77 52  |  Kapitel I 

Europa wird nicht einmal ›versprechen‹ können, den Hass loszuwerden, dem es in seiner Geschichte immer wieder Raum gegeben hat ‒ von der griechischen pólis über die Konfessionskriege, die Nationalismen und Rassismen des 19. und 20. Jahrhunderts bis hin zu ei­­ner von deutschem Boden ausgegangenen Vernichtungspolitik, die unmissverständlich vor Augen geführt hat, dass es Politik, die ihren Namen verdient, nur geben kann, wo sie vor jeglicher Vernichtung von Gegnern und Feinden Halt macht und, mehr noch: wo sie sich ihr von Anfang an widersetzt.78 Die ›Versuchung‹ des Hasses wird sich jedoch niemals aus der Welt schaffen lassen. Wenigstens für eine primitive, allein dem Gehassten zu verdankende Identität wird sie eine ständige Verlockung sein. So kann sich denn auch Europa nur darin seines geschichtlichen Profils versichern, wie es mit Hass umgeht, d. h. wie es ihn sich artikulieren lässt, wie es ihn auffängt und entschärft, möglichst ohne ihm die geringsten politischen Chan­cen zu geben. Wem das als Aufgabe für ein Europa, das auf der Höhe seiner eigenen Gegen­­wart sein sollte, zu anspruchslos ist, verfolge nur die aktuelle Berichterstattung, die auch ohne sozial- und kulturwissenschaftliche Expertise beweist, wie die Sonntags­reden auf seine hehren ›Werte‹ eingeholt werden vom Hass auf gerade jene, die als weit­­gehend Un­bekannte Einlass begehren, um eine Gastlichkeit herauszufordern, die erst nach den Exzessen vernichtender ›Politik‹ radikal gedacht wurde: im Zeichen unaufhebbarer Alterität, mit der Hass keinerlei Gemeinschaft anerkennt, der er vielmehr einen nie endenden, mit allen Mitteln zu führenden Krieg erklärt. Angesichts aufflammenden und vielfältig angestachelten Hasses erleben wir gegenwärtig die Probe auf ein allein lebenspraktisch zu bewährendes Europa, das zeigen muss, was man sich von ihm versprechen kann, indem es eine unbedingte Gastlichkeit durch deren un­vermeidlich begrenzte Realisierung zu verteidigen verspricht. Wenn es das nicht wirklich verspräche, wäre es nach 1945 kein wahrhaft anderes geworden ‒ das nur als solches, d. h. als gastliches, versprechen könnte, für alle, die sich in seinen Grenzen vorübergehend und besuchsweise, als Flüchtlinge oder als Einwohner aufhalten, eine Art Heimat darzustellen. Diesem schwierigen, missverständlichen und so oft missbrauchten Begriff wendet sich das folgende, zweite Kapitel zu.

Europa im Zeichen der Gastlichkeit  |  53

K A PI T EL I I Heimat für Heimatlose? Politische Überlegungen zur Literatur der Verlassenheit Wir hungernde, dürstende, dreckverstaubte, arg ermattete Wüstendurchquerer […] wir Umher­ gestoßene, wir Heimgesuchte und darum Heim­ suchende, wir dem Entsetzen Entkommene […]. Hermann Broch1 Auch die deutsche Sprache ist nur eine zeitweilige Herberge […]. Imre Kertész2

1. Eine verdächtige Renaissance

Dass Worte wie Gemeinschaft, Volk und Heimat aus bekannten historischen Gründen besonders hierzulande als ›belastet‹ gelten, ist ein Gemeinplatz. Lange wurden sie deshalb gemieden, ohne dass auf diese Weise klar werden konnte, ob und wie sie in Anbetracht ihres unbestreitbaren politischen Missbrauchs begrifflich zu revidieren sind. Nach wie vor wird deshalb vielen die Renaissance, die das Heimatliche nach einer gewissen Karenzzeit mehr oder weniger verschämter Zurückhaltung gegenwärtig erfährt, als unheimlich erschei­nen. Wird es als politisch nicht zu Missbrauchendes rehabilitiert? Oder wird es nur äußerlich restauriert? Oder leben nun unter dem Anschein politischer Harmlosigkeit gespenstisch Affinitäten zu einer nationalistischen und rassistischen Vereinnahmung des Heimatlichen wieder auf, die bekanntlich ein weltgeschichtliches Desaster mit zu verantworten hatte? Lässt sich der Begriff Heimat dessen ungeachtet überhaupt noch ›politisch unschuldig‹ verwenden? Wenn, dann allen­falls nachdem man eine rigorose Analyse der politischen »Perversion« vorgenommen hat, 54  | 

die ihn schwer in Mitleidenschaft gezogen hat, betonen Kritiker wie Dominick LaCapra.3 An dieser Stelle von Perversion zu sprechen impliziert die Frage nach einer nicht »perversen« und insofern ‒ nicht zuletzt politisch ‒ akzeptablen Verwendung des Begriffs. Keineswegs muss man ihn zur Gänze verwerfen, ›nur‹ weil man ihn politisch missbraucht hat. Aber es erscheint fraglich, ob sich die Rede von Heimat gegen politischen Missbrauch überhaupt in Schutz nehmen lässt. Besondere Wach­­samkeit ist jedenfalls geboten, denn nicht einmal die vielfach versuchte Ableitung des Heimatlichen aus primordialer Zugehörigkeit zu einem von Kindheit an vertrauten Ort oder sozialen Milieu ist politisch unverfänglich, wenn es stimmt, dass es sich stets um das Resultat von Prozessen der »Zu- und Aneignung« handelt. 4 Wo das vergessen wird, schlägt schließlich selbst die scheinbar harmlose Frage, wo jemand ›zu Hause‹ ist bzw. war, leicht in die unbefragte und exklusive Inanspruchnahme von »Heimat als handfeste[m] Besitz an Gut und Boden«5 um: dies ist bzw. war meine, unsere, aber nicht deine, eure Heimat… So wird Heimat unver­sehens zu etwas quasi Vorhandenem, in Anspruch zu Nehmendem, von dem man als ganz und gar Eigenem Besitz ergreift. Dabei kann niemand von Natur aus, kraft autochthoner »Verwurzelung« oder angeblich seit je her »angestammten« Rechts, irgendwo zuhause oder beheimatet sein. Allenfalls werden wir beheimatet ‒ stets dank Anderer, bis auf weiteres und unter gewissen Bedingungen, die offenbar sämtlich widerrufen werden können. Einschlägige historische Erfahrung lehrt jedenfalls, dass wir uns eines Zuhauseseins oder einer Heimat zumal politisch niemals vollkommen sicher sein können. Wer daraus schließen würde, es bedürfte nur einer politischen Affirmation dieser Begriffe, um den Heimat-Be­­griff als einen jener vielen »Werte« im kollektiven Selbstbewusstsein zu verankern, die man als Zeichen unveräußerlichen kulturellen Besitzes und nationalen Stolzes vor sich her trägt, irrt gründlich bzw. unterschlägt, wie gerade die Erfahrung der Heimatlosigkeit dazu herausfordert, diesen Begriff radikal zu revidieren. Wie, darauf soll im Folgenden wenigstens in Grundzügen speziell mit Blick auf politische Heimatlosigkeit auf­ merk­sam gemacht werden.

Heimat für Heimatlose?  |  55

2. Anzeichen politischer Heimatlosigkeit

»Wer sich weigerte, Nazi zu werden, hatte eine böse Situation vor sich: völlige und aussichtslose Trostlosigkeit, wehrloses Hinnehmen täglicher Beleidigungen und Demütigungen; hilfloses Mitansehen des Unerträglichen; vollkommene Heimatlosigkeit; unqualifiziertes Leiden.« Das schrieb der erklärtermaßen sehr »konservativ« veranlagte junge Sebastian Haffner in seinem autobiografischen Bericht über die Zeit zwischen 1914 und 1933, zu einer Zeit, wo das Desaster, das sich nach dem letzten Akt der Machtübergabe von »dem alten Verräter Hindenburg« an Hitler und seine Gesinnungsgenossen anbahnen sollte, allenfalls in Umrissen erkennbar war. 6 Man sollte von diesen Erinnerungen eines nicht einmal dreißigjährigen Zeitzeugen gewiss keine umfassende Genealogie der NaziHerrschaft erwar­ten, unter der er es bis zu seiner Emigration nach England im Jahre 1938 ausgehalten hat. Allenfalls können sie einen sensiblen Einblick in geschichtliche Umstände bieten, die heute kaum noch jemand aus eigener Anschauung kennt, in Um­stände, denen der junge Autor keineswegs zum Opfer fallen musste, da er persönlich nicht zu den Verfolgten gehörte. Dennoch: Als Zeuge der Transformation der bürgerlichen Welt, in der er aufgewachsen war, in eine terroristische Kameraderie ‒ so stuft er ein, was sich bis 1933 abzeichnete7 ‒ sieht er buchstäblich vor seinen Augen die zuvor unbefragt für verlässlich gehaltenen institutionellen Grundstrukturen einer solchen Welt zerfallen. Wenige Indizien genügen dem angehenden Juristen im Berliner Kammergericht, um zu realisieren, wie um ihn herum, aber auch durch ihn und in ihm selbst, eine ganze Welt zusammenbricht, was er, wie er zu spät merkt, für schlechterdings »unmöglich« gehalten hatte: »Eine braune Uniform [kam] auf mich zu und machte Front vor mir: ›Sind Sie arisch?‹ Ehe ich mich besinnen konnte, hatte ich geantwortet: ›Ja.‹ […] Welche Schande, damit zu erkaufen, daß ich hier hinter meinem Aktenstück in Frieden gelassen würde! […] Als ich das Kammergericht verließ, stand es grau, kühl und gelassen da wie immer […]. Man sah ihm keineswegs an, daß es soeben als Institution zusammengebrochen war.«8 Beliebige Braunhemden konnten jederzeit auftauchen, um deren normales Funktionieren außer Kraft zu setzen. Das heißt, als Einrichtung der Dritten Gewalt, die unabhängig zu sein 56  |  Kapitel II 

hätte, war sie bereits erledigt. »Ich fühlte […], daß der Geist der darin geherrscht hatte, immer spurloser entwich, und ich hatte ein fröstelndes Gefühl von Heimatlosigkeit.«9 So wird der junge Autor ein »›Sans-Patrie‹, ein Mann ohne Schatten« ‒ ähnlich wie Adelbert von Cha­missos Peter Schlemihl, der den seinigen verkauft hatte ‒ »ohne Hintergrund, bestenfalls Geduldeter ‒ oder […] ein gänzlich Heimatloser, ein Verbannter im eigenen Land«, dem fortan jegliche »Gastlichkeit« abgehen wird.10 »Jede Fremde, das fühlte man allmählich immer un­aus­weich­licher, würde heimatlicher sein als das ›Reich‹ Adolf Hitlers. Und würde sich nicht ‒ so fragte man manchmal mit leiser Hoffnung ‒ ›drau­ ßen‹ vielleicht hier und da sogar wieder ein Stück Deutschland bilden?«11 Ein Deutschland wohl­gemerkt, dessen Gastlichkeit sich nicht zuletzt auch daran bemessen müsste, ob und wie es sich für die Erfahrung politischen Fremd­werdens im eigenen Land aufgeschlossen erweist und das sich jedem Versuch widersetzen sollte, eine jegliche Fremdheit und Individualität austreibende (pseudo-) gemeinschaftliche, totalitäre Kameraderie »als nor­male Lebensform über ein ganzes Volk [zu] verhäng[en]«.12 Jene in den Erinnerungen Haffners nur en passant angedeutete Frage lässt immerhin noch den Gedanken an eine wiederzugewinnende politische Kultur zu, die so etwas wie eine Heimat bieten könnte ‒ und zwar gerade dann, wenn sie die Erfahrung politischen Fremd­wer­dens im eigenen Land nicht unterdrücken würde. Aber beschönigt eine solche Aussicht nicht eine viel tiefer greifende Heimatlosigkeit, der politisch überhaupt nicht beizukommen ist?

3. Vielfältige Quellen der Heimatlosigkeit

Uns Menschen ist »keine Heimat möglich«, heißt es unumwunden in Friedrich Hölderlins Hyperion.13 »Wir, die Heimatlosen«, mögen zwar gelegentlich »wissen, wo wir wohnen« ‒ dank der Gegenwart eines Anderen, der »vertraulich nahe waltet über uns« ‒; doch ist »bei den Menschen kein friedlich Bleiben nicht«.14 Solches »Bleiben ist nir­gends«, schreibt im gleichen Sinne Rainer M. Rilke.15 Und Maurice Blanchot wiederholt es16 , eine literarische Überlieferung radikalisierend, die Begriffe wie Heimat und Wohnen, ZuhauseHeimat für Heimatlose?  |  57

sein und Obdach dem Verdacht aussetzt, überhaupt nicht einlösen zu können, was sie in Aussicht stellen: Formen des Bleibens, in denen man sich wenigstens auf Zeit eines ungefährdeten Aufenthalts sicher sein könnte. Physisch Obdachlose müsste man darüber nicht eigens auf­k lä­ren. Aber wer ein Dach über dem Kopf hat und, gegen alle möglichen Risiken versichert, mehr oder weniger komfortabel wohnen kann, wird sich nur allzu leicht in der Illusion wiegen, eine ungefährdete Bleibe zu genießen. Das ändert jedoch, folgen wir dieser poetischen Überlieferung, nichts daran, dass man nur in einer anscheinend nicht zu behebenden Heimatlosigkeit ›bleiben‹ kann. Demnach wür­de dieser privative Begriff das Fehlen von etwas (Heimat) anzeigen, das wir tatsächlich niemals verlieren, haben oder zurückgewinnen könn­ten. Radikal Heimatlose können weder eine Heimat haben noch auch eine verlieren oder zurückkehren in eine Heimat, wenn es stimmt, dass sie unter allen Umständen jegliche Heimat entbehren müssen. Wie auch immer es um ihr physisches Dasein bestellt sein mag ‒ sei es obdach- und wohnungslos margi­nalisiert oder in urbanen Zentren der Wohlhabenden, sei es in trostlosen Mietskasernen, sei es im befestigten Eigentum extravaganter gated communities ‒, an ihrer metaphysischen Heimatlosigkeit wäre gar nichts zu ändern. Entbehren müssten sie eine Heimat scheinbar dennoch, die in keinem Obdach, in keiner Wohnung und in keiner andersartigen Bleibe je zu finden sein wird. So lehrt es eine Poetik des Exils, die auch die Sprache dieser Überlieferung selbst nur als eine exilierte verständlich werden lässt. Verschärft zeigt sich das politisch infolge ungeahnter Gewalt, der auch die Sprache im 20. Jahrhundert ausgesetzt war und die zahllose Autoren dazu gezwungen hat, im politischen Exil Zuflucht zu suchen, wo sie sich nur noch einer ihrerseits »exilierten Sprache« bedienen konnten.17 Weit entfernt, sich auf die Sprache als bedenkenlos bewohnbares »Haus des Seins« und als »Ortschaft« ‒ in der wir angeblich »heimisch werden möchten, um den Aufenthalt für das Wesen des Menschen zu finden«18 ‒ verlassen zu können, realisierten sie eine radikale, unaufhebbare Fremdheit nicht nur in metaphysischer Hinsicht und politisch im Verhältnis zum Land, das sie hatten hinter sich lassen müssen, sondern auch zu ihrer ›eigenen‹ Sprache ‒ die doch allemal die Sprache der 58  |  Kapitel II 

Anderen ist. Das gilt auch für die eigene Muttersprache, die erste Fremdsprache, die wir erlernen, ohne je restlos in ihr aufgehen zu können. Den radikalsten Autoren hat sie sich stets als eine das eigene Selbst doppelsinnig ›verratende‹ dargestellt: Sie bringt es niemals ›zum Aus­druck‹, ohne zugleich auch dem zu Sagenden gegenüber zu versagen. »Die Sprache operiert gegen mich: gewaltiger, unbegreiflicher Riß, wo von nun an aber alles gründet«, lesen wir bei Georges-Arthur Goldschmidt.19 Wir drücken uns stets in den Worten der Anderen aus, die gerade das, worin sie gründen, unsere befremdliche »Unkenntlichkeit«, wie Goldschmidt mit Rilke schreibt 20 , verkennen lassen. Das wäre der Gipfel der Entfremdung: zu glauben, man könne sich sprachlich ganz zu erkennen geben, als sei man nicht mehr ›unkenntlich‹ und müsse nicht unerkannt bleiben unter den Lebenden. Doch hat sich nach dem Befund Paul Ricœurs das Selbst als der eigentliche Ort des Verkennens erwiesen.21 Es will und lässt glauben, in dem, was es zum Ausdruck bringt, kenntlich und erkennbar zu werden, verkennt aber gerade darin, dass es so ‒ vermeintlich jeglicher unaufhebbaren Fremdheit ledig ‒ niemals in der Sprache ›zuhause‹ sein und sie ›bewohnen‹ kann, wie es manchen Schriftstellern nach dem Zweiten Weltkrieg vorschwebte, die ihr ‒ jeweils ganz unterschiedlich, sprachlich und politisch, kulturell und historisch, existenziell und metaphysisch akzentuiertes ‒ Exil scheinbar für überwindbar und heilbar ge­­ halten haben und in Folge dessen jegliche radikale Heimatlosigkeit zu vergessen neigten. Sollte nicht nach diesem desaströsen Ereignis eine »bewohnbare Sprache in einem bewohnbaren« Land wieder möglich werden?22 Sollte es dann nicht wieder ein »Lesen als Zuhausesein« geben können 23 ‒ wenn auch gewiss nicht kraft einer »tückisch einfache[n] Spra­­­che, die vom Schriftsteller als erstes entlarvt, denunziert, destruiert werden muß[te], wenn es je eine Heilung wieder geben sollte«?24 Zweifel daran sind angebracht. Der aus vielfältigen Quellen gespeisten und gewissermaßen metaphysisch und kosmologisch, ethnisch, politisch und exis­ten­ziell überdeterminierten Erfahrung der Heimatlosigkeit, die man bereits dem Christentum (das die Welt »entweltlicht« habe25), der neuzeitlichen Physik (die uns in einem ›gleichgültigen‹, de­zentrierten Universum platziert habe26), öko­nomi­scher Mo­­dernisierung (die uns einem gänz­lich entzauHeimat für Heimatlose?  |  59

berten System rücksichtsloser Vermarktung überantwortet habe27) und schließ­­lich desas­trö­ser Gewalt (die das Soziale vollkommen zu zerrütten drohte 28) zur Last gelegt hatte, war jedenfalls durch Wiedereinhausung in eine ungefährdet bewohnbare Sprache, wie sie offenbar Verfechtern einer Ontologie der Sprache vorschwebte, nicht mehr bei­zukommen. Für politische und linguistische Exilanten wie den Ungarn Sándor Márai erwies sich schließlich nur noch die »Exterritorialität des weißen Papiers« als Heimat. »In ihr zu leben ist kein Glück, kein Paradies. Und dennoch ist es Heimat, ein Zuhause, ein trauriges und wahres, für mich das einzige Zuhause auf dieser Welt«, schrieb er in seinen 1942 zuerst veröffentlichten »Betrachtungen« unter dem Titel Himmel und Erde.29 Erweist sich so die literarische, ihrerseits exilierte Sprache als die Heimat der Heimatlosen? Haben sie zumal als displaced persons, Flüchtlinge, Asylanten oder schlicht Umherirrende ihre »Heimat […] im Exil«, wie es Blanchot nahelegte?30 Können sie wenigstens in einer exilierten Sprache ein Obdach, eine Wohnung oder ein Zuhause haben, in das sie sich ungeachtet ihres politischen, ethnischen, konfessionellen, kulturellen… Exils heimatlich ein­leben dürften? Oder handelt es sich um einen Etikettenschwindel? Wird hier als Heimat etwas ausgegeben, was sie in Wahrheit negiert? Bezeichnet Heimatlosigkeit hier noch einen Verlust von Heimat, der auf deren Wiedergewinnung hoffen lässt, oder viel­ mehr deren Zurückweisung, Leugnung oder Umwertung, wie sie offenbar Friedrich Nietzsche vorschwebte, der sich als unablässiger Wan­derer begriff, so dass ihm »wahrlich wenig zum ewigen Juden« zu fehlen schien?31 Lässt sich Nietzsches Apologie der Heimatlosigkeit als Lobrede auf ein neues, das neolithische Zeitalter endgültig hinter sich lassendes Nomadentum verstehen, zu dem sich nach dem Vorbild gewisser »kosmopolitischer« Subjekte heute »gute Europäer« durchringen sollten?32 Wenn solche Subjekte »›Heimatlose‹ nicht nur im physisch­en, sondern auch und vor allem im übertragenen metaphysischen Sinn« sind, dürften sie sich, folgen wir dem Nietzsche-Interpreten Werner Stegmaier, nicht »miteinander ›gemein‹« machen, »untereinan­der keine Gemeinschaft« bilden und auch »einander keine Heimat« geben. 33 »Ihr Heim oder Haus ist die Zeit«, ohne dass sie, die »Kinder der Zukunft«, je im »Heute zu Hause« sein könnten.34 60  |  Kapitel II 

4. Eine politisch gefährliche Illusion?

Wie sollte man auch wohnen können in dem, »was vorübergeht«?35 Wir leben vorübergehend, gewiss, aber auch im Vorübergehen an Anderen, als Vorübergehende.36 Sollte es das neue Nomadentum, das aus der Not der Heimatlosigkeit eine Tugend rückhaltloser Auslieferung an die unabsehbare Zeit macht, ausschließen, dass verzeitlichte Subjekte einander so etwas wie eine Bleibe gewähren, wenn auch vorläufig, befristet, ›auf Zeit‹, wie man sagt? Dann würde sich ihre Heimatlosigkeit, die ›heroisch‹ auf jegliche Heimat verzichtet und in diesem Wort nur eine nostalgische oder gar »reaktionäre Sentimentalität«37 vermuten lässt, als Unfähigkeit zur Gastlichkeit erweisen. Anderen aber eine gastliche Bleibe zu bieten, bedeutet keineswegs, sich mit ihnen ›gemein‹ zu machen und eine fragwürdige Gemeinschaft mit ihnen zu suchen, die ihre Anderheit zum Verschwinden bringen müsste. Wird mit der polemischen Zurückweisung des Heimatbegriffs, die in historischer Perspektive ihre guten Gründe hat, im Namen eines neuen Nomadismus, der sich in keiner Weise mehr an einen Ort binden (lassen) will, nicht auch alles in Frage gestellt, was Anderen einen geschützten Aufenthalt verspricht? Wenn Heimat dort ist, wo die Autochthonen wohnen 38 , »im­mer bereit, ihre Vaterlandsliebe mit dem Blut der [von ihnen] Verachteten an die Mauern zu schreiben«39, dann haben wir in der Tat allen Grund, der Verwendung dieses Begriffs mit größtem Misstrauen zu begegnen. Wenn er als Euphemismus nur gewaltsame Versuche kaschiert, sich einen eigenen Ort oder ›Lebensraum‹ exklusiv anzueignen und ein ver­meint­liches ›Recht‹ auf ihn präventiv zu verteidigen, wie wir es auf europäischem Boden mit ver­heerenden Konsequenzen erlebt haben, besteht dann nicht Grund zu einem »Ekel vor der Heimat«40 als solcher, der zur Heimat-Verweigerung führen könnte? Wurde die Heimat nicht gerade von denjenigen, die am meisten sentimentales Aufheben von ihr gemacht haben, zur Front gemacht? Und wurde nicht ausgerechnet von jenen, deren letzte »Heimatfront« endlich zusammengebrochen ist, nach dem Krieg unversöhnlich wieder ein »Heimatrecht« für sich in Anspruch genommen ‒ wohl wissend, auf diese Weise das gleiche Recht Anderer in Abrede zu stellen und womöglich aufs Neue gewaltsame Heimat für Heimatlose?  |  61

Bevölkerungstransfers heraufzubeschwören?41 Die historischen Umstände dürften bekannt genug sein, so dass sie hier nicht eigens in Erinnerung zu rufen sind. 42 Sie werfen aber nach wie vor die Frage auf, ob Heimat nur eine politisch gefährliche Illusion sein kann, die für in Wahrheit Heimatlose keinerlei Bedeutung mehr haben sollte. Selbst ein Autor wie Jean Améry, der sich im elenden, von den Nazis erzwungenen Exil in gänzlich »sinnlos gewordener Sesshaftigkeit« als »ge­lernter Hei­matloser«43 verstehen musste, mochte offenbar so weit nicht gehen. Für ihn stellte sich nicht die Frage, ob man überhaupt noch diesen Begriff im Munde führen sollte, sondern wie er in Zukunft anders zu verwenden wäre.

5. Heimat-Ontologie und Gastlichkeit des Politischen

Nicht kosmisch, wie in der Antike die Welt im Ganzen als ›kosmopolitische‹ Heimat aufgefasst werden konnte, in der letztlich niemand apolis und insofern heimatlos wäre44 , oder ethnisch, wie noch Martin Buber eine wiederzugewinnende, angeblich »alt-hebräische Verbundenheit mit der Erde« beschwor45 , sondern politisch wollte Hannah Arendt, die die gleiche Frage umtrieb, die Welt als eine Hei­mat verstehen, welche Menschen allerdings nicht von Natur aus zukommt. In der Natur seien sie vielmehr »heimatlos«; eine eigene Heimat müssten sie sich dagegen »in einer überdauern­den Welt« verschaffen, die sie nur durch ihr Zusammenleben selbst stiften können. Die weder mit dem astronomischen Kosmos noch mit dem geologischen Begriff der Erde zu verwechselnde Welt besteht demnach auch nur durch Menschen. Eine »wirkliche Heimat« kann ihnen nur in dem Maße zukommen, wie sie selbst den flüchtigsten und vergeblichsten Tä­tigkeiten eine »bleibende Stätte« zu sichern vermögen; und zwar durch ihr Handeln und Sprechen miteinander, das ein »räumliches Zwischen« etabliert, welches »an keinen heimatlichen Boden gebunden ist und sich überall in der bewohn­ten Welt neu ansiedeln kann. Dies räumliche Zwischen ist der Erscheinungsraum im weitesten Sinne, der Raum, der dadurch entsteht, daß Menschen vor­einander erscheinen, und in dem sie nicht nur vorhanden sind wie belebte oder leblose Dinge, sondern ausdrücklich in Erschei­nung treten«46 ‒ und zwar als sprechende 62  |  Kapitel II 

Subjekte. Heimat setzt dem­nach in politischer Hinsicht wenigstens voraus, als Mensch in einer Welt leben zu können, die verbürgt, dass grundsätzlich jeder bei Anderen Gehör finden kann. Was Arendt »wirkliche Heimat« nennt, beruht demnach auf einem Erscheinenkönnen angesichts Anderer, das seinerseits erstaunlicherweise an keine Heimat gebunden sein soll und insofern nur als ›hei­matloses‹ zu verstehen ist.47 Allenfalls auf der Basis des in diesem Sinne ›heimatlosen‹ In-Erscheinung-treten-Könnens dürfte es demzufolge so etwas wie »wirk­­­­liche« Hei­­mat geben. Darüber täuscht aber ein verbreitetes Heimatverständnis hinweg, das im Heimatlichen vor allem das ›immer schon‹ vertraute, unvordenkliche Eigene vermuten lässt, zu dem man endlos zurückkehrt, um es als solches zu genießen. Das kann allerdings erst denen auffallen, die ihre Heimat verloren haben. Paradox: Wer ihr distanzlos verbunden bleibt, weiß nicht, worum es sich handelt, und ›hat‹ in diesem Sinne überhaupt keine Heimat. Nur im Verhältnis zu Anderen, die mehr oder weniger tief greifenden Heimatverlust erlitten haben oder die darauf angewiesen sind, aus ihrer Heimatlosigkeit heraus in Erschei­nung zu treten, kann überhaupt die Frage in ihrer radikalen, d. h. unser Leben kon­stitutiv betreffenden Tragweite zu Gesicht kommen, was es mit diesem Begriff auf sich hat. Doch ist die Erfahrung der Vertreibung aus eigener Heimat und ihres Verlusts keine Ga­­rantie dafür, dies angemessen zu verstehen.48 Das zeigt sich, wo der Verlust von Heimat als einer angeblich »erlebbaren Totalverbundenheit« mit eigenem Boden und »geistigen Wur­zelgefühls«49 in eine »Sehnsucht nach Neuintegration« in einer unverbrüchlichen Ord­nung umschlägt, die unter modernen Bedingungen ausgerechnet vom Politischen erwartet wird.50 Laut Peter Berger, Brigitte Berger und Hansfried Kellner trat schon der Sozialismus des 19. Jahrhunderts als »Versprechen einer neuen Heimat« auf die weltgeschichtliche Büh­­ne und konnte so für Millionen »Entwurzelte« attraktiv erscheinen. 51 Erst die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts aber sind mit Ideologien neu­er Heimat einhergegangen, die mit einem freien In-Erscheinung-treten-Können jedes Anderen und in diesem Sinne mit politischer Offenheit und Gastlichkeit unvereinbar sein mussten. Heimat haben sie auf Kos­ten menschlicher Freiheit, Zugehörigkeit auf Kosten jeglicher Individualität zu erzwingen versucht 52 ‒ mit der gnadenlosen KonseHeimat für Heimatlose?  |  63

quenz, An­de­re, die sich der Verge­mein­schaf­t ung um einen solchen Preis nicht fügen wollten oder konnten, radikal um ihre politische, rechtliche und soziale Existenz zu bringen. 53 Eine Heimat, die implizit oder explizit um einen solchen Preis er­kauft wird, ist eine totalitäre Fiktion ‒ und ideengeschichtlich unrettbar. An dieser Einsicht führt heute kein Weg mehr vorbei. Wenn es Heimat allenfalls auf der fragilen Grundlage einer politischen Welt geben kann, die es jedem Anderen, sei es ein Außenseiter, ein Fremder, ein Flüchtling oder Mi­grant, gestattet, in Erscheinung zu treten und seiner Stimme Gehör zu ver­schaffen, ist die Gastlichkeit des Politischen die Voraussetzung jeglicher Hei­mat, die ihren Namen verdient (immer vorausgesetzt, dergleichen kann es überhaupt geben), nicht um­gekehrt ein kosmisch, ethnisch, genealogisch oder religiös fundiertes ›hei­matliches‹ In-der-Weltsein54 die Voraussetzung dafür, dass sich politische Lebensformen se­kundär, be­g renzt und stets unter Vorbehalt noch für Andere ­öffnen. Genau dieser irreführende Eindruck konnte aber erweckt werden von einer ontologisch­en Reinterpretation des In-der-Weltseins, der sich nach dem Vorbild Martin Heideggers von Eugen Fink über Maurice Merleau-Ponty bis hin zu Charles Taylor zahllose Autoren (mit mehr oder weniger kritischer Distanz) angeschlossen haben. Dieses In-der-Welt-sein wurde bereits in Sein und Zeit (1927) mit einem Mitsein verknüpft, von dem der Autor annahm, dass es sich in der Lebensform eines Volkes manifestiere. So konnte ein ontologisch­­er Begriff ›heimatlichen‹ In-der-Welt-seins höchst suggestiv mit einer Politik exklusiver Zugehörigkeit und des Ausschlusses Fremder und fremd Gemachter (für ›artfremd‹ Erklärter) verknüpft werden. Von Anfang an war die Ontologie des Mitseins politisch nicht unverfänglich, wenn sie zu dem Ergebnis kam, dass Heimat bereits da sei, »wo Welt anwest«, der sich das Denken im Modus des Heimwehs zuwende, wie es Novalis gelehrt hatte.55 In diesem Sinne begriff der Heidegger-Schüler Eugen Fink die Welt als verlorene, wiederzuge­w innende Heimat des Denkens, das, ihr entfremdet, im Sein hause. Um politische Implikationen einer solchen Heimat-Ontologie offenbar gänzlich unbesorgt 56 , deutete auch Merleau-Ponty die ›Welt‹ der Wahr­­­­nehmung, deren Phänomenologie er 1945 in Paris veröffent­lichte, als eine heimatliche. 57 64  |  Kapitel II 

Noch heute verblüfft, wie sich das in eine Zeit des Desasters fügen konnte, das offenbar machte, wie Andere von jeglicher Zugehörigkeit zu einer politischen Welt radikal ausgeschlossen werden können, die sich für ihr In-Erscheinung-Treten offen zu halten hätte. Auch in diesem Sinne handelte es sich um einen Welt-Krieg: um die Welt selbst, nicht nur um einen Krieg in der Welt oder weltweit auf der Erde. In welcher Weise aber die Welt auf dem Spiel stand und wie sie weiterhin auf dem Spiel stehen musste, ging aus der fraglichen Zeit nicht ohne weiteres hervor. Die Auseinandersetzung mit dieser Frage hob an mit Hannah Arendts Untersuchungen über die Origins of Totalitarianism (1951), konnte sich jedoch erst Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs frei entfalten. Zunächst boten sich noch tradierte Metaphern an, um den letzten Krieg und seine Folgen verständlich zu machen. Europa war offenbar »verwüstet« worden. Deshalb schien es kaum mehr möglich, auf diesem Kontinent noch oder wieder »zu Hause zu sein«.58 Aber konnte denn eine Wüste wie die Sahara ‒ die man durchqueren und in die man sich meditativ zurückziehen konnte (Anachoresis) ‒ dieses Desaster gleichsam präfigurieren? Handelt es sich in diesem Sinne um eine »moderne Landschaft«?59

6. Verlassenheit

Was immer man in der Wüste entbehren mag, sie ist niemals von sich aus eine Landschaft der Verlassenheit von Anderen. 60 Genau das ist lt. George Steiner der »gemeinsame Tonfall« so vieler Schriften Überlebender, die sich mit der Verwüstung Europas nach dem Zweiten Weltkrieg auseinandergesetzt haben: Verlassenheit. 61 Sie bezeugen eine politische Verlassenheit, ein totales Im-Stich-gelassen- und Sich-selbst-überlassen-sein62 , das aus jegli­chem Sein unter Anderen, aus dem Mitsein wie auch aus jeglichem Milieu und aus jeder sozialen Umwelt herausgefallen zu schein scheint und sich als Einsamkeit, die es nur unter Menschen gibt, nicht begreifen lässt. Wie aber dann? Die Literatur der Überlebenden bekundet gewiss keine sichere Antwort auf diese Frage. Vielmehr ist sie als endlose Suche nach einer der Verlassenheit angemessenen Sprache zu verstehen ‒ und Heimat für Heimatlose?  |  65

als fortwährendes Dementi, sie sei bereits gefun­den oder lasse sich über­haupt finden. So bringt Peter Weiss in seiner Ästhetik des Widerstands (1975) eine »totale Entwurzelung«, das »Unbehaustsein« einer ganzen Generation, »völlige Abgeschie­denheit« und ein »Herausgerissensein aus allen Zusammenhängen« zur Sprache, widerruft dann aber in der Erinnerung des Protagonisten des Romans an dessen Mutter, dergleichen lasse sich wirk­lich zum Ausdruck bringen. 63 Die Mutter habe eine »Welt der Verzweifelung« geschaut wie eine Seherin »furchtbarer Verdammnis« in völliger »Verlassenheit von der Welt«, von der nicht einmal die Hölle Dan­tes habe etwas ahnen lassen. 64 Deshalb habe sie nie mehr in ein gewöhnliches Dasein zurückkehren können. Als »Entrückte«, die in ihrer Wahrnehmung der Wahrheit dieser Welt »über die Grenzen unseres Vorstellungsvermögens hinausgetreten« sei, habe sie in ihrer Abwesenheit und Abgeschiedenheit bleiben müssen. Das sei ihre letzte Bleibe gewesen, aus der ihre »Not­r ufe« nicht mehr an das Ohr Anderer gedrungen seien, die sich dazu entschlossen hätten, »das zu vergessen, was sie uns hatte sagen wollen«, um durch dieses Vergessen weiterleben zu können. 65 So musste das Weiterleben »zu einem ständigen Betrug wer­den« ‒ an ihr, am Selbst der Überlebenden und an der ungesagten, unsäglichen und vielleicht unsagbaren Wahrheit jener Wahrnehmung. Auf diese Weise bringt die Ästhetik des Widerstands eine Zeit der Verlassenheit zum Vorschein, von der auch die Sprache heimgesucht wird, in der sie erzählt wird. Wie soll man eine Verlassenheit, die einen »immer weiter« entfernt »von jedem möglichen Zuhause, jeder möglichen Zuflucht« 66 , überhaupt anders zum Ausdruck bringen als in Worten, die dieses Sichentfernen ihrerseits nachvollziehen, um es den Lesern zuzumuten? Imre Kertész, dem ich jene Worte entlehnt habe, überantwortet sie einer »Gastsprache«, dem Ungarisch­en, von dem er annimmt, es weise seine Bücher ab oder dulde sie allenfalls »am Rande der Bewusstseinswelt«. 67 Ob es sich mit der deutschen Sprache anders verhält, in die Kertész’ Bücher übersetzt worden sind? Ist nicht der durch radikale Gewalt Anderer ganz und gar heimatlos Gewordene in jeder Sprache68 ein »geistiger Asylant«? Muss er nicht »immer in fremden Sprachen um geistiges Asyl bitte[n]«? Wie sollte die eigene oder eine fremde Sprache aber im Geringsten Hospitalität bzw. Gastlichkeit versprechen69, wenn 66  |  Kapitel II 

sie es nicht zuließe, dass Autoren und Leserinnen im Lichte des Gesagten von einer Verlassenheit heimge­sucht werden, in der sie schließlich auch sich selbst fremd werden müssen? Fremd zu sein, sagt Kertész jedoch mit George Tabori, sei »nicht schlimm«. »Nicht nur ist es nicht schlimm, es ist sogar unvermeidbar. Unvermeidbar, denn ob wir zu Hause bleiben oder ob wir in die Welt hinausziehen ‒ früher oder später müssen wir unsere Heimat­ lo­sigkeit in dieser uns gegebenen Welt erkennen.«70 Um was für eine Heimatlosigkeit aber handelt es sich? Wenn sie der »uns gegebenen Welt« als conditio humana zugeschrieben wird, wie es hier scheinbar der Fall ist, so handelt es sich lediglich um einen kosmologisch­en Befund, wie er von Blaise Pascal über Friedrich Nietzsche bis hin zu Jacques Monod bereits vielfach ventiliert worden ist. Letzterer verlangt am Schluss seines hunderttausendfach verkauften Buches Zufall und Notwendigkeit, auf das sich auch Kertész bezieht, »der Mensch« müsse »endlich aus seinem tausendjährigen Traum er­ wachen und seine totale Ver­lassenheit, seine radikale Fremd­heit erkennen. Er weiß nun, daß er seinen Platz wie ein Zigeuner am Rande des Universums hat, das für seine Musik taub ist und gleichgültig gegen seine Hoffnungen, Leiden oder Ver­brechen.«71 Diese indifferente Rede von »dem Menschen« im Singular bringt aber die irreduzible Pluralität der Menschen zum Verschwinden und lässt im gleichen Zug vergessen, wie sie zueinander als derart Fremde stehen ‒ etwa als bloß Geduldete oder wirklich Aufgenommene. Wie Monod, der Fremdheit und Verlassenheit in einem Zug nennt, als meine beides das Gleiche, nivelliert Kertész die Worte Duldung und Aufnahme. Doch wie auch immer »der Mensch« im Kosmos verloren, fremd oder verlassen und insofern auch heimatlos sein mag, es kommt im Lichte einer poetischen Überlieferung, welche die Erfahrung der Heimatlosigkeit in einer ihrerseits exilierten Sprache bezeugt, entscheidend darauf an, wie Menschen sich in dieser kosmologischen Lage zueinander verhalten, sei es in ungastlicher blo­ßer Duldung ihrer gleichgültigen Koexistenz nebeneinander, sei es in gastlicher Aufnah­me, die ihnen als Anderen und Fremden überhaupt erst Spielräume eines lebbaren Lebens eröffnet. Auf diese Differenz stellt jene Verlassenheit ab. Im Kosmos mag die Gattung und jeder sich selbst überlassen sein, verlassen dagegen sind Einzelne allenfalls von Anderen ‒ sei es durch Aussetzung und Heimat für Heimatlose?  |  67

Vernachlässigung, die sie früher oder später um ihr eigenes Leben bringt72 , sei es im politischen Verrat an allem, was eine geteilte und institutionell stabilisierte Welt ausmacht, die ihren Namen verdient, sei es schließlich in Formen radikalen Ausschlusses, die, sofern sie nicht zu völligem Verstummen führen, nur mehr in einer radikal befrem­den­den Sprachlichkeit zum Vorschein kommen, welche immerfort dementiert, Verlassen­heit von allen Anderen sei noch sagbar oder sinnvoll an Andere zu adressieren. Diese Verlassenheit mit einer metaphysischen Obdachlosigkeit oder Heimatlosigkeit, die man im Kosmos empfinden mag, zu identifizieren, würde darauf hinauslaufen, die Gewalt zu kaschieren, die sie überhaupt erst hervorgebracht hat und die menschliche Gattung auf nicht-biolo­gische Art zu verstehen zwingt: Als Menschen verstehen wir demnach Wesen, die von Anderen im Stich gelassen und so einer Verlassenheit überantwortet werden können, welche jeglichen menschlichen Bezug auf Andere zu tilgen droht. Das bringt, zweifellos unter höchst unter­schied­lichen historischen Umständen, eine Liter­atur der Entfremdung, der Einsamkeit, der Entwurzelung, des Unbehaustseins, der Abgeschiedenheit und der Verzweifelung zum Ausdruck, die von Karl Philipp Moritz über Georg Büchner und Franz Kafka bis hin zu Primo Levi, Jean Améry, Georges-Arthur Goldschmidt, Anne Michaels und vielen anderen auf der Suche nach Idiomen ist, denen zuzutrauen wäre, Traumata der Verlassenheit nicht nur zum Ausdruck zu bringen, sondern so auf Leser zu übertragen, dass sie sie am eigenen Leib realisieren, ohne ihnen sprachlos zu erliegen. An dieser Grenze bewegt sich diese Literatur indessen nicht, um jegliche Heimat nur als illusionäres Gespinst weltfremder Phantasie brutal zu zerstören, sondern um uns die Frage zuzuspielen, ob wir sie an­ders denken können denn als Berechtigung zu exklusivem, lokal »verwurzeltem« Dasein auf »angestammtem« Grund und Boden, mit dem man bei passender Gelegenheit »Front macht« gegen Andere, die bleiben sollen, »wo sie hingehören« und bei Bedarf verjagt werden. Wenn Heimat nicht nur als virtuell militante Phrase in diesem Sinne zu verstehen sein soll, die sich im euro­päischen Horizont bislang kaum aus einer Geschichte der Flucht und der Vertreibung lösen lässt73 , in der sie engstens mit rassistischen, völkischen und revanchis­tischen Ideologien verschwistert war, muss sie von 68  |  Kapitel II 

vornherein zu gewährleisten versprechen, was letztere radikal negieren: die gastliche Aufnahme jedes Anderen, der Anspruch auf ein Dach über dem Kopf, auf eine menschenwürdige Woh­nung und auf eine Bleibe hat, deren Verweigerung erst zu jener radikalen Heimatlosig­keit führt, die manche zu einem metaphysischen Schicksal erklärt haben. Wie auch immer es darum bestellt sein mag, sozial, politisch, kulturell heimatlos sind wir nicht kraft eines kosmologischen Verhängnisses; das werden wir vielmehr infolge der Verweigerung jeg­licher Bleibe, die es überhaupt erst möglich machen würde, über For­men der Duldung einer gleich­g ülti­gen Koexistenz hinaus eine Art Zuhause zu finden, das nie­mand je von Natur aus oder kraft zureichender historischer Gründe schon hat. Zuhause dank einer nur von Anderen einzuräumenden Bleibe sind wir allenfalls als ur­sprüng­lich Welt-Fremde und in diesem Sinne originär Heimatlose, deren auffälligstes, aber am meisten verleugnetes Merkmal es ist, von ihnen verlassen und im Stich gelassen werden zu können. Politisch droht das überall dort zu geschehen, wo die Institutionen verraten werden und erodieren, die allein eine verlässliche Welt dauerhaft verbürgen können. So verständlich es in historischer Perspektive erscheinen mag, auf verlässliche Strukturen einer politischen Welt überhaupt nicht mehr vertrauen zu wollen, so wenig kann allerdings der apolitische Rückzug auf eine Heimat überzeugen, die man nur noch im Exil zu finden hofft. Der Exilierte findet dort keine Heimat, wie Blanchot insinuiert74 , sondern nur noch Vereinsamung75 , wenn ihm dort nicht Andere begegnen, die allenfalls eine Bleibe versprechen können, aber selbst darauf angewiesen sind, unter förderlichen politischen Bedingungen dieses Versprechen halten zu können.76 So gesehen kann auch Vilém Flusser nicht überzeugen, wenn er erklärt: »die Heimat des Heimatlosen ist der Andere«; dank des Anderen sei es mög­lich, in der Heimatlosigkeit eine Wohnung zu beziehen ‒ kraft der Verantwor­­tung, die man füreinander trägt.77 Flusser weist den Gedanken zurück, Heimat mit einem ungefährdeten Ort zu identifizieren. Heimat sei allenfalls in der Heimatlosigkeit dort zu erfahren, wo man für Andere da sein könne.78 Dabei droht doch, wie Peter von Matt mit Franz Kafka zeigt, auch angesichts Anderer »radikale Heimatlosigkeit«, die gerade im Zusammenleben erfahren wird.79 Heimat für Heimatlose?  |  69

In unserer Präsenz mag das Versprechen einer Bleibe (demeure) liegen, wie es besonders Emmanuel Levinas aufzuweisen versucht hat 80 ; aber sie kann dieses Versprechen sehr wohl brechen oder sich gleichgültig zu ihm verhalten, wenn sie glauben macht, Andere gingen sie nichts an und sie kenne weder eine unerlässliche Verantwortung noch eine konkrete Aufgabe des Sorgetragens für sie. Letztere wird allenfalls ethisch bezeugt, ist aber durch nichts zu beweisen. So bleibt es offen, ob wir ›wirklich‹ im Verhältnis zueinander dazu bestimmt sind, einander wenn nicht schon eine Heimat, so doch wenigstens eine Bleibe zu bieten und auf Dauer zu gewährleisten. Letzteres kann allemal nur im Rahmen verlässlicher politischer Umstände gelingen. Insofern hat Alain Finkielkraut recht, wenn er darauf insistiert, die Exterritorialität einer verabsolutierten »Nichtzugehörigkeit zur Welt«, wie sie aus einer radikalisierten Literatur des Exils hervorzugehen scheint, könne in keiner Weise gewährleisten, worauf es politisch ankommen müsse: ein menschliches, von radikaler Exklusion bedrohtes Leben praktisch in Schutz zu nehmen.81 Tatsächlich wird im Zeich­en einer metaphysischen, sprachlichen oder politischen Heimatlosigkeit von Hölderlin über Kafka und Rilke, Blanchot und Levinas bis hin zu Kertész und Flusser paradoxerweise gerade in einer solchen Nichtzugehörigkeit eine Zuflucht gesucht, die weder im »Erdreich [!] nationaler Sich­erheit« (Améry) noch in irgendeiner andersartigen »innigen Verbundenheit mit der Welt« je gegeben sein kann. 82 Aber auch diese Nichtzugehörigkeit, Fremdheit oder Ex­teriorität (Le­ vinas) jedes Anderen ist rückhaltlos darauf angewiesen, geachtet zu werden, unter politischen Umständen, die niemanden zwingen sollten, sich ›restlos‹ assimilieren, integrieren oder inkludieren zu lassen. 83 Nur Lebensformen, die das versprechen, haben wenigstens die Chance, politischer Heimatlosigkeit vorzubeugen. Die massiv wiederholte, oft als politische Heimatlosigkeit beschriebene Erfahrung der Unzuverlässigkeit einer politischen Welt, die dafür einstehen sollte, ist nun aber nicht zu be­­streiten. Was eine solche Welt fortan noch wird glaubwürdig versprechen können, bleibt deshalb ein für allemal überschattet von radikalen Versuchen, Anderen jegliche Bleibe zu verweigern und sogar die Erinnerung an sie auszulöschen. Die Frage, ob angesichts dieser unvergessenen Erfahrung neue Formen des »Heimisch-Werdens« 70  |  Kapitel II 

denkbar sind, steht dahin. Jedenfalls werden uns in dieser Angelegenheit gerade nicht diejenigen weiterbringen, die Heimat ganz und gar vom Verlust dessen her begreifen wollen, was sie selbst an ihr verloren haben und früher oder später wieder in ihren Besitz zu bringen versuchen. Es sind vielmehr die Verlassenen, die uns, sofern sie sich überhaupt als solche artikulieren konnten, lehren können, wie neu danach zu fragen wäre, was mit diesem zweifelhaften Begriff politisch auf dem Spiel steht: die elementare Bedeutung der Möglichkeit, sich im Notfall an Andere wenden und Zuflucht bei ihnen finden zu können. Wo immer das möglich ist, kann, ihnen zum Dank, immerhin neue, d. h. vor ihnen liegende Heimat gefunden werden, auch wenn jede ›alte‹, hinter ihnen liegende, irreversibel zerstört ist. Wo diese Möglichkeit aber verbaut ist, verkommt alles Romantische, mit dem man diesen Begriff gern unpolitisch ausschmückt, zur puren Ideologie. Den entsprechenden Test hat eine Heimat, die jemand zu ›haben‹ glaubt, allemal erst vor sich: im rückhaltlosen Angewiesensein auf Andere, die allein für sie politisch bürgen können. Das jedenfalls lehrt die historische Erinnerung, an die das folgende Kapitel anknüpft.

Heimat für Heimatlose?  |  71

K A PI T EL I I I Europäische Winterreisen Landschaften der Verlassenheit − Bilder des Desasters Landschaft [ist] das Gesicht des ­Landes, das Land in seiner Wirkung auf uns. Max J. Friedländer1 Manche […] sind in alle Länder der Erde gereist. Jede Landschaft war ihnen vertraut, diese hier e­ rkennen sie nicht. […] Eine Landschaft, die keine ­Antwort gibt. Charlotte Delbo2 […] Erwachen, das die astronomische Ruhe der Welt beunruhigt. Wobei man das Desaster als D ­ es-aster im etymo­ logischen Sinne des Wortes verstehen muß: In der Welt nicht unter den Sternen sein. Emmanuel Levinas3 Der Hauptgrund, warum es so schwer ist, es sich bildlich vorzu­stellen, liegt in der Natur. Gitta Sereny4

1. Präludium

»Der Zug fährt langsam auf einem Höhenzug dahin. Man erblickt Schnee, hohe Tannen, stille Rauchfahnen am Grau des Himmels. […] Ich schließe die Augen und genieße das Dunkel, das sich in mir auftut […]. Der Zug fährt sanft dahin, mit ein­tönig knirschenden Achsen. Plötzlich pfeift er. Das muß die Winterlandschaft zer­rissen haben, wie es mein Herz zerreißt. Schnell öffne ich die Augen, um 72  | 

die Land­schaft zu überraschen, sie zu über­fallen. Aber da ist sie. Ganz einfach da, etwas an­deres kennt sie nicht. Und wenn ich jetzt stürbe, aufrecht in dem mit künftigen Lei­chen vollgestopften Wagen stürbe, wäre sie trotz­dem da.«5 Romantische Bilder sind es, mit denen Jorge Semprun die Beschreibung jener gro­ßen Winterreise einleitet, die ihn als jungen, deportierten Menschen schließlich in das KZ Bu­chen­wald brin­ gen sollte − an einen jener Orte ungeahnter, unver­g leich­licher, un­vorstell­barer, undenkbarer und dennoch unvergesslicher Ver­­­­­­ brechen, für die heute in frag­w ürdiger Stellvertreterschaft der desaströse Name Auschwitz steht: dieser In­begriff des Desasters, das sich auf keinen gültigen Begriff bringen lässt und lt. Mau­rice Blanchot sogar das Den­ken versehrt, das ihm zu Lei­be rücken will. 6 Aber selbst dort, diesseits und jenseits des mit Starkstrom geladenen Zauns, der das Ver­nich­tungslager hermetisch nach außen abschließen sollte, ist mehr­fach der Frühling einge­zogen und ließ dann das Gras in einem lauen, freundlichen Wind sich wiegen − sei es zum Trost, sei es, um eine gnadenlose Indif­fer­enz der Natur vor Au­gen zu führen, die sich um den Menschen nicht schert, der hilf­los in ihr zu ver­reck­en droht. Genau das scheint auch der junge Semprun re­a lisiert zu ha­ben. Dabei schweifte sein Blick doch über eine längst humanisierte Natur: Vor sich hatte er nicht die gnadenlose Kälte Si­biriens, Alaskas oder der Antarktis, sondern das deut­sche, von »schmu­ck­en Dör­fern« ge­säumte, zart verschneite Mosel­tal, aus dem ein Wärme, Ge­bor­gen­heit und Gast­lich­keit ver­ sprechender Rauch auf­stieg. Die Na­­­­­tur mochte seit je her unbe­ küm­mert um die Menschen, die ihr Le­ben in ihr fris­ten müssen, einfach da ge­we­sen sein. Aber war in dieser mensch­lichen, hu­ma­ ni­sierten Land­schaft, die die­ses Ver­spre­ch­en in sich barg, nicht voll­kommen un­vor­­stellbar, was sich hier tat­säch­lich ab­spielte: dass nämlich an den Däch­ern jener Häuser, wo man noch im­mer in vorweihnachtlicher Sentimentalität »Leise rieselt der Schnee…« sang, end ­lose To­­des­züge sich entlang­schlän­gelten, um die Depor­t ier­ ten schließ­lich irgend­wo der rest ­lo­sen Ver­­nichtung zuzuführen? Einer ganz anderen Vernichtung aber, als sie je­ne offen­bar arm an mitteilbarer Erfahrung7 aus dem Ersten Welt­k rieg Heimge­ kehr­ten an ihren Feuer­stellen oder die in den Zwei­ten Weltkrieg gezo­genen Soldaten kennen gelernt und die sie selbst in ver­bre­ Europäische Winterreisen  |  73

cherischen Ver­nich­tungs­­feldzügen be­werk­stel­ligt hatten − ei­n­er neuartigen Ver­nich­tung vielmehr, die nicht schon in Buchen­wald, wohl aber in dem seinem Na­men nach ebenso ro­man­tisch anmu­ tenden Bir­kenau weiter öst­lich ihr­en desas­trö­sen Höhe­punkt in ab­so­lu­ter Ver­lassenheit er­reichte. Auch dort, am Ziel jener Winterreise, erhob sich Rauch − in die Lüf­te, in de­nen man nicht eng liegt, wie alle Schüler deutschsprachiger Gymnasien in Paul Celans To­desfuge lesen konnten. Aber kann die­ser einst weithin sichtbare und die Asche der Ver­brannten in alle Winde zer­streu­ende Rauch mit jener Land­schaft eine Ver­bindung eingehen, deren Imagi­ nation Sem­­­prun 1960, 16 Jah­re nach seiner De­por­tation im Jahre 1944, evozierte?8 Genau das geschieht im Akt des Le­sens. Jene Deportierten konnte Semprun erst im Nach­hin­ein als »künftige Lei­chen« be­ schreiben, nachdem er gesehen hatte, dass sie dazu be­­stimmt waren, in jenem anderen Rauch auf­zugehen, der der romantischen Harm­­­­­ losigkeit auch der abge­legensten, scheinbar aus der Geschichte gefallenen Dör­­­­­­fer des deutschen Mittel­gebirges genauso spottet wie dem romantischen Motiv der Winterreise.9 Wie kann man seit dem je wieder Vieh­­waggons, in denen Depor­tierte buchstäblich aneinander ge­fro­ren waren, klein­­­­­­­­­­­städtische Bahn­stationen, wie sie zum Empfang in den gro­ßen To­des­lagern er­­­­richtet wor­den waren, und dörf­liche Idyllen, über den­en auch heute wieder − wo­­­möglich trü­ geri­sch − freund­licher Rauch auf­steigt, als das neh­men, was sie zu­ vor einmal bedeutet haben mochten? Die absolute Verlassenheit, in die all das schließ­lich gemündet war, durchdringt seit dem alle Bilder, die man sich von ein­em nicht nur der Natur ausge­lie­ferten, son­dern auch irdisch situ­ierten, in ihr sich ansie­deln­den und Wur­ zeln schla­genden Leben gemacht hat. Seit dem sind nicht nur roman­tische, son­dern alle Bilder von einem be­wohnbaren Land, von ein­em ge­wärmten, erleuch­te­ten Innern, das sein Licht nach draußen wirft und dem Frem­den Einlass ver­spricht, verdächtig. Hausen drin­nen etwa nur die Autoch­t ho­nen, die Altein­ge­sess­enen, die Verteidiger ihres Ur­sprungs, ihrer Verwurzelung und ihr­­­es exklusi­ven Rechts auf Eigentum an dem Grund und Bo­den, den sie in Be­­­schlag ge­nom­men haben, als ob die Erde nicht ursprünglich nie­mandem im Be­son­deren (wenn nicht gar allen im Allge­mei­nen) gehört hätte?10 Und sind die Bil­der, die sie sich von der von ihnen 74  |  Kapitel III 

privilegiert be­wohnten Land­schaft ge­macht ha­ben, nicht seit je her irreführ­ende, womöglich düs­tere Kehrseiten kaschierende Mani­ fes­tatio­nen dieser An­eig­­nung gewesen?

2. Landschaft und Gewalt

Diesen Verdacht erhärtet die Kunstgeschichte der Natur, indem sie vor Augen führt, wie man sich ein äs­thetisches Bild gemacht hat vom herrschaftlichen Zugriff auf usurpiertes Ter­rito­ri­um, das Rechte und Pflichten, Eigentumsverteilungen, Grenz­­­­­markierun­ gen und Gel­­tungsbereiche von Normen implizierte.11 Sie offenbart den die Landschaft be­herr­schen­den Überblick, den Späh- und den Verfügungs­blick wie auch den be­w un­­­­­­dernden, demütigen oder devoten Blick nach oben auf die Instanzen einer Herr­­­­­­­schaft, die ihre Augen über eine freie, ungastliche Land­schaft schweifen lassen konnte, welche des beherrschenden Schutzes entbehrte (PL, S. 47‒52). Erst die Ro­man­tik depo­li­ti­siert das Landschaftsbild vollends und gibt den Blick in eine uneinholbare Ferne frei (PL, S. 145), die be­w usst macht, dass sich die auf einen unendlichen Ho­rizont öffnende Natur nicht in einer bearbeiteten und beherrschten Ökologie er­schöpft. Jetzt erst, wird behauptet, kommt eigent­lich die Landschaft als sie selbst zum Vorschein, entlastet von menschlicher Arbeit und Herrschaft, befreit von der Funktion, bloß Vorder- oder Hintergrund von An­derem zu sein. Genau so wird sie zum Wunsch- und »Flucht­ziel zivilisierter Men­schen, die bei ihr erfuhren, was in ihr­em wirt­schaft­­lichen, gesellschaftlichen oder privaten Raum ausgespart, ver­d rängt oder ver­­ges­sen war« (PL, S. 171). In dieser Funktion hat man der Land­schaft eine bloß kom­ pen­sato­rische Bedeutung zugeschrieben. Dem­nach sollte sie entschädigen für eine Versachlichung der Natur, die aus ihr das entzauberte physikalische System einer res extensa macht, in der kein mensch­licher Aufenthalt und keine Bleibe mehr denkbar schien, der sich der romantische Blick paradoxerweise in einer uneinholbaren Ferne zu versichern sucht. Solange die Na­tur den Men­schen die Mühsal täglicher Lebenserhaltung aufzwang, hatten sie schein­bar keinen Grund hinauszugehen. So konnte ihnen weder die Landschaft als solche noch auch diese Europäische Winterreisen  |  75

Ferne je zu Gesicht kommen.12 Die Natur wird erst für den, der ohne prak­tischen Zweck hinausgeht, zu einem ästhetischen Gegenstand und Horizont in einer bloß be­trachtenden Einstellung, die von jeglichem Sinn ent ­las­tet.13 Dafür entschädigt sie durch den erhabenen Eindruck, in dem, wenn Kant recht hat, nur die dem ästhetisch wahrnehmenden Subjekt eigene Erhaben­heit sich spiegelt.14 Doch wusste sich ein nach wie vor pto­­­­lemäisches Erdleben, zu dem Carl G. Carus die passende Bildkunst forderte, nur kurz ei­ner ihm über­ le­genen und doch seine eigene Erhabenheit verbür­gen­den Na­­­­­tur zu versichern.15 Schon Paul Cé­­zanne sah sich genötigt, sich »in der Natur zu ver­lie­ren«, um das »tote Ant­litz der ent­­schwundenen Welt« zu retten.16 Und Rilke trau­erte um den un­w ie­der­bring­lichen Verlust der um »uns mitwissenden Din­ge«.17 Nur noch im Modus des An­denkens schien ihm eine natürliche, tatsächlich bereits in eine unvor­denk­liche Ver­gangenheit entrückte Welt zugäng­lich, die eben erst als ›land­­schaft­liche‹ Natur zum ästhetischen Gegenstand par excellence aufgerückt war. Was war geschehen? Die Natur war nicht nur einer sie entzaubernden Versach­lichung unter­worfen wor­den, die zur »Zerstörung des Kosmos« geführt hatte, wie uns die Wis­sen­schafts­­historiker der Physik lehren.18 Sie war auch einer Ausbeu­tung und Ver­nut­zung zum Opfer gefallen, die die Ästhetik der unberührten, den Einzelnen an­schau­­lich für das Unendliche aufschließenden Landschaft binnen Kur­zem zum Ana­­­­­chronismus werden lassen musste.19 Kaum geboren, war die klassische Land­schafts­malerei auch schon gestorben. Längst, da ist man sich sicher, hat man prak­tisch keine Chance mehr, in Europa auf ein Stück unangetasteter Landschaft zu treffen, die die Malerei wenigstens als wiederzugewinnende vor Augen führen könnte (PL, S. 14). Es gibt scheinbar keine noch nicht in Angriff genommene Natur und keine unbe­rührte Landschaft mehr; höchstens stößt man auf wieder ver­las­sene, aufgegebene und infolge dessen von der Natur zurückeroberte Zonen der Ver­wil­derung. Resig­niert schließt der Kunsthistoriker der Natur: »Die Gegenüber­stellung einer un­ schuldigen Landschaft mit einem entfremdeten Menschen ist nicht mehr möglich. Die Landschaft ist nicht mehr naiv ausgrenzbar. Kaum ein be­wusster Zeit­­­genosse durchwandert noch die Landschaften, badet noch in den Mee­ren, streift noch durch Wiesen und Wäl76  |  Kapitel III 

der, ohne dass er in den Algen und Wur­zeln die giftigen Jau­­chen, in den welkenden Blättern die Abgasstoffe, in den Blüten die mor­­­­­denden Pestizide witterte. Die Durchsättigung der Natur mit zivilisato­ri­sch­ ­en Gif­­­ten hat die Landschaft aus der zivilisationskompensierenden in eine zivi­li­­sa­tions­­­poten­zie­rende Symbolrolle gedrängt. […] Von Fremdsubstanzen durch­setzt, vom Unter­gang geprägt«, kann sie wohl allenfalls noch Mitleid hervorrufen (PL, S. 172 f.). Geht es hier aber nur darum, sich von einer Natur zu verabschieden, die als nicht immerfort von Menschen verdreckte und verwüstete einen von der Mühsal arbei­tenden Lebens entlasteten Aufenthalt und einer freien ästhetischen Anschauung Spielraum gewähren könnte? Keineswegs. Die Kunstgeschichte der Natur als einer nicht vernutzten und nicht verschmutzten Landschaft, die sich ungetrübt sehen las­sen konnte, geht nicht nur zu Ende, weil man sie mit Giften, Abfällen, Schrott und mit einer Unzahl ruinierter Hinterlassenschaf­ten überzogen hat. Nicht nur ha­ben die Menschen sie mit zahllosen defekten, verrosteten oder sonstwie vergam­mel­ten Dingen verunstaltet, die inzwischen selbst mitten im Pa­zi­fi k in gigan­tisch­en Wirbeln einen traurigen Totentanz aufführen.20 Sie haben auch selbst die Erde mit ihren Überresten überzogen und sie buchstäblich mit sich selbst gedüngt. Nicht nur auf­grund ihrer aus demographischen Gründen immer weiter anstei­gen­den Mortalität, sondern auch infolge ihr­er emi­nenten Ge­walt­samkeit, die nun eben­­falls keine von ihr unberührte Natur mehr zu­zulassen scheint.21 Unter dem Druck menschlicher Gewalt hatten sich die klassischen Kampfplätze zu Kriegslandschaften gewandelt, in denen man zuerst nur gewisse Geländevorteile auszunutzen versuchte, die dann aber als Ganze zu Operations­feldern eines ano­ny­men, nur noch von Strategen überblickten Kriegstheaters werden mussten, auf denen anonyme Massen gegeneinander antraten (PL, S. 65 ff., 71). Wo sich die Ein­zelnen verzweifelt einzugraben versuchten, begannen sie mit der Landschaft zu ver­­­­schmelzen − in ihrem Tod dann realiter in einer ekelhaften Dekomposition. Schon in Goyas Desastres della Guerra, schreibt Martin Warnke, wird »die Natur mitleidige Zeugin« dieses Schreckens, den das amerikanische Maschinengewehr, der Einsatz von Giftgas im Ersten Weltkrieg, das serielle Sterben in den Schlachten des Zweiten Europäische Winterreisen  |  77

Weltkriegs, die Strategie der verbrannten Erde bis hin zur atomaren Verstrahlung und darüber hinaus bis in unsere Gegenwart noch erheblich variiert haben. Hinterlassen wurden sprichwörtlich Mondlandschaften 22 , zerbombte Kra­ter­­w üs­ten wie die um Verdun, mit schwelenden Trümmern übersäte Ebenen in den Weiten des europäischen Ostens, bizarre Landschaften chemischer Leblosig­ keit, verstrahlte To­­po­­grafien von einer das mensch­­­­liche Leben radikal abwei­sen­den Art, wie sie die ir­dische Natur kaum je ir­gendwo aufweist.23 Und wenn, dann weil sie aufgrund un­g ünstiger klimatischer oder geologischer Bedingungen nichts oder nicht genug zum Leben zu bieten hat. Nur deshalb konnte man einige Ge­gen­den als ungastlich be­ zeichnen. Jene Land­ schaften aber sprechen eine ganz andere Sprache: die Sprache einer verheerenden Vernichtung jeglicher Gastlichkeit, wie sie nicht einmal auf dem Mond an­zutreffen ist. Dort wurde nichts je negiert oder vernichtet. Die mit­leidige Einsicht man­cher Astronauten, die sich dort einmal auf­ge­halten haben oder im galaktischen Raum unterwegs waren, bringt das zum Vor­­schein: der von wei­tem gesehen erbar­mungs­­­w ürdig im Kosmos verlorene blaue Planet könnte von e­ben denen, die ihn dank vielfach günstiger, gar nicht unwirt­licher Lebensbe­din­g ungen bevölkern, als ein be­wohn­­­­barer Ort vernichtet wer­den.24 Nicht nur durch die ungeheure Produk­tion schie­­ren Ab­falls aber, der inzwi­schen die orga­ni­sche Substanz fast aller Le­be­wesen zu durchdringen beginnt, son­dern mehr noch durch Formen exzessiver, ex­tremer, radikaler und desaströser Ge­walt, die die Men­­schen ein­an­der an­tun und die längst nicht mehr auf einige ›Schau­­plätze‹ des Krieges oder des Völker­mords be­schränkt ist.

3. Desaströse Topographien

Folgen wir der einschlägigen historischen Re­kon­struk­­tion Ti­mothy Snyders25, so muss man zu dem Schluss kommen, dass derartige Formen der Gewalt längst buch­­stäblich fläch­en­deckend die ge­ samte Topografie all jener Länder er­fasst ha­ben, die vielerorts nur eine dünne Krume von der verheerten Geschichte trennt, über die man endlich »das Gras wachsen lassen« will. Aber um was für eine 78  |  Kapitel III 

Topo­grafie handelt es sich ei­gent­­­­­­lich? Um eine »human geography of victims«, be­haup­tet Snyder (Bl, S. 298). Doch die bloße Geographie als »physische Erdbeschrei­bung« oder als »Geschichte der physischen Weltanschauung«, wie sie Alexander v. Hum­boldt in seinem Kos­mos-Buch nannte26 , kennt nur natürliche Strukturen und Spuren vergan­gener na­türlicher Ereignisse, die ihre Spuren auf der Erboberfläche hinterlassen haben, kei­ne Opfer. Auch wenn sie unter Berufung auf Humboldt o­der Friedrich Ratzel zu einer kulturhistorisch informierten Anthropogeographie er­weitert wird, kann sie allen­falls das Vor­­kom­men von geschichtlichen Ereig­nissen und Strukturen sowie de­ren räumliche Aus­brei­­tung und quantitative Häu­fung auf der Erdober­fläche be­schreiben. In diesem Sinne verzeichnen denn auch die ein­schlä­gigen his­to­ri­schen Welt­at­lanten regional differenzierte »Be­völ­kerungsver­luste«, die in Folge von Ko­lo­nisation, Vertreibung, Bürger- oder Weltkriegen groß­flächig eingetreten sind. Mil­­lionen Tote hier, Millio­nen Tote dort …, markiert durch mehr oder weni­ger große Kreuze, Sterne oder Striche.27 So wird aber die bloße »Erd­­­kunde«, die die Be­schaffenheit und die Naturgeschichte des Planeten er­forscht, überschritten in Rich­tung einer mensch­li­ch­en Weltgeschichte, d. h. einer Ge­schichte der Welt, deren Welt­lich­keit allein durch Menschen möglich gemacht (und wieder zerstört) werden kann. Demnach heißt ge­boren werden, zur Welt kommen, nicht, auf die Erde »ge­worfen« und fortan der Heidegger’schen »Geworfenheit« überantwortet zu sein, sondern in eine gastliche Ge­mein­schaft der Lebenden aufgenommen zu wer­den. Und sterben − oder aus der Welt fallen − heißt nicht, zur nicht mehr ›exis­tierenden‹, nur noch ›vorhan­denen‹ Leiche zu werden und einem natür­li­ch­en Prozess der De­kom­po­sition anheim zu fallen, der uns in subhumanes organi­ sch­es Ma­terial, zu Staub und Mineralien zurückverwandelt, sondern aus dieser Ge­­­mein­schaft ent­las­sen oder aus ihr verstoßen zu werden. Dass letzteres in einer Art und Weise ge­schehen kann, als hätten die Betreffenden niemals überhaupt einer mensch­lichen Welt zugehört (Bta, S. 41), hat Hannah Arendt dazu mo­tiviert, von radikaler Welt­­losigkeit als einer Form der Verlassenheit zu sprechen, die schon vor dem Tod zu erfahren ist. Nicht als Ein­sam­keit oder Alleinsein, son­dern als ein radikales Im-Stich-gelassen- und Sich-selbst-überlassen-Werden, so als ob die Sterblichkeit der Ver­ lassenen die Anderen über­­haupt nichts anginge.28 Europäische Winterreisen  |  79

Zweifellos kann man jene auf den geographischen Karten verzeichneten Kreuze, Sterne und Striche noch zu einer erweiterten Naturgeschichte mensch­licher Kultur oder Unkultur rechnen. Auf diese Weise werden jedoch ent­schei­den­­de Differenzen unterschlagen. Eine statistisch bilan­zier­bare Mortalität der menschlichen Gattung, wie sie in einer solchen Naturgeschichte erfasst wird, betrifft nur die Häufung, die geografische Verteilung und gewisse Formen des Todes − aber nicht das Sterben selbst und die Frage, ob überhaupt im überlieferten Verständnis des Wortes ge­stor­ben worden ist, wo mehr oder weniger hohe Sterb­lich­keitsziffern zu verzeich­nen waren. Genau auf diese Frage aber bezieht sich der Be­ griff der Verlassenheit bei Arendt und anderen. Statistisch erfasst wird auch bei Sny­der eine nur abstrakt be­zifferbare Mortalität, die keinerlei Auskunft darüber gibt, wie und ob überhaupt im Einzelfall ›gestorben‹ worden ist. Nun verfügen wir aber über eine Vielzahl von Dokumenten, die genau dies besa­gen: dass man den Opfern sogar ihre menschliche, betrauerbare Sterblichkeit zu neh­­­men versucht hat, indem man sie schon vor dem Tod einer radikalen Welt­lo­sig­­­keit oder Ver­las­ senheit überant­wortete. Das aber zeigt jene »geography of vic­tims« so wenig wie je­ne kartographischen Markierungen gewaltsamen Todes, die an­schaulich ma­ch­en sollen, wie vie­le Opfer dieser oder jener Krieg, dieses Ver­bre­chen oder jener Ge­no­zid ge­for­dert hat. So gesehen steht auch ein gewisser historio­graphischer Po­si­ti­v is­mus, der sich mühevoller und langwieriger body counts be­fleißigt, um we­nig­stens zu einer empirisch einigermaßen zutreffenden Bilanz hin­sichtlich der Frage zu ge­lan­gen, wie viele Menschen durch die Hand Anderer ums Leben ge­kommen sind, im Verdacht eines fragwürdigen Vergessens. Kann er denn im Rah­men einer sta­tis­tisch bilanzierten Mortalität überhaupt etwas zur Ge­schicht­lichkeit der mensch­lichen Sterblichkeit selbst sagen, die in den fraglichen Ver­ bre­chen ihr­erseits radikal in Frage gestellt worden ist? Hat man nicht mit Recht be­haup­tet, in ihnen ha­be man den einzigartigen Versuch unternommen, den Opfern schließ­lich auch ih­re menschliche Sterblichkeit zu rauben, um sie radikaler Verlas­sen­heit preis­­­ zu­ge­ben?29 So unverzichtbar statistische Bilanzen der Sterblich­keit sein mö­gen, wenn es um die demografischen, sozialen und politischen 80  |  Kapitel III 

Folgen von Kriegen und Völker­mor­den geht, so sehr muss man sich daran erinnern, dass gerade durch die historio­graphische Arbeit die radikale Geschichtlichkeit der menschlichen Sterblichkeit selbst vergessen zu werden droht. Keineswegs ist sie der menschlichen Gattung von Anfang an und für alle Zukunft mitgegeben wie eine natürliche Mit­gift. Alles spricht vielmehr dafür, dass sie durch die Etablierung menschlicher Trau­errituale30 vor Tausenden von Jahren zur Geltung gekommen ist und dass sie wie­der verloren gehen kann, so dass es denkbar scheint, dass Andere auf voll­kom­men gleichgül­ti­ge Art und Weise umkommen oder ums Leben ge­bracht werden, ohne dass darü­ber noch eine Träne zu verlieren wäre. Um zu sehen, was hier im Hinblick auf die Geschichtlichkeit der menschlichen Sterb­­­lich­keit auf dem Spiel steht, muss man also gewissermaßen zurückgehen auf die geschichtliche Wirklichkeit, die die Karten der Historiker und der Demogra­ph­en bildlich repräsentieren, aber so, dass das Repräsentierte zugleich durch die quan­­­­­­­­­­­ tifizierte Manier seiner Darstellung überschattet und vergessen zu werden droht. Deshalb verlangt auch Snyder, »[to] turn num­bers back into people«. Jede ums Leben gebrachte, ›irreduzible‹ Person »died a dif­fer­ent death« (Bl, S. xv, 407 f.) − und zwar in Zeiten vielfachen Massenmordes fast immer in einer Ein­sam­­keit (lone­ liness), die nicht vergessen werden dürfe. Deshalb fordert Snyder, »[to] re­mem­­­­ber the solitude of the other« (Bl, S. 280, 290). Damit meint er aber bei ge­­­­nau­er­­­­­em Hinsehen nicht die Einsamkeit oder das Alleinsein, sondern die Welt­lo­sig­­keit der von allen Anderen Verlassenen. Gehen wir also von der abstrakten kartographisch-bildlichen Repräsentation men­sch­­­licher Mortalität auf jene landschaftlichen Topographien zurück, in denen sich das in die­sem Sinne verlassene Sterben ereignete, zu dem überhaupt kein di­rek­ter Zu­gang mehr möglich ist; und zwar um so weniger, wie Versuche seiner ›rest­lo­sen‹ Auslöschung ge­lun­gen zu sein scheinen (Bta, S. 38 f.). Dennoch oder vielmehr gerade deshalb eignet diesen To­po­g ra­ phien eine »Physiognomie der Land­schaft«, die sich allerdings nur ein­em sterb­lichen Wesen − nachträglich, in einer historisch informierten Imagination 31 − als sol­che dar­stellen kann. 32 Ein solches Wesen bringt un­­wei­ger­lich seine ei­genen, im­pli­ziten Erwartungen an ein menschliches, gast­lich­es Le­ben sozusagen mit, wenn es die Europäische Winterreisen  |  81

Phy­sio­gnomie einer Land­schaft auf sich wir­ken lässt, die ihm als ungastlich, kalt, ab­weisend, wüst und leer (Kant), als verlass­en und desaströs oder auch als freundlich und ›einladend‹ er­schei­nen mag. Unter dieser Voraus­set­zung fundiert allein die Wahr­neh­mung der Natur (wie auch im­mer sie durch Men­sch­en­hand umgestaltet oder auch verwüstet worden sein mag) den Be­­griff der − sei es verwüste­ ten, sei es unberührten − Landschaft, soweit er sich nicht in einer phy­­si­schen Topo­gra­phie, in ein­em physi­ka­lischen ›Feld‹33 oder in bloßer Boden­be­schaffen­heit er­schöpft. Was bedeutet es nun, von Land­schaften der Verlassenheit zu sprechen?

4. Spielarten der Verlassenheit

Bilder von verlassenen Hütten, Gehöften, Ortschaften und Land­ stri­ch­en, die von ihren ehemaligen Bewohnern aufgegeben werden mussten, so dass die Natur sie un­ge­hindert zurückerobern konnte − jeder kennt sie, diese Bilder des Scheiterns, der Ver­geb­­lich­keit und der vergehenden Zeit, die man melancholisch genießt. Von der vor Jahr­zehnten verlassenen irischen Great-Blasket-Insel über die verfallenen claims des west­­lichen Canada bis hin zu den mit Wracks übersäten Ge­sta­den Pata­goniens kann man sich der Vergänglichkeit hingeben und sie im schönen Anblick einer trau­rigen Hin­ter­ lassen­schaft ästhetisieren. Das gelingt weniger in den indus­trie­llen Mond­landschaften, die nicht nur westliche Konzerne hinterlassen haben, wo sie sämt­li­ch­e Boden­schätze bis an den Rand der Neige ausbeuten durften, ohne den ge­­ring­sten Gedan­ken an eine Zeit da­ nach, in der nun wie in Nigeria leckende Öl­pumpen, überall auf dem Grund der Ozeane deponierter Restmüll oder wie in der Ukraine (Tscher­no­byl) und Japan (Fu­­kushima) verstrahlte Ruinen die Lebens­grund­­lagen der Men­schen fortschrei­tend verseuchen. Schon malt man sich Bilder einer »Welt ohne uns« aus, in der sich die unbesiegbare Natur dieser Hinter­las­sen­schaft eines unbesonnenen und ausbeuterischen Fortschritts endgültig be­mäch­­­ti­gen wird.34 Doch darauf zielt die Rede von desaströser Ver­las­senheit gar nicht ab. Sie ent­zün­det sich nicht an einer ruinierten Hinterlassenschaft, am ästhetischen Genuss irre­ver­sibel vergehender Zeit oder an der fol­genlos beklagten Vergänglichkeit lokalen oder allen Le­ 82  |  Kapitel III 

bens, dessen Überreste eines fernen Tages spätestens dann von der Oberfläche der Erde spur­los getilgt wer­den, wenn sich die Sonne zum Roten Rie­sen zu entwickeln be­g innt. Jene Rede hat primär über­haupt keinen naturge­schicht ­­lichen oder kosmo­logi­schen Sinn, sondern zielt auf die radi­kale Zer­störung einer allein menschlich zu er­mög­lichenden und wieder liquidier­­­ba­ren Welt ab. Und die Welt ist in diesem Ver­ständ­nis nicht die Erde oder die Na­­tur, die nur den Boden und die Grundlagen mensch­lichen Lebens bereit­stel­ len, son­dern Inbe­griff der so­zi­a ­len und politischen Verläss­lichkeit − angefangen beim Ver­­­trauen da­rauf, An­dere an­sprechen und von ihn­en wahrgenommen, gehört und ein­­­bezogen wer­den zu können. In diesem Sinne ist auch Maurice Blanchot ein Autor, der den Begriff einer men­sch­­­­­lichen Welt bedenkt und insofern durchaus der politischen Theorie Hannah Arendts nahe kommt. Allerdings sind wesentliche Unterschiede nicht zu über­­se­h­en: Arendt geht es vor allem um die Verlässlichkeit einer öffentlich struk­tu­rier­ten und institutionalisierten Welt, zu der der immer wieder als »großer Ein­ sa­mer« ti­tu­lier­te Blanchot zweifellos großen Abstand gehalten hat. Und im Ge­gen­satz zu Arendts, v. a. in Vita activa deutlicher ›kon­ struktiven‹ Wendung des Welt­begriffs in der Beschreibung speziell politisch verlässlicher Lebens­for­men be­wegt sich Blan­chots Denken in geradezu entgegengesetzte Richtung: in Rich­tung auf eine ver­ tief­te Beschreibung einer desaströsen, diese Wendung über­haupt erst her­aus­for­dern­den Erfahrung, die kaum mehr ›Erfahrung‹ im her­me­neu­ti­sch­en, stets aus de­ren Negativität Gewinn schlagenden Sinn genannt werden kann.35 Insofern kann Blan­chot auch nicht als ein dialektischer Negativist nach dem Vor­bild Ador­nos, Theunissens oder anderer gelten, die auf der Un­auf­h eb­bar­keit des Negativen in dessen ›Arbeit‹ zugunsten reicherer Er­fah­rung in­sis­tieren.36 Un­miss­ver­ständ­lich hat sich Blanchot vom Hegel’schen Modell der »Ar­­beit des Ne­gativen« verab­schie­det 37, um das Widerfahrnis einer desaströsen Welt­­­­lo­sig­keit zur Sprache zu brin­gen, die sowohl dem Titel der Erfahrung als auch dem An­spruch auf in Buch­form über­ lieferbare Mitteilbarkeit widerstreitet. Ge­w iss: Auch Die Schrift des Desasters, worauf ich mich hier vor allem be­zie­he, ist dem äußeren Anschein nach ein Buch. Aber soll es sich nicht dem klassi­schen »Buch­­­­un­glück« (SD, S. 123 ff.) gerade widersetzen, für etwas Geld käuflich er­werb­bar zu sein, gän­gigen Europäische Winterreisen  |  83

Ansprüchen auf Lesbarkeit zu genügen und sich allge­mei­ner Ver­ ständ­lichkeit zu unterwerfen? Widerruft es nicht fortwährend im Modus des Ge­­schriebenen diese scheinbar so überaus selbstverständlichen Ansprüche? Be­treibt es nicht explizit eine Entschriftung und A-Propriation, um selbst zum Er­eig­nis eines Enteignisses zu werden (SD, S. 122)? De­men­­tiert es nicht in immer neuen An­ läufen, im Gesagten re-präsentieren zu kön­n­en, wo­­von es handelt? Macht es nicht das Gesagte selbst zu einer Instanz des Wider­rufs, aber so, dass gleichwohl nicht nichts gesagt wird? Diese Praxis des sich ge­w is­sermaßen selbst durch­strei­ch­enden Schreibens muss man bedenken, wenn man die von Blanchot schließlich hin­ter­ lassene Schrift des Desasters daraufhin be­fra­gen möchte, was sie möglicherweise zum Verständnis einer ungeahnten Sterb­lichkeit bei­tragen könnte, die sich, wenn Arendt recht zu geben ist, dem Ab­sturz in eine ra­dikale Weltlosig­keit verdankte. Was Arendt mit diesem Begriff meinte, taucht bei Blanchot in anderer Gestalt auf: als Schutzlosigkeit (désabritement; SD, S. 118), die am Ende radikal vermissen lässt, wozu wir angesichts des Anderen unter allen Umständen bestimmt sind, wenn wir Le­v inas folgen, den Blanchot über weite Strecken als Gewährsmann zitiert, auch wenn er ihm als Denker des »Neutralen« letztlich nicht folgen konnte. 38 Diese Schutz­losigkeit ist gewissermaßen das Negativ zur Zuflucht oder Bleibe (demeure), die einer dem An­deren gleichsam verspricht oder sogar versprechen muss, wenn es stimmt, wo­rauf Levinas immer bestanden hat: dass es schlechterdings un­mög­lich ist (und zwar ethisch unmöglich), jemandem unter die Augen zu treten, ohne sich die Gabe der Verantwortung für ihn zuzuziehen, die in diesem Versprechen kul­­miniert. Als nicht nur selbst auf eine − nicht der Erde zu verdankende39 − Bleibe ange­w ie­sen, sondern mehr noch dazu be­stimmt, sie Anderen gastlich zu gewähren, be­schreibt Le­v inas den verantwortlichen Men­­sch­en, den Blanchot allerdings noch radikaler durch die historische Erfahrung de­sas­tröser Gewalt in Frage gestellt sieht, als es Le­­vinas möglicherweise wahr ha­ben woll­te. Geht in dieser Gewalt schließlich auch das Wissen um jene Verant­wor­tung zu­ grunde? Und sind wir nicht nach einem bei­spiellosen Fall aus jeglicher po­li­ti­sch­en Welt, die eine Art Obdach bieten könnte, nach wie vor alle potenzielle ré­fu­giés oder sogar fugitifs − also nicht nur 84  |  Kapitel III 

virtuelle Flücht­linge, sondern vor dieser Er­­fah­rung und somit vor uns selbst, die wir »vom gleichen Schlag«40 sind wie die­je­ni­gen, die sie zu verantworten hatten, Flüchtige?41 Und zwar ungeachtet gegentei­li­gen An­scheins, der Albert Camus so außer­or­dent ­lich irritierte, als er das Nach­k riegs­­deut­sch­land durchreiste, das ihm wie ein »idyl­lisches Totenland«42 vorkam, in dem sich offen­bar gut gelaunte, braungebrannte Kriegsheimkehrer für das kom­mende Wirt­schaftswunder fit machten, das noch Jahr­zehnte später durch eine un­ ver­ f roren zur Schau gestellte Geschichtslosigkeit pro­ vozierte, die erst die 68er-Ge­ne­ration wirksam zu durchkreuzen vermochte. Bis dahin konnte eine fatale kol­lek­tive Ge­sundheit darüber hinweg täuschen, dass sich seit den Verbrechen der Na­tio­ nal­­so­zialisten die Frage gestellt hatte, als was oder wer man sich im Verhält­nis zu ihnen begreifen wollte bzw. musste. Wenn selbst die Philosophie nachdrücklich bestä­tigte, dass man sich zu diesem Zweck nicht mehr auf ein vor­ge­gebenes »Bild seiner selbst« berufen konnte, schien gar nichts an­ders mehr übrig zu bleiben, als sich ne­ga­tiv, ausgehend von dem, was man an­ge­richtet hatte, aus die­ ser »Bildlosigkeit« her­auszuarbeiten, um wenigstens bestim­m­en zu können, was oder wer man auf keinen Fall (mehr) sein wollte.43 Jede glaub­w ürdige Ant­wort auf diese Frage erfor­der­te aber eine an­ge­ messene Beschreibung dessen, was sich zugetragen hatte. Wäh­rend sich manche Hermeneutiker dieser Bildlosigkeit auf den Spuren Heideg­gers ohne weiteres wieder einer Ontologie der Erde glaubten zuwenden zu können, um in ihr Halt zu finden44 , schlägt sich Blanchot noch Jahrzehnte nach dem Ende des Zwei­ten Welt­­k riegs mit der Frage herum, ob und wie jene Schutz­losigkeit als Er­fahrung ra­dikalen Ausgesetztseins im Entbehren jeglicher Bleibe in einem verantwort­lich­en Leben auf Dauer und vielleicht für immer das Bild betreffen muss, das man sich vom Men­schen immer wieder zu machen ver­sucht. Dabei weist er jeden Versuch zurück, sich auf ein vorheriges »Mensch­en­bild« oder auf ein gewisses »Weltbild« zu beru­fen, in das man den Menschen bis heute einfügen möchte.45 Und ihn inter­essiert kaum die sogenannte Zerstörung des Kosmos (SD, S. 142), die die Apo­lo­ge­ten ei­nes ko­hären­ten Welt- und Menschenbildes bis heute am meisten be­schäftigt, wobei manche offen­ bar auf eine Wiedereinhausung des Menschen im Kos­mos ab­zielen, ob­gleich die Phy­­­sik als die zeitgemäße kosmologische Theorie weEuropäische Winterreisen  |  85

niger denn je da­bei Hilfe­stell­ung leisten kann. Hat sie nicht die für die Aristoteliker einst als unver­gäng­lich und vorbildlich stabil geltende Sphäre der Fixsterne längst als kon­tin­gen­te Kon­stel­la­tion entlarvt? Und musste das nicht dazu führen, dass sich keine sub­ lunare Welt mehr moralisch am »bestirnten Himmel« (Kant) wie an einer unver­brüch­lich­en Ord­­­­nung orien­tie­ren kann? Ironischerweise stimmt die moderne Physik gerade da­­ rin schein­bar mit Blanchots Diagnose einer desaströsen Gewalt zusammen − wenn man dieses Wort im etymo­logischen Sinne auffasst, nämlich als Bezeichnung da­­für, »in der Welt nicht unter den Sternen« zu sein, wie es Emmanuel Levinas in seinen SorbonneVor­lesungen mit Blick auf Blanchot formuliert hat.46 In einer de­ saströsen Verfassung sein heißt dann: sich keiner vorbildlichen, vor­ge­gebenen und unverbrüchlichen Ord­­­nung (und infolge dessen scheinbar über­haupt keiner Ordnung) mehr versich­ern zu kön­ n­en, auch nicht aufgrund eines elementaren Gebots, nicht töten zu sollen, oder unter Be­r ufung auf den kate­go­rischen Imperativ. Davon kann auch ein ptole­mä­i­sch­es, leib­lich zentriertes bzw. situiertes Leben, wie wir es bei Husserl und Mer­leau-Pon­ty be­ schrie­ben finden, nicht unberührt bleiben. Es scheint unter dieser Vor­aus­setzung jegliche moralische Ge­w iss­heit ein­zubüßen. Keine Rede kann dem­nach da­von sein, man bräuchte sich nur auf ›irdi­ sch­es‹, gewissermaßen geerdetes Leben zu­rück­zu­be­sinnen, um der doppel­ten, näm­­­­lich in der Geschichte der Physik be­grün­­­­deten und in der Erfah­rung radikaler Gewalt liegenden Erfah­rung des De­sas­ trösen ent­ge­gen­w ir­ken zu können. Diese Erfahrung verknüpfte Semprun in sei­ner ab­grün­digen Erinnerung mit der harm­­losen Wahrnehmung einer dem An­schein nach hu­­­­­mani­sier ­ten, Gastlichkeit versprech­enden Landschaft, die vom Ge­schehenen nichts verriet. Gerade deshalb erweist sie sich in der Erinnerung an den Blick aus dem Zug der Deportierten als von der Erfahrung einer desaströsen Ver­lassenheit ge­zeichnet, die mit einer solchen Landschaft vollkommen unvereinbar zu sein scheint. Und es ist die­ser Blick, der noch heute, in einer historisch gesättigten Ima­gination, jede pit­toreske Idylle als eine scheinbar harmlose Ge­stalt vor dem dunk­len Hintergrund einer Landschaft der Verlassenheit erscheinen lassen kann, in der uns eine zerstör­te menschliche Welt ihr befremdliches Gesicht zuwendet. 86  |  Kapitel III 

In diese desaströse Befremdlichkeit versucht Blanchot so weit wie möglich einzu­drin­gen − um in ihr zu ermitteln, was in radikaler Ge­­­­­walt auf dem Spiel steht. Zu diesem Zweck aber muss er sich − wie alle anderen auch, die in dieser Richtung ge­­dacht haben (JeanFrançois Lyotard, Giorgio Agamben, Zygmunt Bauman etc.) − auf die überlieferten Zeug­nisse stützen, seien es die wenigen Zettel, die im Gelände ehemaliger Kon­zen­trations- und Vernichtungslager aufgefunden worden sind, seien es spätere au­to­bio­graphi­sche Berichte, seien es seltene Fotografien, denen sich beson­ders Ge­orges Didi-Hu­ber­man gewidmet hat, der über Bilder von Landschaften der Ver­las­senheit den Zu­gang zu einer Realität gesucht hat, in der laut Blanchot jegliche Realität zu­g runde ge­gan­gen ist (SD, S. 52) und der man nicht zu nahe kommen darf, will man nicht selbst in den Sog dieser irreversiblen Zerstörung geraten. Ich schlage im Fol­gen­den mit Didi-Huberman ebenfalls diesen Umweg ein, um in einem wei­ter­en Schritt zu sehen, ob uns das einem wenigstens indirekten, bildlich ver­mit­telten Ver­­­­­­ständnis des Desaströsen näher bringt.

5. Hinterlassene Bilder der Verlassenheit

Didi-Huberman zeigt uns vor allem in dem kleinen Büchlein Borken auf den ersten Blick lediglich banale Bilder47: Baumrinde, wie man sie in jedem Birken­wald fin­det, verwitterte Holzbohlen, Schotterwege, rissige Böden, Ausblicke ins Leere − aus ir­gendeinem Fenster, in irgendeinen Wald, schließlich Bäume, deren Kronen wie über­a ll in einen grauen Himmel ragen, und eine harmlos wirkende, spiegelnde Oberfläche eines kleinen Sees. Der allerdings hat es buchstäblich in sich, denn in ihm steigen chemische Produkte einer auf seinem Grund sich immer noch ab­spie­lenden Zersetzung auf. Das (und um welche Zersetzung es sich hier handelt) muss man wissen, das kann man nicht sehen. In­sofern ist es verständlich, dass der Autor weder einem schlichten Hinsehen noch auch einem wirklich sehenden Sehen viel zutraut, wenn es darum geht, in diesen Bil­dern Spu­ren verlassenen Lebens zu ent­decken und sie vor einer fragwürdigen Ent­his­to­ri­sierung zu bewahren. Eine »Ar­ beit des Blicks« (B, S. 65) ist gefordert, die offenbar erst vermittels Europäische Winterreisen  |  87

einer gewissen In­formation eine menschliche Resonanz auf diesen Spu­ren erzeu­gen kann. Es ge­nügt weder, bloß hinzusehen, noch auch, das Sicht­bare nur zu den­ken; man muss »zu sehen wissen« (B, S. 71) − auch wenn dieses im Mo­dus der Wahr­neh­mung re­a ­lisierte Wis­­sen letztlich zugeben muss, nicht ver­ges­sen zu dürfen, was nie­ mals wirk­lich in Erfahrung zu bringen sein wird (SD, S. 104). Gewiss: Diese Bilder lügen nicht. Sie tun das so wenig wie der Boden des größten Fried­hofs der Welt, auf dem in irritierender Art und Weise eine üppige Vegetation ge­deiht und damit einen falschen Anschein erweckt (B, S. 69). Aber sie führen ein un­infor­ mier­­­tes Sehen dennoch in die Irre. Denn die Trivialität jener Bilder be­zieht sich in Wahrheit auf das Unvorstellbare, aus dem auch diese Vegetation her­vor­geht. Und gerade das, verlangt Didi-Hu­ber­ man, muss man sich vorzustellen ver­suchen, will man nicht »in der Sackgasse der Vor­stel­lung« steckenbleiben, »die ei­nes der großen strategischen Machtinstrumente […] des Vernichtungs­sys­tems der Nazis war«. So genügt es nicht, das Abgebildete wie ein Ar­chä­ologe zu betrachten (B, S. 35, 39). Vielmehr muss man sich auf eine befremdende Distanz einlassen, die es über­­­haupt erst gestattet, die Einbildungskraft zu aktivieren. Mit Blanchot un­­­ter­scheidet DidiHuberman als Formen der Distanz eine gute und eine schlechte Fremd­heit, die bei näh­er­­em Hinsehen allerdings die Rollen zu tauschen scheinen. »Die gute Fremd­heit ist jene Distanz, die das Bild zwischen das Objekt und uns setzt, indem es uns in sei­ner Ge­­genwart von ihm befreit, indem es das Objekt in seiner Abwe­ senheit für uns ver­fügbar macht […].« Die zweite Fremdheit tritt ein, wenn das Bild »uns durch die Ab­we­senheit selbst dort hält, wo sich das Bild, stets auf Distanz, stets ab­solut nah und absolut unzugänglich, uns entzieht, wo es den Blick freigibt auf ei­nen neu­­ tralen Raum, in dem wir nicht mehr handeln können, und wo es auch uns selbst öffnet, auf eine Art Neutralität hin, wo wir aufhören, wir selbst zu sein, und wo wir auf befremdliche Art und Weise zwischen Ich, Es und Niemand schwan­ken« (WB, S. 290 f.). Erst in dieser zweiten Fremdheit affi­ziert uns die Be­fremd­lich­keit der Bilder so, dass sie uns vermittels des Sichtbaren einem Über­maß aus­setzt, welches das Sehen da­zu herausfordert, das zu sehen Ge­ ge­bene nicht nur zu iden­tifi­zie­ren, sondern es so wahrzunehmen, dass »alles Wie­der­­er­ken­nen in Unruhe ver­setzt« wird (WB, S. 88). 88  |  Kapitel III 

Man sieht, wie Didi-Huberman auf diese Weise mehrere Stufen der Wahrnehmung durchläuft: vom einfachen, gewissermaßen historisch blinden Sehen über das ›wis­­­­­­­sende‹ Sehen, das zu sehen weiß und sich als solches auf ein gewissermaßen punktiertes Sehen48 jenseits aller Identifikationsmöglichkeit des Sichtbaren hin öff­net − d. h. auf ein (drittes) Sehen hin, in dem sich die (informierte) Wahrnehmung über das po­sitiv Sichtbare hinaus für das zu sehen Gegebene aufgeschlossen er­weist. Insofern stimmt es nicht, dass »Böden zu uns sprechen«, als ob sie uns von sich aus sagen könnten, wie wir die Spuren, die sie in sich bergen, zu deuten hätten.49 Es genügt auch nicht, sich der »verschütteten Vergangenheit zu nähern […] wie ein Mann, der gräbt«, wie es Didi-Huberman mit Walter Benjamin verlangt (B, S. 76 f.). Denn auch die Archäologen können lügen (und sie haben es im Fall des na­zis­tischen sog. Ahnenerbe-Projekts ausgiebig getan 50). Das Sehen muss sich auch un­vor­einge­nommen informieren lassen; und die Sehenden müssen sich als aufge­schlossen er­weisen für das, was die Spuren verraten, sei es auch das eigentlich Un­vor­stellbare, das sich nur einem radikal befremdeten, dritten Sehen erschließen wird, ohne je in einem historischen Wissen aufhebbar zu werden. Das meint ver­mutlich Didi-Hu­ber­­man, wo er eine Befremdung des Blicks beschreibt, in der »Er­kenntnis mit Nicht­­­­­­­evidenz und Fremdheit zusammengeht« (WB, S. 82). Um nicht nur (historisch) blind zu sehen, muss man also wissen und das Wissen ins Sehen eingehen lassen, also zu sehen wissen (savoir voir)51, denn die Bilder sa­gen uns nichts, solange man sie nicht liest, befindet Didi-Huberman (WB, S. 45).52 A­ber sie nur zu lesen, hieße das nicht, sie auf identifizierbare Objekte zu redu­ zie­ren und ihnen auf diese Weise jegliches radikal befremdliche Moment zu nehmen? Oder fungiert die Rede vom Lesen hier eher als Metapher, die kei­nes­wegs aus­schließen soll, dass sich auch das gleichsam lesende Sehen als für jenes dritte, be­frem­dete Sehen aufgeschlossen erweisen kann?53 Gewiss: Ohne sprachliche Vermittlung zeigt sich am Ende nichts, wie Didi-Hu­ber­man mit Ludwig Wittgenstein sagt − nichts jedenfalls, was Anspruch darauf erheben könn­­te, als historisch angemessenes Sehen gelten zu dürfen. Zumal das historisch infor­ mier­te Sehen muss ein lesendes Sehen sein. Aber unser VerstumEuropäische Winterreisen  |  89

men ange­sichts ge­ra­de solcher Bilder, die wir in ihrem historischen Kontext als Spuren des Unvor­stell­baren verstan­den haben, muss nicht auf einen bloßen Sprach­ver­lust hin­auslaufen. Gerade indem sie uns sprachlos machen, besagen sie immer noch et­was. »Ver­ stum­men ist immer noch Sprechen« − allerdings ein ver­stumm­tes, kry­p­­ti­sches Sprechen, das gleichsam in sich be­gräbt, was sich in der Forderung nach Ent­hüll­ung verbirgt, kann Blan­ch­ot deshalb feststellen (SD, S. 20, 44, 165 f.). Es gibt indessen verschiedene Arten des Verstummens: solche, in denen es schlicht nichts mehr zu sagen gibt, solche, in denen es viel mehr zu sagen gäbe, und schließlich solche, die an das rühren, was sich nicht sagen, sondern allenfalls noch zeigen ließe, wie man un­ter Berufung auf Wittgenstein sagt. Letzteres meinen wohl Blan­chot und Didi-Hu­ber­man, wo es um ein Verstummen angesichts des Unvor­stell­­ba­ren geht − worauf sich das Ver­stummen bezieht (so dass es keinesfalls einfach mit einem Auf­hören, Aussetzen oder Sichbeschränken menschlicher Rede gleich­zu­set­zen ist). Es ver­stummt auch nicht wie ein Schweigen über etwas, sondern vor etwas, dem es ge­ra­de im Modus des Verstummens Rech­nung trägt, weil es realisiert, wie sich nicht das schlechterdings Unvorstellbare, sondern dieses Unvorstellbare der be­stimm­ten und zureichenden Sagbarkeit und Darstellbarkeit hartnäckig widersetzt.54 Jacques Rancière hat gleichwohl recht, wenn er den inflationären Gebrauch des Be­­griffs des Undarstellbaren moniert, der scheinbar indifferent »alle möglichen Ar­ten von Phänomenen, Prozessen und Begriffen unter einem Konzept« vereint und sie alle »mit der Aura des heiligen Entsetzens« umgibt: »vom biblischen Bil­der­ver­bot bis hin zur Shoah, über das kantische Erhabene, die Urszene bei Freud, das Grand Verre von Duchamp oder das Weiße Quadrat auf weißem Grund von Ma­le­witsch«.55 Nur allzu leicht wird ›das‹ Unvorstellbare so wie ›das‹ Undar­stellbare hypostasiert, als ob es eine Art Eigenleben führen würde, das sich von jeglichem Ver­­­such, sich auch nur sinnvoll auf es zu beziehen, absolviert zu haben scheint. Am Ende wird es zu einer Art Arkanum (Bta, S. 46), auf das man sich weder sprach­­lich noch bildlich beziehen könnte, und es hätte gar keinen Sinn mehr, sich in differen­ziel­len Versuchen der Annäherung auf es zu beziehen. Allenfalls Ein­ge­weih­te wä­ren dann noch dazu befugt, Außenstehenden mitzuteilen, wie ahnungs­los sie im Grun­de unge90  |  Kapitel III 

achtet all ihrer Anstrengungen bleiben müssen, auszuloten, zu be­ schrei­ben und womöglich sogar zu erklären, worum es sich eigentlich han­delt. Wie Priester hätten diese Eingeweihten die Funktion, allen Außenstehenden zu bedeu­ten, dass sie niemals als authentische Zeugen, als Übermittler angemes­sen­er Bilder oder Vor­stellungen oder auch nur eines würdigen Verstummens in Be­tracht komm­en könn­en. So hat man denn auch von einem »absoluten Desaster oh­ne jeglichen Blick«, ohne angemessenes Bild, ohne Darstellung und Repräsen­ta­ tion gesprochen (Bta, S. 48). Wird die derart eingenom­me­ne Position nicht selbst von der be­haup­teten Verwüstung heimgesucht? Unbestreitbar ist doch, dass Bilder und schriftliche Aufzeichnungen überliefert sind, die man im Erdreich jener Nicht-Orte der Vernichtung gefunden hat und de­nen zu entnehmen war, dass denjenigen, die sie hinterlassen haben, alles daran lag, dass jemand sie findet, um sie »der Welt« (wie es in einem Schriftstück aus­drück­ lich heißt) zur Kenntnis zu geben (Bta, S. 19, 156). So eignet diesen Aufzeichnungen wie auch den Fotographien ein quasi-testamentarischer Charakter. Aber nicht des­halb, weil sie etwas hieb- und stichfest beweisen und darauf explizit eine Erbschaft gründen, sondern insofern sie später Le­ben­­den zunächst einmal zumuten, ihnen Glauben zu schenken, um sich da­rauf­hin ein eigenes Bild zu machen (s’imaginer; Bta, S. 226); und zwar mit Hilfe einer Ein­­ bildungskraft, die kein Text und kein Bild gleichsam fertig mitliefern kann, die vielmehr nur seitens derer, die Texte und Bil­der lesen und wahrnehmen, zu ak­ti­­­vieren ist. Das wiederum wird nur geschehen, wenn sie sich als im Text und im Bild »gemeint« erkennen (wie es Walter Benjamin in seinen Thesen zum Begriff der Geschichte formuliert hat 56). Kein Text und kein Bild kann das erzwingen; zu­mal dann nicht, wenn das Darge­stellte an Un­vor­stellbares rührt, das sich nur gegen unseren Widerstand dagegen, es sich vor­stellen zu sollen, Geltung verschaffen kann. Das wiederum kann nicht allein dadurch ge­schehen, dass sich Unvorstellbares einfach mit Macht oder Ge­ walt uns auf­zwingt, sondern nur so, dass es uns als Unvorstellbares nicht gleich­g ültig lässt. In­so­fern ist es schließlich immer das Register unserer (bis zur Trau­ma­tisierbarkeit reichenden) Affizierbarkeit, vermittels derer Texte mehr zu denken und Bilder mehr zu sehen geben, als sich jeweils im Dargestellten gleichsam ding­fest Europäische Winterreisen  |  91

machen lässt. Dieses ›mehr‹ beschränkt sich aber nicht auf eine Art herme­neu­tischen Lux­us, den man sich auch sparen könnte, wenn wir angesichts des Unvor­stellbaren un­möglich gleichgültig bleiben können.

6. Befremdliche Bildlichkeit: Auslieferung und Zeugenschaft

Das ist die zentrale Voraussetzung, mit der Didi-Huberman immer wieder arbeitet, obgleich seine Erklärungen für die Wirkungen insbesondere der Bilder, die von den sog. Sonderkom­mandos überliefert sind, gelegentlich in eine geradezu entge­gengesetzte Richtung weisen. Tatsächlich beziehen hier nicht die Bilder, d ­ enen ­Di­di-Huberman ein eigenartiges Nach­leben attestiert, selbst Po­ sition (wie es einer sei­ner Buchtitel besagt; vgl. WB, S. 139 ff.), sondern allein die Be­trachter können mit ihrer Nicht-In­differenz die bildlich repräsentierten Fakten (wie­der) zum Vor­schein bringen, wenn sie mittels ihrer Einbildungskraft eine »An­näherung ohne Ver­ein­nah­mung« versuchen (Bta, S. 127, 130), wenn sie also gelten lassen, wie das je­wei­lige Bild auf die Spur einer radikalen Befremdlichkeit führt.57 Mit Recht insis­tiert Didi-Hu­ber­man darauf, dass dieser Anforderung nicht gerecht zu werden ist, wenn man die fraglichen Bilder zu Ikonen des Entsetzens hoch­stilisiert oder wenn man sie als bloße Dokumente nimmt (Bta, S. 58 ff.). Beides sind Formen der An­eig­nung, die un­ter­lau­fen, wie die Bilder als Spuren einer desas­trösen Erfahrung wirk­lich irri­tieren, die überhaupt niemandem ›gehört‹ − weder denen, die zu wis­sen glau­­ben, dass man sich in diesem Fall überhaupt kein Bild machen kann, noch auch jenen, die die Bilder mit irgendwelchen historio­g ra­ phischen Beweismitteln auf eine Stufe stellen. Tatsächlich ist der dokumentarische Wert der Bilder begrenzt. Sie zeigen nur Aus­schnitte, und das mit einer Unschärfe, die vieles nicht erkennen lässt. Und natür­lich kommentieren sie sich nicht selbst, um uns zu sagen, was eigentlich genau zu sehen ist. Kein Bild hat je das Unvorstellbare als solches gezeigt; kein Bild kann es beweisen und positiv sichtbar machen. Dennoch geben sie etwas wieder − und wei­ter; aber nicht, um uns etwas zu beweisen, sondern um etwas zu bezeugen und uns abzuverlangen, das Bezeugte 92  |  Kapitel III 

zu glauben58 − vor jeder kritischen Frage, was die Bilder im engeren Sinne wirklich zeigen (können) und was nicht. Entscheidend ist in dieser Hinsicht weniger die viel diskutierte Ontologie der Bild­lich­keit als sol­cher, sondern vielmehr unser Eingesetztsein als Zeugen, die sich so oder so zu­nächst zu der Zumutung verhalten müssen, dem Gezeigten zu glauben, ohne so­fort (oder überhaupt jemals) genau wissen zu können, was es vor Augen führt. Das Affiziertwerden von den fraglichen Bildern beginnt mit dieser Expo­si­tion − und es hat überhaupt keine Chance, uns etwas zu bedeuten, wenn diese ver­weigert wird. Die einschlägigen Bilder geben fast nichts oder doch viel zu wenig zu sehen, aber wir eigentlich sind die »Dunkelkammer«, in der ihre Bedeutung gleichsam ent­wickelt wird (Bta, S. 62). Freilich nicht in einem (bio-)chemischen oder rein kogni­ti­ven Verfahren, sondern vermittels komplexer Vermittlungen, die das zunächst allen­falls ansatzweise Realisierte neu, anders und befremdet zu sehen geben59 und sich auf diese Weise dem Unvorstellbaren als der drohenden Vernichtung jeglicher Fähigkeit, Anderen die Augen zu öffnen, widersetzen. Gegen diese bedrohliche Aus­­sicht hilft weder eine Sakralisierung oder Fetischisierung singulärer Bilder noch auch eine Bilderflut, die ohne weiteres in eine Art Bulimie münden kann, ge­nauso wenig aber auch ein erneutes Bilderverbot, das jeglichen bildlich ver­ mittel­ten Zugang zum Unvorstellbaren als hoffnungslos verfehlt und sogar als Verrat an der Sache abqualifiziert.60 Tatsächlich ›sagen‹ die fraglichen Bilder we­der nichts noch alles. Sie vermitteln weder eine direkte Berührung mit der abge­bildeten, allzu ›realen‹ Realität, noch können sie schlicht als fragmentarische Reste des Erlebten gel­ ten, die man nur zu ergänzen bräuchte (Bta, S. 113, 115). Als zu­nächst schlichte Bild-Objekte überlassen sie alles ihren Betrachtern, worauf es für das Realisieren diesen Realen ankommt. So sind sie wehrlos jeglicher Aneignung und Verwerfung ausgeliefert, bieten aber gerade aufgrund ihres völligen Ausge­liefertseins an die Be­­trachter diesen die Chance, der Spur des Unvorstellbaren zu folgen, das sie in direkter Konfrontation mit ihm womöglich erstarren oder ver­stum­men ließe. Statt­dessen schirmen sie das traumatisch Reale ab und überdecken es gleichsam mit ihrer bloßen Materialität. Didi-Huberman verwendet viele Seiten darauf, diese Zwiespältigkeit einer bild­li­ch­­­en Vermittlung des Realen zu beschreiben, die Europäische Winterreisen  |  93

sich dem Bild verdankt, das aber seinerseits auch das Reale überdeckt (als Deck­bild [image-écran], das wie eine Deck­erinnerung [souvenir-écran] fungiert) und so zugleich verschwinden lässt, wovon es doch die Spur ist. 61 Eben deshalb kann es einen Re­a­ litätseffekt des Realen zeitigen, den es aber kraft seiner Bildlichkeit auch wieder ab­f ängt (Bta, S. 119 f., 146), denn es ist ja wirklich nur ein Bild, das lediglich Ober­flächen zu regis­trieren vermag. Deshalb sollte man dem Bild als solchem nicht zu­viel zutrauen oder abverlangen, so als ginge es darum, ihm allein eine anders nicht zu ver­bür­gende Beweiskraft, die Bezeugung einer ungeheuerlichen Wahrheit oder deren Nachwir­kung in ein­em Nach­­leben (survivance) zuzumuten. Didi-Huberman erliegt wie­derholt dieser Ver­su­chung. Aber so wenig wie die Bilder selbst ›leben‹, so wenig können sie selbst als Zeugen gelten oder zur Arbeit mit Archiven in Konkurrenz treten. 62 Als durch (primäre) Zeugen, die ›vor Ort‹ waren, dem Realen entrissene Objekte ge­ben sie vielmehr (sekundären Zeugen) zu sehen, dann auch zu wissen und (im Lichte eines kontextuellen historischen Wissens) neu zu sehen, so dass es sinnvoll ist, zu sagen, man müsse sie nicht nur anschauen (sehen in einem einfachen Sinne), sondern auch zu sehen wissen, was sie über das positiv Sichtbare hinaus zu sehen geben. So gibt ein erstes, historisch unvermitteltes Sehen gleichsam nur den ersten Anstoß zu einer historischen Wahrnehmung, die ihrerseits das Sehen verbessert. Nicht freilich nur in einem genaueren Sinne, sondern auch so, dass das Sehen re­a ­lisiert, was nicht zu sehen ist und niemals durch einen noch so erschöpfenden »Bild­­a kt«63 positiv sichtbar gemacht werden kann. 64 Stets appelliert das Bild nur an die Antwort, die wir zu geben haben oder schulden, wie Didi-Huber­man selbst meint, der mit Walter Benjamin davon überzeugt ist, dass dies allemal vor­aus­setzt, sich im Ver­gangenen gemeint zu erkennen (ÜG, S. 104). Davon ausgehend ver­langt er, den Begriff der Zeugenschaft neu denken und eine ethische Dimension des Blicks neu zu entdecken, der sich angesichts der fraglichen Bilder niemals auf ein schlich­tes studium65 oder auf ein bloßes Lesen von Bildern beschränken kann, in dem er sich lediglich auf positiv Identifizier­bares zu konzentrieren hätte. 66 Nur unter der Voraussetzung unserer Einsetzung in die Zeugenschaft, die uns das Bild immer schon zumutet, kann bedacht 94  |  Kapitel III 

werden, inwiefern es etwa auch als ein Be­weismittel (preuve) in Betracht kommt, wobei die (sekundären) Zeugen stets selbst mit auf dem Spiel stehen, denn es ist auch ihre Welt (bzw. deren Weltlichkeit selbst), die durch visuelle und an­dere Zeugnisse einer desaströsen Gewalt in Frage gestellt wird. Durch sie sind sie zur Probe (epreuve) gezwungen, ob ihre Welt die­ser Gewalt standzuhalten verspricht. 67 Der Re­alitäts­ef­f ekt der Bilder liegt so gesehen nicht zuletzt darin, die Welt der (sekundären) Zeu­gen selbst zu derealisieren. Denn wenn dieses Unvor­stell­bare, diese desaströse Zer­­­­­­stö­rung einer verlässlichen Welt, möglich war, wie sollte dann irgendeine an­de­re Le­bens­form unter ähnlichen Um­ständen Bestand haben? In diesem Sinne, schreibt Di­di-Huberman mit Blick auf Re­­naud Dulongs Buch Le Témoin oculaire (1998), af­fi­zieren die von den pri­ mä­ren Zeugen hinterlassenen Bilder den »gemein­sa­men Ho­ri­zont« jeder mensch­lichen Welt, indem sie sie als solche radikal in Frage stellen (Bta, S. 152). Jede Generation, die sich den überlieferten Bildern stellt, muss diesen Weg neu ge­hen, denn das Geschehene überliefert sich nicht von allein − so wenig wie dessen de­saströse, im Denken nicht aufhebbare Bedeutung; und es hat auch nicht die ein­deutige Form eines Testaments. 68 So bleibt diese Bedeutung stets neu zu ermitteln − zwischen einer indifferenten Reduktion der Bilder auf ihre historisch-dokumen­ta­ri­sche, stets anfechtbare Funktion einerseits und ihrer Hypostasierung anderer­seits, die sie nachträglich zu Zeichen eines immer schon eingetretenen und nie zu be­­­­endenden Desasters erklärt und ihnen so jegliche geschichtliche Spezifität zu rauben droht. 69 Blanchot scheint sich gelegentlich in diese Richtung zu bewegen, z. B. dort, wo er den Blick eines Kindes in den Himmel als eine Urszene des Desasters beschreibt: »Es sieht den Gar­ten, die winterlichen Bäume, die Wand eines Hauses […] und schaut langsam hoch zum gewöhnlichen Himmel, mit den Wolken, dem grauen Licht, dem trüben Tag ohne Weite. Was dann geschieht: der Himmel, derselbe Himmel, plötzlich offen, ab­so­lut schwarz und leer, enthüllt […] eine solche Abwesenheit, daß alles darin seit je und für im­mer verloren gegangen ist, so sehr, dass sich darin das schwindelerregende Wissen be­stä­tigt und zer­streut, daß nichts ist, was es gibt, und vor allem nichts darüber hinaus« (SD, S. 92). Europäische Winterreisen  |  95

Wenn dem Kind dieser Blick enthüllt, was Levinas in Blanchots Schrift des Desasters ent­­deckt zu haben glaubte, nämlich das Inder-Welt-nicht-unter-den-Sternen-sein, so han­delt es sich offenkundig nicht mehr um ein ›historisches‹ De­saster, dem ein sei­­­­nerseits desas­tröses Denken Rechnung zu tragen versucht, son­dern um eine ex­is­­tenzielle Verlassenheit.70 Indem sie realisiert, dass »alles seit je und für immer ver­lo­ren« war, ist und sein wird, begreift sie sich als ein rückhaltloses Exponiert­sein, das prima facie nicht historisch bedingt ist. Wo wir es andererseits mit der Land­schaft einer »un­ ermesslichen, grauenvollen Verlassenheit« zu tun haben, wie sie Pla­­­tons Nomoi zu­folge nach einer ungeheuren Überschwem­mung eingetreten ist, die sich ähnlich jederzeit wieder ereignen kann, handelt es sich um ein ganz und gar historisch bestimmtes Ereignis.71 Wo­rum es Blanchot und Didi-Huber­man geht, liegt gewissermaßen dazwischen. Sie ma­chen darauf aufmerksam, dass wir radikaler Verlassenheit ausgeliefert wer­den können. Das macht uns negativ als auf eine gemeinsame Welt angewiesene Wesen aus. Die Spuren dieser Verlassen­heit verfolgt Blanchot bis in die Existenz des Einzelnen hinein, um sie als auf eine Blei­­be angewiesene verständlich zu machen72 , wohingegen Didi-Huberman sie in der Harmlosigkeit einer Natur wie­derentdeckt, deren Vegetation sich längst über einer vernarbten Erde zu schließen begonnen hat. Die Zerstörung einer gemein­samen und doppelsinnig geteilten Welt ist freilich kein datierbares Natur­er­eignis und verlangt nach historischem Ver­stehen, das erst im Nachhinein ermitteln kann, wo­rum es sich handelte. Einsicht in die Möglichkeit, der radikalen Verlas­senheit aus­­gesetzt zu werden, bringt niemand von Geburt an mit. Sie wird erst ex post mög­­lich, wo eine Welt zugrundegerichtet wurde. Es ist ein Sophismus zu be­haup­t­en, das sei vorher schon möglich gewesen. Und dass es ›theoretisch‹ wieder mög­lich sein wird, bleibt eine abstrakte Einsicht, die uns die Besinnung darauf nicht er­spart, wie die Wiederholung desselben wo­mög­lich doch abzuwenden ist. Zu zeigen wäre gerade, wie spezifische, an bestimmte historische Umstände ge­k nüpf­te Formen, Andere der Weltlosigkeit und der Verlassenheit rückhaltlos aus­zu­­liefern, gleichsam auf dem Register einer existenziellen Verlassenheit spielen, die jeder mitbringt, die aber voll − und in unvorstellbarer Art und Weise − erst dann zur Auswirkung gelangt, wenn man uns ihr tatsächlich ausliefert; und 96  |  Kapitel III 

zwar der­­art radikal, dass kaum noch ein Wort, ein Zeugnis, ein Bild… zu Anderen zu drin­­­gen vermag, um ihnen zu verstehen zu geben, was es heißt, ›restlos‹ aus­ge­liefert zu werden.73 Nur eine existenziell und historisch ansetzende Hermeneutik 74 des Desasters, die hier an die Grenzen des Verstehens gerät, wird es vermeiden könn­en, dass uns zweifellos historisch kontingente Landschaften der Verlassenheit am Ende wie ei­ne »erstarrte Urlandschaft […] vor Augen«75 liegen, in der die menschliche Gatt­u ng seit je her »verloren« gewesen zu sein scheint, ohne dass man bei diesem er­ha­benen Gedanken im Geringsten speziell an gewisse Untaten den­ken müsste. In die­sem Falle könnte man sich mit einer Naturgeschichte der Gewalt begnügen, die letztere aber ironisch­erweise um die ihr eigene Historizität bringen würde. Gerade desaströse Ge­walt hat aber nicht nur, sie macht auch Geschichte − heute bis zu ein­em Punkt, wo es buch­stäblich undenkbar und unannehmbar ge­wor­den ist, sie als ein weiteres Kapitel im Rahmen einer bloßen historia naturalis einzuordnen.76 Nach allem, was wir wissen, ist die menschliche Gattung zwar ei­ner Naturgeschichte entsprungen; doch hat sie ihrerseits eine allein in mensch­li­ch­er Verantwortung lie­gende desaströse »Lei­dens­ge­schichte der Welt« hervor­ge­bracht, von der sie aller­dings selbst keine angemessene Vorstellung hat. Negativ be­­zeugt das Blanchots Schrift des Desasters ebenso wie Didi-Hubermans Ästhetik, die mit ihrem Untertitel Das Auge der Geschichte ein Subjekt suggeriert, das we­nig­stens einen bildlich ver­mittelten Blick auf das Bezeugte werfen kann. Tatsächlich haben wir es aber nur mit einer Vielzahl primärer und sekundärer Zeugen und mit einer Vielzahl von Bildern diverser desaströser Ver­brechen zu tun77, über denen alsbald nicht nur das sprichwörtliche Gras wächst, sondern eine ganze Vegetation des Vergessens ge­ deiht, die von einem unschuldigen Buchen- oder Birkenwald kaum mehr zu unter­scheiden ist. Gerade an Bildern solcher Vegetation entzündet sich eine historische Imagination des Vergessenen, die uns ein neues Bild davon zu machen gestattet, worum es sich handelt: um Landschaften der Verlassenheit, die nur dann, wenn sie als solche vergessen werden, jene Leidensgeschichte in einer bloßen Naturge­schichte aufgehen lassen würden. Die Geschichte Europas mit ihrer abgründigen ›Negativität‹, aus der kein dialektisches Kapital zu schlagen ist, kann man für die GeEuropäische Winterreisen  |  97

genwart europäischer ›Identität‹, nach der immer wieder vergeblich gefragt wurde, nicht in Anspruch nehmen, ohne sich der Erfahrung der Verlassenheit und der Weltlosigkeit zu stellen, die von so vielen Autoren, v. a. von Schriftstellern und Poeten, aber wie gezeigt gelegentlich auch von Philosophen zur Sprache gebracht worden ist. Beide Begriffe werfen überdies die Frage auf, ob wir es hier nicht mit einer radikalen Welt-Fremdheit und Unzu­gehörigkeit zu tun haben, ohne die sich nicht verstehen lässt, wie Menschen aus jeglichem Zusammenleben herausfallen (dem sie ohnehin nie ›mit Haut und Haaren‹ angehören können). Dass man von Gastlichkeit nicht sprechen kann (die man von Europa mit Fug und Recht erwarten kann), wenn dieser Fremdheit nicht ›Rechnung getragen‹ wird, ist offenbar Blanchots Überzeugung. Kann man aber Anderen angesichts dieser Fremdheit überhaupt eine ›Bleibe‹ versprechen? Und geht diese Frage auch den Staat etwas an? Hier knüpft das folgende Kapitel wiederum ausgehend von Maurice Blanchot, im weiteren Verlauf dann mit Martin Buber und Emmanuel Levinas an.

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K A PI T EL I V Unaufhebbare Welt-Fremdheit ›Nomadisches‹ Leben, Bleibe und Staatlichkeit O mein Leben […], das an nichts bindet, nächtlich, Nomade und müde unter dem kalten Mitleid der Sterne. Fernando Pessoa1 There is, to quote the title of Simone Weil’s posthumous essay, a great ›Need for Roots‹; but there is an equally urgent need, on occasion, for total rootlessness. Aldous Huxley2 Man soll nicht bleiben, sondern ­vorübergehen. Maurice Blanchot 3

Gewiss ist Maurice Blanchot kein Denker des Ortes, der Verortung, der Situierung oder gar der Verwurzelung des Menschen − sei es in heimatlicher Erde, sei es in einem angeeigneten Lebensraum oder im Sein, dem er in der Form eines Ethos zu entsprechen hätte, wie es Hei­degger lehrte.4 Vielmehr schreibt sich Blanchot wie viele andere vor ihm nicht nur in eine Apologetik der Entortung als einer Befreiung von jeg­lichem exklusiven Verhaftetsein an Orte und Räume ein, sondern bestreitet darüber hinaus grundsätzlich, dass wir ursprünglich zu einem ›irdischen‹ bzw. ›geerdeten‹ Leben bestimmt seien, von dem wir nachträglich mit großem Aufwand befreit werden müssten − etwa auf dem Weg einer geistigen »Arbeit des Nega­tiven«5 , wie sie Hegel in der Phänomenologie des Geistes beschrieben hatte. »Geister des Ortes«, denen ein ständig nach Verwurzelung und Heimat sich sehnendes Leben womöglich exklusiv verpflichtet wäre, sind ihm genauso suspekt wie der Geist als Sub  |  99

jekt einer Welt­ge­schichte, die über unsere Köpfe hinweg und durch unseren Tod das Wahre sollte zeitigen können (DU, S. 59, 68 ff., 109). Stattdessen forscht er einer »nomadischen«, allein zwischen uns wirklichen, aber niemals sich gewissermaßen bei uns niederlassenden Wahrheit nach, welche sich nicht erst durch bestimmte Negation, sondern im gastlichen Aufgeschlossensein für eine Fremdheit bewahrheitet, die uns in uns selbst, im Verhältnis zum Anderen, aber auch zur Welt immer schon heimgesucht hat. Zweifellos will Blanchot diese dreifache Fremdheit jedoch nicht privativ denken6 , d. h. nicht als Beraubung eines Bei-sich-seins, einer Heimat oder einer ungefährdeten Verwurzelung in der Welt, die wir wiederzugewinnen hätten. Haben wir dieser Fremdheit bzw. einer orphischen »Gabe des unendlichen Annehmens« dieser Fremdheit nicht vielmehr alles zu verdanken, was im Ernst Offenheit genannt zu werden verdient, die wir nicht unserer eigenen Generosität (als Ausdruck unserer ›Aufge­schlossenheit‹ etwa) zuschreiben können (vgl. LR, S. 157)? Indem uns Blanchot diese Frage ans Herz legt, möchte er nicht bloß gewisse Vorzeichen verkehren, indem er dazu auffordert, sich nunmehr in jener Fremdheit ›zuhause‹ zu fühlen.7 Wie kein anderer hat er auf dem Schmerz eines radikal befremdeten, niemals heimatlichen In-der-Welt-seins 8 insistiert, der nicht ›arbeitet‹, wie es Hegel nahe legte, sondern − wie in der Trauer − »wacht« (SD, S. 69). Worüber aber soll dieser Schmerz, in dem man niemals wird zuhause sein können, wachen? Und woher rührt er? Etwa von einer Welt-Fremdheit, die niemals zur bloßen Gleich­g ültigkeit angesichts eines seinerseits schweigenden Kosmos wer­­den kann? Läuft Blanchots Denken mit jener eigentümlichen Wachsamkeit und Aufmerk­samkeit auf eine unaufhebbare NichtIndifferenz hinaus?9 Und was für ein Leben wäre zu ihr fähig? Ein der Erde und den Werten der Verwurzelung in keiner Weise verpflichtetes? Fügt sich Blanchot so ge­sehen in die zeitgemäße Apo­ logetik eines gewissen Nomadis­mus ein, der die »Geister des Ortes« endgültig entzaubert zu haben scheint? Im Folgenden gehe ich zuerst dieser Frage nach, um sodann, mit Blick auf Martin Buber und Emmanuel Levinas, politische Implikationen eines Denkens zu erwägen, das sich keineswegs in der Lobrede auf eine bestimmte (nomadische) Lebensform erschöpft, sondern ein universales Interpretationsangebot macht, demzufolge 100  |  Kapitel IV 

wir uns alle als ur­sprünglich und unaufhebbar Welt-Fremde begreifen sollten − d. h. aber so, dass daraus überhaupt kein exklu­sives politisches Kapital mehr zu schlagen ist. Wie es um die Chancen einer solchen Deu­tung politischen Lebens heute steht, ist Gegenstand der abschließenden Überlegungen.

1. Vom nomadischen Wesen zum new nomadism

Scheinbar ganz unbekümmert um die radikale Kritik, die anthropologisches Den­ken bei Martin Heidegger, Michel Foucault, Emmanuel Levinas und vielen ander­en erfahren hat, hat Hans Blumenberg offenbar jahrelang an einer Beschreibung des Menschen gearbeitet, die sich wieder zutraut, mit Mitteln der Anthropologie und der Phänomenologie anzu­geben, was der Mensch ist − und zwar ursprünglich und im Grunde bis heute. So lesen wir in dieser aus dem Nachlass herausgegebenen voluminösen Schrift Beschreibung des Menschen: »In einem mehr als ökono­m ischen Sinn ist der Mensch ein nomadisches Wesen, dessen Ursprünge auf den Schwund der tertiären Regenwälder zurückgehen und dessen weitweite Wanderungen unter dem Selektionsdruck der Eiszeiten standen.«10 Diese Rede suggeriert: Das war und ist der Mensch; und so wird er im Wesentlichen blei­ben, aller Kontingenz zum Trotz, von der man − oft unter Berufung auf Blumenberg selbst − behauptet hat, sie dringe seit langem bis in unser Innerstes ein, das sich ihr vergeblich zu widersetzen trachte. Längst hat man auch künftige Kontingenz antizipiert und sich einerseits ausgemalt, wie sich die menschliche Gattung anthropotechnisch verbessern ließe, ohne dass man dabei auf irgendein menschliches Wesen Rück­­­­sicht nehmen müsste. Andererseits beginnt man sich da­rauf zu besinnen, wie die Gattung nicht zuletzt auf europä­ ischem Boden auch ohne eigenes geplantes Zutun auf einen endgültig überholt geglaubten Stand zurückgeworfen werden könnte. Zwar mag die Aussicht auf wie früher schon bis zum Ärmelkanal und zur nord­deutschen Tiefebene vorrück­ende Gletscher kaum jemanden in Europa konkret beunruhigen, wo man einiges dazu bei­trägt, dass sich das erdgeschichtlich übliche Tempo klimatischer Veränderungen dramatisch verschärft, die infolge globaler Unaufhebbare Welt-Fremdheit  |  101

Erwärmung paradoxerweise in Nordeuropa auch in eine neue Eiszeit münden könnten. Ob man deshalb Grund dazu haben wird, sich auf diesem Kontinent viel früher als erwartet an die Aktualität von Blumenbergs Wesens-Befund erinnern zu müssen, bleibe dahingestellt. Bis es soweit ist, muss freilich die Erinnerung an ein ursprünglich und bis heute nomadisches Wesen des Menschen, dem womöglich sogar ein Hinweis auf ›richtiges‹ Leben zu entnehmen wäre, als anachronistisch erscheinen angesichts des Ausmaßes, in dem die Sess­haftigkeit triumphiert hat, und angesichts der massiven Diskriminierung, die residuale nomadische Lebensformen von den irischen tinkers bis zu den süd-osteuropäischen Sinti und Roma bis heute erfahren. Und hat sich der globale Spielraum möglicher Wanderungsbewegungen nicht längst erschöpft? Da die Menschen einander nicht beliebig lange und weit ausweich­en konnten, waren sie endlich zur welt-bür­ger­lichen Verrechtlichung ihrer Verhältnisse gezwungen, meinte schon Kant, bei dem nur das schwache »Recht der Hospitalität« oder der »Wirtbarkeit« für den Fall vorgesehen war, dass man (ob freiwillig oder gezwungenermaßen) auf dem Bo­den Fremder auftritt − als bloßer Be­sucher auf Zeit. Weder an massenhafte Flucht, an zwangsweise Exilierte noch an dauerhaft nomadische, immer wie­der Grenzen überschreitende Lebensformen hatte Kant dabei gedacht. Er behauptete, ursprünglich gehöre die Erde niemandem, war aber realistisch genug, eine weltweite Okkupation11 und rechtliche Einhegung aller freien und (vermeintlich) unbewohnten Territorien durch moderne Staaten in Rech­nung zu stellen, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts tatsächlich die ganze Erd­ober­fläche derart in Beschlag genommen haben, dass man als Staatenloser Gefahr laufen musste, sich nirgendwohin mehr wenden zu können. Die dramatischen Fol­gen im Zeitalter einer vielfach auf ethnische Homogenisierung bedachten National­staatlichkeit hat Hannah Arendt in ihrem Buch Elemente und Ursprünge totaler Herr­schaft deutlich vor Augen geführt, wo sie beschreibt, wie Flüchtlinge, sans papiers, Asylanten, Exilierte, Vogelfreie und dis­placed persons aller Art unter diesen Um­­ständen einer weitgehenden Entrechtung anheim fallen konnten.12 Es ist ihr aller­­dings nicht in den Sinn gekommen, diese politisch fatale Entwicklung als Her­auf­­k unft eines neuen und zugleich uralten, die Menschen 102  |  Kapitel IV 

wieder an ihr ursprüngliches Wesen erinnernden Nomadismus zu feiern, wie es in unseren Tagen nicht selten geschieht.13 Befinden wir uns womöglich auf dem Weg der Befreiung vom Erbe eines besitzergreifenden Denkens, das uns, d. h. vor allem den Europäern, vermeintlich legitime Rechtstitel auf die Aneignung fremden Landes bescheinigte14 , um es ihnen zu gestatten, sich ethnisch exklusiv und politisch souverän in selbst gezogenen Grenzen gegen Andere abzuschotten und sich autonom gegen sie zu behaupten, im ›Ernstfall‹ auch mittels einer souveränen Feinderklärung? Werden wir wieder, was wir ur­sprünglich waren: heimatlose, nomadische, kosmopolitische Menschen − und nur so auch gute Europäer, wie Nietzsche suggerierte?15 Oder handelt es sich hier um hoffnungslose Anachronismen einer vermeintlich zeitgemäßen Lebenskunst16 , die in ihrem rhetorischen Überschwang keinen Unterschied macht zwi­schen der existenziellen Überlebensnot jener archaischen Jäger, die Blumenberg im Auge hatte, einerseits und dem fahrenden Volk postmoderner Lebenskünstler andererseits, die sich in Zeiten »nomadischer Investitionsinteressen« den grenzüberschreitenden Transaktionen eines deregulierten, angeblich ebenfalls nomadisierenden Globalka­pitalismus anpassen?17 Und was hat ein Dasein unter solchen, heute oft als ›kosmopolitisch‹ eingestuften Bedingun­gen noch mit einem welt-bürgerlichen Leben à la Kant oder gar mit jener verachteten Existenz eines weltfremden Diogenes von Sinope zu tun, der zwar be­hauptete, seine Heimat sei die ganze Welt, dem aber doch nichts wichtiger war, als nicht unbedingt zum Leben Anderer dazugehören zu müssen, ihnen also im Horizont der Welt fremd bleiben zu dürfen?18 Kaum je werden solche Fragen gestellt in der apologetischen Literatur von Gilles Deleuze und Félix Guattari19 über Vilem Flusser20 und Zymunt Bauman 21 bis hin zu Michael Hardt und Antonio Negri 22 , die unver­­hohlen einen new nomadism propagieren. Und zwar als Ausdruck neu oder wie­der gewonnener Freiheit eines an keinen Ort gebundenen und in keinem Grund und Boden ein für allemal schicksalhaft verwurzelten Lebens, aber auch im Zeichen rückhaltloser Anpassung an eine radical precariousness, die der neue Finanz­ka­pitalismus allen ausnahmslos aufnötige (auch dann, wenn man noch ein sogenanntes ge­­regeltes Leben an Ort und Stelle zu führen glaubt).23 Flusser behauptet, »wir alle« seien »aus dem Unaufhebbare Welt-Fremdheit  |  103

Zusammenbruch der Seßhaftigkeit emportauchende Nomaden« und fortan da­zu verurteilt, ein im Einzelfall mehr oder weniger, grund­sätzlich aber radikal entortetes, virtualisiertes, geschichts­ loses, entbundenes, nirgends mehr situiertes Leben zu führen. So positiviert man existenziell − aber ohne jegliche Rücksicht auf die Befunde an­t hro­polo­gischer Forschungen −, was in früheren Zeiten Ausdruck schierer Lebensnot gewesen sein mag, die vielfach als bloßes Defizit gewertet oder von vermeintlich Autochthonen als Schreckbild auf Fremde projiziert worden war. Wie das geht, hatten die Griechen der Antike anhand jener aporoi vor Augen geführt, die wie die von Herodot beschriebenen Skythen offenbar ständig unterwegs und an keinen konkreten Ort gebunden waren.24 Der neue No­made aber lebt frei, ungebunden, souverän im Verhältnis zu allem, was ihn an einen Ort, an eine Lage oder an einen Raum fesseln könnte. In diesem Sinne, befand schon Oswald Spengler, wird »der Mensch […] ›Geist‹, ›frei‹ und dem Nomaden wieder ähnlicher«.25

2. Alte und neue Nomaden: Atavismus, Pathologie oder ­Avantgarde?

Spengler indessen verband mit dieser Beobachtung eine Verfallsdiagnose und war weit davon entfernt, sie im Sinne einer modernen oder postmodern-avantgardis­ti­schen Lebenskunst avant la lettre ausschlachten zu wollen. Bereits in der Einleitung zu seinem Bestseller Der Untergang des Abendlandes, wo er sich über die pathologischen Folgen der Verstädterung auslässt, brandmarkt Speng­ler den »neuen Nomaden« als einen parasitären Großstadtbewohner, der typi­scherweise als ein »reine[r], traditionslose[r], in formlos fluktuierender Masse auf­tretende[r] Tatsachenmensch« und dazu noch »irreligiös, intelligent, unfruchtbar« begegne (UA, S. 45). Dabei sei dieser Typus Mensch von einer tiefen Abneigung gegen ein der Erde verbundenes, verwurzeltes Dasein geprägt. Als extremer Gegensatz zum traditionellen Bauerntum und »dessen höchste[r] Form«, dem Landadel, stelle dieser Typus einen »ungeheuren Schritt zum Anorganischen, zum Ende« dar, das sich schließlich in der zur uni­versalen Stadt schrumpfenden Welt ankündige. In 104  |  Kapitel IV 

ihr trete »der Kosmopolitismus an die Stelle der ›Heimat‹«, die Gesellschaft an die Stelle des Staates und das Geld werde zum allgemeinen Vermittler im Austausch von allem gegen jedes, wie es Karl Marx vorausgesehen hatte (UA, S. 46). In dieser Stadt werde ein »geschichtsfeindlicher, unkriegerischer, rasseloser« Geist herrschen, wie er bei »Aposteln des Weltfriedens« zu beobachten sei. »Jedes Volk bringt solchen − ge­­schichtlich betrachtet − Abfall hervor« (UA, S. 781). Über­mächtig aber wurde er, so scheint es, mit der politischen Emanzipation des dritten und dann des vier­ten Standes, schließlich der Masse. In ihr kündige sich das neue Nomadentum der Weltstädte an, die ihren Namen offenbar ganz zu Unrecht tragen.26 Denn was sich tatsächlich in ihnen zutrage, das sei geradezu ein Fall in die Weltlosigkeit, d. h. in Geschichts- und Bodenlosigkeit. »Die Masse ist das Ende, das radikale Nichts« (UA, S. 1004). Wo eine Welt 27 gegeben sei, da grenze sich eine Lebensform stets gegen eine fremde Wirklichkeit ab. Aber die Kraft dazu fehle freigesetzten Menschen, ganz gleich, ob es sich um jene »Söhne Niemands« der Antike (UA, S. 1041) handelt, denen kein Rang und keine Ehre zukam, oder um weitgehend entrechtete, vogelfreie Existenzen, die nur noch Menschen und sonst nichts mehr sind 28 und insofern keiner Lebensform zu­gehören, die sich als eigene gegen fremde abzugrenzen vermöchte. Der einzelne Mensch muss sich unter diesen Voraussetzungen entscheiden: Entweder er gehört einer solchen geschichtsmächtigen Entität, vor­zugsweise einem Staat an und partizipiert dann auch an der sog. Weltgeschichte, oder aber er verfällt der Weltlosigkeit, wie es in der Anonymität der modernen Megastädte der Fall zu sein scheint, wo alle Einzelnen einer zoologischen Geschichtslosigkeit preis­gegeben sind. »›Die Mensch­heit‹ ist ein zoologischer Begriff oder ein leeres Wort« (UA, S. 28, 613 f.). Entweder wir leben als bloße Lebewesen, oder aber wir haben an einer Weltgeschichte teil, die Spengler nur als Staats-Geschichte denkbar erscheint. Hier wandelt er auf Hegels Spuren (UA, S. 1013), nicht aber ohne einen eigenen Akzent zu setzen, den Hegel niemals akzeptiert hätte: Das ganze Leben, soweit es sich geschichtlich entfaltet, ist Politik (UA, S. 1109, 977); Politik aber ist ihrerseits nichts als die Fortschreibung jener »Urpolitik des Lebens«, die sich als rücksichtsloser Krieg manifestiert. So gibt sich Unaufhebbare Welt-Fremdheit  |  105

dieser Autor als Apologet eines »starken Lebens, an dem es etwas zu überwinden gibt – der Rest ist bloße Philosophie« (UA, S. 978). Auch Spengler sah in den neuen Nomaden ein uraltes, nunmehr aber atavistisches Noma­dentum in verwandelter Form wiederkehren. Dieses beschreibt er allerdings abwertend als ein Dasein »schweifender Tiere«, deren »Wach­sein sich ruhelos durch das Leben tastet«, »ortsfrei und heimatlos«. Damit habe erst die Sesshaftigkeit der Ackerbauern Schluss gemacht; durch ihr Graben und Pflügen seien sie »selbst zur Pflanze« geworden. »Man wurzelt in dem Boden, den man bestellt. […] Die Erde wird zur Mutter Erde.« Chthonische Kulte bezeugen eine »tiefe« Verbundenheit mit dem fruchttragenden Land 29, als deren Sym­­­bol das Bauernhaus erscheint. »Es ist selbst Pflanze« − wie die Menschen, die es bewohnen −; »es senkt seine Wurzeln tief in den ›eigenen‹ Boden. Es ist Eigentum im heiligsten Sinne. Die guten Geister des Herdes und der Tür, des Grundstückes und der Räume: Vesta, Janus, die Laren und Penaten haben ihren festen Ort so gut wie der Mensch selbst« (UA, S. 660). All das bricht mit den Nomaden der Moderne scheinbar wieder auf. Zweifellos fungiert dieser Begriff bei Spengler und vielen anderen jedoch als eine polemische Vokabel ohne konkreten ethnografischen Gehalt. Sie fügt sich als rhetorisches Mittel nahtlos in eine Zeit, in der man die Ursachen tief greifender Umbrüche wie der kulturellen Modernisierung, der Beschleunigung, Rationalisierung, Industrialisierung und der Globalisierung auf Andere zu projizieren beginnt, in denen man eine existenzielle Gefahr wittert. Diese ›Anderen‹ sind es, von denen scheinbar die kon­­­­krete Gefahr eines Weltverlusts ausgeht, gegen die sich die Rhetorik der Verwurzelung eines ›irdischen‹, an eigenen, von Fremden möglichst eindeutig abgegrenzten Grund und Boden gebundenen Lebens stemmt. So bezieht diese Rhetorik eine extreme Gegenposition zu jenen »Luftmenschen«, denen angeblich jegliche Bindung dieser Art abgeht oder die sie sogar aufzulösen drohen.30 Zwar haben diesen Status einer prekären politischen Existenz auch Juden für sich selbst in Anspruch genommen, die sich weniger mit dem Erdboden verbunden als ihrem Blick in den Himmel verpflichtet fühlten (L, S. 39). Viel häufiger aber wurde ihnen dieser Status von anderen zugewiesen, um sie als mit tellurischem Leben 106  |  Kapitel IV 

unvereinbar auszugrenzen. Ihr »bodenloses« Leben, dem jegliche Natürlichkeit ab­gehe (L, S. 22 f., 42 f.), wurde auf diese Weise als »frei schwebendes« und insofern als generell unzuverlässiges verdächtig gemacht.31 Dass in der Erfahrung der Entwurzelung unter den Bedingungen der Modernität auch ein universales Moment liegen könnte, wurde zugleich verleugnet. Stattdessen projizierte man sie vielfach auf eine pathogene Ungebundenheit, die sich als Beziehungslosigkeit jeglicher sicheren Zugehörigkeit zum Leben Anderer zu verweigern schien. Genau das aber wurde von jüdischer Seite auch als erlittenes Schicksal dargestellt.

3. Jüdische Variationen − mit Blick auf Martin Buber

»Des politischen Bodens beraubt«, blieb den Juden kaum etwas anderes übrig, als sich in einem »heimatlosen Wanderleben« als nomadisches »geistiges Volk« zu behaupten − unter Verzicht auf jeglichen Bodenbesitz und -erwerb, allein durch ihren Glauben, ihre Ideen, ihre Ge­­lehrsamkeit, schrieb der russisch-jüdische Historiker Simon Dubnow (L, S. 51). Aber dabei musste es in den Augen der Zionisten nicht bleiben, die darauf hofften, diesen diasporischen Dauerzustand in einem eigenen jüdischen Staat beenden zu können. Wenn sie sich dagegen wandten, sich mit einer unaufhebbaren Diaspora abfinden zu sollen, so bedienten sie sich ihrerseits nicht selten einer Rhetorik der Rückkehr zum »angestammten« Grund und Bo­den im Land der Verheißung. Würde die Rückkehr dorthin nicht endlich die Diaspora, das Exil, das nomadische Leben in einem staatenlosen Nirgendwo beenden können? Würden die nach Palästina Ausgewanderten, die bereits von allen Wurzeln losgelöst oder aber »Wurzeln in der Wurzellosigkeit« geschlagen zu haben schienen, nicht gerade als solche, von der Erde gelöste Wesen eine neue Heimat finden können (L, S. 145, 150)? So ließ der Zionismus auf eine Heimat der Heimatlosen, auf eine neue Verwurzelung der Entwurzelten hoffen, aber unter strikter Zu­rückweisung eines bloßen Sichabfindens mit einem »exilistischen« Leben32 , mit dessen angeblicher Beziehungsund Ort­losigkeit sich man­che derart identifiziert hatten, dass unter Verweis auf ihre mündlichen und schriftlichen Äußerungen mühelos anti-jü­di­sche Ressentiments all derer genährt werden konnten, Unaufhebbare Welt-Fremdheit  |  107

die darauf versessen waren, jene Klischees von einem entwurzelten Leben bestätigt zu finden (vgl. L, S. 117, 157). Andere dagegen befürchteten, indem man wie gewisse Zionisten die Hoffnung auf einen eigenen Grund und Boden weckte, auf dem sich womöglich ein ethnisch und religiös exklusiver Staat behaupten könnte, laufe man Gefahr, alles zu vergessen, worin die Essenz des Judentums als der radikalen Kritik eines bloß ›irdischen‹ Lebens liege (L, S. 64). Anstelle eines »Imitationsnationalismus« müsse man sich auf diese Essenz besinnen. Liegt in ihr nicht das eigentliche Angebot einer für alle Men­schen attraktiven Deutung ihres zwar irdisch situierten, aber die Erde nicht exklu­siv in Besitz nehmenden, sondern für Fremde gastlich aufgeschlossenen Lebens, dem auch eine politische, rechtsstaatliche Lebensform trotz ihrer unvermeidlichen ter­­ritorialen Grenzen gerecht werden muss? Zweifellos ist »der Mensch […] kein Baum« (Joseph Roth) − und die Menschheit »kein Wald«, wie Emmanuel Levinas hinzufügt.33 Damit wird jedoch nur auf die gefährlichen politischen Implikationen einer leichtfertigen terranen und biologischen Metaphorik hingewiesen, ohne dass man im gleichen Zug bestreiten müsste, dass auch ein nicht ›verwurzeltes‹ Leben unvermeidlich an Ort und Stelle oder auch in einem nomadischen, mehr oder weniger weiten Lebensraum gelebt werden muss, der unter Bedingungen der Modernität und einer weltweit erschlossenen und nationalstaatlich gegliederten Erde darauf angewiesen ist, politisch-recht­lich geschützt zu werden. Daraus muss wiederum keineswegs folgen, dass ein Rechtsstaat nach dem Muster einer exklusiven Nationalität zu formen ist. Muss ein moderner Rechtsstaat nicht vielmehr der Anforderung gerecht werden, sich auch zu all jenen gastlich aufgeschlossen zu verhalten, die wie Diogenes auf ihrer individuellen oder wie ein Christ oder ein Jude auf ihrer religiösen bzw. spirituellen Welt-Fremd­heit beharren und sich weigern, je irgendeiner politischen Lebensform gewissermaßen ›restlos‹ zugehören zu sollen? Sollte die Moderne nicht genau dafür die politische Lizenz gewährleisten, sich jederzeit eine eigene Lebensform zu suchen (L, S. 33), um ggf. auch als radikal Unzugehöriger, aber die gleiche Freiheit Anderer Achtender leben zu können? Müssen sich nicht die Bedingungen eines un­vermeidlich situierten Lebens mit der Form eines nicht-ex­k lusiven Rechtsstaats einerseits und mit 108  |  Kapitel IV 

einer diasporischen Exteritorialität aller Anderen andererseits (L, S. 166) verknüpfen lassen, die als Welt-Fremde in keiner ethnischen Zugehörigkeit und in keiner politischen Mitgliedschaft je aufgehen können? Muss man diese Exterritorialität aber als eine Art vorpolitische Vogelfreiheit beschreiben, nur um zu vermeiden, dass die Freiheit jedes Anderen, die nicht zuletzt in seiner Fremdheit liegt, einer politischen Lehre ›irdischen‹ bzw. ›verwurzelten‹ Lebens ausgeliefert wird, die von dieser Fremd­heit nichts wissen will? Wie diese komplexe Problemstellung sowohl durch Lobreden auf ein verwurzeltes Dasein wie auch durch die Denunziation eines verdächtigen Nomadentums oder durch das Fest­halten an einem exilistischen, diasporischen oder nomadistischen Leben unterlaufen wird, zeigen die politischen Schriften Martin Bubers, der bereits vor dem Ersten Weltkrieg für ein ›or­­ganisches‹ Verständnis jüdischen Lebens eintrat und sich energisch gegen jede po­sitive Deu­­tung des entwurzelten Daseins sogenannter Luftmenschen wandte (L, S. 93 ff.). Und doch warn­­­te er davor, alles vom Boden zu erwarten, in dem man vermeintlich »Wurzeln schlagen« kann, wie es einem Zionismus à la Chaim Weizmann offenbar vorschwebte (L, S. 110). Für Buber stand fest, dass man auf der Grundlage der kopernikanischen Kosmologie kein neues »Welthaus« errichten kann, in dem man sich gleichsam wohnlich einrichten könnte.34 Längst ist in seiner Sicht mit der modernen Physik eine Epoche des endgültigen, in Wahrheit jedoch viel älteren Unbehaustseins in der Welt angebrochen. Aber für ihn musste diese Entwicklung keineswegs derart beunruhigend wirken, wie sie es offenbar für andere war, die durch Prozesse der Entzauberung, der Rationalisierung oder auch der Dezentrierung überkommener Weltbilder vor allem eines in Frage gestellt sahen: eine angeblich dem Menschen − oder vielmehr den Sesshaften unter ihnen − zukommende ursprüngliche Verwurzelung in der von ihnen bearbeiteten, geerbten oder okkupierten Erde. Statt wie später Carl Schmitt mit einer politisch reaktionären Renaissance eines No­mos der Erde zu liebäugeln, der eine exklusive Inbesitznahme eigenen und die rücksichtslose Aneignung vermeintlich menschenleeren fremden Bodens legitimieren könnte, wusste sich Buber einer Überlieferung verpflichtet, die das selbst von Hegel Unaufhebbare Welt-Fremdheit  |  109

als ›allgemein-menschlich‹ ausgegebene Bedürfnis, »in der Welt heimisch und zu Hause zu sein«, tausende von Jahren vor dem Anbruch der Moderne radikal relativiert hatte. Diese Überlieferung hatte alle Menschen, nicht nur das »auserwählte Volk« Gottes, seit jeher in die Wüste absoluter Verlassenheit vom Anderen versetzt gedacht. Die Welt insgesamt oder auch nur einen Teil der Erd­oberfläche zu einer endgültigen Heimat des Menschen erklären zu wollen, musste in dieser Sicht immer schon als abwegig erscheinen. Dennoch beschwört Buber häufig die Werte35 ursprünglicher Verwurzel­ung, des Blutes und der Substanz einer exklusiven, terranen Gemeinschaft, die ihre Einheit gegebenenfalls auch durch »Ausstoßung des Negativen« gegen die »Welt des Bedingten«, der Zerstreuung oder der Ver­triebenheit (Galuth) zu gewährleisten versuchen sollte. 36 Gibt sich Buber damit nicht als Verteidiger eines ethnisch und religiös exklusiven Lebens zu erkennen, das er zugleich ›unbedingten Ansprüchen‹ unterworfen sehen wollte? Wie geht seine Lobrede auf ein idealiter rein endogam reproduziertes Volk, das sich seines Erachtens als ein möglichst »geschlossene[r] Kreis von Zeugungen und Geburten« zu erweisen hätte37, mit seiner nachdrücklichen Kri­tik an einem Nationalismus zusammen, der vergisst, dass die Achtung jener An­­sprüche ein Vorbild für alle Menschen sein sollte?38 Hat Buber nicht die Versuchung, den »Verlust des geschlossenen Kosmos« durch ein »Verlangen nach Bergung« in einem »leiblichen Haus der Nation« kompensieren zu wollen, als Irrweg kritisiert?39 Wenn vom Anderen als Fremdem ein unbedingter Anspruch ausgeht, wie kann man dann einer exklusiv sich als Gemeinschaft, Volk oder Nation erhaltenden Lebensform das Wort reden?40 Buber versteht das menschliche Selbst als »allem gastfrei zugeneigt, was kommen mag«41 − allem voran der Anspruch des Anderen, der jeder andere sein kann. Aus­drücklich bekennt er sich zu einer unbedingten Rückhaltlosigkeit der In-Em­pfang-Nah­me dieses Anspruchs, die auf jegliche Vereinnahmung des Anderen zu verzich­ten habe.42 Dabei weiß er, dass gesellschaftliches Leben unter ökonomischen und politischen Bedingungen unvermeid­ lich eine Vielheits-Anderheit bzw. vielgesich­­­­tige Anderheit43 mit sich bringen muss, die nicht nur mit einer unaufhebbaren Viel­zahl konfligierender Ansprüche, sondern auch mit einer irreduzib­len 110  |  Kapitel IV 

Pluralität von Lebensformen einhergeht. Diese Lebensformen lassen sich zumal als individualisierte und experimentelle nicht mehr auf einen Nenner bringen − auch nicht auf den Nenner eines Nomadismus, der ein nicht mehr terranes, de-lokalisiertes und unstetes Leben zur neuen Norm erklärt und dabei suggeriert, in einer nomadischen Lebensform wür­den die Menschen im Grunde nur zu den ältesten, ihnen in Wahrheit gemäßen For­men des Lebens zurückkehren. Für Buber ist demgegenüber die Erfahrung der Diaspora nur der nachträgliche Ursprung einer Sehnsucht nach einer »Urverbundenheit« mit einem Grund und Boden, in dem er die Juden eines Tages wieder verwurzelt sehen will. Er hält es für einen historischen Irrtum, das jüdische Volk als ein nomadisches und insofern besonderes auszugeben. Wurde es nicht erst infolge eminenter Gewalt nomadisch und damit dem »Taumel der Welt preisgegeben«?44 Die daraus folgende Erfahrung der Zerstreuung, der Ernied­rigung und der Heimatlosigkeit solle man nicht unter Hin­weis auf das Messianische positiv umdeuten, insistiert Buber und lässt sich nicht davon abhalten, auf der Spur eines »latenten Orientalismus«45 der ur­sprünglichen Verwurzelung eines »weltverhafteten« und »welteingebannten« Lebens nach­zugehen, das es für die Juden zu rehabilitieren gelte.46 Was aber in dieser Art und Weise für jüdisches Leben, so wie es sich Buber vorstellt, gelten mag, dass es nämlich eine »hebrä­ ische Verbundenheit mit der Erde« er­neuert, deren Gesetze mit den »Gesetzen des Geistes« angeblich geradezu zusam­menfallen, kann gerade nicht für an­dere Lebensformen gelten. Insofern erscheint Buber »die Gemeinschaft der Men­schen [als] ein Chaos, das wir zu ordnen ha­ben, eine Diaspora, die wir zu sammeln, ein Widerstreit, den wir zu versöhnen haben«. 47 Verspricht indessen die Erinnerung an »Werte« der Verwurzelung, der Erdung und der Hei­mat in einem angestammten Grund und Boden, die so auffällig mit der Be­schwörung eigener Herkunft aus jener bis in die Sprache hinein sich ausbreitenden Wüste kontrastiert, auch eine Lösung für diese Diaspora? Verspricht sie eine Lösung für eine Diaspora, die Buber hier offensichtlich nicht auf die Juden allein beschränkt sieht − obgleich er zweifellos vor allem sie im Sinn hat, wo er ein »Preisgegebensein unter die Gewalt der Fremden« beschreibt, das nicht erst Unaufhebbare Welt-Fremdheit  |  111

in unseren Tagen nagende Zwei­fel an Bubers kryptohegelianischer Hoffnung auf eine »werdende Versöhnung« weckt?48 Wahre Gemeinschaft zwischen den Menschen »wird erst«, befand Buber. Aber läuft diese Hoffnung auf ein nicht mehr zu »verwüstendes«, künftiges »Haus der Ge­­­­meinschaft« hinaus, in dem man sich wieder wohnlich einrichten könnte, ungeach­­tet einer fortbestehenden »Abhängigkeit von der Gewalt einer fremden Welt«?49 Mit solchem »Buberschen Denken« geht seit langem eine radikale Kritik der Gemeinschaft hart ins Gericht, die jene diasporische Exterritorialität als eine in keiner sozialen oder politischen Lebensform aufzuhebende Fremdheit eines jeden affirmiert und daraus dem Anschein nach einen allgemeinen Anspruch ableitet (SD, S. 112): Diese Fremdheit, die kein Privileg irgendeiner Ethnie oder Religion ist, soll unbedingt geachtet werden. Nicht nur soll jeder »ohne Angst anders« (d. h. verschieden) sein und denken dürfen, wie man es von Rosa Luxemburg bis Theodor W. Adorno gefordert hat 50; niemandem soll darüber hinaus die Freiheit eines Fremden genommen werden. In der Fremdheit des Anderen liege seine Freiheit 51, stellte Levinas unter Rückgriff auf die gleiche, jüdische Überlieferung fest, auf die sich auch Buber berief, dem er allerdings vorwarf, sie in entscheidenden Hinsichten missverstanden zu haben: − Der An­­dere steht nicht in einer (reziproken) Relation zu uns. − Jeder andere kann uns als Anderer begegnen − ohne sich dabei auf ein ›Du‹ zu reduzieren52 − und so zum Nächsten werden, wie es schon Hermann Cohen gelehrt hatte. − In seiner singular-pluralen Ander­heit liegt eine Fremdheit, die jeder situier­­ten Lebensform und jedem gleichsam eingezäunten Staat (nómos) abverlangt, sich ihr gegenüber als gastlich aufgeschlossen zu erweisen. − Und das ist wiederum keiner privilegierten, exklusiven Überlieferung zu entneh­men, sondern wird in einer Sozialphilosophie entfaltet, die sich (methodisch) phänomenologisch legitimiert und sich nicht auf eine offenbarte Wahrheit stützt (jedenfalls nicht im Modus der Berufung auf sie). In diesem Sinne beansprucht sie eine religio oder religatio an den Anderen aufzuweisen, die angeblich »ohne Religion« auskommt.53 Aber ist das mehr als nur ein frommer Wunsch? Beweist nicht die Art und Weise, in der vor allem Levinas, aber auch Derrida und Blan­chot ein Denken nicht bloß situierten, sondern auch ir112  |  Kapitel IV 

disch verwurzelten Lebens zurück­gewiesen haben, das scheinbar keinerlei ursprüngliche religio an den Anderen kennt, wie viel diese Kritik einer religiösen Apologie wenn nicht nomadischen, so doch weder der Er­de noch irgendeinem Boden, Ort oder Raum das Geringste verdankenden Lebens schuldet?

4. »Humanes Wesen des Nomadentums« und das »rechte ­Erdendasein«

So brandmarkt Levinas, immer wieder mit Blick auf Heideggers Ontologie des Daseins, einen »Aberglauben des Ortes« und eine heidnische Be­schwörung der »Geister des Ortes«. 54 Das ontische Vorbild, nach dem dieses Dasein in Sein und Zeit mo­delliert wird, scheint ihm auf eine »heidnische« Besitz- und Bodenkultur zu ver­ weisen, die keine ursprüngliche Verpflichtung oder Verantwortung dem Anderen als Fremdem gegenüber kenne. Deshalb sei sie ungerecht schon dadurch, dass sie die Ur-Aufgabe der Gastlichkeit vergessen lasse und auf einen »Kult des Eigenen« fokussiert bleibe.55 Gerade deshalb aber bringt Levinas eine gewisse Sympathie für Heideggers Analyse der Technik auf. Heidnisch, das ist in seinem Verständnis »das Eingepflanztsein in eine Land­schaft, die Verbundenheit mit einem Ort, ohne den das Universum bedeutungs­los würde und kaum existierte«. Diese Verbundenheit, suggeriert Levinas, beschwört eine »Spaltung der Menschheit in Einheimische und Fremde« herauf. »In dieser Perspektive ist die Technik weniger gefährlich als die Geister des Orts. Die Technik beseitigt das Privileg dieser Verwurzelung und des Exils, das sich darauf beruft. Sie befreit von dieser Alternative. Es geht nicht darum, zum No­ma­den­ tum zurückzukehren, das ebenso unfähig ist wie das seßhafte Le­ ben, einer Landschaft und einem Klima zu entrinnen. Die Technik entreißt uns dieser Hei­­deg­­­­gerschen Welt und dem Aberglauben des Orts. Von nun an zeigt sich eine Chance: die Menschen außerhalb der Situation wahrzunehmen, in der sie sich vorübergehend aufhalten, das menschliche Antlitz in seiner Nacktheit aufleuchten zu lassen« (SF, S. 174). Hier wird offenbar nicht die Sehnsucht nach einer Verwurzelung an einem Ort als solche diskreditiert; vielmehr wird sie nur insofern zurückgewiesen, als sie Einheimische und Unaufhebbare Welt-Fremdheit  |  113

Frem­­de so gegeneinander ausspielt, dass letztere ethisch geradezu ihr Gesicht verlieren. An anderer Stelle aber geht Levinas weit über diese Kritik hinaus und greift das ontologische Denken als solches an. Nicht nur haftet es an fragwürdigen ontischen Vorbildern, die dann in Existenzialien umgemünzt wer­den, es scheint auch geradezu vorzuschreiben, was im Sinne einer »Weihe des Bauens und Wohnens inmitten einer ver­­­­­­­­­­­trauten Landschaft auf einer mütterlichen Erde« zu tun ist: »Anonym, neutral, befiehlt das ›Sein‹ das Exi­­­s­­tieren als ethisch in­d ifferentes und als heroische Freiheit, der alle Schuld vor dem Ande­­ren fremd ist.«56 Für Levinas repräsentiert das Werk Heideggers nicht nur eine Ontologie der Verwurzelung, der Bodenständigkeit, der Situierung menschlichen Daseins; vielmehr rechtfertigt es seiner Meinung nach auch eine ethisch indifferente, ja rücksichtslose Besetzung exklusiv angeeigneten Le­­­­­­bensraums. So gesehen hätte es sich passgenau in die Eroberungs­politik des NS-Staates eingefügt.57 Maurice Blanchot scheint Levinas’ Einschätzung, dass auf diese Weise Heideggers Onto­logie tatsächlich getroffen ist, geteilt zu haben. In scharfen Worten verurteilte er im Jahre 1987 in einem offenen Brief über die »Affäre H. und H.« (Hitler und Hei­­degger) ein Denken, das als »Ausdruck seiner tiefen Bindung zum […] heimatlichen Boden, zu seiner entschlossenen Verwurzelung« und in seinem Hass auf jeg­­liche Urbanität eine nicht zu leugnende Affinität zu einem gefährlichen, am Ende rassistischen Nationalismus aufweise. 58 Nicht diese längst ausführlich diskutierte Kritik, sondern das, was mit Levinas oder Blanchot an deren Stelle zu setzen wäre, soll aber hier näher betrachtet werden.59 Letzterer scheint – in eigentümlich indirekter Art und Weise, nicht in der Form einer These, deren pro und contra man abwägen könnte − zu bestreiten, dass »die Wahr­­­heit seßhaft geworden« sei, und beschwört, Levinas immer wie­der nahe kom­mend, die Erfahrung einer Nacktheit, die auf die Spur einer »unendlichen Fremdheit« führe und die »Unmöglichkeit für den Menschen, dem Sein zu entkommen«, in Frage stelle. 60 Angesichts dieser Fremdheit versage die Sprache; und so breite sich die Wüste in ihr aus.61 Hier geht es nicht um einen geografischen Ort oder Raum, sondern darum, auf der Spur einer uns stets entzogenen Gegenwart zu sein, 114  |  Kapitel IV 

die die menschliche Stimme auf den Plan ruft − eine Stimme, »die der Wüste bedarf, um in ihr zu schreien[,] und die ohne Unterlaß den Schreck­en, das Wissen um die Wüste und die Erinnerung an sie in uns wachruft«. 62 Gewiss: Hier ist von prophetischer Sprache und von der spirituellen Praktik einer »Heim­kehr in die Wüste« die Rede, »wie sie von den nomadisierenden Sekten der Rekkabiter im 9. Jahrhundert in die Tat umgesetzt wurde«. Aber daraus wie auch aus dem Schicksal der Leviten, jenes »Stammes ohne Landbesitz« inmitten anderer, die »endgültig ortsfest« geworden waren, liest Blanchot »die Vorahnung eines beweglichen Daseins«, die Abwei­sung einer »geschlossenen Welt« und die Spur ei­n­er Einsamkeit ab, in der man nicht mehr allein sein müsste. Diese Lobrede auf eine richtig verstandene, rückhaltlose Entwurzelung kulminiert schließlich in der Diagnose, hier hätten wir es mit dem Vorschein eines Lebens zu tun, »das dem rechten Erdendasein zugrunde liegt« bzw. liegen müsste. Blanchot geht es an dieser Stelle nicht um das Vorbild einer partikularen, kaum zu verallgemei­­nernden Lebensform, sondern um ein »Erlebnis der Wüste«, das eine »vielschichtigere, eine beängstigendere Erfahrung« freizusetzen vermöge, nämlich eine Wüste, die »ohne Zeit und ohne Raum« bleibe und die man nicht hinter sich lassen könne. »Sie ist die Zeit einer Verheißung, die nur in der Leere des Himmels und der Unfruchtbarkeit einer nackten Erde wirklich ist und die den Menschen nicht hier sein läßt, sondern immerwährend außerhalb. Die Wüste ist jenes Außerhalb, in dem man nicht bleiben kann, da Hiersein immer schon Außerhalb-sein bedeutet.«63 Mitnichten wird hier eine bestimmte, etwa nomadische Lebensform angepriesen (die unter anderen ökologischen, etwa »silvanischen« Bedingungen nicht vorstellbar wäre 64); vielmehr wird uns die Frage nahegelegt, ob wir es hier nicht mit einer Urszene zu tun haben, in der der Sinn der Sprache − immer wieder neu − gestiftet wird. 65 Dem­zu­folge können nur Wesen sprechen, die immer schon und auf Dauer außerhalb und dabei außer sich sind, die sich aber stets aufs Neue daran erinnern müssen, wollen sie in einem »rechten Erdendasein« ein »Hiersein« begründen, das sich wirk­lich zum Anderen als Anderen hin wendet. Wie sollte das möglich sein, legt uns Blanchot nahe, wenn wir vergessen, dass der Andere niemals in diesem Hier, ›an Ort und Stelle‹, aufgehen kann? Unaufhebbare Welt-Fremdheit  |  115

In diesem Sinne, vermute ich, erinnert Levinas mit Blanchot an das »humane Wesen des Nomadentums«, das jeden, ob faktisch sesshaft oder nicht, daran gemahne, dass jeder Andere »außerhalb« bleibe und sich jeglicher Besitzergreifung entziehe. Hier geht es nicht um »verhinderte Sesshaftigkeit«, sondern um eine »irreduzible Be­ziehung« zu Anderen und zur Welt in einem »Aufenthalt ohne Ort« bzw. ohne okkupierten Ort, oder anders: in einem Aufenthalt, der stets einen Spielraum des Außerhalb-Bleibens einräumt. 66 So gesehen hieße, den humanen Sinn des Nomaden­tums zu bezeugen zugleich, an den ethischen, gastlichen Sinn menschlicher Lebensformen zu erinnern, die nicht ohne unser praktisches Zutun Gestalt annehmen. Wenn das zutrifft, werden wir hier nicht dazu aufgefordert, gewissermaßen das kul­tur­ge­schichtliche Rad zurückzudrehen und zu archaischen Lebensformen zurückzukehren; und wir werden auch nicht zu einer treuen Lektüre heiliger Texte, sondern zur Revision der sozialontologischen Grundlagen eines Denkens aufgefordert, das implizit ausgehend von frag­w ürdigen ontischen Vorbildern ein einseitiges oder verzerrtes Bild davon entwirft, wo­rum es uns in unserem Sein geht. Um das Dasein selbst geht es, gewissermaßen als Selbstzweck, hat man unter Berufung auf Heideggers Sein und Zeit behauptet. Der Erinnerung an gewisse nomadische Praktiken aber entnimmt Blanchot eine andere Lehre: die Erinnerung an eine vielleicht nur der Kunst ans Herz zu legende Artikulation eines Außerhalb oder einer Exteriorität67, wie Levinas sagen würde, ohne die wir niemals ein Hier und Jetzt einnehmen und zur Sprache bringen könnten. Statt vom Hintergrund einer raum-zeit­lichen Gestalt der Erfahrung spricht Levinas mit Blick auf Blanchot und mit Paul Valéry vom »schwarzen«, untergründigen Licht des irrealen »tiefen Einst« einer Unvordenklichkeit, die wir niemals in unserem Vorstellen und Denken aufzuheben vermögen.68 Über diese Exteriorität können wir vielleicht nicht sprechen. Aber das heißt nicht, dass man von ihr schweigen müsste, wie es mit Ludwig Wittgensteins Tractatus zu verlangen wäre. Denn sprechen wir nicht unvermeidlich stets von ihr aus?69 Bringen wir sie nicht unvermeidlich indirekt mit zur Sprache − aber ohne je im Sag­baren aufgehen zu können? Haben wir sie nicht immer schon im Rücken, wenn wir uns ›hier und jetzt‹ äußern, ohne das Geschehen des Sagens je im Gesagten aufheben zu 116  |  Kapitel IV 

können? Das heißt eben nicht, dass man dieses Geschehen ›vergessen‹ müsste, wie es Hegel in der Phänomenologie des Geistes lehrte. Es zeigt sich praktisch und wird im Empfang des Anderen, den man nicht dazu zwingt, seine Fremd­heit aufzu­ge­ben, ausdrücklich gewürdigt und auf diese Weise bezeugt. Blanchot und Levinas stimmten keineswegs darin überein, inwieweit der Kunst bzw. speziell der Literatur und/oder einer neuartigen Ethik zuzutrauen wäre, dieses Sich-Zeigen wie­der­um als Phänomen aufweisen zu können.70 Doch möchte ich im Folgenden nicht diese subtile Diskussion fortspinnen, sondern der bereits aufge­worfenen Frage weiter nachgehen, worin der politische Ertrag jener Erinnerung an den humanen Sinn des Nomadentums liegen könnte, sofern er sich nicht in ein­em modischen new nomadism oder in einer den heutigen Lebensbedingungen konformen, von der Liquidität und Flüchtigkeit des Geldes beherrschten Lebenskunst erschöpft.

5. Wahrheit vs. Sesshaftigkeit in politischer Hinsicht

In seinen Reflexionen über Das Unzerstörbare attestiert Blanchot dem Judentum scheinbar ohne Umschweife eine »nomadenhafte Wahrheit« − wohlgemerkt nicht eine Wahrheit des Nomadentums als einer bestimmten Lebensform. Und doch rekurriert er in seiner Antwort auf die Frage, was es heute bedeutet, Jude zu sein, auf die Erfahrung des Exodus und des Exils; und zwar als einer »richtigen Bewegung«, die uns die irreduzible »Forderung der Fremdheit« lehre.71 Durch die »Macht dieser Erfahrung«, so sagt er, lernten wir geradezu sprech­en. »Wir«, d. h. wir alle? Alle, die dies lesen und sich selbst davon überzeugen können? D. h. letztlich womöglich alle Menschen? Wird also aus der diasporischen Erfahrung eine Wahrheit aller abgeleitet? Und schlägt so nun doch eine Wahrheit des Nomadentums in eine ›nomadenhafte Wahrheit‹ um, die niemandes Besitz ist und die nirgends exklusiv in Beschlag zu nehmen ist? Und würde umgekehrt diese Wahrheit doch eine ihr in höchst zweifelhafter Art und Weise ›entsprechende‹ Lebensform erfordern? Sehen wir näher hin, so zeigt sich in der Tat, dass Blanchot der jüdischen Erfahrung einen exemplarischen Wert zuerkennt; sie Unaufhebbare Welt-Fremdheit  |  117

lehre nämlich, dass man sich auf den Weg machen und hinausgehen muss; und zwar um gerecht sein zu können. Wer bei sich bleibt, kann nicht gerecht sein. Nur wer auch sich selbst verlässt und so eine Schwelle überschreitet, um zum Anderen, jenseits seiner selbst, ja sogar zum Jenseits des Seins vorzudringen, kann demnach überhaupt gerecht zu sein versuchen. Dabei gibt Blanchot nicht vor, zu wissen, was denn jenseits ›liegt‹ − im Gegensatz zu einer Philosophie, die von Platon bis Levinas auf die eine oder andere Art lehrte, das Jenseits-des-Seins sei gerade das, was im Sinne des Guten über das Sein hinausweise. Doch schließt er sich einer Rhetorik der Überschreitung an, in der man über sich selbst hinausgelangen können soll, nicht unbedingt allerdings in Richtung auf ein ›Höheres‹. Die Transzendenz des Übersichhinausgehens72 kann nicht mit Gewiss­heit als ein Aufsteigen zum Anderen des Seins, zu einem guten Anderen oder zum schlechthin Guten ausgegeben werden.73 Womöglich liefert sie uns vielmehr einer radikalen Fremdheit aus, aus der es, wie vom Tod, keine Rückkehr zu sich mehr geben kann. Blanchot vermeidet jegliche affirmative Aussage über das Jenseits-des-Seins. Primär negativ glaubt er jedoch in der jüdischen Geschichte eine radikale »Forderung der Trennung« im Sinne der Lösung von der Erde erkennen zu können. Das ist es, worin sich das Judentum von allem »Heidentum« abhebe (DU, S. 184).74 Es erwarte keinerlei Beglaubigung durch irgendeinen Grund oder Boden. Vielmehr vergewissere es sich seiner selbst in der Jahr für Jahr erneuerten Erfahrung des Exodus, des Im-Exil-seins; und zwar »an einem Ort, der kein Ort ist und an dem es unmöglich ist, ansässig zu werden«. Mit Blick auf diesen Nicht-Ort ist das jüdische Volk nun aber doch sesshaft geworden, ohne seine Bestimmung zum Exil aufzugeben. Paradoxerweise inszeniert es nunmehr stets von Neuem seinen »Aufenthalt ohne Ort« ausgehend von einer machtvollen Inbesitznahme von Orten und Räumen, die es po­litisch exklusiv für sich in Anspruch nimmt − immer aber in dem Bewusstsein, meint Blan­­­chot, dass auf diese Weise »jede feste Beziehung der [politischen] Macht mit einem Individuum, einer Gruppe oder einem Staat zerstört« werden muss (DU, S. 185). Verbietet sich somit nicht auch ein identitäres kollektives Selbstbewusstsein? Oder bleibt die Macht einer derartigen politischen Identität unangefochten erhal­ten, wenn man sich da­rauf beruft, 118  |  Kapitel IV 

ihr zum Trotz in radikaler Weise der ursprünglichen und unverjährbaren Wahrheit eines Exodus, eines Exils, einer Diaspora und eines auf der Erde nirgends mehr endgültig zum Stillstand kommenden metaphysischen Nomadentums verpflichtet zu sein? Stärkt womöglich die politische Inanspruchnah­­me dieser Wahrheit durch die Deklaration, par excellence − und zwar in einer für alle Menschen letztlich vorbildlichen Art und Weise − Fremder zu sein, das ver­meintliche Vorrecht einer derartigen Identität? Wer auf den Spuren Abrahams »sich als Fremder erklärt«75 , der ist doch keineswegs mehr rückhaltlos »der Fremdheit ausgeliefert«; vielmehr droht er aus dieser »eine Macht, ein Privileg, ein Königreich und einen Staat zu machen«; und all dies so, dass Anderen unvermeidlich die gleiche Fremdheit abgesprochen wird, oder so, dass Andere nur noch auf der Spur einer dem Ju­dentum ursprünglich eigenen Fremdheit wandeln könnten (DU, S. 185 f.). Nicht nur stellt sich hier die Frage, wie man »gleichzeitig Vagabund und Ansässiger« sein kann − ein angeblich spezifisch jüdischer Widerspruch, der den »jüdisch­en Menschen« geradezu ausmacht, wie André Neher erklärt (ebd.). Es geht auch darum, ob Fremdheit überhaupt für sich selbst in Anspruch zu nehmen ist (indem man sich zum Fremden erklärt), ohne sie vollkommen miss­ zuverstehen; und es geht darum, ob man für sich selbst gleichsam re­servierte und in Anspruch genommene Fremdheit sich selbst zusprechen kann, ohne sie im gleichen Zug Anderen abzusprechen. Würde das nicht geradezu auf eine Negation jener verallgemeinerten Wahr­heit des Nomadentums hin­­auslaufen müssen, die »im Umherirren eine neue Beziehung zum ›Wahren‹« hatte stiften sollen? Darf die »authentische Form des Blei­bens«, die Blanchot über ein bloß privatives Ausgeschlossensein von der Wahr­heit hinausgehend in der Wahrheit des Nomadentums als eine nomadische Wahrheit sich ankündigen sah, politisch in Anspruch genommen werden? Wird sie sich in diesem Falle nicht unvermeidlich ihrerseits in einer Ethnie, Religion, Nation oder Staatlichkeit gleichsam niederlassen und sich im gleichen Zug gegen ihren eigentlichen Sinn kehren? In der Tat: »[D]er Zustand der Sesshaftigkeit« muss nicht »notwendig das Ziel eines je­den Ver­haltens« sein. »Als ob die Wahrheit selbst notwendig seßhaft wäre!« (DU, S. 187.) Aber muss die WahrUnaufhebbare Welt-Fremdheit  |  119

heit − auch die Wahrheit einer diasporischen oder nomadischen Identität − nicht in gewisser Weise sesshaft werden, wenn man sie für eine Nation oder einen Staat in Anspruch nimmt? Wie kann die erklärte »Weigerung, das ›Konzept‹ des Wahren auf das Bedürfnis des Bleibens zu gründen«76 , davor bewahrt werden, gerade als diese Weigerung politisch exklusiv in Anspruch genommen und auf diese Weise geradezu konterkariert zu werden? Würde auf diese Weise nicht aus dem schicksalhaften Widerfahrnis (páthos) der Fremdheit ein identitäres Selbstbewusstsein von Fremden, die sich als solche behaupten und zugleich Anderen absprechen, ihrerseits als ›Fremde‹ im eigentlichen Sinne gelten zu dürfen? Hat nicht in den Augen von Levinas, dem Blanchot sehr weitgehend zu folgen scheint, die Fremdheit zuallererst als Fremdheit des Anderen zu gelten? Und kommt sie nicht vor jeglichem Geltungsanspruch, ursprünglich vom Anderen her als Erfahrungsanspruch ›zur Geltung‹? Aber als ein Anspruch, der sich jeg­licher identitären Verfügung über ihn widersetzen muss? Liegt nicht erst in der so verstandenen Fremdheit des Anderen auch dessen Freiheit? Wenn der Staat (oder das Politische) ganz und gar auf die Achtung der Freiheit des Anderen und aller Anderen verpflichtet zu denken ist, wie man es von Hegel bis Adorno gelehrt hat, muss man dann nicht den Schluss ziehen, dass der politische Staat es sich nur zur Aufgabe machen kann, eine befremdliche Freiheit zu achten, über die er so wenig wie diejenigen, die ihn tragen, je praktisch verfügen dürfte? Müsste er sich insofern nicht jeglicher Inanspruchnahme von Fremdheit widersetzen? Wäre er nicht vielmehr gerade der Fremdheit derer verpflichtet, die ihm niemals zugehören − schon gar nicht ›restlos‹? Und zwar weder als von außen kommende Fremde noch auch im Innern als Zugehörige und Mitglieder? Müsste er sich nicht in seinem Inneren wie auch in seinen Außenverhältnissen als außerordentlich gastlich erweisen gegenüber dem unverfügbaren Anspruch des Anderen, ohne je Gastlichkeit für sich in Anspruch nehmen zu dürfen? Denn würde letzteres nicht bedeuten, sie gegen An­dere als politisches Unterscheidungsmerkmal einer eigenen Identität in Beschlag zu nehmen und die Gastlichkeit explizit oder implizit Anderen abzusprechen? Müsste ein wie auch immer hospitabler Staat auf diese Weise nicht unvermeidlich in Widerspruch zu

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seiner angeblich in der Gastlichkeit für den Anderen auf­ge­schlos­ senen Identität geraten?77 Fragen über Fragen. Jude sein, das heißt in den Augen Blanchots: von der ursprünglichen Erfahrung einer dia­­spo­rischen Welt-Fremdheit her leben. Aber wenn man daraus eine politische Leh­re ziehen will, so kann das m. E. nur gelingen, wenn man bedenkt, dass diese Fremdheit nicht ohne eklatanten Widerspruch für sich selbst in Anspruch zu nehmen und dass sie konsequent vom Anderen her zu denken ist − wie es Levinas versucht hat. Für ihn wie für Blanchot (zumindest in diesem Kontext) besagt der An­spruch, diese Lehre zu ziehen: mit jemandem (d. h. gegebenenfalls mit jedem − auch mit dem schlimmsten Feind) so zu sprechen, dass nicht die Bedingung gestellt wird, er müsse sich in irgendein »System der zu erfahrenden Dinge« einfügen; es bedeute, »ihn als unbekannt anzuerkennen und ihn als fremd aufzunehmen, ohne ihn zu zwingen, seine Differenz aufzuheben. In diesem Sinne ist die Sprache das verheißene Land, wo das Exil sich als Aufenthalt erfüllt, weil es sich nicht darum handelt, dort bei sich, sondern immer im Außen zu sein, in einer Bewegung, in der das Fremde sich preisgibt, ohne sich aufzugeben« (DU, S. 189). Wenn Sprechen in diesem Sinne letztlich bedeuten soll, »nach der Quelle des Sinns im Präfix zu suchen, das die Worte Exil, Exodus, Existenz, Exteriorität, Fremdartigkeit [étrangeté]« entfalten sollen, dann müsste sich auch der Staat als die »politische Bleibe« eines tief von diasporischer Geschichte geprägten Volkes von dem her denken lassen, was ›draußen‹ oder ›außen‹ bleibt – von woher der Andere als Frem­der kommt und wohin er zurückkehrt, nicht erst im Tod, sondern immer wie­der in jener von Levinas beschriebenen Rekurrenz seiner Anderheit, die sich zwisch­enzeitlich bemerkbar macht.78 Vor einer identitären Inanspruchnahme einer Wahrheit, die der welt-fremden Ander­heit des Anderen zugesprochen wird, sucht Blanchot sich offenbar in Acht zu nehmen, wenn er feststellt, die Juden seien nicht »in der Weise von den anderen verschieden, wie es uns der Rassismus einreden möchte«, sie legten aber Zeugnis ab von einer »Beziehung zur Differenz, von der uns das menschliche Antlitz, so wie es Levinas ausdrückt (das, was im Antlitz nicht auf die Sichtbarkeit zu reduzieren ist), die Offenbarung vermittelt und Unaufhebbare Welt-Fremdheit  |  121

für die es uns die Verantwortung überträgt; sie sind keine Fremden, aber rufen uns die Forderung der Fremdheit in Erinnerung« (DU, S. 191). Auch in dieser sehr vorsichtigen Deutung dessen, wozu uns jene »nomadische Wahr­heit« herausfordert, bleibt jedoch das meiste − zumindest philosophisch − äu­ß­erst frag-wür­dig. Wie sollte man sich einfach auf eine Offenbarung stützen dür­­fen − so als ob es hier um einen empirischen Befund oder um Berufung auf eine privile­gierte Erfahrung gehen könnte, der nicht erst mühsam abgewonnen werden müss­­te, wie sie uns mit dem Anspruch des Anderen als Anspruch (oder gar Anrecht) auf etwas (etwa auf unsere Verantwortung) konfrontiert? Selbst wenn sich dies mit phänomenologischen Mitteln oder im Rahmen einer Hermeneutik des entsprechenden Zeugnisses hinreichend verständlich machen ließe, wie ergäbe sich daraus eine Forderung im Hinblick auf nicht nur einen Anderen, sondern auf viele Andere? Im Horizont einer bei Buber (s. o.) Vielheits-Anderheit genannten Pluralität erst werden wir mit der Frage konfrontiert, wie man (bzw. jeder Einzelne als solcher) Anderen unter anderen Anderen gerecht werden soll und wie miteinander konfligierende Ansprüche zum Ausgleich, wenn schon nicht zur Versöhnung zu bringen sind. Und ob sich daraus ohne weiteres eine normative Konzeption politischer Lebensformen bis hin zum Staat oder sogar zu trans­natio­nalen Macht- und Regierungsgefügen ableiten lässt, steht dahin. Die Andeutung dieser Fragen genügt m. E., um wenigstens en passant deutlich zu machen, wie weit wir im Rekurs auf eine gelegentlich als nomadisch eingestufte Wahrheit eines nirgends auf der Erde fest verorteten Lebens davon entfernt sind, aus ihr eine politische Lehre ziehen zu können, die man sich ethnisch, religiös oder national-staatlich zu eigen machen dürfte im Sinne der Achtung einer für sich in Anspruch genommenen Fremdheit. Wenn die Fremdheit Widerfahrnis vom Anderen her ist, wie es auch eine einschlägige Phänomenologie lehrt, bleibt sie radikal un­verfügbar. Und ihre lobenswerte Achtung kann und darf nicht identitärer Besitz Anderer werden, die aus ihr die richtige Lehre gezogen zu haben behaupten. Wer gleichwohl nicht darauf verzichten möchte, wird nicht umhin können, nur im Zuge einer paradoxen Des-Identifikation79 eine Gastlichkeit im Zeichen des Fremden zur Sprache 122  |  Kapitel IV 

bringen zu können, die niemals darauf hinauslaufen sollte, daraus für sich politisches Kapital zu schlagen. Die Sprache, in der sich, wie Blanchot meint, die Wahrheit eines Exils, einer Welt-Fremdheit zeigt, der nicht nur Juden, sondern wir alle überantwortet sind, ist dem Anspruch des Anderen als des Fremden verpflichtet; und als solche steht sie niemandem zu Gebote, auch denen nicht, die stän­dig ein Loblied auf sie glauben singen zu müssen. Die rhetorische Aneignung der Gastlichkeit hat sie immer schon verfehlt. Wenn wir dennoch nicht darauf verzichten wollen, sie auch dem Staat abzuverlangen, und wenn wir von jedem Staat der Welt, gewiss nicht nur, aber auch vom jüdischen, erwarten, dass er sich an einen unverfügbaren Anspruch des Anderen erinnert 80 , der ihm niemals unterstehen wird, auch dann nicht, wenn es sich um einen radikalen Feind handelt, den man am liebsten zum Schweigen bringen möchte, so dürfen wir auch als Kritiker einer radikal »inhospitablen« (Kant) Staatlichkeit nicht in den Irrtum verfallen, wir könn­­­­­ten darauf eine eigene Identität gründen, ohne uns zugleich mit unserer eigen­en Rhetorik zu des-identifizieren. Gerade weil die Gastlichkeit dem Anderen geschul­det ist, wenn wir einschlägigen Zeugnissen der jüdischen Überlieferung Glau­­­ben schenken, können wir uns in dieser Idee nicht unsererseits gleichsam häus­­­­­­lich einrichten, so als gehöre sie uns oder gewissen Traditionen, auf die wir uns stützen. Was uns − vielleicht, unter stets prekären Lebensumständen und in ei­n­em fragilen Vertrauen auf Andere − ermöglicht, eine allein von Menschen zu stif­tende und aufrecht zu erhaltende ›Welt‹ (nicht bloß die Erde 81) zu bewohnen, wenn wir Einlass und vorübergehend Aufnahme bei Anderen fin­den, ist selbst kein Haus, in dem man sich verschanzen könnte, um sich darin ungefährdet einzurichten. 82 Ich vermute, dass Blanchot genau das im Sinn gehabt hat, als er seinen Gedanken über das Unzerstörbare eine lange Anmerkung anfügte, in der er zur (wohlgemerkt von anderen so genannten) »Metaphysik der jüdischen Frage« Stellung nimmt. In dieser Anmerkung begrüßt er die »Wiedergeburt des Staates Israel« − in klarem Widerspruch zu der (lange vor der Katastrophe der Shoah) erfolgten, gegen die Zionisten gerichteten Äußerung Hermann Cohens: »Diese Kerle wollen glücklich sein!« Blanchot verteidigt dabei nicht primär diese vermeintliche Anmaßung, son­dern vielUnaufhebbare Welt-Fremdheit  |  123

mehr die »dringlichste Aufgabe […], einem Volk die Möglichkeit der freien Existenz zu garantieren, sei es auch durch die Wiederherstellung eines ›Aufenthaltsortes‹ und vielleicht über den Umweg einer nationalen Forderung« (DU, S. 193). Entscheidend sei nicht, ob man diese Aufgabe als dringlich erkenne − und wie könnte man, zumal ›nach 1945‹, im Ernst deren Recht in Abrede stellen? −, sondern wie man sie genau verstehe. Handelt es sich etwa um eine »rein abendländische Lösung«? Geht es nur darum, Anleihen bei einer Nationalgeschichtlichkeit zu machen, die bereits im Ersten Weltkrieg ihre fatalen Kehrseiten erwiesen hatte? Nein, insistiert Blanchot − und mit Recht −, es gehe um eine Aufgabe, »die durch die Errichtung einer Bleibe und schließlich die eines Staates hindurchgeht« (DU, S. 194; Hervorhebg. B. L.). Und das zeige sich gera­de darin, dass man auch einen jüdischen nationalen Staat an die »Zukunft der ›noma­denhaften Wahrheit‹« er­innert, die er selbst unter dem extremen Druck fortwährender Bedrohung seiner Existenz niemals vergessen dürfe. Bedeutet das nicht, dass sich Blanchot, ähnlich wie Levinas, an Spuren einer der Ge­schich­te des Judentums zu entnehmenden Welt-Fremdheit erinnert, die keine ex ­­­­k lusive In­a n­spruch­nahme eines Ortes oder (Lebens-)Raumes zu gestatten schien, und dass er auch einem nationalen Staat, der ausdrücklich unter religiösen Vorzeichen eine politische Iden­tifikation mit dieser Fremdheit nahelegte, abverlangt, sie niemals identitär zu verein­nah­men? Hat er sich auf diese Weise nicht dem Gedanken widersetzt, eine ›noma­ denhafte‹, keineswegs mit einer gleichnamigen Lebensform identische Wahrheit, die uns an jene von den Juden so massiv er­fahrene Welt-Fremdheit erinnert 83 , dürfe wie ein politisches Haus zum bevorrechtigten Besitztum einiger weniger werden, die sie ihrerseits womöglich an­deren vorenthalten? Genau so verstehe ich Blanchot vor allem dort, wo er sich weit auf die Philosophie von Le­v inas zu bewegt: Jene Welt-Fremdheit erschöpft sich mitnichten in einer ›me­taphysi­sch­en‹ Er­fahrung; vielmehr verlangt sie nach einer Gastlichkeit, die auf einer ungastlichen Erde nur von Anderen zu gewährleisten ist, aber so, dass sie gerade »dem Unbekannten und Frem­den« (DU, S. 200) bzw. dem Anderen und jedem Anderen angesichts seiner Fremd­heit gilt. Und diese kaum als ›Relation‹ zu be­zeich­nende Beziehung84 mag in einer 124  |  Kapitel IV 

par­ti­kularen Überlieferung wie der jüdischen zuerst zur Sprache gekommen sein; doch das ist so geschehen, dass darin ein identitär nicht zu vereinnahmendes Angebot an alle Anderen lag. Und als politische Herausforderung ist uns dieses Angebot in aller Schärfe erst deutlich geworden in Folge äußerster Verbrechen gegen den minimalsten, unverzicht­bar­s­ten An­spruch eines jeden, wenigstens nicht in ›etwas anderes‹ verwandelt zu werden, wie es Ro­bert An­ telme ausdrückte, der dabei irreführenderweise allerdings an die Zuge­hörigkeit zur biologischen Gattung dachte. 85 Weit gefehlt: Worum es hier geht, ist nicht das Leben (zōé; bíos) sich reproduzierender Wesen, sondern genau jener An­spruch, durch den sie an ei­ne Antwort appellieren können, die im Hören auf den An­spruch bezeugt, dass der Andere existiert. »Hör mir zu« heißt: »Berühre mich, wis­se, daß ich existiere«, lesen wir ganz in die­sem Sinne bei Roland Bar­t hes. 86 Muss nicht auch Levinas (wie Blanchot) zugeben, dass wir diesen buchstäb­lich ele­men­tarsten, in das gewissermaßen vorsokratisch gedachte Ele­ment des Mensch­ lichen über­haupt erst einführenden An­spruch keineswegs einfach der Lektüre äl­tester Texte entnehmen können, son­dern dass wir ihn erst in unserer Antwort auf das Äußerste zur Sprache bringen konnten, das ihn ›negierte‹? Zweifellos stehen wir, nicht nur im sog. Nahen Osten, vor der Herausforderung, einer dem Anderen als Fremden zugedachten Gastlichkeit auch politisch gerecht werden zu sollen, nicht nur durch ein privilegiertes Du (Buber) oder in der Form eines mehr oder weniger alten Ethos oder im Sittlichen, wie es Hegel beschrieben hat, sondern in der Form einer weit über gewisse Besuchsrechte hinausgehenden Hospitalität. Aber das kann in einer die Gastlichkeit nicht konterkarierenden Art und Weise nur geschehen, wenn sie nicht poli­tisch-identitär in Beschlag genom­men und sogar dem Feind nicht vorenthalten wird. Schon bei Levinas war der An­dere niemals nur ein ›guter Anderer‹ − und der Begriff der Gast­lich­keit sollte kei­ne Idylle bezeichnen, weil er von einem Nicht-Ort her gedacht wurde, »wo die Menschen eine Beziehung mit dem aufrechterhalten, was jede Beziehung aus­schließt: das unendlich Distante, das absolut Fremde«. 87 Doch nur wenn dieser Nicht-Ort − von dem sich ein nomadisches, exilistisches und di­asporisches Wissen bewusst fern hält und Unaufhebbare Welt-Fremdheit  |  125

an den es sich ständig als nicht ein­zu­nehmenden erinnert − als uns entzogener im (nicht-reziproken) Verhältnis zum An­deren gedacht wird, kann daraus politisch etwas folgen. Politisch können wir von einem absoluten, unvermittelt zugänglichen Jenseits des Seins nichts wissen, wohl aber von einem Exzess über das Sein hinaus, vor allem über das Mitsein hinaus, das uns einer ontologischen Zu­ ge­­hörigkeit zum Leben unter Anderen versichern sollte. Genau darin sieht nicht erst die neuere Kritik sozial­on­tologischen Denkens − ähn­lich wie schon Levinas und Blanchot − die größte Ge­fahr: dass wir je wieder ge­w is­sermaßen restlos in einem Le­ben aufgehen sollen, über das sich Andere politische Ver­f ügung anmaßen könn­ten. Der Rückzug in eine absolute Unver­füg­bar­keit aber, die jeglicher (auch einer nicht-reziproken) Beziehung zu ihr entzogen ge­dacht wird, droht deren fruchtbare, keineswegs bloß destruktive antipoli­tische Implikationen ganz und gar einzubüßen, die Blan­chot offen­bar im Sinn hat, wo er schreibt, es gehe um eine Aufgabe, »die durch die Er­rich­tung einer Bleibe und schließlich die eines Staates hindurchgeht« (s. o.). Die Welt-Fremd­heit des An­deren, der niemals und nirgends recht heimisch wer­den und zuhause sein kann, ist so ge­sehen keine schlechterdings a-politische, son­dern eine antipoliti­sche, die sich im Politi­sch­en und umwillen des Politischen gegen es behaupten muss 88 − nicht zuletzt gegen ei­ne Po­li­tik, die die Achtung der Ander(s)heit des Anderen und seiner niemals rest­los aufzu­he­ben­den Unzugehörigkeit auf ihre Fahnen schreibt, und sei es auch nur, indem sie sich auf ent­sprechende religiöse Überlieferungen beruft. So würde man im Zeichen eines gastlichen Re­spekts für das Un­verfügbare doch wieder nur »ins Eigene« zurückkehren und ganz bei sich bleiben. 89 Dann fehlt nicht viel, bis man wieder bei einer gefälligen politischen Rhe­torik landet, die ein gemeinsames Haus beschwört, in man sich selbst bereits einge­richtet hat, so dass es gar nicht in Betracht kommt, selbst Gast zu sein: Keine Spur verrät dann mehr, warum es wo­möglich nicht genügen kann, einfach an frühere Zei­ ten wieder anzuknüpfen und sich je­ner (gebrochenen) Versprechen der Mo­derne zu ent­­sin­nen, für die Europa einmal ein­stand, wie mangelhaft auch immer.90 Mehr noch als Levinas ist sich Blan­chot in dieser Sa­che nicht si­ch­er. Deswegen wirft er die Frage nach jener ›nomadischen‹, sich nirgends end­g ül­tig nie­derlassen­den Wahr­­­­­heit 126  |  Kapitel IV 

und nach ihrer Herkunft auf. Hatte Levinas auf diese Frage noch eine griffige Antwort, wo er verlangte, den Raum des Europäischen »rückwärts, durch eben die Tür [wie­der] zu ver­­­­lassen, durch die man es, wie Hegel meint, be­tritt«, so konnte Blan­chot als Nichtjude nicht einfach durch diese ›Tür‹ ins Vor- oder Nicht-Eu­ro­pä­ische − jen­­seits von Athen, in Richtung Jerusalem − ein- bzw. aus­treten (SF, S. 181).91 So blieb ihm offenbar nur eine, immer wieder er­­probte Alternative: seinerseits einem hetero­genen Denken und Schreiben im Eigenen Raum zu ge­währen, auch auf die Gefahr hin, die Gren­ zen des­sen, was auf diesem derart von der Gewalt versehrten Kontinent als verständ­liche Rede und begrün­dender Diskurs gilt, immer wieder zu überschrei­ten, um das, was sich ihm wie das Fremde hartnäckig entzieht, ›zur Sprache kommen‹ zu lassen, wo es viel­ leicht nie ganz ankommt.92 So gesehen bewahrheitet sich in seinem Schreiben, was Blan­chot von der Sprache gesagt hatte: In ihr breite sich jene Wüste aus, die wir als No­maden zu durchqueren hätten und in der unsere Schreie womöglich ungehört verhallen. Als solchen, die sich in An­­sprüchen auf Wahrheit niemals endgültig niederlassen und die sie niemals in ihrem ei­genen oîkos oder nómos in Besitz nehmen dürfen, steht uns ein prekäres Überleben je­doch nur dank Anderer offen, die uns in der abschiedlichen Zwischenzeit auf­nehmen; sei es auch nur als Leser (SD, S. 83) − bis auf weiteres.

Unaufhebbare Welt-Fremdheit  |  127

Überleitung Dass wir nach ›europäischer Gastlichkeit‹ bzw. nach sozialer, kultureller, politischer und rechtlicher Gastlichkeit Europas fragen1, hängt historisch mit einschlägigen Erfahrungen radikaler Ungastlichkeit zusammen, in denen bis heute auch unsere, nur durch Andere verbürgte, Zugehörigkeit zur Welt in Frage steht.2 Radikalste Ungastlichkeit liegt dort vor, wo man Andere einem de-politisierten, insofern nackten Leben überlässt, so dass sie in keiner Weise mehr einen Anspruch auf Zugehörigkeit zu einem Leben mit und unter Anderen ›geltend machen‹ können. Diesen Anspruch kann man zweifellos explizit erheben; aber liegt er nicht bereits in der stummen Präsenz eines Anderen, der in den Augen Dritter zu existieren ‒ und das heißt mindestens: nicht seinem ›nackten Leben‹ überlassen zu werden ‒ begehrt? Steht und fällt jene Gastlichkeit dann nicht mit der Empfänglichkeit Anderer für diesen Anspruch? Muss es sich, wenn das zutrifft, nicht um ein im weitesten Sinne sprach­liches Phänomen handeln? Ist unsere Sprachlichkeit, als für den Anspruch des Anderen ›aufgeschlossene‹, nicht ganz und gar dieser Gastlichkeit verpflichtet? Davon, dass es sich so verhält, gehen die folgenden Überlegungen tatsächlich aus und entziehen auf diese Weise die gegenwärtig intensiv umstrittene Gastlichkeit einem Normativismus und Juridismus, der sie uns zur Pflicht machen will. Was es damit auf sich hat, möchte ich vorweg erklären. Seit der Renaissance beschäftigt ›anthropologisches‹ Denken die Frage, was Menschen ›von Natur aus‹ sind. Der Italiener Giovanni Pico della Mirandola (1463‒1494) meinte sinngemäß: Sie sind allemal freie Wesen, die aus sich selbst alles Mögliche machen können. Einer der deutschen Aufklärer des 18. Jahrhunderts, August L. Schlözer, leitete daraus ab, wenn Menschen »alles werden« könnten, seien sie »von Natur aus nichts«. 3 Das erscheint heute, im Lichte der aktuellsten paläontologisch-biologischen Forschung, als starke Untertreibung. Selbst von den Prähominiden finden sich noch Spuren in unserer DNS, vom Neandertaler immerhin ca. 1,8 bis 2,6 Prozent.4 Angesichts ihrer gemeinsamen afrikanischen Ab128  | 

stammung könnte man nun alle Menschen als natürlich miteinander ver­wandt begreifen. Das wäre immerhin mehr als ›nichts‹, aber in sozialer, kultureller, poli­tischer und rechtlicher Hinsicht vielleicht zu wenig. Für ›Rechte‹ ist offenbar schon die­ses Wenige eine unannehmbare Vorstellung. Sie wollen als ›Identitäre‹ unter sich blei­ben. Und das heißt: mit Fremden nichts gemeinsam haben. Dass jedermann auch sich selbst fremd ist, hat sich bei ihnen noch nicht herumgesprochen. Nichts oder doch nur so wenig wollen ›Identitäre‹ mit Anderen gemeinsam haben, dass sie sie im Grunde nichts angehen müssen. Étienne Balibar5 bietet dagegen eine besondere Freundschaft auf: die Gastfreundschaft. Diese will er nicht auf eine alle Menschen verbindende Natur, sondern auf ein Recht gegrün­det sehen, welches allen zusteht. So steht es auch im Artikel 6 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, das die Rechtsfähigkeit jedes Menschen und seinen Anspruch auf Anerkennung als Rechtsperson verbürgt. Dieses Recht ist nicht an die Staatsangehörigkeit oder andere Kriterien wie die Zugehörigkeit zu einer Ethnie, einem Volk oder einem Staat gebunden, obgleich es staatlicherseits garantiert werden muss. Kurz gesagt, attestiert es jedem Menschen das Recht, als Rechtssubjekt behandelt zu werden, bzw. das »Recht auf Rechte«, wie es Hannah Arendt genannt hat. Kann auch dieses Recht wiederum auf einem Recht beruhen? Droht hier nicht ein unendlicher Regress? Balibar irritiert diese Frage nicht. Vielmehr besteht er darauf, dass sich dieses Recht nicht in einer vagen juridischen Verwandtschaft erschöpft, sondern höchst Konkretes gebietet: Freundschaft nämlich. Und zwar jedermann gegenüber. Nur auf diesem Wege glaubt er dem Schrecklichsten entgegenwirken zu können, das darin liegt, absolute Ent­rechtung in einem ›nackten Leben‹ erfahren zu müssen. Wohin das führen kann, hat Giorgio Agamben mit Blick auf den Nationalsozialismus deutlich gemacht. Aber bürdet man so nicht dem Recht etwas auf, was es tatsächlich niemals leisten kann? Niemals werden alle Menschen Brüder oder Schwestern werden, erst recht nicht Freun­de. Denn es liegt im Sinn wirklicher Freundschaft, nur wenigen Anderen aus freien Stücken entgegengebracht zu werden. Sie ist niemals zu verordnen oder zur Pflicht zu machen. Überleitung  |  129

Die Rhetorik sozialistischer ›Völkerfreundschaft‹ zeigt, wohin es führt, wenn man das nicht sieht: in den politischen Kitsch nämlich. Kein Recht der Welt kann einen Anspruch auf Freundschaft begründen bzw. zur Freundschaft verpflichten. Bei näherem Hinsehen zeigt sich denn auch, dass Balibar bloßer Gastfreundschaft nicht über den Weg traut. Er will sie nämlich als ein strenges Recht verstanden wissen, das jegliche staatliche und transnationale Souveränität überbietet. Mit der Folge, dass Migranten, Flüchtlinge und generell »Umherirrende« in den Genuss eines Rechtsschutzes kommen sollen, der »auch gegen staatliche Gesetze wirksam« sein soll. Und zwar so, dass die Betreffenden jede lokale »Amtsgewalt zur Erfüllung ihrer Pflichten anhalten« bzw. zwingen können. Mit Freundschaft im üblichen Sinne des Wortes hat das gar nichts zu tun. Mit einer derartigen Ermächtigung der Umherirrenden will Balibar den komplexen Knoten all der Probleme durchschlagen, die sich uns stellen zwischen universaler Freizügigkeit einerseits, die im Grunde jedem (nicht nur westlichen Weltreisenden) zustehen sollte, und radikal-iden­titären Abwehrbewegungen derjenigen andererseits, die unbedingt ›unter sich‹ bleiben wollen ‒ offenbar ohne dabei zu bemerken, dass sie dabei die weit überwiegende Mehrheit der Bevölkerung gegen sich haben. Kann aber zwingendes Recht, gegen das niemand mehr etwas soll ausrichten können, jemals bewirken, worauf all jene existenziell angewiesen sind, die sich dazu gezwungen gesehen haben, ihre Familie, ihr ganzes Lebensumfeld und ihren Sprachraum zu verlassen: Aufnahme nämlich? Auch Immanuel Kant, auf den sich Balibar wie so viele andere beruft, hat dieses Problem verfehlt. Sein »Recht der Hospitalität« bestimmt diejenigen, die Fremde wenigstens vorübergehend aufnehmen sollen, lediglich dazu, sie »nicht feindselig« zu behandeln und sie nur abzuweisen, wenn das ohne Gefahr für deren Leib und Leben geschehen kann. Darin liegt bereits ein Anspruch auf Asyl und nicht nur ein Besuchsrecht. Dabei dachte Kant allerdings, dass man sich jederzeit anderswohin wenden könnte. 6 Damit ist es vorbei, nachdem sich die Zahl der gleichzeitig Lebenden inzwischen versiebenfacht hat. Deshalb ist es zu einer vorrangigen politischen Herausforderung geworden, es weltweit erst gar nicht zu Bedingungen wie in Myanmar, Darfur und Syrien kommen zu lassen, die Millionen in die Flucht schlagen. 130  |  Überleitung

Wer infolge womöglich weltfremder Vorstellungen von einem besseren Leben anderswo auf dem Fluchtweg zu verdursten oder zu ertrinken droht, dem muss unbedingt geholfen werden. Dafür demonstrierte man in Hamburg, München, Duisburg und Münster mit vollem Recht. Aber wer dann als ›Schutzflehender‹ (Aischylos) oder als ›Schutzbefohlene‹ (Elfriede Jelinek) gerettet wird, bleibt auf wirkliche Aufnahme angewiesen, die durch kein Recht der Welt zu erzwingen ist. Hoffen dürfen wir sehr wohl darauf, dass jedes Kind, jede Frau und jeder Mann, der in eine solche Lage gerät, auch ohne Worte oder in einer unverständlichen, fremden Sprache einen Anspruch auf wirkliche Aufnahme ›geltend machen‹ kann. Aber zu beweisen ist dies nicht, allenfalls zu bezeugen. So haben es auch Philosophen wie Jacques Derrida und Emmanuel Levinas angesichts der europäischen Gewaltgeschichte gesehen, wo sie Europa abverlangten, sich an das Desaster einer Ungastlichkeit zu erinnern, das unseren ganzen Kontinent unbewohnbar zu machen drohte. Sie haben einen Anspruch auf Gastlichkeit bejaht, konnten damit aber keine Gastfreundschaft meinen.7 Gastlich ›aufgeschlossen‹ sind wir unvermeidlich für den Anspruch jedes Fremden, wie es vielfach bezeugt wurde. Dem kann man Glauben schenken, ohne sich dabei auf vermeintlich ›zwingende‹ Argumente verlassen zu können. Aber sind wir darum auch schon zur Gastfreundschaft verpflichtet? Wer diese Frage mit einem schlichten Juridismus beantworten will, der die Freundschaft allein zu einer Frage zu erzwingenden Rechts erklärt, erweist dem Verständnis der aktuellen Migrationsund Flüchtlingsproblematik keinen guten Dienst. Denjenigen gegenüber, die in akute Not geraten sind, sollte Gastlichkeit eine ‒ meist als ›humanitär‹ bezeichnete ‒ Selbstverständlichkeit sein. Genauso wie Hilfeleistung, die wir hierzulande nicht unterlassen dürfen. Es ist nicht einzusehen, warum angesichts der Zustände im mare nostrum für die europäischen Staaten andere Maßstäbe gelten sollten als für jeden ›Normalbürger‹, von dem man erwartet, angesichts einer evidenten Notlage zu wissen, was zu tun ist. Aber wenn die erste Aufnahme stattgefunden hat, stellen sich sofort politische und kulturelle Probleme der Gestaltung der sich daraus ergebenden Lage. Dazu zählen u. a. schwer verletzte Flüchtlinge, politisch, religiös und in geschlechtlicher Hinsicht Verfolgte, die Überleitung  |  131

sich fatale Illusionen über die Staaten gemacht haben, in denen sie Zuflucht suchen, aber völlige Überforderung erfahren, Jugendliche, die von ihren Herkunftsfamilien instrumentalisiert wurden und wenig mehr mitbringen als einen altersüblichen Hedonismus und Materialismus, der nicht einmal das geringste Verständnis für die Lage der Schicksalsgenossen aufbringt, aber auch (wenige) Gewalttäter, die das Ansehen ausgerechnet derjenigen beschädigen, die am allermeisten darauf angewiesen sind, Zuflucht bei uns zu finden. Dieses Ansehen müssen wir verteidigen ‒ gegen diejenigen, die die Gastlichkeit missverstehen oder missbrauchen, und gegen diejenigen, denen das Schicksal der Schwäch­sten, die infolge ihrer Flucht alles haben aufgeben müssen, nur ein Anlass dazu ist, eine auf nichts Positives gegründete erbärmliche Identität zu behaupten, die offenbar wenig anderes vorzuweisen hat als die Gering­ schätzung Anderer. Im Zeichen solcher Geringschätzung sollten wir kein ›Volk‹ sein wollen. Wenn auf dem europäischen Kontinent überhaupt ›Völker‹ zuhause sind, denen sich die europäischen Parlamente und Regierungen verpflichtet wissen müssten, dann sollten sie nicht ohne Achtung jedes Anderen als eines Fremden von sich reden machen. Wer etwa nach dem illiberalen Vorbild des Ungarn Victor Orbán dahinter zurück will, hat von der europäischen Geschichte und Gegenwart nichts begriffen und handelt anti-europäisch. Aber gegen diese Ignoranz hilft kein verkrampfter Juridismus. Denn für eine wirkliche Aufnahme Fremder (vorübergehend oder befristet, für länger oder ›für immer‹) muss man die Menschen gewinnen, die allein in ihrer kulturellen Lebenspraxis für diese Achtung werden einstehen können. Wer dagegen zu universaler Freundschaft verpflichten will, programmiert ironischerweise mit den besten Absichten die Abwehr des Gedankens geradezu vor, jeder Fremde müsse jeden etwas angehen, wenn es darauf ankommt, nicht auf ›nacktes‹, d. h. depolitisiertes Leben zurückgeworfen zu werden. Um diese Frage ist allerdings radikaler Streit entbrannt, der auch hier nicht zu schlichten ist. Statt ihn umstandslos beenden zu wollen, zielen die nachfolgenden Kapitel darauf ab, verständlich zu machen, welche Formen er unter dem Druck von Anfeindungen, ›thymotischer‹, polemogener Dramatisierungen und anderen politischen Energien annimmt, die schließlich geradezu anti-politische 132  |  Überleitung

Konsequenzen haben. Die Frage, was dabei auf dem Spiel steht, führt am Ende wieder zurück zur elementarsten Bestimmung des Politischen, die besagt, dass niemand über ›nacktes‹ Leben hinaus politisch existieren kann, der sich nicht als von Anderen in ein ›lebbares‹ Leben mit und unter ihnen aufgenommen weiß.

Überleitung  |  133

TEIL II SPR ACHE ALS GASTLICHKEIT UND DAS PÁTHOS DES POLITISCHEN

K A PI T EL V Soziale Gastlichkeit Radikal, selbstverständlich, angefeindet In jedwedem Land […] wärt ihr selbst die Fremden. Würd’s euch gefalln, […] wenn [man] Euch keinen Platz gönnt auf der ­weiten Welt […]? William Shakespeare1 Das Land, das die Fremden nicht b­ eschützt, geht bald unter. Johann Wolfgang Goethe 2

1. Eine Geste der Einladung

Gäste, so scheint es, will man nur noch willkommen heißen, wenn man von ihnen profitiert, sei es als Gastarbeitern wie in den 1960er Jahren, oder als Pflegepersonal, das sich in den wohlhabenden Staaten des Westens nur noch schwer rekrutieren lässt, sei es als Touristen, die wieder ›gehen‹ müssen, sei es als bio-genetische Ressource, aus dem man demographisches Kapital für die Sozialversicherung zu schlagen hofft. Ungeachtet all dessen sprechen Christen täglich die einladenden Worte: »Komm, sei unser Gast«. Vermutlich mit Bedacht hat man in den zitierten Worten etwas weggelassen, den Adressaten der bekannten rituellen Formel nämlich, um deutlich zu machen, was im Untertitel des Programms einer aktuellen Tagung zu Problemen der Gastlichkeit, auf die ich mich hier beziehe3 , deutlich wird: dass nämlich »Gastlichkeit als Herausforderung« ganz unterschiedliche, erst eigens zu be­­­den­ken­de Adressaten haben kann. Keineswegs haben wir es nur mit einer Herausforderung für Gläubige und In­stitutionen zu tun, denen sie zugehören. Und Gastlichkeit wird nicht etwa nur von ihnen gewährt aufgrund einer eigens eingenomm­enen ›Haltung‹ oder ›Einstellung‹, in der sie sich womöglich selbst am besten gefallen, wenn jene Worte über ihre   |  137

Lippen gehen. Vielmehr legt der Untertitel nahe, Gastlichkeit als Herausforderung als ihnen in gewisser Weise vorausliegend aufzufassen. Tatsächlich befindet sich ja jemand, der ‒ an welchen Adressaten auch immer gerichtet ‒ sagen kann: »Komm…«, wer also eine Einladung aussprechen kann, bereits einem Anderen gegenüber, sei es auch eine gänzlich Unbekannte… So gesehen ›beginnt‹ die Gastlichkeit, die hier Thema sein soll, nicht mit der ‒ freiwilligen, generösen, freundlichen ‒ Geste der Einladung, sondern mit der wie auch immer näher zu bestimmenden Präsenz des Anderen. Mit einer Präsenz, auf die wir Antwort geben; und zwar nachträglich. Man sagt »Komm…«, wenn zu unterstellen ist, es sei jemand da, wie auch immer ‒ nah oder fern, fremd oder vertraut, unversehens oder erwartet, willkommen oder nicht, vorübergehend oder auf Dauer. Indem ich die Rede von Gastlichkeit als ›Herausforderung‹ gleich­sam in dieser Richtung ausrichte, visiere ich die politische bzw. gesellschaftliche Her­aus­forderung einer Gastlichkeit an, die uns nicht zur Disposition steht, die sich nicht in generösen Gesten des Willkommenheißens erschöpfen kann, welche man jederzeit auch unterlassen könnte, und die viele – letztlich uns alle – betrifft; und zwar als Bürger einer (politisch­en) Welt, als Weltbürger, wie Kant gesagt hätte, die es nicht hin­neh­men können, dass Andere einer radikalen Ungastlichkeit überantwortet werden, insofern sie aus jeglicher Welt he­rauszufallen drohen, die nur durch Andere zu verbürgen ist. Die darin liegende Herausund Überforderung kann ich im verfügbaren Rahmen nicht an­ nähernd komplex genug beschreiben.4 Deshalb möch­te ich mich auf die elementare Frage beschränken, inwiefern wir es hier mit einer Herausforderung zu tun haben, die sich an verschiedene, von ihr in Anspruch genommene Adressaten richtet, ob sie es wollen oder nicht ‒ statt von ihnen selbst auszugehen wie eine einladende Geste oder ein willkommen heißender Sprechakt. Zu diesem Zweck beginne ich mit einer kurzen Situationsbeschreibung aus sozialphilosophischer Sicht, die erklären mag, warum ich von radikaler, selbstverständlicher und angefeindeter Gastlichkeit spreche. Letzteres hat mit einer teilweise sehr polemischen Politisierung der Gastlichkeit zu tun, die das Gemeinwesen im Kern betrifft, dem wir zugehören. Da­mit meine ich nicht bloß ein kommunales oder ›nationales‹, sondern auch die europäische 138  |  Kapitel V 

und letztlich eine ›weltweite‹5 Bürgerschaft, in der Gastlichkeit politisch keineswegs generell als selbstverständlich gilt. Die weiterhin völlig ungelöste Frage der Verteilung Hun­­­derttausender von Flüchtlingen auf die europäischen Staaten, aber auch die ›globale‹ Di­mension ökologisch bedingter Fluchtbewegungen beweist das zur Genüge. Im politisch­en Streit, der sich an diesen Problemen entzündet, vergisst man m. E. die radikale Frage, ob und inwiefern uns Gastlichkeit geradezu ausmacht ‒ als soziale Wesen, deren Lebensformen eine bestimmte kulturelle Gestalt annehmen. Auf die radikale, uns sozial ausmachende Bedeutung der Gastlichkeit gehe ich zuerst ein, werfe dann das Problem auf, ob sie nicht in Anbetracht ihrer radikalen Bedeutung im Grunde eine selbstverständliche Praxis sein müsste, und nehme anschließend die Auseinandersetzung mit einer Politisierung der Gastlichkeit auf, die genau das in Abrede stellt und letztlich jegliche Bestimmung zur Gastlichkeit anfeindet. Zu bedenken geben möchte ich, was dabei im Kern auf dem Spiel steht.

2. ›Ohne Aufenthaltsgenehmigung‹ oder empfangen?

Ich bleibe »so lange in der Welt […] wie man sich mir widersetzt und wie ich mir einen freien Platz (eine Bleibe) unter vielen anderen sichern muss, die bereits besetzt, unverfügbar und also unzugänglich sind. Überall auf der Welt stoße ich auf Wände und Mauern, auf Hindernisse und Grenzen; auch bin ich zuerst nicht auf der Welt als einer offenen, sondern in der Welt wie inmitten eines eingezäunten Geländes, inmitten von Privatgrundstücken oder verbotenen Schutzgebieten. Ich stoße die Welt nicht sofort auf, sondern finde mich immer zuerst in ihr eingepfercht, festgesetzt, ›ohne Aufenthaltsgenehmigung‹. Die Welt em­pfängt mich nicht als eine offene Welt – sie sperrt mich immer zuerst ein.«6 Hat der zitierte Phänomenologe Jean-Luc Marion nicht recht? Lesen wir nicht allerorten: »Privatgrundstück, betreten verboten«; »Unbefugten ist der Zutritt untersagt«; »Un­au­tho­rized entry prohibited«; »Passage not allowed«; »Défense de passage« usw.? Erweist sich die Welt nicht wirklich als weitgehend aufgeteilt in privatisierte Räume, zu denen wir normalerweise überhaupt keinen Zutritt haSoziale Gastlichkeit  |  139

ben, einerseits und öffentliche Räume andererseits, die wir in der Regel nur ›passieren‹, ohne uns in ihnen länger aufhalten zu dürfen? Stehen nicht auch unsere Bewegungen in öffentlichen Räumen ständig unter dem Vor­behalt einer niemals bedingungslosen Erlaubnis, Genehmigung und Berechtigung? Wird man nicht sogar von öffentlichen Plätzen verwiesen, sollte man auf die Idee kommen, sie spon­ tan für eine Weile in Beschlag zu nehmen ‒ sei es als Obdachloser, sei es nur zum Zweck einer friedlichen Demonstration? So gesehen sind die zitierten Worte Marions nicht einfach als ›überzogen‹ abzutun. Doch scheint dieser Autor einiges ›vergessen‹ zu haben. Er hätte kaum die seinem persönlichen Leben vorangegangene Embryogenese, seine Geburt und die ersten Jahre seiner Kind­ heit überlebt, wenn er nicht in Empfang genommen worden wäre ‒ bereits vor der Geburt, aber auch in seinem Zur-Welt-Kommen, das sich in der Geburt keineswegs erschöpft. Zur Welt und zugleich zur Sprache kommen wir erst durch einen jahrelangen Prozess, in dem wir aus eigener Kraft nicht darum kämpfen können, einen Platz in ihr zu haben ‒ einen Platz, den Marion bereits voraussetzt, wenn er sich mit einer Welt konfrontiert sieht, die es mindestens als ungewiss erscheinen lässt, ob er sich jemals irgendwo aufhalten darf, ohne eigens einer vorherigen »Genehmigung« zu bedürfen. Wir sind von Anfang an rückhaltlos darauf angewiesen, dass man uns einen solchen Platz und in Folge dessen Spielräume eines eigenen Lebens kampflos einräumt, eröffnet und weiterhin gewährt. Dass uns spätere Kämpfe um solche Spielräume vielfach nicht erspart bleiben, tut diesem elementaren Sachverhalt keinen Abbruch.7 Luce Irigaray trifft ihn viel besser, wenn sie in diesem Zusammenhang von einem »Ort der Gastfreundschaft« schreibt 8 , wo dem Anderen ‒ in diesem Fall dem ›eigenen‹, von Anfang an eigentümlich vertrauten und doch zugleich radikal welt-fremden Kind ‒ der Spielraum einer Bleibe (demeure) eröffnet wird. Und zwar nicht umwillen biologischer Reproduktion seiner sog. ›Er­ zeuger‹, des Erbes ihrer womöglich arg verfehlten Ideale und ihres sozialen Kapitals oder der Anwartschaft auf ihren materiellen Besitz, sondern umwillen der Freigabe seiner Zukunft als eines bzw. einer Anderen.9 Das ist es, was wir tun, wenn wir ein derart welt-fremdes Wesen bei uns aufnehmen. Wir reproduzieren uns nicht bloß, investieren 140  |  Kapitel V 

nicht bloß in das »Humankapital« eines Seienden, das uns vermeintlich gehört und ›bereichert‹; und wir ›integrieren‹ es nicht einfach in unser Leben, in dem wir es ›aufziehen‹ und ›erziehen‹. Vielmehr nehmen wir es auf im Geist der Achtung dessen, dass es ›anders‹10 ist als wir und sich als Andere(r) erweisen wird im Laufe einer Geschichte, der wir, ungeachtet aller mehr oder weniger weisen Fürsorge, nicht vorgreifen wollen. »Die geschlechtliche Fortpflanzung ist letztlich eine Maschine zur Erzeugung von Anderem. Anderem als die Eltern. Anderem als alle Individuen der Gattung«, schrieb dagegen der französische Molekularbiologe François Jacob in seinem Bericht über den Stand der modernen Genforschung.11 Nun ist das Kind aber nicht bloß ›etwas anderes‹, sondern ›jemand anderes‹, wie wir sagen; das bedeutet: eine künftige Andere, ein Anderer, der bzw. die eine unabsehbare Geschichte vor sich hat, in der sich erst herausstellen wird, mit wem wir es zu tun haben werden. (Vorausgesetzt, man lebt nicht wie üblich weitgehend aneinander vorbei, wie es Peter Weiss in seinem Buch Abschied von den Eltern eindrücklich beschrieben hat.) Hier haben wir es bereits mit der elementarsten und radikalsten, unser soziales Leben konstituierenden Form der Gastlichkeit zu tun, auch wenn wir das Kind gerade nicht ›als Gast auf Zeit‹ aufnehmen. Als radikal ist diese Gastlichkeit12 (von der Schwangerschaft an13) zu verstehen, insofern wir überhaupt nur ein soziales Leben leben können, wenn sie uns gewährt wurde, wie unzulänglich auch immer. Gastlich wurde uns eine ursprünglich niemals zu erkämpfende Bleibe gewährt; eine Bleibe wohlgemerkt, die nur einen Aufschub bedeutet, wie Levinas betont.14 Denn wir können nicht für immer bleiben. »Du gehst vorüber mit dem, was vorübergeht, und bald wirst du nicht mehr sein. Nicht in dir ist deine Bleibe. ‒ Aber wo ist denn meine Bleibe, da alles in mir und außer mir vorübergeht?« Diese Worte legt Bernhard Groethuysen Augustinus in den Mund. »Ich bin nur im Vorübergehen hier«, d. h. vorübergehend, ohne je besitzen zu können, was die Zeit mit sich fort trägt und »sich [wie ich selbst] im Nichts verliert«15; aber auch als an Anderen Vorübergehender bin ich hier.16 Dagegen richtet der stoische Ratschlag wenig aus, sich in sich selbst zurückzuziehen und dort zu bleiben17 ‒ zumal in einer Welt Soziale Gastlichkeit  |  141

nicht, die längst nicht mehr »groß genug für uns alle« zu sein scheint, so dass wir einander »nicht lästig fallen« müssten, wie noch Kant meinte.18 Inzwischen ist die Erdoberfläche dicht besiedelt; und Kriege, ökologisch untragbare Lebensbedingungen und kulturelle Desaster zwingen nach aktuellen, täglich nach oben zu korrigierenden Schätzungen über 65 Millionen Menschen zur Flucht ‒ was nichts anderes heißt, als dass sie sich rückhaltlos der Gefahr aussetzen müssen, anderswo keine Bleibe mehr zu finden und im Niemandsland zwischen den Staaten oder in ungastlichen Lagern einem endlosen Warten auf nichts mehr überantwortet zu werden, ohne die geringste Aussicht, je noch einmal anderswo (bei Anderen) ›ankommen‹ zu können.19 Ankommen bedeutet: wenigstens eine Perspektive der Bleibe bei ihnen oder ihnen zum Dank zu haben ‒ in dem Maße, wie man bleiben darf, sei es vorbehaltlos und unbefristet, sei es wenigstens auf Zeit, geduldet, unter subsidiärem Schutz oder auf Dauer mit entsprechendem Aufenthaltsstatus, Recht auf Asyl usw. Wer die Flucht ergreifen musste ‒ kein Flüchtling flieht je freiwillig und gibt ohne weiteres ›alles‹ auf ‒, sieht sich auf die elementarste Bedeutung der Gastlichkeit zurückgeworfen, die unser originäres Zur-Welt- und Zur-Sprache-Kommen einst ausgemacht hat.20 Der Flüchtling muss gewissermaßen neu zur Welt (Anderer) kommen, oft genug in einem fremden, unverständlichen Idiom stammelnd wie ein Kind, in dessen Sprachlosigkeit (infans) er sich als Fremder zurückgestoßen sieht. Dabei mag er uns einen Spiegel vorhalten. Denn morgen schon können wir selbst zu den Flüchtlingen gehören und aus jeglicher (politischen) Welt herausfallen, wenn uns nicht eine neue Bleibe gewährt wird.21 Und darin mag mancher eine universale conditio humana erkennen, die in den Worten Georges Steiners bedeutet, wir alle seien letztlich nur auf Widerruf geduldete Gäste, die nur bis auf weiteres bleiben können.22 Es liegt aber auf der Hand, dass man so Gefahr läuft, dramatische existenzielle Unterschiede zu nivellieren, die im akuten im Gegensatz zu einem eher ›theoretischen‹ Angewiesensein auf eine Bleibe liegen. Wer sicher zur Miete wohnt oder in einer entschuldeten Immobilie unbestritten seine Bleibe hat, mag glauben, keinen Gedanken darauf verschwenden zu müssen, eines Tages auf Andere angewiesen zu sein, um ein Obdach zu haben. Nach einschlä142  |  Kapitel V 

giger historischer Erfahrung, über die gerade Europäer reichlich verfügen müss­ten, falls sie sie nicht infolge unzureichender intergenerationeller Kommunikation ›ver­gessen‹ haben, trennt jedoch oft nur ein Weniges ein vermeintlich gesichertes Wohnen, in dem man sich selbst genug sein mag und ‒ wie es in Franz Kafkas Roman Das Schloss heißt ‒ »keine Gäste braucht«23 , von einer Situation, die einen bedingungslos zur Flucht zwingt. Heute würde auch ein unsicherer, mit tausenden von Rissen übersäter Atommeiler wie im belgischen Tihange, eine verlorene Atombombe24 oder ein Fehlalarm, der nicht (wie zur Zeit des NATO-Großmanövers Able Archer im Herbst des Jahres 1993) rechtzeitig als solcher erkannt wird, genügen, um gegebenenfalls auf europäischem Boden Hunderttausende zu sofortiger Flucht zu zwingen. Wer nicht fliehen muss und nicht auf die elementare Gastlichkeit Anderer angewiesen ist, hat das nur mehr oder weniger glücklichen Umständen zu verdanken. Virtuell sind wir alle potenzielle Flüchtlinge. Doch das kann nicht über den dramatischen Einschnitt hinwegtäuschen, den es bedeutet, aus ›normalem‹ Leben herausgerissen und akut zur Flucht gezwungen zu werden, d. h. sich rückhaltlos der Gastlichkeit Fremder ausliefern zu müssen, ohne die geringste Sicherheit, je wieder wenigstens vorübergehend eine Bleibe zu finden, unangefochten ›bleiben‹ zu dürfen und wirklich ›ankommen‹ zu können. Entscheidend kommt es in diesem Falle auf das Verhalten Fremder zu jenen an, die ihr Heil in der Flucht suchen mussten und so in eine Lage geraten sind, die an die elementare bzw. radikale Bedeutung der Gastlichkeit für unser originäres Zur-Welt- und Zur-Sprache-Kommen erinnert. Ich behaupte nun: So elementar und radikal jemand darauf angewiesen ist, dank Anderer eine Bleibe zu finden, so selbstverständlich muss es sein, ihm/ihr eine solche zu gewähren. Wir müssen weder ausnahmslos »Brüder« oder »Schwestern« noch auch »Hüter« uns völlig Fremder sein, um zu begreifen, dass mit der Abweisung eines elementaren Anspruchs auf eine Bleibe auch genau das auf dem Spiel steht, was für uns eine soziale Welt ausmacht. Zugespitzt gesagt: Eine solche Welt liegt überhaupt nur dort vor, wo ein derart elementarer Anspruch nicht mit Gleichgültigkeit quittiert wird, um das Mindeste zu sagen. Wo wir nicht damit rechnen können, mit dem Anspruch auf eine Bleibe auch wirklich Gehör zu Soziale Gastlichkeit  |  143

finden, haben wir es überhaupt nicht mit einer Welt zu tun, die ihr Prädikat (›sozial‹) verdienen würde. Um das zu verstehen, bedarf es keiner ausgefeilten Argumentation. Das jedenfalls be­sa­gen einschlägige ›Begründungen‹ für eine Praxis der Gastlichkeit, die unter schwierigsten Bedingungen, nämlich bspw. unter deutscher Besatzung im französischen Dorf Dieulefit, da­f ür gegeben wurden, dass 3000 Einwohner 1500 Flüchtlinge aufgenommen, versteckt und so vor Verfolgung in Schutz genommen haben. Auf ihre Gründe hin befragt, sagten manche von ihnen, das sei doch »selbstverständlich«.25 In der Tat: Wenn die Gastlichkeit elementar und radikal unser soziales Leben fundiert, muss sie selbstverständlich praktiziert werden 26 , wenn jemand als Flüchtling, Vertriebener oder displaced person keine Bleibe mehr hat. Wer dafür eigens Gründe braucht und mangels besonderer Gründe eine Position der reservatio moralis nicht aufgeben will, erweist sich als sozial unsensibel. Wer sich nur und erst durch Gründe zu gastlichem Verhalten bewegen lassen will, hat buchstäblich keinen ›Sinn‹ für die elementare Erfahrung, keine Bleibe mehr zu haben ‒ oder tut wenigstens so. Wie für jedermann offensichtlich ist, wird in den aktuellen Auseinandersetzungen um die sog. Flüchtlingskrise aber keineswegs nur um solche Gründe gestritten. Wir haben es auch mit einer rigorosen Abwehr der Vorstellung zu tun, ein europäisches Land (wie Ungarn, Polen oder Großbritannien) sei irgendwie zur Gastlichkeit verpflichtet. Darüber hinaus werden Bürger Europas, die eine weder restlos zu privatisierende noch zu ökonomisierende oder zu verrechtlichende Gastlichkeit für eine Selbstverständlichkeit, für etwas unbedingt Gebotenes oder, unter Hinweis auf geltende Konventionen, für international verbindlich halten, verächtlich gemacht und angefeindet. Die entsprechende politische Propaganda scheint im Wesentlichen Folgendes zu besagen: (1) Kein Fremder hat je den geringsten An­spruch darauf, ›unser‹ Staatsgebiet zu betreten; es sei denn, ein solcher Anspruch wird souverän eingeräumt. (2) Souverän, aus eigener Machtvollkommenheit, die keinem Fremdem je etwas schuldig ist, verfügen ›wir‹ über die Bestimmung jeder Aufenthaltserlaubnis, Duldung und längerfristigen Gewährung einer wie auch immer gearteten und bedingten (befristeten…) Zugehörigkeit zu ›unserem‹ Gemeinwesen. (3) Letzteres beruht in ›unse144  |  Kapitel V 

rer‹ kollektiven Identität, darin, wer wir sind bzw. als wer wir uns verstehen. (4) Wer wir sind, darüber befinden ›wir‹ ‒ ›wir‹, das sind diejenigen, die (angeblich) mit Recht sagen: »Wir sind das Volk«, um auf diese Weise zu erkennen zu geben, dass sie dieses von ihnen beschworene ›Volk‹ auch weiterhin exklusiv zu bleiben beabsichtigen ‒ selbst wenn es sich herausstellen sollte, dass dieses ›Volk‹ nur in ihrer Phantasie besteht, nicht aber realiter als etwas kollektiv Identisches vorliegt, für das sie zu sprechen befugt wären. Die Verteidiger der Gastlichkeit beziehen in allen diesen Punkten die Gegenposition. Sie sagen also: (1’) Jeder, der elementar auf eine Bleibe angewiesen ist, muss sich auf fremdem Boden (unter menschenwürdigen Bedingungen) an Andere wenden dürfen. Wer das bestreitet, hat keinen Begriff von einer sozialen Welt, die ihr Attribut verdient. Mit anderen Worten: Eine Welt, in der man sich als Fremder nicht jederzeit an Andere wenden kann, um sie um eine Bleibe zu bitten, ist keine soziale Welt. Mit dem Anspruch darauf, dank Anderer eine Bleibe zu haben, beginnt soziales Leben überhaupt erst; und auf diesen Anspruch muss es sich wiederholt stützen können. Die Autochthonen, die angeblich immer schon hier waren und ein exklusives Recht auf ihren »Lebensraum« reklamieren, haben offenbar nicht nur ihre genealogische Herkunft aus der abgründigen Geschichte Anderer, sondern darüber hinaus auch vergessen, dass sie überhaupt nur da sind, weil man ihnen eine Bleibe gewährt hat. (2’) Wie und unter welchen Bedingungen das geschieht, ist in der Tat die Angelegenheit derjenigen, die eine Bleibe bieten können. Aber das tun sie stets nur nachträglich in ihrer Antwort auf den Anspruch Fremder auf eine Bleibe. Insofern werden sie dabei niemals souverän sein können.27 (3’) Wir, die wir bereits ›hier‹ sind und Anderen eine Bleibe bieten können, sind selbst ›Andere‹ und auf ein Zusammenleben angewiesen, das sie in ihrer Ander(s)heit achtet. Das schließt aus, dass ›wir‹ je mit unserem Selbst in der Selbigkeit einer kollektiven Identität aufgehen können. ›Wir‹ – das sind nicht restlos Identische, sondern gerade diejenigen, die einander als Andere achten und deshalb (4’) niemals behaupten können, sie seien das Volk. Wer (wie ein dazu eigens und in bestimmten juristischen Grenzen autorisierter Richter) »im Namen des Volkes« spricht, ist nicht das Volk und weiß das auch. Wer behauptet, er sei der Staat oder die Stimme des identitären Volkes Soziale Gastlichkeit  |  145

spreche unmit­tel­bar durch seinen Mund, gibt seinen Adressaten damit nur eines zu verstehen: dass er sich anmaßt, Andere vom identitären Kollektiv auszuschließen. Ein Kollektiv, dessen Vertreter behaupten, sie seien das Volk oder dazu berechtigt, in seinem Namen zu sprechen, treffen damit keine einfache Feststellung, sondern bekunden aggressiv die politische Okkupation eines kollektiven Seins, das Anderen (als Fremden) nichts zu schulden scheint. Im gleichen Verständnis verwerfen sie jegliche politische Gastlichkeit. Das identitäre ›Volk‹ ist/lebt hier und genügt sich selbst; es schließt sich ein in einem kompakten Vorhandensein, in dem man leugnet, (a) selbst überhaupt nur ›da‹ zu sein dank der Aufnahme Anderer; (b) dass man je (wieder) auf sie angewiesen sein könnte; und (c) dass man dazu bereit sein sollte, Andere aufzunehmen. So viel zu einer ersten Situationsbeschreibung, die verständlich machen sollte, warum ich hier von radikaler, von selbstverständlicher und von angefeindeter Gastlichkeit spreche. Letzteres ‒ dass die Gastlichkeit und diejenigen, die sie praktizieren, angefeindet werden – ist kaum zu bestreiten und beweist, wie sehr der Begriff, der hier im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen soll, politisiert worden ist. Statt das vielfach nur noch polemische Spiel der Politisierung nun aber weiter zu betreiben, möchte ich im Folgenden zu bedenken geben, was eigentlich auf dem Spiel steht, wenn wir uns selbst, unser soziales und kulturelles Leben und die Form, die es nicht bloß in privatisierter, ökonomisierter und verrechtlichter Form annimmt, als ›gastlich‹ verstehen ‒ oder nicht. Dabei ist allerdings zunächst von dem Befund auszugehen, dass frühere, nur mit Vorsicht als ›archaisch‹ einzustufende Formen der Gastlichkeit in den Kulturen des sogenannten Westens allenfalls noch rudimentär anzutreffen sind, wenn es denn stimmt, dass die Gastlichkeit heute nur als weitgehend privatisierte, als ökonomisierte oder verrechtlichte begegnet.28

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3. Verschiedene Typen von Gastlichkeit

Wir kennen Gastlichkeit heute, in den Gesellschaften des sogenannten Westens, vor allem ‒ wenn nicht gar nur noch, wie schon des Öfteren gemutmaßt wurde ‒ in (a) privatisierter, (b) in ökonomisierter und darüber hinaus (c) in verrechtlichter Form. Die private bzw. pri­vatisierte Gastlichkeit stützt sich auf eine Praxis des Einladens, auf die sich jemand aus freien Stücken einlässt, der über eine Bleibe wenigstens zeitweise und weitgehend souverän verfügt. Diese Praxis bezieht sich auf den geladenen und willkommen geheißenen Gast, der normalerweise nicht bleibt und normalerweise nicht die Ordnung der Bleibe in Frage stellt. Jede Ordnung dieser Art impliziert einen oîkos und nómos sozialen Lebens; aber als im en­geren Sinne ökonomisiert verstehen wir sie erst dann, wenn für das Bleiben-dürfen, das man im Gegensatz zur pri­vatisierten Gastlichkeit in Anspruch nehmen kann, auch bezahlt werden muss, ob in irgendeiner heruntergekommenen ›Absteige‹, im angeblich ›gutbürgerlichen‹ Gasthaus oder im luxuriösen Hotel.29 Von verrechtlichter Gastlichkeit ist dann zu reden, wenn sie von vorübergehender und befristeter Einreise bis hin zur kantischen, weltbürgerlichen Hospitalität einen staatlicherseits oder auch inter- und transnational anerkannten Anspruch impliziert, sich auf fremdem Boden wenigstens vorübergehend aufhalten zu dürfen, ohne Gefahren für Leib und Leben gewärtigen zu müssen.30 Kant handelte in seinem Entwurf eines »Ewigen Friedens« (1795) vom Recht der Hos­pitalität als Recht »eines Fremdlings, seiner Ankunft auf dem Boden eines andern wegen, von diesem nicht feindselig behandelt zu werden. Dieser kann ihn abweisen, wenn es ohne seinen Untergang geschehen kann […]. Es ist kein Gastrecht, worauf dieser Anspruch machen kann (wozu ein besonderer wohlthätiger Vertrag erfordert werden würde, ihn auf eine gewisse Zeit zum Hausgenossen zu machen), sondern ein Besuchsrecht, welches allen Menschen zusteht, sich zur Gesellschaft anzubieten, vermöge des Rechts des gemeinschaftlichen Besitzes der Oberfläche der Erde, auf der, als Kugelfläche, sie sich nicht ins Unendliche zerstreuen können, sondern endlich sich doch neben einander dulden zu müssen, ursprünglich aber niemand an einem Orte der Erde zu seyn, mehr Recht hat, als der Andere.«31 Soziale Gastlichkeit  |  147

Im Vergleich zu Kants Zeit stehen wir heute vor einer ganz anderen Situation. Wir ha­ben es nicht mit einem »Fremdling«, sondern mit Hunderttausenden und Millionen Fremden zu tun. Und sie kommen aus unterschiedlichen Gründen und mit Lebensperspektiven, die bei Kant gar nicht weiter befragt werden: Man denke nur an Migranten (die primär ihr Wohin umtreibt 32) und Asylbewerber (die durch das Wovor ihrer Flucht geprägt sind: sie wollen sich höchst ungerechten Lebensbedingungen oder rassistischer, religiöser oder politischer Verfolgung entziehen, vielfach auch der Bedrohung durch schlimmste Gewalt bis hin zu wiederholter Folter). Ob Kant letzteres bereits implizit mit im Blick gehabt haben mag, als er schrieb, man solle Fremdlinge nicht abweisen, wenn das mit Gefahr für deren Leib und Leben verbunden wäre, bleibe dahingestellt. Kant spricht vom »andern«, der einen Fremden abweisen kann, nicht vom Nationalstaat oder gar von einem transnationalen Machtgefüge, wie wir es heute mit der EU vor Augen haben. Zwar hat er bereits ein kosmopolitisches Gemeinwesen im Blick (allerdings keinen Weltstaat) ‒ ein Gemeinwesen, das dem Befund Rechnung tragen müsste, dass die Erde ursprünglich niemandem exklusiv gehört und dass infolgedessen im Grunde niemand mehr Recht hat, an einem Ort zu sein, als irgendein Anderer. Aber Kant lässt die Frage außen vor, wer eigentlich Hospitalität zu gewähren hat. Dagegen scheint uns Gastlichkeit heute eine eminent europäische Angelegenheit zu sein. Allerdings nicht allein in terms von Rechten. Bei Kant geht es um einen »weltbürgerlichen« Anspruch, mehr noch: um ein An­recht, das man allerdings nicht einfach ›hat‹, das vielmehr im Prozess einer globalen Verrechtlichung erst zur Geltung gebracht werden muss. Es geht ihm um den Anspruch eines jeden, wenigstens neben anderen geduldet zu werden. Das ist einerseits viel (bedeutet nämlich eine globale, heute geradezu utopisch erscheinende Freizügigkeit 33), andererseits arg wenig, wenn man einander allenfalls duldet – was auf den ersten Blick gar nicht an Gastlichkeit denken lässt, sondern lediglich an eine jenem Anspruch entsprechende Pflicht, Fremde nicht feindselig zu behandeln. Im Gegensatz zu einer solchen (deontologischen) Engführung der Gastlichkeit, die sie zu einer Angelegenheit von Rechten und Pflichten macht, aber kaum etwas davon verrät, wie Gastlichkeit zu praktizieren wäre, müssen wir uns heute ein nicht 148  |  Kapitel V 

nur typologisch differenzierteres Bild von diesem vielschichtigen Phänomen machen. Wie, das möchte ich im Rekurs auf die Phänomenologie der Situation ansatzweise zeigen, die zur Gastlichkeit allererst herausfordert.

4. Primäre, sekundäre und tertiäre Gastlichkeit

Die Gastlichkeit hebt damit an, dass ein Anspruch an uns ergeht. Man denke an das Klopfen an der Tür. Selbst die rigideste Sicherungs- und Abwehrmaßnahme kann nicht umhin, sich zum Angesprochenwerden zu verhalten, das in einem unabsehbaren und unverfügbaren Anspruch liegt. Ich spreche insofern von primärer Gastlichkeit, zu der wir bestimmt sind. Sie ist nicht zu umgehen und erweist sich als unvermeidlich. Dieses Angesprochenwerden widerfährt uns und spielt sich ab an einer Schwelle oder Grenze, wo wir uns nachträglich zu ihm verhalten. ›Wir‹? Das wirft die Frage nach dem entsprechenden Ort der Schwelle oder Grenze auf ‒ sei es die Haustür (im Bereich des Privaten), sei es die mehr oder weniger bestimmte und (un-) durchlässige Außengrenze eines politischen Gemeinwesens. Schon hier, bevor es überhaupt zur Frage nach Rechten kommt, spielt das Wie der Begegnung mit den Fremden eine unübersehbare Rolle – vom abweisenden Gesicht des Grenzschutzbeamten bis hin zum tausendfachen »Willkommen«, wie es an vielen deutsch­en Bahnhöfen zu hören war. Hier geht es um die sekundäre Gastlichkeit unseres Verhaltens zum an uns ergehenden Anspruch des Anderen. Davon unterscheide ich wiederum eine tertiäre Gastlichkeit, in der es darum geht, im Lichte gewisser Normen zu entscheiden, wie dem Anspruch des/der Fremden Rechnung zu tragen ist. Man denke nur an das 1951 verabschiedete Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge. Dieses als Genfer Flüchtlingskonvention bekannte Abkommen schreibt eine Art Notfallgastlichkeit vor. Besonders für Fälle der Verfolgung, der Vertreibung, massenhafter, oft nur schwer von ökonomischen Notlagen zu unterscheidender Flucht; für Fälle, die in globaler Perspektive als höchst ungerecht erscheinen. In einer neueren Veröffentlichung zu diesem Problem heißt es mit Recht: In einer gerechten Welt gäbe es keine (massenhafte) Flucht und keine erzwungene Migration.34 Soziale Gastlichkeit  |  149

Ich muss hier ganz absehen von speziellen rechtlichen Fragen wie Abschiebehindernissen, subsidiärem Schutz, Duldung, Asylgewährung usw. und möchte mich stattdessen auf die Frage konzentrieren, ob sowohl die primäre Gastlichkeit als auch die sekundäre Gastlichkeit früher oder später doch in eine verrechtlichte (tertiäre) Hospitalität mündet. Die gängige Fixierung auf die Praktizierbarkeit einer verrechtlichten Gastlichkeit, die genau das nahelegt, verengt unseren Blick allzu sehr. Denn es kommt im Rahmen einer Kultur der Gastlichkeit mittel- und langfristig entscheidend darauf an, wie Fremde, die sich mit mehr oder weniger unbestimmter Zeitper­ spektive bei uns aufhalten, ›behandelt‹ werden. Und da­rüber sagt das entsprechende Recht kaum etwas aus. Mit dieser Frage ist es überfordert, weil sie eine Angelegenheit des Zusammenlebens selber ist, dessen kulturelle Gestaltung gar nicht vorgeschrieben werden kann; zumal nicht in langfristiger bzw. nachhaltiger Hinsicht. Man denke nur an zahlreiche Formen eines ›Entgegenkommens‹ – von medizinischer Not­fallhilfe über Sprachkurse bis hin zu QuasiAdoptionen ­‒ in denen sich in unterschiedlichster, rechtlich aber gar nicht vorzuschreibender Art und Weise zeigt, wie man Fremden nicht nur anfangs, sondern nachhaltig Gastlichkeit entgegenbringt. Dabei liegt jeder ›Fall‹ anders. Letztlich erweist sich jeder als unvergleichbar und entzieht sich einem Denken »im Allgemeinen«. Je näher man einander kommt, desto deutlicher wird das bewusst. Dabei gilt das ›Entgegenkommen‹ im Rahmen einer Kultur der Gastlichkeit zunächst allen, d. h. Menschen ›jeglicher Couleur‹ – darunter Kinder (bzw. unbegleitete minderjährige Flüchtlinge), die man zweideutig »ins Herz schließt« (manchmal infolge blinder Identifikation), aber nicht selten Familien entstammen, die nicht davor zurückschrecken, Minderjährige zu instrumentalisieren, welche gleichsam als Brückenköpfe für einen künftigen Familiennachzug vorgeschickt werden. Die Bandbreite reicht darüber hinaus von Gebildeten, die nur glück­lich sind, schlimmster Gewalt entkommen zu sein, und nicht erst darüber belehrt werden müssen, wie sehr das Land, das sie aufnimmt, von ihrem Verhalten abhängt, bis hin zu Zeitgenossen, denen Begriffe wie Rechtsstaat, Demokratie und Gleichberechtigung der Geschlechter rein gar nichts zu sagen scheinen und die in Folge dessen das Problem aufwer­fen, wie sich politische Lebensformen, die sie zunächst aufgenommen haben, mittel- und langfristig zu ihrer 150  |  Kapitel V 

eigenen Zusammensetzung verhalten sollen. Gerade wenn diese Lebensformen etwa auf bestimmte Normen zivilen Umgangs miteinander Wert legen (was sie m. E. tun sollten), können sie sich keinesfalls gleichgültig dazu verhalten, wenn Fremde dies ignorieren. (Genauso wenig, wie sie es ignorieren können, wie fremdenfeindliche Ge­walt eben diese Normen mit Füßen tritt.35)

5. Praktische Perspektiven

Wir tangieren hier schwierige Probleme einer mehr oder weniger langfristigen und nachhaltigen kulturellen Praxis der Gastlichkeit, die mit der Aufnahme Fremder zwar einsetzt, sich aber keineswegs in ihr erschöpft. Wenn sie das tut, wird sie sehr schnell als geradezu heuchlerisch erscheinen. »Europa gibt sich gastfreundlich«36 oder heuchelt Gastfreundschaft – wurde in der einschlägigen Literatur formuliert, in der man sich inzwischen sehr schwer damit tut, Europa im Ganzen noch so etwas wie Gastfreundlichkeit zuzuschreiben.37 Man denke nur an die untragbaren Zustände auf Lesbos und um Lampedusa, vor den spa­nischen Exklaven Ceuta und Melilla, in den überforderten Balkanstaaten, in Ungarn oder in Calais, ganz abgesehen von ungeschminkt fremden- und europafeindlicher regierungsamtlicher Rhetorik, wie sie u. a. aus Ungarn, Tschechien, Italien und Polen zu hören ist. Überwiegend zeigt sich Gastlichkeit als eine Angelegenheit zivilgesellschaftlicher Spon­­­­taneität, die keiner staatlichen Anleitung bedarf und auf sie auch nicht wartet. Es handelt sich um eine politische Anarchie im positivsten Sinne des Wortes, die allerdings ihre Schwächen hat; insbesondere dort, wo es darum geht, die gastliche Aufnahme Fremder auf Dauer zu gewährleisten. Wir sehen auch paternalistische Praktiken, die den Fremden alles mögliche Gute überstülpen, ohne sie je zu fragen, und die in vorschnelle Enttäuschung zu münden drohen, wenn sich letztere konkret wirklich als das herausstellen, was sie sind: fremd. Sehen wir vom Paradigma des geladenen (und im Voraus bekannten) Gastes ab und konzentrieren uns auf die politischen Probleme der Gastlichkeit, die mit vielfachem Grenzübertritt (ob legal oder illegal) infolge von Migration und Flucht zu tun haben, Soziale Gastlichkeit  |  151

so muss man sagen: Gastlichkeit ist eine kulturelle Praxis der Aufnahme von Fremden als solchen; sie muss so gesehen die Fremdheit Anderer, denen sie gilt, beachten und sensibel für sie aufgeschlossen sein, ohne damit rechnen zu können, diese Fremdheit werde sich früher oder später als dialektisch ›aufhebbar‹ erweisen.38 Es gibt auch eine politisch unkluge Praxis der Gastlichkeit, die im naiven Überschwang ihres Willkommenheißens zu vergessen scheint, dass die Aufnahme Fremder als Fremder sich niemals darin erschöpfen kann, dass man letzteren freundlich begegnet. Damit beginnt vielmehr erst eine vielfach Jahre erfordernde Aufnahme, die durch die rasche Klärung eines anerkannten Aufenthaltsrechts (bis hin zur uneingeschränkten Zuerkennung aller Bürgerrechte) zwar erleichtert, aber gewiss nicht garantiert werden kann. Ich spreche hier vorsichtig von Aufnahme, nicht von Integration oder gar Inklusion, beides Begriffe, die eine einseitige Entwicklung im Sinne einer Ent-Fremdung der Fremden suggerieren und uns vorgau­­keln, sie könne auf einen idealen Endpunkt hinauslaufen, wo alle Fremdheit getilgt wäre.39 Wer bspw. die angeblich gelungene »Integration« von mehr als 12 Millionen Nachkriegsflüchtlingen in Westdeutschland nach 1945 noch heute so versteht, zeigt nur, dass er nichts davon ahnt, wie viele dieser Flüchtlinge fremd geblieben sind, ohne je über eine äußerliche Anpassung an eine sie vielfach zurückweisende kulturelle Umwelt hinausgelangt zu sein. Das verrät uns allerdings auch keine Statistik. Zu tief für jede verfügbare sozialwissenschaftliche Hermeneutik reichte diese Fremdheit bis in die leibhaftige Existenz derer hinein, die bis zum Schluss nicht umhin kamen, aus ihr zu leben, statt sie als ärgerliches Relikt einer zu überwindenden Vergangenheit abzuschütteln, wie man es von ihnen erwartet haben mag. In unserem Land, sollte man meinen, müsste man angesichts der Millionen (ehemaliger) Flüchtlinge, aus denen sich die Bevölkerung hier u. a. zusammensetzt, eigentlich einigermaßen Bescheid wissen um diese Dinge. Aber man befleißigt sich ungerührt weiterhin einer Ideologie der Integration und sogar der Inklusion, die nun wirklich niemanden mehr ›draußen‹ lassen soll. Man muss sich fragen, ob das nicht eine eminent gewaltträchtige Vorstellung ist, die auf die Liquidierung gerade dessen hinauszulaufen droht, worauf sich Gastlichkeit nach unserem Verständnis 152  |  Kapitel V 

eigentlich bezieht: die Fremdheit des Anderen. Gastlich nehmen wir den Anderen als Fremden auf, ohne ihm/ihr die Aufgabe oder Aufhebung seiner/ihrer Fremdheit abzuverlangen. Dabei müssen wir wissen, dass eine solche Aufnahme nur einen mehr oder weniger lange währenden Prozess anstoßen kann, in dem sich vielfach erst nach Jahren entscheidet, ob die fragliche Fremdheit wenigstens indirekt kommunizierbar werden konnte oder ob sie die Fremden in ihrem eigenen Leben einzuschließen droht.40 In diesem Punkt kann es im Vorhinein keinerlei Sicherheit geben. Niemals können wir wissen, um wen es sich handelt, wenn wir einen Fremden oder Fremde in großer Zahl aufnehmen. Daran ändert auch eine behördliche Identifikation gar nichts, die niemals das Selbst der Betreffenden zu erfassen vermag. 41 Wer von vornherein wissen will, mit wem er es zu tun hat oder zu tun haben wird, verurteilt sich selbst dazu, keinerlei Gastlichkeit praktizieren zu können. Als gastlich können sich auch kulturelle Lebensformen nur erweisen, wenn sie darauf verzichten, Fremde von vornherein dem Wissen um deren Identität unterwerfen zu wollen, und wenn sie dazu bereit sind, die Antwort auf die Frage Wer? einem offenen und gegenseitigen Prozess dessen zu überlassen, was man landläufig als »Kennenlernen«42 bezeichnet, das es in Wahrheit doch nur im Zeichen unaufhebbarer Fremdheit (und nicht ihrer Leugnung oder Aufhebung) geben kann. Diese Fremdheit mutet uns in primärer Gastlichkeit zwar als Widerfahrnis (páthos43) an; so dass wir uns zu ihr ›immer schon‹ verhalten und verhalten müssen, wenn wir uns Anderen als Fremden gegenüber öffnen. Doch ist diese Fremdheit keine Eigenschaft, die Fremden irgendwie anhaftet, und kein erkennbares Merkmal.44 Was sie bedeutet, kann sich vielmehr nur auf dem Weg einer mehr oder weniger lang anhaltenden kommunikativen Ver­flechtung mit dem Leben Fremder zeigen, die dabei ihrerseits darauf angewiesen sind, zu realisieren, wie und inwiefern sie sich, Anderen und der Welt gegenüber, in der sie sich vorfinden, fremd sind bzw. bleiben. Das zeigt sich diakritisch, d. h. im Zuge von Abweichungen von Anderen durch die Art zu leben, zu sprechen, zu wohnen, Nachbarschaft zu pflegen (oder nicht), zu arbeiten, zu lieben usw. Und von diesen Abweichungen leben wir. Ohne sie würden wir in einer langweiligen Homogenität geradezu verkümmern. So hat man Soziale Gastlichkeit  |  153

auch uns, im besten Falle, von Geburt an aufgenommen: als ursprünglich ganz und gar Welt-Fremde, die nur durch Abweichung von ›Kurs‹ Anderer zeigen konnten, wer sie sind oder zu werden sich anschickten. Wer dagegen kulturelle Lebensformen auf eine kümmerliche innere Homogenität festlegen will und im Dazukommen von Fremden nur eine Bedrohung sieht, hat bereits vergessen, selbst ursprünglich fremd gewesen zu sein (und es in gewisser Hinsicht auch bleiben zu müssen). Möglicherweise erklärt die Unterdrückung dieser Erfahrung, warum man später Anderen die Fremdheit nicht zugestehen möchte, schon gar nicht als ein vermeintliches Privileg. Dabei ist Fremdheit überhaupt kein Vorrecht. Wir sind einander von Geburt an fremd und lernen uns allenfalls nachträglich kennen im Zeichen einer Verbundenheit, die die ursprüngliche Fremdheit nicht aufhebt, sondern gerade zum Vorschein kommen und dann ›gelten lässt‹. So gibt es überhaupt keine soziale Zugehörigkeit zum Leben Anderer und kei­ne politische Mitgliedschaft, die nicht mehr oder weniger von unaufhebbarer Fremdheit geprägt wäre. Was die Fremden, die derzeit die (pro­ blematische) ›europäische Gastlichkeit‹ herausfordern, nun aber in der weit überwiegen­den Zahl ausmacht, ist, dass sie auf der Flucht vor Gewaltverhältnissen, die jegliches zivile Le­ben unlebbar zu machen drohen, jegliche Zugehörigkeit und Mitgliedschaft bis auf weiteres hinter sich lassen mussten, um sich bedingungslos Fremden auszuliefern. So bringen sie vielfach gar nichts anderes mit als eben ihre Fremdheit und sind rückhaltlos darauf angewiesen, sei es als ›Illegale‹, als Sans papiers und Identitätslose um Aufnahme anderswo nachzusuchen. In einer Welt, in der es praktisch gar keinen unbesetzten Raum mehr gibt, in den man ohne weiteres auswandern könnte, ist der Entschluss zur Flucht wie auch zur (vielfach erzwungenen) Migration ein radikaler Schritt, weil er das eigene Leben (wie auch das Leben von Angehörigen, besonders von Kindern) auf Gedeih und Verderb Fremden aussetzt, ohne ein Recht der Immigration für sich in Anspruch nehmen zu dürfen. Die Folge davon ist, dass sich Hunderttausende von Migranten und Flüchtlingen in rechtliche Grauzonen zwischen Staaten verwiesen und auf unabsehbare Zeit zu einem unlebbaren Leben verurteilt sehen ‒ zwischen Leben und Tod. Aus solchen Zonen können sie nur Andere herausholen, die 154  |  Kapitel V 

zufällig gerade nicht das gleiche Schicksal erleiden. Als diese ›Anderen‹ kommen im Fall Europas, das fast 500 Millionen Einwohner zählt, gewiss nicht (allein) die Bürger weit­gehend verarmter Staaten an seinen äußeren Grenzen in Betracht ‒­ man denke an Länder wie die Ukraine, Bulgarien oder Griechenland, in denen die sog. Drittstaatenregelung das aktuelle Flüchtlingsproblem unsichtbar zu machen drohte.45 Bevor man die daraus sich ergebenden Folgen weiterhin zu einer dramatischen europäischen »Flüchtlingskrise« hochstilisiert, sollte man sich fragen, ob sie nicht zunächst eine Frage der Verteilung ist, durch die sie europaweit entschieden entschärft werden könnte. Dabei sind freilich unterschiedliche (historisch, kulturell und religiös geprägte) Ressourcen der Aufnahme zu beachten. Der mit Abstand wohlhabendste Staat der EU, Deutsch­­land, muss deshalb vorangehen. Auf Dauer wird es das nur tun können, wenn es so­ wohl energisch, im Rahmen seiner Möglichkeiten, den Flucht- und Migrationsursachen ent­ gegenwirkt, als auch beharrlich darin bleibt, allen die elementarste Bedingung kulturellen Lebens überhaupt in Erinnerung zu rufen. Sie liegt darin, dass es überhaupt kein solches Leben geben kann, das seinen Namen verdient, wenn es nicht den Anderen hereinlässt, um wen auch immer es sich handelt ‒ zunächst, in primärer Gastlichkeit unbedingt, dann aber, in sekundärer und tertiärer Gastlichkeit, Bedingungen unterstellt. Diese Bedingungen sollten zwischen fataler Verschlossenheit einerseits und unbegrenz­ter Offenheit kulturellen Lebens andererseits einer nachhaltigen Praxis der Gastlichkeit verpflichtet sein, die sie beschränkt, um sie als zunächst unbedingte aufrechterhalten zu können.46 Jede Form von Gastlichkeit muss mit einer solchen sie immerzu inspirierenden Überforderung leben. Die Frage ist nur, wie diese Herausforderung angenommen wird, d. h. ob sie politisch fruchtbar gemacht wird oder den Apologeten des Identitären, des Rück­zugs auf sich selbst, der Verschlossenheit im Eigenen, des homogenen Bei-sich-selbst-Seins zum Opfer fällt, die offenbar nicht begriffen haben, dass dort, wo die Gastlichkeit stirbt, auch das eigene Selbst am Ende ist.

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6. Schluss

Die Herausforderung zur Gastlichkeit stellt sich angesichts jedes singulären Anderen neu ‒ und eingedenk dessen, dass jeder überhaupt nur ›da‹ ist, insofern ihm eine (mehr oder weniger) gastliche Bleibe eingeräumt worden ist 47, in der man sozial verkümmern müsste, wollte man sie im kommunalen, nationalen oder auch internationalen Rahmen exklusiv sich selbst vorbehalten. Das bedeutet keineswegs, einem bloßen, gegebenenfalls mit der Goldenen Regel erweiterten »Eigeninteresse« an Gastlichkeit das Wort zu reden. Es geht viel ra­dikaler um den Sinn einer sozialen Welt, die sowohl exklusiv und identitär als auch durch eine naive (unpolitische) Praxis der Gastfreundschaft ruiniert zu werden droht ‒ jedenfalls so lange, wie keine globale Freizügigkeit herrscht, die es jedem erlauben würde, anderswo eine Bleibe zu finden, wenn er oder sie glaubt, lieber zu sterben, als an Ort und Stelle zu bleiben. 48 Ob man anderswo allemal »etwas Besseres als den Tod« findet, ist allerdings niemals gewiss. So mancher Mi­grant und Flüchtling ist zum gegenteiligen Schluss gekommen: »Der Tod ist immer noch besser als das Elend«, wie ein 1992 in der spanischen Zeitung El País zitierter Marokkaner sagte. 49 Dieses Elend ungastlicher Lebensbedingungen, dem unter Umständen der eigene Tod vorgezogen wird, liegt im Verlassensein, das niemand anderes mehr kümmert und wehrlos dem Vergehen der Zeit unterworfen ist. So gesehen ist Gastlichkeit keine luxuriöse Zutat zu einem Leben, das man auch ohne sie ganz passabel zubringen könnte. Im Gegenteil: Sie allein bewahrt vor der Gewalt der Verlassenheit. In ontogenetischer Perspektive erweist sich ihre Bedeutung als radikal; politisch sollte sie angesichts dieser Gewalt eine Selbstverständlichkeit sein. Aber nur dann, wenn sie auch klug praktiziert wird, wird sie vor einer Anfeindung zu bewahren sein, die beileibe nicht nur Fremden ans Leben geht, sondern genau das im Kern bedroht, was eine soziale Welt ausmacht, die ihren Namen verdient.

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K A PI T EL V I Sprache, Gewalt und die Gastlichkeit des (Zu-)Hörens Gewalt ist der Ursprung der Sprache. Sprache ist Gewalt. Eugen Rosenstock-Huessy1

1. Einführung

Gewalt begleitet die Menschen seit ihrem Auftreten auf der Erde, vor allem aber, seitdem sie gelernt haben, wie man bewaffnet gegeneinander vorgehen kann. Auch für die Philosophie ist Gewalt ein altes Thema. Die Philosophen der Antike wussten, dass auch eine wenigstens im Innern einigermaßen befriedete Lebensform (bíos) grundsätzlich jederzeit durch Streit (eris, neîkos) zum Bürgerkrieg (stásis) und zum Krieg, wie er sonst nur gegen Fremde geführt wird (pólemos), eskalieren kann.2 In seiner »Pathologie des Krieges« beschreibt Thukydides, wie über das auf der gri­e­chischen Insel Korfu liegende Kerkyra einst »viel Schweres« hereinbrach, »wie es immer sein wird, solange das Wesen der Menschen gleich bleibt«.3 Um das Wesen des Menschen mag es bestellt sein, wie es wolle ‒ angeblich liegt es paradoxerweise darin, dass letzterem alles Wesentliche mangelt4 ‒, unbestreitbar ist, dass den Menschen im Verlauf der Geschichte unerhörte Destruktionspotenziale zugewachsen sind, die schließlich auch zur systematischen Ausrottung Anderer führen können. Immanuel Kant, der im fernen Königsberg, das er nie verlassen hat, davon gehört hatte, sprach vom bellum internecinum, d. h. vom Ausrottungskrieg.5 So wie Kants Schrift Zum ewigen Frieden (1795), so bleiben auch die meisten philosophischen Schriften zur Gewalt bis weit ins 20. Jahrhundert hinein auf das konzentriert, was ich provisorisch die ›große‹ und ›extensive‹ Gewalt nennen möchte. Sie verletzt, verwundet und zerstört wie in den beiden Weltkriegen, in den Genoziden und in der sogenannten Vernichtungspolitik des 20. Jahrhunderts   |  157

Tausende und sogar Millionen von Menschen. Das war auch der Horizont, in dem Karl Jaspers über Die Atombombe und die Zukunft des Menschen (1961) sowie Panajotis Kondylis über die Theorie des Krieges (1988) und noch Dieter Henrich über eine Ethik zum nuklearen Frieden (1990) nachdachten ‒ angesichts der inzwischen technisch realisierbar gewordenen, grundsätzlich schon von Kant für möglich gehaltenen Selbstvernichtung der menschlichen Gattung.6 Seitdem hat sich nun aber eine breite Diskussion um die Frage entwickelt, ob Gewalt allemal nur in kriegerischen Formen begegnet7, ob nur in extensiven und unübersehbaren Formen oder ob sie auch subtil auftritt ‒ und was sie anrichtet, wenn sie Anderen nicht geradewegs ans Leben geht, um sie zu verletzen, zu zerstören oder zu vernichten. In dieser Perspektive möchte ich hier die Aufmerksamkeit auf den Zusammenhang von Sprache und Gewalt lenken und zu bedenken geben, ob Gewalt nicht auch sprachlich geschieht ‒ und wie wir uns dazu verhalten können bzw. sollten. Dabei stelle ich besonders auf das Hin- und Zuhören ab, wie es ja auch der Titel dieses Kapitels schon ankündigt. In den Paragrafen 185 ff. kommen im deutschen Strafgesetzbuch Tatbestände wie Beleidigung, üble Nachrede, Verleumdung und Verunglimpfung zur Sprache. Wer beispielsweise »in Beziehung auf einen anderen eine Tatsache behauptet oder verbreitet, welche denselben verächtlich zu machen oder in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen geeignet ist, wird, wenn nicht diese Tatsache erweislich wahr ist, mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe und, wenn die Tat öffentlich oder durch Verbreiten von Schriften […] begangen ist, mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft«. Bereits in der vorherigen Fassung des § 186 vom 20. März 1876 des Strafgesetzbuches für das ehemalige Deutsche Reich wird ausdrücklich auch auf die »Verbreitung von Schriften, Ton- oder Bildträgern, Abbildungen oder Darstellungen« Bezug genommen, die ebenfalls den Tat­bestand der üblen Nachrede erfüllen kann. 8 Längst kennt das bürgerliche Recht demnach strafbare Formen der Gewaltausübung mit Worten oder Darstellungen, die in dem, was sie besagen, Andere verächtlich machen und herabwürdigen. In der Zwischenzeit hat sich der entsprechende Sprachgebrauch allerdings als außerordentlich kreativ herausgestellt. Nicht einmal 158  |  Kapitel VI 

sog. hate speech ist jedes Mal eindeutig als sol­che zu erkennen.9 Häufig versteht sie es raffiniert, ihre Absichten zu kaschieren, und vermeidet es auf diese Weise, rechtlich belangt zu werden. Wie genau sprachlich manifestierte und vermittelte Ge­walt Andere verletzt, ist dem Recht ohnehin nicht zu entnehmen. Sie hat sich als derart wandelbar und anpassungsfähig erwiesen, dass man sich fragen muss, inwieweit die juridische Struktur einer Gesellschaft überhaupt für sprachliche Gewalt zuständig sein kann. Im Folgenden werde ich denn auch nicht speziell inkriminierte sprachliche Gewalt diskutieren, sondern, ohne ›juridische Engführung‹, allgemeiner von deren verletzendem Moment ausgehen, das im Lichte der neueren Erforschung des Zusammenhangs von Sprache und Gewalt nahezu allgegenwärtig zu sein scheint (2.). Anschließend gehe ich zu differenziellen Fragen über, die wir im Interesse an geringstmöglicher Gewalt (3.) und in der Suche nach Auswegen aus ihr (4.) aufwerfen müssen, die sich niemals eröffnen werden, wenn wir nicht darauf hören, was die Gewalt ›besagt‹ ‒ selbst dann noch, wenn sie denjenigen, gegen die sie sich richtet, scheinbar gar nichts mehr zu verstehen gibt, sondern sie nur noch wortlos ver­nichtend treffen will.

2. Sprache und Gewalt: kongruent und allgegenwärtig?

So verschieden und vielfältig bereits die unter jene Tatbestände zu fassenden Phänomene sprachlicher Ge­walt sein mögen, Konsens zeichnet sich gegenwärtig in deren Erforschung insoweit ab, dass uns hier Gewalt in sprachlicher Form begegnet, als gewaltsame, ja gewalttätige Sprache, in der Sprechen ein Tun mit Worten ist. How to do things with words fragte bekanntlich zwar mit John L. Austin erst die Sprechakttheorie des 20. Jahrhunderts10 , doch entsprechende Ant­worten waren schon in der griechischen Antike der Philosophie Pla­­tons11 und der Rhetorik der Sophisten12 zu entnehmen. Was Gewalt betrifft, wäre Austins Frage so abzuwandeln, dass deutlich wird, wie Worte eine verletzende Wirkung haben können ‒ zunächst unabhängig davon, ob sie auch gegen Recht und Gesetz verstoßen. Gewaltsame und gewalttätige Sprache verletzt; und zwar primär Andere.13 Nur von ihnen her wird man daher die Frage beantworSprache, Gewalt und die Gastlichkeit des (Zu-)Hörens  |  159

ten können, wie und mit welchen Konsequenzen der Zusammenhang von Sprache und Gewalt in Formen verletzenden Verhaltens zum Vorschein kommt. Wir fragen nach diesem Zusammenhang indessen gerade nicht (wie es diese Frage suggeriert), weil Sprache und Gewalt zunächst unabhängig voneinander zu betrachten wären, um dann sekundär in eine ihnen bloß äußerliche Beziehung zu geraten. Es besteht nämlich Grund zu der Vermutung, dass es einen inneren Zusammenhang zwischen Sprache und Gewalt gibt, so dass sich Sprache gar nicht ohne Gewalt und Gewalt überhaupt nicht ohne Sprache denken lässt. Dieser Schluss liegt in der Tat nahe, insofern Sprache und Gewalt ­‒ nachdem es lange Zeit überhaupt keine Philosophie der Sprache und keine Philosophie der Gewalt gegeben hat ‒ binnen kurzem, seitdem man diesen Zusammenhang zu untersuchen begonnen hat, quasi zur Deckung gekommen zu sein scheinen.14 Infolgedessen stehen all jene im Abseits, die meinen, zumindest vernünftige Rede sei gewaltfrei und Gewalt spreche ohnehin nicht.15 Denn sie scheint selbst als stumm ausgeübte immer etwas zu (be-) sagen. Auch Worte, die ausbleiben oder verweigert werden, besagen noch etwas. Wer nicht einmal gegrüßt wird, dem wird womöglich bedeutet: Du existiert bzw. zählst (für uns, für mich, hier etc.) nicht. Und wo Gewalt nicht mehr symbolisch kommuniziert, sondern, ihre Sprachlichkeit scheinbar hinter sich lassend, nur noch agiert, kann auch sie nicht umhin, denen, die sie trifft, zu bedeuten: Ihr seid nichts, worauf im Geringsten Rücksicht zu nehmen wäre. Genau das scheint die Gewalt zu beweisen, die auf den ersten Blick ganz ohne Sprache auskommt und keinerlei kommunikative Absichten mehr verfolgt. Aber auch all jene stehen im Abseits der neueren Diskussion um den Zusammenhang von Sprache und Gewalt, die meinen, die Sprache habe ursprünglich bzw. ihrem vernünftigen Sinn nach gar nichts mit Gewalt zu tun, ja, beides schließe sich gegenseitig geradezu aus.16 Nur als Grenzfälle kommen in dieser Diskussion eine ganz sprachlose Gewalt, die deren Sprachlichkeit hinter sich zu lassen scheint, einerseits und eine ganz gewaltlose Sprache (bzw. Rede) andererseits in Betracht, die glauben macht, sich von jeglicher Gewalt ge­löst zu haben. Davon will ich zunächst absehen und mich 160  |  Kapitel VI 

stattdessen dem Befund weitgehender Kongruenz bzw. Überschneidung von Gewalt und Sprache zuwenden und wichtige Konsequenzen herausstellen (1‒5), die sich daraus ergeben: (1) Demnach hätten wir es heute ‒ und womöglich seit je her ‒ mit einer Gewalt-Spra­che bzw. mit einer Sprach-Gewalt zu tun, so dass sich Sprache immer auch als gewalthaft und Gewalt stets auch als sprachlich verfasst verstehen lassen müsste. Genau das legt auch bereits der eingangs zitierte Dialogiker Eugen Rosenstock-Huessy nahe. (2) Es gäbe demzufolge allenfalls Spielräume mehr oder weniger ausgeprägter Gewalt. (3) Diese Spielräume wären im Hinblick auf die Frage auszuloten, inwieweit Gewalt allenfalls (gelegentlich bzw. im Einzelfall) hinzunehmen, im Grunde aber abzulehnen und sogar als generell schlechterdings ›unannehmbar‹ einzustufen ist ‒ ungeachtet ihres ubiquitären Vorkomm­ens. (4) Insofern es sich so verhält, sollten wir diese Spielräume im Interesse an geringst­ möglicher Gewalt ausloten. (5) Dabei wäre in praktischer Hinsicht zu erwarten, dass wir der Gewalt umso besser entgegentreten können, je genauer wir erkennen, wie sie »den Dingen innewohnt«17 bzw. wo sie, gegebenenfalls subtil, vorliegt, und dass wir uns andauernder Gewalt umso blinder ausliefern, je mehr wir uns Illusionen der Gewaltfreiheit hingeben. War zuvor, im überlieferten Sprachdenken, scheinbar nirgends Gewalt anzutreffen ‒ von Platon bis zur modernen Diskurstheorie setzte man ganz und gar auf die Überzeugung, d. h. allenfalls auf die Kraft des besseren Arguments, von dem jeder sich selbst sollte einsichtig überzeugen können, ohne dass es dazu irgendeiner Gewalt bedürfte18 ‒, so hat sich Gewalt heute offenbar überall eingenistet. Und das betrifft nicht nur die Sprache als sogenanntes ›Verständigungsmittel‹, sondern unser (sprachlich strukturiertes) Dasein und Leben selbst. Ist Gewalt nicht schon unserem bloßen Dasein, den uns bestimmenden Verhältnissen und schließlich auch der Welt zuzuschreiben? Der jüdische Philosoph Emmanuel Levinas bezeichnet es als »grand scandale de la condition humaine: que nous n’avons pas choisi notre naissance«.19 Die Erfahrung der Gewaltsamkeit, die schon darin liegt, da zu sein, ohne dass man dazu vorher hätte befragt werden können, wird noch überboten durch die gewaltträchtige Erfahrung, seinen ›Platz an der Sonne‹ nur auf Kosten Sprache, Gewalt und die Gastlichkeit des (Zu-)Hörens  |  161

Anderer zu haben und darüber hinaus bestimmten gesellschaftlichen Lebensbedingungen ‒ früher sagte man: dem ›System‹ der ›bestehenden Verhältnisse‹ ‒ ausgeliefert zu sein, womöglich sogar derart, dass die Welt oder das mit ihr gleichgesetzte ›Ganze‹ als das ›Unwahre‹ erscheint (Theodor W. Adorno).20 Wenn schon die Tatsache des Geborenseins, das Leben unter bestimmten sozialen Be­dingungen und im ›falschen‹ Ganzen, in dem es angeblich überhaupt kein richtiges Leben gibt, als Gewalt zu brandmarken ist, durchdringt letztere dann nicht wirklich alles? Wenn Gewalt aber überall anzutreffen ist, ist sie dann nicht auch wieder nirgends, so dass wir in der Zwischenzeit nicht sehr weit gekommen zu sein scheinen? Selbst wenn von der Ubiquität der Gewalt auszugehen ist, ist doch kaum zu be­streiten, dass sie uns nicht jedes Mal in gleicher Weise, gleich einschneidend und folgenreich bedrängt.21 Im Interesse der Auslotung praktischer Spielräume des Verhaltens zu gewaltsamer Erfahrung bzw. zu Gewalterfahrung müssen wir eine differenzielle Analyse des Zusammen­­hangs von Sprache und Gewalt versuchen, die sich nicht mit dem pauschalen Befund einer weitgehenden Kongruenz von Sprache und Gewalt sowie mit der Allgegenwärtigkeit gewaltkontaminierter Sprache abfindet.

3. Zwischen Gewaltsamkeit und Gewalttätigkeit: ­differenzielle  Fragen

Dabei ist Gewaltsamkeit, die wir unserer schieren Existenz, gesellschaftlichen Verhältnissen und sogar der Welt selbst zuschreiben mögen, ohne dass die fragliche Gewalt aber in unserer Absicht läge, von Gewalttätigkeit zu unterscheiden, die wir uns zurechnen lassen müssen. Ge­waltsamkeiten ziehen wir uns gewissermaßen zu, auch gegen unseren Willen. Für Gewalttätigkeit dagegen sind wir unmittelbar verantwortlich zu machen. Diese Unterscheidung zu treffen heißt nicht, dass sich Gewaltsamkeit und Gewalttätigkeit konkret ›sauber‹ auseinander halten lassen. Auf diese Unterscheidung kommt es gleichwohl entscheidend an, wenn es darum geht, praktische Spielräume unseres Verhaltens zur fraglichen Ge­walt zu ermitteln. Die hier sich anschlie­ßende Frage nach angemessenem 162  |  Kapitel VI 

›Umgang‹ mit Gewalt suggeriert meist unbesehen, Gewalt sei wenn möglich überhaupt zu vermeiden oder, wenn das nicht möglich ist, wenigstens zu minimieren. Gewalt sei ›schlecht‹. Dabei bleibt es auch dann, wenn sie aus der Sicht derer, die sie ausüben, gerechtfertigt wird. Dessen bedarf es überhaupt nur, weil sie Andere verletzend, verwundend und zerstörend trifft. Von daher gilt sie als nicht hinnehmbar und erfordert besondere Rechtfertigung. Dennoch wird sie ausgeübt; sei es mit Rechtfertigungen versehen, sei es selbstherrlich so, als ob sie überhaupt keiner Rechtfertigung bedürfte. Dieses ›als ob‹ muss aber als Abwehr einer Rechtfertigungsbedürftigkeit gelten, die von Anderen her ‒ als gewaltsam Getroffenen ‒ unvermeidlich ins Spiel kommt.22 Das gilt für unmittelbar reale Gewalt, die angesichts Anderer ausgeübt wird, ebenso wie für virtuelle Gewalt, die indirekt (medial vermittelt) verletzt, verwundet und zerstört ‒ vielfach in neuen Formen wie denen des mobbing in sogenannten ›Sozialen Medien‹23 , der Zerstörung des Ansehens von Mitschülern und Kollegen oder der Verbreitung hetzerischer Reden von Biedermännern, die inkognito zum Unfrieden anstiften und so den Weg bahnen für nachfolgende Anschläge, bei denen die Täter nicht nur in Kauf nehmen, sondern es geradezu darauf anlegen, dass Andere schwer verletzt werden oder zu Tode kommen. Die öffentliche, allerdings sehr vergessliche Aufmerksamkeit fixiert sich vielfach auf derartige Folgen indirekt verübter Gewalt, deren mediale Voraussetzungen ihr meist ebenso entgehen wie diejenigen, die zu ihr aufgerufen, sie herbeigeredet oder als begründet erscheinen lassen haben. So scheint die Aufmerksamkeit auf sich ziehende Gewalt (ungeachtet der hohen Zahl verübter Delikte, die die Statistik inzwischen verzeichnet) eine unangenehme Ausnahme von einem ansonsten weder mutwillig gewaltsamen noch gewalttätigen gesellschaftlichen Leben zu sein. Dabei hat man sich an eine ständige, strukturelle Gewalt längst gewöhnt, die umso weniger auffällt, als sie normalerweise immerfort Andere trifft. Die Normalisierung von Gewalt entzieht sie durch Gewöhnung der öffentlichen Aufmerksamkeit und bringt sie insofern geradezu zum Verschwinden. Normalisierte Gewalt löst an­dauernde Gewalttätigkeit tendenziell in einer diffusen Gewaltsamkeit sozialer Verhältnisse auf, die kaum noch zurechenbar erscheinen, so dass sie sich Sprache, Gewalt und die Gastlichkeit des (Zu-)Hörens  |  163

selbst denjenigen, die die fragliche Gewalt erleiden, nur mehr als quasi schicksalhaft Hinzunehmendes darstellt. Keineswegs, heißt das, stellt sich Gewalt überall, wo sie vorliegt, quasi von sich aus auch als Gewalt (-samkeit oder -tätigkeit) dar. Vielfach muss sie überhaupt erst als solche sichtbar gemacht werden. Gegebenenfalls durch Dritte, ohne deren Beihilfe sich die von der fraglichen Gewalt betroffenen Subjekte nicht hinreichend über sie klar werden können ‒ sei es, weil sie sie geradezu ausmacht bzw. konstituiert, sei es, weil sie sich an die fragliche Gewalt gewöhnt haben und diese sich in ihrer Normalität der Aufmerksamkeit entzieht. In beiden Fällen muss allerdings die Möglichkeit gegeben sein, die fragliche Gewalt als verletzende wenigstens nachträglich als solche zum Vorschein zu bringen. Angesichts dieser Möglichkeit eröffnen sich nun allerdings Horizonte der Gewalt, denen sich apriori scheinbar gar nichts mehr entziehen kann. Im Nachhinein kann mehr oder weniger alles, was uns in geschichtlicher Hinsicht ausmacht, als gewaltsam erscheinen: nicht nur, wie man (mit welchen Gründen auch immer) auf uns eingewirkt hat, sondern selbst die Tatsache, dass man uns ohne unsere Einwilligung überhaupt einer gewaltsamen Geschichtlichkeit ausgesetzt hat.24 Geboren werden und zur Welt kommen kann man nur als ›ausgesetztes‹ und sterbliches Subjekt, das im Vorhinein dazu bestimmt ist, (a) in eine eminent gewaltträchtige Geschichte der menschlichen Gattung 25 , aber auch bestimmter Staaten und Lebensformen einzutreten und deren Erbe verantwortlich übernehmen zu müssen. Jedes derart ›ausgesetzte‹ Subjekt wird dabei (b) unvermeidlich selbst in vielfältiger Art und Weise der Gewalt ausgesetzt; (c) wobei es sich ebenfalls unvermeidlich die Frage zuzieht, ob es sich seinerseits dazu nur mehr oder weniger gewaltsam verhalten kann, sei es, indem es sich in Gegen-Ge­walt verstrickt (und so der Gewalt neue Nahrung zuführt), sei es, indem es die Gewalt gegen sich selbst richtet ‒ im Extremfall so, dass es sich das ihm gegebene Leben nimmt, um dessen Gewaltsamkeit nicht ausgesetzt zu bleiben. An den Folgen davon haben allerdings dann vielfach Andere zu tragen, so dass auch hier kein einfacher Ausweg aus Gewaltverkettungen erkennbar ist, die scheinbar an gar kein Ende kommen. 164  |  Kapitel VI 

Sind das fatale Aussichten? Erweist sich in der skizzierten Perspektive nun auch der Zusammenhang von Sprache und Gewalt als ein auswegloser? Dieser Frage möchte ich im nächsten Schritt genauer nachgehen; diesmal im Hinblick auf Möglichkeiten, sich sprachlich eigens zu diesem Zusammenhang zu verhalten, um eine ständige und schließlich fatale Reproduktion von Gewaltbe­ dingungen zu vermeiden, zu unterbrechen oder sogar zu beenden, denen wir als geschichtliche Wesen unvermeidlich ausgesetzt sind.

4. Ausweglose Gewalt?

Akte sprachlicher Verletzung oder Zerstörung treffen Andere, denen sie nicht gleichgültig sind ‒ Andere, die vielmehr von sich aus niemals Opfer oder auch nur Adressaten solcher Akte werden wollen. Die Negativität von Gewalt ist als solche überhaupt nur mit Rücksicht auf Subjekte verständlich zu machen, denen Gewalt mindestens als Widrigkeit, wenn nicht gar als Widerwärtigkeit erscheinen muss, und zwar umso mehr, wie sie mutwillig verübt wird, so dass sie auf vermeidbare Art und Weise von der fraglichen Gewalt getroffen werden.26 Genau darauf nimmt sprachliches Verhalten Rücksicht, das Anderen als symbolisch Verletzbaren entgegenkommt, indem es sie in ihrer Verletzbarkeit würdigt. Das geschieht am elementarsten bereits dadurch, dass man die Existenz des Anderen nicht nur zur Kenntnis nimmt, sondern sie bestätigt ‒ in einem ›Entgegenkommen‹, das sich diese Bestätigung nicht erst abverlangen lässt. Die moderne Sozialontologie erweckt seit Thomas Hobbes einen ganz anderen Eindruck: nämlich den, dass alles, worauf es im menschlichen Leben angeblich vorrangig ankommt ‒ Achtung, Respekt, Ansehen, Macht, Besitz, Reichtum, Anerkennung, Freiheit ‒ nur in einem ständigen sozialen und politischen Kampf Anderen abgerungen werden muss.27 Die dieses Denken implizit leitende Prämisse lautet, dass all das niemandem kampf­­los gewährt wird. So hat dieses Denken systematisch den Blick verstellt für Phänomene des Entgegenkommens, des Gewährens, Gebens und Schenkens, ohne die niemand von uns hätte zur Welt kommen oder auf Dauer in ihr überleben können.28 Sprache, Gewalt und die Gastlichkeit des (Zu-)Hörens  |  165

Bevor jemand überhaupt in einen sozialen Kampf (etwa um Anerkennung) eintreten kann, muss er bzw. sie (sozial) existieren, sich artikulieren und gegebenenfalls mit Macht etwas von Anderen verlangen können. Sozial existiert man aber nicht, weil man irgendwie ›auf der Welt‹ vorhanden ist, sondern nur als von Anderen Wahr­ genommene(r), die bzw. der für sie auch ›zählt‹ und nicht gleichgültig übersehen oder überhört wird.29 Wer in die­sem Sinne (sozial) existiert, kann gewiss einen Kampf aufnehmen. Aber darum, überhaupt erst einmal existieren zu können bzw. zu dürfen in den Augen Anderer, kann man nicht kämpfen. Soziale Existenz verdankt sich originär stets und absolut unvermeidlich Anderen, die Neuankömmlinge (sei es Kinder, sei es Fremde) in ihr Leben aufnehmen, sie willkommen heißen, ihnen einen unangefochtenen Platz zum Leben buchstäblich einräumen, sie beim Namen nennen und sich ihrerseits namentlich ansprechen und in Anspruch nehmen lassen mit Bezug auf Rechte, die man neu Hinzugekommenen kampflos gewährt. Nur wo diese elementaren Voraussetzungen grundsätzlich erfüllt sind, wird sich überhaupt das eigene Leben von jemandem ausformen können, der als akzeptiertes Mitglied einer Lebensform dann auch mit Anderen kämpfen kann um Respekt, Achtung, Anerkennung, Macht, gerechte Anteile oder Freiheit. Lange bevor es dazu überhaupt kommen kann, beziehen Eltern ihre noch ungeborenen Kinder bereits in einen virtuellen Dialog ein, in dem letztere erst viel später antworten können ‒ von ihrem ersten Weinen und Lächeln angefangen ‒, wenn man sie nicht nur physisch hat zur Welt kommen lassen, sondern ihnen einen Namen gegeben und sie in Folge dessen als voll berechtigte Mitglieder eines sozialen Gemeinwesens anerkannt hat. Auch das kampflos ‒ genauso wie die Liebe, die man ihnen entgegenbringt und ohne die sie niemals wirklich lebensfähig werden können. Von da aus ist es allerdings noch ein weiter Weg, bevor es dazu kommen kann, dass Kinder, Heranwachsende und schließlich Volljährige einen effektiven Kampf um all das aufnehmen können, worauf es ihnen in ihrem eigenen Leben ankommt (vielleicht gerade nicht Macht, nicht Anerkennung oder Reputation…). Bis es so weit ist, bestätigen und bekräftigen vielfältige, unter dem Obertitel der Für­sorge zusammenzufassende Praktiken des Gewährens, Gebens und Schenkens, die den Neuankömmlingen alle wesentlichen Lebensmöglichkei166  |  Kapitel VI 

ten in kampflosem Entgegenkommen bereitstellen, dass sie wirklich existieren und dass das Anderen nicht gleichgültig ist, sondern sie zu voraus­schauender Verantwortung bestimmt: und zwar für das leibliche Wohlergehen ebenso wie für eine gedeihliche seelische und geistige Entwicklung künftiger Anderer, die von Anfang an ‒ kampflos ‒ als solche aufgenommen wurden. Deren erste Aufnahme geschieht, noch bevor sie sich (im Mutterleib) regen oder sich in ihren ersten Lebenstagen wimmernd oder lächelnd selbst äußern können, bereits im Geist eines ›Entgegenkommens‹, das sich als gastliches verstehen lässt. Bevor sie in Prozessen der Disziplinierung, Kultivierung, Zivilisierung und der Moralisierung30 erziehend wirkt, ist die menschliche Generativität eine auf Dauer angelegte Praxis der Gastlichkeit, die fremd zur Welt Kommende willkommen heißt, um ihnen alle Lebensmöglichkeiten zu ge­wäh­ren, die für ein wirklich lebbares Leben vorauszusetzen sind ‒ von der physischen Auf­nahme über anhaltende Aufmerksamkeit, Beachtung und Einbeziehung bis hin zur Freigabe einer eigenen Zukunft jenseits der Familie bzw. quasifamilialer Lebensformen. 31 All das kann unmöglich ganz gewaltlos vonstatten gehen; selbst bei besten Voraussetzungen und Kontextbedingungen nicht. 32 In welche Gewaltverhältnisse man sich aber auch verstricken mag, sie müssen doch so lange nicht fatale Formen annehmen, wie man sich immer von neuem an die elementarste, aber nicht ohne weiteres auf Dauer zu verbürgende Grundbedingung sozialen Lebens überhaupt erinnert: dass ein jeder darauf angewiesen ist, dank Anderer sozial zu existieren, und dass dies nur durch eine Gastlichkeit zu ga­ran­ tieren ist, die jede(n) Andere(n) als solche(n) wahrnimmt, willkommen heißt und namentlich als jemanden bestätigt, der ›zählt‹. Nachdem das anlässlich der Geburt durch Eintragung in das Personenstandsregister auch formell geschehen ist, so dass dem Neugeborenen alle Rechte eines Menschen und (künftig) auch eines Mitbürgers zustehen, bringt die anschließende Sozialisation vielfache Gewalterfahrungen mit sich, die es alsbald als mehr oder weniger ungewiss erscheinen lassen, ob (und für wen) man überhaupt ›zählt‹. So erfährt man, ausgeschlossen zu werden oder wiederholt ausgeschlossen zu bleiben aus dem dialogischen Zusammenhang mit Anderen ‒ vielleicht nicht gleich in Bezug auf alle Sprache, Gewalt und die Gastlichkeit des (Zu-)Hörens  |  167

Anderen; aber schon die erste Exklusion lässt diese Gefahr anklingen: am Ende zu niemandem mehr zu gehören und für niemanden mehr ›zählen‹ zu können.33 Welche Rechte einem auch immer von Geburt an zustehen mögen, die soziale Existenz wird niemals durch sie allein, sondern nur durch Andere verbürgt, die es zulassen, dass man zu ihnen gehört und insofern ›zählt‹ (wenn auch nicht unbedingt als restlos Integrierter oder Inkludierter…). Insofern stellen soziale Exklusionen unmittelbar eine Gefährdung der sozialen Existenz dar, die gewissermaßen die Gastlichkeit der ersten Aufnahme unter die Lebenden in Frage stellt oder ganz widerruft, indem sie bedeutet: Du magst zwar auf der Welt vorhanden sein; aber zur Sprache lassen wir dich nicht (mehr) kommen. Du bist für uns nichts, ein Niemand, ganz gleich, wie viel verbalen Lärm oder schriftliches Aufheben du davon noch machen wirst. Sozial, heißt das, sind wir ‒ ungeachtet einer anfänglich scheinbar unbedingten Garantie unserer Rechte als künftige Mitbürger ‒ gewissermaßen nur bis auf Widerruf, vorbehaltlich, auf der Welt und laufen u. U. Gefahr, wirklich nur noch mit unserem nackten, desozialisierten Leben in ihr bzw. auf der Erde vorhanden zu sein. Dagegen richtet dann auch gewaltsam vorgetragener Protest nichts mehr aus, wenn er nicht auch auf offene Ohren trifft, wenn man also nicht Gehör findet und angehört wird (was niemals zu erzwingen ist, auch nicht durch effektive Wahrnehmung des Rechtes auf freie Meinungsäußerung, Demonstration usw.). Das explizit oder implizit geäußerte Verlangen: »Hör mir zu« bedeutet denn auch: Realisiere, dass ich ›da‹ bin und existiere34 ‒ und zwar durch dich, die oder der du mir zuhörst. Genau genommen handelt es sich hier weniger um ein propositionales Wissen, dass…, sondern vielmehr darum, zu bezeugen, dass der Andere sozial (und politisch) existiert und als solcher ›zählt‹ bzw. ›zählen‹ sollte ‒ wie genau und für wen, in welcher besonderen Hinsicht dann auch immer. Ein erstes Zuhören beweist insofern nichts; es affirmiert implizit lediglich, dass der bzw. die Andere da ist und nicht auf eine nackte, desozialisierte Existenz zurückgeworfen werden oder ihr verhaftet bleiben soll. Wenn das zutrifft, wiederholt das Zuhören gewissermaßen die Gastlichkeit der ersten Aufnahme unter die Lebenden, in der be168  |  Kapitel VI 

reits das Versprechen liegt, die Neugeborenen als Andere zur Sprache kommen zu lassen; und zwar nicht nur einmal und sozusagen formell (so als würde der Spracherwerb allein schon garantieren, dass man sozial existiert). Dieses Versprechen muss, um glaubwürdig zu sein bzw. zu bleiben, vielmehr immer wieder neu dadurch eingelöst werden, dass Andere zuhören ‒­ was im Vorhinein durch nichts zu gewährleisten ist, auch nicht durch ein menschenrechtlich und grundgesetzlich verbrieftes Recht auf freie Meinungsäußerung.35 In dieser Perspektive bedeutet die gastliche Aufnahme von Neugeborenen wie auch von Fremden implizit, ihnen zu versprechen, sie nicht nur einmalig zur Sprache kommen zu lassen, sondern ihnen diese Möglichkeit immer wieder einzuräumen ‒ nicht als Ausdruck eigener Generosität 36 , sondern weil darin die buchstäblich elementarste Verbürgung sozialer Existenz überhaupt liegt. Wer kein Gehör findet, hört am Ende auf, überhaupt sozial zu existieren ­‒ bis auf kümmerliche Reste einer Sozialität, auf die selbst ein von allen Anderen abgeschiedener Eremit sich in seinen Selbstgesprächen noch stützen kann und muss. Umgekehrt gilt: Nur wer wenigstens die Chance hat, Gehör zu finden, wird die Hoffnung nicht aufgeben, an Andere zu appellieren, um eine passende Erwiderung zu erhalten. Man kann davon ausgehen, dass es darauf umso mehr ankommt, als die appellierenden Subjekte selbst tiefgreifend von einer sei es gattungsgeschichtlichen, sei es kontinentalen, (inter-) nationalen, ethnischen oder persönlich-biografischen Gewaltgeschichte geprägt sind, die ihrerseits danach verlangt, zur Sprache zu kommen. Gewaltsam und gewalttätig verletzte, entstellte oder in Teilen zerstörte Subjektivität kann sich nur an Andere wenden, um sich selbst verständlich zu werden. In besonders tragischen, aber auch defätistischen, zynischen und verächtlichen Formen tut sie dies nicht selten ihrerseits in verletzender Art und Weise, so dass sie gar nicht mehr als hermeneutische Herausforderung, sondern nur noch als destruktiv wahrgenommen wird.37 Selbst im Hinblick auf diese Fälle ist daran festzuhalten, dass es sich um (wie auch immer kaschierte oder pervertierte) Formen des Appells an Andere handelt. Selbst die Gewalt, die Anderen scheinbar nur noch zu verstehen gibt, dass sie zu vernichten sind und Sprache, Gewalt und die Gastlichkeit des (Zu-)Hörens  |  169

im Übrigen ›nichts‹ bedeuten, ›bedeutet‹ ihrerseits noch etwas und führt auf residuale Spuren einer symbolischen Dimension, die zu denken gibt, auch wenn sie ihren Adressaten buchstäblich ›Hören und Sehen vergehen‹ lässt. Soll es nicht zu verständnisloser Gegen-Gewalt kommen, die nach aller Erfahrung ihrerseits neue Gewalt-Verkettungen nach sich zieht, müssen in solchen Fällen wenigstens Dritte sich dazu durchringen, darauf zu hören, was die fragliche Gewalt ›besagt‹ und ›zu verstehen gibt‹. Sie sind das zumindest denjenigen schuldig, die künftig nicht auf die gleichen Abwege nur noch vernichtender Gewalt geraten sollen. In diesem Sinne gibt selbst eine Gewalt, die an die Grenzen der Sprache geht und sie scheinbar rücksichtslos überschreitet, noch etwas zu verstehen und verlangt uns ab, diejenigen zu hören, die womöglich bereits auf dem Weg in gleichartige Gewalt sind. Selbst angesichts derart extremer Fälle (wie jenen des rezenten Terrors in Belgien und Frankreich 38) werden wir noch an die Unabdingbarkeit unablässiger Wiederholung der elementarsten Geste der Gastlichkeit erinnert, die darin liegt, bereit zu sein, Anderen, ganz gleich, um wen es sich handelt, Gehör zu schenken und sie insofern symbolisch herein zu bitten. Das bedeutet nicht, Gewalttätern noch ›die andere Wange‹ hinzuhalten, Freundschaft anzubieten oder ihnen im Geringsten beizupflichten, sondern zunächst nur, sich einer Gastlichkeit nicht zu verschließen, ohne die kein Gesprächszusammenhang zwischen einander Fremden vor Exklusionen zu bewahren sein wird, die die politische Welt zerreißen.39 Diese Gefahr kündigt sich nach einschlägiger Erfahrung durch einen polemogenen Sprachgebrauch an, der früher oder später zu einer Rhetorik der Verächtlichmachung und des Hasses übergeht, der Andere erst symbolisch, dann realiter zum Abschuss oder für Schlimmeres freigibt. Aus derartigen Irrwegen sprachlicher Gewalt weist gewiss kein verbaler Irenismus einen Ausweg, der glauben macht, man könne sich ohne weiteres einer mit Gewalt kontaminierten und von ihr kaum mehr klar zu unterscheidenden Sprache enthalten. Denn wir liefern uns andauernder Gewalt umso blinder aus, je mehr wir uns Illusionen der Gewaltfreiheit hingeben. Dagegen werden wir vermeidbarer Gewalt, die keineswegs ganz von selbst »den Dingen innewohnt« (s. o.), umso besser entge170  |  Kapitel VI 

gentreten können, je genauer wir erkennen, wie leicht wir sie uns selbst zuziehen. Vor allem natürlich in der Gegen-Ge­walt, die sich angesichts schlechterdings nicht zu rechtfertigender, insofern ›böser‹40 Gewalt jeglicher hermeneutischen Herausforderung eigenen Gewalt-Verstehens enthoben und zu jedweder Gegenmaßnahme berechtigt glaubt. Genau das durchkreuzt eine Gastlichkeit des Hörens, das noch hin- und zuhört, wo Anderen nur noch Hören und Sehen vergeht; eine Gastlichkeit, die gewiss keinen einfachen Ausweg aus der ubiquitären Kontamination von Sprache und Gewalt weist, es aber vermeiden kann, sie auf letztlich fatale Art und Weise nur fortzuschreiben. Wie auch immer man diesen Zusammenhang von Sprache und Gewalt zu defatalisieren versuchen wird, es bietet sich dazu nicht einmal ein Ansatzpunkt an, wenn man nicht auf die Gastlichkeit des Hörens baut. Sie und nichts anderes ist das erste Zeichen des Friedens inmitten einer Welt, die nicht länger auf eine von jeglicher Gewalt apriori freizusprechende Sprache bauen kann und vielleicht deshalb dazu neigt, sich ihr widerstandslos zu ergeben. Immerhin: Dieses Zeichen ist jederzeit gegenwärtig möglich und braucht nicht auf das Ende der Zeiten zu warten.

Sprache, Gewalt und die Gastlichkeit des (Zu-)Hörens  |  171

K A PI T EL V I I Am Tisch mit Feinden Zur politischen Metaphorik der Gastlichkeit Bei jedem gemeinsamen Mal bitten wir die Freiheit an unseren Tisch. René Char1

Wenn davon die Rede ist, man müsse »sich zusammensetzen«, so handelt es sich meist um eine bloße Floskel, die besagt, man müsse wieder miteinander »ins Gespräch kommen« ‒ gerade auch dann, wenn der »Gesprächsfaden abgerissen« zu sein und schiere Sprachlosigkeit zu herrschen scheint. Dabei wird in der Regel der Tisch selbst, an dem man sich zusammensetzen kann, kaum bedacht. Doch verdient der Tisch besondere Aufmerksamkeit, wenn man bedenkt, dass er vor allem als ›Runder‹ symbolisch dazu dient, einen politischen Ort bzw. einen Ort des Politischen zu markieren, an dem selbst Feinde Platz finden ‒ ganz im Gegensatz zum ›privaten‹ Tisch, an dem genau das normalerweise völlig ausgeschlossen ist. Ohne derartige private und öffentlich-politische Implikationen systematisch zu unter­scheiden, spricht man üblicherweise in wörtlicher, metonymischer und metaphorischer Be­deutung von Tischen (1). Auf letztere wird es in der folgenden Skizze besonders ankommen; und zwar in politischer Hinsicht, auf die ich im Ausgang von der Kulturgeschichte (2) und von der sogenannten Tischgesellschaft (3) zu sprechen komme, die noch Immanuel Kant als rein private aufgefasst hat. Dagegen mache ich auf die öffentlichpolitische Bedeutung eines Zusammen­treffens aufmerksam, das nicht zuletzt Feinde wieder zusammenbringen soll. Dabei wird sich zeigen, dass es zum Verständnis des Tisches in seiner po­litischen Be­deutung, der auch ein utopisches Potenzial innewohnen könnte, ent­scheidend da­rauf ankommt, was an ihm geschieht (4) ‒ als einem kommunikativen Ort des Politisch­en, das sich gerade Feinden gegenüber bewähren muss. Das zeigt sich, wo danach verlangt 172  | 

wird, sich zusammenzusetzen, weil andernfalls jegliches weitere Zusammenleben unmöglich zu wer­den droht (sofern es nicht ohnehin schon ruiniert ist). Mit Blick auf das israelisch-paläs­tinensische Verhältnis gehe ich abschließend (5) darauf ein, was es bedeutet, sich um einen symbolisch als Ort des Politischen begriffenen Tisch zu versammeln.

1. Der Tisch als Ding, Metonymie und Metapher

Im Wörterbuch der Gebrüder Grimm heißt es vom Tisch, es handle sich »im allgemeinen [um] eine auf einem gestell, auf einem oder auf drei, vier füszen ruhende platte (scheibe, discus), etwas darauf zu stellen, zu legen u. s. w.«; z. B. Essbares. So ist vom »speisetisch« die Rede, »wofür wir die älteste nachricht aus Tacitus Germ. 22 haben, wo er sagt, dasz beim essen vor jedem ein kleiner tisch mit stuhl oder schemel gestellt ward (separatae singulis sedes et sua cuique mensa) wie nach altgriechischer sitte«. Metonymisch können aber auch »die auf den tisch zum essen vorgesetzten speisen, überhaupt das essen, die kost, mahlzeit, besonders die mittagsmahlzeit (wie schon [beim] lat. mensa)« gemeint sein.2 Was die Gelehrten nicht in Betracht ziehen, ist der Tisch als Metapher, wie sie später bei Walter Benjamin fungiert, wo er das Lesen als eine »gesellige Kunst« beschreibt und empfiehlt, das jeweilige »Buch auf solche Weise aufzuschlagen, so daß es winkt wie ein gedeckter Tisch, an dem wir mit all unseren Einfällen, Fragen, Überzeugungen, Schrullen, Vorurteilen, Gedanken Platz nehmen«.3 Schon hier ist die latente Idealisierung erkennbar, die sehr leicht ins Spiel kommt, wenn uns der Tisch als imaginäres Bild in den Sinn kommt – bis hin zum märchenhaft sich selbst deckenden Tisch, der auf Befehl alles zu wohlfeilem Genuss bereitstellt und uns auf diese Weise jeglicher Mühe zu entledigen verspricht. Tatsächlich, in der politischen Wirklichkeit, sei aber »der Tisch des Wohllebens […] nicht für alle gedeckt«, behauptet Ludwig Gumplowicz in seiner sozialdarwinistisch grundierten Sozialphilosophie. 4 Um ihn herum herrsche »arges Gedränge, und es ist von vornherein klar, daß nur die wenigsten von den ›allzu vielen‹ sich einen Sitz an demselben erkämpfen können. Auf die wenigen Am Tisch mit Feinden  |  173

Glücklichen, die am wohlbesetzten Tische Platz genommen, sind die neidischen Blicke der Ueberzahl der vom Mahle ausgeschlossenen, die sich mit den ihnen hingeworfenen Brocken begnügen müssen, gerichtet.« Diese Überzahl setze sich u. a. zusammen aus »aussichtslos Geborenen«, aus der »großen Masse der Missvergnügten, der Enterbten« und aus dem »großen Reservoir des sozialen Explosivstoffes, in das nur ein zündender Funke zu fallen braucht, um die ›Gesellschaft‹, die am Tische des Wohllebens sich gütlich tut, in die Luft zu sprengen«.5 So sind wir unversehens von wörtlicher über metonymische zu metaphorischer Rede übergegangen, die uns auf die Spur des Politischen führt, wenn wir sehen, dass der Tisch im politischübertragenen Sinne des Wortes nicht einfach wie ein Ding vorhanden ist, sondern besetzt und gedeckt werden kann. Die Fragen: wie (reich oder nicht), für wen, für wen nicht usw. drängen sich sofort auf. An den fraglichen Tisch, suggeriert der Sozialphilosoph, wird man nicht gerufen, gebeten oder geladen. Einen Platz an ihm kann man sich nur erkämpfen, auf Kosten Anderer, für die die vorhandenen Plätze niemals ausreichen werden. Demnach müsste jeder, der am Tisch des guten Lebens Platz nimmt, um dort seine eigenen Bedürfnisse (und nur diese) zu befriedigen, wenigstens einen Anderen verdrängen ‒ wie an einem Futtertrog, an dem keine Ordnung, sondern besagtes Gedrängel herrscht. Wer sich durchsetzt, besetzt den Tisch wie fremdes Land, von dem ihn nur explosive Gewalt wieder wird entfernen können, wenn diejenigen, denen man allenfalls Brocken hingeworfen hat wie Tieren, ihre Lage nicht länger hinnehmen. Wie am gedeckten Tisch unter solchen Bedingungen eine Art »Wohlleben« mit Tischgenossen soll stattfinden können, bleibt rätselhaft. Bevor es zum offenen Ausbruch von Gewalt kommt, die die Tischverhältnisse umzustürzen droht, erweisen diese sich ihrerseits schon als gewaltsame. Die vom Tisch Ausgeschlossenen haben entweder schlechtes, zu wenig oder gar kein Essen, hungern und müssen nehmen, was für sie ›abfällt‹ oder ihnen womöglich verächtlich hingeworfen wird. So hat das gute Leben derjenigen, die genug oder mehr als genug zu essen haben, die äußerste Demütigung als Kehrseite, welche es allen zumutet, die mit den Abfällen Anderer vorlieb nehmen müssen. 174  |  Kapitel VII 

2. Haus, Herd und Tisch in kulturgeschichtlicher Perspektive

Nach diesem kurzen Präludium muss bereits klar sein, dass es keine Harmlosigkeit ist, sich über die politische Implikationen einer Metaphorik des Tisches Gedanken zu machen, die wenn nicht seit Urzeiten, so doch wenigstens seit dem Neolithikum, in dem sich vom Frucht­baren Halbmond ausgehend die Sesshaftigkeit durchzusetzen begann, um Imaginationen der Teilhabe an gemeinsamem Mahl, des Herdfeuers und des Hauses gleichsam gravitiert. Mit Haus und Herd begann die Geschichte Europas, schrieb der Historiker Ferdinand Seibt. 6 Der Herd befindet sich im Haus, wo die Essenszubereitung im Rahmen einer komplexen Ökonomie der Bereitstellung von Nahrungsmitteln stattfindet ‒ von der Aussaat und der Ernte bis hin zur Bevorratung, Haushaltung und zur Zuteilung von Essen durch diejenigen, die die entsprechende Macht haben, zu essen zu geben, ihre Nahrung zu teilen oder auch zu verweigern ‒ sei es den Angehörigen ihres oîkos, sei es fremden Gästen. Die historische Kulturanthropologie interessierte daran lange Zeit vor allem die institutionelle Grund­­struktur sesshaft gewordener Lebensformen von den ersten Siedlungen der Jungstein­zeit bis zum sog. Ganzen Haus7 und dessen Auflösung in der Moderne. 8 Dass es die Gebrüder Grimm für erwähnenswert gehalten haben, dass sich die Germanen Tacitus zufolge seinerzeit »nach dem Waschen« zum Speisen jeder an einen »eigenen [!] Tisch« setzten9, beweist schon, wie wenig selbstverständlich es war, ob und wie man überhaupt zu­sammen isst; ganz abgesehen von der weitergehenden Frage, was gewissermaßen vermittelt durch den Tisch sonst noch an ihm stattfindet.10 Die Philosophie hat umgekehrt den Tisch ­a llenfalls als äußere materielle Gelegenheit dafür gelten lassen, dass stattfinden kann, worauf es vom platonischen Gastmahl bis zur kantischen Tischgesellschaft zwischen Menschen (bzw. Männern) eigentlich ankommt: Dialog oder »freies Spiel der Gedanken« ‒ nicht etwa bloß gemeinsame Nahrungsaufnahme oder kulinarischer Genuss.11 Dass der Mensch nach einem bekannten Diktum Ludwig Feuerbachs12 genau »das ist, was er isst«, gilt bis heute als vulgäre Einsicht und hat erst in jüngster Zeit dazu geführt, über die Arten und Weisen der Nahrungsaufnahme, allein oder zusammen, unter Am Tisch mit Feinden  |  175

nomadischen Bedingun­gen oder in sesshaften Lebensformen, unterwegs oder bei Tisch, nachzudenken. Der viel zitierte, inzwischen aber auch vielfach angefochtene »Prozeß der Zivilisation« (Norbert Elias) brachte es allerdings mit sich, dass man sich auf die Formen der Nahrungsaufnahme methodisch zu besinnen begann. Wir müssen essen und sind »essende Wesen«, heißt es; aber in zivilisatorischer Hinsicht kommt es entscheidend darauf an, wie dies stattfindet, d. h. wie man sich dabei ›benimmt‹ (bis hin zur Etikette).13

3. Immanuel Kant und die »Tischgesellschaft«

Für Immanuel Kant, einer der ersten, der in seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798) die Tischgesellschaft als solche überhaupt einer philosophischen Betrachtung für würdig hielt, war bereits ganz klar, dass das Essen in zivilisierter und kultivierter Form nur am Tisch stattfinden kann. In diesem Sinne spricht er vom »geschmackvollen Gastmahl«, führt dabei aber ästhetische, kommunikative und moralische Gesichtspunkte zusammen. Das mit Anderen geteilte gute Mahl soll nämlich auch »in guter Gesellschaft« zugebracht werden und geistigen Mehrwert abwerfen. Gutes Essen, gute Gäste, gute, freie und gedeihliche Gedanken, die noch über das Mahl hinaus wirken, so könnte man knapp zusammenfassen, worauf Kants ›Theorie‹ der Tischgesellschaft hinausläuft. Ganz in diesem Sinne erinnert er auch an Platon, bei dem er einen Gast mit den Worten zitiert fand: »Deine Mahlzeiten gefallen nicht allein, wenn man sie genießt, sondern auch so oft man an sie denkt«14 ‒ aufgrund gemeinsam genossener kommunikativer Freiheit nämlich (modern ausgedrückt). Das Gleiche hatte offenbar der eingangs zitierte französische Dichter René Char im Sinn, als er schrieb: »Bei jedem gemeinsamen Mal bitten wir die Freiheit an unseren Tisch. Der Platz bleibt leer, aber das Gedeck liegt bereit.«15 (Was an gewisse Sitten erinnert, die verlangen, stets einen Platz für einen Fremden frei zu halten.) Die Rede ist von »unserem Tisch«, nicht von einem, an dem man wie angeblich bei den alten Germanen ungesellig allein sitzt, so dass die Freiheit der Anderen, der Andersdenkenden, der Anderslebenden und sich womöglich befremdlich Verhaltenden gar nicht in die 176  |  Kapitel VII 

Quere kommen muss. Ist aber diese Freiheit nicht immer im Spiel? Muss man sie überhaupt eigens bitten, Platz zu nehmen? Und bedarf sie nicht gewisser Beschränkungen, soll es überhaupt zu einer ›gedeihlichen‹ Geselligkeit kommen können? Genau diese Frage hat auch Kant beschäftigt, auf den ich noch etwas genauer eingehen möchte, ohne aber seine Beschränkung freier Gastlichkeit auf eine bloß private Form des Sichversammelns um einen Tisch mitzumachen. Ich werde im Weiteren diese Beschränkung dadurch aufheben, dass ich den Tisch als politische Metapher gewissermaßen beim Wort nehme, um zu erkunden, was sie uns lehrt. »Genuss als innigste Einnehmung« stiftet an sich keine Geselligkeit. »Leibliche Befriedigung kann auch jeder für sich alleine haben«16 und so der »egoistischen Ausschließlichkeit jedes Essens«17 frönen. Die aber wird überwunden im gemeinsamen Mahl, in dem man sich durch den gewissermaßen geteilten Genuss »ästhetisch vereinigt«.18 Man genießt nicht nur nebeneinander, jeder für sich, was man zu sich nimmt, sondern darüber hin­aus den Genuss der Anderen ‒ was so weit gehen kann, dass man einander ›probieren lässt‹ und gleichsam füttert19, um »einander selbst zu genießen«20 , indem man die »Grenzlinie des Selbstbesitzes« immer wieder überschreitet. Doch die auf diese Weise gestiftete Nähe der um den Tisch Versammelten erweist sich als riskant, ja gefährlich, denn nichts ist so ab­stoßend wie ein de-platziertes Benehmen, also das als ›unpassend‹ empfundene und in Folge dessen »dissoziierende« Wie des Verhaltens, das man im wörtlichen und übertragenen Sinne des Ausdrucks ›nicht riechen‹ kann, wie es Georg Simmel in seiner soziologischen Ästhetik beschrieben hat.21 Wie Norbert Elias gezeigt hat, sollte der Prozess der Zivilisierung speziell der Tischsitten vielfach dafür sensibilisieren, was sich in der Gegenwart Anderer ›nicht schickt‹, ›was sich nicht gehört‹ und womöglich als unzumutbare Belästigung oder Beleidigung der Augen, der Ohren und schließlich aller Sinne, kurz: des Geschmacks, empfunden werden könnte. Kant weist aber darauf hin, dass bei Tisch eine »ständige Verleitung zum Unsittlichen« im Spiel bleibt, die in »Selbstbetäubung durch Unmäßigkeit, Gefräßigkeit, Versoffenheit« ausarten kann. Der Tisch selbst bietet für die um ihn Versammelten nur die Gelegenheit, sich in tugendhafter, huAm Tisch mit Feinden  |  177

maner, offenherziger und doch vertraulicher Art und Weise als gesellig zu erweisen. Dabei sollte die Tischgesellschaft ‒ wie schon das alte Gast­­recht, an das Kant hier selbst erinnert 22 ‒ wenigstens allseitige Sicherheit gewähren und dafür Sor­ge tragen, dass der eigentlich angestrebte »animierende« Gedankenaustausch bei Tisch (Kant nennt ihn zeitgemäß Räsonnieren) ungeachtet durchaus erwünschten Streits nicht in Rechthaberei und Entzweiung eskaliert.23 Man achte also, empfiehlt Kant, auf seinen Ton und lasse Strittiges lieber kommunikativ entschärft in der Schwebe, »damit keiner der Mitgäste mit dem anderen entzweiet aus der Gesellschaft in die Häuslichkeit zurückkehre«.24 Damit hat die private Geselligkeit ihr Bewenden. Bevor es ernst wird und einem der Appetit vergeht, geht man auseinander. Der gesellige Appetit ist hier gerade kein bloß kulinarischer, der sich am jeweils eigenen Genuss eines reich gedeckten Tisches delektiert, sondern ein sozialer Appetit ‒ zuerst auf Neuigkeiten des Tages, dann darauf, einander zu genießen vermittels des gemeinsamen Essens und dann auch der kommunikativen Freiheit, die Anderen bei Tisch nichts Unpassendes, Unappetitliches oder gar Widerwärtiges zumutet. Es handelt sich um eine kommunikative, sich selbst beschränkende Freiheit ästhetischer Rücksicht aufeinander, die gerade nicht erkämpft, sondern generös gewährt wird. Soweit Kant.

4. Was geschieht ›bei‹ bzw. am Tisch?

Was uns nun aber über Kant hinausgehend beschäftigen muss, ist die Frage, was bei Tisch ‒ zunächst in privater Gastlichkeit, wie er sie vor Augen hatte ‒ eigentlich geschieht und ob uns das in politischer Hin­sicht etwas lehrt (die Kant als ›öffentliche‹ aus seinen Überlegungen ausdrücklich ausschließt 25). Zunächst handelt es sich um die (Re-)Sozialisierung des Elementarsten.26 Mag auch jeder täglich seinen Hunger allein stillen, so dass er »ist, was er isst«; ursprünglich wird doch jedem zu essen und zu trinken gegeben. Ursprünglich ernährten wir uns nicht, sondern wurden ernährt, wie es das Stillen unverkennbar deutlich macht. Die darin liegende absolute Einseitigkeit wird gewiss überwunden und in Formen der Erarbeitung, Zubereitung und Bereit178  |  Kapitel VII 

stellung von Nahrung transformiert, die man dann in reziprokem und gemeinsamem Genuss zu sich nimmt. Während Kant nur das Gastmahl einer Männergesellschaft vor Augen hat, die sich in ihrer Geselligkeit über die Ökonomie der Gastlichkeit gar keine Gedanken macht, verhält es sich in familialen Lebensformen ‒ vom ehemals Ganzen Haus über die bürgerliche Kleinfamilie des 19. Jahrhunderts bis hin zu den egalitären und entkonventionalisierten Lebensgemeinschaften der Gegenwart 27 um altersmäßig und geschlechtlich differenzierte Lebensformen, in denen die Älteren für die Jüngeren Sorge tragen, sie zum Essen rufen, ihnen einen Platz gewähren und anweisen im Rahmen von Machtgefällen, die nur vorübergehend Bestand haben können und auf Gleichheit angelegt sind. Bis Gleichheit zwischen den Generationen und Geschlechtern realisiert werden kann, gilt aber auch hier: Man trifft sich am Tisch (falls man es überhaupt tut), um das geteilte Mal selbst sozial zu genießen. Ich genieße es nicht, wenn es nicht auch die Anderen, Kinder, Alte, vertraute Gäste oder unvertraute Fremde genießen. Und dieser Genuss erweist sich gewissermaßen als überdeterminiert: als ästhetischer, ethischer, sozialer, kommunikativer. Man vermeidet »tödliches Schweigen« (Kant), in dem die Präsenz eines jeden bedrückend erscheint. Man vermeidet tunlichst aber auch eine bloß harmlose Geselligkeit, die immerfort ernsten Dissens überspielt, so dass man sich schließlich nichts mehr zu sagen hat, wo Worte nichts mehr ausrichten, weil man aneinander vorbei gelebt hat.28 Hier geht es nicht um das Recht, sich gewaltlos zur Gesellschaft anzubieten und Geselligkeit um ihrer selbst willen zu genießen, oder nur um die alltägliche Sicherstellung familialer Reproduktionsfunktionen, sondern darum, über ausgeprägte generationelle und geschlechtliche Differenzen hinweg bzw. durch sie hindurch wenigstens Spielräume ›wirklicher‹ Kommunikation (wieder) zu eröffnen bzw. offen zu halten. Dabei mag die empirische Erfahrung massiv dagegen sprechen. Nichts missglückt so regelmäßig, pe­ netrant und unerträglich wie das alltägliche Tischgespräch ‒ zwischen verstocktem Schwei­­gen Minderjähriger, alltäglicher Routine und despotischer Machtausübung derjenigen, die drohen: »solange du deine Beine unter meinen Tisch streckst…«, um auf diese Weise die Generosität des Zu-essen-Gebens und geteilten Genusses brutal zu entlarven. Es ist also ihr Tisch, an dem das von ihm verwieAm Tisch mit Feinden  |  179

sene Kind oder der nur noch geduldete Jugendliche vorübergehend seinen Platz hat ‒ einen Platz, der ihm jederzeit entzogen werden kann, wenn dem dominus oder der domina die Worte ausgehen… Wiederholt sich das, so frisst sich eine Entzweiung in die familiale Lebensform ein, die nicht unbedingt daran kenntlich wird, ob einer den Tisch verlässt oder gar nicht mehr an ihm Platz nimmt. Sie kann jahrelang subkutane Wege gehen, bis man auseinander geht, so als ob man sich nie gekannt hätte.

5. Am Tisch mit Feinden. Übergang zum Politischen

Bis hierher war vom Tisch als Ding, als Metonymie und als Bild einer privaten Gesellschaft die Rede, ohne dass unmittelbar eine öffentliche und politische Bedeutung des Tisches im übertragenen Sinne des Wortes in den Blick gekommen wäre. Dabei ist die teils wörtlich, teils metaphorisch gemeinte Rede vom politischen Runden Tisch (round table, table ronde) weit verbreitet.29 Die im gegenwärtigen europäischen Horizont prominentesten Beispiele sind gewiss die Gespräche am Runden Tisch (mit neun Metern Durchmesser und Platz für 57 Personen) in Polen, die im Übergang vom sozialistischen Staat zur demokratischen Republik unter Beteiligung der Polnischen Vereinigten Ar­bei­terpartei, der Gewerkschaft Solidarność sowie der Katholischen Kirche zwischen dem 6. Februar und dem 5. April des Jahres 1989 stattgefunden haben, sowie der auf Initiative der Bürgerbewegung »Demokratie Jetzt« im Dezember des Jahres 1989 eingerichtete Runde Tisch in Berlin, der maßgeblich dazu beige­tragen haben dürfte, dass eine »friedliche Revolution« gelang. Begriffe wie Runder Tisch oder Verhandlungstisch (table des négociations, negotiation table) meinen symbolisch das Gleiche: die Aufhebung jeglicher Hierarchie zwischen den Beteiligten. Jeder Verhandlungstisch ist (in symbolischer Hinsicht) rund, insofern alle Beteiligten gleichermaßen an ihm Platz nehmen können, auch wenn er materiell eckig ist. Und jeder Runde Tisch muss Spielräume für Verhandlungen öffnen, was nur geschehen kann, wenn sich die Beteiligten ›auf Augenhöhe‹, d. h. als Gleiche begegnen, so unerträglich ihnen das zunächst auch erscheinen mag, haben sie es 180  |  Kapitel VII 

doch vielfach nicht nur mit Gegnern, sondern mit Feinden zu tun, mit denen man, einer in diesem Zusammenhang beliebten Formulierung zufolge, »nichts gemeinsam« zu haben glaubt. Genau das mutet aber der Runde Tisch denen zu, die an ihm Platz nehmen: Die Anderen trotzdem zumindest insofern als Gleiche gelten zu lassen, als sie gegenseitiger Ansprechbarkeit teilhaftig sind und als sie auf ihre eigene, freie Weise erwidern können, worauf man sie anspricht. Nimmt man an einem solchen Tisch Platz, so spielen durchaus gewisse, an Kants Tischgesellschaft erinnernde, Formen eines wenn nicht bereits friedlichen, so doch Gewalt wenigstens vorläufig suspendierenden Umgangs miteinander eine erhebliche Rolle. Aber denjenigen, die sich an einem Runden Tisch zusammenfinden, geht es nicht um Geselligkeit als Selbstzweck einer freiwilligen und zu genießenden ästhetischen Vereinigung. Viel­mehr sieht man sich dazu genötigt, ›sich zusammenzusetzen‹ und miteinander, möglichst ohne Vorbedingungen, zu sprechen ‒ und das auch und gerade dann, wenn dafür rein gar nichts spricht, weil man es ein- oder gegenseitig mit Feinden zu tun hat. Genau das bringt der Oberrabbiner Israel Meir Lau in einem aktuellen Interview mit Louis Lewitan zum Ausdruck. Israel Meir Lau ist berühmt geworden für seinen an die Palästinenser adressierten Ausspruch: »Setzen wir uns an einen Tisch und leben zusammen! Wir wussten immer, wie es ist, zusammen zu sterben. Jetzt ist es Zeit, zusammen zu leben.« »Aber was«, wird er dann von Lewitan gefragt, »wenn einfach nicht alle wollen?« Antwort: »Es hilft nichts. Alle müssen an einen Tisch, bis wir gemeinsam Frieden finden.«30 Was als zweifellos einladende politische Geste an die Adresse nicht nur der Feinde ›auf der anderen Seite‹ (der Palästinenser), sondern auch ›im eigenen Lager‹ gemeint gewesen sein mag und insofern beeindruckt 31, ruft allerdings viele Fragen auf den Plan. –– Von was für einem Frieden ist hier die Rede, wenn nicht vom »ewigen«, der laut Kant jegliche Feindseligkeit für immer sollte beenden können? Ist alternativ doch nur eine Art Waffenstillstand oder vorläufiger Friede gemeint, der als solcher schon an die nächste bewaffnete Auseinandersetzung, Intifada oder militärische Eskalation denken lässt?32 Am Tisch mit Feinden  |  181

–– Wie sollte man so lange an einem Tisch ausharren können, bis dieser Friede erreicht ist? In der Zwischenzeit würde offenbar am imaginären politischen Tisch keineswegs schon Friede herrschen, sondern mindestens eine Art fortgesetzter Unfriedlichkeit, in der man we­nigstens bis auf weiteres nicht mit handelsüblichen Waffen gegeneinander vorgeht. Würde das nur darauf hinauslaufen, mit Worten anstelle von Waffen bzw. als deren verbalen Surrogaten gegeneinander vorzugehen? –– Solange der angestrebte Friede nicht ›herrscht‹ (was er vielleicht niemals kann, wenn es denn stimmt, dass Friede streng genommen überhaupt nicht ›herrschen‹ kann), würde man trotzdem am politischen Tisch Platz nehmen, also nicht effektiven Frieden zur Vorbedingung machen. Aber wäre das Platznehmen am politischen Tisch nicht selbst schon Ausdruck eines Friedens, auf den man erst hinauswill und dem man auf diese Weise vorgreift, den man aber schon vorwegnimmt, indem man Andere, mit denen man bislang im offenen Unfrieden gelebt hat, wenigstens neben sich oder als Gegenüber duldet? Wäre das aber genug? Man setzt sich nicht an einen politischen Tisch, um einander nur zu dulden ‒ was man ja auch wortlos tun könnte. So wäre aber kein Frieden zu erreich­en. Man muss also nicht nur dulden, sondern ertragen, dass Feinde, die am Tisch Platz nehmen, ihre Stimme erheben und das Wort ergreifen ‒ um womöglich ›Unannehmbares‹ zu sagen. Ist von Feinden überhaupt etwas anderes zu erwarten? Am politischen Tisch Platz nehmen bedeutet mindestens implizit, darin einzuwilligen, dass man prima facie Unannehmbares, Unerträgliches, Provozierendes, Streit Verschärfendes anzuhören bereit ist; mehr noch: dass man jede gewaltsame ›Gegenreaktion‹ suspendiert bzw. unterlässt, soll es nicht sofort dazu kommen, dass die ›Gegenseite‹ den Tisch verlässt, um für unabsehbare Zeit nicht mehr an ihn zurückzukehren. Am politischen Tisch Platz zu nehmen bedeutet also: sich dazu bereit finden, sich alles Mögliche sagen zu lassen, sogar das Schlimmste, den extremsten Vorwurf (etwa für exzessive, extensive und radikale Gewalt ‒ einseitig ‒ verantwortlich zu sein). Es bedeutet weiterhin, nicht sofort widersprechen zu wollen, sondern den Anderen zuerst und so weitgehend wie nur möglich anzuhören, selbst wenn alles, was er vorbringen 182  |  Kapitel VII 

wird, nur den bereits bestehenden radikalen, polemogenen Streit zu verschärfen droht und Öl ins Feuer des Konflikts gießt, ob mit Absicht oder nicht. Am politischen Tisch Platz zu nehmen bedeutet weiterhin, wissen zu müssen, dass auch das, was man selbst an ihm zu sagen hat, von der Gegenseite genau so, nämlich als Verschärfung, empfunden werden kann und dass man niemals wissen kann, ob sie das erträgt und ihre eigentlich zu erwartende Gegenreaktion unterlässt oder wenigstens so lange aufschiebt, bis deutlich wird, ob man aus einer stets zur schismogenen 33 Eskalation drängenden Mechanik gegenseitiger Vorwürfe womöglich einen Ausweg findet. Warum sollte man sich aber auf ein solches, auf den ersten Blick vollkommen aussichtsloses Unterfangen überhaupt einlassen? Israel Meir Laus Antwort: »Es hilft nichts«; »wir müssen«. D. h. es gibt gar keinen anderen Weg, auch wenn das nicht alle einsehen und ihre Teilnahme verweigern, um einen Weg fortzusetzen, auf dem die Feinde nur eines gemeinsam zu haben scheinen: das Sterben (und vielleicht nicht einmal das). Implizit appelliert Israel Meir Lau so an eine Verantwortung für diejenigen, denen in Zukunft das gleiche Schicksal droht, obgleich sie am Zustandekommen der existierenden Feindschaft und an deren Aufrechterhaltung überhaupt keine Schuld tragen: die Kinder und Kindeskinder aller Seiten. Genug gestorben, suggeriert der Rabbiner. Und: »Es ist Zeit«, damit aufzuhören. Spätestens jetzt. Warum nicht vorher? War es nicht immer schon Zeit, aufzuhören? Ist es nicht von vorn­herein absehbar, wenn man sich auf den Weg gegenseitiger radikaler Verfeindung begibt, dass die Feinde schließlich nur noch ihr Sterben verbinden wird (und vielleicht nicht einmal das ‒­ wenn man bedenkt, wie die Opfer beider Seiten trotzig oder triumphierend zu Grabe getragen und für eine Fortsetzung tödlicher Politik in Dienst genommen werden, noch bevor die Erde sie bedeckt hat)? Wie auch immer der Rabbiner diese Fragen beantworten wird, auf jeden Fall hat sein Wort doch gegenwärtig Gewicht, insofern es sich über die destruktive Vorgeschichte vor allem der israelischpalästinensischen Verfeindung hinwegzusetzen versucht und, adressiert an die äußeren und die inneren Feinde, zur Einsicht aufruft: »Es hilft nichts«, wir müssen uns an einen Tisch setzen ‒ und Am Tisch mit Feinden  |  183

»zusammen leben« bzw. um es überhaupt miteinander aushalten zu können. Hierin liegt allerdings eine subtile Differenz: Muss man sich an einen Tisch setzen, um zusammen leben zu können; oder muss man ohnehin zusammen leben, und erfordert das unvermeidlich, dass man sich an einen Tisch setzt? Beides wird von den Uneinsichtigen offenbar mit Verve bestritten. Die Einen sagen: Wir wollen gar nicht zusammen leben und müssen uns deshalb auch nicht mit unseren Feinden an einen Tisch setzen. Eine Mauer, die hoch und stabil genug ist, um uns dauerhaft voneinander fern zu halten, genügt. Die Anderen sagen: Wir sind keineswegs faktisch zu einem Zusammenleben gezwungen, das uns dazu nötigen würde, uns mit unseren Feinden auf Augenhöhe am gleichen Tisch zu treffen, noch dazu als Gleiche, obgleich wir mit ihnen doch rein gar nichts gemeinsam zu haben scheinen… Sowohl das Zusammenleben-Wollen als auch das Zusammenleben-Müssen kann offenbar mit nachhaltigem Erfolg bestritten werden. Was dabei herauskommt, ist allerdings nicht zu bestreiten: eine endlose Geschichte der Feindschaft, die mit jedem gewaltsamen Tod, mit jeder fortgesetzten Diskriminierung und Missachtung immer neue Nahrung erhält und so die Zukunft der Nachkommen auf allen Seiten vergiftet in ihren Bann zieht. So ernährt sich die Feindschaft auf allen Seiten ohne erkennbares Ende von den Gründen, die sie selbst fortwährend schafft und erneuert. Solange sie andauert, wird man sich niemals an einen Runden Tisch begeben. Und umgekehrt: Wer dazu bereit ist, muss die Feindschaft wenigstens bis auf weiteres suspendieren und willens sein, ihr letztlich zu entsagen; und zwar radikal, nicht nur um einen gewissen Kompromiss zu finden, wie man es zwischen mehr oder weniger gewöhnlichen politischen Gegnern vielfach versucht hat. Das ist es, wozu der Rabbiner aufzurufen scheint: der Feindschaft nicht nur vorläufig, bis auf weiteres und zum eigenen Vorteil, sondern radikal zu entsagen; und zwar ohne Vorbedingungen und Vorbehalte. Wer sich ungeachtet oder vielmehr trotz einer tiefgreifenden Vorgeschichte gegenseitiger Verfeindung mit seinen Feinden an einen Tisch zu setzen bereit ist (ohne wissen zu können, ob diese es im gleichen Verständnis tun werden), muss zuerst seine eigene Feindschaft wenigstens suspendieren und sie letztlich aufzugeben bereit sein. 184  |  Kapitel VII 

Nur dann wird er selbst die Geste der Einladung und die von wem auch immer ausgesprochene Aufforderung ‒ »Setzen wir uns!« ‒ annehmen können und damit das politisch eigentlich Unmögliche tun: sich mit gerade jenen, mit denen die eigene Seite nichts gemeinsam zu haben behauptet, auf ein Gespräch einzulassen ‒ und den Vorwurf des Verrats an den eigenen Leuten zu riskieren, die genau dazu niemals bereit wären. Sich an einen Runden Tisch zu setzen, ist unter Bedingungen radikaler Verfeindung ein tödliches Risiko ‒ weniger in Anbetracht der Feinde, die zu ›reden‹ bereit scheinen und wenigstens einstweilen die Waffen schweigen lassen, sondern vielmehr angesichts derjenigen im eigenen Lager, die ihre Feindschaft nicht aufgeben wollen, weil sie ihnen teurer als alles Zusammenleben-Wollen oder -Müssen ist. Wer sich an den Runden Tisch begibt, mutet letzteren genau diese Wahl zu: für oder gegen die Feindschaft selbst. Und darin liegt die möglicherweise alle Beteiligten rettende Besinnung auf den Sinn des Politischen, das unter Bedingungen der Feindschaft bzw. der Verfeindung stets auf die erste einladende Geste setzen muss, welche den Weg zum Runden Tisch zumindest als vorstellbar erscheinen lässt. Der Sinn des Politischen ist allerdings nicht einfach irgendwo abrufbar oder emphatisch anzurufen. Regelmäßig verschwindet er in Prozessen der Verfeindung ganz und gar aus dem Blickfeld, so dass die Feinde überhaupt nicht mehr politisch zu koexistieren glauben.34 Daran, dass akzeptierte Koexistenz trotz aller Konflikte möglicherweise im Vergleich zu endloser Feindschaft (wenigstens für die Nachkommen aller Seiten) die attraktivere Option ist, müssen sie daher u. U. von Dritten erinnert werden. Gelingt das, so mögen sie einladen, an einem politischen Tisch Platz zu nehmen. An keinem Tisch der Welt aber haben alle Platz ‒ weder an einem Esstisch noch am Tisch des guten Lebens oder am Verhandlungstisch. Deshalb erfolgt jede Rückbesinnung auf das Politische ihrerseits unter konkreten politischen Vorzeichen, die uns fragen lassen: Um wessen Tisch handelt es sich? In wessen politischem Haus steht er? Wer bestimmt dort die Sitz- und Gesprächsordnung? Wer, welcher ›Herr‹, welche ›Herrin‹, hat dort das Hausrecht? Achten die MachthaberInnen die an den Tisch Geladenen gleichermaßen? Werden sie sich neutral verhalten? Kaschiert ihre Gastlichkeit nicht Am Tisch mit Feinden  |  185

den prinzipiell despotischen Charakter ihrer Macht über den Ort des Geschehens?35 Droht ihre Einladung nicht auf eine Gefangennahme hinauszulaufen, so dass man fürchten muss, erpresst und ›über den Tisch gezogen‹ zu werden? Spielt das setting den Geladenen nicht einen Streich? Wer lädt wen (nicht) ein? Wer bleibt außen vor? Wenn nicht alle jeweils Betroffenen einbezogen werden können, wie verschärft das die bestehenden Konflikte, statt sie zu entschärfen? Wer darf legitimerweise für wen sprechen? Und wie ‒ so dass man nicht binnen kurzem radikal ›entzweit‹ auseinander geht und für unabsehbare Zeit alle Chancen auf Verständigung verspielt? Diese unvermeidlichen politischen Komplikationen sollten davor warnen, sich von po­li­tischer Metaphorik allzu viel zu versprechen, die in der Rede von Runden Tischen stets auch mit anklingt. Dass zutiefst Verfeindete überhaupt (wieder) miteinander ‒ wenn auch vermittels Dritter ‒ sprechen, mag im Einzelfall an ein Wunder grenzen; aber das Miteinan­dersprechen selbst verspricht keine Wunder. Das allerdings Erstaunlichste an ihm ist die po­litisch zunächst geradezu als unmöglich erscheinende, außerordentliche Geste der Einladung an diejenigen, mit denen man nichts gemeinsam zu haben glaubt, so dass jegliche Verständigungsbasis mit ihnen zu fehlen scheint. Eine solche Geste ‒ und ihre ›Annahme‹ ‒ kann gewiss aus sich heraus keinen Frieden bewirken, der auch beim zitierten Rabbiner allenfalls am Ende einer langen Auseinandersetzung steht, falls er überhaupt möglich ist. Gleichwohl liegt in einer solchen Geste ein geradezu utopisch-irenisches Moment, wenn es stimmt, was ich hier plausibel zu machen versucht habe: dass nämlich die Geste der Einladung an einen politischen Tisch, die Bitte, an ihm Platz zu nehmen, ohne um sein Leben fürchten zu müssen, nur so zu verstehen ist, dass man auf diese Weise radikal der Feindschaft entsagt, zu der man doch allen Grund zu haben glaubt. Diesen Verzicht werden einem ›die eigenen Leute‹ womöglich nicht verzeihen. Wer am politischen Tisch, seinen Feinden gegenüber oder Seite an Seite mit ihnen, Platz nimmt, mag die drohende endgültige Entzweiung, die die Feindschaft in schlechter Unendlichkeit fortbestehen lassen würde, vorerst abwenden. Aber nach Lage der Dinge ist das nur möglich, wenn die politischen Tisch186  |  Kapitel VII 

genossen riskieren, den Abgrund der Verfeindung hinter sich, im eigenen Lager, aufbrechen zu sehen. Wird das Tischtuch nicht am Verhandlungstisch endgültig, auf nicht wieder gut zu machende Weise, zerschnitten, so droht doch genau das im Verhältnis zu den politischen Freunden, die sich so oft nicht als Freunde des Politischen herausstellen, das sich gerade angesichts des Feindes bewähren muss.

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K A PI T EL V I I I Die pathische Dimension des Politischen und die zweifelhafte Politisierbarkeit negativer Erfahrungsansprüche Gefährlich ist nur das unterdrückte Wort […]. Ludwig Börne1 Sprich, damit ich dich sehe. Baltasar Gracian 2

Muss man nicht denjenigen, die »im Dunklen« stehen, wie es in Bertolt Brechts Moritat von Mackie Messer heißt, dazu verhelfen, politisch sichtbar zu werden und mit ihren Anliegen gehört werden, wenn sie nicht selbst dafür Sorge tragen können? Nicht ›gesehen‹ und nicht ›gehört‹ zu werden, bedeutet das nicht, politisch gar nicht zu existieren bzw. geradezu einen politischen Tod zu erleiden, wie es Orlando Patterson, Judith Butler und viele andere nahe­legen? Selbst ein so nüchterner Analytiker des Politischen wie ­Jacques Rancière bekennt sich in diesem Sinne zu einer Schul­­ digkeit all jenen gegen­über, deren Leben sich in einer »dunklen oder verleugneten Wirklich­keit« abzuspielen scheint, warnt allerdings auch davor, sich ohne weiteres mit diesen ›Anderen‹, wie sie bei Guillaume le Blanc genannt werden, zu identifizieren.3 »Inaudible, donc invi­sible, donc ›Autre‹«, schreibt letzterer und erklärt soziale Unsichtbarkeit (invisibilité sociale) zum vorrangigen Politikum.4 Muss man sich nicht in der Tat wenigstens Gehör verschaffen und in diesem Sinne politisch sichtbar werden können, wenn man am politischen Leben Anteil haben und nicht ›mundtot‹ gemacht werden will? Die Debatte um die Frage, wie Sichtbarkeit und Hörbarkeit, das Soziale und das Politische theoretisch zu konfigurieren sind, ist noch lange nicht beendet, hat aber in den letzten Jahren eine auffällige Umpolung erfahren. Haben wir es ‒ besonders 188  | 

dank der virtuellen Medien ‒ nicht mit Phänomenen und Techniken zu tun, die den Schluss nahelegen, allzu viele verschafften sich ohne weiteres und bedenkenlos Gehör, ohne dabei irgendeiner ungerufenen oder paternalistischen Hilfe zu bedürfen? Stehen die sogenannten sozialen Medien nicht längst im Verdacht, einer kommunikativen Verwahrlosung Vorschub zu leisten, weil allzu viele ihre woher auch immer geholten Meinungen, Standpunkte und Überzeugungen unvermittelt politisieren, ohne zu bedenken, welchen Scha­den sie dabei vielleicht anrichten? Es wäre gewiss billig und wenig hilfreich, von solchen Beobachtungen aus zur x-ten ›Medienschelte‹ auszuholen. Doch verdient die Frage besondere Aufmerksamkeit, wie pauschale Meinungen, ressentimentgeladene Bewertungen und polemische Standpunkte, die kaum Interesse an einer kritischen Erwiderung verraten, unvermittelt politisiert und verbreitet werden ‒ unter Umständen auch mit geradezu anti-politischen Konsequenzen. Wie heute die Schwelle der Politisierung überschritten wird, zwingt zu erneuter Besinnung darauf, was unter dem Begriff des Politischen zu verstehen ist. Das zeigt auch der Aufschwung, den in den letzten Jahren die Rede von Gefühlen, Affekten und Emotionen in der historischen und philosophischen, kultur- und politikwissenschaftlichen Forschung er­fahren hat. Diese Konjunktur fügt sich rückblickend bemerkenswert in einen politischen Diskurs ein, der ‒ vielfach unter Berufung auf Platons Politeia (Buch IV, 436‒444) ‒ den Eindruck erweckte, speziell Wut, Zorn oder Empörung könnten für die eigentliche, ›thymotische‹ Vitalität des Politischen stehen. Stellvertretend für Autoren, die genau das in unterschiedlicher Weise nahelegen, seien hier nur Francis Fukuyama, Chan­tal Mouffe, Sté­phane Hessel und Peter Sloterdijk genannt. 5 Gefühle stellen sich allerdings keineswegs ohne weiteres bzw. von sich aus als ›politische‹ dar; sie lassen sich aber sehr wohl politisieren, vor allem dann, wenn sie mit negativen Erfahrungsansprüchen einhergehen. Dieser Begriff wird im Folgenden zuerst erläutert und im Anschluss daran die Frage aufgeworfen, ob Er­fahrungsansprüche aus einem páthos (lat. affectio, affectus, auch emotio und passio) hervorgehen, dessen selbstgerechte Inanspruchnahme letztlich antipoliti­sche Konsequenzen hat. Dabei geht es um einen hermeneutischen Vor­schlag zur Deutung des Die pathische Dimension des Politischen  |  189

Zusammenhangs von negativen Widerfahrnissen und deren Politisierung, der ein eminentes Problem politischer Theoriebildung darstellt. 6

1. Zur ›thymotischen‹ Vitalität des Politischen

Darauf, wie negative Erfahrung zu einer brisanten politischen Herausforderung wird, ist bereits vielfach am paradigmatischen Fall des Erleidens von Ungerechtigkeit hingewiesen wor­den.7 Tatsächliche oder vermeintliche Ungerechtigkeit ist es, woraus das Verlangen nach Gerechtigkeit überhaupt erst hervorgeht. Dabei nimmt Ungerechtigkeit nicht nur diejenigen, die ihr ausgesetzt sind, in Anspruch, wenn sie in eklatanten Fällen Gefühle des Zorns, der Wut und der Empörung hervorruft, sondern mündet auch in die Artikulation von Ansprüchen gegen Andere, die sich infolgedessen mit dem Verlangen nach Gerechtigkeit und speziell mit der Frage auseinandersetzen müssen, ob diese Ansprüche ein Anrecht auf etwas rechtfertigen. Bereits bei Platon (Minos 314c; Nomoi 864a; Politeia 443c ff.) kommt in diesem Sinne der Gerechtigkeit ein zentraler politischer Stellenwert zu. Und noch Kant war sich dessen sicher, dass sich nichts derart »dem Gemüt so heftig aufdringt, als […] mangelnde Gerechtigkeit«. 8 Erst das dialektische Denken wirft allerdings die Frage nach der im Erleiden von Ungerechtigkeit liegenden Negativität explizit auf.9 Dabei hat es sich herausgestellt, dass aus erlittener Ungerechtigkeit keineswegs durch bestimmte Negation10 eindeutig bereits das Gerechte hervorgeht. Letzteres bedarf vielmehr einer originären politischen Artikulation und dissensuellen politischen Auseinandersetzung, im Zuge derer es aus­zu­handeln und ggf. zu präzisieren ist ‒ auch auf die Gefahr hin, dass sich dabei die Ge­rechtigkeit in eine Vielzahl heterogener Gerechtigkeiten gleichsam zerstreut.11 Aus der negativen Erfahrung von Ungerechtigkeit bzw. aus dem Erfahrungsanspruch des als ungerecht Erlebten geht nicht ohne weiteres eindeutig ein zu rechtfertigender Geltungsanspruch im Sinne des Gerechten hervor.12 Im Übergang von der subjektiven Erfahrung zur akzeptablen Geltung eines Anspruchs bedarf das Gerechte selbst deshalb einer konstruktiven politischen Auseinan190  |  Kapitel VIII 

dersetzung, die das, was jeweils als gerecht gelten darf, überhaupt erst im Konflikt hervorbringt und es keineswegs unmittelbar der Erfahrung des Ungerechten entnehmen kann, sei sie auch noch so empörend und in diesem Sinne subjektiv eindeutig. Erst in den letzten Jahren hat die Forschung in dieser Perspektive Erfahrungsund Geltungsansprüche, die Negativität von Ungerechtigkeit als Quelle des Verlangens nach Gerechtigkeit und die dissensuellen politischen Prozesse der Artikulation von Ungerechtigkeit in historischer, politikwissenschaftlicher und philosophi­scher Sicht zusammenzuführen versucht.13 An diese Versuche knüpfe ich hier an, beschränke mich aber im verfügbaren Rahmen auf genau ein Problem dieses hyperkomplexen Problemfeldes, nämlich auf die Frage, ob eine Politisierung negativer Erfahrungsansprüche ‒ die sich keineswegs auf die Erfahrung von Ungerechtigkeit beschränken, sondern auch mannigfaltige Verletzungserfahrungen (der Würde, der persönlichen Integrität, der Gleichheit usw.) betreffen ‒ letztlich antipolitische Konsequenzen hat, wenn sie in selbstgerechter Art und Weise erfolgt. Dabei bleibt das weite Feld der Erforschung politischer Emotionen, die sich wie der revolutionäre Enthusiasmus, die Euphorie der optimistischen Initiative und die Geduld von Reformbemühungen gewiss nicht auf die angedeutete negativistische Perspektive reduzieren lassen, im Folgenden ebenso abgeblendet wie das speziellere Feld der Erforschung von Ungerechtigkeit, um der folgenden Frage Raum zu geben: Wie sind die Chancen und Gefahren der Politisierung negativer Erfahrungsansprüche zu beurteilen, wenn der Anfangsverdacht mit Recht besteht, dass letztere zwar einerseits der Quelle von politischem páthos entspringen, insofern sie den betreffenden Subjekten widerfahren und sie dabei in Anspruch nehmen, dass sie andererseits aber nicht von sich aus Ansprüche gegen Andere recht­fertigen können, wie es fragwürdige politische Solidarisierungsprozesse häufig suggerieren, in denen Wortführer nur die von Albert Camus herausgearbeitete Devise aller Revolten zu beherzigen scheinen: »Ich empöre mich«14 ‒ wie andere, ebenfalls empörte Zeitgenossen ‒, also existieren wir politisch und können sogar behaupten, dass wir im Namen des Volkes sprechen und insofern mit Recht sagen: »Wir sind das Volk.« So lohnenswert es sein könnte, die inzwischen zahlreich vorlie­ genden Variationen die­ser Prätention empirisch zu untersuchen, so Die pathische Dimension des Politischen  |  191

unverzichtbar erscheint es doch, vor diesem aktuellen polemischen Hintergrund den inneren Zusammenhang von negativen Erfahrungsansprüchen, deren politischer Artikulation und deren möglicherweise antipolitischen Konsequenzen genauer zu untersuchen. Denn nichts fordert gegenwärtig das politische Denken derart heraus wie Formen der Empörung, der Wut und des Zorns, die dem Politischen nicht etwa zugutekommen, sondern es zu ruinieren drohen. Wie aber und wodurch genau, bedarf der Klärung. Dazu sollen die folgenden Überlegungen mit der Konsequenz beitragen, den Begriff des Politischen im Lichte der kritisierten Selbstgerechtigkeit erneut zu prüfen. Zu diesem Desiderat führen die folgenden Überlegungen allerdings nur hin, ohne es schon einlösen zu können. Zunächst wird in einem Exkurs zur politischen Theorie der Antike zu bedenken gegeben, ob nicht eine nachdrückliche Revision des Widerfahrnisbegriffs dazu beitragen könnte, den gegenwärtig besonders strittigen Zusammenhang zwischen vielfach ›empörender‹ Erfahrung und Politik besser zu verstehen. Das scheint in Anbetracht der außerordentlichen Selbstgerechtigkeit, in der man sich im öffentlich vorgetragenen Protest nicht selten auf eigene Erfahrung beruft, dringlich. Im verfügbaren Rahmen dieses Beitrags beschränke ich mich darauf, genau diese Dringlichkeit plausibel zu machen, ohne aber schon zu einer Revision des páthos selbst anzusetzen, die viel weiter ausholen müsste, als es an dieser Stelle möglich ist.15 Mit diesem Begriff ist hier nicht das vielfach übertriebene, anmaßende und zum propagandistischen Missbrauch tendierende Pathos politischer Rhetorik gemeint, dem man mit großen Vorbehalten begegnet. Vielmehr ist das páthos im altgriechischen Sinn des Widerfahrnisses gemeint, das seit einigen Jahren wieder zu theoretischen Ehren gekommen ist, wo man sich gefragt hat, ob wir je ›autonome‹, ›souveräne‹, unserer selbst mächtige We­sen sind, wie es der moderne Subjek­tivitätsdiskurs zunächst nahegelegt hat. An diesem Selbstverständnis ändert sich allerdings nicht schon dadurch Grundlegendes, dass man zu­gibt, auch autonome, souveräne und angeblich ihrer selbst mächtige Subjekte hätten beispiels­ weise ›Gefühle‹ wie etwa Empörung, Wut und Zorn.16 Es kommt vielmehr darauf an, wie man diese versteht ‒ nicht zuletzt im Po­ litischen, wo Gefühle und Psychotechniken, die mit ihnen ›Politik 192  |  Kapitel VIII 

machen‹, eine polemo­­gene Dynamik freisetzen und infolgedessen für das Politische selbst höchst gefährlich werden können ‒ auch und gerade dann, wenn unter Be­rufung auf die fraglichen Gefühle statuiert wird, man leide an gewissen politischen Zuständen.17 Können aus Gefühlen, insofern aus ihnen ein Leiden an etwas hervorgeht, unmittelbar Ansprüche gegen Andere hervorgehen? Albert Camus hat das kategorisch verneint, indem er feststellte, dass Leiden keine Rechte verleiht.18 Hegel zielte in die gleiche Richtung, als er feststellte, dass man sich häufig nur auf Gefühle »beruft […], wenn die Gründe ausgehen«. »So einen Menschen« müsse man »stehen lassen; denn mit dem Appellieren an das eigene Gefühl ist die Gemeinschaft unter uns abgerissen«.19 Demnach berechtigen Gefühle von sich aus unmittelbar zu gar nichts. Doch ist damit keineswegs ausgeschlossen, dass sie kommuniziert und infolgedessen geteilt werden, um sodann in politische Solidarisierungsprozesse einzugehen, deren Kraft sich aus dem páthos negativer Erfahrung speist und diese Erfahrung öffentlich zur Geltung bringt. Die Frage ist allerdings, wie derartige Politisierungsprozesse genau zu verstehen sind und wie es sein kann, dass sie mit geradezu antipolitischen Konsequenzen einhergehen können. Es geht mir im Folgenden im Anbetracht dessen nicht um Gefühle als solche, sondern vielmehr um deren ›pathologische‹ bzw. pathische Deutung, die gerade keinen pejorativen Sinn haben soll, wie er meist vorliegt, wenn man das Pathologische dem Normalen gegenüberstellt. Demgegenüber insistierte schon Immanuel Kant darauf, dass wir ›pathologisch‹ bestimmte, endliche Wesen sind 20 , insofern unsere ganze Erfahrung da­von abhängt, dass uns, phänomenologisch gesprochen, etwas als zu Erfahrendes ›gegeben‹ wird.21 Das Pathische fällt so gese­hen mit unserer Endlichkeit zusammen und ist nicht ohne weiteres in der pejorativen Bedeutung des Wortes zu pathologisieren. Für unsere Endlichkeit steht in Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (§ 22) der Begriff des Gemüts, den Paul Ricœur wiederum auf den thymós Platons bezieht, um eine Vielzahl möglicher Verirrungen von Gefühlen aufzuzeigen ‒ angefangen von unbestimmter Unruhe, in die uns der thy­mós versetze, über einen »passionellen Wahnsinn«, der aus einem »Leiden aus Leidenschaft« keinen Ausweg mehr findet, bis hin zu einem ver­­­zweifelten Sichklammern an Objekte, an Ziele des Die pathische Dimension des Politischen  |  193

Habenwollens, der Machtausübung und des Geltungsbedürfnisses, das sich an Dingen und Menschen »vergreift«, indem es »seine Zielsetzung für das Ab­­solute« nimmt und so für Andere äußerst gefährlich wird.22 Das kann, wie sich zeigen wird, auch daran liegen, wie das, was uns negativ affiziert, politisiert wird und in negative Er­fah­rungs­ansprüche eingeht, die man an Andere adressiert bzw. gegen sie wendet. (Auf diese Frage werde ich mich im Folgenden weitgehend beschränken.) Dieses Affiziertwerden lässt sich nicht mehr ohne weiteres im Rückgang auf Kant beschreiben, der das Geschehen, in dem uns etwas in unserer Endlichkeit widerfährt, als ein kausales denkt. Darin können wir ihm gewiss nicht mehr folgen, nachdem eine reichhaltige phänomenologische Forschung vielfach aufgezeigt hat, wie wir auf Affizierendes in Spielräumen des Verhaltens ›Antwort gebend‹ Bezug nehmen, statt nur zu kausal veranlassten Re­­ak­tionen verurteilt zu sein.23 Trägt nun die pathische Deutung von Gefühlen von ihrem Widerfahrnischarakter her etwas zur Frage ihrer Politisierbarkeit bei? Lassen sie sich als Widerfahrnisse, die uns sprich­­wörtlich ›unter die Haut gehen‹, überhaupt politisieren? Und wenn ja, um welchen Preis? Wie soll man sich überhaupt die Verbindung zwischen Gefühlen, die unsere ›Befindlichkeit‹ ausmachen, mit politischem Handeln vorstellen, das am Ende mit ihnen ›Politik mach­en‹ will ‒ sei es, indem Andere nur beunruhigt oder aufgewiegelt werden, sei es, indem man ihnen (begründete oder falsche) Hoffnungen macht oder sie für eigene Anliegen sensibilisiert?

2. Rückgang auf Widerfahrnisse der Seele (Aristoteles)

Schon aus sprachgeschichtlichen Gründen sah man sich in der aktuellen Erforschung von Gefühlen rasch mit der Notwendigkeit konfrontiert, die allzu sehr ans Deutsche geknüpfte Rede von ihnen semantisch und etymologisch zu relativieren. In einem in diesem Kontext repräsentativen Sammelband geschah das unter dem dreifachen Titel Pathos, Affekt, Emotion.24 Nachdem man gleich zu Beginn behauptet hat, »was der antike, der mittelalterliche oder der neuzeitliche Mensch empfindet, wenn er zornig, eifersüchtig oder traurig wird, ist grundsätzlich dasselbe, und lediglich die Art und 194  |  Kapitel VIII 

Weise, wie er dieses Gefühl beschreibt, bewertet usw., ändert sich je nach historischem und kulturellem Kontext«25 , ging man dazu ü­ber, die unter Rekurs auf die Antike quasi summarische Rede von Gefühlen, Affekten oder Emo­tionen 26 vom ›pathischen‹ Charakter her zu deuten, der ihnen gemeinsam zu sein scheint. Das páthos, eine der aristotelischen Kategorien, ist indessen nicht ohne weiteres sozusa­gen geschichtsindifferent zum Verständnis von Gefühlen, Affekten oder Emotionen zu ver­­wenden. Als pathisch versteht Aristoteles nämlich zunächst alles, was von außen zustößt und mit Anderem geschieht, das sich seinerseits zum Widerfahrenden gar nicht oder nur passiv verhält. »Ein Widerfahren ist zum Beispiel: wird geschnitten, wird angezündet.«27 Stoff, der angezündet wurde, verhält sich nicht dazu, dass er in Flammen steht. Er brennt einfach an oder verbrennt. Was aber wie ein Lebewesen Schmerz erfahren kann, erleidet das Schneiden bzw. das Einschnei­dende, zu dem es sich so oder so verhalten muss. Das Erleiden ist selbst ein Verhalten und nichts bloß kausal Bewirktes. Sei es, indem es sich dem Schmerzhaften entzieht, sei es, indem es sich ihm aktiv widersetzt. Jedoch stellt Widerfahren zumindest in der aristotelischen Kategorienschrift den Gegenbegriff zum Tun dar.28 Durch was, wie und mit welchen Folgen Dingen, beseeltem Leben und auch Menschen etwas in einer für sie zu- oder abträglichen Art und Weise widerfährt, wird nicht weiter unterschieden.29 Allerdings kennt Aristoteles Widerfahr­nisse der Seele30 , die allesamt eines gemeinsam zu haben scheinen: sie geschehen einem passiv; man wird gleichsam in sie versetzt, ohne eigenes Zutun. In dem Moment, wo davon betroffen ist, was Aristoteles die Seele nennt, machen wir heute einen ent­scheidenden Unterschied: Seelisches Leben wird nicht ›beschädigt‹ (wie es noch Adornos Minima Moralia mit dem Untertitel Reflexionen aus dem beschädigten Leben glau­ben machen), sondern verletzt. Und daran, ob und wie das geschieht, ist es möglich­er­weise mitbeteiligt, so dass sich Erleiden und Tun nicht fein säuberlich vonein­ander trennen lassen. Heute würden wir sagen: Es muss sich um das seelische Leben von jeman­dem handeln, den wir als Person oder als Selbst ansprechen. Dagegen ist für Aris­to­teles die Seele ›etwas‹ ‒ etwas, was das Lebendige derart auszeichnet, dass man zu dem Schluss gelangen konnte, Leben und Seele seien im Grunde zwei Ausdrücke für dasselbe.31 Die pathische Dimension des Politischen  |  195

Wie dem auch sei: Von beidem ist ontologisch als ›etwas‹ die Rede, das in gewisser Weise alles ist, wie es in Aristoteles’ Schrift über die Seele ausdrücklich heißt 32 , weil es mit allem in Beziehung tritt bzw. alles, wovon Erfahrung möglich ist, überhaupt erst zugänglich macht. Sie gilt aber auch als etwas, das derart Teil von allem ist, dass es als ein be­sonderes Ding unter Dingen in einer scheinbar nichts auslassenden Ord­nung »ohne Außen« aufgehen kann. 33 Dabei, so scheint es, bleibt es noch bei Descartes, für den die Seele (âme) erklärtermaßen eine Sache (res) ist, ein »Es (das Ding), welches denkt«. Dieses hatte sich für Kant bereits in ein unbegriffliches »bloßes Bewusstsein« verflüchtigt, in die »gänzlich leere Vorstellung« eines »x, welches nur durch die Gedanken, die seine Prädikate sind, erkannt wird, und wovon wir, abgesondert, niemals den mindesten Begriff haben können«. 34 So könnte man, folgert Friedrich Schlegel, die Seele, diese laut Kant »besondere unkörperliche Substanz«35 auch »sehr bezeichnend […] ein Unding« nennen.36 Wenn diesem Unding nun aber Gefühle, Emotionen und Affekte zugeschrieben werden, so müssen sie sich wohl an einem »für andere unzugänglichen Ort« abspielen, weshalb Friedrich Schleiermacher von der »absoluten Geschiedenheit der Individuen« und von der »Verschlossenheit [ihres] Daseins« spricht.37

3. Das seelische Un-Ding: weltlich/weltfremd

So hat es den Anschein, als müsse in einer modernen Theorie der Gefühle, die von solchen Prämissen ausgeht, jeglicher Weltbezug verloren gehen, wie er den antiken Theorien noch ganz selbstverständlich war. Die Widerfahrnisse der Seele bedeuteten demnach, dass man sich im Hass (mîsos), voller Mitleid (éleos) oder Zuversicht (thársos) in der Welt befindet und dass diese ›Befindlichkeit‹, ontologisch gesprochen, Auskunft über das In-der-Welt-sein selbst gibt, das von sich aus zunächst überhaupt nicht trennt zwischen einem angeblich nur jedem selbst zugänglichen Innen- oder Privatleben einerseits und einer allen offen stehenden und objektiv vorliegenden Welt andererseits. Während Aristoteles nahelegte, die so oder so ›gestimmte‹ Seele manifestiere sich unweigerlich auch selbst ›welthaft‹ (insofern sich die Welt für ihn überhaupt nur see196  |  Kapitel VIII 

lisch darstellte), sieht es unter modernen Bedingungen so aus, als geschehe ihr Leben in einer von außen nicht einsichtigen, privaten, inneren und un-dinglichen Welt, der paradoxerweise alles abgeht, was einst eine Welt ausgemacht haben mag: allgemeine Zugänglichkeit und Beständigkeit vor allem. Ständig werden wir ›Andere‹ (in den Augen Anderer, aber auch unserer selbst), stellte schon Montaigne fest. 38 Und auf uns sei insofern weder Beständiges zu gründen noch praktisch Verlass. Ob wir überhaupt so etwas wie eine Seele, ein solches Un-Ding, ›haben‹, das sich nicht ständig in der Alteration von allem und jedem auflöst, ist seitdem die Frage. Gewiss mag manches darauf hindeuten, vor allem die Stimme, die das Befinden von jemandem kundtun kann, der offenbar auch dann existiert, wenn über dessen Seele nichts bekannt ist. Gerade die Stimme ist das Flüchtigste überhaupt. Das Verlautbarte verhallt oder sinkt im »Schacht der Erinnerung« Hegel zufolge in eine »Nacht der Aufbewahrung«39, wo alles sei­ne Präsenz einbüßt, bis es gegebenenfalls als Sagbares wieder heraufgeholt und erinnert wird, um als Gesagtes, zu Ver­schrift­ lichendes und Überlieferbares gewissermaßen zu überleben.40 Ungeachtet dieser offenbar nur ›geistig‹ aufzuhaltenden Flüchtigkeit all dessen, was sich aus seelischer Befindlichkeit heraus äußern mag, glaubt Hegel doch angeben zu können, worum es sich in jedem Fall handeln muss, wo wir mit Seelischem zu tun haben: nämlich um ein Sich-verhalten zur Welt, zu Anderen und zu sich selbst.41 Wenigstens das müsste demnach jeder Versuch zur Kenntnis nehmen, sich auf die pathischen Dimensionen menschlicher Erfahrung, speziell von Gefühlen, zurückzubesinnen, um zu klären, inwiefern letztere Widerfahrnischarakter haben. Dem Sichverhalten müssen darüber hinaus gewisse Spielräume offen stehen, so dass es niemals ganz kausal determiniert sein kann und sich unvermeidlich responsiv vollziehen muss.42 Dabei schlägt es nur dann nicht in völlige Beliebigkeit (und infolgedessen zu­gleich in Orientierungslosigkeit) um, insofern es von Anfang an in nicht-indifferenter Art und Weise geschieht. Seelisches Leben ist den Verhaltensspielräumen, die sich ihm eröffnen, so oder so zugewandt, an ihnen ›interessiert‹ oder auch aversiv auf sie bezogen; niemals aber so, dass es ihm vollkommen gleichgültig sein könnte, was mit ihm geschieht.43 Das bedeutet nicht, dass es Die pathische Dimension des Politischen  |  197

nur an sich selbst interessiert sein kann oder dass es dazu verurteilt wäre, sich den Vorgaben purer Selbsterhaltung im Sinne eines spinozistischen conatus essendi zu unterwerfen.44 Nur muss es immerfort irgend­w ie ›Stellung nehmen‹ zu allem, was ihm widerfährt, sei es in zuträglicher, sei es in abstoßender, sei es auch in ›gemischter‹ Art und Weise. Nur dann ›lebt‹ seelisches Leben eigentlich, wenn es in diesem minimalen Sinne auch am Leben ›interessiert‹ ist und nicht einfach ›am Leben ist‹. Mehr noch: Seelisches Leben geschieht im Gegensatz dazu von Anfang an ›im Interesse‹ seiner wirklichen Lebbarkeit ‒ nicht nur an seiner schieren Selbsterhaltung. Die Lebbarkeit kann auch unter ›nor­malen‹ Bedingungen als ex­trem gefähr­det erscheinen, so dass man die Flucht ergreift ‒ sei es vor äußerer Gewalt, sei es davor, dass in Beziehung auf die Welt, Andere oder sich selbst nicht mehr erkennbar ist, was seelisches Leben als solches eigentlich aus­macht. Wie kaum etwas anderes macht seelischer Schmerz genau dies offenbar. Als nur an einem in sich selbst zurückgezogenen, von außen nicht erkennbaren Un-Ding sich entzünden­der Affekt kann er sich allerdings nicht mehr einer Welt versichern, in der sich seelisches Leben ›befinden‹ müsste, wenn wir der aristotelischen Theorie folgen. Genau das bringt der vielfach verspottete romantische Welt-Schmerz zur Geltung. Ontologisch zeigt er an, wie sich seelisches Leben so ›in‹ der Welt befinden kann, dass es ihr vollkommen fremd geworden zu sein scheint ‒ oder immer schon fremd war und fremd bleiben muss, wie es die von Franz Schubert vertonte Winterreise Wilhelm Müllers anzeigt, die mit den Worten einsetzt: »Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh’ ich wieder aus«… Dabei ist man sich weder der Welt noch auch der derart weltfremden Seele sicher. Man weiß nicht, ob sie so ›verfasst‹ sein muss, ob poetische Sprache (und nur sie allein noch) zur Sprache bringt, wie es um sie bestellt sein muss, sobald sie ihren ontologischen Rückhalt an der Welt ganz und gar eingebüßt zu haben scheint 45 , oder ob es sich lediglich um exaltierte Worte und Töne von exzentrischen Ausnahmeexistenzen handelt, wo die Welt-Fremdheit kaum mehr lokalisierbarer Seelen beschworen wird. Unbestreitbar ist, dass die gleiche Zeit, die den Welt-Schmerz und die WeltFremdheit beschwor, auch das notorisch »kalte Herz« besang, das von solchen Fragen scheinbar gar nicht mehr angekränkelt wird.46 198  |  Kapitel VIII 

Und ob es sich bei der frühzeitig diagnostizierten »metaphysischen Erkaltung der Seele«47 überhaupt um einen Verlust ihrer ›Weltlichkeit‹ bzw. ihrer ›Welthaftigkeit‹ oder vielmehr um eine endgültige Befreiung von der Welt handelte, ist noch heute nicht ganz ausgemacht. Man würde der Ambiguität dieses Prozesses jedenfalls nicht gerecht, wenn man ihn nur in der Perspektive des Verfalls einer angeblich zu­vor gegebenen Ge­borgenheit in der Welt und einer fälligen Wiedereinhausung in sie deuten wollte. Wo es bei Arthur Rimbaud heißt: »Ganz entschieden sind wir außer der Welt« und wo Charles Baudelaire eine »fast erstorbene Seele« schreien lässt: »Ganz gleich wohin, nur außerhalb dieser Welt muß es sein!«, haben wir es jedenfalls nicht mit einem nostalgischen oder re­stau­ rativen Weltbezug, sondern damit zu tun, dass man sich jeglicher bruchlosen Einfügung in die Welt widersetzt.48 Unter diesem Vorbehalt kann man sagen, dass seit der Romantik ein bis heute nicht abgeschlossener (und vielleicht niemals abzuschließender) Kampf um Rückgewinnung des Weltbezugs stattfindet ‒ die allerdings die artikulierte Welt-Fremdheit nicht mehr wird tilgen können. Genauer: Es geht um eine ›Weltlichkeit‹, die unsere Befindlichkeit selbst ausmacht und sich gerade nicht einer Seele, einem Ich oder einer Subjektivität verdankt, die einen ›Bezug‹ zur Welt eigens ›herstellen‹ müsste. Wie unangemessen eine derartige, verbreitete Ausdrucksweise dem ontologischen Befund der ›Weltlichkeit‹ unseres Daseins ist, ist im Anschluss an Hei­deggers, ausdrücklich an Aristoteles anknüpfende Revision des Weltbegriffs von Maurice Merleau-Ponty bis hin zu Jean-Luc Nancy immer wieder deutlich geworden.49 Paul Ricœur setzt diese Revision erkennbar fort, wo er auf eine »nicht-deskriptive Beziehung zur Welt« aufmerksam machte, deren Wahrheit nicht auf dem Weg der Referenz, der Verifikation und Falsifikation festzustellen sei. Wie wir der Welt ›zugehören‹ vor jeglicher epistemischen Distanz, offenbare sich gerade durch Emotionen, wie sie die poetische Rede zum Vorschein bringe, ohne sie einfach als ›subjektive‹ einzustufen. »Als ob die Emotionen einfach ›subjektiv‹ wären!« Was wir so nennen, drückt vielmehr »ebenso sehr Weisen des Erscheinens der Dinge aus wie Weisen unseres Verhaltens zu diesen. Mit wieviel stärkerem Recht erst werfen uns die Empfindungen, Stimmungen, ›moods‹, ›humeurs‹, die durch Die pathische Dimension des Politischen  |  199

die dichterische Sprache ausgedrückt, geformt, gebildet werden, mitten in die Din­­­­ge.«50 Mehr noch: Indem wir uns irgendwie ›befinden‹, gehen wir im Weltbezug gerade­­zu auf, ohne dass sich noch Relata deutlich unterscheiden ließen. Was Heidegger in diesem Sinne Befindlichkeit oder auch Stimmung51 genannt hat, lässt sich phänomenologisch gerade nicht als gefühlsmäßige ›Bezugnahme‹ eines Subjekts auf eine ihm gegenständlich vorliegende Welt oder als kausales Affiziertwerden von ihr verstehen, wie man es bei Spinoza beschrieben findet.52 Von ›Welt‹ ist hier nicht als ›kosmischem‹, substanziellem Bestand einer alles und jeden umfassenden Ordnung die Rede; auch nicht kosmo-politisch im modernen (kantischen) Sinne universalen Bezugs auf all jene, mit denen jedermann in kommunikativer Verbindung stehen kann53 , sondern im Sinne einer ursprünglichen Welt-Habe, die kein Besitz ist, den man sich eigens verschaffen könnte. Gemeint ist vielmehr ein ›Versetztsein‹ in ein Geschehen, in dem sich so etwas wie ›Welt‹ überhaupt erst ›bildet‹ ‒ nicht ›subjektiv‹ durch uns, sondern durch die dem Dasein selbst eignende »Offenbarkeit« alles anderen.54 Nach deren Maßgabe versetzt man sich nicht in Andere, wie es Mitleids-, Empathie- und Einfühlungstheorien von den schottischen Moralisten über Adam Smith bis hin zu Max Scheler, Theodor Lipps und Edmund Husserl glauben machten. Die Frage, wie wir uns »in einen anderen Menschen versetzen« können, weist Heidegger sogar als sinn­­widrig ab, da nach Maßgabe jenes »Versetztseins« das Mitsein mit Anderen immer schon »zum Wesen der Existenz des Menschen, d. h. eines jeden je Einzelnen« gehöre. 55 So hat es nicht nur den Anschein, als bedürfe es überhaupt keiner wohlwollenden, sympathischen oder empathischen und sozial-kognitiven Anstrengung, um mit Anderen als solchen Verbindung aufzunehmen; die ontologische Rede vom Mitsein suggeriert auch, man könne aus der Welt, in die man mit Anderen ›versetzt‹ sei, niemals herausfallen. Genau diese Erfahrung hatte dagegen Hannah Arendt im Sinn, wo sie von der »Weltlosigkeit« der displaced persons, der sans papiers, der Exilierten und der Inhaftierten ihrer Zeit sprach. 56 Gewiss: Auch diese waren auf der Welt; d. h. aber nur, dass sie auch im Elend ›irdisch‹ leben mussten. Sie waren in der Welt im Sinne eines ›Zur-Welt-seins‹; ihnen war das Seiende zugänglich, unter das sie 200  |  Kapitel VIII 

sich (mehr oder weniger elend) ›versetzt‹ sahen. Aber sie konnten vielfach keiner politischen Welt mehr zugehören, die jedermann nur der Aufnahme Anderer in eine gemeinsam geteilte Lebensform verdankt, in der allein man auch auf Dauer eine verlässliche Bleibe haben kann. 57 Jede Bleibe aber kann man einbüßen, wenn diese Aufnahme revoziert wird und man infolgedessen einer »Verlassenheit« überantwortet wird, die Arendt mit der Erfahrung politischer Weltlosigkeit geradezu gleichzusetzen schien. Demnach ist man niemals ein für alle Mal (politisch) auf oder in der Welt. Vielmehr ge­schieht die Aufnahme in eine politische Welt, die ihren Namen verdient, stets nur unter widerruflichen Bedingungen, die wenigstens eines garantieren sollten: dass man sich an An­­­dere überhaupt auf Erwiderung hin wenden kann, um Gehör zu finden. Gewiss kann sich das Politische einer gemeinsam geteilten Welt darin nicht erschöpfen. Es muss vielmehr damit zu tun haben, wie man Gehör findet, wenn man Andere anspricht und in Anspruch nimmt, um ggf. ein Anrecht geltend zu machen, auf dessen Anerkennung und institutionelle Verbürgung es schließlich ankommen wird. Selbst politische Lebensformen, die dafür einstehen und das »Recht der Person« (Hegel), ihre Bürger- und Menschenrechte anerkennen, schließen aber die Erfahrung nicht aus, nicht mehr Gehör zu finden und politisch quasi mundtot zu werden. Im ›Besitz‹ solcher Rechte zu sein, wie man fragwürdigerweise sagt, ist eines; ob man praktisch wirklich ›in ihren Genuss‹ kommen kann, ist eine andere Frage. Insofern ist die Zugehörigkeit zu einer politischen Welt grundsätzlich prekär. Und man kann sie so weitgehend einbüßen, dass man alles daran setzen muss, (wieder) gehört zu wer­­den, um sich dadurch überhaupt erst wieder der eigenen politischen Existenz versichern zu können. Meine These lautet nun, dass dafür die Artikulation von negativen Erfahrungsan­sprü­chen eine unverzichtbare Rolle spielt, die jemandem widerfahren, indem sie pathisch ›unter die Haut gehen‹. Nur wenn eine solche Artikulation wirklich und effektiv möglich ist, erfahren wir praktisch unsere Zugehörigkeit zu einer mit Anderen geteilten politischen Welt. Solange wir in ihr aufgehen, wird die Fraglichkeit und Brüchigkeit dieser Zugehörigkeit nicht offensichtlich, so dass wir weitgehend vergessen können, was sie ausmacht. Das gilt auch für die politische Theorie und Philosophie Die pathische Dimension des Politischen  |  201

selbst: sie muss sich auf methodisch-nega­tivisti­schem Wege dessen versichern, was von dieser Zugehörigkeit abhängt und zu diesem Zweck all jene Erfahrungen untersuchen, in denen sie prekär und schließlich ruiniert erscheint. Solche Erfahrungen manifestieren sich vielfach in Be­findlichkeiten wie dem Gefühl, von allen ›ver­ lassen‹ zu sein, in den Augen Anderer praktisch gar nicht mehr zu existieren, nur noch auf der Welt ›vorhanden‹ zu sein, aber für niemanden mehr ›Bedeutung‹ zu haben, so als ob man gar nicht da wäre, also politisch tot zu sein, usw. Im Folgenden möchte ich nun der Frage genauer nachgehen, wie es um die Politi­sier­barkeit solcher Befindlichkeiten im Hinblick auf eine als gefährdet erfahrene Weltzu­gehö­r igkeit bestellt ist, aus der negative Erfahrungsansprüche hervorgehen. Dabei bewege ich mich zwischen zwei (m. E. unhaltbaren) Positionen: zwischen (a) der Reduktion solcher Befindlichkeiten auf eine bloße Zuständlichkeit (x ›ist‹ zornig, wütend, empört usw.) einerseits und (b) einer Apologie der Stimme andererseits, die beschwört, man müsse nur auf sie hören, um Anderen gerecht zu werden, die aus einer gemeinsam geteilten Welt herauszufallen drohen ‒ als ob wir nicht auch mit einer Kakophonie gerade derer kon­f rontiert wären, die das zu beklagen scheinen, denen aber offenbar nur daran liegt, Andere zu übertönen; als ob wir es nicht auch mit einer Selbstgerechtigkeit zu tun hätten, die nur sich selbst hört, der aber gar nichts daran zu liegen scheint, in einen politischen Dialog einzutreten; als ob wir nicht mit einer penetranten politischen Rhetorik zu tun hätten, die immerfort unter Berufung auf angeblich nicht ›Gesehene‹58 und ständig ›Überhörte‹ »das Volk« im Munde führt und dessen »Stimme« anmaßend für sich exklusiv in Anspruch nimmt. 59 Während im ersten Fall (a) übersehen wird, wie Befindlichkeiten mit einem an Andere adressierten Verlangen einhergehen, mehr oder weniger berechtigten Ansprüchen Rechnung zu tragen (allen voran dem Anspruch, überhaupt Gehör zu finden), hat es im zweiten Fall (b) den Anschein, als sei die laut werdende Stimme eo ipso als ›politische‹ zu verstehen. (Wogegen schon Aristoteles mit seiner Unterscheidung von phoné und lógos Einspruch erhoben hat. 60)

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4. Zur originären Politisierung negativer Erfahrungsansprüche

Demgegenüber frage ich nach dem transitiven Geschehen einer originären Politisierung von Gefühlen, die politisiert, was sich keineswegs von sich aus ohne weiteres als ›politisch‹ darstellt. Indem ich so vorgehe, unterstelle ich zunächst, dass Gefühle mit Erfahrungsansprüchen einhergehen und dass sie ihrerseits als Erfahrungen zu verstehen sind, die uns in Anspruch nehmen, beanspruchen und zur Auseinandersetzung mit Anderen zwingen, gegen die man ggf. unter Berufung auf die eigene Erfahrung Ansprüche auf deren Beachtung und Anerkennung erhebt. Gefühle ‒ wie die des Nichtbeachtet- oder Vergessenwerdens, des Ver­­letztwerdens, des Gede­ mütigt-, Verraten- und Verachtet-werdens, die politisch relevant werden, indem man sie nicht nur auf ›bekannte‹ Andere, sondern darüber hinaus auf institutionelle Strukturen des Zusammenlebens zurückführt, nehmen uns in Anspruch und verlangen danach, als Erfahrungsansprüche an Andere adressiert zu werden. 61 Darunter vor allem solche, die als besonders ›widrig‹ empfunden werden oder die sich auf ›Widriges‹ beziehen, das kaum oder gar nicht als hinnehmbar erscheint. Hier geht es sowohl um die Tatsache, dass uns solche Erfahrungsansprüche widerfahren, als auch um das Erfahrene als solches, um den ›Inhalt‹ der fraglichen Gefühle, sofern sich ein solcher ausmachen lässt (wie im Fall der Trauer das Betrauerte, im Fall der Empörung das Empörende, nicht Hinnehmbare als solches, wie es Husserl als Noematisches eingestuft hätte). Aus solchen Gefühlen ragen wiederum besonders ›negative‹ heraus, insofern sie nicht nur jetzt Widriges (nicht Sein-sollendes) zum Vorschein bringen und sich nicht nur vor­übergehend, uns nur teilweise betreffend, einstellen, sondern unser Leben im Ganzen und auf Dauer tangieren. In diesem Fall ruft man aus (falls die fragliche Erfahrung nicht, wie so oft, sprachlos macht): Es sei »nicht hinnehmbar«, »empörend«, »skandalös«, dass… Kommt die fragliche Erfahrung nun zum Ausdruck und wird sie ‒ wie auch immer ange­messen oder unangemessen ‒ an Andere adressiert, ist damit schon die Schwelle der Politisierung überschritten? Und wie ist sie zu überschreiten, wenn wir davon ausgehen müssen, dass negative Gefühle, Befindlichkeiten und Erfahrungen wie die genannten keineswegs von sich aus politisch sind, sondern erst im Zuge Die pathische Dimension des Politischen  |  203

ihrer Artikulation, die an Andere adressiert ist, eine Politisierung erfahren; und zwar so, dass dabei unter Umständen das Politische selbst nicht nur thymotisch belebt, sondern auch gefährdet wird? Negative Erfahrungsansprüche, die aus Gefühlen, Befindlichkeiten und Affekten wie Zorn, Wut und Empörung hervorgehen bzw. mit ihnen einhergehen, ›sind‹ nicht von sich aus ›politischer Natur‹. Sie werden vielmehr im Zuge ihres Ausdrucks und ihrer Adressierung an Andere ‒ absichtlich oder unabsichtlich ‒ politisiert und erfahren dabei eine Transformation. Originär zu politisieren ist im transitiven Sinne des Verbs nur, was nicht bereits politisch ist. Und im Prozess der Politisierung bleibt möglicherweise etwas zurück, wenn die fragliche, unter die Haut gehende Erfahrung betroffener Subjekte, die ihnen originär nur selbst gegeben sein kann62 , nicht als solche zu politisieren ist. Darüber hinaus wird aber etwas gewonnen, sollte man meinen. Wozu sonst würde man negative Erfahrungsansprüche an Andere adressieren. Was aber wird gewonnen? Damit Adressierungen negativer Erfahrungsansprüche wenigstens eine virtuelle politische Qualität zukommen kann, müssen sie nicht nur einem oder einer Anderen gegenüber, sondern im Verhältnis zu Dritten als ›adressierte‹ ins Spiel kommen. Mehr noch: Dritte sind zwar von Anfang an in jedem Verhältnis zu Anderen im Spiel, wie Em­manuel Levinas 63 und die an ihn anschließende, inzwischen weit fortgeschrittene Diskussion seines politischen Denkens gelehrt hat, keineswegs aber auch unumgänglich das konkrete Bewusst­sein, sich im Horizont einer Tertialität zu bewegen, die wesentlich anonyme Andere in potenziell großer Zahl einschließt. Dieses Bewusstsein muss sich auf eine Schwelle der Öffentlichkeit beziehen, in dem Wissen, dass das, was man äußert, öffentlich/veröffentlicht und so ›politisch‹ werden kann. Darin liegen Chancen, Risiken und darüber hinaus Gefahren für diejenigen, die sich äußern, ohne die Wirkungen noch kontrollieren zu können und ohne noch auf unwillkommene Wirkungen angemessen replizieren zu können. (Shitstorms machen das heute jedem klar.) Dabei laufen sie Gefahr, ihre persona 64 , ihr Ansehen, ihren Ruf und ihre Reputation zu beschädigen. Umso wichtiger, so scheint es, muss es sein, wie die Schwelle der öffentlichen Politisie­­­rung überschritten wird. Dazu ist von der 204  |  Kapitel VIII 

antiken Lobrede auf eine ›gute‹, selbstbeherrschte, auf Adressaten zugeschnittene, situativ passende und vor allem mutige parrhesía65, die noch in Kants aufklärerischer Devise sapere aude anklingt66 , bis hin zur Zivilität im Sinne Helmuth Plessners viel gesagt worden.67 Dabei erschien fraglich, ob sich die Art der Adressierung von ne­ ga­tiven Erfahrungsansprüchen durch Zähmung in der Form eines vernünftigen Begehrens (orexis statt epithymía) bzw. im Sinne der politischen Mäßigung thymotischer Energien durch Überlegung (boúleusis; logismós), Klugheit (phrónesis) und Besonnenheit (sophrosýne) tugendethisch normalisieren lässt. Was, wenn jeder Versuch, Gehör zu finden, scheitert, so dass man sich dazu gezwungen sieht, den affektiven Einsatz durch ›lautstarken‹, wü­­tenden Protest zu steigern? Was, wenn dieser als unverzichtbar er­scheint, insofern er sich gegen absolut unannehmbare Lebensbedingungen richtet, oder wenn er mit der »unend­lichen Anziehung« von transzendentalen Intentionen68 , mit radikalen Idealen oder Utopien einhergeht? Wo sich Protest so oder so zur handfesten Revolte oder mit revolutionärer Absicht stei­gert, droht er seine Adressaten ‒ ob bekannte »Ausbeuter« und »Kapitalisten«, anonyme »Hintermänner« und »Herren des Apparats«69 oder auch bio-politische Funktionsträger eines nirgends mehr zu ortenden empire70 ‒ von vornherein auf den Status von depolitisierten Objekten politischer Aktionen zu reduzieren, die ihnen am Ende nur zum Opfer fallen können, wenn der Protest nicht mit dem Versprechen einhergeht, ›letztlich‹71 auch zugunsten derer vorgebracht zu werden, gegen die man vorgeht. Zweifellos musste dieses ›Versprechen‹ in der Vergangenheit oft als fadenscheinig und unglaubwürdig wirken, hat man doch selbst die gewaltträchtigsten politischen Großprojekte der Moderne mit einer solchen Aussicht verbrämt. Aber daraus folgt nicht, dass man es vergleichgültigen dürfte. Spätestens dort, wo sich aufgebrachter Protest ganz von diesem Versprechen ent­bindet, beginnt er die Schwelle zu einer Gewalt zu überschreiten, die das Politische selbst zu zerstören droht. So gesehen muss die Politisierung negativer Erfahrungsansprüche, in der sich politisch­es páthos manifestiert, von vornherein im Bewusstsein ihrer eigenen Gewaltträchtigkeit erfolgen ‒ und mit der Absicht, die Schwelle zu vermeidbarer Gewalt im Interesse an der Erhaltung des Politischen selbst so weit wie möglich hinauszuDie pathische Dimension des Politischen  |  205

schieben. Denn in diesem Sinne ›unbedachte‹ Gewalt läuft jederzeit Gefahr, das Politische selbst zu zerstören, das es nur im Horizont einer gemeinsam geteilten Welt gibt, zu der zahllose Andere, Dritte, Zugang haben, mit denen man nicht gemeinschaftlich verbunden ist. Deshalb sprechen wir von politischer Gesellschaft bzw. von Vergesellschaftung; und zwar im Bewusstsein des unaufhebbaren Gewaltpotenzials, das in der conditio humana schon allein deshalb liegt, weil sie über nur in vielfachem Widerstreit zu gestaltende, gemeinsam geteilte Lebensformen nicht hinausgelangt, wie auch immer diese im Einzelnen verbessert werden sollen. Jede politische Gesellschaft wird durch die Unterdrückung oder Ignoranz angesichts negativer Erfahrungsansprüche ebenso gefährdet wie durch deren selbstgerechten, an Andere und Dritte gar nicht wirklich adressierten Ausdruck, der nur dem Anschein nach das Attribut politisch verdient, tatsächlich aber antipolitische Folgen zeitigt, insofern er seinen Adressaten im Grunde keinen politischen Spielraum des Verhaltens mehr einzuräumen bereit ist. Genau das lässt sich beobachten, wo von »Wutbürgern« die Rede ist, die ihre Gegner nur denunzieren (»Lügenpresse«), um ihren eigenen Ressentiments etwas Gutes zu tun. Niemand kann wohl glaubwürdig für sich in Anspruch nehmen, über Ressentiments jeglicher Art erhaben zu sein ‒ auch diejenigen nicht, die sich unter Berufung auf Friedrich Nietzsche und Max Scheler endgültig über ihre Wirkung im Klaren zu sein glauben. Und das im Ausdruck von Wut, Zorn und Empörung sich Luft verschaffende Ressentiment kann weder für Einzelne noch für Kollektive zur selbstgerechten Berufungsinstanz werden, ohne eine Zerstörung des Politischen im Verhältnis zu jenen heraufzubeschwören, die es kaum mehr als Gegner zu würdigen weiß.72 Diese werden sich zudem umso weniger ›angesprochen‹ fühlen, wie die Äußerung politischer Affekte nicht erkennbar so erfolgt, dass den jeweiligen Adressaten noch eigene Spielräume der Erwiderung eingeräumt werden, wie es typischerweise nicht der Fall ist, wo politischer Zorn, Wut und Empörung sich eskalierend immer weiter ›in Rage‹ bringen. Nichts verschließt die Ohren der Anderen, bei denen man sich anfänglich Gehör zu verschaffen sucht, so sehr wie zorniges, wutentbranntes und empörtes Einreden auf sie ‒ mit der letztlich antipolitischen Konsequenz, sie als Subjekte mögli206  |  Kapitel VIII 

cher Gegenrede, durch die man sich selbst etwas sagen lässt, zum Schweigen zu bringen. Antipolitisch ist aber auch jeder gewaltsame Versuch, ihr ›Zuhören‹ zu erzwingen. Es ist nur auf den ersten Blick ein Paradox, dass politischer Protest umso eher mit Wirkung rechnen kann, als er darauf verzichtet, sie gewaltsam herbeizuführen. Das gilt auch dann, wenn man keinen anderen Ausweg sieht, als die Borniertheit Anderer mit gewaltsamem Protest zu durchbrechen.73 Auch das kann allenfalls ein vorübergehendes, gewissermaßen ›pädagogisches‹ Mittel sein, Spielräume einer politischen Kommunikation (wieder) zu eröffnen, die ohne die Freiheit Anderer, Gehör zu schenken, schlechterdings gar nicht zu haben sind. Dennoch ist es eine ständige Versuch­ung, in wütendem, zornigem und empörtem Protest sich artikulierende negative Erfahrungsansprüche unvermittelt, durch deren schiere Kraft, Macht oder Gewalt, wirksam werden zu lassen, ohne sich auf diese Freiheit im Geringsten stützen zu müssen.

5. Schluss

Politisch-rechtlich formiertes Zusammenleben lässt sich nicht so einrichten, dass jegliche Negativität aus ihm verschwinden könnte 74 , die aus dem Schmerz und dem Leiden an politischen Zuständen, Verhältnissen und Handlungen keimt und dazu veranlasst, die darin liegende negative Erfahrung zu artikulieren, an Andere zu adressieren und dabei explizit zu politisieren. Dabei wird nach dem hier dargelegten Verständnis das vom Schmerz und Leiden in Anspruch genommene Subjekt den Erfahrungsanspruch in einen Anspruch an bzw. gegen Andere transformieren. Dieser liegt zunächst darin, dass Andere überhaupt zuhören und sich einer Auseinandersetzung stellen, in der das politische Gewicht des fraglichen Anspruchs erst zu ermitteln ist. Insofern ist von einem Prozess originärer Politisierung auszugehen, in dem in Frage steht, ob und inwiefern die jeweilige negative Erfahrung überhaupt so artikuliert und begriffen werden kann, dass sie auch Dritte, am Ende auch anonyme Mitbürgerinnen und Zeitgenossen und das institutionalisierte Zusammenleben mit ihnen betrifft (gegebenenfalls weltweit75). Die pathische Dimension des Politischen  |  207

Negative Erfahrung mag im Vergleich zu den »leblosen Dingen« wie der Schmerz ein »Vorrecht« sein, wie Hegel behauptet hat.76 Aber im Verhältnis zueinander hätten wir ihm zufolge nicht einmal aufgrund extremen Schmerzes und Leidens ‒ sei es auch ein wirk­ lich gesellschaftliches Leiden bzw. Leiden an der Gesellschaft77 oder an einem desozialisierten globalen Kapitalismus, der sich jeglicher weltweiten Vergesellschaftung widersetzt ‒ einen privilegierten normativen Anspruch gegen Andere, der nicht eigens einer adäquaten Politisierung bedürfte. So fatal es erscheinen mag: Selbst die eklatanteste und subjektiv evidenteste Erfahrung von Ungerechtigkeit, von Diskriminierung, Demütigung, Ausbeutung und jeglicher anderen Form von Gewalt ist demnach rückhaltlos darauf angewiesen, bei Anderen Gehör zu finden; und ihre Artikulation muss so erfolgen, dass letzteren Spielräume eines freien Antwortens verbleiben, das jederzeit dazu führen kann, dass die fragliche Erfahrung keine Bestätigung, Bewahrheitung oder Anerkennung erfährt. So gesehen haben wir nur die Wahl, uns entweder diesem Risiko rückhaltlos auszusetzen oder aber doch im Sinne Hegels eigene Gefühle, Befindlichkeiten, Emotionen und Affekte politisch unvermittelt zur Maßgabe von Versuchen zu machen, sie gegen Andere durchzusetzen. Das wäre ein in seiner Selbstgerechtigkeit antipolitisches Verhalten. Umgekehrt drängt sich nun der Schluss auf, dass die Politisierung negativer Erfahrungsansprüche stets in nicht selbstgerechter Art und Weise erfolgen sollte, d. h. im Geiste der Würdigung der Freiheit Anderer, uns anzuhören oder das zu verweigern, uns beizupflichten oder unsere artikulierten Ansprüche abzuweisen. Ich sehe nicht, wie der Schluss zu vermeiden wäre, dass einer angemessenen Politisierung negativer Erfahrungsansprüche in diesem Sinne ein moralisches Moment innewohnen muss, ohne das sich das Politische auf Dauer nicht aufrechterhalten lässt, das es nur dort gibt, wo man eigene Meinungen und Überzeugungen, Einwände und selbst zornerfüllten Protest auf die freie Erwiderung Anderer hin zum Ausdruck bringt und letztere erkennbar auch bejaht. Die bisherige Diskussion negativer Erfahrungsansprüche setzte allerdings unbefragt vor­aus, es gebe sie verbreitet und in hinreichender Stärke, so dass sich die Frage ihrer Politisierbarkeit nur noch um Formen ihrer (angemessenen und wirksamen, aggressi208  |  Kapitel VIII 

ven, mutigen oder verzweifelten) Äußerung schien drehen zu können. Doch Rancière bspw. spricht auch vom ausgelaugten Affekt der Empörung und fragt sich, ob nicht das Leben derart »viel von der Schwere früherer Zeiten verloren« hat, speziell »sein Gewicht an Leiden, Bitterkeit und Not«, dass nur noch schwer auszumachen ist, ob ihm genügend »Gewicht an Wirklichkeit« zukommen kann, das es offenbar braucht, um politisch zu Kräften zu kommen.78 Mit mehr zynischem Akzent schlägt Peter Sloterdijk im Grunde in die gleiche Kerbe, wo er einen »Jar­gon der Not« brandmarkt, dessen man sich zu rhetorischen Zwecken bediene, um Gehör zu finden. Wie auch immer es um das páthos von negativen Erfahrungs­ ansprüchen dynamisch bestellt sein mag ‒ kommt es überhaupt zum Aus­druck und politisch zu Kräften, so droht es nach einer altbekannten Diagnose jederzeit von einer konsumistischen Gesellschaft absorbiert zu werden.79 Vielleicht gerade deshalb glaubte Hessel, »die jungen Leute von heute« zur Empörung eigens auffordern zu müssen, offenbar ebenfalls von dem Zweifel angetrieben, ob der Negativität zu politisierender Erfahrung wirklich noch genug Kraft zuzutrauen ist, um politisch wirksam zu werden ‒ zumal in einer Lage, wo das vielfach als ›falsch‹ denunzierte ›Ganze‹ nicht mehr ein abgegrenztes ›System‹ sein, sondern allenfalls einer in statu nascendi begriffenen Welt-Ge­sell­schaft entsprechen kann, die angesichts ihrer schieren Ausmaße und Komplexität das politische Handeln zu lähmen droht. Dessen ungeachtet werden die ›pathischen‹ Quellen politischer Vitalität vermutlich nicht versiegen, weil, mit Kant und Arendt zu reden, mit jedem Neugeborenen gewissermaßen die Welt neu anfängt 80 und in jedem einzelnen ›Fall‹ die Lebbarkeit individuellen Lebens neu auf dem Spiel steht, wie besonders Judith Butler mit Recht betont hat. 81 Niemals ist allein durch die erste Aufnahme bei den Lebenden die politische Existenz, unter deren Voraussetzung diese Lebbarkeit verbürgt werden soll, wirklich dauerhaft verlässlich garantiert. Fällt man aber aus ihr heraus, so mündet das u. U. in Gefühle der Verlassenheit, die im besten Falle in negative Erfahrungsansprüche übersetzt und an Andere adressiert werden können; niemals aber so, dass mit Albert Camus gelten könnte, ich leide und empöre mich, »also sind wir«. 82 Weder folgt, wenn »ich wahrhaftig leide«, daraus, dass mir »alles erlaubt« wäre, wie es Arthur Die pathische Dimension des Politischen  |  209

Rimbauds Délires I nahelegen83 , noch auch, dass die Adressierung eigenen Leidens an Andere ohne weiteres eine mit ihnen geteilte, kollektive Existenz verbürgen könnte. Der in Camus’ Implikation (›also‹) angedeutete Fehlschluss mar­k iert wirklich einen »Mythos der Revolte«, in der man ohne kritische Bedenken die Schwelle der Öffentlichkeit mit solidarisierten Gesinnungsgenossen maß­ los überschreitet und dabei eigener Selbstgerechtigkeit freien Lauf lässt, die ihre Gegner am Ende nur noch als depolitisierte Objekte eines gewaltsamen Vorgehens gegen sie gelten lässt. Der Befund, dass auf diese Weise die Zerstörung des Politischen selbst heraufbeschworen wird, dessen man sich parasitär bedient, um eigenen Protest Anderen gegenüber artikulieren zu können, sollte uns misstrauisch machen gegenüber Lobrednern auf die Vitalität des Politischen, die nicht bedenken, wie deren Quellen in Anspruch genommen werden. Allzu oft geschieht das nur in selbstgerechter Art und Weise, die auch inzwischen ›rehabilitierte‹ Gefühle und jegliches politisiertes Leiden in Misskredit zu bringen droht.

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K A PI T EL I X »Ich empöre mich, also sind wir«? Zur fragwürdigen Politisierbarkeit einer ›rebellischen‹ Energie Ich will nicht ich, ich will wir sein. Michail Bakunin1 Es gibt keine vox populi, sondern nur voces populi […]. Victor Klemperer2

1. Hiobs Erbe

Wie die Hiob-Fabel beweist, ist Empörung ein uralter und radikaler, aber auch zweischneidiger Affekt, der schließlich alles und jeden in Mitleidenschaft ziehen kann. Entzündet er sich zunächst an der Bitternis durch nichts zu rechtfertigender Gewalt, mag dieser Affekt seinerseits als gerechtfertigt erscheinen. Weitet er sich auf alle Lebensbedingungen aus, denen man selbst und jeder Andere wehrlos ausgeliefert ist, kann er in eine Auflehnung gegen die Natur, die Geschichte und das Sein als Inbegriffe dieser Bedingungen selbst münden, die unterschiedslos jeden zum Untergang bestimmen, Gerechte wie Ungerechte, Schuldige wie vollkommen Unschuldige, Täter wie Opfer und alle, deren Schicksal sich mit Hilfe derart grober Dichotomien nicht begreifen lässt. 3 Der Fall Hiob beweist allerdings auch, warum solche, letztlich ›metaphysische‹ Auflehnung von Anfang an im Verdacht unendlicher Selbstgerechtigkeit steht. Mag Hiob auch stellvertretend für Andere protestieren, um »der Ungerechtigkeit den Prozeß« zu machen, wie Ernst Bloch meint4 , läuft er doch Gefahr, sich selbstgerecht zum absoluten Richter dieses Verfahrens aufzuwerfen. Im Wissen um die entsprechenden Anmaßungen utopischer Projekte, die in der   |  211

Moderne zutage ge­treten sind, plädiert Bloch (wenn ich ihn richtig verstanden habe) gleichwohl für eine gerade nicht selbstgerechte Empörung, die zur Hoffnung auf ein »neues Sein« Anlass gebe, und zwar für alle »Erniedrigten und Beleidigten«, wie man mit Fjodor Dostojewski sagen könnte. Demgegenüber erleben wir gegenwärtig eine Renaissance politischer Affekte, von denen man behauptet, sie machten geradezu die ›thymotische‹ Vitalität des Politischen aus ‒ ohne dabei allerdings deren fragwürdige Selbstgerechtigkeit zu bedenken. So hat es den An­­schein, als genüge es bereits, sich beleidigt zu fühlen, um Grund zu politischer Empörung zu haben ‒ sei es in der Form von riots, also Krawallen, wie sie 2005 in Paris, 2011 in London und 2017 in Hamburg zu beobachten waren, sei es in der Form von émeutes, die in eine veritable Rebellion, Revolte oder Revolution münden können. Mehr noch: Nicht selten wird ›das Volk‹ (oder die »99 %«, die Subalternen, die Prekären oder eine globale multitude) dazu aufgefordert, sich zu empören, offenbar mit der Aussicht, die Energien dieses Affekts wie Wasser auf die eigenen politischen Mühlen leiten zu können. So hofft man, mit Hilfe einer notfalls auch herbeigeredeten Empörung selbst politisch überleben und Karriere machen zu können. Offenbar hat man erkannt, dass man sich im Rekurs auf die ›thymotische‹, bei Bedarf eigens anzuheizende Vitalität des Politischen seiner eigenen politischen Existenz versichern kann5, wobei es manchen gleichgültig zu sein scheint, ob es sich jeweils um bloßen Zorn, um cholerische Wut oder um berechtigte Empörung handelt. Letzteres hatte Albert Camus im Sinn, als er einem Sklaven die rebellischen Worte in den Mund legte: »ich empöre mich, also sind wir«. 6 Dabei ging es ihm gerade nicht um die Nobilitierung eines prä-politischen Beleidigt­seins, bloßer Wut oder selbstgerechten Zorns, sondern um die Frage originärer Politisierbarkeit dieser Affekte ‒ allerdings vor dem Hintergrund einer metaphysischen, insofern zugleich transpolitischen Revolte gegen die Auslieferung aller Menschen an gewaltsame Lebensbedingungen, die kein utopisches Projekt je aufzuheben vermag, wie er glaubte. So hoffte er, rebellische Energien politisch fruchtbar zu machen, die noch für Thomas Hobbes nur auf die »Erneuerung« eines vorpolitischen Kriegs­­­zustands hinauslaufen konnten, der seit jeher und von Natur aus zwischen den Mensch­en zu herrschen schien.7 212  |  Kapitel IX  

Im Folgenden geht es demgegenüber genau darum: unter welchen Bedingungen die politische Fruchtbarkeit speziell der Empörung denkbar ist ‒ vor­ausgesetzt, dieser Affekt kann nicht eo ipso als politischer gelten, sondern muss eigens politisiert werden; und zwar in nicht selbstgerechter Art und Weise und so, dass dabei nicht in Aussicht gestellt wird, das Empörende als solches werde sich eines Tages ganz und gar aus der Welt schaffen lassen. Das wäre schlechte Utopie ‒ so wie selbstgerechte Empörung nur auf schlechte Politik hinauslaufen kann. Lässt sich demgegenüber ein dritter Weg denken, auf dem Empörung politisch fruchtbar werden kann, ohne falsche und anmaßende Hoffnun­gen zu wecken? Die vielzitierten ›thy­motischen‹ Affekte können leicht erregbaren Cholerikern, sog. Wut­­bürgern und Querulanten ohne weiteres auch zum Selbstzweck werden, wenn es ihnen nicht so sehr da­ rauf ankommt, wogegen sich ihre Erregung eigentlich richtet und wofür sie zum Ausdruck gebracht wird. Irgendein Anlass mag ihnen dann genügen, um es zur Empörung kommen zu lassen, Hauptsache, man kann sich empören, bloß um sich zu ›echauffieren‹ oder um einer lädierten Selbstachtung wieder auf die Beine zu helfen (deren Kriterien und Maßstäbe vielfach rätselhaft bleiben). Anders verhält es sich mit einer Empörung, die sich an Empörendem selbst entzündet (oder wenigstens daran glaubt) und danach verlangt, politisch zur Geltung zu kommen, weil letzteres Dritte, Mitbürger, Zeitgenossen und vielleicht alle Menschen betrifft. In diesem Verlangen liegt das Potenzial der ›rebellischen‹ Energie einer Leidenschaft, auf deren Politisierbarkeit es hier ankommt. Indem ich im Folgenden auf die Quellen dieser Energie zu sprechen komme, geht es mir nicht um deren fragwürdige, vielfach anmaßende pathetisch-rheto­rische Ausdrucksform, sondern wiederum um ihren Widerfahrnischarakter im altgriechischen Sinne des Wortes páthos. In diesem Sinne ziehen wir uns Empörung als ein Widerfahrnis zu; wir geraten in Empörung, statt uns sozusagen aus eigener Initiative zu empören, wie es die Grammatik des reflexiven Verbs sich empören nahe legt. Und in angedeuteten Sinne steht die Leidenschaft dem Leiden an etwas, was uns widerfährt8 , weit näher als dem übertriebenen Pathos einer Leidenschaft, der wir huldigen oder in der wir uns in für Andere schwer zu ertragender Art und Weise aufführen wie Geltungssüchtige. »Ich empöre mich, also sind wir«?  |  213

Derartige Pathologien beiseite lassend, gehe ich im Folgenden davon aus, dass die Lei­denschaft der Empörung nicht von sich aus schon eine politische ist, dass sie aber durchaus politisch werden kann. Wie das so geschehen kann, dass es dem Politischen zugute kommt und dieses nicht unterminiert, ist die Frage ‒ die uns zugleich auf Grenzen des Politischen selbst aufmerksam macht. Denn es ist zweifelhaft, ob das Politische die rebellischen Energien, aus denen es sich speist, überhaupt auffangen kann und ihnen Rechnung zu tragen vermag. Mit dieser über das Politische hinausweisenden Frage werde ich schließen, zunächst aber mit Vorüberlegungen mit Bezug auf aktuelle Rebellionen einsetzen, dann auf Em­pörung als Quelle politischer Negativität zur Sprache kommen, deren politische Dimension anschließend zu beleuchten sein wird.

2. Erinnerung an aktuelle Rebellionen

Majdan, Gezi-Park, Taksim-Platz, das sind die Namen öffentlicher Plätze, die in den letzten Jahren Anlass zu nicht selten überschwänglichen politischen Hoffnungen gege­ben haben ‒ auch auf deutschem Boden, wo man in Plauen, Leipzig und Berlin erlebt hatte, wie sich Massen zu rebellischem Protest9 versammelt haben, um schließlich eine »friedliche Revolution« anzustoßen10 , die ihre anfänglichen Erwartungen inzwischen teils enttäuscht, teils aber auch weit übertroffen hat. Am Anfang stand ein kollektiver Widerstand, der nach der ihm angemessenen Sprache noch suchte und nicht wusste, worauf er genau hinaus wollte. Dann skandierte die Menge »Wir sind das Volk«, um schließlich selbst von der Wiedervereinigung überrascht zu werden, die rückblickend vor allem diese Frage selbst ins politische Bewusstsein gehoben hat: Wer ist überhaupt dazu befugt, zu sagen »Wir sind das Volk«? Wer ist »wir«? Wer spricht hier ‒ mit welchem Recht ‒ für wen? Wie verhalten sich Anwesenheit (politisch Protestierender) und Abwesenheit (derer, in deren Namen protestiert wird) zueinander? So viel dürfte inzwischen immerhin klar sein: Kein Volk ›ist‹ je einfach ein oder das Volk, sofern man darunter sein schlichtes Vorhandensein versteht. Es entsteht, stets nur vor­übergehend, allenfalls aus rhetorischen Formen der Inanspruchnahme ›im 214  |  Kapitel IX  

Namen des Volkes‹, die niemals jegliche Distanz zum derart Inanspruchgenommenen aufheben können, wie es sich offenbar Jean-Jacques Rousseau vorgestellt hat. Niemals kann es als fertig gegebene Entität seiner politischen Repräsentation eindeutig vorausliegen; und letztere wird durch turba, Rottieren (»die gesetzwidrige Vereinigung« des Pöbels [vulgus]11), Insurrektion, Aufstände und Rebellionen immer bedroht werden können, zumal sich kein Volk denken lässt, das nicht auch Formen inneren Ausschlusses heraufbeschwört, die gerade diejenigen rufen lässt »Wir sind das Volk«, die sich bislang am wenigsten zu ihm zählen konnten. So kann ein Volk nur eine notorisch instabile Angelegenheit sein, ein ständiges Kommen und Gehen, in dem sich die Zusammensetzung des Volkes immerzu ändert, wobei vor allem auf dem Spiel steht, ob diejenigen, die es neuerdings für sich in Anspruch nehmen, dabei zugleich Andere mehr oder weniger durchgreifend ausschließen. Kann man überhaupt ›im Namen des Volkes‹ sprechen, ohne diese Gefahr heraufzubeschwören?12 Heute sehen wir, wie eine Minderheit aus der Inklusionsformel jenes »Wir« einen Me­chanismus der Exklusion abzuleiten versucht, nach dem Schema: »Wir sind das Volk« ‒ und ihr nicht, ihr, die »Verräter«, angefangen bei der gerade amtierenden Kanzlerin und der gewählten Vertretung, die in Berlin in einem Gebäude tagt, das die Inschrift trägt: »Dem deutschen Volke«.13 So hat die politisch legitime Rebellion revolutionäre Energien freige­setzt, aber auch eine zähe Masse von Ressentiments und Aggressionen zum Vorschein ge­bracht, die überhaupt nicht mehr für etwas artikuliert werden und einstehen, sondern nur noch gegen Andere, vor allem Fremde sich richten ‒ um uns auf diese Weise das eigene Land fremd werden zu lassen. Niemand stellt gemeinsam geteiltes Zusammenleben derart in Frage wie diejenigen, die immerzu »das Volk« exklusiv für sich in Anspruch nehmen. Hier wie dort hat sich bestätigt, was auch die Rebellionen und Revolutionen der weiter zurück liegenden Vergangenheit lehren: Nie kommt mittel- oder gar langfristig das heraus, was sich diejenigen unter ihnen vorgestellt haben, die vorübergehend geglaubt haben mögen, sie steuern zu können. Auch die jüngste friedliche, überwiegend nachträglich gutgeheißene, aber auch vielfach ernüchternde Revolution auf deutschem Boden war so nicht von Anfang an gedacht. »Ich empöre mich, also sind wir«?  |  215

Noch tiefgreifender ist die Ernüchterung nach den Ereignissen der tunesischen Jasmin-Revolution, zu der es nach der Selbstverbrennung des Gemüsehändlers Mohamed Bouazizi am 17.  Dezember 2010 in Sidi Bouzid kam, und nach den Ereignissen auf dem Kairoer Tahrir-Platz. Wer gehofft hatte, dass es infolge der sog. Arabellions in der islamischen Welt zu einem weiter um sich greifenden demokratischen Frühling kommen wird, sieht sich inzwischen mit Phänomenen innerer Zerrüttung der betroffenen Staaten und mit autokratischen Tendenzen konfrontiert, die in der Türkei ‒ seit dem sonderbaren, immer noch nicht wirklich aufge­ klärten Putschversuch des Jahres 2016 und infolge der darauf folgenden massiven Repression gegen Andersdenkende aller Art ‒ in eine ­veritable Diktatur zu münden drohen. Und die politisch äußerst heterogenen (pro-europäischen, aber auch nationalistischen und faschistischen) Energien, die auf dem Maidan-Platz im ukrainischen Kiew zutage getreten sind, scheinen in der Zwischenzeit von einem innerukrainischen und zu­gleich ukrainisch-russi­schen Zerwürf­nis vollkommen absorbiert worden zu sein. Soll man aus all dem nun den Schluss ziehen, dass es gar keinen Sinn hat, auf Rebellionen und Revolutionen hinaus zu wollen, da es ›immer anders kommt‹, als beabsichtigt war, sei es aufgrund puren Zufalls, geschichtlicher Kontingenz und Heterogonie oder aufgrund einer uns vorläufig unerklärlichen »List der Vernunft«? Liefe das in Anbetracht der vielfach artikulierten Unumgänglichkeit und Dringlichkeit politischen Protests nicht auf schieren Zynismus oder Defätismus hinaus? Auf genau diese Frage möchte ich im Folgenden näher eingehen: Woher empfangen rebellische politische Initiativen eigentlich ihre Energie, woraus entspringen sie, und warum gewinnen sie an Kraft, obgleich diejenigen, die sie sich zu eigen zu machen versuchen, niemals im Vorhinein wissen können, wohin sie das führen wird, und obgleich sie sich zunächst aus einer Position der Schwäche heraus radikal exponieren müssen und nicht selten Gefahr laufen, brutal niedergeschlagen zu werden? Von der Zukunft solcher Energien abgesehen, stellt sich hier die Frage, ob deren Ursprünge sich nicht unvermeidlich aus der Negativität von Erfahrungsansprüchen speisen.14 Zur Rebellion anstiftende Erfahrungen ›machen‹ wir nicht; sie widerfahren uns vielmehr; und zwar so, dass sie uns in Anspruch nehmen.15 Das tun 216  |  Kapitel IX  

sie, indem sie uns abverlangen, sie zu artikulieren, sie an Andere zu adressieren und es dabei auf eine politisch fruchtbare Erwiderung anzulegen. Und zwar auch dann, wenn rebellischer Protest zunächst gewaltsam erfolgen muss, wenn ihm ›normale‹ politische Wege verbaut sind. Aus einer Position politischer Schwäche heraus muss sich solcher Protest unweigerlich selbst exponieren, ohne im Vorhinein wissen zu können, ob er den geringsten Erfolg haben wird. Man sieht sich zu rebellischem Protest genötigt, weil im fraglichen Widerfahrnis ein Moment der Negativität liegt, das besagt: Das Erfahrene soll nicht sein, es ist (in erst näher zu bestimmender Art und Weise) widerwärtig, falsch, abzulehnen… Das ist scheinbar evident, wenn wir sagen: Das … ist niederträchtig, ungerecht, demütigend …, so dass unverzüglich dagegen vorzugehen ist. In diesen Fällen widerfährt uns am eigenen Leib Ungerechtigkeit, Demütigung oder andere Gewalt, die wir nicht indifferent hinnehmen können bzw. wollen, so dass uns das ent­sprechende Widerfahrnis dazu bestimmt, uns gegen das Erfahrene auszusprechen, uns gegen dessen Wiederholung zu wenden und ihr praktisch entgegenzutreten. Das gilt auch dann, wenn die am eigenen Leib erfahrene Ungerechtigkeit, Demütigung oder andere Gewalt eigentlich Andere betrifft, so dass für sie, an ihrer Stelle bzw. advokatorisch, festzustellen und zu beklagen ist: Das … sei nicht hinnehmbar, nicht länger zu dulden, nicht weiter zu verantworten usw. In ›eklatanten‹ Fällen nimmt uns die entsprechende Erfahrung ganz und gar in Anspruch, indem sie in das ›kategorische‹ bzw. ›unbedingte‹ Verlangen mündet, die fragliche Ungerechtigkeit, Demütigung und Gewalt abzustellen; und zwar ›ohne Wenn und Aber‹, d. h. sofort bzw. auf schnellstmöglichem Wege. So resultiert aus der Negativität von politischen Erfahrungsansprüchen eine Energie, die sich nicht selten mit kategorischer Unbedingtheit und absoluter Dringlichkeit artikuliert. Das geschieht, wenn man sich über Missstände empört und in Zorn und Wut gerät angesichts schlimm­ster Ungerechtigkeit, verantwortungslosesten Tuns und brutalster Gewalt ‒ von der ökonomischen Ausbeutung von Kindern, die man importierte Kleider färben lässt, über öko­ logische Desaster, wie sie die niederländische Firma Shell in Nigeria anrichtet, bis hin zur Folter in den Verliesen zahlloser Machthaber, die sich schamlos auf internationalen Kon­­ferenzen tummeln. »Ich empöre mich, also sind wir«?  |  217

In fast allen diesen Fällen gehen aber Empörung, Wut und Zorn mit Erfahrungen der Hilflosigkeit einher, denn kaum je sind die jeweiligen Ursachen von uns selbst und ohne weiteres abzustellen. Die kategorische Unbedingtheit der entsprechenden Forderungen er­weist sich als vielfach bedingt, insofern sie zu ›vermitteln‹ ist mit einer Vielzahl von Umständen, unter denen sie allenfalls umzusetzen sind. Und der Dringlichkeit dieser Forderungen ist so gut wie niemals ohne Umschweife nachzukommen; schon gar nicht, wenn dazu die Unterstützung und Mitwirkung Anderer erforderlich ist.16 Wer das Gegenteil glauben macht, gerät ‒ bei besten eigenen Absichten ‒ sehr schnell in die Nähe einer terroristischen Logik, die besagt: Was mich empört, ist unbedingt und sofort abzustellen; und zwar durch mich selbst, auf einen Schlag, kompromisslos und endgültig … Diese Logik ist geradezu anti-politisch, wenn politisch zu koexistieren bedeutet, anzuerkennen, dass die eigenen Gefühle, die wie Empörung, Zorn und Wut rebellische Energien speisen können, nicht per se auch mit den Gefühlen Anderer zusammen gehen; d. h. dass sie die ‒ offene ‒ politische Frage aufwerfen, ob und wie sie überhaupt mit Anderen zu teilen sind; und zwar mit Rücksicht darauf, worüber man empört, zornig oder aufgebracht ist. Dieses ›Worüber‹ ist der Gehalt der Gefühle, die nicht eo ipso politischer Natur sind. Sie können aber politisiert werden, vorausgesetzt, man begibt sich überhaupt in eine Form der Abstimmung zunächst einmal verschiedener Gefühlslagen und versucht zu klären, worin sie übereinstimmen. In diesem Sinne muss man seine Stimme erheben, um Stimmungen Aus­druck zu verleihen, die eine politische Befindlichkeit anzeigen, welche als politische je­doch problematisch bleibt. Zur originären Politisierung unserer Gefühle, Stimmungen und Befindlichkeiten gehört weiterhin, dass eine entsprechende Übereinstimmung artikuliert, d. h. sprachlich zum Vorschein gebracht und an Andere adressiert wird; und zwar, wie gesagt, auf Erwiderung hin, die Anderen allemal Antwortspielräume einräumen muss. Selbst wenn aus der gewonnenen Übereinstimmung kategorische, unbedingte und absolut dringlich erscheinende Forderungen abgeleitet werden, müssen diese paradoxerweise mit einer Vielzahl von Bedingungen und Gründen für einen Aufschub der Einlösung des Geforderten vermittelt werden. Anti-politisch und 218  |  Kapitel IX  

tendenziell geradezu terroristisch denkt, wer das Gegenteil für richtig hält und glaubt, man könne allein aufgrund eigener Gefühle, Stimmungen und Befindlichkeiten zu kategorischen Forderungen gelangen, die bedingungslos und unvermittelt umzusetzen wären. Ich nenne das anti-politische Selbstgerechtigkeit. Das Politische ist demgegenüber geradezu der Inbegriff der Negation solcher Selbstgerechtigkeit. Politisch handeln kann demnach nur, wer akzeptiert, dass Gefühle, Stimmungen und Befindlichkeiten nicht eo ipso ›politische‹ sind, sondern selbst dann, wenn sie mit negativen Erfahrungsansprüchen wie den beschriebenen einhergehen, einer originären Politisierung bedürfen, die der Klärung dessen Rechnung tragen muss, worin man mit Anderen gegebenenfalls übereinstimmt (worüber man sich empört, Wut und Zorn empfindet), wie das (öffentlich) zu artikulieren und an Dritte so zu adressieren ist, dass ihnen die Freiheit bleibt, so oder so da­ rauf Antwort zu geben. Politisch ist der Ausdruck von negativen Erfahrungsansprüchen nur dann, wenn deren Kommunikation in dem Bewusstsein erfolgt, dass Andere Gefühle, Stimmungen und Befindlichkeiten nicht teilen (müssen) und selbst dann, wenn diese in unbeding­te und absolut dringliche Forderungen münden, deren Vermittlung und Aufschub verlangen können. Genau deshalb leiden wir auch am Politischen selbst. Weit entfernt, versprechen zu können, aus politischem Leiden gespeisten negativen Erfahrungsansprüchen gerecht zu werden, die wir artikuliert und an Andere adressiert haben, um sie ihnen als unbedingte und absolut dringliche verständlich zu machen, verlangt uns das Politische Unmögliches ab: das Unbedingte Bedingungen zu unterwerfen und das Dringlichste aufzuschieben. Aber wäre die Alternative nicht eine gefährliche anti-politische Selbstgerechtigkeit, die noch weitaus schlimmere Konsequenzen hätte?

»Ich empöre mich, also sind wir«?  |  219

3. Empörung und politische (Ko-)Existenz. Zur Aktualität von Albert Camus’ Schrift über die Revolte

Möglicherweise habe ich die hier zur Diskussion stehende Problematik auch unnötig verkompliziert. Dieser Eindruck drängt sich auf, wenn wir eines der Schlüsselwerke zum Verständnis rebellischer Energien zu Rate ziehen, Albert Camus’ L’homme révolté aus dem Jahre 1951, wo der eingangs zitierte Satz zweimal zu finden ist. »Ich empöre mich, also sind wir.«17 Das ist ein auf den ersten Blick verwirrender Schluss. Im französischen Kontext ist man geneigt, ihn nach cartesianischem Vorbild zu interpretieren: cogito (ergo) sum. Ich denke, also bin ich. Eigentlich meinte Descartes allerdings keinen logischen Schluss, sondern: Ich bin denkend, ich existiere denkend; darin, dass ich denke, liegt bereits, dass ich auch existiere. Wobei Descartes einen sehr weiten Begriff von Denken hatte, der auch die Emotionen, Affekte und Leidenschaften bzw. das einschloss, was in ihnen bewusst wird. Insofern hätte es für ihn gar nicht so fern gelegen, wie es auf den ersten Blick den An­schein hat, zu sagen: Ich fühle, also bin ich. Ich bin empört, also existiere ich. Ich existiere empört. Gewiss aber hat Descartes indessen nicht sagen wollen: Ich existiere nur in dieser spezifischen Art und Weise des Denkens bzw. der cogitatio ‒ zumal der der Empörung am meisten verwandte Affekt, der Zorn, für ihn zu den Erfahrungen der Passivität der passions de l’âme zählte, die er dem aktiven Denken gegenüberstellte. Sehr weit von Descartes scheint sich Camus allerdings nicht zu entfernen18 , wenn man seinen Satz folgendermaßen eingeschränkt liest: Ich existiere spezifisch politisch, insofern ich empört bin. Empörung wäre dann der politische Affekt par excellence, durch den sich zeigt, dass wir ein politisches Leben leben. Das tun wir demzufolge, weil wir gewissen Din­gen, Verhältnissen, Verhaltensweisen und Un-Taten gegenüber nicht nur nicht gleichgül­tig bleiben, sondern durch sie in Empörung geraten. Dabei bleibt der ›Gegenstand‹ der Em­pörung, also worüber man sich empört, vielfach unklar. Auch wenn sie sich zunächst spezifisch an etwas Empörendem entzündet, kann sie sich unversehens ausweiten zur Empörung über die Bedingungen, die das Empörende hervorgebracht haben. Und wenn sich diese Bedingungen, deren Inbegriff die Geschichte ist, 220  |  Kapitel IX  

nicht ohne weiteres oder sogar niemals als abschaffbar erweisen, kann sich die zunächst begrenzte rebellische Energie der Empörung zur Haltung einer veritablen metaphysischen Revolte, wie sie Camus beschrieben hat, steigern oder auch abschwächen. Nun hat sich hier unversehens eine fragwürdige Verallgemeinerung eingeschlichen, die auf das Kernproblem meiner Überlegungen hindeutet. Eines ist es zu sagen, ich existiere überhaupt nur politisch, sofern ich mich über etwas empöre ‒ oder vielmehr: wir alle existieren nur politisch, sofern sich jeder von uns, und zunächst einmal für sich, über etwas em­pört ‒ wobei schon deutlich geworden ist, wie wenig es ausreichen kann, die spezifisch politische Dimension der Empörung aus dem Empörtsein selbst ableiten zu wollen. Etwas anderes ist es aber, wenn ich aus meiner Empörung folgere, dass ›wir‹ (politisch) existieren. Genau aus diesem prima facie so überaus unplausiblen Übergang vom ›ich‹ zum ›wir‹ scheint Camus an der zitierten Stelle das politische Moment der Empörung abzuleiten. Wahrscheinlich meinte allerdings auch er, wie Descartes im cogito sum, keine Art logischen Schluss, sondern: Darin, dass ich mich empöre, liegt bereits, dass wir politisch exis­tieren. Das kann m. E. nur so zu verstehen sein, dass in der Empörung selbst die Ko-existenz An­derer gewissermaßen impliziert ist, sofern ich mich über etwas empöre, was ich von ganzem Herzen und mit aller Kraft zurückweise als etwas Nicht-sein-Sollendes, das als solches auch niemand anderem zuzumuten sein soll.19 Mit anderen Worten: Worüber ich mich empöre, das regt mich nicht bloß deshalb auf, weil es mich betrifft; vielmehr halte ich es für ›an sich‹ empörend. Dieser Missbrauch von Minderjährigen (man denke an die Rekrutierung von Kindersoldaten durch warlords), diese Gewalt gegen Frauen (man denke an Beschneidungspraktiken), diese Ausbeutung von Machtlosen (man denke an die Gewinnung Seltener Erden) usw. halte ich für allgemein ›unannehmbar‹, ›inakzeptabel‹, ›untragbar‹ usw. Fraglos sind das Urteile, die auf Universalisierung angelegt sind. Aber wenn ich mich empöre, beginne ich erst durch diesen Affekt zu entdecken, dass und wie ich mit Anderen, selbst Fremden weltweit verbunden bin, insofern ich etwas zurückweise, was ich vermutlich auch niemand anderem zugemutet sehen will. Ob ein entsprechendes Urteil wirklich dem Anspruch der Universalisier»Ich empöre mich, also sind wir«?  |  221

barkeit standhält, kann ich zunächst nicht wissen. Der politische Affekt muss in diesem Sinne immer erst auf die Probe gestellt werden, indem man Andere mit ihm konfrontiert und ihnen die Frage ansinnt, ob sie nicht beipflichten müssen: Dies … ist empörend. Politisch bleibt aber der entsprechende affektive Befund, der uns in Wut und Zorn stürzen kann, immer etwas Problematisches. D.h. er bedarf der Artikulation, der Adressierung und schließlich der Validierung durch die Kommunikation mit Anderen. Nur wer im Wissen darum seine Empörung Anderen zumutet (statt sie einfach mit ihr anstecken zu wollen), betreibt eine offene Politisierung seiner Gefühle, statt sie ohne weiteres zur Berufungsinstanz eigener Urteile und Überzeugungen zu erheben. Genau das kann Camus’ Satz nicht rechtfertigen. In Wahrheit kann er nur bedeuten: Ich empöre mich und entdecke in diesem Affekt, was mich mit Anderen verbindet, die über das Gleiche empört sein müssten. In Folge dessen müsste ich mich mit ihnen empören können; und zwar mit guten Gründen, mit Recht, wie wir sagen. Ob es so ist und ob das fragliche ›wir‹ nur einige Schicksalsgenossen, eine Gruppe oder gleich ein ganzes Volk, eine Klasse oder gar alle Menschen mit einschließt (oder ob es Andere im gleichen Zuge ausschließt), ist gerade die Frage. Entzündet sich die Empörung als potenziell rebellische Energie nicht gerade daran, dass wir es mit Anderen zu tun haben, die das Empörende gar nicht als solches wahrnehmen oder sogar ungerührt für es verantwortlich sind? Liegt in der Empörung über etwas (einen Sachverhalt, Zustände, ›das Bestehende‹ oder das ›Ganze‹ im Sinne der sog. Kritischen Theorie) nicht immer auch die Empörung über die Nicht-Empörung Anderer? Wir empören uns in einer Welt, in der Andere das Empörende übersehen, mit Gleichgültigkeit quittieren oder sogar in Kauf nehmen und Profit aus ihm schlagen. Dann ist nicht zu verstehen: ›wie kann man nur‹? Man verzweifelt an seinem Verstand, an seiner Urteilskraft und an seinen Sinnen. Phrasen wie diese: »Ist das nicht empörend?«, drücken genau das aus. Mit solchen Fragen, die unterstellen, es genüge, hinzusehen, um zu wissen, was man wissen muss, wenden wir uns an Andere, in der Erwartung oder Hoffnung, sie mögen unser Gefühl, unsere Wahrnehmung, unser auf sie gestütztes Urteilsvermögen und schließlich unseren 222  |  Kapitel IX  

(politischen) Verstand validieren helfen, eben weil wir insgeheim fürchten, selbst das sicherste Gefühl und die vermeintlich eindeutigste Wahrnehmung (dies … ›ist‹ zweifellos ungerecht …) könnten am Ende nicht dazu ausreichen, uns politischer Koexistenz zu versichern ‒ d. h. der Einbindung in ein ›Wir‹, in dem man doppelsinnig gemeinsam teilt, was das politisch Wichtigste ist ‒ und sich praktisch danach richtet, zum Beispiel dadurch, dass man mit dem Empörenden jegliche Geduld verliert, insofern es bedingungslos und ohne Aufschub ›abzustellen‹ ist.

4. Vom Negativismus zum Politischen

Ist das Wichtigste nicht das unbedingt zu Vermeidende? Genau so haben politische Negativisten geantwortet, die politisches Zusammenleben nicht primär auf das Gute und auf das Gerechte (wie es die platonisch-aristotelische Überlieferung wie auch das utopische Denken nahelegt), sondern auf die Vermeidung des Schlimmsten verpflichtet sehen. In diesem Sinne verlangte die Bostoner politische Theoretikerin Judith N. Shklar politischen Lebensformen jeglicher Couleur ab, sich wenigstens manifester Grausamkeit entgegenzustellen.20 Wer würde dem nicht beipflichten: Was auch immer man in solchen Lebensformen an­strebt (das Gute, das Gerechte, kollektive Nutzenmaximierung, Wohlstand usw.), sie sollten wenigstens nicht Grausamkeit zulassen oder gar selbst (systematisch/institutionell) grausam eingerichtet sein. Allerdings: Auch darin, was als grausam und infolge dessen unbedingt zu vermeiden gelten muss, stimmt man nicht überein. Ist die systematische (aber vermeidbare) Vernachlässigung Kranker, die sich nicht versichern können, grausam? (Man denke an die Diskussion um die sog. Obamacare in den USA.) Führt mangelnde oder gänzlich fehlende Pflegeversicherung alter Menschen zu grausamen (aber vermeidbaren) Zuständen in deren Versorgung? Hat unser Wohlstand nicht (vermeidbare) grausame Kehrseiten wie die massenhafte Versklavung ökonomisch Abhängiger, die Plünderung von Fanggründen anderswo, den Ruin lokaler Märkte, die nachhaltige Verschmutzung ganzer Ökologien usw.? »Ich empöre mich, also sind wir«?  |  223

Mit solchen Aufzählungen kommt man so schnell an kein Ende, derart gewaltsam funk­­tioniert bislang, was manche, optimistisch, bereits als eine Welt-Bürger-Gesellschaft verstehen wollen, als eine globale Gesellschaft, die jeden wenigstens seiner politischen Existenz versichern müsste. Diese liegt nicht nur in einer Reihe von Rechten, sondern vor allem darin, sich überhaupt an Andere auf Erwiderung hin wenden zu können, um wenigstens das Empörendste beklagen und auf Abhilfe dringen zu können. Davon, dass jeder Mensch in diesem Sinne im Horizont einer globalen Welt-Bürger-Gesellschaft politisch existiert, sind wir allerdings weit entfernt. Bis es so weit ist (und vorausgesetzt, es wird je dahin kommen), müssen Andere advokatorisch für Fremde ihre Stimme erheben und ihren Einfluss geltend machen. Und zwar in dem Wissen, dass Leiden keine Rechte verleiht, um Camus noch einmal zu zitieren.21 Weder aus eigenem Leiden noch aus dem advokatorisch beklagten Leiden Anderer, das man sich oft in fragwürdiger Art und Weise zu eigen macht, ergeben sich unmittelbar bestimmte politische Ansprüche, die gewaltsam gegen Dritte durchgesetzt werden dürften ‒ jedenfalls dann nicht, wenn man sich anti-politischer Selbstgerechtigkeit widersetzen will. Gerade mit solcher Selbstgerechtigkeit sind wir aber gegenwärtig massiv konfrontiert, vor allem in Verbindung mit diversen Erscheinungsformen politischen Populismus. Häufig erwecken sie den Eindruck, dass man nicht etwa über etwas in Empörung geraten ist, um dann nach einem ›Wir‹ zu fragen, das sich als politische Einheit gegen das Empörende stellen könnte, sondern dass man umgekehrt nur die Empörung ›braucht‹ und instrumentalisiert, um sich der eigenen politischen Existenz zu versichern. Es hieße aber die Empörung und das, was Camus über sie schreibt, gründlich misszuverstehen, wenn man sie so verstehen wollte, als könnte sie je mit der eigenen politischen Existenz unmittelbar zusammenfallen und sie geradezu manifestieren. Es gibt auch ein im Grunde anti-politisches, selbst-gerechtes Empörtsein, dem weder an einer problematischen Artikulation noch an einer Adressierung an Andere, denen man responsive Freiheitsspielräume einräumt, viel gelegen ist. Nur im Verhältnis zu diesen Spielräumen ist aber überhaupt politische Existenz möglich. Dessen ungeachtet gibt sich selbst-gerechtes Empörtsein politisch, unterminiert aber 224  |  Kapitel IX  

die Logik des Politischen selbst ‒ und empört gerade diejenigen, die daran festhalten, dass Gefühle der Empörung, des Zorns und der Wut, so berechtigt sie sich prima facie auch darstellen mögen, niemals von sich aus politisch sind, sondern allemal einer problematischen Politisierung bedürfen; d. h. ‒ zusammengefasst ‒ der Artikulation, der Adressierung und Relativierung selbst unbedingter und dringlichster Ansprüche auf die Antwortspielräume Anderer sowie auf konfligierende Ansprüche und auf Bedingungen des Aufschubs selbst des im Grunde Unaufschiebbaren. Als Arbeit an einer Vielzahl von ›Vermittlungen‹ dieser Art ist das Politische unverzichtbar zur Regelung eines gemeinsam geteilten Zusammenlebens. Und gerade deshalb genügt es sich niemals selbst. Zum einen, weil es seine Energien tatsächlich aus der prä-politischen Negativität des Un­a nnehmbaren, des nicht zu Tolerierenden, des Leidens an Zuständen bezieht, die vermeidbar wären. Diese Negativität stellt sich nicht von sich aus als genuin politische dar. Sie kann und muss aber politisiert werden im Horizont einer Koexistenz mit zahllosen Anderen, von denen niemand im Vorhinein wissen kann, was er/sie mit ihnen teilt. Vielleicht nicht einmal ›elementarste‹ Gefühle wie die der Empörung über das Grausamste oder das seit langem umstrittene Mitleid oder wenigstens in Notfällen sich bewährende Solidarität. Zum anderen genügt sich das Politische niemals selbst, weil wir auch an ihm selbst leiden, angesichts seiner offenbar unaufhebbaren Mängel, die es überall aufweist, wo es unbedingte Ansprüche zu relativieren und selbst das Dringlichste aufzuschieben zwingt. Rebellische Energien, die ihre Quelle in negativen Erfahrungsansprüchen haben, mag man erfolgreich politisieren, vorausgesetzt, man widersetzt sich jeglicher im Grunde anti-politischen Selbstgerechtigkeit, die in Rage versetzt und emotional Sturm laufen lässt gegen ›die Verantwortlichen‹ (intriganter Korruption, betrügerischer Machenschaften großer Industrien, finanzkapitalistischer Zinsmanipulationen, neo-liberaler bzw. anti-sozialer Glo­ balisierung usw.). Aber die Aussicht, diese Energien könnten im Politischen selbst aufgehen, wenn endlich die Gründe für eigene Empörung beseitigt wären, ist trügerisch angesichts der Mangelhaftigkeit des Politischen selbst.

»Ich empöre mich, also sind wir«?  |  225

Das Politische ist gegen die anti-politische Selbstgerechtigkeit der Empörten nicht des­halb zu verteidigen, weil es eine ideale politische Gerechtigkeit in Aussicht stellen würde. (Was nur auf eine neue Form der Selbstgerechtigkeit, diesmal im Namen des Politischen selbst, hinauslaufen würde.) Wir verteidigen es und mobilisieren unsere artikulierten, an Andere adressierten und ihrer Freiheit zugemuteten Gefühle der Empörung umwillen einer Politik, die paradoxerweise besser sein müsste als sie selbst. Deshalb treten wir für das Politische ein, weil wir an ihm leiden, nicht als gnadenlose politische ›Realisten‹, die uns seit Napoleon unaufhörlich einschärfen, was wir bislang als Politik kennen gelernt haben, sei »unser Schicksal« und Besseres sei in sublunaren Sphären schlechterdings nicht zu ha­ben.22 Am Ende gibt gerade dieser vermeintliche Realismus das Politische preis, weil er ihm nicht mehr abverlangt als bloß ›Politik‹, d. h. weil er jeglichen Geist der Revolte gegen eben dieses Sichabfinden ausgetrieben zu haben scheint. So drängt sich abschließend diese Konsequenz auf: Rebellische Energien speisen sich aus unserem prä-politischen Widerstand gegen die Negativität des Unannehmbaren; erst im zweiten Schritt gehen sie – idealiter unter Verzicht auf jegliche Selbstgerechtigkeit – als politisierte in konkrete Widerstandsformen ein. Sie sollten dabei aber nicht die Illusion nähren, sich derart, als politisierte, selbst zu genügen. Als allzu mangelhaft erweist sich das Politische selbst, so dass es nicht zu verteidigen ist, ohne gegen die Zumutung zu rebellieren, uns mit bloßer ›Politik‹ abfinden zu sollen, sei sie auch noch so ›realistisch‹. So gesehen wird sich der ›metaphysische Überschuss‹ nicht selbstgerechter rebellischer Energie niemals ganz tilgen lassen.

226  |  Kapitel IX  

K A PI T EL X Bewährt sich das ›Licht der Öffentlichkeit‹ noch als ­Metapher? Zur radikalen Frage, was die Welt ›hell‹ macht Auf der Welt sein: im Licht sein […] ‒ aber vor allem: standhalten dem Licht […]. Max Frisch1 Die Dunkelheit ist im Zentrum. Gabriel Marcel 2

1. Die Welt, Tatsachen und ihre Bestimmung

»Die Welt ist alles, was der Fall ist.« So lautet der berühmte erste Satz von Ludwig Wittgensteins, im Jahre 1918 verfasstem Tractatus logico-philosophicus. Demnach liegt die Welt in ›tatsächlicher‹ Form vor. Eine Tatsache, lehrt der Verfasser, »ist das Bestehen von Sachverhalten«. Diese aber müssen als »Verbindung von Gegenständen (Sachen, Dingen)« eigens ›festgestellt‹ werden. Idealiter würde dies für die ganze Welt als »Gesamtheit von Tatsachen«3 gelingen, so dass zwischen dem, was der Fall ist, einerseits und dem Festgestellten andererseits insgesamt ein Isomorphieverhältnis bestünde. Das Festgestellte würde eine ein-eindeutige Abbildung dessen liefern, was der Fall ist; und die Sprache wäre dazu da, ein eindeutiges ›Bild‹ von allem Tatsächlichen möglich zu machen, das nur durch unzweideutige Aussagen, niemals aber willkürlich zu ›bestimmen‹ wäre. Ein bestechend einfaches Modell, das seinerseits als ein Bild aufgefasst werden kann. Bekanntlich sahen sich Wittgenstein und seine Bewunderer später jedoch dazu gezwungen, vom Bild des Abbildcharakters der Sprache abzurücken und zuzugeben, dass selbst physikalische Tatsachen durch eine wissenschaftliche community   |  227

approbiert werden müssen.4 Zwischen dem, was uns zunächst, in naiver Wahrnehmung, der Fall zu sein scheint, und dem, was sich schließlich als zutreffend erweist, liegen vielschichtige und heterogene, aber in jedem Fall durch und durch soziale Prozesse der Bezeugung, der Bewahrheitung, der experimentellen Bestätigung und der Verifikation, durch die Tatsachen überhaupt erst als solche etabliert wer­den. Sie liegen nicht einfach vor, um darauf zu warten, durch ein einzelnes epistemisch­es Subjekt ausgesagt zu werden. Vielmehr müssen mehrere Subjekte, die zunächst darauf angewiesen sind, einander zu vertrauen, durch ihre ständig ›fehlbaren‹ Er­kenntnisse, die allenfalls vorläufig als solche gelten können, ­herausfinden, was bis auf weiteres als ›zutreffend‹ gelten kann. Das gilt zwischenmenschlich und im Privaten ebenso wie im Horizont gesellschaftlicher Anonymität und der Öffentlichkeit. Wo diese nicht darauf warten kann, dass langfristige wissenschaftliche Prozesse herausfinden, wie es um ge­w isse Erkenntnisprobleme bestellt ist (man denke nur an die langfristigen Klimaveränderungen), muss sie sich auf Institutionen wie die Presse verlassen, von denen nicht zu erwarten ist, dass sie privilegierten Zugang zu allem haben, ›was der Fall ist‹. Zugleich sind sie unter ständigem Zeitdruck einer aktuellen Informationslage verpflichtet, der sie niemals erschöpfend Herr werden können. Ihnen läuft ständig die Zeit davon, wie man sagt, und die journalistischen Mittel der Erkundung des Wirklichen sind in aller Regel höchst beschränkt. Umso wichtiger ist es, dass alle Institutionen, die mit solchen Rahmenbedingungen rechnen müssen, ihre unvermeidliche Unzulänglichkeit nicht etwa kaschieren, sondern selbst deutlich machen. Nur das kann als ›seriös‹ gelten. Zumindest in liberalen politischen Kulturen sollte das mehr oder weniger allen bewusst sein, die sich in öffentlichen Auseinandersetzungen auf ›Tatsachen‹ berufen. Diese ›gehören‹ nach demokratisch-liberalem Verständnis niemandem exklusiv; und sie sind von niemandem souverän, aus eigener Machtvollkommenheit, zu bestimmen und Anderen vorzugeben. Wer das versucht, muss mit der elementarsten sozialen Auffassung davon in Konflikt geraten, was politisches In-derWelt-sein überhaupt ausmacht. Letzteres liegt eben nicht darin, es als vereinzeltes epistemisches Subjekt mit ›an sich‹ bereits feststehenden Tatsachen zu tun zu haben, die zu bestimmen und dann 228  |  Kapitel X 

nur noch aus­zusagen wären, sondern im Vertrauen auf Andere, auf soziale Prozesse der Bestimmung von Sachverhalten und auf die Institutionen, die im Horizont einer anonymen Öffentlichkeit ihre Unzulänglichkeiten selbst zu erkennen geben, um weiterhin ernsthaft in Betracht gezogen werden zu können. Es handelt sich so gesehen um ein radikal soziales und prekäres In-der-Welt-sein, das in dem Maße, wie es auf Andere angewiesen ist, um in Erfahrung bringen zu können, ›was der Fall ist‹, auch der völligen Desorientierung in dieser Hinsicht anheimfallen und sogar aus der Welt fallen kann. So ergibt sich im Vergleich mit Wittgensteins Tractatus ein ganz anderes ›Bild‹ von der Welt, in der wir existieren bzw. die wir existieren (transitiv gesprochen), insofern wir sie durch unsere politische Ko-Existenz überhaupt erst als Welt zum Vorschein kommen lassen und sie als solche aufrecht erhalten. Was neuerdings »soziale Epistemologie« genannt wird, weist ebenfalls in diese Richtung. 5 Demnach ist alles Wissen und Erkennen sozial fundiert ‒ in Beziehungen zu Anderen, die ihrerseits streng genommen genauso wenig wie ihr ›Sinn‹ zu beweisen sind, derart radikal hängen sie vom Vertrauen ab, das man einander und Institutionen schenkt. Dabei ist weder das Vertrauen selbst noch auch die Ver­­trauenswürdigkeit, die es stiftet, zu beweisen. Unentbehrlich ist das Vertrauen gerade dort, wo sich beides jeglicher Beweisbarkeit entzieht. In dieser Perspektive beginnt man sich langsam eine ganz andere ›Vorstellung‹ von der Welt, von Tatsachen, Sachverhalten sowie von Beziehungen zu Anderen zu machen, die verbürgen, ›was der Fall ist‹ ‒ eine Vorstell­ung, die nun gerade keinem ›Weltbild‹ entspringt, das sich ein monologisches epis­temisch­es Subjekt von einer ihm äußerlichen, gegenständlich vorliegenden Welt auch aus ei­gener Macht­­ vollkommenheit machen könnte. Während die Sozialphilosophie menschlicher Ko-Existenz, die sich von einem ›Weltbild‹ nach der einschlägigen Kritik Martin Heideggers an diesem Begriff abkehrt6 , herausarbeitet, wie radikal und prekär unser In-der-Welt-sein Anderen ausgesetzt ist7, sind wir gegenwärtig Zeugen neuerlicher Versuche, sich der Welt politisch zu bemächtigen; und zwar dem ersten Anschein nach so weit gehend, dass auch Tatsachen keinen unabhängigen Bestand mehr haben können, wenn sie ganz und gar souveräner Verfügung daBewährt sich das ›Licht der Öffentlichkeit‹ noch als ­Metapher?  |  229

rüber unterstellt werden, was der Fall ist. Gewiss: Gelogen wurde, zumal politisch, schon immer. Und die politische Philosophie sieht sich seit ihren Anfängen in der Antike mit Phänomenen der Verlogenheit, der Manipulation und der systematischen Irreführung konfrontiert, die spätestens seit Niccolò Machiavelli als ›normal‹ gelten. Sie gehören, heißt das, zum Spiel des Politischen unvermeidlich dazu. Das geben auch Autorinnen wie Hannah Arendt und Judith Shklar zu, die nicht so weit gehen, etwa Lüge, Betrug und Verrat aus bloß taktischen Erwägungen heraus bei passender Gelegenheit zu empfehlen, wie es bei Machiavelli zweifellos der Fall ist. 8 Nach verbrei­tetem Verständnis verstellen, verdrehen oder verbergen Lügen Tatsachen, von denen die Lügner durchaus wissen.9 Anders verhält es sich aber, wenn ganz offen »alternative Fak­ten« behauptet werden ‒ was nach diesem Verständnis eigentlich eine Lüge erfordern wür­de. Kellyanne Conway, offenbar die Erfinderin dieses Begriffs, hat sich die Mühe zu lügen aber gar nicht erst gemacht. Scham, die Lügnern droht (falls sie noch ein Minimum an Selbstachtung haben), wenn ihre Unwahrheit aufgedeckt wird, schien ihr dabei vollkommen fremd zu sein. Verblüfft und verwirrt registrierte die Öffentlichkeit, dass sich in ihren Worten geradezu programmatisch ein ganz neues Verständnis von Tatsachen ankündigte, das sich kurz gefasst als die Parole fassen lässt: Was Tatsache ist, bestimme ich bzw. bestimmen wir, die entsprechend Bevollmächtigten des amerikanischen Präsidenten. Das musste dem verbreiteten Verständnis von Tatsachen, demzufolge sie irgendwie doch un­abhängig von uns ›bestehen‹, aber allemal, als politische, einer kommunikativen Validierung bedürfen, diametral zuwiderlaufen ‒ und faszinierte nicht wenige offenbar gerade deswegen. Im Folgenden werde ich zu ermitteln versuchen, was es mit dieser neuen (aber keineswegs zuvor vollkommen unbekannten10) Form politischer ›Souveränität‹ auf sich hat und ob sie nicht ein fatales Licht auf das Bild wirft, das wir uns von der politischen Welt machen, in der wir auf Gedeih und Verderb von Anderen abhängend ko-ex­istieren, seit dem wir ›das Licht der Welt erblickt‹ haben. Es wird sich zeigen, dass dieses ›Licht‹ ein soziales, kein physisches, ist und dass wir darauf angewiesen sind, diesem Licht nicht ›gnadenlos‹ ausgeliefert zu werden ‒ erst recht nicht, wenn es sich um das viel zitierte ›Licht der Öffentlichkeit‹ (und insofern 230  |  Kapitel X 

um ein ›politisches Licht‹) handelt. Genau davon müssen wir uns ein angemessenes ›Bild‹ machen, um zu verstehen, wie gegenwärtig im blendenden Licht der Öffentlichkeit ein neuer Obskurantismus sich breit macht, der ›verdunkelt‹, was eine politische Welt eigentlich ausmacht. Ich knüpfe dabei an einen Aphorismus Friedrich Nietzsches zum Obskurantismus an, gebe ihm im weiteren Verlauf aber eine eigene Wendung, indem ich seinen nur angedeuteten Weltbegriff sozialphilosophisch reinterpretiere. Dabei geht es im Kern um die Auffassung, dass die Welt, der wir ursprünglich nur dank Anderer und umwillen Anderer zugehören, eine soziale und politische nur sein und bleiben kann, wenn man sich jedes Versuchs enthält, souverän, ›aus eigener Machtvollkommenheit‹, bestimmen zu wollen, was der Fall ist. Positiv gewendet heißt das: In einer solchen Welt ist überhaupt nichts bloß deswegen ›der Fall‹, weil ich es so oder so ›bestimmt‹ habe.

2. Ein ›verdunkeltes‹ Bild der Welt

Das Obskure gilt als politisch verdächtig, noch bevor sich überhaupt ein konkreter Verdacht gegen diejenigen erhärten lässt, die man für ›zwielichtig‹, ›undurchsichtig‹ oder ›licht­­scheu‹ hält, welche Gründe sie für ihr Handeln auch immer haben mögen. Handeln sie überhaupt im politischen Sinne des Wortes? Ihr Tun gilt als ›Machenschaft‹, die gar nicht öffentlich sichtbar werden darf, wenn sie Erfolg haben will. Um dies zu gewährleisten, sind ›Dunkelmänner‹ und ›-frauen‹ längst nicht mehr auf konspiratives Vorgehen mittels geheimer Rituale und ma­g i­scher Künste angewiesen. Sie pro­fitieren von einer Aufklärung, die politisch ›lichtscheuem‹ Treiben einst hatte ein Ende machen sollen, die sich aber »aufgeklärte Obscuranten« (ein Ausdruck Heinrich Heines11) alsbald zunutze ma­chen konnten. Diese mieden keineswegs jegliche Publizität, sondern bedienten sich ihrer, um gegen­auf­k lärerisch tätig zu werden, später auch um Desinformationen zu streuen und Propaganda zu verbreiten ‒ aber nicht nur, um spe­zielle Sachverhalte in ein ›falsches Licht‹ zu rücken, sondern schließlich auch ein ›düsteres‹, ›verdunkeltes‹ oder ›angeschwärztes‹ ›Bild‹ der poli­tischen Welt im Ganzen zu verbreiten, wie Nietzsche feststellte: »Das Wesentliche Bewährt sich das ›Licht der Öffentlichkeit‹ noch als ­Metapher?  |  231

an der schwarzen Kunst des Obskurantismus ist […], daß er das Bild der Welt anschwärzen, unsere Vorstellung vom Dasein verdunkeln will.«12 So sprach Nietzsche iro­nisch von dieser Kunst, nachdem sie als magische kaum mehr überzeugte, und machte da­ rauf aufmerksam, dass die gleiche üble Absicht, die auf das ›Bild‹ abzielt, das wir uns von der Welt mach­en, auch in modernen Zeiten politisch verfolgt werden kann. Dabei arbeitete er wie die Philosophen der Aufklärung mit der Metapher des Lichtes, wendete sie ins Politische und warf die Frage auf, wie sie heute politisch zu verstehen sein soll. Politischer Obskurantismus spielt ein heikles, am Ende auch für ihn selbst gefährliches Spiel, läuft er im Grenz­fall doch darauf hinaus, dass ›falsches Licht‹, in welches er Sachver­halte, Andere, sich selbst und die Welt selbst rückt, von ›richtigem‹ überhaupt nicht mehr zu unterscheiden ist, so dass er Gefahr läuft, sich selbst die Grundlage zu entziehen. Bislang wusste allerdings jede Art von Politik, die mit manipulativer und propagan­dis­ti­scher Absicht diesen Unterschied zu verwischen trachtete, dass es ihn gibt und dass er öffentlich höchst relevant ist. Selbst das systematische politische Lü­gen hat stets beides wenigstens implizit anerkannt, musste es doch die ihm durchaus nicht unvertraute Wahrheit eigens leugnen. Nur hat es dies vielfach nicht in öffentlich erkennbarer Form getan, indem es sie ›in Abrede stellte‹. Vielmehr hat es alles daran gesetzt, das Leugnen als solches zu kaschieren. Heute sind wir, wie es scheint, allerdings mit einem neuartigen Obskurantismus kon­fron­tiert, der weit darüber hinausgeht, indem er den im bewussten Lügen stets noch erkennbaren Bezug auf Wahr­­heit, Wahrhaftigkeit, Richtigkeit etc. als solchen öffentlich eigener Verfügung unterstellt, insofern vergleichgültigt und so die Wurzel un­se­res politischen In-der-Welt-seins angreift, das genau damit anfängt: für diesen Bezug ›aufgeschlossen‹ zu werden und infolgedessen zur Auseinandersetzung mit Anderen bestimmt zu sein.13 Wer öffentlich, nicht nur wider besseres Wissen, sondern ungerührt, schamlos und um Widerlegung unbesorgt »alternative Fakten« statuiert, signalisiert damit nicht, über magische Kräfte einer spe­ziellen schwar­­zen Kunst zu verfügen, sondern maßt sich eine souveräne Kompetenz in der Bestimmung dessen an, ›was der Fall ist‹. Unbekümmert darum, dass auf diese Weise auch öffent232  |  Kapitel X 

lich ›approbierte‹14 , durch viele Zeugen bestätigte Sachverhalte in Abrede gestellt werden, wird auf diese Weise angezeigt, dass man willens ist, Unterscheidungen zwischen Zu­treffendem und Unzutreffendem, Richtigem und Falschem, Wahrem und Unwahrem als sol­che gewissermaßen außer Kraft zu setzen bzw. sich nicht mehr um sie zu scheren.15 Und zwar im vollen Licht der Öffentlichkeit, in dem man nicht nur ein ›falsches Licht‹ auf gewisse Fakten wirft, sondern in der Tat, mit Nietzsche zu reden, das ›Bild‹ der Welt angreift und es ›verdunkelt‹. Genau das stellt uns nun vor die Frage, was die politische Welt eigentlich ›erhellt‹. Vor dieser Herausforderung stehen wir heute: neu zu bestimmen, inwiefern sich überhaupt noch die Metapher des Lichts politisch bewährt, wenn nicht länger zu bestreiten ist, dass im Licht der Öffentlichkeit ein neuartiger Obskurantismus sich breit macht, der ›verdunkelt‹, was eine politische Welt ausmacht, die ihren Namen verdient. Hier geht es weniger darum, ob, sondern wie sich unter solchen Umständen noch das Licht als politische Me­ta­­pher bewähren kann. Von was für einem ›Licht‹ ist hier überhaupt die Rede? Hängen nach wie vor das Politische und das Licht einerseits, das Dunkle und Obskure andererseits so zusammen, wie man es sich im Zeichen der Aufklärung vorgestellt hat? Muss das, was sich ihr entzieht oder widersetzt, generell als verdächtig gelten und kann um­gekehrt alles, was sich ihr im Licht der Öffentlichkeit aussetzt, als unverdächtig durchgehen? Wer nichts zu verbergen hat, braucht scheinbar das Prinzip der Publizität nicht zu für­ch­ten, dem Kant die »Hinterlist einer lichtscheuen Politik« zu unterwerfen verlangte, die gar nicht öffentlich sichtbar werden könne, ohne »den Widerstand aller« gegen sie zu reizen, wie er in typisch aufklärerischem Optimismus meinte, den man heute kaum mehr teilen mag.16 Sind so auch heute noch Öffentlichkeit und Licht einerseits, das Dunkle und Ver­dächtige andererseits zu korrelieren?17 Schon zur Zeit der Aufklärung konnten derartige begriffliche Oppositionen nicht mehr recht funktionieren, hatten sich doch auch Geheimbün­de wie die Freimaurer der Vernunft verschrieben. Allerdings stand die Öffentlichkeit noch nicht derart unter Verdacht wie heute, wo ihr Ansehen rückhaltlos derart auf dem Spiel steht, dass sich ausgerechnet jene Institutionen, die ihre ›Vernunft‹ garantieren sollten, permanenter DenunBewährt sich das ›Licht der Öffentlichkeit‹ noch als ­Metapher?  |  233

ziation ausgesetzt sehen (ohne dass noch zu erkennen wäre, auf welche Vernunft sich die Denunzianten ihrerseits berufen könnten). Wie dieses Ansehen auf dem Spiel steht, das möchte ich im Folgenden zu bedenken geben, ohne das fragliche ›Licht‹ auf eine unbedachte façon de parler zu reduzieren oder es als Metapher gänzlich preiszugeben.

3. Wodurch es ›hell‹ wird: vier umstrittene Vorschläge

Zweifellos beruht die uralte Symbolik und Metaphorik des Lichts auf der vorgängigen Er­fahrung des Hellwerdens, die lange vor der Erfindung elektrischen Lichts und vor der Zähmung des Feuers allein der Sonne zu verdanken war, der auch das nächtliche Mondlicht alles schuldet. ›Es wird hell‹ sagt man, wenn von Osten her der Morgen graut. Das geflügelte Wort Ex oriente lux bezog sich ursprünglich nur auf diese ›Orientierung‹ des Hellwerdens, nicht speziell auf das europäisch-islamische Verhältnis, dem sich unter diesem programmatischen Titel noch heute eine umfängliche wissenschaftliche Buchreihe widmet. Was aber macht die Welt selbst hell, wenn damit nicht nur gemeint sein soll, dass es Tag wird, so dass man sich optisch ohne weiteres orientieren kann? Auf diese radikale Frage liegen im Wesentlichen vier ganz verschiedene Antworten vor. Eine religiöse, eine physikalische, eine mythologischanthropologische und eine politische. Nur auf letztere werde ich hier genauer eingehen, möchte aber die anderen wenigstens in Erinnerung rufen. »Es werde Licht«, heißt es in der Genesis. Das bedeutet: Nicht das Licht, sondern das Wort macht die Welt ursprünglich hell.18 Fiat lux besagt: Erst durch das Wort wird so etwas wie Welt überhaupt möglich. Wäre sie nicht auf diese Weise ›erhellt‹, gäbe es in Wahrheit nichts zu sehen und auch sonst nichts zu erfahren. Die Physiker wissen von einem solchen Ursprung nichts. Sie bleiben »vor der religiösen Frage« (Pascual Jordan19) stehen und spekulieren kosmologisch wie etwa Steven Weinberg allenfalls über »die ersten drei Minuten« nach dem sog. Urknall, der aus der Singularität »unendlicher Energiedichte« Raum, Zeit und alles hervorgehen ließ, was uns heute als Materie bekannt ist.20 Davon kon­zentrierte 234  |  Kapitel X 

sich in Folge des gravitativen Kollapses einer interstellaren Gaswolke in unserer Sonne der­art viel, dass ihr Licht nach Millionen Jahren auch menschliche Lebensformen möglich machen konnte, die ohne die u. a. im Prometheus-Mythos21 beschriebene, aber auch von Pa­läo­a nthropologen nach wie vor für grundlegend gehaltene Zähmung des Feuers22 nicht denk­bar waren. Die Frage, was menschliche Lebensformen als solche ausmacht, beantwortete erstmals die poli­tische Theorie der griechischen Antike vor ca. zweieinhalbtausend Jahren. Diese Theorie besagt im Wesentlichen, es sei das vernünftige Miteinanderreden, was die Welt hell macht; und zwar im Licht der Öffentlichkeit. So jedenfalls hat man unter Berufung auf die antiken Philosophen seit der Aufklärung im 18. Jahrhundert und bis in die Philosophie der Gegenwart hinein menschliche Lebensformen politisch gedeutet. Auf den ersten Blick haben diese weder mit dem religiösen ›Wort‹ noch auch mit der Physik elektromagnetischer Wellenlängen viel zu tun, sondern vor allem damit, dass diejenigen, die vernünftig reden, öffentlich in Erscheinung treten, d. h. politisch sichtbar werden, und dass sie ihrerseits das, was ihr Anliegen ist, sichtbar machen können, indem sie bei Anderen Gehör finden. In dieser Hinsicht herrscht bei Autoren wie Hannah Arendt, Jürgen Habermas und Marcel Hénaff, die den Begriff der Öffentlichkeit in kritischer Anlehnung an die klassische politische Theorie der Antike entfalten, wie auch sonst in der Philosophie okzidentalen Ursprungs eine weitgehend ungebrochene Hochschätzung des Lichtes in seiner politischen Be­deutung vor.23 Vernunft, öffentliche Rede und Sichtbarkeit in den Augen Anderer gehen heute indessen nicht mehr unstrittig zusammen. Nicht einmal der Streit zwischen Verteidigern des Primats des Sehens einerseits und den Apologeten des Wortes, der Stimme und des Hörens andererseits kann als geschlichtet gelten. (Vom Begriff der Schrift ganz abgesehen.) All das gilt jedoch nicht derart als ver­dächtig wie das Zwielicht einer Schattenwelt, die sich dem Licht der Öffentlichkeit ent­zieht, weil sie offenbar vieles (nämlich Illegales) zu verbergen hat, wie man vermuten muss. Tatsächlich aber ist das Licht in seiner politischen Bedeutung längst fragwürdig geworden. Warum, das möchte ich in einer Skizze der Frage zeigen, was die Welt politisch hell macht. Auch ich werde mich der Metaphorik des Lichtes bedienen und Bewährt sich das ›Licht der Öffentlichkeit‹ noch als ­Metapher?  |  235

von Helligkeit positiv sprechen. Aber ich werde auch fragen, von was für einer Art Licht wir politisch über­haupt sprechen, ob es gut ist, in diesem Licht zu stehen, und ob es nicht sogar eine Art Herrschaft über uns auszuüben droht, wie es Paul Celan in einem seiner letzten Ge­d ichte an­deutet, das mit den Worten endet: »es herrschte Lichtzwang«24 ‒ ein poetisches Wort, das gewissermaßen widerhallt in der gegenwärtigen politischen Theorie, in der geradezu von einer »Tyrannei des Lichts« (Haridimos Tsoukas 25) die Rede ist.

4. Licht in wörtlicher und übertragener Bedeutung

Das Wort Licht wird etymologisch u. a. mit der indogermanischen Wurzel leuk = leuchten, strahlen, funkeln in Verbindung gebracht. Das griechische leukós bedeutet: licht, glänzend; das lateinische, mit lux verwandte, lucere bedeutet leuchten, glänzen. Noch heute liegt es nahe, Licht als dasjenige zu verstehen, was Helligkeit, Leuchten und Glanz bewirkt ‒ im Gegensatz zum Dunklen, Düsteren und schließlich Finsteren, in dem man sich überhaupt nicht mehr orientieren kann und sich rückhaltlos gefährdet fühlt. Dem entsprechend bestätigt die Anthropologie der Sinne, wie positiv all das besetzt ist, was man dem Licht zuschreibt. Helligkeit, Leuchten, Glanz, Strahlen ‒ was sollte daran fragwürdig sein? Warum treibt eine Romanfigur bei Max Frisch die Frage um, ob man dem Licht auch »standhalten« kann? Welche Gefahr liegt darin, dem Licht ausgesetzt zu sein? Sind wir nicht von Natur aus ganz und gar auf Licht hin ausgerichtet? Wenden wir uns nicht quasi instinktiv vom Dunklen, Düsteren und Finsteren ab ‒ von allen Verhältnissen also, denen Licht zu fehlen scheint? Sind solche Verhältnisse also nur privativ zu begreifen, so also, dass es ihnen an Licht mangelt, dessen wir unbedingt bedürfen? In praktischer Hinsicht sind wir nach uralter Überzeugung rückhaltlos auf die Helligkeit des Tages angewiesen ‒ im Gegensatz zur »Nacht, da niemand wirken kann«.26 Und im übertragenen Sinne scheint auch für jegliches Verstehen und Begreifen zu gelten, dass es sich nur in der Helle geistigen Lebens vollziehen, aber im geistig Dunklen, Obskuren und Nächtlichen nicht gedeihen kann.27 236  |  Kapitel X 

Sowohl in praktischer als auch in theoretischer Hinsicht lässt sich eine generelle Hochschätzung ›täglichen‹ Lichtes indessen kaum mehr halten. Dank elektrischer Beleuch­tung ist man längst nicht mehr darauf angewiesen, bei Tag zu arbeiten. Das festzustellen erscheint einerseits als trivial und selbstverständlich, so dass an den tiefen zivilisationsgeschichtlichen Einschnitt, den die Erfindung elektrischen Lichts tatsächlich bedeutete, sowie an dessen Ambivalenz und Infragestellung jeglicher naiven Vorstellung von Helligkeit erst wieder eigens erinnert werden muss.28 Der technischen, inzwischen auch in optische »Ver­schmutzung« umgeschlagenen Aufhellung der menschlichen Lebensverhältnisse hat sich andererseits vor allem seit der Romantik (von Novalis über Charles Baudelaire bis hin zu Autoren wie Georges Bataille, Gaston Bachelard und Maurice Blanchot) ein Diskurs widersetzt, der auf »Schatten-« und »Nachtseiten« des Daseins keineswegs nur Verwerfliches und Unbegreifliches, sondern Befreiung von der »Endlichkeit des an die Dinge gehefteten und durch sie bestimmten Blicks«29 sowie Spielräume »poetischer« Existenz und authentischer Kommunikation entdeckt.30 Längst ist man auf Ambivalenzen des Dunklen und des Hellen aufmerksam geworden und versteht das Verhältnis von Dunkelheit und Nacht zu Licht und Tag, in wörtlicher und metaphorischer Bedeutung sowie praktisch wie theoretisch nicht mehr eindeutig als ein privatives. Schon Jules Michelet warnte 1845 vor »gleißendem Licht«, das »das an die dunklere Behausung gewöhnte Auge« peinige. »Hier gibt es kein Dunkel, in das sich der Gedanke zurückziehen, keinen schattigen Winkel, in dem die Einbildungskraft ihren Träumen nachhängen kann. In dieser Beleuchtung ist keine Illusion möglich. Unaufhörlich und unbarmherzig gemahnt sie an die Realität.«31 So konnte das Licht gerade durch künstliches Über­maß als bedrohlich erlebt werden. Im Übermaß an Licht sieht man bekanntlich nicht besser, sondern am Ende gar nichts mehr. Auch diejenigen, auf die künstliches oder natürliches Licht fällt und die sich ihm aus­setzen, sind ihrerseits auf relative Dunkelheit, Abblendung und Schatten angewiesen. Gilt das nun auch im übertragenen Sinne? Inwiefern ist das Licht als Metapher politisch noch heute hilfreich, wo wir es gar nicht mit Physik, Astronomie und Kosmologie, sondern mit der Öffentlichkeit bzw. mit einer dezentrierten Vielzahl von Öffentlichkeiten zu tun haben? Bewährt sich das ›Licht der Öffentlichkeit‹ noch als ­Metapher?  |  237

So lebenswichtig es ist, so gefährlich kann Licht werden, sowohl wenn es fehlt, als auch dann, wenn man sich ihm nicht entziehen kann. Ungeachtet dessen steht Licht als Metapher ‒ nicht zuletzt im Politischen ‒ nach wie vor bei vielen hoch im Kurs, wenn auch oft nur als eine unbedachte façon de parler. Man will immerfort »Licht ins Dunkel« obskurer Machenschaften bringen (man denke an den sog. Dieselskandal); man verlangt, das Ver­sagen der Behörden »restlos aufzuklären« (man denke an den NSU), und verspricht, für »Trans­parenz« zu sorgen (man denke an den Fall Anis Amri), usw. 32 In­t ransparenten Geschäfts­prak­t iken, Zinsmanipulationen großen Stils, undurchsichtigem Lavieren von Lobbyisten, einer verschworenen dunklen Schatten­welt und generell ›lichtscheuem‹ Gesindel aller Art, das man heute weniger in dubiosen Spelunken als vielmehr in gewissen Führungsetagen vermutet, will man typischerweise mit dem ›Licht der Öffentlichkeit‹ beikommen. Wer es scheut, macht sich verdächtig. Wer sich ihm aussetzt, hat scheinbar nichts zu verbergen. Doch entzieht sich dem Licht der Öffentlichkeit auch das Beste, was wie die Güte niemals allen sichtbar werden darf. Wassili Grossman, der russische, vom Stalinismus bedrängte Romancier, Emmanuel Levinas, der von ihm inspirierte litauisch-französischjüdische Philosoph, und Hannah Arendt, die politische Theoretikerin, haben es gewusst. Alle drei insistierten darauf, dass wir in gewisser Weise radikal der öffentlichen Sichtbarkeit entzogen sind; sei es in der Praxis ›gütigen‹ Lebens, wie Grossman sie sich vorstellte; sei es aufgrund der Alterität des Gesichtes (das für Levinas gerade kein visuell ›fassbares‹ sein konnte); sei es im Hinblick auf das individuelle Selbst (das zwar öffentlich in Erscheinung treten kann, wie es Arendt beschrieben hat, das dabei aber darauf angewiesen ist, dem Licht der Öffentlichkeit niemals ›restlos‹ ausgeliefert zu werden). Wo kein öffentliches Licht hinfällt, mag Obskures sich breit machen ‒ wie im virtuellen dark net, wo Dunkelmänner und -frauen ihr Unwesen treiben, Intriganzen, Seilschaften und mafiose Strukturen herrsch­en. Aber wo es nicht hinreicht, gedeiht auch die Diskretion, die Sensibilität für Unscheinbares, Unaufdringliches und alles Unspektakuläre, das nicht oder allenfalls indirekt auf öffentliche Wirkung abzielt. Das nicht oder allenfalls indirekt (öffentlich) 238  |  Kapitel X 

Sicht­­bare ist nicht so schlecht wie sein Ruf. Umgekehrt droht eine Öffentlichkeit, die das Spektakuläre und Sensationelle generell prämiert, wie es von Paul Valéry über Guy Debord bis hin zu Martin Jay, Gregor Franck und Christoph Türcke beobachtet worden ist, alles und jeden der Macht einer Ökonomie der Aufmerksamkeit zu unterwerfen, die für eine nicht-privative Auffassung des öffentlich nicht zu Beleuchtenden kein Verständnis aufbringt. Muss man sich also der Herrschaft einer unguten Übermacht sensationeller und spektakulärer Beleuchtung widersetzen ‒ durch Techniken der Abblendung, der Abschirmung und schließlich des Rückzugs aus öffentlicher Sichtbarkeit, wenn auch nur vorübergehend, um nicht politisch gänzlich unsichtbar zu werden? Muss letzteres darauf hinauslaufen, dass man ganz und gar aufhört, überhaupt (politisch) zu existieren? Muss man das um jeden Preis vermeiden, wenn es uns politisch existenziell darum gehen muss, zu ›sehen und gesehen zu werden‹ ‒ in der wörtlichen, aber auch übertragenen und emphatischen Bedeutung dieses Ausdrucks, auf die die politische Theorie der Gegenwart hingewiesen hat?33 Gegenwärtig läuft das Licht der Öffentlichkeit jedenfalls Gefahr, sein Ansehen weitgehend einzubüßen, das einmal tief in der (speziell neuplatonischen, Antike und Christentum verknüpfenden) Metaphysik des Lichts, in der Aufklärung und in einer vor allem dem Sehen ver­pflichteten Vernunft verwurzelt war. Dabei zehrt es noch immer von einer radikalen Bedeutung, die man ihm nicht nur für politisches Leben, sondern für das menschliche In-der-Welt-sein selbst zugesprochen hat.

5. Auf die Welt kommen: Sichtbarkeit und Hörbarkeit ursprünglich und öffentlich

Wenn jemand ›auf die Welt kommt‹, sagen wir, das Kind erblicke das ›Licht der Welt‹. Auch in diesem Fall kommt dem Licht radikale Bedeutung zu. Ernüchterte, entzauberte, säkulare Subjekte der Moderne werden ihm allerdings kaum mehr den Sinn des Wortes zu­schreiben. Sie werden vielmehr sagen: im individuellen ZurWelt-Kommen gehe das Licht, das wir anlässlich der Geburt erblicken, offenbar jedem Wort voraus. Tatsächlich hat das Kind nur Bewährt sich das ›Licht der Öffentlichkeit‹ noch als ­Metapher?  |  239

in einer bereits erhellten Welt eine Chance, sich zu entfalten. Aber wie bzw. wodurch ist sie eigentlich erhellt? Und von was für einem Licht ist hier die Rede, wenn nicht vom Licht der Physik? Nicht durch physikalisches Licht, sondern durch die gastliche Aufnahme der Neugeborenen in die menschliche, zunächst familiale oder quasi-familiale Gemeinschaft wird die Welt ›hell‹. Ohne diese Aufnahme, vernachlässigt, ausgesetzt oder verstoßen, würde das Neu­­­­­­geborene sogleich umkommen und niemals etwas erfahren. Ihm würde geistig kein ›Licht aufgehen‹ können in der Form einer Idee (wie Platon es sich vorgestellt hatte); es würde keinen ›klaren und deutlichen‹ Gedanken fassen können, wie es Descartes vorschwebte, und niemals an einer ›Aufklärung‹ des Dunklen, des Unverstandenen, des Verwor­renen… teil­haben, wie sie Kant gefordert hatte. All diese Möglichkeiten stehen nur den­jenigen offen, die zuvor und auf Dauer sich aufgenommen wissen in die Lebensformen Anderer, die versprechen müssen, die Aufgenommenen zur Welt und im gleichen Zug zur Sprache kommen zu lassen; und zwar als singuläre, auf unvorhersehbare Art und Weise an Andere auf Erwiderung hin sich richtende Wesen. Wenn nur die ursprüngliche Gastlichkeit in diesem Sinne sozialer Lebensformen verbürgt, dass die Welt ›hell‹ wird, so fundiert in diesem Sinne das Soziale auch jede Erkenntnis in klarer, wie auch immer aufgeklärter, geistigem Licht verpflichteter Form. Alle genannten Denker waren zutiefst dem Licht als Metapher der Wahrheit verpflichtet, die in einem lógos gründen sollte, der sich als »gesammeltes Gesehenhaben« verstehen ließ und sich auf den »gestalthaften Anblick« (eidos) des Wesens der Dinge berufen können sollte. 34 Verstand und Vernunft galten ihnen als Angelegenheit eines geistigen Lichtes, das nur auf­nehmen kann, wer begrifflich sehen kann. Wir sehen demnach nur, indem wir auch begreifen. Hegel sprach in diesem Sinne vom »Auge des Begriffs«35 , das ebenfalls voraussetzt, dass es sich auf eine bereits erhellte und aufzuklärende Welt be­ziehen kann. Die Vernunft scheint in diesem übertragenen Sinne eine okulare Angelegenheit zu sein. Noch Hans-Ge­org Gadamer sprach auf dieser Linie von philosophischer theoría (der philosophischen Lebensform) als einem Sehen dessen, was ist. 36 Dabei wusste er, dass es sich um ein besonderes Sehen handeln muss, das sich nicht indifferent oder verblüfft dem gerade 240  |  Kapitel X 

Sichtbaren überlässt, sondern das zunächst naive Staunen über das Sichtbare diszipliniert, um dann nach begrifflicher Aufklärung darüber zu forschen, wie es überhaupt möglich ist, dass sich Sichtbares uns zu sehen gibt ‒ und dass wir darüber hinaus et­was sichtbar machen können, was nicht vorher schon sichtbar war, wie es in Paul Klees Schöpferischer Konfession heißt. An der Frage, ob und wie sich daraus die zentralen Aufgaben philosophischer Theorie ergeben, scheiden sich bis heute die Geister. Mir geht es hier allerdings weniger um die Philosophie als solche, als vielmehr um den ›bürgerlichen‹ Zusammenhang von Licht und Öffentlichkeit ‒ nahe bei Kant, der politisch­es Handeln dem Prinzip der Publizität zu unterwerfen verlangte ‒ im Gegensatz zu hinterlis­tiger »lichtscheuer« Politik, die gar nicht öffentlich sichtbar werden könne, ohne »den Widerstand aller« gegen sie zu provozieren. 37 Hannah Arendt, die in dieser Hinsicht an Kant anknüpft, geht noch weiter, indem sie behauptet, »erst in der Freiheit des Miteinander-Re­dens ersteht überhaupt die Welt als das, worüber gesprochen wird, in ihrer von allen Seiten her sichtbaren Objektivität«, d. h. in ihrer ›Tatsächlichkeit‹ als ›Sachverhalt‹, wie man mit Wittgenstein sagen könnte. 38 Diese Freiheit ›hat‹ aber niemand je von Geburt an; sie muss vielmehr ursprünglich und immer wieder neu eingeräumt werden, indem jeder Andere ‒ und zwar als solche ‒ ›zu Wort kommen‹ lässt, ihnen Gehör schenkt und antwortet, wozu es nur vermittels der effektiven Bereitschaft kommen kann, sich nicht nur überhaupt etwas, sondern grundsätzlich Unvorhersehbares sagen zu lassen. Ohne den Begriff der Welt explizit so ins Spiel zu bringen, formuliert Jürgen Habermas prima facie ähnlich wie Hannah Arendt: »Im Licht der Öffentlichkeit kommt erst das, was ist, zur Erscheinung, wird allen alles sichtbar. Im Gespräch der Bürger miteinander kommen die Dinge zur Sprache und gewinnen Gestalt.«39 Abgesehen von der klärungsbedürftigen Merk­w ürdigkeit, dass sich hier das besagte Licht im Modus der Rede, also im Anspruch Anderer, im Hören auf sie und in deren Erwiderung bewähren soll, meint Arendt allerdings: Wir sind nicht einfach ›auf der Welt‹ und reden dann zufällig mit Anderen über gewisse Tatsachen und Sachverhalte ‒ Inbegriffe dessen, »was ist«, wie sich das bei Habermas liest. Den Titel ›Welt‹ verdient vielmehr nur das, was sich durch Bewährt sich das ›Licht der Öffentlichkeit‹ noch als ­Metapher?  |  241

das idealiter allen Menschen zugängliche Gespräch als ›Objektives‹ bewährt und in diesem Sinne potenziell für alle sichtbar wird ‒ unter der Voraussetzung aber, dass die Betreffenden überhaupt in Erscheinung treten können, um auf diese Weise die Möglichkeit einer politischen Welt immer neu zu stiften. Auch Bürger (mit einem anerkannten politischen Status) sind nicht einfach vorhanden, um dann mehr oder weniger zufällig miteinander ins Gespräch zu kommen. Sie existieren streng genommen überhaupt nur durch ihr In-Erscheinung-treten-Können, das auf Andere vor allem als Zuhörer und Adressaten unabdingbar angewiesen ist. Unter diesen Voraussetzungen fällt das fragliche Licht, das jene Sichtbarkeit garantieren soll, allerdings nicht wie von selbst auf das Objektive. Vielmehr verdankt es sich ‒ folgen wir dem Selbst­ verständnis des siècle des lumières und der Ideologie des enligthenment ‒ einer eigenständigen Leistung der Aufgeklärten, die nun scheinbar alles Licht sich selbst zu verdan­ken haben und infolgedessen zugleich Gefahr laufen, dass eine nichts und niemanden mehr auslassende Sicht­barkeit in eine »Zwangsoptik« umschlägt, die »in ihrer Struktur wieder der ›Höhle‹ nahe« kommt, in der dem bekannten Gleichnis zufolge eigentlich nur Verblendung herrschen kann.40 Wie dem auch sei: Auch hier kommt dem Sozialen, das ich auf die ursprüngliche Gastlichkeit einer menschlichen Lebensform zurückführe, eine grundlegende Bedeutung zu. Es fundiert selbst jede Erkenntnis einer verobjektivierten Welt. Dabei polemisiert Arendt allerdings gegen das private, von den Griechen der Antike bekanntlich als ›idiotisch‹ beschriebene Leben41, als ob nicht schon im Gespräch zwischen zweien, wo Dritte nicht physisch oder virtuell präsent sind, ebenfalls so etwas wie Objektivität gestiftet wer­ den könnte. Und sind zwischen zweien nicht schon Dritte mitgegenwärtig42 , insofern das, was jene sagen, potenziell veröffentlicht werden kann? Privates und Öffentliches sind längst keine klar und gewissermaßen hermetisch von­einan­der abzugrenzenden Sphären mehr. 43 Die jeweiligen Grenzen haben sich als weitgehend verschiebbar und durchlässig er­w iesen. Das geht so weit, dass man das Ende jeglicher Privatheit bzw. ein vollständiges Kol­labieren jeglicher deut ­lichen Unterscheidbarkeit in dieser Hinsicht prophezeit hat.44 Und zwar nicht aufgrund eines alles beobachtenden, panoptischen Staates, vor dem man sich hierzulande noch vor we242  |  Kapitel X 

nigen Jahren anlässlich einer harmlosen Volkszählung glaubte wie vor einem Orwell’schen big brother fürchten zu müssen, sondern vielmehr aufgrund allzu vieler, die ihr eigenes Privatleben ohne Rücksicht auf Verluste öffentlich zugänglich machen. 45 Derartige Selbstauslieferung des Privaten an das Öffentliche verkennt genauso wie die bloß privative Bestimmung des Privaten als eines ›idiotischen‹ Raums, dem alles zu fehlen scheint, was öffentliches Denken auszeichnet, dass die Welt ‒ lange be­vor sie öffentlich objektiviert wird ‒ allein zwischen-menschlich ›hell‹ wird. Das wird verkannt, wo man dem Licht des öffentlichen Denkens ein Privatleben gegenüberstellt, in dem nur geistige Dunkelheit herrschen dürfte, wenn wir Arendt folgen. Wenn man sich das Zur-Welt-Kommen eines jeden, der das Licht der Welt erblickt, so vorstellt, dass die Welt durch gastliche Aufnahme ›hell‹ wird, stellen sich die Dinge anders dar. Jemanden aufnehmen, bedeutet über die Sorge für das leibliche Wohl hi­ nausgehend ‒ ob angesichts von Neugeborenen oder Flüchtlingen ‒ vor allem: dafür einstehen, dass die Betreffenden von sich aus ‒ erstmals oder wieder ‒ in ihrer Singularität ›zur Sprache kommen‹ können. Auf diese Weise wird zudem bezeugt, dass sie wirklich existieren46 , ob sie nun sehen können oder nicht. Wer kein Gehör findet, läuft Gefahr, allenfalls noch physisch, aber nicht länger sozial oder politisch zu existieren. Dabei bleibt es grundsätzlich auch dann, wenn man sich längst der Zugehörigkeit zu einer mit vielen Anderen politisch geteilten Welt sicher zu sein glaubt. Dunkel und am Ende völlig düster wird die Welt all jenen erscheinen, die überhaupt kein Gehör mehr finden. Eine Garantie dagegen, dass wir diese Erfahrung nicht mehr machen müssen, gibt es nicht. Man denke an Alter, Gewalt, Krankheit und Tod, wo jedes Hören und Sehen aufhört. Die fragliche ›Helle‹ der Welt ist ein Phänomen der sprachlichen Aufnahme in sie und der erwiderten Rede. Sie wird umso kostbarer, je seltener sie erfahren wird. Erwiderung erfahren wir allerdings längst, bevor wir ins Licht der Öffentlichkeit treten: in der Gastlichkeit einer Gemeinschaft, die uns als ursprünglich Welt-Fremde aufgenommen hat und dadurch überhaupt erst sozial hat zur Welt kommen lassen. Während Arendt meint, erst im Staat als dem »öffentlich-politischen Bereich« erlange man »seine ganze Menschlichkeit […], die Bewährt sich das ›Licht der Öffentlichkeit‹ noch als ­Metapher?  |  243

ganze Wirklichkeit als Mensch, weil man dort nicht einfach nur ist (wie im privaten Hauswesen), sondern in Erscheinung tritt«47, ist im Sinne der dialogistischen Positionen der Moderne (von Wilhelm v. Humboldt und Ludwig Feuerbach über Martin Buber und Karl Löwith bis hin zu Emmanuel Levinas, Francis Jacques und vielen anderen) daran festzuhalten, dass wir originär als Andere und gegenüber Anderen sozial bzw. zwischen-menschlich in Erscheinung treten, allerdings nicht von Anfang an spezifisch politisch. Keineswegs sind wir im Privaten nur irgendwie vorhanden, um dann unsere volle Menschlichkeit erst in einem öffentlichen und durchstaatlichten Leben zu gewinnen, das uns po­li­tische Spielräume ohnehin nur um den Preis eröffnet, durch die Gewalt des Politisch­en auch unterdrückt und zerstört werden zu können. 48 Von dieser Ambivalenz verrät Arendts Apologie des öffentlichen Denkens allzu wenig, obgleich sie doch um diese Gefahren wusste. Mit dem ersten Weinen und Lächeln hebt ein soziales Leben an, das sich erst viel später zu einem politischen entfalten kann ‒ in der Auseinandersetzung mit Dritten, die schließ­lich zahllose Menschen einbezieht, deren Spuren sich in der Anonymität verlieren. Wer sich öffentlich äußert, muss wissen, nicht nur namentlich bekannte Adressaten zu ha­ben, sondern sich einem Publikum auszusetzen, das überwiegend nicht oder allenfalls indirekt antworten wird ‒ und wenn, dann so gut wie niemals ganz und gar beipflichtend, sondern wenigstens teilweise auch ablehnend, gleichgültig, ignorant oder aversiv. Wer im ›klassi­schen‹ (Arendt’schen) Sinne öffentlich in Erscheinung trat, musste sich immer schon exponieren. Er oder sie war abfälligen Kommentaren, intriganten Reden Dritter und der bereits von Alexis de Tocqueville als quasi terroristisch gebrandmarkten Macht der ›öffentlichen Meinung‹ immer schon ausgesetzt. Diese im Horizont öffentlichen Redens seit jeher bestehende Asymmetrie wird durch die neuen Medien allerdings massiv verschärft. Das ist ein Grund mehr, die allzu emphatische Rede vom ›Licht der Öffentlichkeit‹ zu revidieren. Gewiss: Öffentlich in Erscheinung treten können wir nur in einer erhellten Welt. Aber worum es dabei geht, ist das ­Mit-Anderen-reden-Können; und zwar in Freiheit. Dazu gehört, dass man Andere überhaupt ansprechen kann, und darüber hinaus, dass man in Anbetracht der Unvorhersehbarkeit dessen, was 244  |  Kapitel X 

man zu sagen haben wird, Gehör finden kann. Darin wiederholt sich gewissermaßen, was sich im ursprünglichen Zur-Welt-Kommen ereignet, dessen sich niemand jemals endgültig sicher sein kann. Immer wieder bedürfen wir der Inanspruchnahme Anderer. Speziell öffentlich und politisch spielt sich das typisch­erweise in mehr oder weniger ausgeprägten Machtgefällen ab. Deshalb erfordert es Mut, sich öffentlich zu äußern, aber auch zuzuhören. Man muss etwas zu sagen wagen, wenn Machtverhältnisse dagegen stehen, so dass man womöglich ›Kopf und Kragen‹ riskiert und nie wieder Gehör findet. Man muss aber auch den Mut haben, sich von denen etwas sagen zu lassen, die scheinbar ›nichts zu sagen haben‹, wie es in einer bezeichnenderweise zweideutigen Redeweise heißt, die in einem Zug sowohl die Befugnis Anderer in Abrede stellt, sich überhaupt zu äußern, als auch bestreitet, dass sie inhaltlich ernst zu nehmen sind. Bevor sie sich überhaupt äußern, scheint demzufolge schon festzustehen, dass sie im doppelten Sinne nichts zu sagen haben. »Damit der Stärkste vernünftig regieren kann, muß der Schwächste zum Stärksten sprechen« dürfen, steht dagegen nicht umsonst in Michel Foucaults Beschreibung des Freimuts (parrhesía) in der Antike zu lesen.49 Die Vernunft von Herr­schafts- und Regierungsverhältnissen hängt demnach von einer Kultur des Zuhörens ab, wenn noch die Mächtigsten derart von den Schwächsten abhängen, denen man immer wieder bescheinigt, im doppelten Sinne dieser Worte ›nichts zu sagen zu haben‹. Wer diese Abhängigkeit nicht begreift 50 oder den entsprechenden Mut nicht aufbringt, beschädigt oder beschränkt die öffentliche ‒ speziell die demokratische ‒ Vernunft, die hier eine Vernunft des Zuhörens ist ‒ bevor es überhaupt zu einer Auseinandersetzung kommen kann, in der man um Meinungen, Standpunkte, Fakten und vermeintliche Wahrheiten streitet. Ist das nicht das Versprechen einer wahrhaft demokratischen, öffentlichen Lebensform: zu verbürgen, dass man jedem zuhören wird, um auf diese Weise zu beglaubigen, dass er/sie wirklich existiert; das Versprechen also, niemanden ›mundtot‹ zu machen?51 Man mag alle möglichen Rechte genießen, wenn man aber nicht Gehör findet, ist man politisch quasi tot und wird sich fragen, warum man überhaupt in diese politische Welt aufgenom­men wurde. Am Anfang steht stets der Appell: Wisse, dass ich existiere; wisst, dass wir da sind; und Bewährt sich das ›Licht der Öffentlichkeit‹ noch als ­Metapher?  |  245

zwar nicht im Sinne des bloßen Vorhandenseins, sondern als singuläre Subjekte unvorhersehbarer Rede. Um politisch appellieren zu können, musste man ‒ bislang ‒ in der Tat, wie medial ver­­­­­­­mittelt auch immer, öffentlich in Erscheinung treten, sichtbar werden, namentlich identifizierbar, um in Folge dessen in der Verantwortung der freien Rede zu stehen. Und man musste versuchen, Andere auf passende Art und Weise anzusprechen, wenn einem daran lag, sie auf Erwiderung hin (und nicht bloß irgendwie) anzusprechen. Die Sichtbarkeit im Licht der Öffentlichkeit musste so gesehen mit der Vernehmbarkeit der Stimme und damit engstens zusammenhängen, wie sie sich darum bemüht, auf ›offene Ohren‹ zu stoßen. Auch hier ist noch der ursprüngliche Zusammenhang von Sichtbarkeit und Hörbarkeit zu erkennen, wie er im ersten Zur-Welt-Kommen vorliegt. Hell wird die Welt wie gesagt ursprünglich nur dank der Aufnahme Anderer, die auf uns hören werden, selbst wenn wir zunächst nur wimmern, weinen und schreien können. Dieser ursprüngliche, aber niemals endgültig zu sichernde, vielmehr auf Dauer prekär bleibende Zusammenhang zwischen Sichtbarkeit und Hörbarkeit besteht auch im Licht der Öffentlichkeit noch, fällt es doch auf Andere, die sich äußern müssen, um Andere in Anspruch nehmen zu können. Vor allem dann, wenn sie eklatante Ungerechtigkeit zu beklagen haben. Sei es im eigenen Namen, sei es stellvertretend für Andere und umwillen der ›gemeinsamen Angelegenheiten‹. Zugleich ist der sogenannte Meinungsaustausch auf unaufhebbare Pluralität angelegt. Auch diejenigen, die strikte Geltungs- und Wahrheitsansprüche erheben, müssen damit rechnen, jederzeit auf wider­strei­tende Positionen treffen zu können, die sich nicht wie Wider­sprüche dialektisch aufheben lassen. Keineswegs muss der Widerstreit unaufhebbar differenter Per­spektiven, Standpunkte und Überzeugungen in einen quasi darwinistischen Machtkampf münden, in dem nur noch die berüchtigte Macht des Stärkeren zählt, die vielfach jegliches Zuhören vermissen lässt und ge­rade darin ihre eigentümliche Schwäche offen­bart. 52 Selbst diejenigen, die unbedingt von der Geltung dessen überzeugt sind, was sie für richtig halten, können noch an ihnen widerstreitenden Positionen interessiert sein, ihnen Gehör schenken und Raum geben, sei es im Modus der bloßen Duldung und Toleranz, sei es auf der Suche nach 246  |  Kapitel X 

Komplementarität, sei es in Folge einer vorbehaltlosen Würdigung und Anerkennung.53 Mit dieser Pluralität allerdings unvereinbar ist die zynische Vergleichgültigung derar­tiger Heterogenität selbst. Wer im Konflikt einander unaufhebbar widerstreitender Perspektiven, Standpunkte und Überzeugungen solche Spielräume auslotet, nimmt diese Heterogenität wenigstens als solche ernst. Ganz anders verhält es sich dagegen, wo diese mit dem Hinweis gleichsam vom Tisch gefegt wird, man verfüge über eigene Fakten, Sachverhalte und ›Wahrheiten‹, die als solche nicht einmal mehr zur Diskussion zu stellen sind und insofern jeglicher Auseinandersetzung entzogen werden. Genau damit, so scheint es, sind wir gegenwärtig konfrontiert. Und zwar nicht aufgrund einer obskuren, geheimen und manipulativen Strategie, die das Licht der Öffentlichkeit scheut, sondern, im Gegenteil, im Rahmen einer globalen Publizität, die in Folge dessen jegliches Ansehen einzubüßen droht, wel­ches sie noch immer der Metaphorik des Lichtes verdankt ‒ wie auch immer es um deren orientalisch-okzidentale Herkunft bestellt sein mag.

6. Das Politische und die Re-Privatisierung der Öffentlichkeit

Stellt nicht die Gegenwart der virtuellen Medien nahezu alles in Frage, wovon bislang die Rede war? Der viel zitierte Strukturwandel der Öffentlichkeit hält ungebrochen an und betrifft alles, was sie konstituiert. Allem voran die Subjekte der Rede, dann aber auch das, was sie mitzuteilen haben und wie sie das tun. Und schließlich die Bedingungen, unter denen sie zu Wort kommen (und Andere gegebenenfalls daran hindern). So wurde vielfach beklagt, dass man sich in virtuellen Medien äußern könne, ohne Bedingungen wie Identifizierbarkeit und Zurechenbarkeit zu erfüllen. Man stehe also nicht wie früher in der Verantwortung für das Geäußerte und müsse sein eigenes Ansehen nicht unbedingt aufs Spiel setzen, etwa wenn man sich in seiner Ausdrucksweise nicht mäßigt und es auf die Erwiderung Anderer gar nicht mehr anlegt, die man beleidigt, denunziert und verbal ›zum Abschuss‹ freigibt. Wer so handelt, tritt überhaupt nicht mehr persönlich in Erscheinung und muss sich in keiner Weise mehr darauf verpflichtet wissen, so etwas wie Bewährt sich das ›Licht der Öffentlichkeit‹ noch als ­Metapher?  |  247

Objektivität im Reden mit Anderen zu verbürgen. (Was Hannah Arendt für absolut unverzichtbar gehalten hat.) Bewähren sich auch heute noch solche Maßstäbe? Auf den ersten Blick ja. Wenn beklagt wird, dass Nutznießer der virtuellen Medien mehr denn je zu gewärtigen haben, dass das, was wirklich gesagt oder geschrieben wurde, ›in ein falsches Licht gerückt‹ wird, werden scheinbar klassische normative Kriterien angelegt. Etwas in ein falsches Licht rücken, bedeutet: einen Sachverhalt verzerren, bewusst einseitig und insofern mindestens irreführend darstellen (was man nicht tun sollte). Jemanden in ein falsches Licht rücken, bedeutet: unabsichtlich oder absichtlich sein bzw. ihr Ansehen beschädigen oder ihn bzw. sie selbst massiv verletzen (was man ebenfalls nicht tun sollte). Das kann durch mobbing auf irreversiblen Rufmord hinauslaufen, wenn die soziale und politische Existenz der Betroffenen ruiniert wird, ohne dass sie da­gegen etwas ausrichten könnten. Niemand muss persönlich in Erscheinung treten, um im Horizont einer anonymisierten Öffentlichkeit jederzeit durch umgehendes mailen, posten und unüberlegtes twittern derartiges anrichten zu können. Dabei gerät zu­nehmend durcheinander, was es heißt, mit jemandem oder über Andere zu kommunizieren, die als solche virtuell ebenfalls nicht mehr in Erscheinung treten und sehr leicht medialen Zusammenrottungen zum Opfer fallen (shit­storms), in denen es weder um Objektivität noch um eine gemeinsam geteilte Welt im Geringsten geht. Bekanntlich hat das Internet solchen und anderen Gewaltsamkeiten mit seinen so­g. sozialen Netzwer­ken Tür und Tor geöffnet, so dass man sich fragen muss, ob sie ihr Attribut überhaupt verdienen. Man ist ver­sucht, von kommunikativer und darüber hinaus anti-so­zialer Verwahrlosung zu sprechen, die allerdings nur noch schwer zu orten ist. Ein ungeheuer ausgeweitetes anonymes Publikum von Nutzern des Internet, auf die vor Ort nur das Licht des Bildschirms ihres eigenen Computers fällt, erfährt das Öffentliche als weitgehend delokalisiert. Was einst die Agora war, wo man persönlich auftreten musste, was wie das Buch, die moralische Wochenschrift oder die Zeitung in der Regel namentliche Identifizierbarkeit verlangte, hat sich weitgehend zerstreut in diver­sen, unüber­sehbaren, z. T. wieder abgeschotteten Foren, chat­ rooms und blogs, die in virtuellen ›Räumen‹ eine sekundäre Privat248  |  Kapitel X 

heit erzeugen können. Primär privat ist das Leben, das noch nicht öffentlich zugänglich gemacht wurde oder davor bewahrt wird; als sekundär privatisiert ist all das zu verstehen, was in der (virtuellen) Öffentlichkeit dem Zugriff Anderer wieder entzogen wurde. Die Frage, wie das im Einzelnen zu bewerten ist, ist gewiss eine eminente Herausforderung für eine zeitgemäße Theorie des Sozialen, die sich nicht mehr einfach von Modellen wie dem Gespräch bzw. dem Dialog (Wilhelm v. Humboldt, Martin Buber, Francis Jacques), der Face-to-face-Wechselwirkung (Georg Simmel) oder der Verantwortung ›angesichts des Anderen‹ (Franz Rosenzweig, Emmanuel L­e­v inas) herleiten lässt, insofern sie gewissermaßen neuen Aggregatzustän­den der Kom­mu­nikation wie etwa multiplen Vernetzungen, aber auch neuartigen Formen der Privatisierung Rechnung tragen muss, die gewiss nicht in Bausch und Bogen zu verurteilen sind. Nicht zu übersehen ist aber, dass wir nunmehr auch mit der Anmaßung einer Privatisierung des Öffentlichen selbst konfrontiert sind, die auf den ersten Blick als widersinnig erscheint. Sie wurde im vollen Licht der Öffentlichkeit gewissermaßen dekretiert; aber so, dass damit zugleich das Öffentliche als solches um seine tradierte Bedeutung gebracht zu werden drohte. Dass sich Donald Trumps Beraterin Kellyanne Conway vor laufender Kamera dazu ver­stei­gen konnte, falsche Behauptungen ungerührt als »alternative Fakten« aus­zugeben54 , bedeutet keineswegs nur, dass sie im ›klassischen‹ Sinne gelogen hat, sondern dass wir nun in der ›klassischen‹ Öffentlichkeit nachvollziehen müssen, was sich in virtuellen Medien längst angebahnt hat: eine Neo-Privatisierung der Art und Weise, wie ursprünglich so etwas wie eine gemeinsame Welt gestiftet wird. (›Neo‹, weil diese Privatisierung gewiss nicht bloß frühere, nunmehr als re-privatisiert vorzustellende Verhältnisse herbeiführt.) Für die Anhän­ger der zitierten Lady und ihres blendenden Meisters genügt es, ihre eigene ›Wahrheit‹ zu haben, beruhe sie in den Augen Anderer auch auf Lügen. Und das kümmert sie nicht, solange sie nur die Macht und Gefolgsleute haben, die ihnen gerade für ihre souveräne Verfügung über das, was öffent­lich ›zählen‹ soll, Beifall spenden. Nichts beeindruckt sie offenbar derart wie die Selbst­­­­­herr­lichkeit des Dekrets: ›unsere‹ Wahrheit zählt ‒ Bewährt sich das ›Licht der Öffentlichkeit‹ noch als ­Metapher?  |  249

womit zugleich der Be­zug auf um­strittene Wahr­­heit widerrufen wird, der überhaupt erst das Spiel demokratischer Auseinandersetzungen eröffnet und sinnvoll macht. Überraschend daran war, dass vor laufender Ka­mera in der ›klassischen‹ Öffentlichkeit (die Verantwortung für das Gesagte im Horizont der Verpflichtung auf eine gemeinsam geteilte Welt verlangt) unverblümt ausgesprochen wurde, woran sich im Virtuellen anscheinend viele, die sich an den öffentlich-rechtlichen Medien vorbei mit ›eigenen‹ Informationen versorgen, bereits gewöhnt hatten: dass der Bezug auf wenigstens umstrittene Wahrheit keine Bedeutung mehr hat. Für dieses neuartige Wahr­heitsregime soll nun offenbar auch das Weiße Haus stehen. Die dort vertretene Politik aber führt ›Tatsachen‹ und die Rede von ›Wahrheit‹ generell nur noch so im Munde, dass beide Begriffe im Grunde gegenstandslos werden. Wenn man mit Tatsachen und mit der für sie beanspruchten ›Wahrheit‹ offenkundig nach eigenem Gutdünken verfährt, hat weder deren Deutung als Wahrhaftigkeit oder Aufrichtigkeit noch als Korrespondenz (mit einer ›tatsächlich‹ vorliegenden Wirklichkeit) oder kommunikativ zu gewährleistende Übereinstimmung mit Anderen länger Bedeutung. ›Wahrheit‹ reduziert sich für Propagandisten »alternativer Fakten« offenbar auf eine öffentliche Manifestation souveränen Selbstseins ‒ nach dem Motto: ›Ich kann souverän, ohne Rücksicht auf Andere, die vielleicht widersprechen werden, definieren, was der Fall ist; also bin ich, also sind wir, für die ich spreche.‹ Vom Weißen Haus aus hat man nachweislich zwar schon vorher Lügen verbreitet 55 , aber bislang glaubte man doch davon ausgehen zu dürfen ‒ ungeachtet altbekannter Warnungen vor derartiger ›Naivität‹56 ‒, dass es sich um einen Ort handelt, an dem man die Verpflichtung auf öffentlich zu prüfende Wahrheit schlechterdings nie­mals offen abstreiten und deshalb ironischerweise allenfalls lügen konnte. 57 Das ist spätestens jetzt offenbar an­ders. Man sagt: Wir haben ›unsere eigene‹ Wahrheit. Wir ›sehen‹ trotz erdrückender Ge­gen­be­weise zigtausende von Zeu­gen der Amtseinführung Trumps mehr als am 20. 1. 2009, als Barack Obama seinen Eid ablegte, behauptete der Regierungssprecher Sean Spicer, ohne rot zu werden. Dabei ist es uns gleich, was ihr auf den fraglich­en Bildern zu sehen glaubtet und was ihr unter ›sehen‹ überhaupt versteht. Wir ›sehen‹ keinen globalen Klimawandel, mögen 99% der Wis250  |  Kapitel X 

senschaftler auch dagegen sprechen. Wir ›sehen‹ keinen Zusammenhang weltweiter Fluchtbewegungen mit unserem Handeln im Nahen Osten usw. Genau darauf, auf diese neue Art, die Dinge zu ›sehen‹, indem man vollkommen ver­gleichgültigt, was Andere sehen, ist dank der unerwartet offenherzigen Einlassung von Mrs. Con­way nun aber das Licht der Öffentlichkeit gefallen. Sie ist persönlich in Erscheinung getreten, muss sich infolge dessen das Gesagte zurechnen lassen. Darüber hinaus zieht sie sich ‒ wie auch alle ihrer Anhänger ‒ die Rückfrage zu, wie sie und ihre Gesinnungsgenossen es mit dem Politischen selbst halten, das seit jeher um das Problem gravitierte, wie eine gemeinsam geteilte, ›strittige‹ Welt durch das Miteinanderreden und -handeln zu stiften ist, eine Welt, die, anders als die Erde, nur durch uns möglich wird aufgrund einer demokratischen Vernunft. Darunter ist zunächst nicht ein bestimmtes Regierungssystem oder eine be­stimmte Verfassung zu verstehen, sondern die im Hori­zont nicht nur von Freun­­­den, Nachbarn und Mitbürgern, sondern allen Anderen gegenüber aufgeschlossene Bereitschaft, Gehör zu schenken und sich etwas sagen zu lassen. Und zwar im Horizont einer echten Pluralität, die es niemals zulassen kann, dass alle das Gleiche ›sehen‹, die es aber gerade deshalb erfordert, dass man nicht vergleichgültigt, wie Andere einen selbst, strittige Sachverhalte und schließlich die Welt anders sehen. ›Du lässt dir ja nichts sagen‹ ist in einer solchen Pluralität ein alltäglicher Vorwurf und gewiss nichts Neues. Neu aber ist, dass der Wille, sich von Anderen nichts sagen und sich nicht korrigieren zu lassen, nunmehr öffentlich und im Zentrum eines Welt-MachtSystems erklärt wor­den ist. Wer selbst offenkundige Lügen öffentlich zu »alternativen Fakten« um­deklariert, sagt damit im Grunde genau dies: Ich lasse über das, was die Welt ausmacht, nicht mit mir handeln; und ich habe es nicht einmal nötig, zu lügen. Ich vertrete nicht nur eine Weltmacht im geläufigen Sinne des Wortes. Ich bin sogar eine Welt-Macht, die aus eigener Machtvollkommenheit heraus definieren kann, was der Fall ist und was nicht. Genau das steht mir und meinesgleichen politisch zur Disposition, solange wir die Macht haben. Hier geht es nicht darum, dass bestimmte Geltungsansprüche strittig sind, wie man es sich in den Universal- bzw. Transzendental-Pragmatiken von Jürgen Habermas und Karl-Otto Bewährt sich das ›Licht der Öffentlichkeit‹ noch als ­Metapher?  |  251

Apel vorgestellt hat; vielmehr geht es hier um einen Angriff auf die demokratische Vernunft selbst, insofern sie aus der Bereitschaft hervorgeht, sich überhaupt auf eine Auseinandersetzung mit Anderen umwillen einer gemeinsam geteilten, allemal strittigen Welt ein­zulassen. Dieser Angriff zielt nicht bloß auf die Ebene des Gesagten und auf die mit ihm einhergehenden Geltungsansprüche, sondern, radikaler noch, auf die demokratischen Spielräume möglicher Adressierung ernst zu nehmender Rede selbst. Man mag jene Welt-Macht als neo-machiavellistisch, als zynisch oder defätistisch moralisch verurteilen, verfehlt aber damit womöglich, worin die Radikalität der zitierten Position liegt. Sie läuft weniger darauf hinaus, etwas Bestimmtes zu bestreiten (etwa Fakten), zu lügen oder insgeheim obskure Absichten zu verfolgen, auf die ein amerikanischer Sonder­ermittler angesetzt wurde. Vielmehr widerruft sie die demokratische Vernunft selbst, indem sie deren Wurzel angreift. Wer behauptet, dass ihm eine eigene Welt autonom definierbarer Tatsachen zur Verfügung steht, entzieht jener Bereitschaft jegliche Grundlage und riskiert, dass im Interesse an einer gemeinsam geteilten Welt das Moment der Teilung zum durchgängigen Riss wird, an dem sich unüberbrückbare Welten scheiden. Glücklicherweise ist eben dies im Licht der Öffentlichkeit erkennbar geworden und erinnert uns an den ursprünglichen und elementarsten sozialen Sinn des Politischen: dass die Welt ›hell‹ wird dank Anderer, die uns Gehör schenken und den Mut haben, sich etwas sagen zu lassen umwillen einer gemeinsam geteilten Welt. In diesem Sinne ›hell‹ kann schon die zwischen-menschlich private, aber radikale Erfahrung machen, die darin liegt, ein Neugeborenes in Empfang zu nehmen, um ihm Wege in eine solche Welt zu eröffnen, die ›verspricht‹, sich aufgeschlossen dazu zu verhalten, wie es in seiner singulären, letztlich unvertretbaren Art und Weise sehen bzw. verstehen und beurteilen wird, was der Fall ist. In diesem Sinne kann sich umgekehrt Finsternis unter den Augen aller ausbreiten, vor laufender Kamera, im blendenden Licht der Scheinwerfer und Kameras, die auch den keineswegs ›lichtscheuen‹ Wortverdrehern und Sprachverderbern hervorragende Sichtbarkeit verleihen. 58 Allerdings eine Sichtbarkeit, die ein pervertiertes Verständnis des­s­en impliziert, was eine politische Welt 252  |  Kapitel X 

eigentlich erhellt: das ›Versprechen‹ jener Aufgeschlossenheit, das es ausschließen muss, dass man sich dazu vollkommen gleichgültig verhält, wie Andere wahrnehmen, verstehen und beurteilen, was der Fall ist. Am Ende bewährt sich die Rede vom Licht der Öffentlichkeit heute deshalb, weil wir dank der Medien die für jedermann erkennbar gewordene negative Erfahrung machen, wie blendende ›Dunkelmänner‹ und ›-frauen‹ uns vor aller Augen um das eigentlich Helle einer gemeinsam geteilten Welt zu bringen drohen, auf die sich unsere Aufmerksamkeit politisch richten sollte. Dass die dubiosen Mitarbeiter des derzeitigen amerikanischen Präsidenten die Bedeutung dieser Erfahrung für unser politisches In-der-Weltsein wirklich begreifen, er­­­scheint allerdings als zweifelhaft. Doch muss man Mrs. Con­way und Mr. Spicer dank­­­­bar sein, geben sie uns doch die Frage neu zu bedenken auf, was die Welt des Politischen ursprünglich sozial er­hellt und welche Folgen es möglicherweise hat, wenn das in Vergessenheit gerät ‒ zumindest bei einer viele Millionen umfassenden, aufgestachelten Anhängerschaft, die sich am Ende nicht mehr darum schert, sich mit Anderen wenigstens umwillen einer strittigen Welt auseinandersetzen zu sollen. Die Folge wäre eine Vernichtung echter menschlicher Pluralität, in der man aufeinander zu hören verspricht und so einander zu den­ken gibt. Die Folge wäre die Vernichtung des Politischen selbst. Wenn es dazu kommt, würde sich diese Vernichtung unter den Augen aller vollziehen; und es erscheint fraglich, ob »blendendes und unerbittliches Licht«, wie es Arendt der Öffentlichkeit selbst zuschrieb59, dem in jedem Fall heil- und wirksam dadurch entgegensteht, dass öffentlich erkennbar wird, was die Herrschaft neuer »Obscuranten« anrichtet, die die unbedachte Rede vom »Licht der Öffentlichkeit« zu purer Ideologie verkommen zu lassen droht. 60

Bewährt sich das ›Licht der Öffentlichkeit‹ noch als ­Metapher?  |  253

Epilog As long as our civilization is essentially one of property, of fences, or exclusiveness, it will be mocked by delusions. Our riches will leave us sick […]. Ralph Waldo Emerson1 Der Geist wird stehn vor der Tür seines eigenen Hauses und nicht heimfinden. Hans Carossa 2

Müssen wir »den Anderen hereinlassen«? Unvermeidlich, unabdingbar, nolens volens, auch gegen unseren expliziten Willen ‒ jedenfalls solange wir es überhaupt darauf anlegen, ein kulturelles Leben zu leben, das sein Attribut verdient? Wäre es überhaupt vorstellbar, sich dem ›Anderen‹ zu verweigern und gleichwohl noch im Geringsten ›aufgeschlossen‹ zu sein für anderes als man selbst und für Andere? Wenn dieser bzw. dieses sich allerdings als »anderes als es selbst« erweist, wie Paul Ricœur geltend gemacht hat 3 , und wenn sich niemals eindeutig entscheiden lässt, wohin die Spur der Alterität ›letztlich‹ führt, die aus dem Anderen einen ›unaufhebbar‹ Anderen bzw. untilgbar Anderes macht, dann liegt darin eine eminente Quelle der Beunruhigung, des Unheimlichen und Befremdlichen, wovon eine reichhaltige Literatur Zeugnis ablegt. Aber ohne diese Beunruhigung, Unheimlichkeit und Befremdlichkeit ist kulturelles Leben überhaupt nicht zu haben. Immer und unvermeidlich werden wir es aber nicht nur mit ›Anderem‹ zu tun haben, das kulturelles Leben hereinlassen muss, sondern auch mit Klärungs-, Identifikations- und schließlich Abwehrversuchen, die Grenzen ziehen zwischen Anderen, auf die man sich einlassen will, und solchen, denen man das verweigert. Diese Grenzen erweisen sich in sozialer Hinsicht als notorisch instabil, denn die Grenzen des Einen sind niemals ohne weiteres die Grenzen des Anderen. So verhält es sich überall, wo soziale Grenzen vorliegen, die nicht einfach objektiv oder von Natur aus vorhan­den sind. Sie werden viel254  | 

mehr gezogen, beachtet oder verletzt, respektiert oder überschritten. So gesehen handelt es sich um soziale Phänomene. In jedem dieser Fälle haben wir es zudem mit Grenzen und menschlichem Verhalten zu ihnen zu tun, das immer dann als kritisch erscheint, wenn es sich herausstellt, dass die Grenzen des Einen nicht die Grenzen des Anderen sind. Das gilt für persönliche, individuelle Belastungs- und Leistungsgrenzen genauso wie für ästhetische Grenzen des Geschmacks, für ethische Grenzen der Vertrautheit und der Diskretion, die zu respektieren sind, für moralische Grenzen des Akzeptablen und Erlaubten, sowie für politisch-rechtliche Grenzen, die Freizügigkeit gestatten, aber auch zu hermetischer Abschottung dienen können. Dabei erweisen sich Grenzen vielfach als strittiger Gegenstand von Aus­einander­setz­ungen, die zu Grenzverschiebungen, -öffnungen und -schließ­un­gen führen können ‒ oft mit dramatischen Folgen für die Beteiligten. Wo in Worten und Taten alle Grenzen fallen (selbst durch Tabus gezogene), fühlt man sich Anderen ausgeliefert. Wo Grenzen unüberwind­lich erscheinen, zieht das Gefangenschaft oder Erfahrungen der Exklusion nach sich, die mundtot machen können. Wer jenseits rigoros gezogener und undurchlässiger Grenzen leben muss, wird am Ende überhaupt nicht mehr gesehen und gehört. Radikale Ausgrenzungen münden schließlich in eine Art sozialen bzw. politischen Tod. Radikale Ein- und Ab­grenzungen, die niemanden mehr nach ›draußen‹ gelangen lassen, können den gleichen Effekt haben. Soziales Zusammenleben hängt insofern entscheidend davon ab, dass es we­der zur Aufhebung aller Grenzen noch zu deren absoluter Undurchlässigkeit kommt. Im buchstäblich Grenzenlosen, das die alten Griechen apeiron nannten, können wir so wenig existieren wie in Begrenzungen, die sich als vollkommen undurchlässig erweisen. Nirgends ist das deutlicher als dort, wo es darum geht, sich zur unvermeidlichen Präsenz des Anderen eigens zu verhalten ‒ sei es, indem man ihn hereinbittet, sei es, indem man sich ihn an der Schwelle zum Eigenen misstrauisch vom Leib hält, sei es dadurch, dass man ihm jegliches Auftreten unmöglich macht, so dass er sozial, politisch und rechtlich geradezu aufhört zu existieren. Der Artikel 6 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, der die Rechtsfähigkeit jedes Menschen und seinen Anspruch auf Epilog  |  255

Anerkennung als Rechtsperson verbürgt, soll das eigentlich verhindern; aber dieser rechtliche Status muss allemal wahrgenommen, gewährt und praktisch garantiert werden. Wo das durch konsequentes refoulement jedoch verhindert wird, richtet selbst die menschenrechtlich bedingungslose Garantie eines solchen juridischen Status wenig aus. Stets bleiben die Betreffenden auf eine erste Aufnahme durch leibhaftige, kulturell geprägte Subjekte angewiesen, die sich durch die Präsenz des Anderen wenigstens ansprechen und in Anspruch nehmen lassen. Nur so kann es überhaupt dazu kommen, dass Ansprüche auf etwas (auf Aufnahme bis auf weiteres, auf Duldung, Asyl usw.) erhoben werden können ­‒ was auch immer die Prüfung dieser Ansprüche dann ergibt. Das gilt für ›Gäste‹ jedweder Art ‒ von der privaten Gastlichkeit 4 über lokale Sitten, die wie in Albanien bis heute selbst Feinden einen vorübergehenden und befristeten Gaststatus einräumen 5 , bis hin zum Recht der Hospitalität, das Kant allen Weltbürgern als Pflicht ans Herz legte. 6 Damit hat er einem Juridismus Vorschub geleistet, der auf einer dringend revisionsbedürftigen Ontologie der Person fußt, die als irgendwie auf der Welt bereits vorhandene schlicht vorausgesetzt wird und die rechtlich vor allem dadurch existieren soll, dass sie in der Lage ist, gegen Andere Ansprüche geltend zu machen, von denen sie in erster Linie eine Beschränkung ihrer Freiheit befürchten muss. Unter dieser Voraussetzung konnte es zur vorrangigen Maßgabe auch der modernen Rechts­staaten werden, die Frage zu beantworten, wie die Freiheit des Einen mit der Freiheit des Anderen zusammenstimmen kann.7 Bevor aber Freiheiten konfliktträchtig aufeinandertreffen können, muss jede(r) überhaupt erst ›da‹ sein können (nämlich als Geborene[r], nicht in die Welt »Geworfene[r]«) und als solche(r) wahrgenommen werden. Das durch Wahrnehmung und Antwortgeben bezeugte Da­sein Anderer als Anderer ist die Grundlage, auf der jeglicher Rechtsanspruch aufruhen muss. So gesehen beginnt auch die verrechtlichte Hospitalität mit der Wahrnehmung des Fremden als eines Umherirrenden, Verlorenen oder Verlassenen, zu dessen Anspruch man sich nicht gleichgültig verhält. Den Fremden gibt es jedoch nicht ‒ genauso wenig wie eine Aufnahmepraxis, die auf alle ›Fälle‹ gleichermaßen passen könnte. So gibt es auch kein allgemeines europäisches Ethos der Gastlichkeit, 256  |  Epilog 

wie man es noch hier und dort als Sitte antreffen mag. Wo noch mehr oder weniger kümmerliche Reste davon vorhanden sind, ist es nicht für große Zahlen ausgelegt. Trotzdem hat sich Gast­lichkeit im europäischen Kontext selbst unter schwierigsten Bedingungen vielfach prak­tisch bewährt, wie das in diesem Zusammenhang beispielhafte französische Dorf Dieulefit beweist. Wie weit sind wir heute, im europäischen Horizont, von der erklärtermaßen »selbstverständlichen« Gastlichkeit seiner damaligen Einwoh­ner entfernt!8 Wie die öffentliche, seit 2015 anhaltende Diskussion im Zeichen der sog. Flüchtlingskrise hinlänglich zeigt, kann von einem selbstverständlichen Einrasten oder Sicheinspielen von Erwartungen an potenzielle ›Gastgeber‹ genauso wenig die Rede sein wie von klaren Erwartungen an ›Gäste‹, die auf eine verrechtlichte Hospitalität Anspruch erheben. Vielfach haben erst Enttäuschungen auf beiden Seiten zur Besinnung darauf geführt, was Gastlichkeit ausmachen müsste, die sich im europäischen Maßstab nachhaltig zu bewähren hätte, ohne dass dabei einfach auf ein vorhandenes, unstrittig in Kraft befindliches Ethos zu verweisen wäre. Frühere Erfahrungen mit Flucht und Migration lassen sich auch deshalb nicht einfach auf gegenwärtige Perspektiven ›gastlicher Politik‹ übertragen. Zwar könnte man erwarten, dass Erfahrungen der Flucht und vielfach erzwungener Migration tief im kollektiven Gedächtnis abgespeichert sind. Doch reichen dessen geschichtliche Horizonte nach einschlägigen Forschungen kaum über drei Generationen hinaus. Filme wie Heimat, Die zweite Heimat und Heimat 3 von Edgar Reitz oder Bücher wie Kalte Heimat von Andreas Kossert mussten mit Jahrzehnten Verspätung und beträchtlichem Aufwand in die kollektive Erinnerung zurückzuholen versuchen, was selbst in den einschlägig betroffenen Familiengedächtnissen offenbar kaum mehr präsent ist. Und ob das schriftlich überlieferte, kaum mehr kommunikativ abgesicherte kulturelle Gedächtnis 9 die politische Gegenwart überhaupt prägen kann, scheint ungewiss. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg waren Flüchtlinge nicht gleich Flüchtlingen. Nicht nur verwaiste Minderjährige, vergewaltigte Frauen, Gebrechliche und Alte mussten die Flucht ergreifen; auch zahllose NS-Ver­brecher haben sich aus dem Staub gemacht und anderswo Zuflucht gesucht. Heute verhält es sich mit den Epilog  |  257

Fluchtursachen, -wegen und -per­spektiven ganz anders, so dass die westlichen Gesellschaften zu einem nachhaltigen Lern­prozess gezwungen sind, in dessen Verlauf es sich erst herausstellen muss, ob sie es (wie seinerzeit an prominenter Stelle vielleicht voreilig, aber notgedrungen angekündigt) ›schaffen‹ werden, die große Zahl der Flüchtlinge, aber auch die internen Verwerfungen zu bewältigen, die ihnen in dem Maße drohen, wie ihre sozialen Grundlagen ohnehin brüchig geworden sind. Das wurde durch die sogenannte Flüchtlingskrise nur offensichtlich, hat aber viel weiter zurückreichende Gründe, die ohne den vorherrschenden Neo-Li­beralismus und Finanzkapitalismus, die exzessive Verschuldung der Staaten und die forcierte ökonomische Frei­setzung von »Überflüssigen« und prekär Lebenden nicht zu verstehen sind. In­folgedessen sehen sich die westlichen Gesellschaften dazu gezwungen, aufs Neue zu be­stimmen, wo sie historisch stehen, d. h. was ihre gemeinsame Gewaltgeschichte für ihre Gegenwart und Zukunft bedeutet und wie diese Geschichte mit ihrer Herausforderung zu einer Gastlichkeit zusammenhängt, die sie jedem, der in Not geraten ist, entgegenbringen sollten. Wohin es führt, wenn dieser minimale Anspruch mit Füßen getreten wird, hat die NS-Herr­schaft gezeigt, unter der ganz Europa zu einem ›ungastlichen‹ Kontinent zu werden drohte. Daraus ist indessen keine einfache Lehre für die Gegenwart zu ziehen. Nicht nur muss sich jede Generation wieder ganz neu zu ihrer Vorgeschichte verhalten, die sich nicht wie von selbst ‒ auch nicht als moralischer »Schuldkomplex« ‒ auf die Späteren ›vererbt‹; jede Generation von ›Nachkommen‹ muss sich auch in ihrer Gegenwart zu ›Anderen‹ verhalten, die als Fremde ihre eigenen, unvorhersehbaren Geschichten und Probleme mitbringen. Das gilt heute wie nie zuvor für das Verhältnis Europas zum Nahen und Mittleren Osten. Goethe schrieb im West-östlichen Diwan, »wir müssen uns orientalisieren«, denn »der Orient wird nicht zu uns herüberkommen«.10 Spätestens die Flucht von Millionen Menschen infolge des Zerfalls des Irak und Syriens ‒ nicht zuletzt eine Spätfolge des europäischen Kolonialismus und amerikanisch-imperialistischen Interventionismus ‒ müsste je­der­mann eines Besseren belehrt haben. Zu den Lernprozessen, die das erzwingt, gehört auch, dass wir sehen müssen, wie Gefolterte in Asylbewerberheimen nicht selten ihren Fol­terknechten wieder begegnen und wie politisch Verfolgte 258  |  Epilog

es hinnehmen müssen, mit politisch ignoranten Kriminellen in einen Topf geworfen zu werden, deren (seltene) schwere Straftaten und eher geringfügige, aber durchaus häufige Delikte das Ansehen derer so sehr beschädigen, auf die zweifellos das Asylrecht Anwendung finden müsste. Von ›rechts‹ wird darauf mit skandalösen Pauschalisierungen, alltäglicher Gewalt und finsterem Hass reagiert, der allen eine Warnung davor sein sollte, mit den entsprechenden Subjekten ›unter sich‹ bleiben zu wollen, wie es sich sogenannte Identitäre auf die Fahnen schreiben. Aus der ›Mitte‹ der Gesellschaft sowie von ›links‹ wird darauf überwiegend mit einer Mischung aus zaghafter Verteidigung des Asylrechts einerseits und einer verschärften Abschiebungsrhetorik andererseits reagiert, die den ›Rechten‹ den Wind aus den Segeln neh­­men soll. Leider wird auf diese Weise aber identitärem Den­ken ständig neue Nahrung gegeben, statt der ›identitären Versuchung‹11 selbst energisch auf den Grund zu gehen. In welche existenzielle, soziale, kulturelle, politische und rechtliche Defensive und Verwirrung müssen Bürger geraten sein, die im Ernst damit liebäugeln, mit Subjekten wie dem mehrfach wegen Einbruchdiebstahl, Volksverhetzung, Handel mit Drogen und Körperverletzung vorbestraften ›Führer‹ der hochtrabend als »Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes« sich Aufspielenden ›unter sich‹ bleiben zu wollen und auf diese Weise aus­gerechnet Europa »verteidigen« zu wollen! Was die vielfach wütenden Proteste dieser weder rein defensiven noch (verfassungs-)patriotischen oder gar genuin ›abendländischen‹ Bewegung vor Augen führen, ist nichts anderes als ein Vorschein des Endes Europas infolge selbstgerechter, im Grunde anti-politischer Empörung und des Hasses auf ›Andere‹ als solche, deren Ausgrenzung früher oder später auf diejenigen zurückschlagen müsste, die endlich ›unter sich‹ wären, sollten die Identitären einmal zum Ziel kommen. Diese haben allenfalls vordergründig die Wiederherstellung einer angeblich ihnen gehörenden Heimat (die sie vergiften) oder einer lokalen ethnischen, nationalen oder gar abendländischeuropä­isch­en Identität im Sinn (die sie von jeglicher Fremdheit ›reinigen‹ wollen und infolgedessen zerstören müssen), um das ›Eigene‹, zu schützen. Vielmehr betreiben sie die Liquidierung kultureller Gastlichkeit auf persönlicher, lokaler, nationaler und Epilog  |  259

transnationaler Ebene und die Ruinierung des Eigenen im gleichen Zug. Dagegen ist mit sozialphilosophischen Mitteln allein freilich wenig auszurichten. Wenig, aber nicht nichts. Immerhin ist im Zuge geschichtlicher Erinnerung zu klären, worauf es in konkreter Europäität in der Ver­gangenheit angekommen ist und worauf es weiterhin ankommt: auf eine praktische, niemals identitär zu vereinnahmende Gastlichkeit nämlich, ohne die es überhaupt kein kul­tu­relles Leben geben kann. Es ist gewiss zu einfach, mit Derrida zu sagen, »l’hospitalité, c’est la culture même«.12 Denn Gastlichkeit bedeutet zunächst nur eine unbedingte Öffnung auf den Anspruch des Anderen als eines ursprünglich Welt-Fremden hin, besagt aber noch nicht, wie man sich zu ihr verhalten soll und wie ihr praktisch gerecht zu werden ist ‒ in der kulturellen Praxis menschlicher Lebens­­­formen, politisch und rechtlich. Um diese Fragen ist in den letzten Jahren radikaler Streit entbrannt, in dem erneut zur Diskussion steht, wer wir ›als soziale Wesen‹, denen paradoxerweise alles Wesentliche fehlt, sind bzw. sein wollen. Letzteres ist nach Lage der Dinge nicht im Rekurs auf eine unangefochtene Anthropologie menschlicher Sozialität zu klären. Vielmehr ist diese ihrerseits dem Streit aus­ gesetzt ‒ so dass es immer wieder den Anschein haben kann, als verbinde uns nichts als gerade das, was uns unversöhnlich trennt. Diesen Anschein erwecken in der Tat die Apologeten identitärer Vorstellungen, die eine intern homogenisierte und unverbrüchliche politische Einheit beschwören, und zwar so, dass sie die radikalsten Ausschlüsse all jener vorprogrammieren, die ›anders‹ sind. Das aber sind letztlich alle, auch diejenigen, die sich gewaltträchtigen Illusionen ethnischer, kultureller und politischer Homogenität hingeben und in ihnen ihr Heil suchen, das früher oder später nur als Unheil auf sie selbst zurückschlagen kann ‒ auf sie, die sie selbst unvermeidlich ›anders‹ und Andere sind. Ihre Gegner wissen das und haben begriffen, dass sie nur in gastlichen, für Andere jedweder Couleur aufgeschlossenen Lebensformen Spielräume eines für sie wirklich ›lebbaren‹ Lebens finden können, die die radikale Alterität des Anderen mit vollem Risiko bejahen ‒ auch mit dem Risiko, sich mit all jenen in unversöhnliche Konflikte zu verstricken, die es nicht wahr haben wollen, dass sie mit ›Anderen‹ zusammenleben sollen. Gerade die konsequenten Verdränger und Leugner ra260  |  Epilog

dikaler, unaufhebbarer Alterität mit ihrem polemogenen, auch die eigene Alterität verkennenden Verhalten stellen die größte Gefahr für jedes Zusammenleben dar, in dem man nicht auf fatale Weise dazu verurteilt bleiben müsste, ganz ›unter sich‹ zu bleiben. Warum, das können sozialphilosophische Untersuchungen der pathischen, thymotischen und dissensuellen Dimensionen und Potenziale immerhin deutlich machen, ohne die sich ein grundsätzlich strittiges Zusammenleben überhaupt nicht denken lässt und die es infolgedessen auch zulassen muss, statt sie zu unterdrücken. Auf diese Weise wird man aber niemals zu einer ganz und gar normalisierten öffentlichen Streit- und Konfliktkultur gelangen, die diese Potenziale ein für alle Mal zu befrieden vermöchte. Sosehr man versuchen mag, herauszuarbeiten, was auf dem Spiel steht, wenn man ›unter sich‹ zu bleiben und in diesem Sinne jegliche unaufhebbare Alterität loszuwerden trachtet, sosehr man sich auch Lebensformen attraktiv zu ma­chen bemüht, die dieser ›identitären Versuchung‹ nicht nachgeben, sosehr bleibt es letztlich der freien Entscheidung eines jeden überlassen, diesen oder jenen Weg einzuschlagen. Wenn dieser Versuchung am Ende mit eminent gewaltsamen Folgen nachgegeben werden sollte, müssten sich das allerdings auch all jene zurechnen lassen, die daran gescheitert sind, ein anderes Leben als attraktiv und wirklich lebbar erscheinen zu lassen.

Epilog  |  261

Anmerkungen Vorwort

S.  9 – 20

Gurwitsch, A. Schütz, Briefwechsel 1939‒1959, München 1985, S. 128 [Brief vom 16. 6. 1944]. 2  E. Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Hamburg 1982, bes. § 15; J. Derrida, Husserls Weg in die Geschichte am Leitfaden der Geometrie. Ein Kommentar zu Beilage III der »Krisis«, München 1987. 3  P. Valéry, »Die Krise des Geistes«, in: Werke 7. Zur Zeitgeschichte und Politik, Frankfurt/M. 1995, S. 26‒55, hier: S. 43. 4  Vf., »Flucht und Zuflucht ‒ in europakritischer Perspektive«, in: ZeitGewalt und Gewalt-Zeit. Di­men­sionen verfehlter Gegenwart in phänomenologischen, politischen und historischen Perspektiven, Zug 2017, Kap. VI. 5  B. Paskins, M. Dockrill, The Ethics of War, London 1979; D. Pick, War Machine. The Rationalisa­tion of Slaugther in the Modern Age, New Haven, London 1993; I. Morris, War. What is it good for? The Role of Conflict in Civilisation, from Primates to Robots, London 2014; J. Bartelson, War in In­ter­ national Thought, Cambridge 2018. 6  J. Kristeva, Fremde sind wir uns selbst, Frankfurt/M. 1990. Dass es allerdings nicht angeht, das Frem­de, den Fremden und die Fremden in einer paradoxerweise unterschiedslosen Metakategorie ›der‹ Fremdheit gleichsam untergehen zu lassen, hat B. Waldenfels immer wieder deutlich gemacht. ›Die‹ Fremdheit bzw. ›das‹ Fremde, so sagt er pointiert, gibt es nicht (Topografie des Fremden, Stu­dien zur Phänomenologie des Fremden 1, Frank­f urt/M. 1997, S. 23). All das bestimmt sich vielmehr okkasionell. 7 http://en.euabc.com/word/12. 8  Wie es sich Étienne Balibar vorstellt (»Pour un droit international de l‘hospitalité«; https://www.le­mon­de.fr/idees/article/2018/08/16/etienne-balibar-pour-un-droit-international-de-l-hospitali­te_5342881_3232). 9  I. Kant, »Zum ewigen Frieden. Ein philo­so­phi­­scher Entwurf«, in: Werkausgabe, Bd. XI (Hg. W. Weischedel), Frankfurt/M. 1977, S. 193‒251. 10 Siehe die Beiträge in der Zeit von A. Finkielkraut (26. 11. 2015), M. Krupa/B. Ulrich (28. 1. 2016) und H. A. Winkler (21. 4. 2016). 11  F. Pohlmann, »Stolz und Zorn«, in: Scheidewege. Jahresschrift für skeptisches Denken 48 (2018/9), S. 238‒246. 12  H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 4 1975, S. 329; H. R. Jauß, Ästhetische Er­fah­r ung und literarische Hermeneutik, Frankfurt/M. 1991, 1  A.

262  | 

S. 393; P. Ri­cœur, Zeit und Erzählung Bd. III: Die erzählte Zeit, München 1991; ders., Das Rätsel der Ver­gan­­genheit. Erinnern ‒ Vergessen ‒ Verzeihen, Göttingen 1998; ders., Gedächtnis, Geschich­te, Vergessen, München 2004; J. Derrida, Marx’ Ge­spenster, Frankfurt/M. 1995; E. An­gehrn, Inter­pre­tation und Dekonstruktion. Untersuchun­gen zur Hermeneutik, Weilerswist 22004; A. Becker, J. Mohr (Hg.), Alterität als Leitkonzept für historisches Interpretieren, Berlin 2012. 13 Vf. (Hg.), Bezeugte Vergangenheit ­ oder Versöhnendes Vergessen. Geschichtstheorie nach Paul Ri­cœur, Son­derband Nr. 24 der Deutschen Zeitschrift für Philosophie, Berlin 2010; ders., (Hg.), Der An­dere in der Geschichte. Sozialphilosophie im Zeichen des Krieges. Ein kooperativer Kommentar zu Em­ma­nuel Levinas’ Totalität und Unendlichkeit, Freiburg i. Br., München 22017. 14  Wie das zu verstehen ist und in welche nicht zu beschönigenden begrifflichen Schwierigkeiten man sich unvermeidlich dabei verstrickt, hat bereits Derridas früher Aufsatz zu Levinas deutlich gemacht: »Gewalt und Metaphysik. Essay über das Denken von Emmanuel Levinas«, in: Die Schrift und die Differenz, Frankfurt/M. 1976, S. 121‒235. 15  Vgl. Kap. X, Anm. 9. 16  H. Bude, A. Willisch (Hg.), Exklusion. Die Debatte über die »Über­flüs­ si­gen«, Frankfurt/M. 2008; I. Lorey, Die Regierung der Prekären, Wien 2012. 17 G. Spivak, »Subaltern Studies. Deconstructing Historiography«, in: D. Landry, G. Mac­L ean (Hg.), The Spivak Reader, London, New York 1996, S. 203‒235. Zu einer »production of [naturalized] other­­­­­ness« vgl. M. Hardt, A. Negri, Empire, Cambridge, London 2001, S. 125 ff. 18  Vgl. B. Liebsch, M. Staudigl, P. Stoellger (Hg.), Perspektiven europäischer Gastlichkeit. Geschich­te ‒ Kulturelle Praktiken ‒ Kritik, Weilerswist 2016. 19  Vgl. die entsprechenden Beiträge in der ZEIT vom 30. 12. 2015 und vom 4. 2. 2016. 20  K. R. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. 1, 2 [1944], München 61980. 21   Siehe H. Münklers Beitrag vom 11. 2. 2016 in der ZEIT.  Kapitel I

S.  23 – 53

F. Seibt, Die Begründung Europas. Ein Zwischenbericht über die letzten tausend Jahre, Frank­f urt/M. 2002, S. 147. 2  V. Flusser, Von der Freiheit des Migranten. Einsprüche gegen den Nationalismus, Bensheim 1994, S. 65. 3  Vgl. P. Lacoue-Labarthe, Poetik der Geschichte, Berlin 2004. 4  Kritisch gegen Anachronismen wendet sich F. Niess, Die europäische Idee. Aus dem Geist des Widerstands, Frankfurt/M. 2001. 1 

Anmerkungen zu Kapitel I  |  263

5 

Ganz abgesehen von der Kritik, die der Begriff des Vorläufers längst erfahren hat; vgl. G. Canguilhem, Wissen­schafts­geschichte und Epistemologie, Frankfurt/M. 1979, S. 34; E. Friedländer, Wie Europa begann, Köln 21968, S. 11; H. Schulze, »Europa als historische Idee«, in: W. Stegmaier (Hg.), EuropaPhilosophie, Berlin, New York 2000, S. 1‒14, hier: S. 5. 6  H. A. Winkler, »Scheitert Europa an sich selbst?«, in: Die Zeit, Nr. 40 (2015), S. 53. 7  R. Brague, Europa. Eine exzentrische Identität, Frankfurt/M. 1993. 8   P. Farmer, »Never Again? Reflections on Human Values and Human Rights«, in: The Tan­ner Lec­tures on Hu­man Values (2005), S. 137‒188. 9 Vf., Menschliche Sensibilität. Inspiration und Überforderung, Weilerswist 2008, Kap. VIII‒X. 10  E. Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Hamburg 1982, § 6, S. 16. 11  S. Förster, »Im Reich des Absurden: die Ursachen des Ersten Welt­k rie­ ges«, in: B. Weg­­­ner (Hg.), Wie Krie­ge entstehen. Zum historischen Hintergrund von Staaten­konflikten, Pa­der­­­born 22000, S. 211‒252. 12  Vgl. J. Derrida, Husserls Weg in die Geschichte am Leitfaden der Geometrie, München 1987. 13  M. Foucault, »Nietzsche, die Genealogie, die Historie«, in: Von der Subversion des Wissens, Frank­f urt/M. 1987, S. 69‒90. 14   Was gewiss nicht unvermeidlich der Fall sein muss; vgl. P. Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, München 2004. 15  P. Valéry, Werke. Frankfurter Ausgabe, Bd. 7, Frankfurt/M. 1995, S. 56, 75, 80, 522. 16   Ebd., S. 142. Vgl. die frühe Valéry-Rezeption bei E. Rosenstock-Huessy, »Der Selbstmord Europas« [1919], in: Die Sprache des Menschengeschlechts. Eine leibhaftige Grammatik in vier Teilen. Zweiter Band, Heidelberg 1964, S. 45‒74, hier: S. 66 f. 17   Ebd., S. 142 ff., 534. Letzteres gilt auch für Valéry selbst, der sich unter Berufung auf die »Dreieinigkeit Jerusalem, Athen und Rom« noch 1922 viel selbstsicherer über den »europäischen Geist« geäußert hatte; vgl. V. Klemperer, LTI. Notizbuch eines Philologen, Stuttgart 262015, S. 181‒187. 18 Valéry, Werke, Bd. 7, S. 81. 19  Genau das ist m. E. auch die Kernaussage der brillanten Zeitdiagnostik Stefan Zweigs in Die Welt von gestern. Erinnerungen eines Europäers, Köln 2013, die man allzu oft auf die Beschreibung eines weitgehenden Zerfalls bürgerlicher Sekurität reduziert; vgl. H. Kesting, Geschichtsphilosophie und Weltbürgerkrieg. Deutungen der Geschichte von der Französischen Revolution bis zum Ost-West-Konflikt, Heidelberg 1959, S. 112 f.

264  |  Anmerkungen zu Kapitel I

Vgl. T. Snyder, Black Earth, München 2015, S. 100 f. als Beispiel dafür, wie Historiker in diesem Sinne von einer ›Welt‹ und von ihrem Untergang durch Gewalt sprechen. 21   Man vergleiche nur das unter dem Titel »Wir sind Europa« publizierte »Manifest zur Neugründung Europas von unten«, in: Die Zeit, Nr. 19 (2012), S. 45. 22  Verfolgung und Vertreibung. Zum Streit um Perspektiven der Versöhnung; epd Dokumentation 31/32 (2011). 23   Vgl. H. König, Politik und Gedächtnis, Weilerswist 2008. 24  Eine polemische Vokabel, die in übertriebener Art und Weise vielfach gerade von jenen missbraucht wird, die gar kein Interesse an einer differenzierten Untersuchung kollektiver Vergangenheitsbezüge zeigen und stattdessen nur den berüchtigten »Schlussstrich« im Sinn haben, nachdem sie zuvor ein Zerrbild von jenem Komplex ge­zeichnet haben. 25  Zu Vilnius und Litauen in diesem Kontext vgl. Snyder, Black Earth, S. 156 ff. 26  Vgl. P. den Boer, H. Duchhardt, G. Kreis, W. Schmale (Hg.), Europäische Erinnerungsorte 1‒3, München 2012. 27  M. Blanchot, »Die Apokalypse denken«, in: J. Altwegg (Hg.), Die Heidegger-Kontroverse, Frankfurt/M. 1988, S. 94‒100, hier: S. 99. 28  P. Lacoue-Labarthe, Die Fiktion des Politischen, Stuttgart 1990, S. 60; D. J. Goldhagen, Hitler’s Willing Executioners. Ordinary Germans and the Holocaust, London 1996. 29  T. Lessing, Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen [1919], München 1983, §§ 27‒29. 30   Vgl. J. Derrida, »Die ›Welt‹ der künftigen Aufklärung. Ausnahme, Berechnung und Souveränität«, in: Internationales Jahrbuch für Hermeneutik 2 (2003), S. 1-46. 31  E. Weil, Logique de la philosophie, Paris 1950. 32   J. Derrida, Schurken, Frankfurt/M. 2003, S. 32, 80, 119‒123; ders., Das andere Kap. Die vertagte Demokratie. Zwei Essays zu Europa, Frankfurt/M. 1992, S. 56. Derrida insistiert hier darauf, dass sich eine Demokratie, die ihren Namen verdient, »durch die Struktur des Versprechens ausweisen muß«. Als solche habe sie sich schließ­lich »unter dem Namen Europa als Versprechen an[ge­kün­d igt]«, den Fremden aufzu­nehmen, nicht nur um ihn einzugliedern, »sondern auch […] um seine Andersheit zu erkennen und anzunehmen«. D. h. die Demokratie muss ›versprechen‹, eine Lebensform zu ermöglichen, die nicht nur Zu­gehö­rigen, sondern auch Fremden (und Zuge­hörigen in ihrer Fremdheit) gerecht werden soll, um sie – möglichst gewaltlos – auf­­zu­neh­men. Ohne spezielle Bezugnahme auf Derrida folgern U. Beck und E. Grande in ihrem Buch Das kos­mo­politische Europa, Frankfurt/M. 2007, durch »kosmopolitische Sensibilität für die Anerkenn­ung der An­ders­heit des Anderen« könne »Europa europäischer« werden (S. 274). Wenn das aber bedeuten soll, dass die 20 

Anmerkungen zu Kapitel I  |  265

fragliche Andersheit im Anerkannten aufgehoben gedacht wird, konterkariert diese ›gute Absicht‹ dann nicht eben jene Alterität, um deren Würdigung es ihr gehen sollte? 33   J. Derrida, Adieu. Nachruf auf Emmanuel Levinas, München, Wien 1999; ders., Von der Gastfreund­schaft, Wien 2001; ders., Aporien. Sterben ‒ Auf die »Grenzen der Wahrheit« gefaßt sein, München 1998, S. 62 f. Nur Levinas hat Gastlichkeit und Subjektivität derart ›kurzgeschlossen‹. Dass er sich wie auch Derrida dabei weit vom bis hin zu Husserl überlieferten Subjektdenken entfernt, ist unübersehbar, hier aber nicht auszubreiten. 34 Vf., Prekäre Selbst-Bezeugung. Die erschütterte Wer-Frage im Horizont der Moderne, Weilers­w ist 2012. 35  Im Französischen wird der wichtige Unterschied zwischen Gastlichkeit und Gastfreundschaft allerdings in einem einzigen Begriff (hospitalité) kaschiert. 36 Sophokles, Antigone, 372. 37   Zu dieser ‒ gewiss problematischen ‒ Verknüpfung vgl. Vf. (Hg.), Der Andere in der Geschichte. Sozial­philosophie im Zeichen des Krieges. Ein kooperativer Kommentar zu Emmanuel Levinas’ Totalität und Unendlichkeit, Freiburg i. Br., München 22017. Im besagten Werk ist generell (in ontologischer Diktion) vom Krieg die Rede, ohne dass dieser Begriff historisch spezifiziert würde. 38   E. Levinas, Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, Freiburg i. Br., München 1987, S. 434. 39  Vf., »Das Gegebene in seiner Zweideutigkeit. Begründung, Beschreibung und Be­zeu­g ung an den Grenzen der Erfahrung«, in: S. Gottlöber, R. Kaufmann (Hg.), Ga­be – Schuld – Vergebung, Dresden 2011, S. 97‒118; D. Janicaud, Die theologische Wende der französischen Phänomenologie, Wien, Berlin 2014; Vf., Einander aus­gesetzt. Der Andere und das Soziale. Bd. I: Umrisse einer historisierten Sozialphilosophie im Zeichen des Anderen; Bd. II: Elemente einer Topografie des Zusammenlebens, Freiburg i. Br., München 2018. 40   S. o., Anm. 32. 41   Vgl. J. Derrida, »Den Tod geben«, in: A. Haverkamp (Hg.), Gewalt und Gerechtigkeit. Derrida ‒ Ben­jamin, Frankfurt/M. 1994, S. 331‒445, hier: S. 359, 368. 42  Vgl. Diogenes Laertios, Leben und Lehre der Philosophen, Stuttgart 1998, S. 179, 184, zu Platons Verständnis von Gastfreundschaft. 43  Bzw. zu ›Je­­rusalem‹ und ›Athen‹ (wie man mit einer stereotypen Abkürzung sagt, um nebenbei alle Umwege zwi­schen diesen Kapitalen auszublenden, die wie derjenige über die iberische Halbinsel gewiss nicht bloße Umwege waren, von anderen, weit düsteren ›Zwischenstationen‹ ganz abgesehen). Vgl. C. Meier, Von Athen bis Auschwitz: Betrachtungen zur Lage der Geschichte, München 2002.

266  |  Anmerkungen zu Kapitel I

44 

Dieser Begriff kann hier nur abkürzend für die Europäer stehen. Denn niemand sonst kann jene Ant­worten geben, die man nachträglich mit ›Europa‹ und seinem historischen Pro­­fil identifiziert. 45  Deren ›Unaufhebbarkeit‹ aus den entsprechenden Zeugnissen hervorgeht; vgl. S. Knopp, S. Schulze, A. Eusterschulte (Hg.), Videographierte Zeugen­schaft. Ein interdisziplinärer Dialog, Weilerswist 2016; M. Däumer, A. Kalisky, H. Schlie (Hg.), Über Zeu­gen. Szenarien von Zeugenschaft und ihre Akteure, München 2017. 46   M. Herzfeld, »Afterword«, in: M. Candea, G. da Col (Hg.), The return to hos­pitality. Special Issue »The return to hospitality«, in: Journal of the Royal Anthropological Institute 18 (2012), S. 210‒217, hier: S. 213. 47  Es geht hier gerade nicht um einen pejorativen Begriff. 48  H. Arendt, Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I, München 1994, S. 214 f. 49 Levinas, Totalität und Unendlichkeit, S. 100. 50   Vgl. D. Finkelde, R. Klein (Hg.), Souveränität und Sub­version: Figurationen des Politisch-Imagi­nären, Freiburg i. Br., München 2015. 51  Auf dieser notwendigen Unterscheidung insistiert bes. B. Waldenfels, u. a. in seiner Topogra­phie des Fremden (=Studien zur Phänomenologie des Fremden 1, Frankfurt/M. 1997). 52  Vgl. J. Derrida, Schurken, Frankfurt/M. 2003, S. 27 f., 36. 53   F. Kafka, Das Schloß. Gesammelte Werke, Bd. 3, Frankfurt/M. 1976, S. 17. 54  B. Marx (Hg.), Widerfahrnis und Erkenntnis. Zur Wahrheit menschlicher Erfahrung, Leipzig 2010. 55  In: J.-P. Sartre, »Bei geschlossenen Türen«, in: Gesammelte Dramen, Reinbek 1970, S. 67‒98, hier: S. 97. 56  Vf., »Passionierte Freiheit als Gabe? Jean-Paul Sartres Entwürfe für eine Moralphilosophie nach dem letzten ›Weltkrieg‹« in: Unaufhebbare Gewalt. Umrisse einer Anti-Geschichte des Politischen. Leipziger Vorlesungen zur Politischen The­orie und Sozialphilosophie, Weilerswist 2015, Kap. IX. 57  Levinas, Totalität und Unendlichkeit, S. 19 ff. Der Vorwurf des Autors an die Adresse des europäischen ontologischen Denkens gipfelt schließlich darin, dass es nicht nur der Macht, sondern auch dem Krieg verfallen sei. Mit Blick auf Ontologen wie M. Heidegger, J. Patočka und E. Fink, die direkt an Heraklits pólemos anknüpfen, ist man versucht, Levinas Recht zu geben, auch wenn man nicht übersieht, dass dieser Begriff hier wenig mit traditionellen Kriegsbegriffen zu tun hat. Vgl. bes. J. Pa­točka, Ketzerische Essays zur Philosophie der Geschichte, Berlin 2010, S. 141‒160. 58  T. Todorov, Die Eroberung Amerikas. Das Problem des Anderen, Frankfurt/M. 1985. 59   P. Bayle, Toleranz. Ein philosophischer Kommentar, Berlin 2016. 60  J. Simon, W. Stegmaier (Hg.), Fremde Vernunft. Zeichen und Interpretation IV, Frankfurt/M. 1998. Anmerkungen zu Kapitel I  |  267

J. Derrida, Die Schrift und die Differenz, Frankfurt/M. 1976, S. 191. M. Sommer, Evidenz im Augenblick, Frankfurt/M. 1987. 63  M. Theunissen, Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart, Berlin 21977; B. Walden­fels, Im Zwischenreich des Dialogs, Berlin 1971; K. Hamburger, Das Mitleid, Stuttgart 1985; J. Q. Wilson, The Moral Sense, New York, Toronto 1993; T. Breyer (Hg.), Grenzen der Empathie, München 2013. 64  E. Levinas, »Hegel und die Juden«, in: Schwierige Freiheit. Versuch über das Judentum, Frank­­­furt/M. 1992, S. 177‒181, hier: S. 181; B. Keintzel, B. Liebsch (Hg.), Hegel und Levinas, Freiburg i. Br., München 2010. 65  E. Levinas, Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, Frei­burg i. Br., München 21987. 66  E. Levinas, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Freiburg i. Br., München 1992, S. 7. 67  B. Waldenfels, Idiome des Denkens. Deutsch-französische Gedankengänge II, Frankfurt/M. 2005. 68   J.-P. Sartre, Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie [1943], Reinbek 1993, S. 718. Dabei hatte sich Sartre in seinen »Überlegungen zur Judenfrage« (1954) später selbst dagegen gewandt, deren historische, kulturelle und religiöse Spezifität in einer allgemeinen con­­­­­­ditio humana zum Verschwinden zu bringen; vgl. J.-P. Sartre, Überlegungen zur Judenfrage, Rein­­­­bek 1994, bes. S. 82‒86; E. Levinas, Die Unvor­her­sehbarkeiten der Geschichte, Freiburg i. Br., München 2006, S. 125 ff. 69  Zur Vielfalt des Hassens vgl. Vf., »›… wie dich selbst‹. Befremdliche Selbstverhältnisse in Beziehung zum Anderem ‒ vom alttestamentarischen Paradigma der Liebe zu Hass und politischer Feindschaft«, in: Scheidewege 42 (2012/3), S. 151‒165; sowie Kap. XXIX in Einander ausgesetzt, Bd. II: »Andere hassen ‒ Im Horizont weltweiter Vergesellschaftung«. 70  A. Mbembe, Sortir de la grande nuit, Paris 2010; ders., Kritik der schwarzen Vernunft, Berlin 2014; ders., Postkolonie. Zur politischen Vorstellungskraft im zeitgenössischen Afrika, Wien, Berlin 2016. 71   Vgl. dazu am Beispiel der (Un-)Gerechtigkeit: Vf., »Zur Rekonfiguration der Sozialphilosophie. Ontologie ‒ Phänomenologie ‒ Kritik«, in: Philosophische Rundschau 60, Heft 2 (2013), S. 91‒129. 72  Ob man besser sagen sollte ›Rationalität‹, lasse ich hier dahingestellt; vgl. das Vorwort zu B. Waldenfels, Der Stachel des Fremden, Frankfurt/M. 1990. 73  J.-L. Nancy, Zum Gehör, Zürich, Berlin 2010. 74  J. Rancière, Der emanzipierte Zuschauer, Wien 2009, S. 90 ff.; ders., Ist Kunst widerständig?, Berlin 2008, S. 60 ff. 75   J. Butler, Hass spricht, Berlin 1998. 76  Man vergleiche unter diesem Aspekt nur Passau und Dresden. Während in Dresden, wo angeblich gewisse Ängste vor Fremden vorherrschen, die man kaum zu Gesicht bekommt, und Gewaltbereitschaft mit minimalem Respekt vor den Organen des Staates herbeigeredet wurde, ging man im Südosten 61 

62 

268  |  Anmerkungen zu Kapitel I

­ ayerns angesichts von tausenden von Flüchtlingen jeglicher Couleur mit B großem praktischen Einsatz, mit politischer Besonnenheit und Gelassenheit zu Werke. Ist der so oft beschworene Mythos der ›Angst vor dem Fremden‹ nicht bloß ein wohlfeiler politischer Vorwand? 77  Vgl. A. Kolnai, Ekel, Hochmut, Haß. Zur Phänomenologie feindlicher Gefühle, Frankfurt/M. 2007. 78  Insofern hege ich Zweifel an Rekursen auf Carl v. Clausewitz’ Bestimmung des Krieges als einer »bloßen Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln« (Vom Kriege, [1832], Frankfurt/M., Berlin 41994, S. 34). Abgesehen davon, dass in dieser Definition die Adjektive einander widerstreiten, beschwört nach Clausewitz’ eigenem Bekunden jeder Krieg (seinem »absoluten Begriff« nach) das Äußerste herauf, das nur auf dem Weg von Exzessen zu realisieren ist, die nie an ein definitives Ende kommen, wo man sagen könnte: ›mehr desselben‹ geht nicht… Das Äußerste aber lässt überhaupt kein ›politisches‹ Verhalten angesichts derer mehr zu, die ihm zum Opfer fallen. Politik kann sich nicht auf angeblich »bloße Mittel« einlassen, die sie zerstören müssen. Kapitel II

S.  54 – 71

H. Broch, Die Schuldlosen. Roman in elf Erzählungen, Frankfurt/M. 1974, S. 244. 2  I. Kertész, Die exilierte Sprache. Essays und Reden, Frankfurt/M. 2004, S. 232. 3   D. LaCapra, History and Memory after Auschwitz, Ithaka, London 1998, S. 26. 4  B. Waldenfels, »Heimat in der Fremde«, in: ders., In den Netzen der Lebenswelt, Frankfurt/M. 1985, S. 194‒211, hier: S. 200. 5   Ebd., S. 194. 6  S. Haffner, Geschichte eines Deutschen. Die Erinnerungen 1914‒1933, München 2002, S. 199. 7   Ebd., S. 278 ff. 8   Ebd., S. 149, 127. 9  Ebd., S. 190. 10  Ebd., S. 220. 11  Ebd., S. 224. Hervorhebg. B.L. 12  Ebd., S. 284. Vgl. zu diesem historischen und aktuellen Kontext Vf., »Deutschland: ein gastliches Land im europäischen Kontext«, in: Scheidewege. Jahresschrift für skeptisches Denken 47 (2017/8), S. 21‒33. 13  F. Hölderlin, Werke, Tübingen o. J., S. 670, 679. 14  Ebd., S. 262. 15   R. M. Rilke, Die Gedichte, Frankfurt/M., Leipzig 1998, S. 631. 16  M. Blanchot, Der literarische Raum, Zürich 2012, S. 143. 1 

Anmerkungen zu Kapitel II  |  269

Steiner, Sprache und Schweigen. Essays über Sprache, Literatur und das Unmenschliche, Frankfurt/M. 1973, S. 165; Kertész, Die exilierte Sprache, S. 183‒263. 18   M. Heidegger, Unterwegs zur Sprache, Pfullingen 61979, S. 13. 19  G.-A. Goldschmidt, Der bestrafte Narziß, Zürich 1994, S. 110 f. 20  Ebd., S. 112. 21  P. Ricœur, Wege der Anerkennung, Frankfurt/M. 2006, S. 318, 321. 22 Wohlgemerkt in einer erst wiederzufindenden »Nachbarschaft«, die gerade keine Heimat voraussetzen konnte; H. Böll, Frankfurter Vorlesungen, München 41977, S. 45 f., 53. 23  P. v. Matt, … fertig ist das Angesicht. Zur Literaturgeschichte des menschlichen Gesichts, Frankfurt/M. 1989, S. 257. 24 Ebd. 25  K. Löwith, Der Weltbegriff der neuzeitlichen Philosophie, Heidelberg 1960, S. 10 ff. 26  A. Koyré, Vom geschlossenen Kosmos zum unendlichen Universum, Frankfurt/M. 1980; H. Blumenberg, Die Genesis der kopernikanischen Welt 1‒3, Frankfurt/M. 1981. 27  K. Polanyi, The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen, Frank­­furt/M. 1978. Hier geht es allerdings um eine »Katastrophe der Entwurzelung«. Weitgehend ist damit ebenfalls (ökonomischer) Heimatverlust gemeint. 28 Vf., Geschichte als Antwort und Versprechen, Freiburg i. Br., München 1999. 29  S. Márai, Himmel und Erde. Betrachtungen, München 2002, S. 124. 30   Vgl. Blanchot, Das literarische Exil, S. 247. 31  W. Stegmaier, Nietzsches Befreiung der Philosophie, Berlin 2012, S. 542. 32  Ebd., S. 552. 33  Ebd., S. 544. 34   Ebd., S. 545. 35   B. Groethuysen, Unter den Brücken der Metaphysik, Stuttgart 1968, S. 21 f. »Was suchst du anderes als das, was nicht vorübergeht, das Da-Sein ohne FortSein. […] Nichts anderes wird dich also zufrieden stellen, […] als was vom Leben lebt, das nicht stirbt«, heißt es hier (S. 22). Vgl. Rilke, Die Gedichte, S. 909. 36  Vf., »Vorübergehende Bleibe«, in: B. Beckmann-Zöller, R. Kaufmann (Hg.), Heimat und Frem­­­­­­de. Präsenz im Entzug. FS f. H.-B. Gerl-Falkovitz, Dresden 2015, S. 83‒96; ders., »Im Vorübergehen. Tod(e) und Bild(er): Diachronie des Anderen und Regimes des Sicht­bar­en«, in: P. Stoellger, J. Wolff (Hg.), Bild und Tod. Bd. II. Zu einer Grundfrage der Bildanthropo­lo­gie, Tübingen 2016, S. 665‒696. 37 R. Sennett, Civitas. Die Großstadt und die Kultur des Unterschieds, Frankfurt/M. 1994, S. 175, 288. 38  Ich betone: wenn. Oft genug stellen sich die Ortsansässigen nur als Arme heraus, deren Leben sich angesichts seiner dürftigen Umstände als »ständig 17  G.

270  |  Anmerkungen zu Kapitel II

hinausgeschobene Abreise« darstellt, wie Geert Mak feststellt in: Wie Gott aus Jorwerd verschwand. Der Untergang des Dorfes in Europa, München 2007, S. 85. So entpuppt sich das Leben vor Ort keineswegs als chthonisches (mystisch der Erde angehörendes, autochthones und in diesem Sinne indigenes), sondern lediglich als Form zähen Durchhaltens (ebd., S. 51). Zur Aktualität jener Kategorien vgl. J. Butler, A. Athanasiou, Die Macht der Ent­eigneten, Berlin, Zürich 2014, S. 41, 157. 39  O. Wiener, »Vom stillen Jüdel«, in: C. Grüny (Hg.), Jüdische Erzählungen aus Prag, Prag 1997, S. 127‒134, hier: S. 131. 40  M. Frank, Die unendliche Fahrt. Ein Motiv und sein Text, Frankfurt/M. 1979, S. 143. Frank verwendet diesen Ausdruck mit Blick auf Charles Baudelaire. 41  H. Münkler, Der grosse Krieg. Die Welt 1914‒1918, Reinbek 2015, S. 564; D. Gosewinkel, Schutz und Freiheit? Staatsbürgerschaft in Europa im 20. und 21. Jahrhundert, Berlin 2016, S. 173. 42   Ich beschränke mich auf einen Hinweis auf die deutsch-tschechischen Verhältnisse; F. Seibt, Deutsch­­land und die Tschechen. Die Geschichte einer Nachbarschaft in der Mitte Europas, München 31997. 43  J. Améry, Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten, München 1988, S. 59‒80, hier: S. 62, 73. 44  Vgl. P. Coulmas, Weltbürger, Reinbek 1990, S. 70. Der Autor deutet den antiken Kosmopolitismus so, dass er darauf hinauslaufen sollte, eine »Gesellschaft ohne Fremde« herbeizuführen (ebd., S. 120). 45  M. Buber, Politische Schriften, Frankfurt/M. 2010, S. 246 ff., 339 f. 46  H. Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 4 1985, S. 192. 47   Hier nun aber gerade nicht im üblichen Sinne von Heimatlosigkeit, der stets eine verlorene, aber zuvor irgendwie ›gehabte‹ Heimat voraussetzt. 48  »Ist es vielleicht so, daß Heimat erst wirklich versteht, wer sie verlor und aus der Fremde im Heimweh zurückschaut?« fragt Christian Graf v. Krockow (Heimat. Erfahrungen mit einem deutschen The­ma, München 1992, S. 11). Wenn er gleich darauf »das Schicksal der Heimatvertriebenen« als »exem­ plarisch« für eine Erfahrung hinstellt, die inzwischen »allgemein geworden« sei, drängt sich die Rückfrage auf, ob letztere wirklich für ein adäquates und verallgemeinerbares Verständnis von Heimat bürgen können. Mit Recht gibt dieser Autor zu bedenken, dass das, was der spezifisch deutsche Begriff des Heimatvertriebenen meint, von 1933 her und nicht erst, wie es meist geschehen ist, von den Folgen gewisser Verbrechen her zu denken ist (ebd., S. 38). Schließlich begann »mit der Aussaat des Hasses […] die Gewalt, an deren Ende die Vertreibung stand ‒ die im Ansturm der Rache verbrannte und verlorene Heimat« (ebd., S. 74). Allzu sehr bleibt indessen auch hier nur deutsche, ›eigene‹ Heimat im Blick. Wie sehr mit einer »Politik der verbrannten Erde« die Heimat Fremder ruiniert worden ist, wird kaum gestreift.

Anmerkungen zu Kapitel II  |  271

W. Oberkrome, Volksgeschichte, Methodische Innovation und völkische Ideologisierung in der deut­schen Geschichtswissenschaft 1918‒1945, Göttingen 1993, S. 30, 92. 50   P. L. Berger, B. Berger, H. Kellner, Das Unbehagen in der Modernität, Frankfurt/M. 1975, S. 60, 72, 138, 159; M. Berman, All that is solid melts into air. The Experience of modernity, Harmonds­worth 1988. 51  Berger, Berger, Kellner, Das Unbehagen in der Modernität, S. 121, 149. 52  Ebd., S. 200. 53  Nur en passant kann ich hier auf die unvergessenen, u. a. von der Berliner Stiftung Topografie des Terrors dokumentierten Bilder öffentlicher Demütigung jener verweisen, die schon seit 1933 als »aus der Volksgemeinschaft ausgeschlossen« gebrandmarkt wurden ‒ unter großer öffentlicher Anteilnahme einer dieses Schauspiel nicht nur begaffenden, sondern auch begierig unterstützenden lokalen Bevölkerung. 54  Der Begriff ›sein‹ wird hier klein geschrieben, weil er im Anschluss an Heidegger und Levinas verbal und transitiv zu denken ist. 55  E. Fink, Sein und Mensch. Vom Wesen der ontologischen Erfahrung, Freiburg i. Br., München 1977, S. 11 f., 83. Ich verkenne nicht, dass Heidegger ein »unheimliches« »Un-zuhause« gerade im sich selbst überantworteten Dasein lokalisiert hatte (M. Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1984, S. 189). Wie das zu Finks Interpretation passt, bleibe dahingestellt. 56   Vgl. M. Blanchot, Politische Schriften 1958‒1993, Zürich, Berlin 2007, S. 169. 57 M. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966, S. 372. 58   E. Kästner, Das Zeltbuch von Tumilad, Frankfurt/M., Hamburg 1956, S. 87, 91 zum Brand Dresdens; zum Begriff der Wüste ebd., S. 18, 60. 59  Ebd., S. 125. 60  Vgl. dazu das folg. Kap. III. 61  Steiner, Sprache und Schweigen, S. 30. 62   Vgl. dagegen die »Überlassenheit« an sich selbst in Sein und Zeit, § 30, S. 141. 63  P. Weiss, Ästhetik des Widerstands, Frankfurt/M. 2005, S. 845, 514, 465, 554. 64  Ebd., S. 884, 893. Zum Anachronismus des Vergleichs mit der Hölle ebd. S. 76, sowie G. Steiner, In Blaubarts Burg. Anmerkungen zur Neudefinition der Kultur, Frankfurt/M. 1972, S. 62 ff. 65 Weiss, Ästhetik des Widerstands, S. 1010. 66  Kertész, Die exilierte Sprache, S. 94. 67  Ebd., S. 217. Eine bedrückend aktuelle Überlegung in Zeiten unverhohlen anti-europäischer Herrschaft des Orbán-Regimes in Ungarn. 68  Vgl. J. Derrida, Von der Gastfreundschaft, Wien 2001, S. 68. 49 

272  |  Anmerkungen zu Kapitel II

69 

In einer »anachronistischen Lebensform«, die »auf der Basis des Negativen«, d. h. der bezeugten Ver­lassenheit basieren müsste, wie Kertész meint (ebd., S. 241, 229). 70   Ebd., S. 144. 71  J. Monod, Zufall und Notwendigkeit. Philosophische Fragen der modernen Biologie, München 51982, S. 151. 72  »Es war mir, als […] stürbe ich […] infolge meiner Verlassenheit«, heißt es in Franz Kafkas Forsch­ungen eines Hundes, in: Gesammelte Werke Bd. 5, Frankfurt/M. 1976, S. 180‒215, hier: S. 211. 73  J. M. Piskorski, Die Verjagten. Flucht und Vertreibung im Europa des 20. Jahrhunderts, Berlin 2015. 74 Blanchot, Der literarische Raum, S. 247. 75 Immer nur »noch nachbarlosere Einsamkeit«, schreibt Broch (Die Schuldlosen, S. 268). 76  So gesehen erweisen sich »Menschen in Freiheit als die eigentliche Heimat« ‒ als eine Heimat, die in autokratischen und diktatorischen Regimes »im Sterben liegt«, wie es in einem neueren Beitrag zu diesem Kontext heißt: S. ­Milich, L. Tramontini, »Schreiben gegen Unrecht. Protest und Engagement in der modernen syrischen und irakischen Dichtung«, in: S. Dhouib (Hg.), Formen des Sprechens. Modi des Schweigens. Sprache und Diktatur, Weilerswist 2018, S. 361‒396, hier: S. 391 f. 77   V. Flusser, Von der Freiheit der Migranten. Einsprüche gegen den Nationalismus, Bensheim 1994, S. 8. 78  Ebd., S. 15 f., 26. 79 Matt, …fertig ist das Angesicht, S. 255 f. 80   E. Levinas, Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, Freiburg i. Br., München 1987, Kap. II, D. 81  A. Finkielkraut, Verlust der Menschlichkeit. Versuch über das 20. Jahrhundert, Stuttgart 21999, S. 158 ff. 82   Ebd., S. 161, 163. 83   Schon Hegel wusste, wie Franz Rosenzweig gezeigt hat, dass die moderne »Persönlichkeit« im »heimischen Geist« einer lokalen politischen Ordnung (pólis) keine »sittliche Heimat« mehr finden kann. Aber er konnte sich Erstere nicht als radikal fremde vorstellen, wie es dann Levinas tun wird. Vgl. F. Rosenzweig, Hegel und der Staat, Berlin 2010, S. 256 f. Kapitel III

S.  72 – 98

1 

Zit. n. M. Smuda, »Natur als ästhetischer Gegenstand und als Gegenstand der Ästhetik. Zur Konsti­t ution der Landschaft«, in: ders. (Hg.), Landschaft, Frankfurt/M. 1986, S. 44‒69, hier: S. 50. 2  C. Delbo, Trilogie. Auschwitz und danach, Frankfurt/M. 1993, S. 10, 88. 3  E. Levinas, Gott, der Tod und die Zeit, Wien 1996, S. 155. Anmerkungen zu Kapitel III  |  273

G. Sereny, Am Abgrund: Gespräche mit dem Henker. Franz Stangl und die Morde von Treblinka, Mün­chen 1995, S. 169. 5  J. Semprun, Die große Reise, Frankfurt/M. 1981, S. 9 f. 6   M. Blanchot, Die Schrift des Desasters, München 2005 (=SD). 7  W. Benjamin, »Erfahrung und Armut«, in: Illuminationen, Frankfurt/M. 21980, S. 291‒296, hier: S. 291. 8  Vgl. G. Didi-Huberman, Bilder trotz allem, München 2007, S.  27 ff. (=Bta). 9   Vgl. Vf., Revisionen der Trauer. In philosophischen, geschichtlichen, psychoanalytischen und äs­­­the­ti­sch­­en Perspektiven, Wei­lerswist 2006, S. 52 f. 10  Vgl. I. Kant, »Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf«, in: Werkausgabe Bd. XI (Hg. W. Weischedel), Frankfurt/M. 1977, S. 191‒251, hier: S. 214; E. Levinas, Schwierige Frei­heit. Versuch über das Juden­tum, Frankfurt/M. 1992, S. 173 ff.; v. Verf., Für eine Kultur der Gast­lichkeit, Freiburg i. Br., München 2008, Kap. IV. 11   M. Warnke, Politische Landschaft. Zur Kunstgeschichte der Natur, München, Wien 1992, Kap. 1 (=PL). 12  Petrarca, dem man oft ein modernes Bewusstsein für die Landschaft und für jene Ferne zu­ge­schrieben hat, wendet sich in seiner Beschreibung der Besteigung des Mont Ventoux (1336) letztlich wieder mit Augustinus der Sorge um seine Seele zu. 13   J. Ritter, »Landschaft«, in: Subjektivität, Frankfurt/M. 1974, Kap. 6, hier: S. 147, 151. 14  I. Kant, Kritik der Urteilskraft, Werkausgabe Bd. X, § 28, S. 189. 15  C. G. Carus, Psyche, Jena 1926, S. 100. 16   P. Cézanne, Über die Kunst. Gespräche mit Gasquet. Briefe, Mittenwald 1980, S. 31. 17  R. M. Rilke, Briefe, Bd. II, Wiesbaden 1950, S. 483. 18 A. Koyré, Von der geschlossenen Welt zum unendlichen Universum, Frankfurt/M. 1980, S. 12, 49. 19   Vgl. M. Frank, Die unendliche Fahrt. Ein Motiv und sein Text, Frankfurt/M. 1979. 20 Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Plastikm%C3%BCll_in_den_Ozeanen zum sog. Great Pa­­cific Garbage Patch. 21  A. Camus, Der erste Mensch, Reinbek 1997, S. 164 f. 22  Gerhard Paul weist in seiner Geschichte der Visualisierung des Krieges darauf hin, dass die Fotographie im Ersten Weltkrieg erstmals eine »apokalyptische Kriegslandschaft« zeigt. »Erst jetzt wurde deutlich, dass die moderne Kriegsmaschinerie die Schlachtfelder des Stell­u ngs­k rieges in eine naturferne Wüsten- oder Mond­landschaft, in eine Trichter- und Graben­landschaft, in eine Landschaft der zer­schossenen Wälder und der im Morast sich auflö­sen­ den Erde verwandelt hatte. Mit Wasser zugelau­fene Granattrichter erschienen wie Narben der leidenden Natur«; G. Paul, Bilder des Krieges. Krieg der Bilder. 4 

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Die Visualisierung des moder­nen Krieges, Paderborn, München, Wien, Zürich 2004, S. 143. 23  R. Fabian, H. C. Adam, Bilder vom Krieg, Hamburg 1983. 24   Siehe dazu K. W. Kelley (Hg.), Der Heimat-Planet, Frankfurt/M. 1989. 25  T. Snyder, Bloodlands. Europe between Hitler and Sta­lin, Lon­don 2010 (=Bl). 26  A. v. Humboldt, Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung [1845‒1862], Frank­f urt/M. 2004, S. 240 ff. 27   Das Standardwerk geschichtlicher Geographie, der Historische Weltatlas von F. W. Putzger, unterscheidet in der 92. Auf­lage von 1970 Soldaten, Zivilisten, Juden und Volksdeutsche. Die summarisch erfassten Verluste betreffen Gefallene, Ermordete, Getötete und Vermisste (S. 145). 28  H. Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München, Zürich 31993, S. 511; dies., Men­schen in finsteren Zeiten, München 2001, S. 12, 250. 29  Vgl. Vf., »Maurice Blanchot und die Historizität menschlicher Sterblichkeit«, Beitrag zur inter­na­t ionalen Konferenz Ge­no­cide. Con­­tem­po­rary philosophical and sociological perspectives, Lepsius­haus, Potsdam, August 2013, erscheint in: Zeitschrift für Genozidforschung (2019), i. E. 30  Vgl. S. Plot­ke, A. Ziem (Hg.), Sprache der Trauer. Verbalisierungen einer Emotion in histori­sch­er Perspektive, Heidelberg 2013. 31 Vgl.  G. Didi-Hubermann, »Klagebilder, beklagenswerte Bilder?«, in: Zeitschrift für Medien­wis­senschaft 1 (2009), S. 51‒60, hier: S. 59. 32  Vgl. A. Michaels, Fugitive Pieces, London 1998, S. 51 f. (=FP). Auch hier geht es um eine imaginativ nachvollzogene Geographie: »[…] cut by rail. The black seam of that wailing migration from life to death, the lines of steel drawn across the ground, penetrating through cities and towns now famous for murder: from Berlin through Breslau; from Rome through Florence, Padua and Vienna; from Vilna through Grodno and Łódź; from Athens through Salonika and Zagreb. Though they were taken blind, though their senses were confused by stench and prayer and screams, by terror and memories, these passengers found their way home. Through the rivers, through the air.« Dieses Buch zeigt, wie sich jene Geographie in eine kollektive seelische Topographie des Desasters transformieren konnte. Diese Topo­g ra­phie ist es schließlich, die man »imagined in the grief of the hills« wieder­zuerkennen meint (ebd., S. 61), so als ob die Erde sprechen würde (ebd., S. 143, 209, 211). Doch bedarf es der menschlichen Sprache, um das zum Ausdruck zu bringen − einer Sprache des Verlusts, die derart von ihm gezeichnet ist, dass sie selbst zu einer Form des Verlusts wird (ebd., S. 111 f.). Wie sie ihn dennoch als solchen in sich aufheben und davor bewahren kann, selbst ver­loren zu gehen, zeigt nur ein trauernder Blick, der sich einer umstandslosen Übertragung »[of] the geologic to the human« widersetzt, durch die letzteres einfach naturalisiert würde. Deshalb geht es am Ende darum, mittels dieses Blicks aus der terra cognita der Geo­

Anmerkungen zu Kapitel III  |  275

gra­phie die Spuren einer terra incognita gewaltsamen Todes herauszulesen (ebd., S. 119, 137). 33  Vgl. K. Lewin, Feldtheorie. Werkausgabe Bd. 4, Bern, Stuttgart 1983. Lewin hat in Anlehnung an die Physik maßgeblich den Feldbegriff in die Sozialwissenschaften eingeführt und damit auch frag­w ür­­­­dige Analogisierungen nahe gelegt. Können tatsächlich (und bis zu welchem Punkt) auch Schlacht­­­­­­ felder mit den »Feldern der neuen Physik« verglichen werden? Vgl. G. DidiHuberman, Wenn die Bilder Position beziehen. Das Auge der Geschichte I, München 2011, S. 283 zu B. Brecht (=WB). 34  A. Weisman, Die Welt ohne uns. Reise über eine unbevölkerte Erde, München 2009. Schon Bertrand Russell sah die Geschichte der Erde auf jenen Zustand hinauslaufen, den uns an­geb­lich »der Mond vor Augen führt«: auf »Totes, Kaltes, Lebloses«. Jedoch imaginiert die Re­de von Mondlandschaften der Gewalt stets einen Zeugen, der die Erde als gewaltsam versehrte in Erinnerung behält. Der Blick auf den Mond verrät davon jedoch gerade keine Spur. Vgl. R. Schenk, »Der Mensch – Krone der Schöpfung?«, in: R. Löw, R. Schenk (Hg.), Natur in der Krise. Philosophische Essays zur Naturtheorie und Bioethik, Hildesheim 1994, S. 53‒80, hier: S. 55. 35  Vgl. H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 4 1975, S. 336. 36  E. Angehrn, H. Fink-Eitel, C. Iber, G. Lohmann (Hg.), Dialektischer Negativismus, Frank­f urt/M. 1992; B. Liebsch, A. Hetzel, H. R. Sepp (Hg.), Profile negativistischer Sozialphilosophie. Ein Kompen­dium. Sonderband Nr. 32 der Deutschen Zeitschrift für Philosophie, Berlin 2011; E. Angehrn, J. Küchenhoff (Hg.), Die Ar­beit des Negativen. Negativität als philosophisch-psychoanalytisches Problem, Weilerswist 2014. 37   M. Blanchot, Der literarische Raum, Zürich 2012, S. 90, 99, 111, 224, 249, 252 (=LR); SD, S. 115. 38  Vgl. M. Blanchot, Das Unzerstörbare. Ein unendliches Gespräch über Sprache, Litera­tur und Ex­is­tenz, München, Wien 1991, S. 99, 129 ff.; Das Neutrale. Philosophische Schriften und Frag­­mente zur Philosophie, Zürich, Berlin 2010, S. 174 ff., 230; Vergehen, Zürich 2011, S. 80 f.; SD, 23, 29, 39. 39   Vgl. M. Blanchot, Der Gesang der Sirenen, Frankfurt/M. 1988, S. 321 ff. zu Hölderlins und Mal­lar­més Dichtung, die mehr noch als die Sprache im allgemeinen (»der Aufenthalt par excel­len­ce«) zu versprechen scheint, dass »der Tag bleiben, zu unserer Bleibe werden kann«; M. Blanchot, »Der Wahn­­sinn par excellence«, in: K. Jaspers, Strindbergh und Van Gogh, Berlin 1998, S. 7‒33, hier: S. 27. Aber ist es nicht doch nur die Bleibe von unweigerlich Exilierten? Das legt Das Unzerstörbare nahe (S. 65, 106; vgl. LR, S. 247; M. Blanchot, Nachträglich, Zürich 2012, S. 81). 40  R. Antelme, Das Menschengeschlecht, München 1990, S. 308 f.; G. Bataille, Henker und Opfer, Berlin 2008, S. 17; Vf., »Leidenschaftliche Souveränität und Unannehmbarkeit der Ge­walt. Georges Bataille im Kontext politischer Theo-

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rie«, in: M. Riekenberg (Hg.), Die Gewalt­soziologie Georges Batailles, Leipzig 2012, S. 123‒150. 41  In diesem Sinne sind die Fugitive Pieces von Anne Michaels zu lesen; vgl. G. Didi-Hu­ber­man, Überleben der Glühwürmchen, München 2012, S. 144 (=ÜG). 42  A. Camus, »Idyllisches Totenland. Bilder aus dem besetzten Deutschland«, in: FAZ 24. April (2003), S. 33. 43  E. Fink, Traktat über die Gewalt des Menschen, Frankfurt/M. 1974, S. 210. 44   E. Fink, Sein und Mensch. Vom Wesen der ontologischen Erfahrung, Freiburg i. Br., München 1977. 45  I. Kaplow (Hg.), Mensch – Bild – Menschenbild. An­thro­pologie und Ethik in Ost-West-Per­spek­tive, Wei­lers­w ist 2009. 46  E. Levinas, Gott, der Tod und die Zeit, Wien 1996, S. 155; vgl. Blanchot, SD, S. 96. Der Autor, der Blanchot hier kei­ner­lei theologische Motive unterstellt, zitiert letzteren nicht ohne Zwei­deutigkeit mit den Worten, das Desaster sei »das Denken« (soweit es keinen Ausweg weiß aus der sublunaren Lage der Denkenden). Ich verstehe Blanchot hingegen so, dass er das Den­ken der »Probe« des Desasters rückhaltlos aussetzt, um zu sehen, ob und wie es sich ihm radikal zu wider­setzen verspricht − sei es auch auf der Spur einer Zeugenschaft ange­sichts der Gewalt, die nie­mals zu beweisen, sondern ihrerseits nur zu bezeugen sein wird (vgl. J. Derrida, Über den Namen. Drei Essays, Wien 2000, S. 69 f.; Vf., »Aktuelle Histo­r i­sie­r ungen der Zeugen­schaft. Zur ›Kritik einer Wissenspraxis‹ und zum ›Recht der Litera­tur‹ jenseits von Wissen und Recht«, in: Philosophische Rundschau 59, Heft 3 [2012], S. 217‒235). 47 G. Didi-Huberman, Borken, Konstanz 2012 (=B). An anderer Stelle schreibt der Autor, es han­d ­le sich um banale Landschaften; und er zitiert A.  Resnais mit den Worten »[…] leere Schau­p­lätze. Zwar sind sie wirklich und belebt − Grasbüschel bewegen sich leicht − aber voll­­kommen menschenleer und von einer beinahe unwirklichen Atmosphäre, denn sie ge­hö­ren einer Welt des unwahrscheinlichen, des unmöglichen Überlebens an« (Bta, S. 185). Im­­mer wieder ist es die Wahrnehmung der »unschuldigen«, »ahnungslosen« Natur, was ei­ne hi­storisch informierte Imagination auf den Plan ruft, der ­a llein auch Didi-Huberman zu­zu­trauen scheint, die fotographischen Bilder des Desasters davor zu bewahren, als bloße Be­weismittel minderer Qualität oder als Reliquien zu gelten. 48  Cum grano salis im Sinne Roland Barthes’, dem Didi-Huberman nicht zu Unrecht vorhält, einer allzu ›frontalen Trauer‹ das Wort zu reden, wo er das ›bestechende‹ Bild im Zeichen des Todes seiner Mutter (und von niemand anderem sonst) beschreibt (ÜG, S. 44). 49  Sind wirklich »alle erdenklichen Arten von Spuren« gesammelt und z. T. vergraben wor­den, »damit eines Tages die Erde selbst ein archäologisches Zeugnis der Ge­scheh­­nisse geben würde« (Didi-Huberman, Bta, S. 19, 160)? Ist es nicht ein Ausdruck schierer Ver­z wei­felung, wenn man erwartete, der Erde Anmerkungen zu Kapitel III  |  277

die Auf­­gabe einer Zeugenschaft für desas­t röse Gewalt gleich­sam delegieren zu müssen, die doch nur Überlebende bzw. später Leben­de im Rah­men einer Lebensform übernehmen können, die ihnen ungeachtet aller mög­li­chen epistemi­schen Zweifel Glauben schenkt? Vgl. Michaels, Fugitive Pieces, wo es heißt: »in the holy ground of the mass graves, the earth blistered and spoke« − als ob es mög­lich wäre, »[that] truth speaks from the ground« (S. 143). Mir scheint, dass das Berliner Mahnmal für die ermordeten Juden ge­nau diese niemals mehr zur Ruhe kommende Unruhe der Erde als andauernde Heraus­ for­derung an das Zeugnis Ander­er in Szene gesetzt hat. 50  Die 1935 von H. Himmler, R. W. Darré und H. Wirth als Studiengesellschaft für Geistes­ur­ge­schich­te gegründete »Forschungsgemeinschaft Deutsches Ahnenerbe e. V.« war ein Teil der SS, deren primäre Aufgabe da­rin bestand, den Abstammungsmythos und die vermeint­liche Überlegenheit der sog. arischen Rasse zu legitimieren. Vgl. exemplarisch dazu D. Pio­t rows­ka, »Biskupin 1933‒1996: archaeology, politics and nationalism«, in: Archaeo­lo­gica Polo­nia 35/6 (1997/8), S. 255‒285; Michaels, FP, S. 104. 51  Vgl. R. Wohlfeil, »Das Bild als Geschichtsquelle«, in: Historische Zeitschrift 243 (1986), S. 91‒100. 52  Mit W. Benjamin redet der Autor zunächst einer mittels Bildern zu bewerkstelligenden Les­barkeit der Zeit das Wort, um dann aber dessen Bildlichkeit als eine intermittierende zu charakterisieren, die zweifeln lässt, ob das Bild selbst ganz gegenwärtig sein kann (ÜG, S. 77 f.; WB, S. 203). 53  Wo Didi-Huberman das Sehen als ein Lesen beschreibt und ihm überdies mehrfach eine dialektische Struktur attestiert, kommt er einer Hermeneutik der Erfahrung à la Gadamer nahe, von der sich Blanchots Schrift des Desasters entschieden abwendet, auf die sich Didi-Hu­berman gleichwohl mit fraglichem Recht affirmativ beruft. 54  Ich verstehe so die »Leidenschaft des Bildes« (Blanchot) oder vielmehr des Sehens. Aller­d ings ist frag­lich, ob man sie der Bildlichkeit des Bildes als solcher bzw. dem Sehen im All­ge­meinen zuschreiben kann (LR, S. 25). Wenn das geschieht, verliert man dann nicht die Spe­zifität einer vom Desaströsen heraus­ge­for­­der­ten Leidenschaft des Sehens (im doppelten Sinne des genitivus subjectivus und des g. objec­ti­vus) buchstäblich aus den Augen? 55  J. Rancière, »Über das Undarstellbare«, in: Politik der Bilder, Berlin 2005, S. 127‒159, hier: S. 127. 56  W. Benjamin, »Über den Begriff der Geschichte«, in: Illuminationen, Frankfurt/M. 21980, S. 251‒261, hier: S. 253. Zur Einbildungskraft (die »für Erhellung« sorge) vgl. ÜG, S. 56 f.; WB, S. 284. Hier bedient sich Didi-Huberman wie es scheint einer schlichten Aufklärungs­meta­phorik, obwohl er an anderer Stelle so nachdrücklich das Licht einer herrschenden Macht kri­t isiert hatte, das wie aus »mechanischen Augen« (Scheinwerfern) die Erde in ein »hölli­ sches Licht« taucht, dem sich schein­­bar nichts zu entziehen vermag (ÜG, S. 16, 20, 35, 80). Von welcher Art müsste dann das »Licht« jener gerade da278  |  Anmerkungen zu Kapitel III

gegen in  Stellung ge­brach­ten Ein­bil­dungskraft sein? Müsste es nicht ›erhellen‹, was sich diesem Licht der Macht entzieht? Wie aber sollte sich das zeigen können − wenn nicht kraft einer imaginatio, durch die das Bild über das Sichtbare hinaus zu denken gibt? So, meine ich, spricht Didi-Huberman selbst (wiederum mit W. Benjamin) von einem »Denkbild« (WB, S. 276), das nur so, als über sich hinausweisend zu denken Gebendes, auch ›zeigen‹ kann, was niemals im po­si­t iv Sichtbaren aufgeht. Daraus sollte man aber keinen abstrakten Gegensatz zwischen Se­hen und Zeigen kon­struieren (wie es G. Wajcman tut). Es geht darum, durch sehen zu zei­gen und auf diese Weise zu denken zu geben (Bta, S. 190, 197), ohne dass das derart zu­gäng­lich ge­machte Un­vor­stellbare auf diese Weise im Gedachten aufhebbar würde. Eben deshalb bleibt es unver­gess­ lich (Bta, S. 200) − und doch, gerade als solches, zugänglich. (Vgl. ebd., S. 188, wo der Autor von einem »Zugang zum Unzu­gänglichen« spricht und damit der Hus­serl’schen Bestimm­u ng des Fremden im Sinne einer »bewährbaren Zugänglichkeit des origi­nal Unzu­gäng­lich­en« nahe kommt [Husserliana I, Den Haag 1950, S. 144].) 57  Rühren sie auf diese Weise an »ein Reales« (Bta, S. 247) oder geradezu an »das Reale« im Sinne Jacques Lacans, wie es Blanchot nahe legt (SD, S. 247)? Wenn letzteres der Fall ist, stellt sich die Frage, wie man der Konsequenz entgehen kann, es jeglicher historiographischen Arbeit zu entziehen und es am Ende doch als schlechterdings Unvorstellbares zu hypostasieren. Mit Recht mahnt im Übrigen LaCapra an, sich nicht auf ein »endless returning to irreducible alterity, unsublatable negativity« zu beschränken, ohne die praktischen Folgen für künftige Ge­­schichte in Betracht zu ziehen. D. LaCapra, History and Memory after Auschwitz, Ithaka, Lon­­­don 1998, S. 194 ff. Für Blanchot geht es indessen gar nicht um ein returning to, sondern um eine pathologische Passivität, das Widerfahrnis einer Wiederkehr (returning of ). Wird das nicht gesehen, so wird auch das Unvorstellbare schließlich auf eine abhängige Variable no­to­rischer Geschichtspolitik verkürzt, die über das Ver­gangene und dessen geschichtliche In­ter­pretation vollkommen frei glaubt verfügen zu dürfen. 58   Insofern hat die dem Bild vielfach zugeschriebene mortifizierende Kraft gewiss nicht das letzte Wort. Vgl. Blanchot, LR, S. 267. 59  Vgl. WB, S. 213; ÜG, S. 63. Mit Recht zeigt Didi-Huberman hier, dass gerade Formen der Re-Montage, der Verfremdung, der Abdunkelung und der Verknappung von Bildern der Einbildungskraft auf die Sprünge helfen können. Allzu sehr baut er dabei freilich auf ein ein­faches Fortbestehen dessen, was Bilder vor Augen führen ­− was aber doch nur ein nach­­t räglicher, trauernder Blick zu realisieren vermag (WB, S. 206). Auch hier kann die Pa­rallele zur Archäologie leicht in die Irre führen. 60  Bta, S. 106, 111, 135 f., 154, 225. 61   Bta, S. 117, 234; vgl. SD, S. 52. 62  Bta, S. 145 ff., 74, 86. Deshalb vertrauen wir letztlich auch nicht den Bildern selbst (Bta, S. 230), sondern denjenigen, auf die sie zurückzuführen Anmerkungen zu Kapitel III  |  279

sind, und einem komplexen historio­g ra­­phischen Dispositiv, das sie so weit wie möglich angemessen geschichtlich kontextu­a li­siert. (Die Diskussionen um das Konzept der Ausstellung Ver­brechen der Wehrmacht. Dimen­sionen des Vernichtungskrieges 1941—1944 zeigte das exemplarisch.) Dabei hat die unabding­ba­re epistemologische Kritik der Bilder (als Zeugnisse, die auf Zeugen zurückgehen) aller­d ings nicht das letzte Wort, wenn die Bilder des Desas­ trö­sen ggf. in kommentierter Form wie­­­der Betrachtern zu sehen gegeben werden, die darauf an­gewiesen sind, dass sich ihnen zeigt, was nicht im positiv Sichtbaren aufgeht. 63  J.-P. Sartre, »Die Imagination«, in: Die Transzendenz des Ego. Philosophische Essays 1931‒1939, Reinbek 1982, S. 97‒254, hier: S. 242. 64  Bta, S. 163 ff., 179. So können Bilder gerade aufgrund ihres Ungenügens nach Worten ver­lan­gen (und umgekehrt), ohne dass aber je einfach Worte an die Stelle von Bildern oder Bil­der wieder an die Stelle von Worten treten können (ebd., S. 191). 65   R. Barthes, Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie, Frankfurt/M. 1989, S. 60‒70. 66  Bta, S. 15, 76, 95, 129, 131. 67  Vgl. Bta, S. 103, 134, 150. 68 R. Char, Hypnos. Aufzeichnungen aus dem Maquis (1943‒1944), Frankfurt/M. 1990, S. 31, Nr. 62; H. Arendt, Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken, München, Zürich 1994, S. 7, 17; Bta, S. 256. 69  Selbst wenn Zeugnis abgelegt wird für die Abwesenheit eines zureichenden Belegs, geht es stets da­r um, diese Folge zu vermeiden (vgl. B, S. 56 f., 63 f.) 70   Ungeachtet Blanchots Unbehagen angesichts eines gewissen »Geredes von der Existenz« (SD, S. 42). 71 Platon, Nomoi, 677e. 72  Vgl. Blanchot, Das Unzerstörbare, S. 184 ff. 73   Dabei handelt es sich allemal um ein Widerfahrnis, dem nach allem, was uns die überlie­ferte Zeugnisliteratur lehrt, überhaupt nichts Geschriebenes oder bildlich Repräsentiertes an­gemessen Rechnung tragen kann. Insofern sind Befunde wie der, von der desaströsen Zer­­­­­­störung des Menschlichen könne man sich »trotz allem« imaginativ »ein Bild machen« (nicht zuletzt dank erhalten gebliebener Bilder), ebenso stets unter Vorbehalt zu werten wie die Aussage, die intendierte Zerstörung habe »nie absolut« Erfolg gehabt, schließlich sei »der Mensch das Unzer­störbare« (ÜG, S. 76, 134 f.; Bta, S. 226 f.). 74  In der lesenswerten aktuellen Bilanz zahlreicher Spielarten einer solchen Hermeneutik, die Jonathan Judaken und Robert Bernasconi vorgelegt haben, bleibt leider gerade deren historisches Profil weitgehend unbelichtet. Das zeigt sich an den vielfach vage bleibenden Hinweisen auf Ereignisse wie den Ersten Weltkrieg oder auch Hiroschima und auf T. S. Eliots Waste Land, wo man angeblich die Welt beschrieben findet, in die sich der Existenzialismus des 280  |  Anmerkungen zu Kapitel III

20. Jahrhunderts im Anschluss an Kierke­gaard einschrieb. Vgl. J. Judaken, R. ­Bernasconi (Hg.), Situating Existentialism, New York 2012, S. 9. Am Rande wird hier auf »the ashes of the Holocaust still burning« und auf eine »desolated land­scape of postwar Europe« verwiesen (vgl. S. 108, 131, 405 f.). 75  W. Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, Frankfurt/M. 1978, S. 145. 76 Ebd. 77  Im Gegensatz zu Blanchots Rede vom Holocaust als einem »absoluten Ereignis« der Ge­schichte (SD, S. 64), von und nach dem es angeblich keine Erzählung mehr geben kann, wie Blan­chot in einem Postscriptum zu seiner Erzählung »Die Idylle« (1947) erklärt (Nachträg­lich, S. 85). Auch hier taucht das Motiv einer desaströsen »Nacht ohne Sterne« auf − und die Vor­stellung einer Gesellschaft wird zurückgewiesen, die vom Desaster nichts wissen will und in­so­fern zur Idylle verkommen muss (ebd., S. 83), aus der jede Spur der Verlassenheit getilgt wäre. Kapitel IV

S.  99 – 127

F. Pessoa, Das Buch der Unruhe, Frankfurt/M. 2006, S. 519. A. Huxley, »Knowledge and Understanding«, in: Collected Essays, New York 1960, S. 377‒399, hier: S. 388. 3  M. Blanchot, Der literarische Raum, Zürich 2012, S. 143 (=LR). 4  M. Heidegger, »Brief über den ›Humanismus‹«, in: Platons Lehre von der Wahrheit, Bern 1957, S. 53‒119, hier: S. 106. 5  Dieses Konzept taucht eher nebenbei auf in M. Blanchot, Henri Michaux ou le refus de l’enfer­me­ment, Paris 1999, S. 80, 96 f.; ders., Vergehen, Zürich 2011, S. 82, 127. Eine zentrale Rolle spielt es in der brillanten Aus­einandersetzung mit Dostojewskis Kirilloff in LR, S. 94 ff. Wie sehr es von einer Apologie des Un-Möglichen als einer nicht priva­t iv gedachten Herausforderung vom Anderen her unterwandert wird, machen Blanchots Ausführungen zu Levinas besonders deutlich. Vgl. M. Blanchot, Das Unzerstörbare, München, Wien 1991, S. 102 f., 119 (=DU); Die Schrift des Desasters, München 2005, S. 29 ff. (=SD). 6  Selbst dort nicht, wo sie unter dem Titel einer Un-Möglichkeit firmiert, die Blanchot als Heraus­forderung beschreibt, ihr gerecht zu werden − ggf. poetisch in einem Werk, das diesen Anspruch jedoch niemals adäquat ein­ zulösen versprechen kann, sondern die Einlösbarkeit stets aufs Neue von sich weist (LR, S. 143 f., 172 f., 207 ff., 236 f.). 7  Doch legen manche Stellen bei Blanchot diese Deutung tatsächlich nahe; vgl. seine Ausführung zum Schriftstellers, der im Exil zu Hause können sein soll. Aber setzt er sich nicht einem »nächtlichen Raum« aus, »wo niemand aufgenommen wird« und wo man »des wahrhaften Verbleibs beraubt« ist? (LR, S. 101, 246 f.) 8  Immer verbal verstanden, daher klein geschrieben. 1 

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Anmerkungen zu Kapitel IV  |  281

9 

Um einen zentralen Begriff von Levinas aufzugreifen, von dem Blanchot − trotz aller Wahl­ver­wandtschaft − allerdings gerade im Hinblick auf den Zusammenhang von Gleichgültigkeit, (Nicht-) Indifferenz und Neutralem unübersehbar abweicht. 10  H. Blumenberg, Beschreibung des Menschen, Frankfurt/M. 2006, S. 84. 11  Wie sie John Locke mit Blick auf die koloniale Expansion der europäischen Staaten auf Kosten noma­d ischer Ureinwohner mit dem Hinweis gerechtfertigt hatte, diese würden ihr Land nicht im eigentlichen Sinne besitzen, weil sie es nicht längerfristig umzäunten oder be­w irt­schaf­teten; vgl. G. Cavallar, »Kosmopolitismus in der Philosophie der britischen Aufklär­u ng«, in: M. Lutz-Bachmann, A. Niederberger, P. Schink (Hg.), Kosmopo­litanismus. Zur Geschich­te und Zukunft eines umstrittenen Ideals, Weilerswist 2010, S. 163‒89, hier: S. 167; M. Brock­er, Arbeit und Eigentum, Darmstadt 1992, S. 124 ff. 12  Vgl. J. Butler, G. C. Spivak, Sprache, Politik, Zugehörigkeit, Berlin 2007, S. 9‒35, sowie die aktuelle Bestandsaufnahme bei M. Schwartz, Ethnische »Säuberungen« in der Moderne. Globale Wechselwirkungen nationalistischer und rassistischer Gewaltpolitik im 19. und 20. Jahrhundert, München 2013. 13  Vgl. H. Arendt, Menschen in finsteren Zeiten, München, Zürich 2001, S. 303, 317. 14  C. Schmitt, Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum [1950], Berlin 31988. 15   W. Stegmaier, Nietzsches Befreiung der Philosophie, Berlin 2012, S. 542 ff., 552. 16  Symptomatisch dafür ist Bruce Chatwins Essay »Es ist eine nomadische NOMADENwelt«, in: Auf und davon nach Timbuktu, Frankfurt/M., Köln, Reinbek 2003, S. 75‒88. Hier wird ein unauslöschliches nomadisches Moment menschlichen Lebens evolutionär erklärt und dann mit der Pascal’schen Unruhe in Verbindung gebracht, die es nahezu unmöglich mache, es mit sich selbst länger als eine Stunde allein auszuhalten. 17   Vgl. C. Koch, »Im Diesseits des Kapitalismus«, in: Merkur 51, Nr. 9/10 (1997), S. 766. 18   Diogenes Laertius, Leben und Lehre der Philosophen, Stuttgart 1998, S. 276, 277. 19  G. Deleuze, F. Guattari, Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizo­ phrenie, Berlin 1992. 20  V. Flusser, Von der Freiheit der Migranten, o. O. 1994, S. 57 ff. Am Ende reduzieren wir uns schein­­­­­bar auf den Status »wohnender Tiere« (ebd., S. 65), denen aber offenbar zugetraut wird, ein höchst zeitgemäßes Leben in der Zer­ streuung führen zu können. Vgl. Vf., Für eine Kultur der Gast­­­lichkeit, Freiburg i. Br., München 2008, S. 112 ff. 21   Z. Bauman, »Wenn Menschen zu Abfall werden«, in: Die Zeit 47 (2005), S. 65 f.; C. Türcke, »Und die Zweite Welt zerfällt«, in: Die Zeit 18 (1992), S. 54.

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M. Hardt, A. Negri, Empire, Cambridge, London 2000, S. 362, wo von einer universal diaspora die Rede ist, in der sich einer city of aliens überantwortete Heimatlose zusammenfinden (S. 145, 207, 386). Doch fragen sich die Autoren, ob es möglich wäre, »[to make] the world a home again« − als eine »residency for everyone« (ebd., S. 400). Wie das damit zusammengehen soll, ein weitgehend deterritorialisiertes »life in the desert of sense« zu führen, erfahren wir hier nicht (ebd., S. 378, 380). 23  Vgl. P. Sloterdijk, Weltfremdheit, Frankfurt/M. 1993, S. 152 f., 244. Auch hier wird der Leser aufgefordert, »zu den Wahrheiten des nomadischen Lebens zurück« zu finden − in einem die Welt nur noch durchquerenden Leben. 24 Neil Ascherson hat in seinem brillanten Buch Schwarzes Meer, Frankfurt/M. 1998, gezeigt, wie sich die heutige Apologie eines neuen Nomadentums in diese weit zurückreichende Ge­schichte eines »Dis­kurses über das Anderssein« (F. Hartog) einfügt (S. 89 ff., 121 ff.). Von den Skythen, stellt Asch­er­son abschließend fest, sei »nichts geblieben außer ihren Gräbern und der Erinnerung ihres nomadischen ›Andersseins‹, die von Herodot und seinen Nachfolgern dem europäischen Bewusstsein unauslöschlich eingeschrieben wurde« (S. 331). Dabei bekennt sich der Autor selbst dazu, nur ein »ver­we­gener Skythe« gewesen sein zu wollen, »der mit leichtem Gepäck unterwegs war und nirgend­wo Wur­zeln schlug« − im Horizont einer quasi geologischen longue durée, die wie die Endmoräne eines Gletschers an der Schwarzmeerküste »über mehr als viertausend Jahre de[n] Schutt menschlicher Wanderungen und Invasionen abgelagert« hat (S. 433, 23)… 25  O. Spengler, Der Untergang des Abendlandes, München 172006, S. 664, 781; vgl. H. Plessner, »Wiedergeburt der Form im technischen Zeitalter« [1932], in: ders., Politik. Anthropologie. Philosophie. Aufsätze und Vorträge, München 2001, S. 71‒86; H. Lethen, Verhaltenslehren der Kälte. Lebens­versuche zwischen den Kriegen, Frank­furt/M. 1994, S. 144, 239 f.; M. Berman, All That is Solid Melts into Air. The Experience of Modernity, London 1998, S. 235. 26   UA, S. 1003, 1057, 1049. 27   Zum Weltbegriff vgl. UA, S. 211 f., 227. Nach dem Ende des Kosmos (ebd., S. 229, 101) sind wir die Zeit (S. 159), die Richtung nur noch in einer Staatsgeschichte gewinnen könne (S. 1173, 107, 127). 28  Vgl. zum Vorangegangenen UA, S. 383, 625, 637, 1035 ff. 29  Wie beliebt diese Metaphorik noch immer ist, ist aus K. E. Müller, Die fünfte Dimension. Soziale Raumzeit und Geschichtsverständnis in primordialen Kulturen, Göttingen 1999, zu ersehen. 30 Ich stütze mich im Folgenden mehrfach auf die schöne Studie von N. Berg, Luftmenschen. Zur Geschichte einer Metapher, Göttingen 2008 (=L), der sich bis hin zu Marc Chagalls Kunst und zu Paul Celans Todesfuge, wo von einem »Grab in den Lüften« die Rede ist, noch weit mehr Variationen des Themas entnehmen lassen, als im nächsten Abschnitt (3.) zur Sprache kommen können. 22 

Anmerkungen zu Kapitel IV  |  283

31 

Vgl. demgegenüber zu in der Wissenschaftsgeschichte vorherrschenden Vorstellungen eines unver­meidlich georteten und verwurzelten Lebens v. Vf., »Kul­turelle Le­­bens­­­formen – zwi­­­sch­en Wider­streit und Gewalt«, in: F. Jae­­ger, B. Liebsch (Hg.), Hand­­­buch der Kulturwissen­schaften, Bd. 1: Grund­­­­pro­ble­me und Schlüs­­­­­­selbe­g rif­f e, Stuttgart, Wei­mar 2004/22011, S. 190‒206. 32 Galuti fungierte in diesem Zusammenhang nicht selten als Schimpfwort; vgl. L, S. 148. 33  Vgl. L, S. 64; E. Levinas, Schwierige Freiheit. Versuch über das Judentum, Frankfurt/M. 1992, S. 36 (=SF). »Die Bäume wollen mich nichts lehren, wohl aber die Menschen in der Stadt«, heißt es bekanntlich bei Platon (Phaidros, 230 d). Was aber, wenn man die Menschen an ihren Orten und in ihren Städten wie in einem (politischen) Terrarium ›verwurzelt‹ denkt und sie insofern naturalisiert? Immer wieder fällt die Literatur, die diese Frage aufwirft, auf naive Gegensätze zurück, so als ob es genüge, in Bewegung zu bleiben, um dem »Gift der sesshaften Lebensweise« zu entgehen und statt dessen eine buchstäblich ›vorübergehende‹ Existenzweise zu kultivieren, die am Ende womöglich nur vor jeglichem ›Hier‹ flieht. Vgl. F. Gros, Unterwegs, München 2010, S. 31, 45. So wird auch die Abgeschiedenheit des Kynikers trivialisiert (ebd., S. 88, 118 f.). 34  M. Buber, Das Problem des Menschen, Heidelberg 51982, S. 33 – 35. 35  Das später vor allem mit dem Namen C. Schmitt verbundene Schlagwort von der »Ty­ran­nei der Werte« begegnet bei Buber schon im Jahre 1918 in einem Text über »Die Eroberung Pa­lästinas«, in: Politische Schriften, Frankfurt/M. 2010, S. 645 (=PS). 36  M. Buber, »Das Judentum und die Juden« [1923], in: PS, S. 246‒249, 258; ders., »Der Jude in der Welt« [1934], PS, S. 424. Vgl. in diesem Sinne Bubers Rede vom »natürlichen Ort des Vol­­kes«, wo sich das Sein verdichte, in: »Der Anfang der nationalen Idee« [1950], PS, S. 583, 587, sowie zu Moses Hess’ Rede über die Erde in: »Der zionistische Gedanke«, PS, S. 596. 37  Vgl. M. Buber, »Nationalismus«, in: PS, S. 510; ders., »Aus dem Zwiegespräch mit Karl Ludwig Schmidt im Jüdischen Lehrhaus in Stuttgart« [1933], PS, S. 687. 38   R. Weltsch, »Einleitung«, in: Buber, PS, S. 26. 39  Buber, »Nationalismus«, in: PS, S. 508. 40  Die gleiche Frage stellt sich auch für Franz Rosenzweig, der im Stern der Erlösung eine Brü­der­lich­keit propagiert, die »gar nicht Gleichheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt, sondern Einmütig­keit gerade von Menschen verschiedensten Antlitzes« implizieren soll. An anderer Stelle aber wird diese Idee von einer zer­streuten Blutsgemeinschaft her gedacht, die ihre Sehnsucht nach dem Verloren­en ins Unendliche wendet. Vgl. F. Rosenzweig Der Stern der Erlösung, Frankfurt/M. 51996, S. 333, 383. 41   Buber, »Zwiesprache«, in: ders., Das dialogische Prinzip, Heidelberg 1962, S. 137 – 196, hier: S. 142; ders., »Ich und Du«, ebd., S. 5 – 136, hier: S. 128. 42  Vgl. Buber, »Zwiesprache«, S. 143. 284  |  Anmerkungen zu Kapitel IV

Das dialogische Prinzip, S. 235. Buber, »Der Geist des Orients und das Judentum«, in: PS, S. 287 f. 45  Vgl. dazu Bubers Rede von uns »Orientalen und Europäern«, in: »Vor der Entscheidung«, in: PS, S. 651; sowie in der Einleitung, ebd. S. 42. 46  Buber, »Völker, Staaten und Zion«, in: PS, S. 488; »Der Geist des Orients«, PS, S. 291; »Das Judentum und die Juden«, ebd., S. 244. 47  Buber, »Ein Wort an die Juden und die Völker«, in: PS, S. 339 f., 304. 48  R. Weltsch, »Einleitung«, in: PS, S. 21; Buber, »Cheruth«, in: PS, S. 351. 49   Buber, »Ein Wort an die Juden«, in: PS, S. 332, 325, 329; »Aus dem Zwiegespräch«, in: PS, S. 687. 50  Vgl. M. Blanchot, Politische Schriften 1958‒1993, Berlin 2007, S. 158. 51  E. Levinas, Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, Freiburg i. Br., München 1987, S. 100. 52  E. Levinas, De Dieu qui vient à l’idée, Paris 1982, S. 211‒230. Dieser Text wird auf Deutsch und kooperativ kommentiert 2019 bei Alber vom Vf. neu herausgegeben. 53  Vgl. Vf., Menschliche Sensibilität. Inspiration und Überforderung, Weilerswist 2008, S. 209; Blan­chot, SD, S. 84. 54 Levinas, SF, S. 174; Totalität und Unendlichkeit, S. 56, 433; Wenn Gott ins Denken einfällt, Freiburg i. Br., München 21988, S. 157, 250. 55  Ob das, was vor allem der späte Heidegger zum Phänomen des Anspruchs und zum huma­num zu sa­­­gen hat, Levinas nicht gleichsam auf halbem Wege entgegenkommt, muss hier offen bleiben; vgl. M. Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit, S. 60, sowie J. Derrida, Die Schrift und die Differenz, Frankfurt/M. 1976, S. 221 f. 56   E. Levinas, Die Spur des Anderen, Freiburg i. Br., München 21987, S. 194; ders., Zwischen uns, Mün­chen, Wien 1995, S. 149. 57  Vgl. D. Diner, Weltordnungen, Frankfurt/M. 1993, S. 77‒164. 58  Vgl. J. Altwegg, Die langen Schatten von Vichy. Deutschland, Frankreich und die Rückkehr des Ver­drängten, München, Wien 1998, S. 127 ff., 167, 241; M. Blanchot, »Die Apokalypse denken«, in: J. Altwegg (Hg.), Die Heidegger-Kontroverse, Frankfurt/M. 1988, S. 94‒100. 59  Vgl. die Hinweise in M. Blanchot, Das Neutrale. Philosophische Schriften und Fragmente, Berlin 2010, S. 230. Es ist hier nicht der Ort, dem Verhältnis zwischen Levinas und Blanchot en détail nachzugehen (vgl. M. Blanchot, Politische Schriften 1958‒1993, S. 175 ff.; DU, S. 131 ff.); aber gewiss markiert der Begriff des Neutralen einen wichtigen Dissens­punkt (ebd., S. 174 zur Alterität, »die unter dem Namen des Neutralen steht«). 60   M. Blanchot, Der Gesang der Sirenen, Frankfurt/M. 1988, S. 119; vgl. A. Metzger, Der Einzelne und der Einsame, Pfullingen 1967, S. 76 f. 61   So weit wie nur möglich entfernt ist Blanchot hier von Heideggers Rede von der Sprache als »Haus des Seins« (SD, S. 136). Vielmehr denkt er ein »Versprechen des Wortes«, das nie­mals jenes radikale Außen los wird oder leugnen 43 Buber, 44 

Anmerkungen zu Kapitel IV  |  285

sollte, aus dem es stammt und zu dem es zurückkehrt (M. Blanchot, Das Tier von Lascaux/R. Char, Lascaux, Münster 1999, S. 33, 36 ff; Die wesentliche Einsamkeit, Berlin 1959, S. 37 f.). Und doch gilt ihm die Sprache bzw. die Dichtung als »Aufenthalt par excellence« (M. Blanchot, »Der Wahnsinn par excellence«, in: K. Jas­­pers, Strindbergh und van Gogh. Versuch einer vergleichenden psychopathologischen Analyse, Ber­lin 1998, S. 7‒33, hier: S. 27; Der Gesang der Sirenen, S. 322). Zweifellos geht es hier also nicht um die Apologie einer vermeintlich nomadischen »Aufenthaltslosigkeit«, sondern darum, wie der Aufenthalt als ein vor allem sprachlich, in den Modi von Anspruch und Erwiderung, Anrede und Hören auf den Anderen gastlich eingeräumter zu denken ist. 62 Blanchot, Der Gesang der Sirenen, S. 111. 63  Ebd., S. 113. 64  Vgl. in diesem schlichten Sinne den Gegensatz Wüste/Sand vs. Wald und Sumpf (N. Sombart), der an einen alternativen Silvanismus denken lässt, in L, S. 123. 65   Und zwar angesichts einer Fremdheit, die, wie Imre Kertész mit George Tabori schreibt, »unvermeidbar« ist − »denn ob wir zu Hause bleiben oder ob wir in die Welt hinausziehen − früher oder später müssen wir unsere Heimatlosigkeit in dieser uns gegebenen Welt erkennen«. Davon ausgehend kommt der Autor zum Konzept einer »exilierten Sprache«, die allerdings mal ahistorisch, existenziell und religiös, mal geschichtlich, im Lichte einer »negativen Erfahrung« beschrieben wird, deren Sagbarkeit radikal in Zweifel gezogen worden ist. Das soll sich in einer »geistigen Lebensform« zeigen, »die auf der Erfahrung des Negativen basiert«. Wie darauf aufbauend ein »Werte schaffende[s …] positives Tun« möglich werden soll, das der negativistisch akzentuierten (Blanchot sehr nahe kommenden) »Unmöglichkeit« gerecht werden müsste, vom Negativen angemessen Rechenschaft abzulegen, bleibt dahingestellt. Vgl. I. Kertész, Die exilierte Sprache, Frankfurt/M. 2004, S. 144 f., 217 f., 241. 66   E. Levinas, Eigennamen, München, Wien 1988, S. 37 ff. 67   Die sich gewiss nicht in jener räumlich gedachten Exterritorialität erschöpft, insofern es hier um ein Jenseits-des-Seins geht, das sich ausgehend vom Sein abzeichnet. 68  Wodurch die Rede von Erinnerung jedenfalls dann vollends fragwürdig werden muss, wenn wir sie mit Hegel als Modus der Aufhebung jeglicher Vergangenheit par excellence verstehen wollen. Ebd., S. 38. Diesem Modus setzt Blanchot in seinen sprachkritischen Meditationen eine »nomadische Affirmation« entgegen, die besagt, jede »Wiederholung« von Vergangenem und jegliche »Wiederkehr« eines Sinns müsse unvermeidlich den Exodus von neuem einsetzen lassen. Vgl. M. Blanchot, Vergehen, S. 39. 69   Vgl. M. Blanchot, Von Kafka zu Kafka, Frankfurt/M. 1993, S. 35, 148. 70  Vgl. S. Critchley, »Verantwortung als Responsivität: Die Hand von Levinas im Feuer von Blan­chot«, in: M. Fischer, H.-D. Gondek, B. Liebsch (Hg.), 286  |  Anmerkungen zu Kapitel IV

Vernunft im Zeichen des Fremden. Zur Philosophie von Bernhard Wal­denfels, Frankfurt/M. 2001, S. 46‒63. 71  DU, S. 191. Wobei es hier nicht um Ontologie oder Psychologie gehe, wie Blanchot im Nachhinein in einem kurzen Text klarstellt, der genau diesen Titel trägt, in: M. Blanchot, Nachträglich, Berlin 2012, S. 73‒86, hier: S. 81. 72  Muss man Apologeten eines new nomadism wirklich daran erinnern, dass hier keine Ortsbewegung (ob als Reisen, Wandern oder als nomadisches Umherziehen) gemeint sein kann, die am Ende nur dazu führt, dass man immerfort sein eigenes Selbst mit sich schleppt? 73  Vgl. B. Waldenfels, Hyperphänomene. Modi hyperbolischer Erfahrung, Berlin 2012. 74  Wobei Blanchot erstaunlicherweise keine Anführungszeichen verwendet. Aber geht es ihm nicht darum, mit Blick auf Levinas Spuren einer Exteriorität nachzugehen, von der am Ende jeder gezeichnet sein müsste und die an keinerlei spezielle religiöse oder gar konfessionelle Voraussetzungen gebunden zu denken ist? In diesem Sinne, meine ich, heißt es in Die uneingestehbare Gemeinschaft, Levinas habe die Ethik (bzw. von woher das Ethische als Herausforderung zu denken ist) »für uns entdeckt« (S. 76; vgl. Politische Schriften 1958‒1993, S. 178). 75  Man fragt sich hier, ob ein solcher Akt nicht genauso vergeblich sein muss wie der forcierte Versuch, aus sich einen Anderen zu machen, wogegen sich Blanchots Kritik richtet in L’amitié, Paris 1971, S. 240 ff. 76  Ich lasse dahingestellt, ob man dieses Bedürfnis derart zurückweisen kann. Lässt es sich nicht mit einem gleichsam provisorischen, sich befristet wissenden und gastlich aufgeschlossenen Aufenthalt zusammen denken? 77   Zur Frage, wie sich eine Gastlichkeit, die unbedingt dem Anspruch jedes Anderen auf Auf­nahme verpflichtet ist, ohne im Geringsten sich auf Besitz, Ort, Grund und Boden zu stützen, mit der Wahrung der territorialen Integrität eines politischen Gemeinwesens vereinbaren lässt, das nicht zuletzt in seiner rechtlichen Verfassung diesem Anspruch gerecht zu werden versucht, vgl. Vf., Für eine Kultur der Gastlichkeit, Kap. III, V, VI. 78   Zur Rekurrenz, die sich in einer systolisch-diastolischen Zwischenzeit ereigne, welche »das Ein­­­atmen vom Ausatmen trennt«, vgl. E. Levinas, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Freiburg i. Br., München 1992, S. 240 ff. (Das ist nun gerade nicht das »Modell Hegels«; Blanchot, Vergehen, S. 43.) 79  J.-L. Nancy, singulär plural sein, Berlin 2004, S. 106, 110, 112. In einem anderen Zusammenhang taucht dieses Konzept auch bei Blanchot auf (L’amitié, S. 242). Hier geht es um fragwürdige Versuche, der eigenen Identität einfach zu entkommen oder sie zu leugnen. Gewiss wäre das keine Lösung für einen des-identifizierenden Umgang mit einer Rhetorik der Gastlichkeit, die sie für sich in Anspruch zu nehmen vermeiden muss. 80  Dass diese ›Erinnerung‹ nicht den Sinn eines schlichten Besinnens auf etwas haben kann, das bereits vorliegt, zeigt Blanchots Auseinandersetzung Anmerkungen zu Kapitel IV  |  287

mit Albert Camus’ Vision eines indifferenten oder gleich­­gültigen Lebens sans appel (in: Faux pas, Paris 1987, S. 69, 249 ff.), das selbst unsere Sensibilität gewissermaßen lähmen kann, so dass wir letztere als für den Anspruch des Anderen aufgeschlossene keineswegs einfach voraussetzen können. 81  Vgl. LR, S. 140. Ich nehme hier en passant auf die wichtige Unterscheidung von Welt und Erde Bezug, die Hannah Arendt getroffen hat, wohl wissend, dass es ein Desiderat ist, dieser Unterscheidung heute angemessen Rechnung zu tragen; vgl. J.-L. Nancy, Die Erschaffung der Welt oder Die Globalisierung, Zürich, Berlin 2003, der die Geschichte der Welt-Fremdheit vielleicht doch zu sehr in einem »Grund zum da (in dieser Welt) [zu] sein« verschwinden lässt (ebd., S. 30). Andererseits sieht Nancy ein heideggersches Ethos des Aufenthalts im Sein unterwandert von einer Verlassenheit (abandon), die ungerechten Produktionsverhältnissen zu verdanken ist (ebd., S. 45). 82  So mag sich erklären, wie Blanchots Schriften überall dort, wo er auf das Wohnen zu sprechen kommt, eine Art Auskehr und gerade keine Apologie des Bei-sich-Seins betreiben; etwa in Warten Ver­gessen, Frankfurt/M. 1964, S. 11‒15. 83  Vgl. S. Volkov, Das jüdische Projekt der Moderne, München 2001, S. 89, 95. 84  Vgl. M. Blanchot, Die uneingestehbare Gemeinschaft, Berlin 2007, S. 71 f. 85  R. Antelme, Das Menschengeschlecht. Als Deportierter in Deutschland, München 1990, S. 12. 86  R. Barthes, »Zuhören«; in: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III, Frankfurt/M. 1990, S. 249‒263, hier: S. 255. 87  S. Kofman, Erstickte Worte, Wien 1988, S. 52. 88   Mit dieser Aufgabenstellung sind wir gleich weit entfernt von Positionen, die wir heute nicht mehr teilen können: Von einer Position, die den Einzelnen im Politischen aufgehen lässt, einerseits; und von einer Position, die ihn erst jenseits des Politischen zu seinem Recht kommen lässt. Vgl. P. Ri­cœur, der in seinem Essay »Das politische Paradox« (in: Geschichte und Wahrheit, München 1977, 248‒279, hier: 251 f.) schrieb, das Individuum werde »mensch­lich nur in der Totalität […], welche die ›Universalität‹ der Bürger ist«, und zwar in der Form des »Staatsbürgertums«; sowie die These Nietzsches andererseits, da wo der Staat auf­h öre, beginne »erst der Mensch, der nicht überflüssig ist« (M.  Riedel, Zeitkehre in Deutschland, Berlin 1991, S. 134). Mit Blick auf den Anderen wäre mit Miguel Abensour zu fragen, ob es vorstellbar ist, dass man Gastlichkeit und Staatlichkeit zusammen denkt, ohne Erstere in letzterer aufgehen zu lassen. Von ferne erinnert diese Problemstellung an die von H. Cohen über M. Buber bis hin zu E. Levinas strittige Relationierung von Ethik und Staat. Vgl. M. Abensour, Demokratie gegen den Staat, Berlin 2012. 89   Vgl. Riedel, Zeitkehre, S. 211, 214, wo das Eigene gleich als das »Land der Väter« zum Vor­schein kommt. An anderer Stelle beruft sich der Autor auf M. Gorbatschows Idee vom »europäischen Haus«, die J. Greisch schlicht 288  |  Anmerkungen zu Kapitel IV

als Geschwätz (ba­var­dage) abtut (in: »Europa weiterdenken«, in: P. Koslowski [Hg.], Europa imaginieren, Berlin, Hei­delberg, New York 1992, S. 393‒411). Ob demgegenüber die Erinnerung an einen Hermes weiterhilft, der einer häuslich­en, ihrerseits bereits gastlichen Hestia als Offenheit für das Fremde entgegengesetzt wird, blei­be dahingestellt (vgl. J. Greisch, Hermeneutik und Meta­physik, München 1993, S. 35, 47 f., 65). Man sieht, wie kontrovers die Ideen einer so ger­ne Eu­ropa zugeschriebenen Of­fenheit und Aufgeschlossenheit gedeutet werden. Wie üblich streitet man sich bis zu ei­nem Punkt, wo es fast unvorstellbar wird, mit den Kontrahenten jenes Haus bewohnen zu sollen. Doch nicht darauf, wer wem am Ende die Tür weist, kommt es hier an. Vielmehr geht es um eine (nicht zuletzt rhetorische) Unverfügbarkeit der Gastlichkeit, die jene ›nomadische Wahr­heit‹ jedem, gerade auch dem Unbekannten und Fremden entgegen­zubringen verlangt. Dass man in diesem Sinne im Übrigen selbst auf gastliche Aufnahme angewiesen sein könnte, kommt den meisten Kon­t rahenten offenbar nicht in den Sinn. Allzu selbstbewusst denkt man ›von Europa aus‹, nicht von einer Her­aus­forderung zur Gast­lichkeit her, über die es niemals verfügen kann, schon gar nicht, nachdem es sich als ein derart ungastlicher Kontinent erwiesen hat. 90  M. Riedel, Tradition und Utopie. Ernst Blochs Philosophie im Licht unserer geschichtlichen Denk­er­fahrung, Frankfurt/M. 1994, S. 36 (vgl. S. 18 und 35 zur Kategorie der »Nachfahren«, die nicht einfach Erben oder Nach­kommen sein können); vgl. Vf., »Die (gebrochenen) Versprechen der Mo­der­ne und die Zukunft der Geschichte. Zur Geschichtsphilosophie Ricœurs − im Rückblick auf Kant«, in: Allgemeine Zeit­schrift für Philo­sophie 38, Nr. 3 (2013), Schwerpunkt: Paul Ricœur (1913‒2005), S. 299‒320. 91   Vgl. zu diesem Motiv die Beiträge in W. Stegmaier (Hg.), Die philosophische Aktualität der jüdi­schen Tradi­tion, Frankfurt/M. 2000; B. Keintzel, B. Liebsch (Hg.), Hegel und Levinas. Kreu­zun­gen – Brüche – Über­schreitungen, Freiburg i. Br., Mün­chen 2010. 92   Das gilt, scheint mir, besonders für Blanchots Schrift des Desasters als einer kryptischen Schrift paradoxer Erinnerung an eine unaufhebbare Anderheit und deren bezeugte Verletzung. Überleitung

S.  128 – 133

1 

In dieser (zweiten) Frage liegt ein subtiler, in der Sache aber nicht unwichtiger Unterschied. Von ›europäischer‹ Gastlichkeit zu sprechen, könnte den Schluss nahelegen, sie sei ihm eigen, Europa vorbehalten und womöglich eine Art Auszeichnung. In der anti-identitären Ausrichtung, die ich dem Begriff gebe, ist genau das aber nicht gemeint. 2  Vf., Gastlichkeit und Freiheit. Polemische Konturen europäischer Kultur, Weilerswist 2005, Kap. III.

Anmerkungen zur Überleitung  |  289

3 

Zum historischen Kontext vgl. G. Buck, »Selbsterhaltung und Historizität«, in: H. Ebeling (Hg.), Sub­jektivität und Selbsterhaltung. Beiträge zur Diagnose der Moderne, Frankfurt/M. 1976, S. 208‒302. 4   Die nachfolgenden Ausführungen überschneiden sich teilweise mit einer früheren Replik auf einen Essay Étienne Balibars in Zeit Online; https://www. zeit.de/kul­tur/2018-10/fluechtlinge-gastfreund­schaft-identitaere-philosophieessay?page=13#comments 5 É. Balibar, »Pour un droit international de l‘hospitalité«; https:// www.lemonde.fr/idees/artic­le/2018/08/16/e­t i­e nne-balibar-pour-un-droitinternational-de-l-hospitalite_5342881_3232.html. 6  I. Kant, »Über Pädagogik«, in: Werkausgabe Bd. XII (Hg. W. Weischedel), Frankfurt/M. 1977, S. 691‒761, hier: S. 728. 7  Siehe dazu das Kap. I, 3 in diesem Band. Kapitel V

S.  137 – 156

W. Shakespeare, Die Fremden, München 2016, S. 29. J. W. Goethe, West-östlicher Diwan, Frankfurt/M. 1988, S. 169. 3  Siehe dazu die Nachweise am Ende dieses Bandes. 4  Dürfte sich etwa jemand herausnehmen, jene Einladungsformel in den Plural zu setzen? Dann lautete sie: »Kommt, seid unsere Gäste!« Wer auch immer das im Namen Anderer sagen dürfte, und an wen auch immer gerichtet, ohne weiteres leuchtet ein, welche Probleme in einer ›Politisierung‹ dieser Formel liegen. Auf diese Probleme ist hier nur en passant hinzuweisen. 5  Vgl. zu diesem Begriff J.-L. Nancy, Die Erschaffung der Welt oder Die Globalisierung, Berlin 2003; Vf., Unaufhebbare Gewalt. Umrisse einer AntiGeschichte des Politischen. Leipziger Vorlesungen zur Politischen The­orie und Sozialphilosophie, Weilerswist 2015, S. 388, 390, 403. 6  J.-L. Marion, Das Erotische. Ein Phänomen, Freiburg i. Br., München 2011, S. 173. 7   Vgl. Vf., In der Zwischenzeit. Spielräume menschlicher Generativität, Zug 2016, Kap. VI und VII. 8  L. Irigaray, Welt teilen, Freiburg i. Br., München 2010, S. 12. 9  Diese Zukunft betrifft nicht zuletzt auch die der ›Emanzipation‹ von jeglicher familialer Lebensform im Horizont einer bürgerlichen Gesellschaft sowie der für sie geltenden Rechte und öffnet sich schließ­­lich, als unvermeidlich endliche, auf ein Jenseits-des-Todes, wie es in der Gastlichkeit späterer Erinnerung an das Leben Vorangegangener bezeugt wird. 10  Zu diesem problematischen Adverb, das hier einen starken Begriff der Alterität anzeigt, vgl. P. Ri­cœur, Anders. Eine Lektüre von Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht von Emmanuel Levinas, Wien, Berlin 2015. 11  F. Jacob, Die Maus, die Fliege und der Mensch. Über die moderne Genforschung, Berlin 1998, S. 136. 1  2 

290  |  Anmerkungen zu Kapitel V

12  Von

dieser Gastlichkeit erfährt man am allerwenigsten dort, wo man sich viel auf den Empfang, die Bewirtung und Beherbergung von Gästen zugute hält, um daraus womöglich symbolisches, institutionelles und pekuniäres Kapital zu schlagen, ohne sich auch nur zu fragen, ob die Gastlichkeit überhaupt ›ökonomisierbar‹ und ›institutionalisierbar‹ ist. (Vgl. M. T. Cicero, De officiis. Vom pflicht­­­gemäßen Handeln [lat./dt.], Stuttgart 2003, S. 199 ff., sowie als sonderbares aktuelles Beispiel die Gefälligkeitsschrift von W. Maser, Sei willkommen, Fremder, Stuttgart 1989, die ein Historiker einem Hotelier hat zukommen lassen. Sie bringt jegliche Fremde unter der Selbstdarstellung zum Verschwin­den, die sich immer wieder prominenter Gäste brüstet.) Umgekehrt führt die Erwartung, die Rede von Gästen zeige das Vorliegen von Gastlichkeit an, vielfach in die Irre. Man sollte sich m. E. hüten, die »Gastlichkeit als Herausforderung« (um jenen Tagungstitel noch einmal aufzunehmen) allzu sehr an die Seman­t ik des Gastes zu knüpfen. Die Phänomenologie der Gastlichkeit, soweit sie bislang vorliegt, führt auf eine geradezu entgegen gesetzte Spur: auf die Spur einer Gastlichkeit nämlich, die sich gerade nicht im Bewusstsein der Einladung von ›Gästen‹ selbst belohnt und dort am ehesten praktiziert wird, wo am allerwenigsten von ihr die Rede ist ­(das hat die ganze Problematik der Gastlichkeit mit derjenigen der ›Gabe‹ scheinbar gemeinsam) ‒ im Gegensatz zu Umgangsformen mit ›Gästen‹, die für eine Bleibe einen hohen Preis bezahlen müssen und jegliche Gastlichkeit vermissen müssen, wenn sie dazu nicht in der Lage sind. 13  Von neueren sog. »Reproduktionstechnologien« sehe ich hier ebenso ab wie von der Frage nicht-leiblicher Verwandtschaft. An anderer Stelle habe ich argumentiert, dass gerade nicht letztere, sondern die Gastlichkeit des Empfangs dasjenige ausmacht, was man als menschliche Fruchtbarkeit (fé­condité bei Levinas) bezeichnet hat. 14  E. Levinas, Totalität und Un­e nd­lichkeit. Versuch über die Exteriorität, Freiburg i. Br., München 1987, S. 238. 15   B. Groethuysen, Unter den Brücken der Metaphysik. Mythen und Portraits, Stuttgart 1968, S. 19‒28. Bei Rilke »nächtigt« auch die Unvergänglichkeit als dasjenige, was ›bleiben‹ sollte bzw. in dem man sollte ›bleiben‹ können, »im wilden Herzen« »obdachlos«; R. M. Rilke, Die Gedichte, Frankfurt/M., Leipzig 1998, S. 909. Erinnert zu werden scheint so gesehen die einzige Form des Bleibens in der Welt zu sein; vgl. H. Blumenberg, Lebenszeit und Weltzeit, Frankfurt/M. 21986, S. 309. 16  Vf., »Im Vorübergehen. Tod(e) und Bild(er): Diachronie des Anderen und Regimes des Sicht­bar­en, in«: P. Stoellger, J. Wolff (Hg.), Bild und Tod. Bd. II. Zu einer Grundfrage der Bildanthropo­lo­gie, Tübingen 2016, S. 665‒696. 17 Groethuysen, Unter den Brücken der Metaphysik, S. 24. 18   I. Kant, »Über Pädagogik«, in: Werkausgabe Bd. XII (Hg. W. Weischedel), Frankfurt/M. 1977, S. 691‒761, hier: S. 728.

Anmerkungen zu Kapitel V  |  291

den aktuellen Schwerpunkt des Journals Phänomenologie (2017) zum Thema Flucht. 20  In dieser Perspektive bin ich nicht davon überzeugt, dass die Problematiken der Gastlichkeit und der aktuellen sog. Flüchtlingskrise gar nichts miteinander zu tun hätten. Es hat nur den Anschein, wenn man Erstere auf den ›Empfang‹ von willkommenen Gästen verkürzt und in letzterer nur ein »Integrationsproblem« im Hinblick auf Fremde erkennt. Wer Gastlichkeit und Integration derart verschiedenen Typen sozialer Situationen zuordnet, verspielt von vornherein die Chance, deren radikale gemeinsame Wurzel zu erkennen, die in unserem Angewiesensein auf einen ›Empfang‹ liegt, der unsere Weltzugehörigkeit originär verbürgt, aber stets mehr oder weniger prekär bleibt, bis dahin, dass letztere sogar widerrufen werden kann. Dass sich abgesehen davon unterschiedliche typische Situationen des Empfangs differenzieren lassen, die empirisch weit auseinander zu liegen scheinen, bleibt trotzdem richtig. 21  Man sollte meinen, das sei eine unvergessene europäische Erfahrung. Vgl. dazu den einschlägigen Bericht von Stefan Zweig, Die Welt von gestern. Erinnerungen eines Europäers [1942], Köln 2013, S. 481, 561. 22  G. Steiner, In Blaubarts Burg. Anmerkungen zur Neudefinition der Kultur, Frankfurt/M. 1972, S. 151. 23  Siehe Kap. I, 5 in diesem Band, Anm. 52. 24  Nach aktuellen Erkenntnissen haben allein die Amerikaner während des sog. Kalten Krieges mindestens 32 Atombomben ›verloren‹; vielfach wegen fehlerhafter Befestigung an strategischen Bom­­bern, die sie zu Übungszwecken und routinemäßig an Bord hatten. Dass keine einzige dieser Bomben explodiert ist und ganze Regionen auf lange Zeit hin unbewohnbar gemacht hat, grenzt an ein Wunder. 25  Oder auch: »wir haben getan, was zu tun war«; »wir haben nichts Besonderes, nichts Aussergewöhn­­liches gemacht«. Vgl. zum historischen Kontext V. v. Wroblewski, »Orte solidarischer Gastfreundschaft«, in: B. Liebsch, M. Staudigl, P. Stoellger (Hg.), Perspektiven europäischer Gastlichkeit. Geschichte ‒ Kulturelle Praktiken ‒ Kritik, Weilerswist 2016, S. 273‒297; http://www.zeit.de/2015/07/ fluecht­­linge-frankreich-ueberleben-national­so­zi­a ­lismus-vi­chy-re­gime/sei­te-2; https://www.journal21.ch/dieulefit-die-kleinstadt-die-juden-rettete 26  Allerdings hat die wortlose Selbstverständlichkeit gastlicher Lebenspraxis ‒ man könnte sagen: ihr Inkognito ‒­ auch ihre philosophischen Gründe, die in den Aporien liegen, in die sich ihr verbaler Ausdruck ebenso wie jegliche ›Demonstration‹ gastlichen Verhaltens unvermeidlich (auch sich selbst gegenüber) verstrickt, wenn Derrida in diesem Punkt recht hat. Das kann an dieser Stelle nicht vertieft werden; vgl. J. Derrida, »Hostipitality«, in: G. Anidjar (Hg.), Jacques Derrida: Acts of Religion, New York, London 2002, S. 356‒420, hier: S. 398. 27  Hier sehe ich eine gewisse Parallele zur von Hans Jonas beschriebenen »archetypischen Evidenz« der Verantwortung, die angesichts des Neugebore19  Vgl.

292  |  Anmerkungen zu Kapitel V

nen s. E. sinngemäß besagt: »sieh hin und du weißt«, dass du angesichts des Anderen Verantwortung trägst ‒ eine dem Anspruch des Anderen ›immer schon‹ und stets ›zu spät‹ antwortende Verantwortung, aus der allerdings nicht eindeutig hervorgeht, was sie zu tun verlangt. Das bleibt allemal eine Angelegenheit ›eigener‹ Verantwortung. Vgl. H. Jonas, Das Prinzip Verantwortung, Frankfurt/M. 31982, S. 235, 240 f. 28  Vgl. H. C. Peyer, Von der Gastfreundschaft zum Gasthaus. Studien zur Gastlichkeit im Mittelalter, Hannover 1987, S. 17, 61, 116, 146, 278 ff.; Vf., Für eine Kultur der Gastlichkeit, Freiburg i. Br., München 2008, Kap. II. 29  Von einer Differenzierung des Ökonomiebegriffs, die an dieser Stelle zweifellos angezeigt wäre, muss ich im verfügbaren Rahmen absehen; vgl. B.  Priddat, »Gäste ‒ ökonomisch. Über Geben und Nehmen«, in: Liebsch, Staudigl, Stoellger (Hg.), Perspektiven europäischer Gastlichkeit, S. 249‒269. 30  Diese Unterscheidung ist allerdings ganz provisorisch und hat gewissermaßen lediglich pädagogischen Charakter, denn es ist anzunehmen, dass sich ›radikale‹ Gastlichkeit überhaupt nicht an ›Demarkationslinien‹ zwischen ›Bereichen‹ verschiedenartiger Formen praktizierter Gastlichkeit hält. 31  Kant, »Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf«, in: Werkausgabe Bd. XI, S. 191‒251, hier: S. 213 f. 32  Ausführlicher dazu: Vf., Zeit-Gewalt und Gewalt-Zeit. Dimensionen verfehlter Gegenwart in phänomenologischen, politischen und historischen Perspektiven, Zug 2017, Kap. V. 33  A. Cassee, Globale Bewegungsfreiheit. Ein philosophisches Plädoyer für offene Grenzen, Berlin 2016. 34  Vgl. A. Cassee, A. Goppel (Hg.), Migration und Ethik, Münster 2012, S. 87, 185, 216. 35  Nach aktuellen Berichten des Bundesinnenministeriums gab es im Jahre 2016 über 3500 aktenkundig gewordene Gewalttaten gegen Flüchtlinge und Migranten mit über 500 mehr oder weniger schwer Verletzten. http://www. handelsblatt.com/politik/deutschland/rechte-gewalt-mehr-als-3500-an­g riffeauf-fluecht ­linge-/19443768.html?nlayer=Organisation_11804700 36   Cassee, Goppel (Hg.), Migration und Ethik, S. 237. 37  Ebd., S. 238. 38  Siehe die entsprechende Erwartung, die Karl Löwith formuliert: »Als ein Fremdling kann und muß sich der Mensch« ‒ bzw. jemand mit Hilfe Anderer ‒ »in die Welt wie in etwas Anderes und Fremdes einhausen, um im Anderssein bei sich selbst sein zu können«. So soll es möglich sein, nicht nur »allem, was ist, näher [zu] kommen«, sondern auch das »schon Vertraute als ein Befremdliches an­[zu]­eignen«; K. Löwith, »Natur und Humanität des Menschen«, in: ders., Sämtliche Schriften, Bd. 1, Stuttgart 1981, S. 259‒294, hier: S. 285. 39   Allerdings sollte man sich vor einer Mystifikation ›des‹ Fremden hüten. Praktische Erfahrung beweist vielfach, dass die Probleme der Aufnahme

Anmerkungen zu Kapitel V  |  293

durch die oft zitierten ›kleinen Differenzen‹ und Unverträglichkeiten unlösbar zu werden drohen. 40  Es kann, angesichts einer verbreiteten naiven Apologie des Fremden, nicht oft genug darauf hingewiesen werden, dass es per se nichts ›Gutes‹ ist und nicht ohne weiteres in die normative Position um­zumünzen ist, es sei unter allen Umständen zu achten, zu respektieren, anzuerkennen usw. Ohne weiteres lassen sich in vielfältigen Fremdheitserfahrungen solche ausmachen, die ›bereichern‹ und uns gefährden, die uns öffnen auf Andere hin und die uns tragisch isolieren, usw. 41  Den an dieser Stelle entscheidenden Gegensatz zwischen Selbigkeit (oder Idem-Identität) und Selbst­­heit (Ipseität) kennt scheinbar ein Autor wie Herrmann Lübbe gar nicht; vgl. H. Lübbe, »Über die Identitätspräsentationsfunktion der Historie«, in: O. Marquard, K. Stierle (Hg.), Identität, München 1979, S. 277‒292; P. Ricœur, Das Selbst als ein Anderer, München 1996. 42  Bezeichnenderweise im Deutschen nicht selten als Drohung gebraucht: »Du wirst mich kennen lernen.« Als ob es nichts Schlimmeres gäbe. 43  Vgl. zu diesem Begriff K. Busch, I. Där­mann (Hg.), »Pathos«. Konturen eines kulturwissenschaftlichen Grund­begriffs, Biele­feld 2007; Vf., Verletztes Leben. Studien zur Affirmation von Schmerz und Gewalt im gegenwärtigen Denken. Zwischen Hegel, Nietzsche, Bataille, Blanchot, Levinas, Ricœur und Butler, Zug 2014. 44   Vgl. dazu B. Waldenfels, Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie des Frem­den 1, Frankfurt/M. 1997. 45  Vgl. die Zeitschrift pogrom 36 (2005), Nr. 6. »Nomaden ringen ums Überleben«, wo darauf schon lange vor der aktuellen Zuspitzung der sog. Flüchtlingskrise hingewiesen wurde. 46  In dieser Perspektive gibt es auch jene primäre, aufgrund ihres Widerfahrnischarakters zunächst als ›unumgänglich‹ eingestufte Gastlichkeit nicht gänzlich ungefährdet bzw. ganz und gar unabhängig da­von, wie wir uns zu ihr verhalten. Ob sie quasi von sich aus bereits einschließt, sie auch zu bejahen, wie es Derrida suggeriert, wäre ebenso eigens zu klären wie seine Rede von »Gesetzen« der Gastfreundschaft, die man, zumindest in ethnografischer Perspektive, die Derrida mit seinem zweifellos jüdisch inspirierten Gesetzesbegriff allerdings gar nicht einzunehmen scheint, kaum mehr als allgemeinverbindliche voraussetzen kann. Vgl. P. Klossowski, Die Gesetze der Gastfreundschaft, Berlin 2002, S. 390. 47  Das gilt am Ende, im Gegensatz zur Erde mit ihrem Umkreis (orbis terrarum), auch für die Welt als Oikumene; vgl. K. Löwith, »Welt und Menschenwelt«, in: Sämtliche Schriften, Bd. 1, S. 295‒328, hier: S. 305. Löwiths »natürlichem« Weltbegriff folge ich allerdings nicht. 48   Vgl. dazu das Clandestino-Forschungsprojekt Size and development of irregular migration to the EU unter dem Ti­tel: Counting the Uncountable: Data and Trends across Europe; http://irregular-mi­g ra­t ion. hwwi.net/ 294  |  Anmerkungen zu Kapitel V

49  Zit. n.

G. Malgesini, M. Fischer, »›Der Tod ist besser als das Elend‹. Spanien und das Mittelmeer als Schleuse für die Einwanderung aus dem Süden«, in: M. Fischer (Hg.), Fluchtpunkt Europa. Migration und Multikultur, Frankfurt/M. 1998, S. 65‒89, hier: S. 67. Kapitel VI

S.  157 – 171

E. Rosenstock-Huessy, Die Sprache des Menschengeschlechts. Eine leibhaftige Grammatik in vier Teilen. Erster Band, Heidelberg 1963, S. 408. 2  N. Loraux, L’invention d’athènes, Paris 1993; dies., »Das Band der Teilung«, in: J. Vogl (Hg.), Gemein­schaften. Po­­sitionen zu einer Phi­losophie des Po­­litischen, Frankfurt/M. 1994, S. 31‒64. 3 Thukydides, Der Peloponnesische Krieg, Stuttgart 1990, S. 233. 4   H. Blumenberg, Beschreibung des Menschen, Frankfurt/M. 2006, S. 260 f. 5  I. Kant, »Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf«, in: Werkausgabe Bd. XI (Hg. W. Weischedel), Frankfurt/M. 1977, S. 191‒251, hier: S. 200. 6  K. Jaspers, Die Atombombe und die Zukunft des Menschen, München 1961; D. Henrich, Ethik zum nuklearen Frieden, Frankfurt/M. 1990; P. Kondylis, Theorie des Krieges. Clausewitz ‒ Marx ‒ Engels ‒ Lenin, Stuttgart 1988. 7  Von der weitläufigen Diskussion um sog. »Neue Kriege« muss ich in diesem Zusammenhang ebenso absehen wie von neueren Dokumentationen der einschlägigen Kriegsgeschichte und verweise nur en passant auf M. Kaldor, Neue und alte Kriege. Organisierte Gewalt im Zeitalter der Globalisierung, Frankfurt/M. 2000; H. Münkler, Über den Krieg. Stationen der Kriegsgeschichte im Spiegel ihrer theoretischen Reflexion, Weilerswist 32004; S. Pinker, Gewalt, Frankfurt/M. 2013. 8  https://dejure.org/gesetze/StGB/186.html; http://lexetius.com/StGB/186, 2. 9   Vgl. J. Butler, Hass spricht, Berlin 1998. 10  J. L. Austin, Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with words), Stuttgart 22002; E.  v. Sa­v ig­ny, Die Philosophie der normalen Sprache, Frankfurt/M. 1974. 11  Vf., Unaufhebbare Gewalt. Umrisse einer Anti-Geschichte des Politischen. Leipziger Vorlesungen zur Politisch­en The­orie und Sozialphilosophie, Weilerswist 2015, Kap. I. 12  A. Hetzel, Die Wirksamkeit der Rede. Zur Aktualität klassischer Rhetorik für die moderne Sprach­phi­losophie, Bielefeld 2011. 13  Von der Frage, ob man auch sich selbst mit Worten verletzen kann, sehe ich hier ab. 14  Siehe dazu die Übersichten in M. Staudigl (Hg.), Gesichter der Gewalt, München 2014. 15   H. Arendt, Über die Revolution, München 41994, S. 20; W. Sofsky, Traktat über die Gewalt, Frank­f urt/M. 1996, S. 13, 19; J. P. Reemtsma, Die Gewalt spricht nicht. Drei Reden, Stuttgart 2002, S. 9. 1 

Anmerkungen zu Kapitel VI  |  295

Weil, Logique de la philosophie, Paris 1950; J. Kopperschmidt, Rhetorica, Hildesheim 1985, S. 8, 153, 164; ders. (Hg.), Rhetorische Anthropologie. Studien zum Homo rhetoricus, München 2000, S. 30, 32. 17   Nach einer Formulierung bei M. Merleau-Ponty, Die Abenteuer der Dialektik, Frankfurt/M. 1974, S. 113. 18  Vgl. J. Habermas, Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt/M. 1995. 19  E. Levinas, Parole et silence, Œuvres 2, Paris 2009, S. 109, 156. 20   T. W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt/M. 1978, S. 57. Eine derart totalisierte Gewalt-Kritik droht schließlich selbstdestruktiv zu werden, indem sie sich gegen das ganze eigene Leben, gegen Vergesellschaftung überhaupt und die Welt als geschlossenes Ganzes richtet, das scheinbar gar keinen Ausweg gestattet ‒ bis auf eine Ausflucht aus dem Sein selbst. Vgl. E. Levinas, Ausweg aus dem Sein. De l’évasion [1935/36] (frz./dt.), Freiburg i. Br., München 2005. 21   Entsprechendes dürfte für die Sprache gelten: Zum Verständnis der jeweiligen Form von Gewalt ist es nicht jedes Mal in gleicher Weise wichtig, wie (ausdrückliche) Sprache an ihr beteiligt ist. Was ein Gewalttäter explizit sagt, muss diejenigen, die von seinem Tun getroffen werden, nicht unbedingt interessieren. 22  Es ist ein Desiderat, zu prüfen, inwieweit dieser Ansatz nur in weitgehend rechtlich pazifizierten Gesellschaften überzeugen kann, die im Gegensatz zu repressiven politischen Systemen (bis hin zum Staatsterrorismus) Alternativen zur Gewalt eröffnen. Wo solche Alternativen nicht gegeben oder ganz aussichtslos sind, wird die Gewalt von Widerstandsbewegungen, von Aufständen und Revolutionen vielfach genau dadurch gerechtfertigt: als bloße Gegen-Gewalt, zu der man sich durch eklatante Ungerechtigkeit, Demütigung und Unterdrückung gezwungen sieht. 23  P. Grimm, H. Badura (Hg.), Medien – Ethik – Gewalt. Neue Perspektiven, Stuttgart 2011. 24   J. Butler, Precarious Life. The Powers of Mourning and Violence, London, New York 2006, S. 20. 25  S. Freud »Zeitgemäßes über Krieg und Tod«, in: Studienausgabe Bd. IX, Frankfurt/M. 1989, S. 52. 26  Von sekundären (etwa masochistischen) Überformungen jener Negativität sehe ich hier ab. 27  Vgl. T. Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates [1651], Frankfurt/M. 1984, Kap. 10. 28   Vgl. V. Hoffmann, U. Link-Wiec­zorek, C. Mandry (Hg.), Die Gabe. Zum Stand der interdisziplinä­ren Diskussion, Frei­burg i. Br., München 2016. 29   Auch das hat bereits Rosenstock-Huessy gesehen, wo er schreibt: »Den einzelnen Menschen gibt es erst, weil er angesehen, angesprochen und gehört 16  E.

296  |  Anmerkungen zu Kapitel VI

wird. Der einzelne Mensch ist also die Frucht des Wortes […].« Die Sprache des Menschengeschlechts, Bd. 1, S. 151. 30  Grundbegriffe von Kants pädagogischem Denken; vgl. I. Kant, »Über Pädagogik«, in: Werkausgabe Bd. XII, S. 691‒761, hier: S. 706 f. 31  Ausführlich habe ich diese Momente menschlicher Generativität an anderer Stelle beschrieben; Vf., In der Zwischenzeit. Spielräume menschlicher Generativität, Zug 2016. 32  Von eminent gewaltsamen Erfahrungen wie Vergewaltigung und Vernachlässigung bei zusammengebrochener medizinischer Versorgung und in zerstörten Schulen ganz abgesehen. 33  J.-F. Lyotard, »Die Rechte des Anderen«, in: S. Shute, S. Hurley (Hg.), Die Idee der Men­sch­en­­­­rech­te, Frank­f urt/M. 1996, S. 171‒182. 34  Vgl. die entsprechenden Hinweise auf R. Barthes in den Kapiteln IV und X. 35  Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Art. 19; Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, Art. 5, Abs. 1. 36   Wie sie gegenwärtig oft in der Rhetorik einer »philantropischen Empfindelei« und einer im Grunde herablassenden politischen Sprache deutlich wird, die sich dazu bekennt, ›ein offenes Ohr‹ zu haben, Anderen ›Gehör schenken‹ und ihre Belange ernst nehmen zu wollen; vgl. J.-L. Nancy, Zum Gehör, Zürich, Berlin 2010, S. 11. 37  In diesen Kontext gehört allerdings auch eine politische Rhetorik, die mit ständigen, aber vielfach kaum glaubwürdigen Klagen darüber arbeitet, nicht Gehör zu finden ‒ und genau damit lautstark ›Politik macht‹ und öffentliche Foren bespielt. In solchen Fällen wird die hier nicht eigens bedachte Schwelle der Politisierung eigener Ansprüche, die sie an Andere adressiert, oft bedenkenlos überschritten, ohne dass man sich offenbar fragt, ob das nicht erforderlich macht, sich wirklich ‒ und in annehmbarer Form ‒ an Andere zu wenden, deren eigene Antwortspielräume man ausdrücklich bejaht und nicht etwa minimieren oder zum Verschwinden bringen will. Letzteres war gewiss nicht der Fall, als man in Leipzig im Jahre 1989 zur Parole griff »Wir sind das Volk!«. Dagegen verraten die gleichen Worte im performativen Kontext der Dresdner Montagsdemonstrationen einen Exklusionsimpuls, insofern sie die Fortsetzung suggerieren: »… und ihr nicht, niemals«. Von der Anmaßung einmal ganz abgesehen, die darin liegt, durch die aufwiegelnde Stimme einiger weniger »Wortführer« die Identität des »Volkes« selbst verlauten lassen zu wollen. Nur eines ist dabei sicher: Wer behauptet, das Volk zu sein, ist es zweifelsfrei nicht. 38  Im Jahre 2015. 39   Vgl. mit Blick auf die politische Aktualität dazu v. Vf., »Die ›offene Gesellschaft‹ als ihr eigener Feind«, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 7 (2016), S. 93‒102. 40  P. Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, München 2004, S. 506, 709.

Anmerkungen zu Kapitel VI  |  297

Kapitel VII

S.  172 – 187

R. Char, Einen Blitz bewohnen. Gedichte, Frankfurt/M. 1995, S. 27, Nr. 131.   J. Grimm, W. Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 21, Sp. 505‒512; http:// woerterbuch­netz.de/cgi-bin/WBNetz/wbgui_py?sigle=DWB&mode=Vernetz ung&lemid=GT04589#XGT04589 3  W. Benjamin, »Neues von Blumen« [1928], in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. III, Frankfurt/M. 1972, S. 151−153, hier: S. 151. 4  L. Gumplowicz, Sozialphilosophie im Umriss [1910], Aalen 1969, S. 119 f. 5  Ebd., S. 120. 6  Siehe Kap. I,1 in diesem Band. Wie folgenreich die Metaphorik des Hauses, des Herdes und des Wohnens war, ist u. a. zu ersehen aus J. Greisch, Hermeneutik und Metaphysik. Eine Problemgeschichte Mün­ch­en 1993, Kap. II, und aus B. H. F. Taureck, Metaphern und Gleichnisse in der Philo­sophie. Ver­such einer kritischen Ikonologie der Philosophie, Frankfurt/M. 2004, S. 144, 149, 153. In angeblich (wieder) no­madis­tischen Zeiten beginnen Haus und Herd als Leitmetaphern eines an Sess­haftigkeit orientierten Lebens zu ver­blassen. Der Tisch dagegen bleibt uns zumal als politische Meta­pher gewiss erhalten, da letzt­ere weniger vom Vorbild stationärer Lebensformen abhängig ist. Zur anfechtbaren Zeitdiagnose eines neuen Nomadismus vgl. nur exemplarisch die Beiträge von Vilém Flusser und Lew Kopelew in: C. Dericum, P. Wambolt (Hg.), Heimat und Heimatlosigkeit, Berlin 1987. 7  O. Brunner, »Das ›Ganze Haus‹ und die alteuropäische ›Ökonomik‹«, in: ders., Neue Wege der Ver­fassungs- und Sozialgeschichte, Göttingen 21968. 8  Oikos. Von der Feuerstelle zur Mikrowelle. Haushalt und Wohnen im Wandel, Gießen 1992. 9 Tacitus, Germania (lat./dt.), Stuttgart 2009, S. 34 f. 10  Vgl. H. Lemke, Ethik des Essens. Einführung in die Gastrosophie, Berlin 2007; I. Därmann, H. Lem­ke (Hg.), Die Tischgesellschaft. Philosophische und kulturwissenschaftliche Annäherungen, Bielefeld 2008. 11   I. Kant, »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht«, in: Werkausgabe Bd. XII (Hg. W. Weischedel), Frankfurt/M. 1977, S. 617; vgl. J. Rancière, Der Philosoph und seine Armen, Wien 2010, S. 22 f. 12  Durch dieses eher beiläufige Wortspiel wurde Feuerbachs Rezension von Jacob Moleschotts Lehre der Nahrungsmittel: Für das Volk [1850], Erlangen 31858, berühmt: »Der Mensch ist, was er ißt.« L. Feuerbach, »Die Natur­ wissenschaft und die Revolution« [1850], in: Werke in sechs Bänden. Bd. 4, Kritiken und Abhandlungen III (1844‒1866), Frankfurt/M. 1975, S. 243‒265, hier: S. 263; siehe auch Anm. 103 auf S. 482 f.; H. W. Ingensiep, »Der Mensch ist, was er isst. Natur und Kultur der Ernährung aus anthro­polo­g ischer Sicht«, in: Essener Unikate 30 (2007), S. 52‒58; vgl. https://www.uni-due.de/~bys007/ ressourcen/pdf_dokumente/30/EU_30_05.pdf 1  2

298  |  Anmerkungen zu Kapitel VII

N. Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Erster Band. Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes [1936], Frankfurt/M. 1976. 14   Kant, »Anthropologie«, S. 617. 15  Siehe oben, Anm. 1. 16  Kant, »Anthropologie«, S. 618. 17  G. Simmel, Soziologische Ästhetik, Bodenheim 1998, S. 184. 18  Kant, »Anthropologie«, S. 617. 19   Kollektive »Abfütterung« aber verurteilt Kant als »ganz geschmacklos« (ebd., S. 618). 20  Ebd., S. 618. 21 Simmel, Soziologische Ästhetik, S. 149. 22  Kant, »Anthropologie«, S. 619. 23  Ebd., S. 621 f. 24  Ebd., S. 622. 25   Kant, »Anthropologie«, S. 618. Zu Interferenzen zwischen Privatheit und Öffentlichkeit vgl. A. O. Hirschmann, Tischgemeinschaft. Zwischen privater und öffentlicher Sphäre, Wien 1997, S. 11‒33. 26  Simmel spricht von der »Überwindung des Naturalismus des Essens« (Soziologische Ästhetik, S. 185), fragt sich aber nicht, ob nicht die Sozialität des Ernährtwerdens diesem Naturalismus voraus­liegt. In ontogenetischer Hinsicht trifft das gewiss zu. 27  A. Burguiere, C. Klapisch-Zuber, M. Segalen, F. Zonabend (Hg.), Geschichte der Familie, Bd. 1‒4, Frank­f urt/M., New York, Paris 1996. 28  P. Weiss, Abschied von den Eltern, Frankfurt/M. 1964. 29   Ähnliche Funktionen kamen aber auch Initia­t iven wie der südafrikanischen Truth and Reconciliation Commission (TRC) zu. 30  Zu finden unter dem Titel »Rache macht die Toten nicht lebendig«, in: Die Zeit no. 5 (2018), S. 48. 31  Geht man auf diese Weise u. U. doch tödliche Risiken ein, wie das Schicksal des ehemaligen israelischen Regierungschefs Jitzchak Rabin zeigt, der im Jahre 1995 von einem rechts-radikalen Orthodoxen (Jigal Amir) ermordet worden ist, nachdem er 1994 zusammen mit seinem damaligen Außenminister Schimon Peres und dem damaligen Chef der Palästinensischen Autonomiebehörde, Jassir Arafat, den Friedensnobelpreis erhalten hatte. https:// de.wikipedia.org/wiki/Jitzchak_Rabin 32  Man fragt sich in diesem Zusammenhang, ob Israel Meir Lau genug bedacht hat, wie seine Aufforderung, sich an einen Tisch zu setzen, von den Adressaten empfunden wird, die sehen, wie unterdessen die Besatzung und Besiedelung der Westbank weiter fortgesetzt wird. Daran erinnern nicht zuletzt auch Autoren auf israelischer Seite wie der ehemalige Botschafter Israels in Deutschland, Shimon Stein, und Moshe Zimmermann. 13 

Anmerkungen zu Kapitel VII  |  299

33 

Schismogenese ist ein Konzept des amerikanischen Ethnologen Gregory Bateson. Es bezieht sich auf eskalative Interaktionsprozesse, die die Tendenz aufweisen, eine soziale Spaltung der Beteiligten herbeizuführen. 34   Hier scheiden sich allerdings die politischen Geister, wie der Fall Carl Schmitt immer wieder zeigt. Schmitt affirmiert die politische Feindschaft, in der ihm geradezu die Vitalität des Politischen zu lie­gen scheint; aber im Gegensatz zu Feinden des (so verstandenen) Politischen und im Gegensatz zu Feinden, die nur auf die absolute Vernichtung ihres Feindes abzwecken. Vgl. F. Balke, »Die Signatur des Feindes. Carl Schmitt und die Moderne«, in: C. Geulen, A. v. d. Hei­den, B. Liebsch (Hg.), Vom Sinn der Feindschaft, Berlin 2002, S. 133‒152. 35  J.-F. Lyotard, Das Inhumane, Wien 32006, S. 221. Kapitel VIII

S.  188 – 210

  L. Börne, Lichtstrahlen aus seinen Werken, Leipzig 1870, S. 150. B. Gracian, »Über die kluge Konversation«, in: C. Schmölders (Hg.), Die Kunst des Gesprächs. Texte zur Geschichte der europäischen Konversationstheorie, München 21986, S. 154‒161, hier: S. 157. 3  J. Rancière, Die Politik der Bilder, Berlin, Zürich 22009, S. 41. 4  G. Le Blanc, L’invisibilité sociale, Paris 2009, S. 182. 5  F. Fukuyama, Das Ende der Geschichte, München 1992; S. Hessel, Indignez vous!; www.mille­­­ba­­bords.org/IMG/pdf/INDI­GNEZ_VOUS.pdf; P. Sloterdijk, Zorn und Zeit. Politisch-psy­cho­logischer Versuch, Frankfurt/M. 32013. 6  Vorweg sei die Beschränkung auf eine politisch-rhetorische Inanspruchnahme negativer Widerfahrnisse gegen Andere betont. Auf diese Weise wird das weite Feld politischer oder auch anti-politischer Emotionen zweifellos keineswegs ausgeschöpft, deren Ausdruck sich zum einen nicht unbedingt auf solche Widerfahrnisse berufen muss und zum anderen weit über das im Folgenden im Vordergrund stehende Problem der Selbstgerechtigkeit hinausgeht, wenn er mit der Denunziation Andersdenkender, mit der Aufwiegelung Dritter und mit einer explizit anti-demokratischen Programmatik einhergeht, wie es gegenwärtig vielfältig zu beobachten ist. Eine eminente Herausforderung für die politische Theoriebildung liegt darin auch insofern, als diese nicht umhin kann, als sich ihrerseits politisch zu Phänomenen der Politisierung zu verhalten, die sie als ›selbstgerecht‹, insofern verfehlt und letztlich anti-politisch einzustufen zwingt. Die folgenden Überlegungen führen nur an die Schwelle dieser Problematik heran, beanspruchen aber nicht, sie eigens zu entfalten. 7  J. N. Shklar, ­Ü ber Ungerechtigkeit, Frankfurt/M. 1997; Vf., Menschliche Sensibilität. Inspiration und Überforderung, Weilerswist 2008, Kap. III‒V; E. Renault, L’Expérience de l’injustice, Paris 22017. 8  I. Kant, Werkausgabe Bd. XI (Hg. W. Weischedel), Frankfurt/M. 1977, S. 111. Dabei hat Kant an dieser Stelle allerdings nicht das Politische, sondern 1

2 

300  |  Anmerkungen zu Kapitel VIII

die »Schwierigkeit, den Lauf der Weltbege­benheiten mit der Göttlichkeit ihres Urhebers zu vereinigen«, im Blick (ebd.). 9  T. Rentsch, Negativität und praktische Vernunft, Frankfurt/M. 2000; A. Green, Le Travail du négatif, Paris 2011; siehe auch Anm. 36 zu Kap. III. 10  H. Marcuse, Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industrie­ge­sellschaft, Darmstadt 1976, S. 233 ff. 11  G. Kruip, M. Fischer (Hg.), Gerechtigkeiten, Berlin 2007. 12 I. Kap­ low, C. Lienkamp (Hg.), Sinn für Ungerechtigkeit. Ethische Argumen­tation­en im globalen Kontext, Ba­­­den-Ba­den 2005; H. Landweer, F. Bernhardt (Hg.), Recht und Emotion II. Sphären der Verletzbarkeit, Freiburg i. Br., München 2018. 13  Vf., H. Bajohr (Hg.), »Schwerpunkt: Judith N. Shklars politische Philosophie«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 62, Nr. 4 (2014), S. 626‒746. 14  In Kap. IX wird darauf zurückzukommen sein. 15  K. Busch, I. Därmann (Hg.), Pathos, Bielefeld 2007; B. Marx (Hg.), Widerfahrnis und Erkenntnis, Leipzig 2010. 16  R. Wollheim, Emotionen. Eine Philosophie der Gefühle, München 2001. 17  Vgl. in diesem Sinne zu einer politischen Kritik des Leidens, die es als Quelle negativer Erfahrungsansprüche allerdings nicht verwirft, wie es v. a. Hannah Arendt in ihrer Auseinandersetzung mit einer Politik des Mitleids (pitié) im Kontext der Französischen Revolution nahegelegt hat, E. Renault, Souffrances sociales. Philosophie, psychologie, et politique, Paris 2009. 18  A. Camus, Tagebücher 1935‒1951, Reinbek 1972, S. 22. 19  G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion I, Werke 16 (Hg. E. Moldenhauer, K. M. Michel), Frankfurt/M. 1986, S. 129. 20   Im Gegensatz zu »praktischer« Selbstbestimmung aus Freiheit. Ihr gegenüber sind nicht nur Gefühle mit »negativer Wirkung« (=»Unannehmlichkeiten«) als pathologisch einzustufen, sondern »jedes Gefühl überhaupt«, insofern es nicht aus unserer Freiheit entspringt, sondern aus einer Wirkung auf uns hervorgeht; vgl. I. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Hamburg 1974, S. 88 f. 21   Vgl. E. Levinas, Die Unvorhersehbarkeiten der Geschich­te, Freiburg i. Br., München 2006, S. 49; I. Kant, »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht«, in: Werkausgabe Bd. XII (Hg. W. Weischedel), Frankfurt/M. 1977, S. 433. 22  P. Ricœur, Die Fehlbarkeit des Menschen, Freiburg i. Br., Mün­chen 21989, S. 26, 51, 113 ff.; vgl. F. A. Carus, Geschichte der Psychologie [1808], Berlin, Heidelberg, New York 1990, S. 51, 113 ff. 23  Die gleiche Schwierigkeit betrifft in den letzten Jahren häufig vertretene Anschlüsse an die Affektenlehre von Spinoza, die von kausalen »Affektionen des Körpers« ausgeht (B. de Spinoza, Die Ethik nach geometrischer Methode dargestellt, Hamburg 1976, S. 110). Ohne eine phänomenolo­g ische, ideengeschichtliche Anachronismen vermeidende Revision dieser Lehre kann man m. E. nicht direkt zum Politischen übergehen, wie es vielfach geschieht Anmerkungen zu Kapitel VIII  |  301

(É.  ­Balibar, Spinoza et la politique, Paris 1985, S. 91 ff.; V. Milisavljevic, G. Sibertin-Blanc [Hg.], Deleuze et la violence, Europhilosophie, o. O.). ‒ Die Autoren, auf die ich mich im Folgenden beziehe, waren sich bei allen Divergenzen durchgängig darin einig, dass die hier einfließende implizite Ontologie des Vorhandenen und der zwischen Objekten beobachtbaren Relationen radikal zu revidieren ist, weil sie gerade das fragliche affektive In-der-Welt-sein nicht zu denken erlaubt. Es würde den verfügbaren Rahmen allerdings bei weitem sprengen, darauf hier näher einzugehen. 24   M. Harbsmeier, S. Möckel (Hg.), Pathos. Affekt. Emotion. Transformationen der Antike, Frank­f urt/M. 2009. 25  Ebd., S. 12. 26  Ebd., S. 47. 27 Aristoteles, Die Kategorien (griech./dt.), Stuttgart 2009, S. 11. 28  Ebd., S. 67. 29  Siehe ausführlich dazu P. Stoellger, Passivität aus Passion. Zur Problemgeschichte einer ›categoria non grata‹, Tübingen 2010, Kap. II, 1. Stoellger sucht das seit Gorgias auf ein negativ bewertetes Er­leiden der Seele reduzierte páthos wieder von dieser Verengung zu befreien; ebd., S. 32. 30 Aristoteles, Von der Seele, 403 a 16‒18; vgl. auch Nikomachische Ethik, 1105 b 21‒23; Eudemische Ethik, 1220 b 12‒14. 31 Ungeachtet der bekannten Unterscheidungen von Ernährungsseele, Empfindungsseele und rationaler Seele; Aristoteles, Nikomachische Ethik, Buch I, 1097 b 6; H.-G. Gadamer, Die Verborgenheit der Gesundheit, Frankfurt/M. 1993, S. 197. Zur Aktualität des Begriffs der Seele vgl. T. Ebke, S. Hoth (Hg.), Die Philosophische Anthropologie und ihr Verhältnis zu den Wissenschaften der Psyche, Berlin, Boston 2019, i. E. 32 Aristoteles, Von der Seele, 431. 33  B. Waldenfels, Verfremdung der Moderne. Phänomenologische Grenzgänge, Göttingen 2001, S. 11. 34   I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Hamburg 1976, S. 374. 35   Kant, »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht«, § 22, S. 456. 36   Zit. n. Das kalte Herz. Texte der Romantik, Frankfurt/M., Leipzig 2005, S. 451. 37  Zit. n. G. Scholtz, Ethik und Hermeneutik. Schleiermachers Grundlegung der Geisteswissen­schaf­t en, Frank­­furt/M. 1995, S. 136. 38 Vf., Prekäre Selbst-Bezeugung. Die erschütterte Wer-Frage im Horizont der Moderne, Weilers­w ist 2012, S. 132. 39  G. W. F. Hegel, Jenaer Systementwürfe. III. Naturphilosophie und Philosophie des Geistes, Hamburg 1987, S. 172. 40 Gadamer, Die Verborgenheit der Gesundheit, S. 180. 41   M. Riedel, Theorie und Praxis im Denken Hegels [1960], Frankfurt/M., Berlin, Wien 1976, S. 14 ff. 42  B. Waldenfels, Spielräume des Verhaltens, Frankfurt/M. 1980. 302  |  Anmerkungen zu Kapitel VIII

weit dagegen eine nachträgliche Vergleichgültigung gehen kann, bleibt hier außer Betracht. 44 Spinoza, Ethik, S. 118. 45   Phänomenologisch ist dabei unklar, ob es sich um eine gefühlte Unzugehörigkeit zur Welt in der Zugehörigkeit handelt oder um eine Unzugehörigkeit, die einen so in Welt-Fremdheit ›versetzt‹, dass letztere aus jeglicher Zugehörigkeit ausschert. 46  M. Frank, »Steinherz und Geldseele. Ein Symbol im Kontext«, in: Das kalte Herz, S. 411‒552. 47 Vgl. Das kalte Herz, S. 473. 48  Zit. ebd., S. 538, 496. 49  Zu denken ist besonders an M. Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, München 1994, und an J.-L. Nancy, singulär plural sein, Berlin 2004, S. 68. 50  P. Ricœur, »Gott nennen«, in: B. Casper (Hg.), Gott nennen, Freiburg i. Br., München 1981, S. 45‒79, hier: S. 55. 51  M. Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt ‒ Endlichkeit ‒ Einsamkeit. Gesamtaus­gabe II. Abteilung: Vorlesungen 1923‒1944; Bd. 29/30, Frankfurt/M. 21992. 52  Vgl. im Sinne einer Gegenprobe die klinischen Überlegungen zur Melancholie und zur Trauer bei S. Freud, »Trauer und Melancholie«, in: Studienausgabe Bd. III, Frankfurt/M. 1975, S. 193‒212, hier: S. 200. 53  Kant, »Anthropologie«, § 2, S. 411. 54 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, S. 412. 55  Ebd., S. 301. Der Autor wendet sich hier auch gegen einen Empathiebegriff, dem zufolge erst ein gleichgültiges Nebeneinander überwunden werden müsste (ebd., S. 304); vgl. T. Breyer (Hg.), Gren­zen der Em­pathie. Philosophische, psychologische und anthropologische Perspektiven, München 2013. 56  H. Arendt, »Die Gefahr der Weltlosigkeit«, in: B. Liebsch, M. Staudigl, P. Stoellger (Hg.), Per­spek­­­­tiven europäischer Gast­lich­keit. Geschichte ‒ Kulturelle Praktiken ‒ Kritik, Weilerswist 2016, S. 69‒114. 57   Vgl. E. Levinas, Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, Freiburg i. Br., Mün­ch­en 1987, S. 223; vgl. ebd., S. 218, 237 f., 247. 58 O. Voirol, »Visibilité et invisibilité: une introduction«, in: Réseaux 129‒130, Nr. 1 (2005), S. 9‒36; G. Le Blanc, L’invisibilité sociale, Paris 2009. 59 http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/marc-jongen-ist-afd-politiker-und-philosoph-14005731-p2.html?printPa­gedArticle=true#pageIndex_3 60 Aristoteles, Politik, 1253 a. 61   Wobei die Adressaten selbstredend nicht mit jenen zusammenfallen müssen, auf die man die fraglichen Gefühle zurückführt. 62   E. Husserl, Cartesianische Meditationen, Hamburg 1977, S. 96, 115. 63 Levinas, Totalität und Unendlichkeit, S. 308 f. 64  M. Mauss, Soziologie und Anthropologie II, Frankfurt/M. 21999, Kap. V. 43  Wie

Anmerkungen zu Kapitel VIII  |  303

M. Fou­cault, Die Regierung des Selbst und der an­deren. Vor­lesung am Collège de Fran­ce 1982/83, Frank­furt/M. 2009; Vf., »A(nta)gonistische Konflikte und Lebensformen. Spuren eines neuen Ethos? − Zur zwie­­­­­­­späl­tigen Aktua ­l i­tät des Poli­t i­schen«, in: Philosophischer Literaturanzeiger 62, Nr. 4 (2009), S. 375‒395. 66  Foucault hat in diesem Sinne ausdrücklich Kant mit der antiken Apologie freimütiger Rede verknüpft; M. Foucault, Die Regierung des Selbst und der anderen. Vorlesung am Collège de France 1982/83, S. 439. Im Vergleich zu Kant betont Foucault allerdings im Diskurs der Auf­k lärung vielfach übersehene Dimensionen der parrhesía; v. a. die möglicherweise (politisch) tödliche Gefahr, die in ihr liegt, aber auch den gerade von Mächtigen geforderten Mut, sich etwas sagen zu lassen, um vernünftig regieren zu können. 67  H. Plessner, Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus, Bonn 1924. 68  Vgl. Ricœur, Die Fehlbarkeit des Menschen, S. 169. 69   H. Marcuse, Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industrie­ge­sellschaft, S. 181. 70  M. Hardt, A. Negri, Empire, Cambridge, London 2001. 71  Hinter diesen einfachen Anführungszeichen verbergen sich allerdings Probleme der Rechtfertigung dessen, wie und wann eingelöste Versprechen auch denen zugute kommen können, gegen die man zu­nächst vorgeht. Wer sähe nicht, dass genau an dieser Stelle auch eine ›geschichtsphilosophisch‹ sich rechtfertigende Politik intervenieren kann, die bereit ist, ›vorübergehend‹ über Leichen zu gehen. 72  Genau das betont immer wieder auch Chantal Mouffe, wo sie mit dem Gegensatz von Feind (enemy) und Gegner (adversary) arbeitet und dem politischen Zusammenleben abverlangt, Verfeindung zu verhindern und an Entfeindung zu arbeiten; vgl. u. a. C. Mouffe, »Deliberative Democracy or Agonistic Pluralism?«, in: Social Research 66, no. 3 (1999), S. 745‒748, hier: S. 755. 73   J. Rancière, Die Politik der Bilder, Berlin, Zürich 22009, S. 70; Vf., »Perspektivität, Pluralität, ge­teil­te Welt: Ästhetik, Politik und menschliche Sensibilisierbarkeit in der Philoso­phie Jacques Ran­ci­ères«, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 61, Nr. 1 (2016), S. 11‒38. 74  Politische Theoretikerinnen wie Chantal Mouffe (Über das Politische. Wider die kosmopolitische Illusion, Frankfurt/M. 2007; Agonistik. Die Welt politisch denken, Berlin 2014), die polemisch jeg­lichen Gedanken an eine dialektische Versöhnbarkeit des Negativen verwerfen und daraus den Schluss ziehen, man solle es erst gar nicht auf sie anlegen, sind daran zu erinnern, dass auch Dia­lektiker sich längst an Formen der Vermittlung interessiert zeigen, in denen die fragliche »Negativität festgehalten wird, nicht jedoch in Modi der Versöhnung« gedacht wird, »in denen sie verschwindet« (Rentsch, Negativität und praktische Vernunft, S. 251). 65 

304  |  Anmerkungen zu Kapitel VIII

G. Hartung, S. Schaede (Hg.), Inter­nationale Gerechtigkeit: Theorie und Praxis, Darmstadt 2009. 76 G.  W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften I, Werke 8 (Hg. E. Moldenhauer, K. M. Michel), Frankfurt/M. 1986, S. 144. 77  H. P. Dreitzel, Die gesellschaftlichen Leiden und das Leiden an der Gesellschaft, Stuttgart 31980; sowie die bereits zitierten Arbeiten von Emmanuel Renault, Souffrances sociales und L’Expérience de l’injustice. 78  J. Rancière, Der emanzipierte Zuschauer, Wien 2009, S. 123. 79   Ebd., S. 42 ff. 80 Nancy, singulär plural sein, S. 26. 81  J. Butler, A. Athanasiou, Die Macht der Enteigneten. Das Performative im Politischen, Zürich, Berlin 2014, S. 9. 82  Siehe oben die Anm. 1 und 2, sowie J.-P. Sartre, Portraits und Perspektiven, Reinbek 1971, S. 73‒101. 83  A. Rimbaud, »Délires I/Fieberphantasien I«, in: Sämtliche Dichtungen (frz./dt.), Heidelberg 1978, S. 288 f.; zur politischen Aktualität dieser Wendung: Vf., »Freiheit im Widerstand gegen sich selbst ‒ zwischen Enttabuisierung und Re-Sakralisierung« [Re­­z. v. B. Fateh-Moghadam, T. Gutmann, M. Neu­mann, T. Weitin, Säkulare Tabus. Die Begründung von Unverfügbarkeit, Berlin 2015; T. Martin (Hg.), Alles ist erlaubt. Das Karamasow-Gesetz, Berlin 2015; H.-M. Schönherr-Mann, Gewalt, Macht, individueller Widerstand. Staatsver­ständ­ nisse im Existentialismus, Baden-Baden 2015], in: Philosophische Rundschau 64, Heft 3 (2017), S. 203‒219. 75 

Kapitel IX

S.  211 – 226

Zit. n. K. H. Bohrer, Die Ästhetik des Schreckens. Die pessimistische Romantik in Ernst Jüngers Früh­werk, Frankfurt/M., Berlin, Wien 1983, S. 318. 2  V. Klemperer, LTI. Notizbuch eines Philologen, Stuttgart 262015, S. 250. 3   Siehe dazu P. Levi, Die Untergegangenen und die Geretteten, München, Wien 1990, S. 57. 4   E. Bloch, Atheismus im Christentum, Frankfurt/M. 21977, S. 129 f., 133. 5  Vgl. »We are only remembered when we riot« (Stafford Scott), kann in dieser Perspektive die po­li­t ische Devise lauten; vgl. L. Bassel, The Politics of Listening – Possibilities and Challenges for De­mo­­cratic Life, Lon­don 2017, S. 4 f. 6  A. Camus, Der Mensch in der Revolte, Reinbek 1969, S. 203. 7  T. Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, Frankfurt/M. 1984, S. 242. 8  Vgl. E. Renault, Souffrances sociales. Philosophie, psychologie, et politique, Paris 2009, S. 32. 9   Im Gegensatz zur tradierten konventionellen Bedeutung von Rebellion oder Aufstand gegen die Staatsmacht oder eine jeweilige Regierung spreche ich im Folgenden in einem viel weiteren Sinne von rebellischen Energien als 1 

Anmerkungen zu Kapitel IX  |  305

Kräften der Auflehnung, die aus vor-politischen Gefühlen entstehen und ihren politischen Adressaten erst suchen müssen. Erst recht in Zeiten vielfach grenzüber­schrei­tenden Handelns, wo jede transnational agierende Instanz (wie etwa ein global aufgestelltes Unter­neh­men) entsprechend in Betracht kommt. Die Proteste der sog. Globalisierungsgegner, ATTAC, Green­peace, Médecins sans frontières und viele andere NGOs machen das deutlich. 10  Traditionell wird die Revolte als vorläufige politische Unruhe der erfolgreichen Revolution gegenübergestellt, wobei letztere geschichtsphilosophisch finalisiert und als ›fortschrittliche‹ vorge­stellt wird. Vgl. bspw. K. Griewank, Der neuzeitliche Revolutionsbegriff, Hamburg 1992, S. 178, 189. Der entsprechende geschichtsphilosophische Horizont ist allerdings inzwischen weitgehend verblasst. Das erklärt auch, warum sich Albert Camus, auf den ich weiter unten eingehe, in diesem Kontext auf einen Begriff der Revolte stützt, der auf den ersten Blick überhaupt keinen Zusammenhang mit ›fortschrittlichem‹ politischem Handeln mehr aufweist. 11   I. Kant, »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht«, in: Werkausgabe Bd. XII (Hg. W. Weischedel), Frankfurt/M. 1977, S. 658 f. 12  Vgl. zu diesen Fragen v. a. É. Balibar, Der Schauplatz des Anderen. For­ men der Gewalt und Grenzen der Zivilität, Hamburg 2006. 13 https://de.wikipedia.org/wiki/Dem_deutschen_Volke 14  Wie im vorigen Kapitel VIII argumentiert wurde. 15   Vgl. dazu ausführlicher Vf., Prekäre Selbst-Bezeugung. Die erschütterte Wer-Frage im Horizont der Moderne, Weilers­w ist 2012, Kap. IX; Unaufhebbare Gewalt. Umrisse einer Anti-Geschichte des Politischen. Leipziger Vorlesungen zur Politischen The­orie und Sozialphilosophie, Weilerswist 2015. 16   Vgl. Vf., M. Staudigl (Hg.), Bedingungslos? Zum Gewaltpotenzial unbedingter Ansprüche im Kon­text politischer Theorie, Baden-Baden 2014. 17 Camus, Der Mensch in der Revolte, S. 21, 203. Allerdings legt der Autor jenen Satz einem Sklaven in den Mund, um dann so fortzufahren: »die metaphysische Revolte fügt dann das ›Wir‹ hinzu, von dem wir noch heute leben«. 18   Camus sucht selbst die Nähe zu Descartes; s. ebd., S. 21. 19   Genau das hat auch Camus im Sinn, wo er schreibt, der Geist der Revolte stifte eine Gemeinschaft »mit allen Menschen, auch […] Unterdrückern und Beleidigern« (ebd., S. 16). 20  J. Shklar, Ordinary Vices, Cambridge, London 1984, S. 224, 237; dies., Liberalismus der Furcht, Berlin 2013, S. 31. 21  A. Camus, Tagebücher 1935-1951, Reinbek 1972, S. 22. 22  Vgl. G. Eckermann, Gespräche mit Goethe, Stuttgart 2006, S. 525. Kapitel X 1  2 

M. Frisch, Stich-Worte, Frankfurt/M. 1985, S. 249. G. Marcel, Sein und Haben, Paderborn 1953, S. 14.

306  |  Anmerkungen zu Kapitel X

S.  227 – 253

L. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, Frankfurt/M. 141979, S. 11. 4  Vgl. E. Cassirer, Essay on man [1944], New York 1954, S. 43, 186, 220. 5  M. Fricker, Epistemic Injustice. Power & the Ethics of Knowing, Oxford 2010; zum Kontext eines nicht epistemisch verengten Begriffs des Vertrauens Vf., »Der Komplex der Zeugenschaft und der Be­g riff der politischen Welt. Eine Revision in histori­scher Per­spek­tive«, in: M. Däumer, A. Kalisky, H. Schlie (Hg.), Über Zeu­gen. Szenarien von Zeugenschaft und ihre Akteure, München 2017, S. 125‒146. 6   Genannt sei hier stellvertretend v. a. Eugen Fink mit seinen Schriften Trak­­tat über die Gewalt des Menschen, Frankfurt/M. 1974; Grundphänomene des menschlichen Daseins, Frei­burg i. Br., München 1979; Existenz und Coexistenz. Grundprobleme der menschlichen Existenz, Würzburg 1987. 7  Vgl. etwa J.-L. Nancy, Die Mit-Teilung der Stimmen, Zürich 2014. 8  H. Arendt, »Die Lüge in der Politik«, in: In der Gegenwart. Übungen im politischen Denken II, Mün­chen 2000, S. 322‒352; J. Shklar, Ordinary Vices, Cambridge, London 1984. 9  V. Jankélévitch, »Von der Lüge«, in: Das Verzeihen. Essays zur Moral und Kulturphilosophie, Frank­f urt/M. 2004, S. 70‒160. 10  Hatte nicht schon der Wiener Bürgermeister Karl Lueger gesagt »Wer a Jud is, bestimm i«? https://de.wi­k iquote.org/wiki/Karl_Lueger. Und hatte nicht der Nationalsozialist Hermann Göring spä­ter in die gleiche Kerbe geschlagen? https://www.welt.de/kultur/article150788001/Wer-Jude-ist-bestimme-ich.html; http://freiburger-rund­brief.de/de/?item=1531 Mit Hilfe solcher Dekrete ist es bis­lang allerdings niemandem wirklich gelungen, die Lüge »zur Weltordnung« zu machen, wie es in Franz Kafkas Roman Der Prozeß (Frankfurt/M. 1976, S. 188) heißt. Auch Donald Trump wird das nicht gelingen. In aller Öffentlichkeit werden seine bereits in die Tausende gehenden Unwahrheiten ja akribisch dokumentiert. Die Ungeniertheit, mit der sie lanciert werden, bedarf allerdings der Erklärung. 11   H. Heine, »Der neue Alexander«, in: Gedichte, Zürich 1977, S. 138 ff., hier: S. 140. 12   F. Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches. Sämtliche Werke Bd. 2 (Hg. G. Colli, M. Montinari), München 1980, S. 391. 13  Nur so ist auch das im Anschluss an Heidegger gedeutete ursprüngliche ›Im-Wahren-sein‹ zu verstehen: als ein fraglicher Wahrheit Ausgesetztsein ‒ und niemals als deren ›Besitz‹. In diesem Sinne ist der Bezug auf Wahrheit etwas zutiefst Soziales. 14 Vgl. zur Approbation und Akkreditierung von Sachverhalten vgl. P. Ricœur, An den Grenzen der Hermeneutik. Philosophische Reflexionen über die Religion, Freiburg i. Br., München 2008, S. 7−50. 15   Was etwas ganz anderes ist, als, etwa auf dem Weg der Dekonstruktion, jene Unterscheidungen so akribisch wie nur möglich zu untersuchen, um dann auf die berühmten »Zonen der Ununter­scheid­bar­keit« (zwischen Ge3 

Anmerkungen zu Kapitel X  |  307

rechtigkeit und Ungerechtigkeit bspw.) zu treffen ‒ was keineswegs auf die Ver­g leich­g ül­t igung der fraglichen Unterscheidungen hinauslaufen soll. 16  I. Kant, »Zum ewigen Frieden«, in: Werkausgabe Bd. XI (Hg. W. Weischedel), Frankfurt/M. 1977, S. 191‒251, hier: S. 245. 17  Vgl. die weit ausholende Untersuchung zu dieser Frage von M. Jay, Downcast Eyes. The Deni­g ration of Vision in Twentieth-Cen­tu­r y-French Thought, Berkeley, Los Angeles, London 1994, sowie die Rezension d. Vf. in: Philosophische Rund­­schau 42 (1995), S. 270 ff. 18   Dagegen hält P. Sloterdijk in anthropologisch-evolutionärer Perspektive: »Nicht das Wort war am Anfang, sondern das Unbehagen, das nach Worten sucht«; denn In der Welt sein heiße ursprünglich: »im Unklaren« bzw. nicht orientiert zu sein (Die schrecklichen Kinder der Neuzeit. Das anti-genealogische Experiment der Moderne, Berlin 32014, S. 9 f.). Aber kommt dieses Suchen nicht ursprünglich nur durch das Wort des Anderen an ein wenigstens vorläufiges Ziel? Ist es im Geringsten plausibel, dass ein ursprünglich nicht orientiertes Wesen nur nach eigenen Worten sucht, über die es scheinbar grundsätzlich bereits verfügt? Wer so denkt, desozialisiert im Grunde die originäre Bedeutung des Wortes. 19  P. Jordan, Der Naturwissenschaftler vor der religiösen Frage, Oldenburg, Hamburg 1963. 20  S. Weinberg, Die ersten drei Minuten. Der Ursprung des Universums, München 1980. 21  H. Blumenberg, Arbeit am Mythos, Frankfurt/M. 1996. 22  Ein unerschöpfliches Thema ‒ bis hin zur häuslichen Feuerstelle, der Öllampe, der Kerze und schließ­lich zur »Epoche des verwalteten Lichtes«, wie sie Gaston Bachelard charakterisiert hat in: Die Flamme einer Kerze, München, Wien 1988, S. 89. 23  Die philosophische Terminologie zehrt von der platonischen ›Idee‹ über die ›intellektuelle Anschau­­ung‹ der Idealisten bis hin zur Husserl’schen ›Evidenz‹ ganz und gar vom Ansehen (!) des Sehens, weil es praktisch wie theoretisch für Licht empfänglich ist oder gar selbst als geistige Lichtquelle fungiert. Von Hegels Phänomenologie des Geistes über Helmuth Plessners Anthropologie der Sinne bis hin zu Hans Jonas’ Ansätzen zu einer Philosophischen Biologie findet man bestätigt, wie po­­­sitiv all das besetzt ist, was man so oder so dem Licht zu­schreibt. Das gilt für den Bereich der poli­t ischen Theorie erst recht. Vgl. J. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, Neuwied, Berlin 81976; H. Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 41985; M. Hénaff, »Globale Urbanität. Die Stadt als Monument, Maschine, Netzwerk und öffentlicher Raum«, in: Lettre International 95 (2011), S. 98‒111. 24  P. Celan, Lichtzwang, Frankfurt/M. 1996, S. 13. 25   H. Tsoukas, »The tyranny of light: The temptations and the paradoxes of the information society«, in: Futures 29, Nr. 9 (1997), S. 827‒843; siehe auch S.  Mau, Das metrische Wir. Über die Quantifizierung des Sozialen, Berlin 308  |  Anmerkungen zu Kapitel X

2017, S. 231. Bereits Arthur Rimbaud sprach mit apokalyptischen Untertönen mit Blick auf einen »ungeheuerlich, ununterbrochen sich aufhellend[en]« »Bestand an Wissen« von einer »Sintflut des Lichts« (»lumière diluvienne«); A. Rimbaud, Sämtliche Dichtungen (frz./dt.), Heidelberg 1978, S. 240 f. 26  A. Demandt, Zeit. Eine Kulturgeschichte, Berlin 2015, S. 93‒98. 27  Das gilt schon bei Hegel, der so sehr dem Licht als Metapher der Wahrheit verpflichtet ist, auch für ein Bewusstsein, welches in sich alles Erdenkliche birgt, aber über eine »Nacht der Aufbewahrung« nicht hinausgelangt, solange es nicht der »Herrschaft des Selbst« unterworfen wird; G. W. F. Hegel, »Jenaer Realphilosophie« [1805/6], in: Frühe politische Systeme, Frankfurt/M., Berlin, Wien 1974, S. 204 f. 28  Vgl. bspw. W. Schivelbusch, Lichtblicke. Zur Geschichte der künstlichen Helligkeit im 19. Jahrhun­dert, Frankfurt/M. 2004; E. Bloch, »Technik und Geistererscheinungen« [1935], in: Verfremdungen I, Frankfurt/M. 1977, S. 177‒185. 29  H. Blumenberg, »Licht als Metapher der Wahrheit«, in: Studium Generale 10 (1957), S. 432‒447, hier: S. 442, linke Spalte. 30 Vgl. bspw. G. Bataille, Das Unmögliche, München, Wien 1987, S. 125; B. Mattheus, Geor­ges Ba­taille. Eine Thanatographie, München 1984, S. 140 f., 341; M. Blanchot, Der literarische Raum, Zü­rich 2012, S. 167 ff., 191; siehe auch Anm. 12, oben, zu G. Bachelard. 31  Zit. n. Schivelbusch, Lichtblicke, S. 128. 32   A. Hirsch, P. Bojanic, Ž. Radinkovic (Hg.), Vertrauen und Transparenz ‒ Für ein neues Europa, Belgrad 2014. 33  Wobei die Frage, ob und inwieweit man selbst oder Andere überhaupt als solche Regimes der Sicht­­­barkeit unterworfen werden können, nicht selten unterbelichtet bleibt. Vgl. G. Le Blanc, L’in­vi­si­bilité sociale, Paris 2009; E. Renault, Souffrances sociales. Philosophie, psychologie, et politique, Paris 2009. 34  Blumenberg, »Licht als Metapher der Wahrheit«, S. 442, rechte Spalte. 35  G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. Bd. I. Die Vernunft in der Ge­­schichte, Hamburg 1994, S. 32. 36   H.-G. Gadamer, Lob der Theorie, Frankfurt/M. 1983, S. 43. Bei diesem Sehen handelt es sich aller­d ings um eine besondere Art des »Dabei-seins«, nicht um ein distanziertes Wahrnehmen. 37  Siehe oben, Anm. 7. 38  H. Arendt, Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlaß, München 2003, S. 52, 96. 39 Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 16. 40  Blumenberg, »Licht als Metapher der Wahrheit«, S. 447. 41   Ich sehe hier von der Frage ab, ob Arendt den Begriff des Privaten nicht anachronistisch verwendet. Michail Bachtin versteht die Menschen der griechischen Antike so, als seien sie »ganz und gar außen« gewesen, d. h. sie hätten kein (im modernen Sinne) ›inneres‹ Leben geführt. Das müsste bedeuten, dass das auch von Bachtin nicht bestrittene private Leben in der Antike nicht 2

Anmerkungen zu Kapitel X  |  309

im heutigen, bürgerlichen Sinne als ein privates eingestuft werden dürfte. M. Bachtin, Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik, Frankfurt/M. 1989, S. 52, 64 f. 42   Vor allem Emmanuel Levinas hat auf eine entsprechende Dimension der Tertialität hingewiesen; u. a. in Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, Freiburg i. Br., München 1987, S. 308 f. 43  R. Geuss, Privatheit. Eine Genealogie, Frankfurt/M. 2002, S. 105, 124. 44  Mit der Konsequenz, dass der Mensch wieder »unverhüllt […] sichtbar und hörbar« werden könnte, wie es Michail Bachtin mit Blick auf das öffentliche Leben der Antike beschrieben hat. Nur mit dem Unterschied der Dazwischenschaltung virtueller Medien, die keineswegs eine allseitige und für jeder­mann gegebene Sichtbarkeit herbeiführen. Vgl. Bachtin, Formen der Zeit, S. 52, 64, sowie mit Blick auf die virtuelle Gegenwart: A. Hirsch, P. Delhom (Hg.), Friedensge­sell­schaf­­ten ‒ zwi­schen Verantwortung und Vertrauen, Freiburg i. Br., München 2015. 45   Z. Bauman, Flüchtige Moderne, Berlin 72016, S. 52, 65, 86. 46  Siehe Anm. 84 zu R. Barthes in Kap. IV. 47  H. Arendt, Sokrates: Apologie der Pluralität, Berlin 2016, S. 58. 48  Siehe die entsprechenden Überlegungen zum »Paradox des Politischen« bei P. Ricœur, Geschich­te und Wahrheit [1955], München 1974. 49  M. Foucault, Die Regierung des Selbst und der anderen. Vorlesung am Collège de Fran­ce 1982/83, Frankfurt/M. 2009, S. 179. 50  Wie die Diktatoren unseres Zeitalters, die sich gefallen im nicht enden wollenden Beifall ihrer Claqueure, von denen es manchmal, wie zu Stalins Zeiten, keiner wagt, als erster damit aufzuhören, nachdem man der überlangen staatstragenden Rede des großen Vorsitzenden, des größten Führers aller Zeiten, lauschen musste, der dummerweise nicht mit der Endlichkeit seines Lebens zu rechnen scheint und deshalb schier endlos ertragen werden muss. Ob es autokratischen Machthabern (wie in China, in Nordkorea, in der Türkei, in Russland etc.) noch gelingen kann, die neue Freiheit der neuen Medien ganz in den Griff zu bekommen, damit es so weiter gehen kann, steht dahin. 51   Benjamin Barber spricht in diesem Zusammenhang von einer »listening citizenry«. Ob allerdings wirklich das Gleiche gemeint ist, wäre eigens zu untersuchen. B. R. Barber, Strong Democracy – Participatory Politics for a New Age, Berkeley 22004, S. 207. 52  Vgl. M. Frank, Die Grenzen der Verständigung, Frankfurt/M. 1988, S. 15 ff. 53  Vgl. F. Jullien, Dialog über die Moral. Menzius und die Philosophie der Aufklärung, Berlin 2003. 54   Womit es ihnen keineswegs gelungen ist, die üblichen ›Spiele der Wahrheit‹ (um mit Foucault zu reden) einfach außer Kraft zu setzen. Denn die weitere Öffentlichkeit, bei den Journalisten angefangen, die die angeblich »alternativen Fakten« überprüfen konnten, hat sehr wohl verstanden, was hier

310  |  Anmerkungen zu Kapitel X

geschah. Insofern besteht zu hysterischen Übertreibungen keinerlei Anlass, die darauf hinauslaufen, seit Conway gebe es keine Fakten mehr. 55  Die klassische Referenz stellen natürlich die von Neil Sheehan, Hedrick Smith, E. W. Kenworthy und Fox Butterfield veröffentlichten Pentagon Papers dar. Ein herausragendes jüngeres Beispiel stellt die vom ehemaligen amerikanischen Außenminister im UN-Sicherheitsrat aufgestellte und mit vermeint­lichen Beweisen unterfütterte Behauptung dar, Saddam Hussein habe seinerzeit im Irak über Mass­envernichtungswaffen verfügt. Colin Powell, seinerzeit Chef des State Department, sagte später sinngemäß, nachdem er entdeckt hatte, dass ihn die eigenen Geheimdienste in die Irre geführt hatten, es sei der schwärzeste Tag seines Lebens gewesen, als er die »Beweise« vorlegte. Das ehrt Powell und bestätigt indirekt, wovon man bislang glaubte ausgehen zu dürfen: dass es sich auch beim Weißen Haus und beim State Department um Orte handelt, an denen man weder offenkundig lügen noch anders die Frage nach der Wahrheit des Gesagten vergleichgültigen durfte. Vgl. die Bestands­aufnahmen von H. Leyendecker, Die Lügen des Weißen Hauses. Warum Amerika einen neuen Anfang braucht, Reinbeck 2004, und B. Woodward, Die Macht der Verdrängung. George W. Bush, das Weisse Haus und der Irak. State of Denial, München 2008. 56  Vgl. H. Weinrich, Linguistik der Lüge, Heidelberg 1966, S. 10. 57  Hannah Arendt hat in ihrer Auseinandersetzung mit der Lüge in der amerikanischen Politik anlässlich der Veröffentlichung der Pentagon-Papers denn auch immer wieder deutlich gemacht, wie sehr man seinerzeit darum bemüht war, das eigene »Ansehen« bzw. »Image« zu retten, um nicht »das Ge­ sicht« zu verlieren. Davon kann heute, in Trump-Zeiten, gar keine Rede mehr sein. Dem besagten Präsidenten selbst kommt es offenbar nur darauf an, sich die Gefolgschaft seiner Wähler zu sichern. Dazu dient ihm auch eine pauschale Denunziation der Vierten Gewalt als »fake news« oder »Lügenpresse«, wie man hierzulande sagt, wo sich im Prinzip die gleichen populistischen Prozesse abspielen. Noch aber ist diesseits des Atlantiks niemand an der Macht und erklärt, nach eigenem Gutdünken mit »Fakten« verfahren zu wollen bzw. seine ›eigenen‹ zu haben. Letztlich würde damit der Begriff des Faktischen selbst aufgelöst. Denn zu ihm gehört es, als ›faktisch‹ nur das gelten zu lassen, was möglichst umfassenden und offenen sozialen Prozessen der Verifikation, der Bewahrheitung, Bezeugung und der Gewährleistung unterzogen wurde und nur deshalb, d. h. durch soziale Approbation, auch als solches akzeptabel gilt. Vgl. Arendt, »Die Lüge in der Politik«, S. 331 ff. 58  »Die schwarze Kunst«, wusste schon Nietzsche, »erscheint […] in einer Lichthülle«. Die Obscuranten, S. 392 (siehe oben, Anm. 10). 59  Arendt, Vita activa, S. 51. 60  Hier müsste man allerdings weiter denken, zumal wenn kein IdeologieKonzept mehr überzeugt, das impliziert, man müsste (wie in der Camera obscura) ›verkehrte‹, ›verdrehte‹ oder pervertierte Ver­hältnisse lediglich ›vom Kopf auf die Füße stellen‹. Treffend schreibt Sarah Kofman dazu: »Die Um­ Anmerkungen zu Kapitel X  |  311

drehung der Umdrehung kann nichts umdrehen.« D. h. sie eröffnet keine wirklichen Auswege. Ob »al­len Pseudo-Helligkeiten, jedem Obscurantismus ein Ende« gesetzt werden kann, wie Kofman mit Nietz­sche erwägt, bleibe dahingestellt; S. Kofman, Camera obscura. Von der Ideologie, Wien 2014, S. 20, 75; P. Ricœur, Lectures on Ideology and Utopia, New York 1986. Epilog

S.  254 – 261

R. W. Emerson, Selected Essays, London 1982, S. 359. Zit. n. H. Blumenberg, Schriften zur Literatur 1945‒1958, Berlin 2017, S. 349. 3  P. Ricœur, Das Selbst als ein Anderer, München 1996, Kap. 10. 4 Ovid, Metamorphosen, 8.626‒724. 5  I. Kadaré, Der zerrissene April, München 1993. 6   Siehe Kap. V, Anm. 30. 7  I. Kant, »Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis«, in: Werk­ausgabe Bd. XI (Hg. W. Weischedel), Frankfurt/M. 1977, S. 125‒172, hier: S. 144. 8  Siehe Kap. V, 2, sowie zum historischen Kontext: W. v. Wroblewski, »Orte solidarischer Gastfreundschaft«, in: B. Liebsch, M. Staudigl, P. Stoellger (Hg.), Perspektiven europäischer Gastlichkeit. Geschichte ‒ Kulturelle Praktiken ‒ Kritik, Weilerswist 2016, S. 273‒297. 9  Vgl. zu dieser Unterscheidung J. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, München 1992. 10   J. W. Goethe, West-östlicher Diwan, Frankfurt/M. 1988, S. 184 f. 11  Vgl. Vf., »Das Vorkulturelle, das Transkulturelle und die identitäre Versuchung«, in: B. Mittler, P. Stoellger (Hg.), Kultur neu denken ‒ Reenvisioning the (Trans-)Cultural ‒ C’est quoi la (trans-)culture?, Heidelberg, i. E. 12   J. Derrida, Cosmopolites de tous les pays, encore un effort!, Paris 1997, S. 42. 1 

2 

312  |  Anmerkungen zum Epilog

Nachweise

Vorwort: Erstveröffentlichung Kapitel I ist eine stark überarbeitete Fassung einer früheren Version, die erscheinen ist im Magazin des Verlags Velbrück Wissenschaft (https:// www.velbrueck.de/out/media_rte/files/MA­GA ­Z IN%20Euro­pa%20 im%20Zei­chen%20der%20Gast­lich­keit.pdf), sowie in: P. Angelova, J.  An­d re­ev, E. Lensky (Hg.), Das interpretative Universum. Dimitri ­Ginev zum 60. Geburts­tag gewidmet, Würzburg 2017, S. 441‒470. Kapitel II ist zuerst in einer früheren Fassung erschienen in: U. Hemel, J. Manemann (Hg.), Heimat finden ‒ Heimat erfinden. Politisch-philosophische Perspektiven, Paderborn 2017, S. 113‒132. Kapitel III ist in einer früheren Fassung zuerst erschienen unter dem Titel »Landschaften der Verlassenheit ‒ Bilder des Desasters: Maurice Blanchot und Georges Didi-Hu­­­­­ber­­man«, in: M. Gutjahr, M.  Jarmer (Hg.), Von Ähnlichkeit zu Ähnlichkeit. Maurice Blan­­­chot und die Leidenschaft des Bildes, Wien 2016, S. 237‒268. Kapitel IV: Erstveröffentlichung. Überleitung: überschneidet sich teilweise mit einer früheren Replik auf den in Le Monde am 16.8.2018 erschienen Essay É. Balibars Pour un droit international de l’hospitalité in Zeit Online; https://www.zeit.de/ kul­tur/2018-10/fluechtlinge-gastfreund­schaft-iden­titaere-philosophieessay?page=13#com­ments. Erstveröffentlichung in gedruckter Form.

  |  313

Kapitel V geht zurück auf meinen Eröffnungsvortrag anlässlich der Tagung »›Komm, sei unser Gast.‹ Gast­lichkeit als Herausforderung für Theologie, Kirche und Gesellschaft«, Augustinerkloster Er­f urt, am 27. Februar 2017; er wurde zuerst veröffentlicht in U. Link-Wieczorek (Hg.), Gastlichkeit. Eine Herausforderung für Theologie, K ­ irche und ­Gesellschaft, Leipzig 2018, S. 29‒54. Kapitel VI geht zurück auf einen Vortrag im Rahmen der öffentlichen Ringvorlesung zum Thema »Gewalt« der Universität EichstättIngol­stadt am 14. November 2016; er wurde zuerst veröffentlicht in: U. Kropač, B. Sill (Hg.), Gewalt, Sankt Ottilien 2017, S. 29‒50. Kapitel VII geht zurück auf einen Vortrag im Rahmen des Forums für Heil- und Religionspädagogik in Kooperation mit dem ComeniusInstitut Münster zum Thema »Miteinander am Tisch ‒ Tische als Ort sozialer Utopien«, 14. Mai 2018, KSI Siegburg. Erstveröffent­lichung. Kapitel VIII geht zurück auf einen Vortrag anlässlich der internationalen Konferenz »Die Phänomenologie und das Po­liti­sche« der Deutschen Gesellschaft für phänomenologische Forschung, FernUniversität Hagen vom 13.‒16. September 2017, am 14. September 2017; eine frühere Fassung wurde veröffentlicht in der Zeitschrift für politische Theorie (2018). Kapitel IX geht zurück auf einen Vortrag im Rahmen des Promovierendentreffens des Evangelischen Studienwerks Villigst, Haus Villigst, Schwerte, 2. Dezember 2017; eine frühere Fassung wurde veröffentlicht in: Scheidewege. Jahresschrift für skeptisches Denken (2018/2019), S. 212‒227. Kapitel X: Erstveröffentlichung. Epilog: Erstveröffentlichung.

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  |  341

Namenregister Abensour, M. 288 Abraham 119 Adorno, T. W. 11, 32, 83, 120, 162, 195, 296 Agamben, G. 32, 52, 87, 129 Aischylos 131 Améry, J. 62, 68, 70 Amir, J. 299 Amri, A. 238 Antelme, R. 125 Apel, K.-O. 251 f. Arafat, J. 299 Arendt, H. 32, 37, 39, 62 f., 65, 79 f., 83 f., 102, 129, 200 f., 209, 230, 235, 238, 241 ff., 248, 253, 288, 301, 309, 311 Aristoteles 44, 194 ff., 199, 202 Ascherson, N. 283 Augustinus, A. 141, 274 Austin, J. L. 159 Avenarius, R. 45 Bachelard, G. 237, 308 Bachtin, M. 309 f. Bakunin, M. 211 Balibar, É. 15, 129 f., 262 Barber, B. R. 310 Barthes, R. 125, 277 Bataille, G. 237 Bateson, G. 300 Baudelaire, C. 199, 237, 271 Bauman, Z. 87, 103

342  | 

Bayle, P. 45 Bebel, A. 26 Beck, U. 265 Benjamin, W. 89, 278 f., 91, 94, 173 Berger, B. 63 Berger, P. L. 63 Bernasconi, R. 280 Blanchot, M. 45, 52, 57, 60, 69 f., 73, 83‒88, 90, 95‒100, 112, 114‒127, 237, 277‒282, 285 ff. Bloch, E. 211 f. Blumenberg, H. 101 ff. Böhme, H. 45 Böhme, G. 45 Börne, L. 188 Bouazizi, M. 216 Brague, R. 24 Brecht, B. 188, 276 Broch, H. 54, 273 Buber, M. 45, 62, 98, 100, 107, 109‒112, 122, 125, 244, 249 Büchner, G. 68 Butler, J. 188, 209 Butterfield, F. 311 Camus, A. 85, 191, 209 f., 212, 220 f., 224 Carossa, H. 254 Carus, C. G. 76 Castel, Abbé de St. Pierre 24 Celan, P. 236, 283

Cézanne, P. 76 Chagall, M. 283 Chamisso, A. v. 57 Char, R. 172, 176 Chatwin, B. 282 Clausewitz, C. v. 269 Cohen, H. 112, 123, 288 Conway, K. 230, 249, 251, 311 Coulmas, P. 271

Fortuyn, P. 18 Foucault, M. 45, 101, 245, 304, 310 Franck, G. 239 Frank, M. 271 Freud, S. 27, 90 Friedländer, E. 72 Frisch, M. 227, 236 Fukuyama, F. 189

Dante Alighieri 24, 66 Darré, R. W. 278 Debord, G. 239 Delbo, C. 72 Deleuze, G. 103 Derrida, J. 15, 19, 32‒36, 38, 45, 48, 112, 131, 260, 263, 265, 292, 294 Descartes, R. 196, 220 f., 240 Didi-Huberman, G. 87‒97, 277 ff. Diogenes v. Sinope 103, 108 Dostojewski, F. 212, 281 Dubois, P. 24 Dubnow, S. 107 Duchamp, M. 90 Dulong, R. 95

Gadamer, H.-G. 240, 278 Goethe, J. W. 137, 258 Göring, H. 307 Gogh, T. v. 18 Goldhagen, D. J. 31 Goldschmidt, G.-A. 59, 68 Gorbatschow, M. 288 Gorgias 302 Goya, F. 77 Gracian, B. 188 Grande, E. 265 Grass, G. 14 Greisch, J. 288 f. Grimm, J. 173, 175 Grimm, W. 173, 175 Grossman, W. 238 Groethuysen, B. 141, 270 Guattari, F. 103 Gumplowicz, L. 173

Elias, N. 176 f. Eliot, T. S. 280 Emerson, R. W. 254 Engels, F. 26 Feuerbach, L. 45, 175, 244, 298 Fichte, J. G. 45 Fink, E. 64, 267, 272, 307 Finkielkraut, A. 14, 70 Flusser, V. 23, 69 f., 103, 298

Habermas, J. 32, 235, 241, 251 Haffner, S. 56 f. Hardt, M. 283 Hartog, F. 283 Hegel, G. W. F. 26, 83, 99 f., 105, 117, 125, 127, 193, 197, 201, 208, 240, 274, 286, 308 f.

Namenregister  |  343

Heidegger, M. 26, 64, 79, 85, 99, 101, 113 f., 116, 199 f., 229, 267, 272, 285, 307 Heine, H. 231 Hénaff, M. 235 Henrich, D. 158 Herodot 104, 283 Herzfeld, M. 38 Hesiod 24 Hess, M. 284 Hessel, S. 189, 209 Himmler, H. 278 Hindenburg, P. v. 56 Hiob 211 Hitler, A. 56 f., 114 Hobbes, T. 44, 165, 212 Hölderlin, F. 57, 70, 276 Humboldt, A. v. 79 Humboldt, W. v. 244, 249 Hus­serl, E. 10, 26, 31, 45, 86, 200, 203, 266, 279, 308 Irigaray, L. 140 Jacob, F. 141 Jacques, F. 244, 249 Jaspers, K. 15, 158 Jay, M. 239 Jelinek, E. 131 Jonas, H. 292, 308 Jordan, P. 234 Judaken, J. 280 Kafka, F. 43, 68 f., 143, 307 Kant, I. 13 f., 45, 76, 86, 102 f., 123, 130, 138, 142, 147 f., 157, 172, 176 ff., 181, 190, 193 f., 196, 205, 209, 233, 240 f., 256, 304 344  |  Namenregister

Karl d. Gr. 24 Kellner, H. 63 Kenworthy, E. W. 311 Kertész, I. 54, 66 f, 273, 286 Kirilloff 281 Klee, P. 241 Klemperer, V. 211 Kofman, S. 312 Kopelew, L. 298 Kossert, A. 257 Krockow, C. Graf v. 271 Krupa, M. 262 Lacan, J. 279 LaCapra, D. 55, 279 Lacoue-Labarthe, P. 31, 52 Lau, I. M. 181, 182, 299 Le Blanc, G. 188 Lessing, T. 31 Levi, P. 68 Levinas, E. 15, 32 ff., 38 f., 42, 45 ff., 52, 70, 72, 84, 86, 96, 100 f., 108, 112‒118, 120 f., 124 f., 127, 131, 141, 161, 238, 244, 249, 266 f., 272 f., 282, 285, 287 f., Lewin, K. 276 Lewitan, L. 181 Lipps, T. 200 Locke, J. 282 Löwith, K. 45, 244, 293 Lübbe, H. 294 Lueger, K. 307 Luxemburg, R. 112 Lyotard, J.-F. 32, 87 Mach, E. 45 Machiavelli, N. 44, 230 Mak, G. 271

Ma­le­w itsch, K. 90 Mallarmé, S. 276 Márai, S. 60 Marion, J.-L. 139 f. Marx, K. 105 Maser, W. 291 Matt, P. v. 69 Mbembe, A. 48 Merleau-Ponty, M. 64, 86, 199 Michaels, A. 68, 275, 277 f. Michelet, J. 237 Moleschott, J. 298 Moltke, H. v. 26 Monod, J. 67 Montaigne, M. de 197 Moritz, C. P. 68 Mouffe, C. 189, 304 Müller, W. 198 Nancy, J.-L. 199, 288, 297 Napoleon 226 Negri, A. 103, 283 Neher, A. 119 Nietzsche, F. 16, 26, 60, 67, 103, 206, 231, 288, 311 f. Novalis 64, 237 Obama, B. 250 Orbán, V. 132, 272 Orwell, G. 243 Patterson, O. 188 Pa­točka, J. 267 Paul, G. 274 Pascal, B. 67, 282 Penn, W. 24 Petrarca, F. 274 Pico della Mirandola, G. 128

Platon 44, 96, 118, 159, 176, 189 f., 193, 240, 266, 284 Plessner, H. 205, 308 Polanyi, K. 270 Popper, K. R. 18 Powell, C. 311 Prometheus 235 Putzger, F. W. 275 Rabin, J. 299 Rancière, J. 32, 90, 188, 209 Ratzel, F. 79 Reitz, E. 257 Rentsch, T. 304 Resnais, A. 277 Ricœur, P. 59, 199, 254, 288, 307 Rilke, R. M. 57, 59, 76, 291 Rimbaud, A. 199, 210, 309 Rosenstock-Huessy, E. 157, 161, 296 Rosenzweig, F. 249, 273, 284 Roth, J. 108 Russell, B. 276 Sartre, J.-P. 43 f., 47 f., 268 Scheler, M. 45, 200, 206 Schlegel, F. 196 Schleiermacher, F. 196 Schlemihl, P. 57 Schlözer, A. L. 128 Schmitt, C. 41, 109, 284, 300 Schubert, F. 198 Scott, S. 305 Seibt, F. 23, 175 Semprun, J. 73 f., 86 Sereny, G. 72 Shakespeare, W. 137 Sheehan, N. 311 Namenregister  |  345

Shklar, J. N. 223, 230 Simmel, G. 177, 249, 299 Sloterdijk, P. 189, 209, 283, 308 Smith, A. 200 Smith, H. 311, 338 Snyder, T. 78 ff., 265 Soboczynski, A. 18 Spengler, O. 104 ff. Spicer, S. 250, 253 Spinoza, B. de 200, 301 Stalin, J. 310 Stegmaier, W. 60 Stein, S. 299 Steiner, G. 65. 142 Stoellger, P. 302 Sully, M. de B., Herzog v. 24 Tabori, G. 67, 286 Tacitus 173, 175 Taylor, C. 64 Theunissen, M. 83 Thukydides 157 Tocqueville, A. de 244 Todorov, T. 45, 48

346  |  Namenregister

Trump, D. 249 f., 307, 311 Tsoukas, H. 236 Türcke, C. 239 Ulrich, B. 14 Valéry, P. 27 f., 116, 239, 263 Voltaire 27 Wajcman, G. 279 Waldenfels, B. 262, 267 Warnke, M. 77 Weil, S. 99 Weinberg, S. 234 Weiss, P. 66, 141 Weizmann, C. 109 Winkler, H. A. 14 Wirth, H. 278 Wittgenstein, L. 89 f., 116, 227, 229, 241 Zimmermann, M. 299 Zweig, S. 264, 292