Platonisches Erbe, Byzanz, Orthodoxie und die Modernisierung Griechenlands: Schwerpunkte des kulturphilosophischen Werkes von Stelios Ramfos 9783631681299, 9783653072648, 9783631711446, 9783631711453, 3631681291

Diese Darstellung des bisherigen Werkes des Kulturphilosophen Stelios Ramfos stellt erstmalig einen prominenten zeitgenö

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Vorwort
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
1.1 Thematische Einführung
1.2 Biographie und Chronologie des Gesamtwerks
1.3 Methodisches Vorgehen
1.3.1 „Kreative Hermeneutik“
1.3.2 Rezeption des Werks und Stand der Forschung
1.3.3 Aufbau und Erkenntnisziele der Untersuchung
2 Griechischer Osten und Lateinischer Westen – ein unüberbrückbarer Gegensatz?
2.1 Osten vs. Westen aus theologischer Sicht
2.2 Osten vs. Westen aus historisch-politischer Perspektive
2.3 Die Rolle der orthodoxen Kirche im Nationsbildungsprozess
2.4 Wer ist „Hellene“? Die Frage nach der griechischen Identität
2.5 Westorientierung Griechenlands und Gegenbewegungen
3 Platon und das Streben nach dem „mystischen Licht“
3.1 Die Platonlektüre der Pariser Zeit
3.2 Platon und die christliche Tradition – ein Gegensatz?
3.3 „Innerlichkeit“ und „griechische Psychologie“
3.4 Der philosophische Weg zur Erleuchtung
3.5 Lichtmetaphorik und Platons Metaphysik
3.5.1 Platons Lichtmetaphorik
3.5.2 Heideggers Platonverständnis und Ramfos’ Kritik
3.5.3 Das Höhlengleichnis
3.6 Reinigung und Befreiung der Seele
3.7 Θεωρία – Sehen und Erkennen im philosophischen Kontext
3.8 Das Auge der Seele. Plotins Entdeckung der Innerlichkeit
4 Orthodoxe monastische Mystik und platonisches Erbe
4.1 Der Übergang von der antiken zur christlichen Innerlichkeit
4.2 Die christlich-orthodoxe mystische Tradition
4.3 Die Wüstenväter: Vorreiter der Erweiterung der Innerlichkeit
4.4 Verstand, Seele und Körper: Die Anthropologie des Evagrios Pontikos
4.5 Gottesschau und byzantinischer Humanismus: Symeon der Neue Theologe
4.6 Die orthodoxe Antwort auf den westlichen Humanismus: Gregor Palamas
4.7 Politischer Hesychasmus und verhinderte Modernisierung der orthodoxen Welt
5 Personale Anthropologie im Kontext der neoorthodoxen Diskussion
5.1 Individuum, Person und orthodoxe Pseudomorphose
5.2 Die russische Exiltheologie und die neoorthodoxe Strömung
5.3 Die orthodoxe Augustinuslektüre zwischen Theologie und Politik
5.4 Die Anthropologie der Person
5.4.1 Trinitätslehre und orthodoxes Menschenbild
5.4.2 „Individualistische“ vs. „metaphysische“ Liebe in Ost und West
5.4.3 Die neoorthodoxe Debatte um die Person
5.4.4 Ramfos’ Theorie der Person
5.4.5 Der Begriff des Enhypostatons
6 Der griechische Weg in die Moderne
6.1 Die schwierige Suche nach einer griechischen Kulturtradition
6.2 Die Sprachenfrage – Konservative Position und Sprachmystik
6.2.1 Kurze Vorgeschichte der griechischen Sprachenfrage
6.2.2 Ein Beitrag zur Diskussion um die Sprachreform
6.2.3 Sprachmystik
6.3 Literatur im neoorthodoxen Kontext: Alexandros Papadiamantis
6.3.1 Papadiamantis und der Beginn der neugriechischen Prosa
6.3.2 Papadiamantis und Dostojewski
6.4 Umstrittene Modernisierung: Antworten auf die Krise in Griechenland
6.5 Individualisierung und „ethnopsychologische“ Kritik
7 Schluss
7.1 Zusammenfassung
7.2 Versuch einer Beurteilung des bisherigen Wegs
8 Literaturverzeichnis
8.1 Werke von Stelios Ramfos
8.2 Primärquellen aus antiker und mittelalterlicher Literatur
8.3 Sekundärliteratur
ERFURTER STUDIEN ZUR KULTURGESCHICHTE DES ORTHODOXEN CHRISTENTUMS
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Isabella Schwaderer hat Klassische Philologie und Philosophie in Würzburg, Thessaloniki, Padua und Jena studiert. Sie promovierte 2014 im Bereich Religionswissenschaft (Kulturgeschichte des Orthodoxen Christentums) an der Universität Erfurt. Zurzeit unterrichtet sie Religionswissenschaft in Erfurt und arbeitet im Überschneidungsbereich von Religion, Kunst und Körperlichkeit.

ISBN 978-3-631-68129-9

ESKO 15_Schwaderer_268129_RM_HCA5 globaL.indd 1

www.peterlang.com

Platonisches Erbe, Byzanz, Orthodoxie und die Modernisierung Griechenlands im kulturphilosophischen Werk von Stelios Ramfos

Ramfos’ Analysen der griechischen Gesellschaft erhellen die aktuelle Diskussion um die europäische Integration. Das Buch bietet darum nicht nur einen Überblick über sein Werk und Denken, sondern auch einen Einblick in die Problematik der Modernisierung Griechenlands und seiner Positionierung in Europa.

15

Isabella Schwaderer ·

Diese Darstellung des bisherigen Werkes des Kulturphilosophen Stelios Ramfos stellt erstmalig einen prominenten zeitgenössischen griechischen Denker vor. In über vier Jahrzehnten produktiver Tätigkeit erstreckten sich seine Themen von einer neuen Lektüre Platons aus orthodoxer Sicht über byzantinische Spiritualität, christlich-orthodoxe Religionsphilosophie und neugriechische Literatur und Sprache bis hin zu einer zuweilen polemischen Auseinandersetzung mit dem Weg Griechenlands in die Moderne.

ERFURTER STUDIEN ZUR KULTURGESCHICHTE DES ORTHODOXEN CHRISTENTUMS

Isabella Schwaderer

Platonisches Erbe, Byzanz, Orthodoxie und die Modernisierung Griechenlands Schwerpunkte des kulturphilosophischen Werkes von Stelios Ramfos

15.03.18 18:02

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Isabella Schwaderer hat Klassische Philologie und Philosophie in Würzburg, Thessaloniki, Padua und Jena studiert. Sie promovierte 2014 im Bereich Religionswissenschaft (Kulturgeschichte des Orthodoxen Christentums) an der Universität Erfurt. Zurzeit unterrichtet sie Religionswissenschaft in Erfurt und arbeitet im Überschneidungsbereich von Religion, Kunst und Körperlichkeit.

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Platonisches Erbe, Byzanz, Orthodoxie und die Modernisierung Griechenlands im kulturphilosophischen Werk von Stelios Ramfos

Ramfos’ Analysen der griechischen Gesellschaft erhellen die aktuelle Diskussion um die europäische Integration. Das Buch bietet darum nicht nur einen Überblick über sein Werk und Denken, sondern auch einen Einblick in die Problematik der Modernisierung Griechenlands und seiner Positionierung in Europa.

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Isabella Schwaderer ·

Diese Darstellung des bisherigen Werkes des Kulturphilosophen Stelios Ramfos stellt erstmalig einen prominenten zeitgenössischen griechischen Denker vor. In über vier Jahrzehnten produktiver Tätigkeit erstreckten sich seine Themen von einer neuen Lektüre Platons aus orthodoxer Sicht über byzantinische Spiritualität, christlich-orthodoxe Religionsphilosophie und neugriechische Literatur und Sprache bis hin zu einer zuweilen polemischen Auseinandersetzung mit dem Weg Griechenlands in die Moderne.

ERFURTER STUDIEN ZUR KULTURGESCHICHTE DES ORTHODOXEN CHRISTENTUMS

Isabella Schwaderer

Platonisches Erbe, Byzanz, Orthodoxie und die Modernisierung Griechenlands Schwerpunkte des kulturphilosophischen Werkes von Stelios Ramfos

15.03.18 18:02

Platonisches Erbe, Byzanz, Orthodoxie und die Modernisierung Griechenlands

ERFURTER STUDIEN ZUR KULTURGESCHICHTE DES ORTHODOXEN CHRISTENTUMS Herausgegeben von Vasilios N. Makrides

BAND 15

Zu Qualitätssicherung und Peer Review der vorliegenden Publikation

Die Qualität der in dieser Reihe erscheinenden Arbeiten wird vor der Publikation durch den Herausgeber der Reihe in Zusammenarbeit mit externen Gutachtern geprüft.

Note on the quality assurance and peer review of this publication

Prior to publication, the quality of the works published in this series is reviewed by the editor in collaboration with external referees.

Isabella Schwaderer

Platonisches Erbe, Byzanz, Orthodoxie und die Modernisierung Griechenlands Schwerpunkte des kulturphilosophischen Werkes von Stelios Ramfos

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Zugl.: Erfurt, Univ., Diss., 2014 Umschlaggestaltung: © Olaf Gloeckler, Atelier Platen, Friedberg Umschlagabbildung: Porträt des Autors Stelios Ramfos. Mit freundlicher Genehmigung des Verlags Ἁρμός [Harmos].

547 ISSN 1612-152X ISBN 978-3-631-68129-9 (Print) E-ISBN 978-3-653-07264-8 (E-PDF) E-ISBN 978-3-631-71144-6 (EPUB) E-ISBN 978-3-631-71145-3 (MOBI) DOI 10.3726/978-3-653-07264-8 © Peter Lang GmbH Internationaler Verlag der Wissenschaften Berlin 2018 Alle Rechte vorbehalten. Peter Lang – Berlin · Bern · Bruxelles · New York Oxford · Warszawa · Wien Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für ­Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Diese Publikation wurde begutachtet. www.peterlang.com

Vorwort Sich auf eine Arbeit über einen Autor wie Stelios Ramfos einzulassen ist sicherlich ein Wagnis, da die Breite seiner Themen ein ungeheures Hintergrundwissen erfordert. Nach einigem Zögern entschloss ich mich dennoch dazu, nicht zuletzt auch deswegen, um meine eigenen Studien zu Platon, antiker griechischer Literatur, mittelalterlicher Philosophie und moderner griechischer Literatur auf die Probe zu stellen. So machte ich Ramfos’ Suche auch zu meiner eigenen und bin dankbar für eine Fülle neuer Erkenntnisse. Diese Arbeit wurde ermöglicht durch ein Stipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) im Rahmen des Graduiertenkollegs 1412 „Kulturelle Orientierungen und gesellschaftliche Ordnungsstrukturen in Südosteuropa“ der Universitäten Jena und Erfurt; an Letzterer wurde sie als Dissertation angenommen. Mein herzlicher Dank gilt meinem Betreuer Prof. Dr. Vasilios N. Makrides, der mir in allen Phasen des Projektes immer hilfreich und stets motivierend zur Seite gestanden ist sowie PD Dr. Stamatios Gerogiorgakis, dessen intime Kenntnis der Materie mir geholfen hat, etliche Klippen zu umschiffen. Ausführliche Diskussionen im Rahmen des Graduiertenkollegs und bei zahlreichen Kolloquien der Religionswissenschaft mit Schwerpunkt Orthodoxes Christentum an der Universität Erfurt machten mich auf kritische Punkte aufmerksam und die herzliche kollegiale Atmosphäre half über schwierige Phasen des Prozesses hinweg. Mein besonderer Dank geht an meine Familie, die sich während der Abfassungszeit dieses Buches durch die Geburt meiner zweiten Tochter vergrößert hat, und die oft meine Abwesenheit ertragen musste. Tatkräftig aufmunternd standen mir zudem immer meine Eltern zur Seite, sei es durch Entlastung bei der familiären Arbeit als auch durch hingebungsvolle und kritische Lektüre des vorliegenden Textes. Ohne diese vielfältige Unterstützung von allen Seiten hätte ich diese Arbeit niemals zu Ende führen können. Isabella Schwaderer Weimar, Ἅγιο Πάσχα, 1. Mai 2016

Inhaltsverzeichnis 1 Einleitung......................................................................................................... 11 1.1 1.2 1.3

Thematische Einführung........................................................................... 11 Biographie und Chronologie des Gesamtwerks..................................... 15 Methodisches Vorgehen............................................................................. 29 1.3.1 „Kreative Hermeneutik“................................................................. 29 1.3.2 Rezeption des Werks und Stand der Forschung.......................... 31 1.3.3 Aufbau und Erkenntnisziele der Untersuchung.......................... 34

2 Griechischer Osten und Lateinischer Westen – ein unüberbrückbarer Gegensatz?................................................................ 43

2.1 2.2 2.3 2.4 2.5

Osten vs. Westen aus theologischer Sicht................................................ 43 Osten vs. Westen aus historisch-politischer Perspektive....................... 47 Die Rolle der orthodoxen Kirche im Nationsbildungsprozess............. 54 Wer ist „Hellene“? Die Frage nach der griechischen Identität.............. 58 Westorientierung Griechenlands und Gegenbewegungen................... 61

3 Platon und das Streben nach dem „mystischen Licht“................ 67 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6 3.7 3.8

Die Platonlektüre der Pariser Zeit............................................................ 67 Platon und die christliche Tradition – ein Gegensatz?.......................... 72 „Innerlichkeit“ und „griechische Psychologie“...................................... 78 Der philosophische Weg zur Erleuchtung............................................... 83 Lichtmetaphorik und Platons Metaphysik.............................................. 91 3.5.1 Platons Lichtmetaphorik................................................................ 91 3.5.2 Heideggers Platonverständnis und Ramfos’ Kritik..................... 92 3.5.3 Das Höhlengleichnis....................................................................... 95 Reinigung und Befreiung der Seele.......................................................... 97 Θεωρία – Sehen und Erkennen im philosophischen Kontext.............. 100 Das Auge der Seele. Plotins Entdeckung der Innerlichkeit................... 111

8

Inhaltsverzeichnis

4 Orthodoxe monastische Mystik und platonisches Erbe............... 117 4.1 Der Übergang von der antiken zur christlichen Innerlichkeit............. 117 4.2 Die christlich-orthodoxe mystische Tradition........................................ 120 4.3 Die Wüstenväter: Vorreiter der Erweiterung der Innerlichkeit............ 126 4.4 Verstand, Seele und Körper: Die Anthropologie des Evagrios Pontikos................................................................................. 139 4.5 Gottesschau und byzantinischer Humanismus: Symeon der Neue Theologe....................................................................... 150 4.6 Die orthodoxe Antwort auf den westlichen Humanismus: Gregor Palamas.................................................................. 161 4.7 Politischer Hesychasmus und verhinderte Modernisierung der orthodoxen Welt..................................................... 176

5 Personale Anthropologie im Kontext der neoorthodoxen Diskussion........................................................................ 183 5.1 Individuum, Person und orthodoxe Pseudomorphose......................... 183 5.2 Die russische Exiltheologie und die neoorthodoxe Strömung............. 185 5.3 Die orthodoxe Augustinuslektüre zwischen Theologie und Politik................................................................................. 189 5.4 Die Anthropologie der Person.................................................................. 197 5.4.1 Trinitätslehre und orthodoxes Menschenbild............................. 197 5.4.2 „Individualistische“ vs. „metaphysische“ Liebe in Ost und West..................................................................... 199 5.4.3 Die neoorthodoxe Debatte um die Person................................... 202 5.4.4 Ramfos’ Theorie der Person........................................................... 209 5.4.5 Der Begriff des Enhypostatons...................................................... 215

6 Der griechische Weg in die Moderne................................................... 223 6.1 6.2

Die schwierige Suche nach einer griechischen Kulturtradition........... 223 Die Sprachenfrage – Konservative Position und Sprachmystik........... 226 6.2.1 Kurze Vorgeschichte der griechischen Sprachenfrage................ 226 6.2.2 Ein Beitrag zur Diskussion um die Sprachreform...................... 229 6.2.3 Sprachmystik.................................................................................... 233

 Inhaltsverzeichnis

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6.3 Literatur im neoorthodoxen Kontext: Alexandros Papadiamantis...... 240 6.3.1 Papadiamantis und der Beginn der neugriechischen Prosa.................................................................... 240 6.3.2 Papadiamantis und Dostojewski................................................... 247 6.4 Umstrittene Modernisierung: Antworten auf die Krise in Griechenland.......................................................................................... 250 6.5 Individualisierung und „ethnopsychologische“ Kritik.......................... 262

7 Schluss................................................................................................................ 273 7.1 Zusammenfassung...................................................................................... 273 7.2 Versuch einer Beurteilung des bisherigen Wegs..................................... 277

8 Literaturverzeichnis.................................................................................... 279 8.1 Werke von Stelios Ramfos......................................................................... 279 8.2 Primärquellen aus antiker und mittelalterlicher Literatur.................... 282 8.3 Sekundärliteratur........................................................................................ 283

1 Einleitung 1.1  Thematische Einführung Stelios Ramfos, dessen kulturphilosophisches Profil Thema der vorliegenden Untersuchung sein soll, ist eine in der heutigen griechischen intellektuellen Öffentlichkeit außerordentlich präsente und auch nicht unumstrittene Persönlichkeit. Seit den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts wendet er sich mit regelmäßigen Beiträgen in Zeitungen an ein breites Publikum und hält Vorlesungen über Philosophie und Theologie in privaten Bildungseinrichtungen der Hauptstadt, die eher einem kleineren Zirkel vorbehalten sind. Die jüngste Staatsschuldenkrise, die daraus resultierenden massiven gesellschaftlichen Verwerfungen und das daraus folgende Gefühl der Unsicherheit in der Bevölkerung bescherten ihm jedoch schlagartig weit größere Bekanntheit und machten ihn zu einem beliebten Gast in Talkshows im Rundfunk und Fernsehen. Was Ramfos für das griechische Publikum so interessant macht, ist seine stellenweise durchaus eigenwillige Position zu nationalen Themen, etwa die Rolle der griechischen Kultur und Sprache im Allgemeinen sowie die Position Griechenlands in Europa und der Welt, Fragen also, die in Zeiten der Krise als besonders dringlich empfunden werden. Im Zusammenhang mit den vielfältigen europaskeptischen Stimmen aus nahezu allen Mitgliedsstaaten bildet Griechenland allerdings auch keine Ausnahme, und so ist die Betrachtung des Werks eines kulturphilosophischen Autors wie Ramfos ein Beitrag zur Analyse der ideologischen Positionen Griechenlands im Verhältnis zur Europäischen Union. Ramfos’ Werk ist zum einen sehr umfangreich und erstreckt sich über die gesamte Zeit der griechischen Mitgliedschaft bei der Staatengemeinschaft (seit 1981). Es beinhaltet zudem die zentralen Themen der griechischen Identität, nämlich Antike und Orthodoxie, Sprache und Philosophie, Marxismus und Politik, und nicht zuletzt kann man bei Ramfos auch eine wichtige ideologische „Kehre“ in den späten neunziger Jahren feststellen, die in mancherlei Hinsicht auch symptomatisch für die Haltung eines großen Teils der griechischen Bevölkerung ist: das grundsätzliche Misstrauen gegenüber dem Westen und Europa im Besonderen weicht einer breiten Zustimmung, die im Zuge der Krise später allerdings wieder heftig ins Wanken gerät. Somit soll diese Arbeit einen Intellektuellen in seinem Werdegang darstellen und sein breites Werk zum ersten Mal systematisch in die griechische Geistesgeschichte einordnen. Das Verhältnis Griechenlands zum

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Einleitung

Westen und zu Europa ist hierbei eine Art Leitmotiv, das sich durch die gesamte Breite der behandelten Themen hindurchzieht. Im weitesten Sinne sucht Ramfos nach den geistigen Wurzeln des heutigen Griechenlands, und für dieses Land mit dem immensen kulturellen Erbe liegt, so legt er nahe, der Schlüssel zum Verständnis in der Vergangenheit. In der Vergangenheit, dem größten Kapital, über das dieser kleine Staat im Südosten Europas verfügt, und insbesondere in seinem spirituellen Erbe zwischen Antike und Orthodoxie, sucht Ramfos also nach den Gründen für die Sonderstellung seines Landes in der europäischen Gemeinschaft. Viel von dieser Besonderheit Griechenlands führt er auf den großen Einfluss des orthodoxen Christentums zurück, das Geschichte und Mentalität des Landes stark geprägt hat. In gewisser Weise setzt er so Max Webers Annahme von der wechselseitigen Abhängigkeit von Modernisierung und Säkularisierung1 fort, nur unter umgekehrten Vorzeichen; die fehlende Säkularisierung in den orthodoxen Gesellschaften sei also der Grund für ihre nur zögerliche Eingliederung in die vom wissenschaftlich-technischen Fortschritt bestimmten westeuropäischen Staaten. Obwohl diese Grundannahme in jüngerer Zeit im Forschungsdiskurs erhebliche Kritik erfahren hat, erschließen sich durch sie in Ramfos Werk eine ganze Reihe von Schlussfolgerungen, die die oben genannte Frage nach der Besonderheit Griechenlands in Europa mit einer gewissen Plausibilität zu beantworten suchen. Die systematische Darstellung des Werks von Ramfos war insofern nicht unproblematisch, als sich der Autor zu Themen der gesamten griechischen Geistesgeschichte von Homer bis heute äußert, manche Kernaussagen sich aber im Laufe der Zeit erheblich verändern, wenn nicht gar widersprechen. Es werden im Folgenden also die wichtigsten Themen, die Ramfos beschäftigen, mehr oder weniger chronologisch, angefangen von der Antike über das Mittelalter bis zur Gegenwart, angeordnet. Um die unterschiedlichen Positionen, die Ramfos vor und nach seiner Kehre einnimmt, zu erläutern, wurden bei der Analyse vorzugsweise Beispiele ausgewählt, die im Laufe der Zeit eine unterschiedliche Bewertung erfahren haben. Das Buch beginnt mit einer ausführlichen Darstellung von Ramfos mystischer Auslegung der Philosophie Platons, die in seiner Auseinandersetzung mit Martin Heideggers Metaphysikkritik auch eine Gegenposition zur abendländischen Philosophiegeschichtsschreibung beinhaltet. Meine Analyse gründet sich in den Kapiteln zu Platon und der mittelalterlichen Tradition auf die Monographien, die aus Vorlesungsmaterialien entstanden 1

Weber 1985.

Thematische Einführung

13

sind. Die Auseinandersetzung um Griechenlands Rolle in der Moderne basiert vorwiegend auf verschiedenen Essays zur Literatur des 19. Jahrhunderts und auf kulturpolitischen Beiträgen in der Presse, insbesondere zur Sprachenfrage. Diese unterschiedlichen Quellenarten halten tendenziell komplementäre Erkenntnisse bereit und werden so weit wie möglich kombiniert. Nach einer ausführlichen Darstellung von Ramfos’ bisheriger Biographie und seiner wichtigsten Werke wird ein einleitendes Kapitel kurz die historische Entwicklung des griechischen Selbstverständnisses zeigen, um die wichtigsten Begriffe einzuführen, um die Ramfos’ kulturphilosophische Ausführungen kreisen. Hier soll insbesondere erklärt werden, weshalb die Abgrenzung vom lateinisch geprägten West- und Mitteleuropa für Ramfos ein so zentrales Element in der Diskussion um die nationale Identität ist. Daher werden die kulturellen Unterschiede zwischen „Ost“ und „West“ kurz aus theologischer und historischer Perspektive umrissen, um dann zu klären, welche Faktoren die griechische Identität bestimmen und in welches Verhältnis zum „Westen“ Ramfos Griechenland setzt. Vier unterschiedliche inhaltliche Motive und Themenfelder aus Ramfos’ Werk werden im Hauptteil eingeführt und analysiert. Die Aufteilung ergab sich aus der Absicht, zwei zentrale Dimensionen der Darstellung zu kombinieren, die man als diachrone und synchrone Dimension bezeichnen kann. Die synchrone Dimension ergibt sich aus der Tatsache, dass bestimmte Themenfelder, wie Platons Philosophie oder der Hesychasmus, in Ramfos’ Werk immer wieder auftauchen, sodass die thematischen Kapitel sich nicht werkchronologisch aneinander anschließen, sondern sich überlappen, mitunter sogar über Zeiträume von mehreren Jahrzehnten. Diese nicht strikt chronologische Aufteilung ist nicht nur der Tatsache geschuldet, dass sich Ramfos in unterschiedlichen Schaffensphasen mit denselben Themen auseinandergesetzt hat, und dass es nicht immer möglich ist, hier scharfe Zäsuren zwischen den einzelnen Phasen anzusetzen. Vielmehr kann die Bearbeitung unterschiedlicher philosophischer, theologischer, sprachlicher und ethnopsychologischer Aspekte griechischer Selbstverortung als ein Zusammenspiel verschiedener symbolischer Aneignungs- und Integrationsprozesse beschrieben werden, die sich teilweise thematisch überlagern, teilweise auch aufeinander folgen und sich wechselseitig verstärken oder auch einander zuwiderlaufen. Die Themen „Sprache“, „Philosophie“ und „Theologie“ in Ramfos’ Werk unabhängig voneinander zu untersuchen würde die innere Dynamik ihrer Wechselwirkungen und damit die wichtigste Besonderheit dieses Diskurses, nämlich all diese Aspekte aus der Perspektive der griechischen Positionierung zusammen zu denken, übergehen. Daher bietet es sich an, die einzelnen Themenkreise in ihren Wandlungen und Umbrüchen über mehrere Jahrzehnte zu betrachten.

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Einleitung

Die diachrone Dimension ergibt sich aus einer chronologischen Schwerpunktverschiebung hinsichtlich des geistesgeschichtlichen Inhalts innerhalb der einzelnen vier Kapitel von der Philosophie Platons über die Texte des frühen Christentums, des byzantinischen Mittelalters, der Neuzeit und über die wichtigsten Phasen der Staatsbildung im 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart. So wird gleichzeitig eine Art „Geschichte des griechischen Geistes“ nachgezeichnet, wie sie Ramfos selbst jedoch niemals geschrieben hat. Die Konstruktion der Diachronizität geht allein auf die Verfasserin dieser Untersuchung zurück und ist insofern als reine Hilfskonstruktion zu verstehen, um das umfangreiche Material von Ramfos’ Werk zu strukturieren. Mit dem gewählten Ansatz wird also intendiert, einzelne Themen beispielhaft herauszugreifen, um anhand dieser die synchronen Dynamiken innerhalb von Ramfos’ Weltbild zu rekonstruieren. Andererseits geraten der übergeordnete Rahmen einer neuen Interpretation der griechischen Geistesgeschichte in Abgrenzung von „westlichen“ Missverständnissen und die Einbettung in die soziokulturellen Umstände ihrer Entstehung nicht aus dem Blick. Das erste Kapitel skizziert die bisherige Biographie des Autors sowie die Chronologie und die Grundzüge seines Werkes, wie es sich zur Abfassungszeit der Untersuchung darstellte. Kapitel 2 dient in erster Linie der Klärung einiger historischer und philosophisch-theologischer Grundbegriffe, die in der innergriechischen Diskussion um die eigene Identität immer wieder auftauchen, dem westlichen Leser jedoch selten in ihrer Gesamtheit geläufig sind. Kapitel 3 nimmt Ramfos’ Interpretation der Philosophie Platons in den Blick, die besonders von der Lektüre der griechischen Kirchenväter beeinflusst ist. So versucht er der „westlichen“ Philosophiegeschichtsschreibung ein spezifisch griechisch-orthodoxes Element hinzuzufügen und stellt sich damit seinerseits in die Tradition der abendländischen Philosophiekritik Heideggers, ohne jedoch dessen Metaphysikkritik zu übernehmen. Das vierte Kapitel verbindet Ramfos’ Lektüre der orthodoxen monastischen Tradition mit seiner platonisierenden Auslegung, die für ihn die Grundlage des griechisch-orthodoxen Weltbilds bildet. Zusammen mit dem fünften Kapitel über eine spezielle Fragestellung innerhalb der orthodoxen Theologie, nämlich der Personalismus-Debatte, zeichnen diese beiden Kapitel Ramfos’ besondere neoorthodoxe „Theo-Anthropologie“ nach, für die er in der theologischen Diskussion bekannt war, behandeln kontrastiv jedoch auch Beiträge aus der Zeit nach seiner Kehre, mit denen er seine Ansichten teilweise revidiert. Das letzte Kapitel handelt schließlich von den verschiedenen Aspekten der griechischen Modernisierung und ihren Hindernissen; hier werden Ramfos’ Überlegungen mit den Erkenntnissen der Sozialforschung verglichen.

Biographie und Chronologie des Gesamtwerks

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Das Literaturverzeichnis im Anhang listet zunächst die Einzelveröffentlichungen in Buchform von Ramfos’ Werken auf und dann noch einmal in der neuen Anordnung der Gesamtausgabe. Die Werke von Ramfos werden in dieser Arbeit nach der Gesamtausgabe zitiert, sofern sie dort (bereits) aufgenommen wurden. Die übrigen Schriften von Ramfos erscheinen mit Angabe der Jahreszahlen. Berücksichtigt wurden die Veröffentlichungen bis Januar 2014. Sämtliche in dieser Untersuchung aufgeführten Übersetzungen der Texte von Ramfos und einzelner anderer Texte stammen von der Verfasserin. Da nur die wenigsten Werke von Ramfos in andere Sprachen übersetzt vorliegen, wurden absichtlich breite Abschnitte ausführlich in Übersetzung und griechischem Original angeführt, um dem Leser einen besseren Einblick nicht nur in die Argumentation, sondern auch in die Rhetorik des Autors zu geben. Die mitunter nicht gängige Orthographie der jeweiligen Texte, insbesondere das polytonische System mit verschiedenen Akzentformen sowie grammatikalische Besonderheiten, wurden aus dem Original übernommen. Bei allen Personennamen wird im Text die im Deutschen gebräuchliche Transkription verwendet; leider ergibt sich insbesondere bei russischen Namen dadurch eine gewisse Uneindeutigkeit, da die Schreibweise der Namen im Zusammenhang mit Literaturangaben aus der Vorlage übernommen wurde.

1.2  Biographie und Chronologie des Gesamtwerks Obwohl Ramfos im Laufe der Zeit unzählige Interviews gegeben hat und weiterhin gibt und eine außergewöhnlich große Zahl von Büchern, Aufsätzen und Vorträgen veröffentlicht hat, finden sich darin nur sehr wenige persönliche Angaben zu seinem Leben und seinem Werdegang. Dazu bemerkt er: Ich spreche nicht gerne über persönliche Dinge, da alles in irgendeiner Weise ständig in meine Arbeit einfließt; aus diesem Grund habe ich wenig Interessantes dazu zu sagen. […] Ich glaube, ich habe niemals meinen Weg gefunden. Auf diesem Weg bewege ich mich schon immer. Das heißt, seit ich mich erinnern kann, war ich so, wie ich bin. Natürlich bin ich älter geworden, natürlich wurde ich in diesem Prozess des Älterwerdens auch reifer, sicher habe ich meine Ansichten geändert und habe an unterschiedlichen Themen gearbeitet. Würden Sie ein Foto aus meiner Kindheit sehen – ich besitze nur ein einziges, denn ich hebe unter anderem nicht gerne meine Fotos auf – würden Sie leicht feststellen, dass ich mich nicht verändert habe. Es ist ein Foto, als ich ein oder zwei Jahre alt war. Ich bin genau derselbe. Daher kann ich mit absoluter Sicherheit sagen, dass ich nicht meinen Weg gefunden habe, weil ich ihn schon immer hatte.2

2

„Δὲν μοῦ ἀρέσει νὰ μιλάω γιὰ πράγματα προσωπικά, ἐπειδὴ ὅλα, κατὰ κάποιο τρόπο, ἐνσωματώνονται ἀδιάκοπα στὴν δουλειά μου, ὁπότε δὲν ἔχω νὰ πῶ κάτι ἰδιαίτερο καὶ ἐνδιαφέρον γι’αὐτά. […] κι ἐγὼ πιστεύω ὅτι δὲν βρῆκα τὸν δρόμο μου ποτέ. Αὐτὸν

16

Einleitung

Diese selbstbewusste Äußerung relativiert Ramfos aber selbst insbesondere dann, wenn es um gewisse Brüche in seinen wissenschaftlichen Ansichten geht: „Wenn jemand meinen gesamten schriftstellerischen Werdegang betrachtet, ist es eine ständige Selbstkorrektur.“3 Stelios Ramfos wurde 1939 in Athen geboren und wuchs in relativ einfachen Verhältnissen im Athener Stadtteil Pangkrati mit zwei erheblich älteren Schwestern auf. Offenbar war er ein sehr lebhaftes und glückliches Kind und spielte gerne Fußball. Seine Mutter war Hausfrau und sein Vater fuhr zur See, weswegen er ihn nur selten sah. Beide Eltern waren auf traditionelle Weise gläubig,4 was er später mehrfach unterstreicht, obwohl seine eigene Beziehung zur Orthodoxie sich ganz anders entwickeln sollte. Eine der Schwestern absolvierte sogar ein Studium, was für eine Frau unter den damaligen Verhältnissen zumindest ungewöhnlich war; dies verschaffte ihm früh Zugang zu Büchern.5 Die Volksschule hat nach seiner eigenen Aussage ihn wenig gefördert: In der Grundschule waren wir 100 Kinder in einer Klasse und saßen zu dritt auf einer Schulbank. Der Lehrer kannte unsere Namen nicht. Niemand lehrte uns irgendetwas. Man konnte sich ausrechnen, dass man einmal in zwei Monaten zur Tafel gerufen wurde.6

τὸν δρόμο τραβοῦσα ἐξ ἀρχῆς. Δηλαδή, ὅσο μὲ θυμᾶμαι, ἤμουν ὅπως εἶμαι. Ἄλλο ὅτι μεγάλωσα, ὅτι μεγαλώνοντας ὡρίμασα, ὅτι ἄλλαξα ἰδέες, ὅτι δούλεψα πάνω σὲ διαφορετικὰ πράγματα. Ἐὰν βλέπατε μιὰ παιδική μου φωτογραφία – ἔχω μόνο μία, γιατί, σὺν τοῖς ἄλλοις, δὲν μοῦ ἀρέσει νὰ κρατῶ φωτογραφίες μου – θὰ διαπιστώνατε εὔκολα ὅτι δὲν εἶμαι διαφορετικός. Εἶμαι ὁλόιδιος. Ἑπομένως, μπορῶ μὲ ἀπόλυτη ἀσφάλεια νὰ πῶ ὅτι δὲν βρῆκα τὸν δρόμο μου ποτὲ γιατὶ τὸν εἶχα.“ (Ramfos 2012 c: 18). 3 „Καὶ ἂν δῇ κανεὶς ὅλην μου τὴν συγγραφικὴ διαδρομή, εἶναι μιὰ συνεχὴς αὐτοδιόρθωση στὸ προχώρημα.“ (Ramfos 2012 c: 23). 4 „Ὁ πατέρας μου − Θεὸς σχωρέσ΄ τον − ἦταν ἕνας θαλασσινός, ὁ ὁποῖος διατηροῦσε μὲ τὸν Χριστὸ καὶ τοὺς ἁγίους τὴν οἰκειότητα ποὺ κρατοῦσαν οἱ ἁπλὲς ψυχὲς τῶν παλαιῶν καὶ γι’ αὐτὸ ποτέ του δὲν φοβήθηκε, ἐνῶ ἡ πίστι τῆς μητέρας μου − καλή της ὥρα − ἔχει κινήσει βουνά, ἀφοῦ βουνὸ γινόταν ἡ ζωή, μὲ τὴν ἀδιάκοπη ἀπουσία τοῦ πατέρα μου.“ [„ Mein seliger Vater war ein Seemann, der mit Jesus und den Heiligen wie die einfachen Menschen von früher so sehr auf vertrautem Fuß stand, dass er sich vor nichts fürchtete. Der Glaube meiner seligen Mutter versetzte Berge, denn mühsam wie ein Berg war das Leben für sie, da mein Vater ständig abwesend war.“] (Ramfos GA 4: 14). 5 Ramfos 2012 c: 18. 6 „Στὸ Δημόσιο σχολεῖο ἤμασταν στὴν τάξι 100 παιδιά. Καθόμασταν τρεῖς-τρεῖς στὰ θρανία. Ὁ καθηγητὴς δὲν ἤξερε τὰ ὀνόματά μας. Κανείς μας δὲν μάθαινε τίποτα. Ὑπολόγιζες ὅτι θὰ σὲ σηκώσῃ μία φορὰ στὸ δίμηνο στὸν πίνακα.“ (Ibid.: 19).

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Er besuchte allerdings danach eine Privatschule, benannt nach dem bedeutenden Linguisten Georgios N. Hadzidakis (1848–1941), wo mit für die damalige Zeit sehr fortschrittlichen Methoden unterrichtet wurde und die seine intellektuelle und moralische Entwicklung erheblich weiterbrachte. Bereits 1956 kam er in Kontakt mit den Werken von Karl Marx, die ihn in seiner Jugend intensiv beschäftigen sollten: Meine intellektuelle Geschichte beginnt sehr gewöhnlich: etwa in der Mitte der fünfziger Jahre, als Schüler und voller Sehnsucht nach Wahrheit und Gerechtigkeit, lernte ich die marxistischen Ideen kennen. Da er eine Antwort auf alles hat, erzeugt der Marxismus die irrige Vorstellung, dass er absolut ausreichend sei, während er gleichzeitig jede Form von persönlicher Verantwortung aufhebt. Was braucht ein junger Mann noch, der jeden Tag mit der Frage konfrontiert wird, ob er streng zu sich selbst oder zufrieden mit sich sein soll? Von den Ideen ging ich bald auch in die politische Tätigkeit über. Dort allerdings konnte ich meine Welttheorie in der Praxis sehen, und es wurde mir klar, dass, wenn auch der Zweck die Mittel heiligt, nichts existiert, was den Zweck heiligt, so dass ich aus demselben Grund, aus dem ich Marxist geworden war, nämlich aus dem Bedürfnis nach Wahrheit und Gerechtigkeit, aufhörte, einer zu sein. Dies geschah zwischen 1964 und 1965, während ich mein Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Athen abschloss. Inzwischen hatte ich mich abgewandt vom betäubenden Einfluss der marxistischen Ideologie und machte mich im September 1965 nach Paris auf, um Philosophie zu studieren.7

Nach Abschluss seines ersten Studiums begab Ramfos sich also nach Paris, wo er an der Sorbonne Philosophie studierte. Der räumliche und kulturelle Abstand erlaubte es ihm, sich selbst als Griechen zu begreifen und sich mit der geistigen Tradition seiner Heimat zu beschäftigen und führte ihn, nachdem er sich nach

7 „Η πνευματική μου ιστορία αρχίζει πολύ συνηθισμένα: περί τα μέσα της δεκαετίας του ´50, μαθητής ων και διψασμένος για αλήθεια και δικαιοσύνη, γνώρισα τις μαρξιστικές ιδέες. Με τις απαντήσεις που έχει για όλα, ο μαρξισμός δημιουργεί την ψευδαίσθηση απόλυτης επάρκειας, ενώ συγχρόνως αφαιρεί κάθε έννοια προσωπικής υπευθυνότητας, ανάγοντας το κακό στις εξωτερικές συνθήκες. Τί άλλο θέλει ένας έφηβος, που αντιμετωπίζει καθημερινά το σκληρό δίλημμα να είναι αυστηρός ή ευχαριστημένος με τον εαυτό του; Από τις ιδέες γρήγορα πέρασα στην πολιτική δράση. Εκεί όμως είδα την κοσμοθεωρία μου στην πράξη και συνειδητοποίησα ότι αν ο σκοπός αγιάζει τα μέσα, δεν υπάρχει τίποτε να αγιάζει το σκοπό, οπότε για τον ίδιο λόγο που έγινα μαρξιστής, από ανάγκη δηλαδή αλήθειας και δικαιοσύνης, έπαψα να είμαι. Αυτό συνέβη μεταξύ 1964 και 1965, όταν ήμουν επί πτυχίῳ φοιτητής της Νομικής Αθηνών. Απαλλαγμένος από το ναρκωτικό επηρεασμό της μαρξιστικής ιδεολογίας, ανεχώρισα το Σεπτέμβριο 1965 στο Παρίσι, για φιλοσοφικές σπουδές.“ (Makris 1983: 88 f.).

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den politischen Umwälzungen vom Mai 1968 endgültig vom Marxismus entfernt hatte, zur Religion: Freunde aus jener Zeit haben den Marxismus hinter sich gelassen, weil er ihnen zu „theologisch“ war und sie setzten gerade deswegen ihren Weg „geerdet“ fort. Ich hingegen wandte mich von ihm ab, weil er mir nicht „theologisch“ genug war und weil, mit anderen Worten, seine Realität nicht meinem Verlangen nach Wahrheit und Gerechtigkeit entsprach.8

Während seines Aufenthalts in Paris befasste er sich zunächst mit antiker und zeitgenössischer europäischer Philosophie und wandte sich anschließend dem Studium der Kirchenväter und der geistigen und gesellschaftlichen Probleme des heutigen Griechenland zu, was bis heute im Zentrum seines Interesses bleiben sollte.9 Hierbei interpretierte er die griechische Antike aus einer „byzantinischen“ Perspektive, um die Verbindungen zwischen dem vorchristlichen und dem mittelalterlichen griechischen Denken herauszuarbeiten. So charakterisiert Ramfos auch seinen philosophischen Zugang zur griechischen Tradition: Ich stellte fest, dass die zeitgenössische Philosophie vor dem Antlitz des Platonismus eigentlich den Intellektualismus der Scholastik bekämpfte, der ihn ihnen vermittelt hatte, und nicht den Geist Platons, wie er durch den Text der Dialoge durchscheint. Diese Feststellung brachte mich zu der folgenden Frage: Wenn der Logozentrismus ein integrales Element der europäischen Kultur ist und den klassischen Geist verfälscht, in welcher Form existiert dann das antike Denken im Kosmos der byzantinischen Spiritualität? […] Je weiter ich kam, desto deutlicher trat mir vor Augen, dass den Byzantinern eine wunderbare Aneignung des klassischen Hellenismus gelungen war, und zwar so, dass sie, aus ihrer theologischen Perspektive, auf Fragen eine Antwort hatten, welche die scholastische Deutung entweder nicht vermutet oder unbeantwortet gelassen hatte. Schließlich war ich überzeugt, dass die Theologie der Königsweg zum Verständnis der antiken Denker war, trotz der Kluft zwischen diesen beiden Welten.10

8 „Φίλοι ἐκείνης τῆς ἐποχῆς ἐγκατέλειψαν τὸν μαρξισμὸ ἐπειδὴ δὲν ὑπέφεραν τὴν ‚θεολογία‘ του καὶ γι’ αὐτὸ ἀκριβῶς συνέχισαν ‚προσγειωμένα‘ τὴν πορεία τους· ἐγὼ τὸν ἐγκατέλειψα ἐπειδὴ δὲν τὸν εὕρισκα ἀρκετὰ ‚θεολογικό‘, ἐπειδὴ μ’ ἄλλα λόγια ἡ πραγματικότης του δὲν συμβιβαζόταν μὲ τὴν δίψα μου γι’ ἀλήθεια καὶ δικαιοσύνη.“ (Ramfos GA 4: 24 f.). 9 Ibid.: 25. 10 „Διαπίστωσα ότι στο πρόσωπο του πλατωνισμού η σύγχρονη φιλοσοφία μάχεται τη σχολαστική νοησιαρχία, δια της οποίας τον παρέλαβε, και όχι το πνεύμα του Πλάτωνος, όπως αναβλύζει από το κείμενο των διαλόγων. Η διαπίστωση αυτή με οδήγησε στο ακόλουθο ερώτημα: εάν η λογοκρατία είναι συστατικό στοιχείο του ευρωπαϊκού πολιτισμού και παραποιεί το κλασικό πνεύμα, πώς υπάρχει ο αρχαίος στοχασμός στον κόσμο της βυζαντινής πνευματικότητος; […] Όσο προχωρούσα,

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Insbesondere bei seiner Interpretation der Philosophie Platons ging es Ramfos also in erster Linie darum, den scholastischen Firnis, den Jahrhunderte europäischer Forschung mit ihrer Anwendung aristotelischer logischer Kriterien über die antike Philosophie gelegt hatten, abzutragen, und diese in neuem, zeitgemäßen Licht erscheinen zu lassen.11 Letzten Endes handelt es sich dabei auch um eine Reappropriierung der griechischen Antike, die lange unter dem europäischen Blickwinkel des Humanismus und des Rationalismus interpretiert worden war, und die nun, unter veränderten Voraussetzungen, als Basis für ein neues hellenisches Selbstbewusstsein dienen sollte.12 Als jemand, der „im Parthenon Fußball gespielt hat“13, fühlt sich Ramfos gegenüber der ansonsten erdrückenden Größe der hellenischen Tradition frei genug, um sie neu zu deuten und sie im Lichte einer neuen griechischen Identität zu interpretieren. Ramfos beendete sein Studium in Paris mit der Verteidigung seiner thèse zum Thema Lumière et création. Essais sur la métaphysique platonicienne, mit der er an der Sorbonne promoviert wurde.14 Seine akademische Karriere als Dozent begann er an der 1969 im Zuge der Reform des französischen Hochschulwesens ex novo gegründeten Universität Paris VIII im Vorort Vincennes (ab 1980: Saint-Denis).15 ανεκάλυψα ότι οι Βυζαντινοί είχαν πετύχει θαυμαστή αφομοίωση του κλασικού Ελληνισμού, εις τρόπον ώστε, μέσα από την θεολογική τους οπτική, να απαντούν σε ερωτήματα, που η σχολαστική ερμηνευτική είτε δεν υποψιαζόταν είτε άφηνε αναπάντητα. Τελικά πείστηκα πως η θεολογία τους ήταν βασιλική οδός για να συλλάβουμε τη σκέψη των αρχαίων στοχαστών, παρά το χάσμα που χωρίζει τους δύο κόσμους.“ (Makris 1983: 89); vgl. auch GA 3: 84 ff. 11 Ramfos GA 3: 84. 12 „[…] οἱ ἐπιστήμονες τῆς Δύσεως διαχειρίζονται σχεδὸν μονοπωλιακὰ τὸν ἀρχαιοελληνικὸ πολιτισμὸ ὡς ζῶσα πνευματική τους ρίζα.“ [„ Die Wissenschaftler im Westen verwenden die antike griechische Kultur fast monopolartig als ihre lebendige geistige Wurzel.“] (Ramfos GA 13: 11). Vgl. auch die Ansichten zum Thema des orthodoxen Theologen und Philosophen Christos Yannaras, der jedoch in vielerlei Hinsicht andere Ansichten als Ramfos vertritt: Yannaras 2009. S. auch Makrides 1998. 13 „Ὅτι ἔπαιζα μπάλα στὸν Παρθενώνα μοῦ ἔδωσε μιὰ ψυχολογία ἀνέσεως μὲ αὐτὰ τὰ πελώρια δημιουργήματα […] εἶμαι ὡστόσο ἐλεύθερος ἀπέναντί τους.“ [„ Dass ich im Parthenon Fußball spielte, verlieh mir ein Gefühl der Gelassenheit angesichts dieser übermenschlichen Werke […] ich fühle mich ihnen gegenüber allerdings frei.“] (Ramfos 2012 c: 23). 14 Der Text dieser thèse wurde nach Ramfos’ Angabe nie vollständig als solcher veröffentlicht. In Griechenland erschienen Teile daraus in Ramfos’ eigener Übersetzung, es ist jedoch nicht ersichtlich, um welche Titel es sich hier handelt (Ibid.: 87). 15 Zu dem gesamten Experiment vgl. Soulié 2012.

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Ab dem akademischen Jahr 1969/70 hielt er dort Lehrveranstaltungen zur antiken Philosophie ab. Eine Schrift zum Thema des Todes bei Heraklit erschien 1971 mit dem Titel Héraclite: Le cercle de la mort.16 Ein weiterer Text mit dem Titel Nostos erschien im folgenden Jahr.17 Hier verbindet Ramfos den Begriff der Rückkehr zu den Wurzeln, auf Griechisch νόστος [Nostos], mit der Idee der Ewigen Wiederkehr bei Friedrich Nietzsche. Dabei kristallisieren sich weitere wichtige Themen heraus, die Ramfos im weiteren Verlauf seines Werdegangs beschäftigen werden: Die antike Philosophie mit Platon als ihrem herausragendsten Vertreter, seine eigene Deutung als Gegenentwurf zu einer vermeintlichen Fehldeutung der griechischen Philosophie im Westen und Griechenland als Ziel seiner Sinnsuche. Weitere Lehrveranstaltungen hielt er 1971/72 über Platons Dichterkritik und einen Mythos aus dem Gorgias, woraus zwei Veröffentlichungen entstanden: Ἡ ἐξορία τῶν ποιητῶν [Die Ausweisung der Dichter]18 und Τὸ δαχτυλίδι τοῦ Γύγη. Περιπλάνηση σ΄ ἕνα μῦθο τοῦ Πλάτωνος [Der Ring des Gyges. Mäandern in einem platonischen Mythos].19 Im Jahr 1972/73 folgte eine Vorlesung zur Schau der Wahrheit in der Philosophie Platons. Auch hier wurde sein Interesse am anagogischen Prinzip der griechischen Philosophie deutlich, also dem Prinzip, dass der Mensch danach strebt, sich Gott anzunähern; der veröffentlichte Text trägt den Titel Μύησι στὸ φῶς [Einweihung ins Licht].20 Aus den Vorlesungen des akademischen Jahres 1973/74 entstanden La musique de Héraclite21 sowie Ἡ καλὴ ψυχὴ καὶ τὸ ἄλλο της [Die gute Seele und ihr Anderes]22, in dem der Eros als Movens der Philosophie eingeführt wird; auch dieses Thema wird Ramfos später weiter ausarbeiten. Im Frühjahr 1973 verfasste er wiederum im Zusammenhang mit seiner akademischen Tätigkeit den Text Αἰώνια παιδιά [Ewige Kinder],23 in dem es in Anlehnung an Platons Timaios um die Theorie der Anamnesis (Erinnerung) als Voraussetzung der Erkenntnis geht.

16 Erschienen in französischer Sprache in der Schriftenreihe der Athener Akademie Φιλοσοφία [Philosophia] 1 (1971). 17 Φιλοσοφία [Philosophia] 2 (1972). 18 Griechische Edition 1978. Die Übersetzung ins Griechische fertigte bei diesem Buch wie auch bei allen folgenden Ausgaben der zunächst auf Französisch verfassten Werke der Autor selbst an. 19 Griechische Edition 1977. 20 Griechische Edition 1978. 21 Erschienen in der Zeitschrift Textures 12/13 (1975), griechische Edition 1976. 22 Die erste Veröffentlichung erfolgte in der französischen Zeitschrift Libre 8 (1980). 23 Die griechische Übersetzung erschien 1978.

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Nach dem Ende der Militärdiktatur 1974 kehrte er nach Griechenland zurück. Die Rückkehr, so gibt er in einem Interview an, sei für ihn eine unausweichliche Konsequenz seines Interesses für die griechische Kultur gewesen: „Andere sind in Paris geblieben, ich aber, da ich allmählich mir dieses Thema, mein philosophisches Interesse für Griechenland, erschloss, musste zurückkehren.“24 Zurück in Griechenland war seine Bewerbung um eine Professur an der Universität von Athen erfolglos. Dennoch betont er heute sehr dankbar zu sein, dass ihm die Arbeit an einer Universität, die in den Jahrzehnten seit 1978 ständigem Verfall preisgegeben gewesen war, erspart geblieben sei.25 Sein Interesse an der orthodoxen Tradition blieb auch nach seiner Pariser Zeit ungebrochen; 1975 entschloss er sich zusammen mit dem Sänger und Liedermacher Dionysis Savvopoulos (geb. 1944) zu einer Reise zum Heiligen Berg Athos, einer selbst verwalteten Region Griechenlands, in der ausschließlich Mönche nach ihren eigenen Regeln leben. Dieser gilt als Sinnbild der Orthodoxie in der modernen Zeit, weltabgewandt und doch in der Welt. Der Athos wurde in den späten siebziger und achtziger Jahren und darüber hinaus zu einer wichtigen Inspirationsquelle, nicht zuletzt für (ehemalige) Linke und Kommunisten auf der Suche nach einer neuen Orientierung.26 Fern von der bürgerlichen Gesellschaft suchten diese Intellektuellen die authentische Form der Orthodoxie, die frei von westlichen Einflüssen sein sollte. Hier ging religiöse Erneuerung Hand in Hand mit einer kulturellen Neuorientierung Griechenlands im Gegensatz zu einer als fremd empfundenen westlichen Vorherrschaft.27 Diese geistige Strömung, die in sich sehr heterogen war, wurde als neoorthodox bezeichnet; Ramfos galt eine Zeit lang als einer ihrer Vertreter, er wandte sich jedoch im Laufe der neunziger Jahre wider von ihr ab.28

24 „Ἄλλοι ἔμειναν στὸ Παρίσι· ἐγώ, ποὺ σιγά σιγὰ ἄρχιζα να χτίζω αὐτὸ τὸ θέμα, νὰ μὲ ἀπασχολῇ ὡς φιλοσοφικὸ πρόβλημα ἡ Ἑλλάδα, ἔπρεπε νὰ γυρίσω.“ (Ramfos 2012 c: 26). 25 „Μὲ εὐγνωμοσύνη σκέφθομαι ὅτι ἀπερρίφθη ἡ ὑποψηφιότητά μου στὸ Πανεπιστήμιο […] διότι θὰ βίωνα ὅλη τὴν περίοδο ἀπὸ τὸ ‘78 μέχρι σήμερα, περίοδο βαθειᾶς παρακμῆς τοῦ Πανεπιστημίου.“ [„ Mit Dankbarkeit denke ich daran, dass meine Bewerbung an der Universität abgelehnt wurde […] denn ich hätte die ganze Phase von 1978 bis heute miterlebt, eine Phase des völligen Niedergangs der Universität.“] (Ibid.: 22). 26 Makris 1983: 96–99 und Makrides 1998: 141. 27 Makrides 1998: 142. 28 Zu Ramfos und seinen Verbindungen zu den Neoorthodoxen s. unten Kapitel 2.5 Westorientierung Griechenlands und Gegenbewegungen.

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Ab 1990 übernahm der Athener Verlag Ἁρμός [Harmos] die Werkausgabe von Ramfos, die (fast) alle der zunächst verstreut publizierten Texte versammelt. Der erste Band mit dem Titel Φιλοσοφία ποιητική. Πλατωνικὰ ζητήματα [Poetische Philosophie. Platonische Fragen] ist den Vorlesungen der Pariser Zeit über Platon gewidmet.29 Die Trilogie Τριῴδιον [Dreigesang] (Band II der Werkausgabe)30 beinhaltet Schriften historisch-hermeneutischen Charakters. In Τόπος ὑπερουράνιος [Jenseits des Himmels] verbindet er, wie auch in den anderen beiden Texten, Μελέτη θανάτου [Vorbereitung auf den Tod] und Ἡ παλινῳδία τοῦ Παπαδιαμάντη [Die Palinodie des Papadiamantis], die griechische mit der europäischen Kultur unter besonderer Beachtung der orthodoxen Tradition; dies geschieht insbesondere im letzten Text, in dem auch das Werk Dostojewskis als Parameter des Vergleichs mit dem griechischen Erzähler Alexandros Papadiamantis herangezogen wird.31 Der dritte Band der Werkausgabe Ἰθάκη καὶ ἰθαγένεια [Ithaka und Ursprünglichkeit]32 umfasst eine Sammlung von Texten, die ebenfalls auf die Zeit in Paris zurückgehen. Aus der Sammlung sticht ein längerer Text über Symeon den Neuen Theologen (949–1022) besonders hervor, in dem Ramfos eine Parallele zwischen Platons Lichtmetaphysik einerseits und der Mystik der Visionen des Heiligen andererseits zieht und wo auch die neoorthodoxe Position des Autors in dieser Schaffensphase besonders deutlich wird. Im Band vier der Werkausgabe handelt das Buch Μαρτυρία καὶ γράμμα. Ἀπόλογος γιὰ τὸν Μάρξ καὶ λόγος γιὰ τὸν Καστοριάδη [Zeugenaussage und Brief. Abgesang auf Marx und Rede über Castoriadis]33 vom Marxismus und Ramfos’ älteren Freund und Mentor, dem griechisch-französischen Philosophen Cornelius Castoriadis (1922–1997). Mit diesem hatte Ramfos in Paris eine enge intellektuelle Freundschaft verbunden. In seinem an Castoriadis adressierten Text, der der Gattung des „philosophischen Briefs“34 zuzuordnen ist, formuliert er seine 29 30 31 32 33 34

Erschienen 1991. Erschienen 1995. Dazu unten Kapitel 6.3 Literatur im neoorthodoxen Kontext: Alexandros Papadiamantis. Erschienen 2001. Erschienen 2002. Die Tradition des philosophischen Briefes an einen (fiktiven oder realen) Adressaten begründete Platon. In der Antike stellte der philosophische Brief eine besondere „Mitteilungsform philosophischer Prosa“ (Rahn 1969: 157) dar, die didaktische Inhalte mit autobiografischen Zügen verband (Cancik 1967: 48). Im Rückgriff auf diese antike literarische Tradition wurden auch in der Neuzeit wieder philosophische Briefe verfasst, wie etwa von Voltaire und Friedrich Schiller. In Ramfos’ „Brief “ verbinden sich hier die autobiographische Aufarbeitung seiner kommunistischen Vergangenheit mit

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Lektüre von Marx’ philosophischem Werk und setzt sich mit dem Hauptwerk seines Freundes, L’institution imaginaire de la société35, auseinander. In den Bänden V Ὀνομάτων ἐπίσκεψις [Gedanken über Namen] und VI Ἐλευθερία καὶ γλῶσσα [Freiheit und Sprache] sind Beiträge zur Sprachenfrage gesammelt. Band V beinhaltet die Sammelbände Παιδεία Ἑλληνική [Griechische Erziehung]36 und Κυριακοδρόμιο [Sonntagsgang]37, während Band VI ebenfalls zwei Sammlungen von bereits früher erschienenen Essays vereint, nämlich Ἡ γλῶσσα καὶ ἡ παράδοσι [Sprache und Tradition]38 sowie Στάσιμα καὶ ἔξοδος [Stasima und Exodos].39 Anders als die vorhergehenden Bände der Werkausgabe sind diese für Zeitungen und Zeitschriften bestimmten Artikel weniger wissenschaftlich in ihrer Argumentation; sie richten sich an ein breiteres Publikum und gehören eher in die Kategorie der politischen oder gesellschaftlichen Streitschrift, so auch der Band XI der Werkausgabe Χρονικὸ ἑνὸς καινούργιου χρόνου [Chronik einer neuen Zeit]40 und weitere Bände mit Artikeln zur gegenwärtigen Krise Griechenlands, die (noch) nicht in die Werkausgabe aufgenommen worden sind, etwa Λογικὴ τῆς παράνοιας [Logik der Paranoia] von 2011 und Time out (2012).41 Wie es der Gattung der politischen Streitschrift etwa im Sinne von Stéphane Hessels Indignezvous42 angemessen ist, werden auch hier nicht alle Argumente bis ins letzte Detail ausgearbeitet; es geht vielmehr darum, das Publikum durchaus auch mithilfe der Rhetorik zum Nachdenken über aktuelle Probleme zu bringen.

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der Behandlung marxistischer Themen in der Auseinandersetzung mit dem Mentor und Freund Castoriadis. Castoriadis 1975. Mit der imaginären Konstitution der Gesellschaft unterstreicht er seine Auffassung, dass jede Gesellschaft auf der Basis ihrer Imagination bestehe. Die modernen Gesellschaftskonstruktionen des Kapitalismus und des Marxismus beriefen sich beide auf ein rational fundiertes imaginäres Konstrukt, und lägen daher weniger weit auseinander als es sich Marx oder andere Theoretiker des Kommunismus vorstellten. Castoriadis’ Einfluss auf die moderne Philosophie Frankreichs war maßgeblich. Erstveröffentlichung 1982. Erstveröffentlichung 1985, beide wiederveröffentlicht in der Gesamtausgabe 2010 als Band 5. Erstveröffentlichung 1980, wiederveröffentlicht 1984, in der Gesamtausgabe als Band 6 im Jahr 2010. Erstveröffentlichung 1988, wiederveröffentlicht in der Gesamtausgabe als Band 6 im Jahr 2010. Erstveröffentlichung 1996, in der Gesamtausgabe ergänzt durch kleinere Texte, wiederum erschienen 2008. Beide erschienen in Athen. Paris 2010; deutsch: Empört Euch! Übersetzt von Michael Kogon, Berlin 2011.

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Er begann am Ende der 1980er Jahre seine Zusammenarbeit mit privaten Bildungszentren in Athen, wo er wöchentlich Vorlesungen hielt und noch hält. Aus diesen Veranstaltungen entstanden Monographien zu antiken und mittelalterlichen Texten, die später ebenfalls im Rahmen der Werkausgabe veröffentlicht wurden. Im Weiterbildungszentrum der griechisch/amerikanischen Privatschule Κολλέγιο Ἀθηνῶν Ψυχικοῦ [Athens College Psychiko]43 sprach er von Oktober 1988 bis Mai 1989 über Φιλόσοφος καὶ θεῖος ἔρως [Philosophischer und göttlicher Eros]. Daraus entstand eine breit angelegte Untersuchung zum Thema der Liebe in Platons Symposion und in den Hymnen des Hl. Symeon, des Neuen Theologen, mit einem umfangreichen Exkurs zum Liebesbegriff im Roman des westlichen Mittelalters, veröffentlicht in Band VII der Werkausgabe.44 In den Jahren, die auf den Zusammenbruch der Sowjetunion folgten, und die allmählich die Struktur der Welt grundlegend verändern sollten, entwickelte auch Ramfos neue Sichtweisen auf seine Forschungsgegenstände; diese änderten sich nicht wesentlich, er blieb auch danach bei seinen Hauptthemen, aber die Zielsetzung bei seiner Interpretation war danach eine ganz andere. Kritiker warfen ihm sogar eine Wende um 180 Grad vor, insbesondere der Denker Sotiris Gounelas (geb. 1949); seine kritischen Essays veröffentlichte er in dem Band Ἀντίλογος στὸν Στέλιο Ράμφο [Gegenrede an Stelios Ramfos].45 Ramfos bezeichnete die „Wende“ aber eher als Korrektur, als Anpassung an die veränderte Lage der politischen Weltordnung.46 Ein Buch, das seiner Ansicht nach ein Grenzgänger zwischen der neoorthodoxen und der westlich orientierten Phase war, ist Ἱλαρὸν φῶς τοῦ κόσμου [Das heitere Licht der Welt], hervorgegangen aus einer Vorlesungsreihe beim Ἵδρυμα Γουλανδρῆ-Χόρν [Stiftung Goulandri-Horn] 1989/90 und erstmals erschienen 1990 (Werkausgabe Band VIII). Hier vertiefte Ramfos wieder eines seiner Hauptthemen, die Verbindung von Licht und Metaphysik, von Sehen und Erkennen bei Platon, in der europäischen Philosophie der Frühen Neuzeit und in der Lichttheologie des orthodoxen mittelalterlichen Theologen Gregor Palamas (1296/97–1359). Hier wird die Erfahrung der Erleuchtung in Antike und byzantinischer Theologie nebeneinandergestellt und mit der Erkenntnistheorie der neuzeitlichen Philosophie kontrastiert, um die Unterschiede der westlichen und der orthodoxen Kultur herauszuarbeiten. Dieses Buch, zusammen mit der schon erwähnten Studie Philosophische und göttliche 43 Onlinepräsenz unter http://www.haef.gr. Alle Internetquellen zuletzt überprüft am 09.07.2017. 44 Erschienen 1999. 45 Gounelas 2001, 2013: 279–415. Zu Gounelas’ Kritik s. unten 25 f; 54; 245. 46 Ramfos 2006: 10 und öfter.

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Liebe (Werkausgabe Band VII) ist stark antiwestlich geprägt und stellt Ramfos in einen Zusammenhang mit der neoorthodoxen Strömung in Griechenland, über die noch ausführlicher berichtet werden wird. Im akademischen Jahr 1990/91 las Ramfos über die Poetik des Aristoteles, einen schmalen Text, dessen Interpretationen seit der Renaissance aber Regale füllen würden. Ramfos fügte diesen Auslegungen seine eigene hinzu, die die Poetik des Aristoteles im Zusammenhang mit Platons Dialog Phaidros sieht, in dem die (göttliche) Inspiration in der Kunst eine wichtige Rolle spielt. Die Arbeit aus diesen Vorlesungen führt Materialien aus seiner Lehrzeit in Paris (1971/72), einer Vorlesungsreihe im Theater Πύλη [Pili] 1984 und weitere beim ΧΕΝ,47 dem griechischen Pendant des YWCA (Young Women’s Christian Association), 1985 zusammen und wurde in der Werkausgabe in zwei Bänden, IX (1992) und IX a (1993) veröffentlicht. Seine eigene Sicht auf die frühchristliche und byzantinische Tradition offenbart Ramfos mit seiner darauffolgenden Vorlesungsreihe 1991/92 am Κολλέγιο Ἀθηνῶν Ψυχικοῦ [Athens College Psychiko] und dem daraus entstandenen Buch Πελεκᾶνοι ἐρημικοί. Ξενάγησι στὸ Γεροντικόν [Pelikane in der Einsamkeit. Führung durch die Sprüche der Wüstenväter] (Werkausgabe Band X, 1994). Hier beschreibt er das geistige Erbe der Wüstenväter und ihre Bedeutung für die orthodoxe Tradition, wobei er versucht, dem modernen Leser die heute schwer nachzuvollziehende Lebensweise der Einsiedler zu erklären. In der Darstellung wird implizit auch deutlich, dass Ramfos hier für einen individualisierten, modernen Leser schreibt; in den Lebensbeschreibungen der Eremiten wird die Sehnsucht des Individuums nach Erlösung sichtbar. Diese Sehnsucht nach Erlösung und die Beschreibung des Wegs zur Erleuchtung werden zum Ausgangspunkt seiner eigenen mystischen Reflexionen, die sich ebenfalls in die neoorthodoxe Tradition einordnen lassen. Diese Überlegungen führen weiter zu den Schriften der Jahre 1994–1997, die schon das Individuum in den Blick nehmen: Μυθολογία τοῦ βλέμματος [Mythologie des Blicks]48, Χρονικὸ ἑνὸς καινούργιου χρόνου [Chronik einer neuen Zeit]49, die beide mit einigen weiteren kleineren Texten im Band XI der Werkausgabe von 2008 erschienen, Τὸ αἴνιγμα καὶ ἡ μοῖρα. Ποιητικὴ τέχνη στὸν Οἰδίποδα τύραννον [Das Rätsel und das Schicksal. Poetische Technik im König Ödipus], eine Analyse von der Tragödie des Sophokles, (Werkausgabe Band XII) von 1997, sowie Μία καλοκαιρινὴ εὐτυχία τρίζει [Flüchtiges Sommerglück], (Werkausgabe Band XV)

47 Onlineauftritt unter www.xen.gr. 48 Erstveröffentlichung 1995. 49 Erstveröffentlichung 1996.

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von 1999. Das Hauptwerk dieser Phase ist Ὁ καημὸς τοῦ ἑνός. Κεφάλαια τῆς ψυχικῆς ἱστορίας τῶν Ἑλλήνων [Der Schmerz des Einen. Kapitel der Seelengeschichte der Griechen], (Werkausgabe Band XVI) aus dem Jahr 2000. In diesem Buch schaltet sich Ramfos in die inzwischen sehr umfangreiche und meist von Vertretern der neoorthodoxen Strömung geführte Diskussion um den Personalismus ein, in der ein genuin orthodoxes, auf der Trinitätsauslegung der kappadokischen Kirchenväter beruhendes Menschenbild der „Person“ im Gegensatz zum westeuropäischen „Individuum“ erarbeitet werden soll. Dieses Werk ist einer der meist diskutierten Texte von Ramfos, das zunächst von Theologen, sehr kontrovers aufgenommen wurde und erst in jüngster Zeit gewürdigt worden ist.50 Auf der Grundlage dieses, wie Ramfos meint, authentisch griechisch-orthodoxen, aber dennoch modernen Menschenbildes, argumentiert er ab diesem Zeitpunkt bis heute, wenn es darum geht, die Probleme des zeitgenössischen Griechenlands zu orten. Hier deutet sich ein Bruch mit den vorhergehenden Werken an, da seine mystische und antiwestliche Tendenz in den Hintergrund tritt. In den Vorworten der später neu veröffentlichten älteren Werke bringt Ramfos seine neue Sicht der Dinge immer wieder zum Ausdruck, ohne jedoch sein früheres Werk ganz zu widerrufen. Band XIII der Werkausgabe, der in den älteren Ausgaben als Band XIIIa erscheint, versammelt weiter auseinanderliegende Projekte, die erst spät, und dann auch nur zum Teil zu einer Gesamtheit verbunden wurden. Unter dem Titel Μεταφυσικὴ τοῦ Κάλλους [Metaphysik der Schönheit] von 2003 wurde eine Vorlesungsreihe am Πνευματικὸ Κέντρο τοῦ Δήμου Ἀθηναίων [City of Athens Cultural Organisation] aus dem akademischen Jahr 1992/93 über Platons Dialog Phaidros und die Vorlesungen am Ἵδρυμα Γουλανδρῆ-Χόρν [Stiftung Goulandri-Horn] von 1999/2000 über Plotins Philosophie des Schönen in einem Projekt vereinigt, das eigentlich noch eine Abhandlung über die Philokalia, ein 1782 veröffentlichtes Sammelwerk orthodoxer asketischer Mystik und Spiritualität aus mehreren Jahrhunderten enthalten sollte.51 Dieses Triptychon, das nach dem Muster früherer Werke antike, spätantike und orthodoxe Spiritualität hätte nebeneinander stellen sollen, um einerseits die Kontinuität der griechischen Kultur zu unterstreichen und um andererseits die Philosophie Platons wieder im orthodoxen Kontext zu lesen, wurde jedoch nie als solches fertiggestellt, zum einen, weil Ramfos in der Zwischenzeit andere Projekte 50 So bezeichnet ihn Ilias Papagiannopoulos als einen „vernachlässigten Denker in der Diskussion um die Theologie der sechziger Jahre“ (Papagiannopoulos 2009: 125, Anm. 4.). 51 Zur Bedeutung der Philokalia in der Orthodoxie vgl. Louth 2012.

Biographie und Chronologie des Gesamtwerks

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erarbeitete,52 zum anderen, weil er ab einem gewissen Punkt nicht mehr mit der stark vereinfachenden neoorthodoxen Hermeneutik arbeiten wollte.53 So blieben also die beiden Texte der antiken Philosophie über die Sehnsucht des Menschen nach Gott, die sich in der Liebe zum Schönen manifestiert, was eine weitere Ausarbeitung des bereits früher bearbeiteten Themas „Eros“ darstellt, zunächst allein. Mit dem Band XVIII der Werkausgabe, erschienen 2010 unter dem Titel Τὸ ἀδιανόητο τίποτα. Φιλοκαλικὰ ῥιζώματα τοῦ νεοελληνικοῦ μηδενισμοῦ [Das undurchschaubare Nichts. Die Wurzeln des neugriechischen Nihilismus in der Philokalia] setzte er dieses Vorhaben schließlich erheblich später doch um. Das Material hierzu stammt wieder aus Vorlesungen aus den Jahren 1993 am Πνευματικὸ Κέντρο τοῦ Δήμου Ἀθηναίων [City of Athens Cultural Organisation] und 2010 am Ἵδρυμα Θεοχαράκη [Stiftung Theocharakis]54 . In diesem Buch radikalisierte Ramfos noch einmal seine Thesen von der unterbliebenen Individualisierung im griechischen Mittelalter als Grund für die moderne Krise des Landes, die er in der Studie Der Schmerz des Einen55 bereits aufgestellt hatte. Nun stellte er den Hesychasmus, der von anderen orthodoxen Denkern durchaus als eine geeignete Antwort auf die Herausforderung durch den Westen und durch die globalisierte Welt verstanden wird,56 als Ursprung aller gesellschaftlichen Übel in Griechenland dar. Auf der Suche nach den Ursprüngen der Orthodoxie befasste sich Ramfos auch ausführlich mit den Texten des Evangeliums, was in den Band XVII der Werkausgabe von 2006 mündete, der den Titel Τὸ μυστικὸ τοῦ Ἰησοῦ [Das Geheimnis Jesu] trägt. Ein weiterer Titel der Werkausgabe wurde vom Verlag schon vor langer Zeit angekündigt, ist aber noch nicht erschienen, und zwar der Band Δύο φορὲς „Ναί“! Ἡ θυσιαστικὴ ὑπέρβασι τοῦ χρόνου στὸν πλατωνικὸ Φαίδωνα [Zweimal „Ja“! Transzendenz und Opfer der Zeit in Platons Phaidon], Werkausgabe Band XX. 2007–2009 hielt Ramfos beim Ἵδρυμα Θεοχαράκη [Stiftung Theocharakis] eine öffentliche Vortagsreihe über Friedrich Nietzsches Schriften Jenseits von Gut und Böse und Genealogie der Moral, aus denen der Band Νίτσε γιὰ καλὸ γοῦστο [Nietzsche für den guten Geschmack] (Werkausgabe Band XIX, 2009) hervorging. Hier legt Ramfos keine in sich geschlossene Analyse von Nietzsches Schriften zur Ethik vor, sondern folgt in seiner Lektüre Nietzsches den Mäandern und den aphoristischen Formen der Vorlage. Ramfos interessiert sich bei diesen Texten über die 52 53 54 55 56

Ramfos GA 18: 10. Ramfos GA 17: 11. Onlineauftritt unter http://www.thf.gr. Ramfos GA 16. Petrunin: 2009; dazu die Rezensionen von Kristina Stöckl: 2010 und 2011.

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Umwertung der Werte insbesondere für die Voraussetzungen der freien Willensentscheidungen eines unabhängigen Menschen, der auch Pate steht für Ramfos’ Vorstellung vom „mündigen Bürger“ Ein Rezensent dieses Buches schrieb: Indem er Nietzsches Auffassung eines Lebens, das ständig seine Ziele überprüft, annimmt und gleichzeitig den Wert an sich des Zwecks ablehnt, tritt der Autor eine kreative Suche nach der Wahrheit Nietzsches und ihrem Subjekt an.57

Band XXI der Werkausgabe, der eine Vorlesungsreihe über Martin Heideggers Sein und Zeit am Ἵδρυμα Θεοχαράκη [Stiftung Theocharakis] aus dem akademischen Jahr 2010/11 beinhaltet,58 präsentiert nach Friedrich Nietzsche auch den zweiten deutschen Philosophen, der die griechische Moderne und auch die geistige Entwicklung von Ramfos selbst sehr stark beeinflusst hat, einem breiteren Publikum. Diese beiden Werke behandeln in gewisser Weise eine moderne Auffassung des Individuums und reihen sich somit ideengeschichtlich in dieselbe Problematik wie seine übrigen Werke ein, wenn sie auch keine spezifisch griechischen Themen behandeln. Seit dem Ausbruch der europäischen Staatsschuldenkrise und den immensen Auswirkungen auf Politik und Wirtschaft, die die Auflagen der Euro-Staaten für die der griechischen Regierung gewährten Kredite nach sich zogen, wurde Ramfos in seiner Heimat regelrecht berühmt. Es folgten, außerhalb der Werkausgabe, Publikationen von Artikelsammlungen, die die Krise thematisieren, wie Ἡ λογικὴ τῆς παράνοιας [Die Logik der Paranoia] (2011), Time out. Ἡ ἑλληνικὴ αἴσθησι τοῦ χρόνου [Time out. Die griechische Wahrnehmung der Zeit] (2012), Ὁ „ἄλλος“ τοῦ καθρέφτη. Ψυχογραφία τῆς ἀγωνίας μας [Der „Andere“ im Spiegel. Psychographie unserer Agonie] (2012). Aufsätze und Interviews der Jahre 2012–2015 sind im Band Ἡ νίκη σὰν παρηγοριά [Der Sieg als Trost] (2015) versammelt.59 Der lange angekündigte Band mit dem Titel Καλλίπολις ψυχή. Σχόλιο στὴν Πολιτείαν τοῦ Πλάτωνος [Die Seele der Kallipolis. Anmerkungen zu Platons Staat], (Werkausgabe Band XIV) erschien Ende 2013 und enthält laut Klappentext eine Lektüre Platons vor den aktuellen politischen Ereignissen. Diesem Versprechen wird das Buch allerdings nicht ganz gerecht, vielmehr handelt es sich auch hierbei um einen sehr textnahen Kommentar zur Politeia. Die Liste der hier genannten Publikationen

57 „Απολαμβάνοντας τη νιτσεϊκή σύλληψη μιας ζωής που επανεκτιμά διαρκώς τους σκοπούς της, απορρίπτοντας ταυτόχρονα την ίδια την αξία του σκοπού, ο συγγραφέας ανοίγεται σε μια δημιουργική αναζήτηση της νιτσεϊκής αλήθειας και του υποκειμένου της.“ (Maras 2010). 58 Erschienen 2012. 59 Alle erschienen in der Reihe Μοῦσες [Muses] des Armos-Verlags in Athen.

Methodisches Vorgehen

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von Ramfos stellt keine vollständige Werkbibliographie dar. Ich habe einige kleinere Sammlungen von Artikeln, die seit 2000 erschienen sind, hier nicht erwähnt; sie sind jedoch im Literaturverzeichnis zu dieser Arbeit aufgelistet.

1.3  Methodisches Vorgehen 1.3.1  „Kreative Hermeneutik“ Ramfos hat bis heute ein außerordentlich reiches und sehr komplexes philosophisches, theologisches und polemisch in die Aktualität Griechenlands eingreifendes kulturphilosophisches Werk vorgelegt. Dennoch blieb er, trotz seiner großen Berühmtheit im eigenen Land, im Ausland nach wie vor fast völlig unbeachtet. Ein maßgeblicher Grund dafür dürfte sein für akademische Arbeiten eher unkonventioneller Interpretationsansatz sein. Ramfos charakterisiert seine Arbeitsweise selbst als „poetisch“60, wobei hier die antike Bedeutung des Schöpferischen gemeint ist, sodass ich seinen Ansatz als kreative Hermeneutik bezeichnen möchte. Zudem ist eine weitere Hürde bei der Bewältigung seines sehr umfangreichen Werks die Tatsache, dass es nicht systematisch aufgebaut ist; und dies ist sicherlich Programm. Ramfos lässt vieles offen, er wandert scheinbar ziellos durch die philosophisch-literarische Tradition und umkreist dabei ständig das eine, gleichbleibende Thema seines Denkens: Alle meine Arbeiten sind Kapitel, Zusätze und Fußnoten eines imaginären Buches, einer einzigen Untersuchung: Ich versuche in einer Auswahl die Glut der Innerlichkeit, die der griechischen Kultur potentiell oder real innewohnt, zu lokalisieren und aufzuzeigen, um zur schöpferischen Modernisierung ihres neugriechischen Sprosses beizutragen.61

Ramfos’ philosophische Affinität zu Platon zeigt sich bereits in seinen frühesten Veröffentlichungen, und diese schlägt sich auch in seinem Geschmack an Mythen, Bildern und rhetorisch geschickt platzierten Rätseln nieder, in einer Abkehr vom Systematischen zugunsten eines Umkreisens und immer wieder neu Formulierens, sowie in seiner eleganten Rhetorik und seiner gewählten Sprache, die auch in seinen gedruckten Büchern noch die Ungezwungenheit des gesprochenen Worts behält. 60 Ramfos GA 18: 14. 61 „Ὅλες μου οἱ ἐργασίες ἀποτελοῦν κεφάλαια, παραρτήματα καὶ ὑποσημειώσεις ἑνὸς νοητοῦ βιβλίου, μίας καὶ μόνης ζητήσεως: Προσπαθῶ ἐπιλεκτικὰ νὰ ἐντοπίσω καὶ νὰ ἀναδείξω τὰ ζώπυρα τῆς ἐσωτερικότητος ποὺ ἐνέχει ἔργῳ ἢ δυνάμει ὁ ἑλληνικὸς πολιτισμός, γιὰ νὰ συμβάλω στὸν δημιουργικὸ ἐκσυγχρονισμὸ τοῦ νεοελληνικοῦ του παραβλαστήματος.“ (Ramfos GA 8: 9).

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Dieses Mäandern mag zunächst den Zugang zu seinem Werk durchaus erschweren, doch es erwies sich im Laufe der Zeit auch als eine große Stärke, die es dem Autor erlaubt, auch die am stärksten neoorthodox geprägten historischen Schlüsse, die einer späteren Betrachtung nicht mehr standhielten und deren antiwestliche Tendenzen er in der Folge korrigierte, in gewisser Weise doch noch in seine geistige Biographie zu integrieren, und sei es als „Schritte auf einem Weg“62 . Ramfos neigt hin und wieder zu Wortschöpfungen,63 die sich jedoch gut in den poetisch-gelehrten Duktus seiner Texte einfügen. Dies gilt auch für die manchmal sehr gelehrten Entlehnungen aus der antiken Literatur und sein eigenwilliges Bestehen auf heute wenig gebräuchlichen orthographischen und grammatikalischen Besonderheiten. Poetisch ist Ramfos’ Werk jedoch nicht nur in sprachlicher Hinsicht, sondern er beansprucht die schöpferische Freiheit des Dichters auch was die Behandlung seiner Quellen angeht, die er ausnahmslos ahistorisch als unterschiedliche Daseinsformen des von ihm postulierten griechischen Geistes liest. Der Kritik daran begegnet er von Beginn an selbstbewusst und nimmt für sich das Konzept einer kreativen Hermeneutik in Anspruch, das es ihm erlaubt, geistesgeschichtliche Ideen allein auf der Basis ihrer Hellenizität zu verbinden. Seine Methode ist dabei dialogisch;64 seine Aufmerksamkeit richtet sich auf die Beantwortung zeitgenössischer Fragen in Auseinandersetzung mit der Tradition.65 Ganz platonischer Philosoph, macht Ramfos sich auch die literarischen Techniken seines Vorbildes zu eigen; besonders nahe sind ihm die Teile des Werkes, in dem Platon die begriffliche Rede unterbricht und in eine andere Art des Sprechens übergeht, nämlich in die des Mythos. Der Mythos bricht mit der dialektischen Beweisführung und nähert sich der Wahrheit in anderer Weise, umkreist sie, funktioniert nicht abstrakt, sondern arbeitet mit Bildern, mehr narrativ als deduktiv und deutet mehr an als er explizit äußert.66 Um dies zu illustrieren, wurden in unserer Untersuchung viele längere Passagen aus seinen Schriften nicht nur in unserer Übersetzung, sondern auch im Original zitiert, um dem Leser einen Eindruck der sprachlichen Beschaffenheit von Ramfos’ Prosa zu vermitteln. 62 Ramfos GA 13: 9. 63 Yannaras 2011: 21 ff. 64 Ramfos GA 3: 86; GA 18: 14 und öfter. Vergleichbar formulierte dies Heidegger: „Wir kommen ihm (Platon, Anm. I. S.) nur so nahe, dass wir mit ihm reden in der Gesprächsform, in die er selbst seine Arbeit geprägt, in den Dialogen.“ (Heidegger 2001: 124). 65 Zur Offenheit der Platonischen Dialoge in der Aporie bemerkt Heidegger: „Der Vollzug des Fragens und des Aushaltens im Fragen ist es, durch das das Wesen der Dinge sich eröffnet; jede Antwort verdirbt die Frage. Nur in der Frage ist erkenntnismögliche Wahrheit möglich und da.“ (Ibid.: 239, Hervorhebungen vom Autor). 66 Droz 1994: 8 f.

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Ramfos lehnt für seine Lektüre der Quellen also die philologische und historisch-analytische Arbeit als einzig korrekte Form der Annäherung ab, freilich im vollen Bewusstsein der Angreifbarkeit dieser Methode und der Versuchung, die entsteht, Verständnislücken ideologisch aufzufüllen.67 Die Freiheit der Interpretation nimmt er sich nicht aufgrund einer Beliebigkeit der Inhalte der Texte; seine Auslegung folgt trotz allem der Logik des Werkes: „Ich versuchte, […] den Text durch das Werk zu beleuchten.“68 An anderer Stelle bekräftigt er seinen Glauben daran, dass „die Interpretation die Dynamik des Textes innerhalb der Logik seiner Bestandteile freisetzt.“69 Seine Lektüre antiker, mittelalterlicher und neuer griechischer Literatur erschafft für ihn nach seiner Aussage ein […] mosaikartiges Feld von Bedeutungen, das sich im Rahmen historischer und geistiger Möglichkeiten bewahrheitet, statt endgültiger dogmatischer Sicherheit, ein Feld für die Diskussion in Form einer ständig offenen Arbeitshypothese.70

Die Stärken wie auch die Schwächen eines solchen Arbeitsansatzes sind offensichtlich: Die Offenheit seines Dialogs mit der Tradition fördert Zusammenhänge zu Tage, die durch eine strenge historische Analyse niemals sichtbar, geschweige denn nachweisbar würden; andererseits führt sie auch in die Versuchung zu ideologisieren. Die Entgleisungen in dieser Hinsicht halten sich in Ramfos’ Werk jedoch in relativ engen Grenzen und heben die große Zahl von interessanten Denkanstößen nicht auf, auch wenn diese immer cum grano salis zu verstehen sind. Seine Belesenheit und meisterhafte Beherrschung der griechischen Sprache machen ihn zu einer geradezu charismatischen Figur eines Kulturphilosophen, dessen Stimme in bestimmten Zirkeln über geradezu magische Anziehungskraft verfügt.

1.3.2  Rezeption des Werks und Stand der Forschung Das Werk des Ramfos hat im Laufe der Jahre sicherlich ein starkes Echo in Griechenland und – freilich um vieles geringer – auch im Ausland hervorgerufen, aber aufgrund seiner besonderen Stellung als Privatgelehrter ohne 67 Ramfos GA 18: 14. 68 „Προσπάθησα […] νὰ φωτίσω τὸ κείμενο διὰ τοῦ ἔργου.“ (Ramfos GA 3: 86). 69 „[…] ἡ ἑρμηνεία νὰ ἐλευθερώνῃ τὸν δυναμισμὸ τοῦ κειμένου μέσα ἀπὸ τὴν λογικὴ τῶν στοιχείων του.“ (Ramfos GA 18: 14). 70 „[…] ὥστε νὰ διαμορφώνουν μεταξύ τους ἕνα ψηφιδωτὸ πεδίο νοήματος, ποὺ ἐπαληθεύεται μὲ ὅρους ἱστορικῆς καὶ πνευματικῆς δυνατότητος εἰς βάρος κάθε τελεσίδικης δογματικῆς βεβαιότητος, πεδίο συζητήσεως σὰν διαρκῶς ἀνοικτὴ ὑπόθεσι ἐργασίας.“ (Ibid.: 14 f.).

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institutionelle Anbindung an staatliche Universitäten war seine Wirkung doch in gewisser Weise begrenzt. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass seine Werke bis vor Kurzem fast ausschließlich auf Griechisch veröffentlicht worden sind. Heute liegen drei Bände in englischer Übersetzung vor: Like a Pelican in the Wilderness: Reflections on the Sayings of the Desert Fathers,71 Fate and Ambiguity in Oedipus the King72 und Yearning for the One: Chapters in the Inner Life of the Greeks.73 In italienischer Sprache erschien La musica di Eraclito74 . Seine ersten (kleineren) Schriften publizierte Ramfos in französischer Sprache, teils in Paris, teils in Athen; diese Texte sind jedoch heute nur sehr schwer zugänglich. Aus diesen Gründen wurde und wird Ramfos fast ausschließlich von griechischen Autoren zitiert75 und in Griechenland diskutiert. Der 1980 erschienene Essay Μελέτη θανάτου [Vorbereitung auf den Tod] wurde in der theologischen Zeitschrift Σύναξη [Synaxi] von Kostas Georgousopoulos, Kostas Zouraris, Panagiotis Nellas und mehreren Lesern kritisch besprochen.76 Kontrovers wurde die Position von Ramfos in der Auseinandersetzung um das Verhältnis von Orthodoxie und Marxismus in den frühen 1980er Jahren eingeordnet; er selbst äußerte sich dazu in einem Interview77 und einem Vortrag zum Thema mit dem Titel Ὁ Μαρξισμὸς καὶ ἡ θρησκεία [Der Marxismus und die Religion]78 in einem Sammelband zum Verhältnis von Orthodoxie und Marxismus. Relativ viel Beachtung seitens der akademischen Diskussion in Griechenland fand Ramfos’ Beitrag zur Personalismusdebatte in der orthodoxen Theologie. Dieser Auseinandersetzung wird in der vorliegenden Arbeit ein eigenes Kapitel gewidmet.79 Der Schriftsteller, Kritiker, Philosoph und zeitweilige Herausgeber (1986–1997) der Zeitschrift Σύναξη [Synaxi], Sotiris Gounelas, widmete seiner 71 Erschienen 2000 in in Brookline (Mass.), übersetzt von Norman Russell; dies ist eine gekürzte Übersetzung des Werkes Πελεκᾶνοι ἐρημικοί [Pelikane in der Einsamkeit]. 72 Erschienen 2006 in Boston (Mass.), übersetzt von Norman Russell, mit einem Vorwort von Olympia Dukakis. 73 Erschienen 2011 in Brookline (Mass.), übersetzt von Norman Russell. 74 Übersetzt von Filli Rossi, Milano 2000. 75 Eine Ausnahme ist der italienischen Theologe Basilio Petrà, der in einem Artikel über Symeon den Neuen Theologen ausführlich auf Ramfos eingeht und ihm teilweise zustimmt (Petrà 2003). 76 Σύναξη [Synaxi] 3 (1982) 83–90. 77 Publiziert in Makris: 1983. 78 Publiziert in: Orthodoxia 1984. 79 Siehe unten Kapitel 5 Personale Anthropologie im Kontext der neoorthodoxen Diskussion.

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Auseinandersetzung mit verschiedenen Schriften von Ramfos die 2001 erschienene Sammlung Ἀντίλογος στὸν Στέλιο Ράμφο [Gegenrede an Stelios Ramfos]. Hierbei geht es ihm insbesondere darum zu zeigen, dass sich Ramfos in den verschiedenen Phasen seines Werks selbst widersprochen habe. Gounelas argumentiert aus der Position eines neoorthodoxen Denkers, der die antirationalistische und antiwestliche Stoßrichtung einiger früher Texte von Ramfos geschätzt hat und ihm seine „Kehre“ hin zu einer Öffnung nach Westen und sein gesamtes Verständnis einer griechischen Individualisierung verübelt. Zwar hat Gounelas zweifelsohne nicht Unrecht, wenn er in Ramfos’ Werk Widersprüche in ausgewählten zugespitzten Passagen aufzeigt, jedoch ist seine Position nicht frei von Polemik und antiwestlichen, antieuropäischen und anderen neoorthodoxen Ressentiments. Der griechischstämmige und in Paris ansässige Literaturwissenschaftler und Essayist Lakis Proguidis nahm Ramfos’ Interpretation des neugriechischen Schriftstellers Alexandros Papadiamantis mit dem Titel Ἡ παλινῳδία τοῦ Παπαδιαμάντη [Die Palinodie des Papadiamantis]80 als Ausgangspunkt für seine eigene Darstellung der Entstehung des modernen griechischen Romans in seinem umfangreichen Essay La conquête du roman. De Papadiamantis à Boccace.81 Zwar kritisiert Proguidis Ramfos sehr deutlich, insbesondere dessen neoorthodoxe Lektüre dieses lange verkannten Klassikers der neugriechischen Literatur. Es ist jedoch nicht zu übersehen, dass er auch viele Grundlagen seiner Interpretation von Ramfos übernommen hat.82 In der theologischen Diskussion wird seine Arbeit insbesondere bei der Aufarbeitung der Theologie der sechziger Jahre heute zumindest erwähnt. Seit etwa 2010 gehört Ramfos zu den Persönlichkeiten des öffentlichen Interesses,83 was auch die großformatige Publikation der Portrait Documentaries, eine Kombination von Interviews und Fotografien,84 zeigt. Beim Verlag Ἁρμός [Harmos], der auch die Gesamtausgabe der Schriften veröffentlicht, erscheinen die Monographien sowie in unregelmäßigen Abständen Sammlungen der kleineren Schriften und Artikel, die an anderer Stelle bereits publiziert worden sind. Hier erscheinen auch transkribierte Fernseh- und Radio interviews in einer definitiven schriftlichen Fassung. Das Œuvre von Ramfos in

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Ramfos: 1976. Proguidis: 1996. Vgl. unten Kapitel 6.3.2 Papadiamantis und Dostojewski. Das griechische Magazin LifO in der Ausgabe vom 22.12.2010 zählte Ramfos zu den herausragenden Persönlichkeiten des Jahres 2010. 84 Ramfos 2012 c.

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griechischer Sprache ist somit sehr gut zugänglich, wenn auch einige eher marginale Schriften noch nicht in der Werkausgabe versammelt sind. Auch in den digitalen Medien ist Ramfos in Griechenland präsent. Ein Blog85 versammelt alle im Internet zugänglichen Mitschnitte von Vorträgen und Fernsehinterviews und eine Facebook-Seite ermöglicht eine Diskussion, die jedoch nicht von Ramfos selbst moderiert wird. Ein Eintrag in die griechische Version von Wikipedia86 gibt einen kurzen Überblick über seine Lebensdaten und sein Werk, wobei hauptsächlich Ramfos’ frühere Nähe zum Marxismus sowie seine folgende Zugehörigkeit zu den sogenannten „Neoorthodoxen“ unterstrichen wird. Hier findet sich auch eine detaillierte, jedoch nicht vollständige, Liste seiner bisherigen griechischen Veröffentlichungen sowie der Übersetzungen ins Englische und Italienische. Der Publizist Richard Werly veröffentlichte am 14.07.2012 in der französischsprachigen Schweizer Zeitung Le Temps ein Interview mit Ramfos mit dem Titel La crise grecque n’ est pas économique, elle est culturelle. Hier beantwortet Ramfos allgemeine Fragen zum Verhältnis von Griechenland zu den übrigen EU Staaten, zu den Gründen seiner Staatsschuldenkrise sowie zur psychischen Situation des griechischen Volks. Michael Thumann veröffentlichte im Oktober 2012 in der deutschen Wochenzeitung DIE ZEIT einen Beitrag zur Säkularisierung in Griechenland mit dem Titel Gott ist nicht mehr geizig.87 Thumann unterstreicht hier insbesondere die Rolle von Ramfos als radikalem Verfechter der Säkularisierung in Griechenland: Er hält die Kirche für ein Modernisierungshindernis. Die Orthodoxie habe sich nie wirklich reformiert. Sie stelle die Glaubensgemeinschaft über das handlungsfähige Individuum. Sie verneine die Zeit, in der wir leben.88

Da die Rezeption der Bücher von Ramfos sich in Fachkreisen eher in Grenzen hält, ist die vorliegende Arbeit ein erster Versuch einer Bestandsaufnahme und Analyse.

1.3.3  Aufbau und Erkenntnisziele der Untersuchung Das internationale Echo auf Ramfos’ umfangreiches Werk kann also bisher nur als oberflächlich und von sehr allgemeiner Natur bezeichnet werden. Von einer eigentlichen Ramfos-Forschung kann noch nicht die Rede sein. So gibt es bis 85 http://steliosramfosgr.wordpress.com. 86 http://el.wikipedia.org/wiki/Στέλιος_Ράμφος. 87 Nr. 45 vom 31.10.2012. 88 Thumann 2012.

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heute nicht einmal ansatzweise einen Versuch, das gesamte Werk dieses Autors in den Blick zu nehmen und die unterschiedlichen Themen, die er im Laufe seiner schriftstellerischen Tätigkeit bearbeitet hat, in ihrer Gesamtheit zu untersuchen, sie zueinander in ein Verhältnis zu setzen und eine Beurteilung des bisherigen Werks in religionswissenschaftlicher, philosophiehistorischer und soziologischer Perspektive zu wagen. Die Gesamtausgabe des Werks von Ramfos umfasst bis heute 21 Bände,89 von denen jeder einzelne über 300 Seiten stark ist, sowie einige verstreute Artikel und kleinere Aufsatzsammlungen, die in die Gesamtausgabe (noch) nicht aufgenommen worden sind. Das Fehlen einer umfassenden Studie zu Ramfos mag unter anderem daran liegen, dass der Autor nach wie vor sehr produktiv ist und von ihm augenblicklich mehr Texte und Interviews publiziert werden denn je. Die Problematik, die sich also zu Beginn der vorliegenden Arbeit als erstes stellte, war, in der Vielzahl der von Ramfos behandelten Themen von der Antike über das byzantinische Mittelalter bis zum Griechenland des 19. Jahrhunderts und schließlich bis zur Behandlung aktueller nationaler Probleme mit Ausflügen in die Philosophie Nietzsches und Heideggers, einen roten Faden zu finden, die innere Motivation des Autors zu verstehen, die ihn dazu bewog, all diese Werke zu verfassen, und einen gemeinsamen Referenzpunkt dieser Schriften festzulegen. Das Erkenntnisziel der vorliegenden Untersuchung ist also die kritische Darstellung des kulturphilosophischen Ansatzes von Ramfos, insbesondere seines Versuchs, eine kulturelle Sonderstellung Griechenlands im 20. und 21. Jahrhundert zu definieren, dessen kulturelle Identitätsproblematik neu zu beschreiben und neue Wege im schwierigen kulturellen Dialog zwischen West- und Osteuropa vorzuschlagen. Ramfos’ breit angelegte Vorgehensweise, die Untersuchungen unterschiedlicher Phänomene von der antiken Philosophie über die orthodoxe Theologie bis hin zu Fragen zeitgenössischer Pädagogik und Psychologie umfasst, verlangt nach unserer Überzeugung eine kulturwissenschaftlichen Herangehensweise, durch die die Strategien der kulturellen Orientierung Griechenlands in Ramfos’ Interpretation offen gelegt und in einem griechischen wie auch in einem breiter gefassten osteuropäisch-orthodoxen Kontext verortet werden können. In diesem Zusammenhang werden neuere Ansätze der Theoriebildung in der Geschichtswissenschaft und in der Soziologie in die Reflexion einbezogen, insbesondere in den Kapiteln, die vom heutigen Griechenland und seinen aktuellen Problemen handeln.90

89 Vgl. die ausführliche Auflistung im Literaturverzeichnis dieser Arbeit. 90 Vgl. unten Kapitel 6.4 Umstrittene Modernisierung: Antworten auf die Krise in Griechenland sowie 6.5 Individualisierung und „ethnopsychologische“ Kritik.

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Die Erschließung des Materials wurde nicht nur von der schieren Masse an Schriften erschwert, sondern auch durch die Tatsache, dass Ramfos in seinem Leben eine ideologische Kehre vollzogen hat; etwa in der Mitte der neunziger Jahre wandte er sich von der geistigen Strömung der Neoorthodoxie ab, der er zuvor zumindest in loser Form angehört hatte. Bei den Neoorthodoxen handelte es sich um eine sehr heterogene Strömung, in der sich sowohl enttäuschte Linke, die sich vom Marxismus abgewendet hatten, als auch konservative Theologen, die der Orthodoxie eine neue, vom Westen unabhängige Dimension zu geben wünschten, zusammenfanden. Daher kann für alle Neoorthodoxen generell und auch was Ramfos betrifft, nicht von einer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe gesprochen werden, die zu einem bestimmten Zeitpunkt endete; der Bruch mit seinen eigenen früheren Aussagen ist jedoch nicht zu übersehen; dafür wird Ramfos bis heute von verschiedenen Seiten kritisiert.91 Die Entscheidung, wie das vorhandene Material zu ordnen sei, war also nicht leicht; die Frage stellte sich, ob es chronologisch, das heißt, nach dem Abfassungsdatum der Schriften oder besser thematisch geordnet werden sollte. Ich entschied mich für das letztere Kriterium. Dies bedeutete jedoch, dass berücksichtigt und diskutiert werden musste, dass Ramfos zu einem bestimmten Thema, beispielsweise zu der theologischen Frage der ungeschaffenen göttlichen Energien bei Gregor Palamas, im Laufe der Zeit unterschiedliche Positionen eingenommen und widersprüchliche Bewertungen abgegeben hat. Die von mir behandelten Themen wurden in der Reihenfolge der Philosophiegeschichte angeordnet, um gerade die Widersprüche darzustellen, die für die geistige Entwicklung unseres Autors charakteristisch sind. Ich beginne mit Platon als der wichtigsten Quelle des griechischen Denkens (diese Position vertritt zumindest der Autor), der jedoch von Ramfos aus der Perspektive der Kirchenväter gelesen wird. So versucht Ramfos in seinem Werk schließlich sein Ziel zu verwirklichen: die Entdeckung – oder besser Schöpfung – eines zeitgemäßen griechischen Denkens, auf dessen Basis den Anforderungen einer globalisierten Welt entgegenzutreten sei. Dieses Ziel verfolgt er ebenfalls in seiner Analyse der Philosophie Platons, die er als Anleitung zum geistigen Höhenflug, einer πτῆσις πνευματική versteht, ganz nach dem Muster des Aufstiegs des Menschen zu Gott, der sogenannten „Theosis“ des byzantinischen Mönchtums. Dieser Gedanke steht auch Pate bei der Behandlung der Theologie des Gregor Palamas wie auch der Philosophie der 91 Der prominenteste Kritiker der Kehre ist Sotiris Gounelas (2001). Bei den Neuausgaben derjenigen Werke, die stärker von der neoorthodoxen Ideologie beeinflusst waren, weist Ramfos im jeweiligen neuen Vorwort auf seine Korrekturen am eigenen Werk hin, s. auch Ramfos 2012 c: 23.

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frühen Neuzeit in Europa und bei dem Vergleich des griechischen Autors Alexandros Papadiamantis mit Fjodor Michailowitsch Dostojewski. Unsere Untersuchung beginnt also mit Ramfos’ Interpretation der antiken Philosophie, insbesondere Platons (Kapitel 3), betrachtet ihre Parallelen mit dem byzantinischen Mönchtum und dem Hesychasmus (Kapitel 4), vergleicht die unterschiedlichen Menschenbilder in West und Ost auf der Basis der jeweiligen Trinitätsauffassung (Kapitel 5) und endet schließlich mit Überlegungen zur Bewältigung der Krise in Griechenland (Kapitel 6). Die unterschiedlichen Schaffensphasen und die unterschiedlichen Einschätzungen, die er vor und nach seiner Kehre geäußert hat, werden innerhalb der jeweiligen Unterkapitel abgehandelt werden. Neben der Gliederung des Werkes waren noch zwei weitere wichtige Punkte zu beachten. Zum Ersten sollte Ramfos’ Denken in ein Verhältnis zur allgemeinen philosophiehistorischen und theologischen Forschung gesetzt werden und, wo vorhanden, sollten die Abweichungen analysiert werden, um gegebenenfalls zu zeigen, dass er bei seiner Interpretation klassischer Themen der Philosophiegeschichte und der Theologie ein bestimmtes Ziel verfolgt. Zum Zweiten sollten seine weniger argumentativen, eher als „Streitschriften“ formulierten Beiträge in Zeitungen und Zeitschriften, die einen wichtigen Teil seines Werks ausmachen, in die zeitgenössische Debatte eingeordnet werden. Was den ersten Punkt betrifft, kann man insgesamt feststellen, dass Ramfos sich in seinen historischen Ausführungen zur antiken Philosophie und zur byzantinischen Theologie meist konform innerhalb der gängigen Forschungsmeinungen insbesondere französischer Provenienz bewegt. Bei der Beurteilung des Hesychasmus überwiegt in seiner neoorthodoxen Phase eine ideologisch geprägte Lektüre, was unten in den Kapiteln 3 und 4 thematisiert wird. Nach seiner Kehre ändert sich dies. In der Debatte um den Personalismus kommen insbesondere die wichtigsten neoorthodoxen Denker in Griechenland zu Wort, um hier die Differenzen zwischen Ramfos’ neuer Anthropologie der Person und der neoorthodoxen Anthropologie darzustellen (Kapitel 5). Dies ist insofern wichtig für die Beurteilung von Ramfos’ Einfluss auf das gegenwärtige Denken in Griechenland, als der Beitrag zum Personalismus am heftigsten diskutiert wurde, während seine meisten anderen Bücher mehr oder weniger ohne ein deutlich vernehmbares Echo in der intellektuellen Landschaft geblieben sind. Auf dem Gebiet der zeitgenössischen Problematik des heutigen Griechenlands wurde die Vorgehensweise ebenfalls vom Thema abhängig gemacht. Für die Einordnung von Ramfos’ Werk in die geistige Strömung der Neoorthodoxen in Griechenland waren die Arbeiten von Vasilios N. Makrides92 sowie die Disserta92 Makrides 1989; 1993; 1998.

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tion von Pantelis Kalaitzidis93 besonders hilfreich. Bei der Sprachenfrage wurde der wissenschaftshistorische Kontext von Ramfos’ Artikeln skizziert, um eine Einordnung in die linguistische Diskussion der achtziger und neunziger Jahre zu ermöglichen. Bei der Deutung des Werks des Romanciers und Novellisten Alexandros Papadiamantis wurden Ramfos’ Texte mit der Position des Literaturwissenschaftlers und Essayisten Lakis Proguidis kontrastiert, der Ramfos’ Analyse einen großen Teil seines Buchs94 (wenn auch in polemischer Absicht) gewidmet hat. Bei der Behandlung der Themen Säkularisierung, Modernisierung und Individualisierung in Griechenland habe ich auf einschlägige Literatur aus der Soziologie und der Philosophie zurückgegriffen, um die Begriffe zu präzisieren und um Ramfos’ Darstellung mit der aktuellen Forschung abzugleichen. Mit dieser Darstellung und Einordnung des bisherigen Werks soll der Versuch unternommen werden, einen außerhalb Griechenlands so gut wie unbekannten Denker einem breiteren Publikum vorzustellen. Die europäische Staatsschuldenkrise hat, insbesondere in Deutschland, Griechenland mit seiner Mentalität und Geschichte zeitweilig zu einem in den Massenmedien häufig anzutreffenden Thema gemacht und viele bereits vorhandene negative Stereotypen verstärkt und neue hervorgebracht. So halte ich es für wichtig, einen für westeuropäische Augen keineswegs stromlinienförmigen griechischen Intellektuellen zu porträtieren, der heute eine bedeutsame Stimme in der Öffentlichkeit ist und der energisch dafür kämpft, dass sich Griechenland aus seiner derzeitigen Krise erhebt und seinen eigenständigen Platz unter den modernen europäischen Nationen findet. Als ein zweiter wichtiger Gesichtspunkt ist herauszustellen, dass sich nach unserer Überzeugung auch in den universitären Disziplinen Philologie, Philosophiegeschichte und Theologie politische und weltanschauliche Strömungen widerspiegeln. Ich verstehe die Auseinandersetzung mit der antiken Philosophie, die für Ramfos eine besondere Rolle spielt, mit Pierre Bourdieu als eine WiederAneignung eines „kulturellen Kapitals“. Pierre Bourdieus soziologischer Ansatz der unterschiedlichen Kapitalsorten entstand während seines Einsatzes im Algerienkrieg, wo er die traditionellen Gemeinschaften der Berber untersuchte. Seine Erkenntnis, dass dort materieller Besitz nicht der einzige Faktor für gesellschaftliche Anerkennung war, übertrug er schließlich auf das französische Bildungswesen. Bourdieu untersucht die Bedeutung von „symbolischem Kapital“, welches sich aus drei unterschiedlichen Kapitalsorten, dem „ökonomischen Kapital“ (materieller Besitz), dem „sozialen

93 Kalaitzidis 2008. 94 Proguidis 1996.

Methodisches Vorgehen

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Kapital“ (Einfluss in sozialen Netzwerken) und „kulturellem Kapital“ (in Form von Büchern, aber auch von allgemein anerkannten Bildungsabschlüssen) zusammensetzt und für ihn als das wesentliche Medium der Machtausübung gilt. Das symbolische Kapital äußert sich zunächst einmal in der Anerkennung durch die anderen Akteure, kann aber in andere Formen von Kapital umgewandelt werden.95 Im unserem Zusammenhang gibt es jedoch einen signifikanten Unterschied, nämlich dass für Ramfos das kulturelle Kapital für Griechenland gleichsam als Individuum im Kontext der Europäischen Union und der internationalen Staatengemeinschaft zu erstreiten ist, nachdem es durch eine Art geistiger Kolonisierung durch die großen europäischen Völker seit dem neu erwachten Interesse an der griechischen Antike in der Renaissance seinen Trägern, den Griechen, fortgenommen worden war. Auf Griechenland als Mitglied der Europäischen Union angewandt bedeutet dies, dass dessen politische Bedeutung in dem Maße steigen sollte, in dem es in der Lage ist, sich seines eigenen geistigen Erbes zu versichern. Noch viel wichtiger ist jedoch die veränderte Selbstwahrnehmung der Griechen selbst, das aus dem wieder erlangten Besitz der eigenen kulturellen Tradition entsteht. Das allgegenwärtige und durch die Krise noch verstärkte Minderwertigkeitsgefühl einer gesamten Nation, das politische Sprengkraft beinhaltet, möchte Ramfos kompensieren und Raum schaffen für wichtige soziale Veränderungen wie Individualisierung, Säkularisierung und Modernisierung. Wie im Folgenden genauer dazulegen sein wird, sind Ramfos’ Untersuchungen der griechischen Geistesgeschichte nicht nur als Arbeiten eines Philosophiehistorikers zu betrachten. Obwohl er heute in Bezug auf Europa und den Westen eine wesentlich offenere Haltung zeigt, sind seine Analysen früher wie heute stark ideologisch geprägt. Seine Schriften richten sich hauptsächlich an ein griechisches Publikum, was auch seine geringe Rezeption im Ausland erklärt, und dienen, wie er selbst sagt, der Selbsterkenntnis der Griechen. Ramfos’ Beobachtung, dass die europäische Philosophie über die Figur Platons einen Schattenkampf mit ihrer eigenen scholastischen Tradition führte, ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Sein Ansatz, die westlichen „Fehlinterpretationen“ zu berichtigen und die antike Philosophie aus orthodoxer, d.h. griechischer Perspektive zu lesen, wäre somit ein Versuch, dem Mangel an ökonomischem und politischem Einfluss in der Weltgemeinschaft eine kulturelle Überlegenheit im „sozialen Feld“ (Bourdieu) entgegenzusetzen, um die schmerzhafte Erfahrung 95 Bourdieu 1987: 22 f.

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von politischer Ohnmacht in den Zeiten des Kalten Krieges, als Griechenland aufgrund seiner geopolitischen Lage zwischen die beiden Blöcke geriet, und später, als viel gescholtenes Mitglied der Europäischen Union, zu kompensieren. Die Deutung der Tradition in einem griechischen Sinne führt Ramfos in einer früheren Phase zu einer Distanzierung vom Westen, später, ganz gegenläufig, zum Versuch, Griechenland in dem Prozess der Modernisierung unterstützend zu begleiten – alles in allem eine hoch emotionale Debatte, die nicht ohne innere Widersprüche bleibt. Vor allem die frühen antiwestlichen Invektiven von Ramfos sind im Kontext einer späten geistigen Dekolonialisierung zu verstehen, wie sie Tziovas für die moderne Debatte um die griechische Identität herausarbeitet.96 Wie in allen übrigen westlichen geisteswissenschaftlichen Disziplinen ist bei der Erklärung fremder Kulturen, auch in der Philologie und der Geschichte der antiken Philosophie sowie der Theologie, noch immer eine gewisse „imperialistische“ oder „orientalistische“ Tendenz im Sinne Edward Saids zu beobachten. Said eröffnete mit seinem einflussreichen Buch Orientalism eine Diskussion um die Repräsentierung der arabischen Welt in der westlichen Forschung, die in anderen Untersuchungen auf andere kolonialisierte Regionen in Asien und Afrika ausgedehnt wurde. Said wies nach, wie die Darstellung des Orients in Kunst und Literatur hauptsächlich im 19. Jahrhundert die politische Vormachtstellung und die Kolonialherrschaft des Westens dadurch legitimiert, dass der Osten als weiblich und schwach kodiert wird. Darin liegt, so Said, eine inhärente Aggression: My contention is that Orientalism is fundamentally a political doctrine willed over the Orient, because the Orient was weaker than the West, which elided the Orient’s difference with its weakness.97

Letzten Endes sei diese falsche Darstellung des Ostens nichts weiter als ein weiteres Instrument der Unterdrückung: My whole point about this system is not that it is a misrepresentation of some Oriental essence – in which I do not for a moment believe – but that it operates, as representations usually do, for a purpose, according to a tendency, in a specific historical, intellectual, and even economic setting.98

Die Stilisierung der griechischen Antike zum Ausgangs- und Referenzpunkt der europäischen Kultur durch westeuropäische Philologen, Intellektuelle und Phil-

96 Tziovas 2014: 1. 97 Said 1978: 204. 98 Said 1978: 273.

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hellenen des 18. und 19. Jahrhunderts erschuf einerseits eine imaginäre Landschaft, vergleichbar mit dem verklärten Arkadien, versetzte jedoch die Griechen der Gegenwart in ein ungünstiges Spannungsverhältnis zwischen einer idealisierten Vergangenheit und einer notwendigerweise als defizitär empfundenen Gegenwart. So konnten sich die gebildeten Griechen als legitime Erben der Antike von den übrigen Bevölkerungsgruppen im osmanischen Millet-i Rum abgrenzen und ihre Forderungen nach Lösung aus dem Osmanischen Reich und eine Integration in die Reihe der europäischen Länder unterstreichen, mussten jedoch diese Vergangenheit mit eben diesen teilen, da diese sich ebenfalls mit den antiken Griechen identifizierten und sie als ihre geistigen Vorfahren ansahen. Dies führt, so Leontis,99 zu einem „Krypto-Kolonialismus“, einem Kolonialismus des Geistes, bezogen auf einen imaginären topos, der mit Michel Foucaults „Heterotopie“ die Eigenschaften teilt, dass er ein gleichzeitig realer und irrealer Raum ist, der nicht der ökonomischen Logik von Zentrum und Peripherie folgt. Heterotopien fungieren als Gegen-Räume, in denen die realen Räume gleichzeitig repräsentiert und invertiert werden.100 Diese besondere Form der Wahrnehmung Griechenlands kann als metaphorische Kolonialisierung begriffen werden, in deren Verlauf die Antike als Raum erobert, vermessen und vereinnahmt wurde. Griechenland wurde somit nicht physisch kolonialisiert, wohl aber geistig durch die Annexion seiner antiken Vergangenheit. Das Fehlen einer für die Nationsbildung so wichtigen eigenen und exklusiven Vergangenheit förderte den „marginalen“ Status der Griechen innerhalb Europas und machte die angeblichen Begründer des „Westens“ gleichzeitig zu seinen Opfern.101 Die „Größe“ ihrer Vergangenheit verursachte das existentielle Drama der Griechen, in dem eine „orientalische“ Volkskultur und eine „westliche“ Hochkultur miteinander konkurrieren.102 Die geistige Dekolonialisierung Griechenlands zu untersuchen ist nicht der wichtigste Teil dieser Arbeit, wohl aber will ich zeigen, wie ein Denker vom östlichen Rand Europas diese oft sehr subtilen Denkbarrieren zu enttarnen und zu neutralisieren versucht, wenn er auch zeitweise übers Ziel hinausschießt und in einer bestimmten Phase seines Denkens in eine antiwestliche Gegenposition verfällt.

99 Leontis 1995. Vgl. dazu auch Herzfeld 2002. 100 Foucault 1993. 101 Herzfeld 2004: 6. 102 Tziovas 2014: 3.

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Eine selbstkritische Vorbemerkung soll vorweg ebenfalls noch angefügt werden: Obwohl in dieser Arbeit der Versuch unternommen wird, möglichst viele Aspekte von Ramfos’ Werk zu betrachten, wird sie ihm sicherlich nicht in jeder Hinsicht gerecht. Ausgespart werden seine ausführliche Beschäftigung mit dem Marxismus sowie seine Arbeiten über die moderne deutsche Philosophie, namentlich seine Studien zu Martin Heideggers Hauptwerk Sein und Zeit103 und zu den ethischen Schriften von Friedrich Nietzsche104 . Sie hätten freilich zu stark vom zentralen Erkenntnisinteresse unserer Untersuchung abgelenkt, nämlich Ramfos’ Suche nach dem griechischen Geist in ihrer Besonderheit nachzuzeichnen und sie in die aktuelle innergriechische Diskussion einzuordnen.

103 Ramfos GA 21. 104 Ramfos GA 19. Das Buch umfasst die ausgearbeiteten Skripten zu einer Vorlesungsreihe über Friedrich Nietzsches Genealogie der Moral und Jenseits von Gut und Böse.

2 Griechischer Osten und Lateinischer Westen – ein unüberbrückbarer Gegensatz? 2.1  Osten vs. Westen aus theologischer Sicht In dieser Arbeit wird oft vom „Osten“ und vom „Westen“ als unterschiedlichen, zuweilen sogar gegensätzlichen Kulturräumen die Rede sein. Der Osten als Himmelsrichtung des Sonnenaufgangs (ἀνατολή) galt schon in der Antike als Richtung, aus der Heil und neue Gottheiten erwartet wurden; so kam der Kult des Dionysos von ebendort und mit ihm religiöse Erneuerungen, die als „mystisch“ bezeichnet wurden. Für Platon lag im Osten der Ursprung aller Philosophie und seine antiken Schüler und Exegeten bemühten sich sehr um die Mythen aus dem Orient, die in den Werken als Aegyptiaca, Persica, Babylonica, Assyrica, Chaldiaca, Phoenicia, Hebraica und Indica tradiert wurden.1 Auch der Alte Orient mit seinem intensiven Studium der Gestirne schrieb dem Osten besondere Qualitäten zu, und im Christentum verbanden sich diese beiden Traditionen, weswegen man das irdische Paradies zwischen den vier Flüssen Pischon, Gihon, Hiddekel und Perat in eben dieser Richtung verortete, auf die auch die Gotteshäuser ausgerichtet waren.2 Der Jüngste Tag würde auch von dort heraufziehen, sodass man die Toten nach christlichem Ritus bis heute entsprechend mit dem Gesicht in Richtung Osten bestattet.3 So erklärt es sich, dass seit jeher der Orient als die Richtung gilt, aus der Licht und Leben kommen, während der Okzident mit Dunkelheit und Tod assoziiert werden. Zum Osten als Ort der Weisheit kam also auch die Auffassung hinzu, dass sich das Heil von dort aus über die Welt verbreitet, sodass dem Schlagwort ex oriente lux neben der buchstäblichen noch eine übertragene Bedeutung erwuchs. Für Europa war und ist der Orient also noch immer ein Projektionsraum, der den Suchenden einen schier unerschöpflichen Vorrat an Heils- und 1

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In seiner Studie über die Platonica Orientalia verfolgt Jeck die im Bereich des Mythos angesiedelten Nachrichten über die Einflüsse von Weisheitstraditionen aus dem Osten auf Platons Werk. Diese „erfundene Tradition“ diente einerseits dazu, der Philosophie Platons die Legitimation antiker Weisheit zu verleihen. Andererseits wurden die tatsächlichen Einflüsse orientalischer Religionen auf die Neuplatoniker der Spätantike immer stärker, insbesondere bei Jamblich. Dazu Jeck 2004 mit ausführlicher Bibliographie. Dazu Heid 2008. Heid 2001: 153–155.

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Sinnversprechen bietet, sei es durch einen Aufenthalt in einem indischen Ashram oder in einem buddhistischen Kloster in Japan. Nicht wenige Denker schrieben dem Osten zu, mystischer und holistischer zu denken bzw. zu fühlen, und weniger analytisch zu sein als der „entzauberte“4 Westen. Spätestens hier ist offensichtlich, dass diese Unterscheidung nichts mehr mit der geographischen Lage zu tun hat. Diese Typologie ist auch in den aktuellen Diskursen omnipräsent, und je komplizierter sich die tatsächlichen ökonomischen, politischen und kulturellen Beziehungen zu den Staaten Asiens und dem islamischen Kulturkreis gestalten, umso dankbarer werden diese Topoi perpetuiert, um wenigstens ein Minimum von Sicherheit in den Weltbildern zu gewährleisten. So locken Reiseveranstalter den Neugierigen ins „mystische Indien“ oder das „geheimnisvolle China“, dem gestressten Zeitgenossen versprechen geistige und körperliche Übungen wie TaiChi, Qi-Gong und Yoga Genesung und Entspannung und der Konsument kann sich mit dem Griff ins wohl sortierte Wellness-Warenregal mit Ayurvedischen Tees, Massageölen, Badezusätzen und Räucherstäbchen Mystik und Heilung aus dem Orient im handlichen Format nach Hause holen. Das Verhältnis „rationales Europa – mystisches Asien“ wiederholt sich mutatis mutandis interessanterweise auch in der Gegenüberstellung der traditionell lateinisch geprägten katholischen (und später auch protestantischen) und der orthodoxen Kirche. Gerade aus religionswissenschaftlicher Sicht verbergen sich hinter dieser scheinbar eindeutigen Unterscheidung weit mehr Fallstricke als man zunächst vermuten möchte. Nicht nur die Fremdwahrnehmung des christlichen Ostens seitens der westeuropäischen Theologen fällt in dieses Muster, auch die Selbstwahrnehmung der orthodoxen Christen ordnet sich in diese Typologie ein.5 Die Aufteilung des geistigen Universums in eine östliche und eine westliche Hälfte reicht bis in die Entstehungszeit der großen Erzählungen zurück. Unabhängig von ihrer geographischen Lage konnten sich insbesondere deutsche Gelehrte

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Mit der „Entzauberung der Welt“ formuliert Max Weber zum ersten Mal 1917 in dem Vortrag „Wissenschaft als Beruf “ den Begriff einer von Rationalismus, technischer Entwicklung und Säkularisierung geprägten Kulturentwicklung, welche die moderne westliche Industriegesellschaft genommen hat. Darin unterstreicht er die Ablösung des Glaubens an magische Kräfte: „Das aber bedeutet: die Entzauberung der Welt. Nicht mehr, wie der Wilde, für den es solche Mächte gab, muss man zu magischen Mitteln greifen, um die Geister zu beherrschen oder zu erbitten. Sondern technische Mittel und Berechnung leisten das. Dies vor allem bedeutet die Intellektualisierung als solche.“ (Weber 1985: 594) vgl. Schluchter 2009: 113. Müller-Schauenburg 2011: 43.

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zum Westen, wie Hegel, oder zum Osten, wie Schopenhauer, hingezogen fühlen. Der Westen war die Richtung der Freiheit und der Selbstbestimmung, im Osten suchte man die Spiritualität. Diese Polarität entdeckte die orthodoxe Welt zuerst in dem sich nach Westen, insbesondere nach Frankreich, wendenden Russland der Zarenzeit. Während dort nun eine schmale Führungsschicht gänzlich die französische Kultur zu übernehmen versuchte, entstand unter bestimmten Intellektuellen, die sich als „Slawophile“ bezeichneten. Diese bildeten eine politisch-publizistische Bewegung, die seit den 1820er Jahren bis zum Slawenkongress von 1848 bzw. maximal bis zum Auftreten der ersten Jungtschechen 1860, in Russland bis zum Tod ihrer Hauptvertreter 1860 eine Gegenbewegung, die eine Überlegenheit der heimischen Traditionen postulierte. Im Gegensatz zu den Westlern, die eine Europäisierung Russlands anstrebten, besannen sich die russischen Slawophilen auf das „ursprünglich Russische“. Rabow-Edling erklärt,6 dass die Bewegung der Slawophilen als ein Versuch interpretiert werden kann, das Problem der russischen nationalen Identität zu klären. Zunächst war das Gefühl einer nationalen Identität nicht von einer breiten Mehrheit der Bevölkerung getragen, sondern es entsprang einer schmalen intellektuellen Oberschicht, die eine Diskussion um Russlands Zukunft anstieß, nachdem ihre (zunächst westlich orientierte) Identitätskonstruktion in eine Krise geraten war. Ein starker Einfluss auf die Ausbildung der slawophilen Ideologie war auch von der zeitgenössischen deutschen Philosophie der Romantik ausgegangen, etwa bei Johann Gottfried Herder (1744–1803), dessen Ideen zur Geschichte der Menschheit (1782–88) eine Theorie des Charakters des slawischen Völkerstammes beinhaltet.7 So formte sich das russische Konzept einer Nation auf der Basis romantischer Ideen und Begriffe, aber auch auf den Grundlagen des orthodoxen Denkens, namentlich der menschlichen Gemeinschaftlichkeit und der Verbindung von Gott menschlicher Natur.8 Mit der Flucht vieler Intellektueller aus Russland nach der Oktoberrevolution in den Westen verschärfte sich allmählich die kulturelle Auseinandersetzung.9 Der sich verdichtende Kontakt von russischen und europäischen Denkern förderte auch die erste Systematisierung der orthodoxen Theologie durch russische Theologen. Dies war an sich schon ein Zugeständnis an die europäische Tradition; innerhalb der orthodoxen Welt war dies nie notwendig gewesen. Diese 6 7 8 9

Rabow-Edling 2006: 15. Herder 1965: 281. Horujy 2010: 28. Zur „Gemeinschaftlichkeit“ in Ost- und Südosteuropa und die Rolle der orthodoxen Tradition s. auch Makrides 2010. Zu antiwestlicher Kritik in der Orthodoxie s. Makrides 2014.

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binäre Unterscheidung zweier unterschiedlicher Traditionen existiert allerdings bis heute und ist meist polemisch, wobei sich ein altes Schema der kulturellen Positionen wiederholt: Der Westen stellt Ansprüche, der Osten klagt an.10 In diesem Fall wäre der Anspruch des Westens, eine fehlende Systematik zu bieten, die Anklage des Ostens beläuft sich darauf, dass der Westen sich von den Ursprüngen des Christentums zu weit entfernt habe. Mutatis mutandis setzte sich dieses Schema in der weiteren Auseinandersetzung der beiden westlichen Kirchen und der Orthodoxie fort, bis hin zu gut gemeinten ökumenischen Gesprächen. Totzke argumentiert, dass diesem Gefühl der unvereinbaren Kulturen zwei unterschiedliche Vorstellungen des „geistigen Wachstums“ zugrunde liegen. Der Grunddissens liegt in wenigen Worten darin, dass der Osten dem Westen vorwirft, dieser habe sich sich von der biblisch-frühchristlichen Tradition entfernt und sei „abgeirrt“; umgekehrt antwortet darauf der Westen, im Osten gebe es keine Entwicklung und er sei auf der Stufe der Kirchenväter stehen geblieben.11 Das bedeutet, der Osten wirft dem Westen vor, zu sehr auf Entwicklung im Sinne von Fortschritt aus zu sein, was einen Ursprung, aber auch ein Ziel voraussetzt. Diese lineare Bewegung, die mit dem Fortschritt assoziiert wird, beinhaltet also eine teleologische Zielrichtung, die vom Ursprung wegführt und außerdem Veränderungen miteinschließt. Dies wird im Allgemeinen als die westliche Auffassung von Entwicklung verstanden. Im Osten hingegen wird mehr darauf geachtet, die Verbindung mit der Überlieferung zu unterstreichen, was Neuerungen aber nicht grundsätzlich ausschließt. So kennt auch die Orthodoxie Erneuerungen in der Theologie, wie sie durch Persönlichkeiten wie Gregor Palamas im 14. Jahrhundert oder die russischen Theologen Wladimir Sergejewitsch Solowjow (1849–1900), Sergei Nikolajewitsch Bulgakow (1871–1944) und Pawel Alexandrowitsch Florenski (1882–1932) eingeführt wurden und die gerade aufgrund ihrer Neuartigkeit zuerst nur zögerlich akzeptiert wurden.12 Im Osten wird jedoch viel Wert darauf gelegt, dass nur Aspekte, die in der Tradition bereits angelegt sind, entfaltet werden. Entwicklung beinhaltet zwar immer noch eine Verbindung zum Ursprung, sieht aber auch Veränderungen vor und verläuft, zumindest ideal gesehen, von bestimmten Anlagen aus in Richtung auf ein Ziel, wobei nicht alle Zeichen des Ursprungs am 10 Totzke 2006: 38. Totzke beobachtet diese beiden Positionen seit dem ersten Aufeinanderprallen von Ost und West, zwischen dem Patriarchen Photios und Papst Nikolaus im 9. Jahrhundert. 11 Ibid.: 33. 12 Ibid.: 36.

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Ende noch erkennbar sein müssen. Eine Entfaltung hingegen bedeutet, ähnlich wie bei einer Knospe, die sich zur Blüte umformt, das gleichmäßige Wachstum aller bereits auf kleinstem Raum vorhandenen Teile, und zeigt sämtliche Zeichen des Ursprungs nachweisbar an sich.13 Diese unterschiedlichen Auffassungen des geistigen Wachstums überlagern sich jedoch auch mit den deutlichen gesellschaftlichen und politischen Differenzen zweier unterschiedlicher Kulturräume, dem des orthodox geprägten Ostens und dem des säkularen, von der Moderne geprägten Westens. Letzterer wird, je nach historischem Kontext, selektiv entweder mit dem angloamerikanischen Raum identifiziert, oder dem transatlantischen Bündnis oder, in jüngster Zeit, mit der Europäischen Union. Ost und West sind in diesem Zusammenhang demnach schon lange keine Himmelsrichtungen mehr, sondern beinhalten eine gesellschaftliche, kulturelle und politische Orientierung. So entwickelte sich die theologische Ost-West-Polemik entlang ideologischer Grenzen, was auch die zunehmende Politisierung der zunächst einmal rein theologischen Untersuchungen erklärt. Diese zunehmende Ideologisierung ursprünglich theologischer Begriffe sollte später durch die sogenannte neoorthodoxe theologische Strömung in Griechenland, die etwa von der Mitte der achtziger bis zur Mitte der neunziger Jahre breitere Beachtung fand, übernommen werden. Auch für das heutige Russland spricht Vladimir Petrunin von einem „politischen Hesychasmus“, einer ideologisch aufgewerteten (bzw. belasteten) theologischen Diskussion gesellschaftlicher und religiöser Themen.14

2.2  Osten vs. Westen aus historisch-politischer Perspektive Fragt man heute nach dem Selbstverständnis der modernen Griechen, so stößt man sehr bald auf ein vielschichtiges Geflecht von Zugehörigkeiten und Abgrenzungen, die zunächst als merkwürdig widersprüchlich erscheinen, zumindest von einer mitteleuropäischen Warte aus gesehen. So wird sich unter Umständen derselbe Gesprächspartner in einem Atemzug als orthodoxer Christ bezeichnen, obwohl er bzw. sie vielleicht einen altgriechischen Namen wie Nestor, Kassandra oder Phivos trägt, und gleichzeitig stolz sein auf die Werke „seiner“ Vorfahren Sappho, Euklid und Phidias. Ebenso überrascht mag der ausländische Gast sein, wenn er oder sie in sehr umfangreichen politischhistorischen Ausführungen über die Übel der osmanischen Besatzungszeit 13 Ibid. 14 Petrunin 2009, dazu die Arbeiten von Stöckl 2010; 2011.

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aufgeklärt wird, das unlösbare Zypernproblem und Ähnliches; bei einem anschließenden Besuch in einem Nachtclub wird jedoch ausgiebig gefeiert mit Speisen mit auffällig türkischen Bezeichnungen und orientalischen Rhythmen und Tänzen, deren Namen ihre anatolische Herkunft nicht verschleiern.15 Ebenfalls ratlos lässt den Beobachter die unverhohlene Verachtung des Papstes bei gleichzeitiger großer Sympathie für die katholischen Italiener. Ein festes Klischee, das auch heute in Griechenland oft zitiert wird, um die enge Verwandtschaft der beiden Völker zu unterstreichen, lautet: una faccia una razza – in etwa: gleiches Gesicht, gleiches Volk. Die Reihe von paradoxen Stereotypen ließe sich ohne Weiteres fortsetzen. Diese scheinbaren inneren Widersprüche in der griechischen Selbstwahrnehmung sind jedoch auf die besondere geopolitische Lage des Landes und seine lange und wechselvolle Geschichte zurückzuführen, und bei eingehender Betrachtung findet jedes der Elemente auch seinen Platz, die Liebe zur Antike ebenso wie die herausragende Bedeutung der orthodoxen Kirche für die Gesellschaft, das osmanische Erbe, das Griechenland mit den übrigen Staaten des Balkans teilt, die gefühlte Nähe zu Italien, aber auch der Stolz auf die eigenen nationalen Errungenschaften und nicht zuletzt sogar die Ablehnung vieler moderner Entwicklungen, die den Westen heute prägen, und andererseits eine ständige Sehnsucht danach, sich Europa anzunähern und endlich den verdienten Platz in dieser Staatengemeinschaft einnehmen zu können. Dies bildet auch den Hintergrund von Ramfos’ kulturphilosophischer Arbeit. Er kann für seine griechischen Leser als hinlänglich bekannt vorausgesetzt werden, ist aber für den nicht-griechischen Rezipienten in aller Regel nur ein verschwommener Fleck auf der historischen Landkarte am äußersten östlichen Rand der Europäischen Staatengemeinschaft. Im Folgenden werde ich diesen Hintergrund in groben Zügen nachzeichnen, um die für das Verständnis von Ramfos’ Werk wichtigsten Begriffe, Persönlichkeiten und Ereignisse einzuführen; zugleich soll dieses Vorgehen einen kleinen Überblick über die griechische Ethnogenese verschaffen, die angesichts der vielen Krisen und nicht zuletzt der jüngsten europäischen Staatsschulden- und Bankenkrise, auch heute noch längst nicht als abgeschlossen betrachtet werden kann.16 Wenn im internationalen Kontext von „Griechenland“ bzw. „Greece“ gesprochen wird, so ist dasjenige Land gemeint, dessen Selbstbezeichnung 15 Zu den kleinasiatischen Einflüssen in der populären Musik Griechenlands und ihrer Vereinnahmung durch die Politik vgl. Gauntlett 2003. 16 Turczynski 2003: 7. Zur Bedeutung der Orthodoxie im Zusammenhang mit der Staatsschuldenkrise s. Makrides 2015 a

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„Hellas“ oder „Ellada“ ist. Diese Unstimmigkeit geht schon auf die römische Zeit zurück und die im Folgenden geschilderten negativen Urteile der Römer gegenüber den Griechen waren unter der gebildeten Bevölkerung in Europa mindestens bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts mehr oder weniger präsent.17 Der erste römisch-griechische Kulturkontakt fand in Süditalien statt, bevor die Griechen in das ständig wachsende Imperium Romanum integriert wurden. Die lateinische Bezeichnung „Graeci“ stammt ab von der kleinen böotischen Kolonie Graea in Süditalien, deren Bewohner sich Graikoi nannten.18 Nun waren die Römer den Griechen militärisch zwar weit überlegen, absorbierten jedoch bald, wenn auch unter gewissem Vorbehalt,19 die griechische Literatur und bildende Kunst, welche bereits den gesamten östlichen Mittelmeerraum beherrschte20 und noch sehr lange beherrschen sollte, was der Dichter Horaz in seinem berühmten Vers zusammenfasst: Graecia capta ferum victorem cepit et artes intulit agresti Latio [Das unterworfene Griechenland zwang seinen wilden Eroberer in die Knie und brachte die Künste in das bäuerliche Latium].21 Nicht allen seinen Landsleuten gefiel jedoch der Einfluss, den griechische Lehrer in Rom hatten, und sie bezeichneten die Graeci gelegentlich auch verächtlich als Graeculi [in etwa: „Griechlein“].22 Während im öffentlichen Raum stets ein gewisses Unbehagen gegenüber allzu offen zur Schau getragener Sym17 Lowenthal 2000: 141 in einem Buch über George Perkins Marsh, einen amerikanischen Diplomaten und Philologen, der 1851–52 ein heikles diplomatisches Problem um einen in Griechenland inhaftierten amerikanischen Missionar löste. Sprichwörtlich blieb der Ausdruck graeculi esurientes für unterwürfige Mitläufer aufgrund der dominierenden klassischen Bildung in Europa mindestens bis in die Mitte des 20. Jh., vgl. etwa Guéhenno 2014: 127. Zur negativen Beurteilung der Griechen aufgrund der Idealisierung ihrer Vergangenheit vgl. Tziovas 2014: 2 und passim. 18 Mellor 2008: 87. 19 Namentlich Cato d. Ältere ist bekannt für seine antigriechischen Invektiven, wobei Gruen zu Recht darauf hinweist, dass diese fast gänzlich einem einzigen Buch entstammen, das Cato für seinen Sohn verfasst hatte, was den polemischen Charakter teilweise erklärt (Gruen 1992: 52–83). Nichtsdestotrotz scheint derselbe Cato über eine sehr breite griechische Bildung verfügt zu haben, vgl. Mellor 2008: 95 mit Verweis auf Momigliano 1975: 20. 20 Griechisch war bereits zur lingua franca des östlichen Mittelmeerraums geworden und so schrieben auch ägyptische, babylonische, phönizische und jüdische Autoren auf Griechisch (Momigliano 1990: 98). 21 Horaz, Epistel 2.1, 156 f. 22 Graeculi esurientes [hungrige Griechen]: Juvenal Satiren 3, 76; Graeculi delirantes [verrückte Griechen]: Petron, Satyricon 89, 1.

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pathie für griechische Kultur herrschte,23 gab sich die römische Oberschicht im Privaten, in den mit Beutekunst reich geschmückten Villen Campaniens, gerne gepflegter Unterhaltung und Philosophie nach griechischem Vorbild hin.24 Diese Diskrepanz zwischen Bewunderung für die alte Kultur auf der einen Seite, auf der anderen Seite aber Vorurteilen gegenüber den griechischen Zeitgenossen wird auch sichtbar im lateinischen Epos par excellence, Vergils Aeneis. Hier stilisiert Vergil die lateinisch-griechische Konkurrenz zu einer regelrechten historischen Erbfeindschaft, indem er den trojanischen Helden Äneas infolge der Zerstörung seiner Heimat durch die Griechen Rom gründen lasst. Er modelliert jedoch Sprache und literarische Gattung eng am Vorbild von Homers Ilias und Odyssee, inhaltlich ist sein Werk jedoch absolut römisch hinsichtlich der dort formulierten Werte und Ziele, namentlich des Mythos des römischen Zivilisationsauftrags für die gesamte Welt. Trotz der enormen kulturellen Einflüsse, die die Römer in den Bereichen von Literatur und Philosophie, aber auch im Bereich der Alltagskultur im Laufe der Zeit übernahmen, haben sich die gegenseitigen Vorurteile nicht verringert. Die Römer empfanden die Griechen ihrer eigenen Zeit als korrupt, geschwätzig, moralisch verweichlicht, und lehnten deren angeblichen Hang zum Luxus ab, alles Eigenschaften, die der römischen Vorstellung von Tugend und Aufrichtigkeit widersprachen. Auf der anderen Seite sahen die Griechen ein wenig auf die römischen „Barbaren“ hinab, die zwar ein großes Reich beherrschten, nicht jedoch die Feinheiten der griechischen Zivilisation.25 Für unseren Zusammenhang ist es nun besonders interessant, dass diese Urteile nicht nur in der Antike wirksam waren, sondern gerade in der Neuzeit im klassisch, insbesondere lateinisch gebildeten Europa, gerade im Philhellenismus ein ebenso gespaltenes Bild von Griechenland hervorbrachten. Hier galt das klassische Griechenland einstimmig als Wiege der europäischen Kultur; hinsichtlich

23 So berichtet Plutarch in seiner Vita des Cato maior (23) von der geradezu manischen Hellenophobie des älteren Cato, die ihn und seine Generation als verknöcherte, moralinsaure Vertreter altrömischer Werte darstellt (Mellor 2008: 80). 24 Der private Bereich blieb dem otium, der gepflegten Muße, vorbehalten. Vgl. Mellor 2008: 95. Zur Kultur der römischen Villen vgl. D’Arms 1970. 25 Wie Mellor treffend bemerkt: „We see […] that however much the Romans admired Greek civilization of the past, they did not much like contemporary Greeks.“ (Mellor 2008: 105, Hervorhebung vom Autor).

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der zeitgenössischen Griechen existierte jedoch eine ganze Reihe von Vorbehalten, die den römischen überraschend ähneln.26 Zwar hatte die griechische Kultur im neuen Kontext des römischen Imperiums überlebt, jedoch zu einem hohen Preis, nämlich, in dem sie „lernte“, so Bowersock, „ein Museum zu sein“.27 Dies führte letzten Endes dazu, dass die griechische Literatur und Philosophie in Spätantike und Kaiserzeit in ihrer ständigen Mimesis der antiken Vorbilder wenig Raum ließ für innovative Tendenzen, die lateinische hingegen durch die vielfältigen Inspirationen, die ihr die griechische Kultur bot, erst dann ihren schöpferischen Höhepunkt erreichte. Das umgekehrte Kultur- und Machtgefälle blieb in den Zeiten des Imperium Romanum im Hintergrund ebenso erhalten wie die gegenseitige Reserviertheit, da trotz der langen Zeit des Zusammenlebens und wechselseitiger Beeinflussung28 ein kultureller Bruch entlang der Sprachgrenze bestehen blieb, den man, im Anschluss an Lakis Proguidis, in etwa entlang des 18. Längengrades lokalisieren 26 Regine Quack-Manoussakis stellt Schwankungen und Widersprüche im Griechenlandbild der Deutschen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts fest. Im Großen und Ganzen spalteten sich die Meinungen in zwei Lager, das der frenetischen Philhellenen, deren Begeisterung sich aus der klassischen Antike speiste und die die Griechen als „Lehrer aller Zeiten und Geschlechter“ ansahen, und einem extrem negativ geprägten Bild, vornehmlich getragen von Heimkehrern, die freiwillig den griechischen Befreiungskampf unterstützt hatten. Ein Grund für die negative Bewertung mag gewesen sein, dass von den etwa 250 Freiwilligen, die sich 1821–22 nach Griechenland aufmachten, nur gut die Hälfte wiederkehrte. (Quack-Manoussakis 2008: 184 ff.). 27 Bowersock 1969: 90–91. 28 Mellor stellt die Beziehung zwischen Griechen und Römern auf politischer, sprachlicher und kultureller Ebene dar, wobei deutlich wird, dass trotz der langen Zeit des Zusammenlebens und der wechselseitigen Beeinflussung die gegenseitigen Vorurteile und das Misstrauen nicht unbedingt geringer wurden. Der römische Einfluss auf die Völker im westlichen Mittelmeerraum, einschließlich der griechischen Kolonien, war ungleich stärker als im östlichen Teil, wo das Lateinische schon immer nur eine untergeordnete Rolle gespielt hatte; so hat sich schließlich in wichtigen griechischen Kolonien wie Marseille und der Magna Graecia (zumindest bis zur Einwanderung byzantinischer Griechen auf der Flucht vor slawischen Einwanderern oder Ikonoklasten) im Süden der italischen Halbinsel Latein als Sprache gegen das Griechische durchgesetzt (Mellor 2008: 122 ff.). Wann und weshalb die griechische Sprache im Westen verschwand, ist nicht abschließend geklärt. Eine Ausnahme stellt das Griechische in vereinzelten Regionen Süditaliens und Siziliens dar, das sich bis heute erhalten hat; der Grund dafür könnte in der relativen Nähe zum Mutterland, eine Besiedelung durch Griechen im Mittelalter und der unwegsamen Gegend liegen, in der sich die Sprachinseln erhalten haben.

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kann. Dieser verläuft wenige Kilometer westlich des heutigen Sarajevos, und setzt sich in südlicher Richtung durch die Adria fort, entlang der albanischen Küste, durch das Ionische und das Libysche Meer bis zur Küste Afrikas. Folgt man eben diesem 18. Längengrad nach Norden, durchschneidet dieser Budapest und endet in Danzig an der Küste der Ostsee.29 Er bildet, wie im Folgenden zu sehen sein wird, so etwas wie eine „kulturelle Wasserscheide“ Europas, die zumindest bis zum Fall des „Eisernen Vorhangs“ bestand. Diese gedachte Linie teilte Europa in zwei Teile; im Laufe der Jahrhunderte trennte sie nacheinander Katholiken von Orthodoxen, das fortschrittliche Europa der Neuzeit vom eher konservativen slawisch-orthodox bestimmten Raum und schließlich, wenn auch nur annähernd, die atlantisch orientierten NATO-Staaten von den russisch dominierten Staaten des Warschauer Pakts.30 Die kulturellen Unterschiede zwischen westlicher und östlicher Reichshälfte des Imperium Romanum wurden in der Folge nicht geringer, und den zunehmenden Schwierigkeiten, das Imperium, das sich inzwischen vom Kaspischen Meer bis zum Atlantik erstreckte und zwischen Nordafrika und dem Rhein große Teile West-, Süd- und Südosteuropas umfasste, zentral allein von Rom aus zu regieren, trugen bereits Octavianus (der spätere Kaiser Augustus) und sein Rivale Antonius Rechnung, indem sie im Jahr 40 v. Chr. das Reich in eine westliche und eine östliche Hälfte teilten. Die Trennlinie verlief entlang der oben skizzierten Linie, die in etwa mit der Sprachgrenze zwischen den beiden wichtigsten Sprachen des Mittelmeeres, dem Lateinischen im Westen und dem Griechischen im Osten, übereinstimmte. Mit der Gründung eines zweiten Roms in der Nähe der kleinen Garnisonsstadt Byzantion am Bosporus wuchs mit Konstantinopel in den folgenden Jahrhunderten das Zentrum des oströmischen Kaiserreichs und der orthodoxen Kirche heran. Als Rom schließlich 476 unter dem stetigen Ansturm der Goten zusammenbrach, wurde das Erbe des Imperiums auf die östliche Hauptstadt übertragen und ebenso die Selbstbezeichnung ihrer Bewohner, die nunmehr die einzigen „Römer“ („Rhomäer“) geworden waren, seit ihre ehemaligen Mitbürger in den 29 Proguidis 1998: 24. 30 Ibid. Ich bin mir bewusst, dass diese Grenzziehung insbesondere im nördlichen Europa im Laufe der Jahrhunderte oszilliert und zeitweise sehr durchlässig ist. Das historische wie auch das heutige Polen teilen kulturell weitaus mehr Charakteristika mit dem westlichen Europa als mit Russland, dennoch stand dieses Land nicht nur in der kommunistischen Zeit sehr lange unter dem Einfluss des mächtigen östlichen Nachbarn. Kompliziert stellt sich auch eine Aufteilung der Baltischen Staaten dar, die sich kulturell immer nach Westen orientiert haben, wenn sie geographisch auch viel näher an Moskau liegen.

Osten vs. Westen aus historisch-politischer Perspektive

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westlichen Provinzen nach den großen kulturellen Schock des Falls der Hauptstadt sich unter neuen Herrschern in neuen, kleineren Staaten organisierten. Einzig der Bischof von Rom hatte in jenen politisch äußerst unsicheren Zeiten für eine relative Kontinuität gesorgt und war daher, in Abwesenheit eines Kaisers, auch zu einer weltlichen Macht und einem Referenzpunkt der einzelnen westlichen Herrscher geworden. Daran änderte auch die Entscheidung Karls des Großen wenig, das Imperium unter seiner Ägide wieder auferstehen zu lassen; zu viele andere Machtzentren hatten sich inzwischen in Westeuropa gebildet. Von byzantinischer Seite wurde sowohl der weltliche Machtanspruch des Papstes als auch das konkurrierende Imperium Karls des Großen nur zögernd, ja widerwillig zur Kenntnis genommen. Das einende Band der römischen Staatsverwaltung, welches den westlichen und den östlichen Teil des Mittelmeeres für eine relativ lange Zeit zusammengehalten hatte, konnte diese beiden Teile kulturell ebenso wenig gänzlich verschmelzen wie die neue Religion des Christentums. Das endgültige Auseinanderfallen der beiden Reichsteile lässt sich relativ zuverlässig am Kompetenzverlust der Sprache des jeweils anderen Teiles festmachen. Während im Westen die Beherrschung des Griechischen vermutlich schon relativ früh nur noch einer sehr schmalen Schicht von Gebildeten vorbehalten war, kann man im Osten den endgültigen Verlust des Lateinischen um 600 n. Chr. festmachen;31 nach dieser Zeit war die Verwaltungssprache fast ausschließlich das Griechische. Die daraus resultierende Sprachgrenze erleichterte die Kommunikation freilich nicht und so kann man auch innerhalb der Kirche davon ausgehen, dass hier zwei Einheiten relativ unabhängig voneinander agierten, wenn sie auch auf Konzilien ihre Positionen zu vereinheitlichen suchten. Politische wie kulturelle Differenzen taten neben den theologischen Unterschieden also ihr Übriges, sodass es 1054 zum endgültigen Bruch kam, als die beiden höchsten Vertreter der jeweiligen Seite einander exkommunizierten.32 31 Kaldellis unterstreicht, dass es im Römischen Reich zwar nie eine offizielle Staatssprache „Latein“ gegeben habe, die Verwaltung in Konstantinopel jedoch zunächst lateinisch geprägt war, insbesondere im juridischen Bereich. Von einer regelrechten Abschaffung des Lateinischen durch Heraklius, der die griechische Bezeichnung βασιλεύς anstelle der Kaisertitel Imperator, Caesar oder Augustus annahm, von der etwa Ostrogorsky spricht (Ostrogorsky 1963: 75), nimmt er jedoch Abstand und betont das allmähliche Verschwinden des Lateinischen aus dem offiziellen Kontext (Kaldellis 2007: 65 ff.). 32 Zum Schisma s. die Arbeit von Bayer 2002 und den Sammelband von Bruns/Gresser 2005, mit Literatur.

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In der folgenden Zeit geriet das byzantinische Reich zunehmend unter Druck, zunächst von Osten her, als sich bei der verlorenen Schlacht von Mantzikert 1071 herausstellte, dass die Byzantiner auf Dauer den heranrückenden Seldjuken nicht standhalten konnten und diese im Herzen Anatoliens, in Ikonium, das Sultanat Rum gründeten. Sämtliche Hoffnungen, in den westlichen Staaten Verbündete gegen die immer näher heranrückenden Türken zu finden, zerschlugen sich mit der fränkischen Eroberung Konstantinopels 1204, und alle Versuche des byzantinischen Kaisers, sich auf kirchlicher Ebene mit dem Papst zu verständigen, um militärische Unterstützung zu erhalten, wurden letzten Endes von der Bevölkerung Konstantinopels nicht angenommen. Der westliche und der östliche Mittelmeerraum entwickelten sich also weiter auseinander und die gelegentlichen Kontakte konnten an dem grundsätzlichen Misstrauen, das man gegeneinander hegte, wenig ändern. Während also beide eine wechselseitige Abneigung weiter pflegten, entstand doch durch die historische Entwicklung ein unterschiedliches Gewicht der Ressentiments. Der Osten entwickelte aufgrund des Bedeutungsverlustes, den Byzanz hinnehmen musste, und der Übergriffe der westlichen Mächte auf ehemals byzantinisches Gebiet – allen voran die Regierung der fränkischen Herrscher Balduin I. und Heinrich in Konstantinopel 1204–1261, welche als Φραγκοκρατία [Frankenherrschaft] im kollektiven Gedächtnis blieb – ein allmählich wachsendes Minderwertigkeitsgefühl gegenüber den „Lateinern“, das in vielen heutigen Diskussionen im Hintergrund schwebt. Bei allen hier folgenden Darstellungen des Verhältnisses von Griechen und Lateinern bzw. Orthodoxen und Europäern müssen wir uns vor Augen halten, dass die Unterschiede von der östlichen Seite wesentlich deutlicher wahrgenommen werden, da diese sich als „historischer Verlierer“ empfindet und sich in die neue Weltordnung der „Sieger“ einordnen zu müssen glaubt. Aufgrund dieser asymmetrischen Verteilung von politischer, militärischer und ökonomischer Bedeutung wird die Verschiedenheit der jeweiligen Kulturen und ihre Unvereinbarkeit von der östlichen Seite weitaus empfindlicher wahrgenommen als von der westlichen.

2.3  Die Rolle der orthodoxen Kirche im Nationsbildungsprozess Die herausragende, auch politische Rolle der orthodoxen Kirche in Griechenland heute,33 wie auch auf dem gesamten Balkan, erklärt sich aus dem osmanischen

33 Zu dieser Fragestellung vgl. die weiter gehende Arbeit von Makrides 2013 a.

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„Millet“-System.34 Mit der Ablösung des byzantinischen Kaiserhauses durch die Osmanen kam es in der kirchlichen Selbstverwaltung zu keinem Bruch, sondern, im Gegenteil, das Patriarchat von Konstantinopel, das kurz zuvor den riesigen Einflussbereich in Russland verloren hatte, erhielt nun die Verantwortung für sämtliche christlichen Bewohner des osmanischen Reichs. Diese erstreckte sich nicht nur auf die geistliche Führerschaft, sondern die Kirche erhielt von der Hohen Pforte die Steuerverantwortung sowie die Verpflichtung, privatrechtliche Streitigkeiten im Sinne ihres Kirchenrechts zu lösen.35 So setzte der ökumenische Patriarch von Konstantinopel fortan die orthodoxen Bischöfe des gesamten osmanischen Reichs ein, einschließlich des größten Teils der Territorien Serbiens und Bulgariens, die sich in den Zeiten ihrer territorialen Unabhängigkeit auch kirchlich selbst verwaltet hatten.36 34 „Nicht-osmanische Bevölkerungsgruppen machten ihre Identität an ihrer Religion fest und wurden als besondere Schutzbefohlene (dhimmi) vom osmanischen Staat anerkannt, sofern sie einer Buchreligion angehörten, wobei die jeweiligen religiösen Oberhäupter auch juridische und verwaltungsrelevante Aufgaben versahen. Juden und Christen hatten im Osmanischen Reich folglich auch in zahlreichen ‚weltlichen Belangen‘ unter der Jurisdiktion ihrer Anführer zu stehen. Denn neben den ‚geistlichen Aufgaben‘ hatten diese auch zivilrechtlichen Belange der Volksgruppe zu verwalten und die Zivilgerichtsbarkeit auszuüben.“ (Suttner 2009: 76). 35 Adanır unterstreicht, dass das Milletsystem trotz Spannungen und Auseinandersetzungen zwischen den einzelnen Gruppen stabil und anpassungsfähig gewesen sei: „nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass es – juristisch gesprochen – auf dem Personalprinzip des Rechts (im Gegensatz zum Territorialprinzip) beruhte. Der Status des Untertanen wurde demnach unabhängig vom Wohnort auf der Grundlage der Konfessionszugehörigkeit bestimmt. Wohin man sich innerhalb des Imperiums auch begab, blieb man in zivil- und privatrechtlichen Belangen den Regeln der eigenen Gemeinschaft unterworfen.“ (Adanır 2009: 59). In der Praxis scheint es dennoch Ausnahmen von dieser Regel gegeben zu haben. Besonders die im Vergleich zur christlichen Eheschließung flexiblere Gestaltung der muslimischen Ehe, insbesondere die Möglichkeit einer Eheschließung auf Zeit (mut’a/kebin) bewog offenbar auch christliche und gemischt religiöse Paare zu einer Trauung vor dem kadi, dazu Laiou 2007: 246 f. 36 Suttner beschreibt die Lage wie folgt: „Als die mittelalterlichen Staaten der Bulgaren und der Serben selbstständig waren, erlangten auch ihre Kirchen eine Autonomie […] Ihre Erstbischöfe nannten sich sogar Patriarchen, doch eine gesamtkirchliche Verantwortung wie den ‚Patriarchen der Oikumene‘ wurde ihnen nicht zugewiesen. Nach dem Untergang der Zarenwürde bei Serben und Bulgaren wurde von den Osmanen auch die patriarchale Autonomie dieser Kirchen unterdrückt, und sie wurden dem Patriarchen der osmanischen Hauptstadt Konstantinopel zugeordnet. Damit waren zu Beginn des 16. Jahrhunderts alle Kirchen griechischen Glaubens in Südosteuropa

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In diesem Zusammenhang sind zwei einander entgegengesetzte Tendenzen innerhalb der Kirche zu beobachten, deren Anfänge sich allerdings bereits im späten byzantinischen Reich festmachen lassen: Zum einen die Tendenz zu einer Gräzisierung von Verwaltung und Kirchenpersonal, die sich durch die Bevorzugung der griechischen Kultur und Sprache im byzantinischen Reich erklären lasst; diese führte dazu, dass immer mehr wichtige offizielle Positionen, besonders im kirchlichen Bereich,37 von ethnischen Griechen besetzt wurden. Zum anderen erhob die orthodoxe Kirche jedoch einen universalen Anspruch, der ethnische Zugehörigkeit übersteigt. Dies führte zu erheblichen Spannungen, als die Idee der „Nation“ vom Westen auf die Völker innerhalb des osmanischen Reiches übersprang. So konkurrieren dann Vorstellungen von der Selbstbestimmung der einzelnen Völker mit der Idee eines christlichen Vielvölkerstaates unter griechischer Führung. Diese „große Idee“ ante litteram manifestiert sich in der Karte Griechenlands des Rhigas Velestinlis, ein 2x2 Meter großes Werk, gedruckt 1797 in Wien, die sich über ein riesiges Territorium von der Walachei und den Karpaten im Norden, Kleinasien im Südosten (ohne Zypern) erstreckt und im Westen die gesamten Ionischen Inseln und das Festland von Dalmatien südwärts umfasst. Der Autor wurde noch im selben Jahr von den osmanischen Autoritäten verhaftet und exekutiert, wodurch er den Status eines der ersten Märtyrers der Befreiung Griechenlands erhielt. In der Landkarte vereinen sich das an der Antike orientierte Griechenlandbild der französischen Aufklärung und des europäischen Philhellenismus mit den patriotischen Vorstellungen der Phanarioten, in deren Kreisen er zeitweise verkehrte. So will diese Karte zugleich Rekonstruktion von Vergangenheit wie auch eine Projektion geplanter Revolutionen in die Zukunft sein.38 und im östlichen Mitteleuropa dem Konstantinopler Patriarchen zugeordnet. Dabei sollte es allerdings nicht auf die Dauer bleiben, denn ein türkischer Großwesir, der serbischer Herkunft war und auch nach der Annahme des Islams und der türkischen Sprache die Traditionen seiner Vorfahren nicht vergaß, gab den Serben 1557 ein gewisses Maß an Selbstständigkeit zurück: er ließ für sie in Peć (im Kosovo) wieder Patriarchen einsetzen. Diese Patriarchen und manche andere ‚griechische‘ Würdenträger im Osmanenreich besaßen unterschiedlich weitreichende Autonomie.“ (Suttner 2009: 79, Anm. 8). 37 Noch lange nach der Eroberung Konstantinopels lag auch die Verwaltung in griechischer bzw. christlicher Hand, da die Eroberer das Verwaltungssystem einfach übernahmen und aus praktischen Gründen wenig Wert darauf legten, das Personal, außer an besonders wichtigen Stellen, auszuwechseln (Gürkan 2011). 38 Calotychos 2003: 23–30.

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In der Tat hatte sich die griechische Kultur zu einer Art Leitkultur des Balkans entwickelt, sodass die Übernahme der griechischen Sprache und Bildung gesellschaftlichen Aufstieg unabhängig von der individuellen Herkunft versprach,39 da eine große Zahl der Schulen auf dem gesamten Balkan griechischsprachig waren.40 Es war durchaus nicht unüblich, dass Angehörige anderer Ethnien sich griechisch kleideten, griechisch sprachen oder schrieben.41 So genoss die griechische Sprache im osmanischen Reich eine gewisse privilegierte Sonderstellung, was aber nicht verschleiern soll, dass das ökumenische Patriarchat von Konstantinopel einen universellen Anspruch hatte und für alle christlichen Bewohner des osmanischen Reiches zuständig war, wenn auch der Patriarch immer aus den Reihen der ethnischen Griechen ausgewählt wurde. In der prämodernen Gesellschaftsstruktur des osmanischen Reiches entschied weniger die Sprache über die Volkszugehörigkeit, was hinsichtlich der selbstverständlichen Mehrsprachigkeit innerhalb des Vielvölkerstaates auch keine klaren Verhältnisse geschaffen hätte, sondern die Zugehörigkeit zu einer Religion. Und so ist es nicht verwunderlich, dass es für die Herausbildung der Nationen auf dem Balkan zumindest einer ansatzweisen Säkularisierung bedurfte, die auf den europäischen Einfluss in der Region zurückzuführen ist.42 Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wird dies insbesondere in den Schriften der von der europäischen Aufklärung beeinflussten griechischen Autoren erkennbar.43

39 40 41 42

Roudometof 2001: 57. Roudometof 1998: 16 und id. 1999. Vgl. auch Mackridge 1981: 66. Roudometof, 1998: 13 ff. Livanios notiert zur Auseinandersetzung zwischen dem als „Heiden“ stark umstrittenen platonischen Philosophen Gemistos Plethon (um 1355/60–1452) und dem Patriarchen von Konstantinopel, Gennadios Scholarios hinsichtlich der griechischen Identität, dass es dem „Heiden“ offenbar leicht fiel, sich als „Hellene“ ( Ἕλλην) und Abkömmling der alten Griechen zu bezeichnen, während Scholarios dies vehement ablehnte und sich für „Christ“ entscheidet. Plethons Überzeugung war zwar alles andere als die Regel, belegt aber die enge Verwobenheit von Ethnizität und Zugehörigkeit zu einer Religion, vgl. Livanios 2008: 241 f. Zum Heidentum des Gemistos Plethon und seiner neopaganen Religion, mit der er sich von der Orthodoxie entfernte und die Olympischen Götter wieder einführen wollte vgl. Woodhouse 1986. Zur Bedeutungsverschiebung des Begriffspaars: „Hellene-Rhomäer“ vgl. Arrigoni 1971 und 1972. 43 „Thus, on a certain basic level, the Enlightenment consisted essentially of signs that the ethnography of the Balkans was taking up a more complex character in the minds of local intelligentsia. The older perception of a unified Orthodox Christian society with defined alien elements in religious terms had already receded with the gradual articulation of a sense of distinct historical identity among Serbian-speaking and

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Aus diesem Grund gab das ökumenische Patriarchat im Laufe der Herausbildung und der Konsolidierung der neuen Nationen auf dem Balkan nur sehr zögerlich dem Unabhängigkeitsstreben der einzelnen Völker nach. Die Folge des Zerfalls des osmanischen Reiches waren also nicht nur neue Staaten, sondern es entstanden, gemäß dem Grundsatz, der schon im Mittelalter galt, nämlich dass ein souveräner Staat eine eigene Kirche erhielt, mit jedem neuen Nationalstaat, angefangen mit Griechenland, eine neue, verwaltungsrechtlich unabhängige, theologisch jedoch mit Konstantinopel verbundene autokephale orthodoxe Landeskirche. So setzt sich diese Bewegung bis zum heutigen Tag fort, da nach dem Zerfall der Sowjetunion in ihre Nachfolgestaaten und nach dem Jugoslawienkrieg immer mehr Regionen nach nationaler Unabhängigkeit strebten, die, sofern zumindest ein Teil ihrer Bevölkerung orthodox ist, auch auf die Gründung einer eigenen Kirche drängten. So gehören zu den jüngeren durch Schismate entstandene, autokephal selbst erklärte Kirchen in Osteuropa und der ehemaligen Sowjetunion. Vor diesem Hintergrund besitzt die Griechisch-Orthodoxe Kirche nach wie vor neben ihrer spirituellen Bedeutung auch eine herausragende politische Bedeutung als Hüterin nationaler Identität in Zeiten der Fremdherrschaft, die mutatis mutandis auch in der nachosmanischen Zeit noch nachwirkt, in der der moderne griechische Staat zwar nominell unabhängig ist, de facto jedoch von der eigenen Bevölkerung als ständig den Interessen von Großmächten unterworfen wahrgenommen wird.

2.4  Wer ist „Hellene“? Die Frage nach der griechischen Identität Jede Identität, so auch die nationale, konstruiert sich in Abgrenzung von anderen; dies gilt auch für die Griechen.44 Das Gefühl einer Gemeinschaft von „Hellenen“ Romanian-speaking intellectuals in areas bordering on the Habsburg Empire, and among Greeks of the diaspora and of the commercial urban centres of the Ottoman Empire.“ (Kitromilides 1989: 154). Kitromilides unterstreicht hier die Bedeutung von Daniel Philippides und Rhigas Velestinlis, in deren geographisch-politischen Werken zu Teilen des Osmanischen Reichs die Volksgruppen deutlich unterschieden werden, und die demzufolge insbesondere bei Letzterem der beiden Autoren zu einem Bruch mit dem Osmanischen Reichs aufgefordert wurden (Ibid.: 154 ff.). Zur Aufklärung in Griechenland aus den Arbeiten von Makrides beispielsweise Makrides 2007; 2008; 2016 a; 2016 b. 44 Im Folgenden wird versucht zu skizzieren, wie sich die Griechen im Laufe der Geschichte selbst betrachtet und definiert haben; Andreas Hartmann beschreibt sehr eindrücklich, wie die europäische mental map sogar die antike griechische Geschichte zu Unrecht auf das heutige Staatsgebiet Griechenlands reduziert hat, obwohl die

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(Ἕλληνες) im Gegensatz zu den „Barbaren“ (βάρβαροι) scheint sich in der Antike in der großen Auseinandersetzung mit dem persischen Reich herausgebildet zu haben.45 Der Gegensatz „Hellene – Barbar“ bezieht sich zunächst einmal nur auf die Sprache; als „Barbaren“ galten also alle diejenigen, die kein Griechisch sprachen. Es ist allerdings schwer festzustellen, seit wann dieser rein sprachlichen Opposition moralische Qualitäten zugeordnet wurden. Das griechische Wort für „Sprache“ (λόγος) bedeutet auch Denkfähigkeit, Vernunft, u.ä.46 Die Beherrschung der Sprache impliziert somit auch die Fähigkeit des Denkens und umgekehrt legt der Mangel an Vernunft und Denkvermögen gleichzeitig auch eine Abwertung Barbaren als eine Art „Untermenschen“ nahe.47 Eindeutig fassbar wird die Ausweitung der Begriffs „Barbar“ auf eine moralische Ebene in der Auseinandersetzung mit den Persern 490–479 v. Chr.; die Barbaren können eben nicht nur nicht (griechisch) sprechen, sondern gelten auch als blutrünstig, unbeherrscht und insgesamt als alles, was die Griechen als unzivilisiert empfanden, was sich bis in die Kunstform der Tragödie nachverfolgen lässt.48 Umgekehrt entstand das Gemeinschaftsgefühl der Griechen aus den anerkannten und geteilten Werten, die sich in der Abgrenzung von der anderen Gruppe, von den „Barbaren“, konstituierten.

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Siedlungsgebiete griechischer Sprecher weitaus umfassender waren (Hartmann 2009: 134–139). Hall untersucht die Darstellung der Barbaren in der griechischen Tragödie vor dem Hintergrund der Perserkriege. Sie stellt fest, dass die negative Repräsentation der Nichtgriechen der umgekehrten Glorifizierung der als Athener Bürgertugenden angesehenen Eigenschaften entspricht (Hall 1989). Liddell/Scott/Jones 1996: s. v. λόγος, 901 f. Zacharia 2008: 25 f. Nach Said wird in den Tragödien des Aischylos (Die Perser) und Euripides (Die Bakchen), die den Zusammenprall der griechischen mit der persischen Kultur darstellen, eine kulturelle Grenze zwischen Europa und Asien gezogen. In Aischylos’ Perser wird der geschlagene Gegner im griechisch-persischen Krieg dramatisch porträtiert, während in den Bakchen der wilde Kult des Dionysos als barbarisch dargestellt wird: „The two aspects of the Orient that set it off from the West in this pair of plays will remain essential motifs of European imaginative geography. A is drawn between two continents. Europe is powerful and articulate; Asia is defeated and distant […] There is an analogy between Aeschylus’ orchestra, which contains the Asiatic world as the playwright conceives it, and the learned envelope of Orientalist scholarship, which also will hold in the vast, amorphous Asiatic sprawl for sometimes sympathetic but always dominating scrutiny. Secondly, there is the motif of the Orient as insinuating danger. Rationality is undermined by Eastern excesses, those mysteriously attractive opposites to what seem to be normal values.“ (Said 1978: 57).

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Herodot ließ einen anonymen Redner aus Athen über die Gemeinschaft der Griechen (τὸ Ἑλληνικόν) Folgendes sagen: „[…] die Gemeinschaft der Griechen, welche verwandt sind hinsichtlich des Bluts und der Sprache, und die auch gemeinsame Kultstätten, Opferriten und Bräuche haben.“49 Die Zusammengehörigkeit bezog sich also nicht auf ein zusammenhängendes territoriales oder staatliches Gebilde, das es zu jener Zeit, als viele griechische Stadtstaaten oft auch gegeneinander agierten, gar nicht gab, sondern sie bezog sich auf eine von allen geteilte Kultur, die sich in panhellenischen Festen wie den Olympischen und anderen Spielen manifestierte, die an überregional bedeutenden Heiligtümern angesiedelt waren, und die neben den sportlichen Wettkämpfen auch musische Spiele beinhalteten. Als nach den großen gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Umbrüchen der Spätantike das Christentum die Rolle der zentralen religiösen und kulturellen Instanz übernommen hatte, gab es sehr unterschiedliche Auffassungen darüber, welche Elemente der paganen Kultur übernommen werden durften und welche nicht. Trotz der deutlichen Differenzen existierte ein großer Teil der heidnischen Bildung in Form von als klassisch beurteilten Texten weiterhin auch in der christlichen Erziehung. Ob und inwiefern dieser Übergang von der paganen in die christliche Zeit einen kulturellen Bruch darstellte, ist bis heute nach wie vor historisch umstritten und die Interpretation des Übergangs hängt sehr stark vom ideologischen Kontext des analysierenden Historikers ab. Ramfos selbst beurteilt diese Problematik auch nicht immer gleich, tendiert aber sehr dazu, die Kontinuität der griechischen Kultur zu unterstreichen.50 Der Begriff einer griechischen Zivilisation bzw. Kultur bestand also schon sehr lange, bevor er mit der Gründung eines unabhängigen griechischen Staates 1832 auf ein bestimmtes Territorium begrenzt wurde. Obwohl die Griechen nun über einen eigenen Staat verfügten, brachte dies dennoch eine Reihe anderer Probleme zum Vorschein, da beispielsweise das Territorium des neuen Staats um ein Vielfaches kleiner war als die tatsächlich von Griechen besiedelten Gebiete. Auch die enge Verzahnung des Zugehörigkeitsgefühls zu einer bestimmten Ethnie in multiethnisch besiedelten Regionen und der jeweiligen Konfession auf dem gesamten Balkan machten den europäisch gefassten Nationsbegriff auf die Verhältnisse dort weniger gut anwendbar und anfälliger für Konflikte. 49 Herodot, Historien 8, 144, 13: „… τὸ Ἑλληνικόν, ἐὸν ὅμαιμόν τε καὶ ὁμόγλωσσον, καὶ θεῶν ἱδρύματά τε κοινὰ καὶ θυσίαι ἤθεά τε ὁμότροπα“. Vgl. dazu Zacharia 2008: 25. 50 Dies unterstreicht Ramfos immer wieder, z.B. in GA 7: 153, GA 17: 379; anerkannt wird nur ein relativer Bruch hinsichtlich der Funktion der Bildung.

Westorientierung Griechenlands und Gegenbewegungen

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Die konfessionelle Prägung des nationalen Bewusstseins vieler südosteuropäischer Völker wurde mit Emanuel Turczynskis Begriff der „Konfessions-Nationalität“ bereits seit den späten siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts in die wissenschaftliche Diskussion des Verhältnisses von Konfession und Nation eingebracht.51 Jüngere Arbeiten zur engen Verbundenheit von Kirche und Nation im Südosten und Osten Europas bestätigten diese These,52 weshalb dieses Verhältnis in Griechenland auch im Kontext der übrigen ost- und südosteuropäischen Staaten zu sehen ist.

2.5  Westorientierung Griechenlands und Gegenbewegungen Da die religiöse und die nationale Identität in Griechenland aufgrund der oben dargestellten historischen Umstände sehr viel enger zusammenhingen als etwa in den westeuropäischen Ländern, in denen die Säkularisierung die enge Verbindung von Kirche und Staat bereits gelockert hatte,53 war auch die Integration Griechenlands in westliche politische Strukturen immer von speziellen Konflikten begleitet, die der kulturellen Besonderheit Griechenlands und seiner speziellen geopolitisch-strategischen Lage zwischen den zwei Blöcken geschuldet waren.54 Die schnelle Aufnahme Griechenlands in die NATO 1952 und in die damalige Europäische Gemeinschaft 1981 beschleunigten die seit der Staatsgründung bestehenden kulturelle Orientierung nach Westen, es fehlten jedoch auch nie die Gegenbewegungen zu dieser Entwicklung. Nach dem verlorenen Bürgerkrieg hatte die kommunistische Bewegung in Griechenland erheblich an politischer

51 Den Terminus „Konfessions-Nationalität“ verwendet Turczynski zuerst in seinem Buch von 1976. 52 Zur Nationalisierung der Religion und Sakralisierung der Nation im östlichen Europa im 19. und 20. Jahrhundert siehe Schulze-Wessel 2006. Vulpius 2005 untersucht die Nationalisierung der Religion im Zusammenhang mit der Russifizierungspolitik und der ukrainischen Nationsbildung. Buchenau setzte sich in mehreren Studien mit Orthodoxie und Katholizismus in Jugoslawien vor und während der jüngsten Balkankriege auseinander (Buchenau 2004 und 2006). Von Klimó 2003 stellt die Verbindungen zwischen Nation, Konfession und Geschichte in der nationalen Geschichtskultur Ungarns im europäischen Kontext dar. Für die Religion im Nationalstaat zwischen den Weltkriegen in Ostmittel- und Südosteuropa siehe den Sammelband von Maner/ Schulze Wessel 2002. 53 Zur Säkularisierung in Westeuropa und in Griechenland vgl. Makrides 2015 b und unten das Kapitel 6.4 Umstrittene Modernisierung: Antworten auf die Krise in Griechenland. 54 Dazu Makrides 2009.

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Bedeutung verloren, wenn sie auch noch von vielen Intellektuellen gestützt wurde, weswegen die These Samuel Huntingtons,55 die implizierte, dass Griechenland kein konstituierender Bestandteil Europas sei, in Griechenland auch begrüßt wurde. Gemäß Huntingtons Idee der Kulturkreise, der zufolge nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion die neuen weltpolitischen Konfliktlinien des 21. Jahrhunderts entlang kultureller und religiöser Grenzlinien verlaufen würden, liegt demnach Griechenland historisch gesehen als orthodoxes Land seit etwa dem Jahr 1500 zusammen mit Russland und den islamischen Staaten außerhalb Europas.56 Christos Yannaras, der bis heute als einer der bedeutendsten neoorthodoxen Denker gilt, bestätigt diese These von einer kulturellen Spaltung zwischen Ost und West, allerdings unter leicht verschobenen Gesichtspunkten. Für ihn besteht der Kampf der Kulturen in der Auseinandersetzung zwischen (orthodoxem) Christentum und dem säkularisierten, materialistischen Westen.57 Ramfos gehörte zwar in seinen jungen Jahren, wie schon oben ausgeführt wurde, zur studentischen Linken, verließ diese aber und wandte sich der Religion zu, die einen konstituierenden Teil seiner griechischen Idee darstellte und die er auf seine sehr eigene Art interpretierte. Er war kein Einzelfall; die Gruppe der enttäuschten Linken, die neue Impulse in der Orthodoxie suchten und fanden, war bedeutend; für sie wurde die Bezeichnung neoorthodoxe Bewegung verwendet, wobei diese Gruppe sehr heterogene Strömungen und Persönlichkeiten umfasste.58

55 Der US-amerikanische Politikwissenschaftler Samuel Phillip Huntington (1927–2008) postulierte in seinem kontrovers diskutierten Buch The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order, New York 1996 (Deutsche Übersetzung: Samuel P. Huntington, Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München/Wien 1996) die Aufteilung der Welt nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in acht bis neun Kulturen, die um die Vorherrschaft konkurrieren. Unter anderem ziehe sich durch Europa entlang des ehemaligen eisernen Vorhangs eine kulturelle Grenze, wobei Griechenland als orthodoxes Land als „outsider“ (Huntington 1996: 162) gilt. Zur Diskussion Fallmerayers und Huntingtons im Zusammenhang mit der griechischen nationalen Identität vgl. Auernheimer 1998, sowie die kritischen Bemerkungen dazu von Wenturis 2000. 56 Eine ausführliche Diskussion von Huntingtons These im Kontext der orthodoxen Welt mit Literatur findet sich in Hösch 2007. 57 Yannaras 2003: 10–11, zitiert nach Payne 2011: 236. 58 Makrides 1998: 141. Vgl. Dazu auch die Sammlungen von Interviews zum Verhältnis von Marxismus und Orthodoxie mit Vertretern eben dieser Gruppe, erschienen in Makris 1983.

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Neben den soziokulturellen und politischen Faktoren beeinflussten besondere theologische Entwicklungen die Entstehung und Ausrichtung der Neoorthodoxen.59 Während in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Frankreich und später in den Vereinigten Staaten russische Theologen eine Rückkehr zu den Wurzeln der Orthodoxie postulierten, brachte in Griechenland die Laienbruderschaft Zoe mit ihrem strengen Bibelstudium und anderen pietistischen Praktiken starke protestantische Einflüsse in die griechische orthodoxe Kirche, die bis zur Auflösung von Zoe in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts auch die akademische Theologie mitbestimmten.60 John Romanides,61 ein Schüler des „Vaters“ der neopatristischen Synthese, Georgi Wassiljewitsch Florowski (als Autor in der französischen Transkription Georges Florovsky, 1893–1979), und Christos Yannaras, dessen Interesse für die moderne europäische Philosophie ihn schließlich zum Studium der griechischen Kirchenväter geführt hatte, waren die prominentesten Vorreiter der sogenannten Neoorthodoxen, die, so beschreibt es Makrides, die authentische Form der Orthodoxie, frei von westlichen Einflüssen, wiederherzustellen versuchten. Dabei sei es nicht allein um religiöse Erneuerung gegangen, sondern um eine geistige Neuverortung der griechisch-orthodoxen Tradition in klarer Opposition und als echter Alternative zum „krisengeschüttelten“ Westen.62 Ein anderer Denker, John Zizioulas, ebenfalls ein Schüler von Florowski, galt hingegen mit seinem Personalismus als allgemein weniger kritisch gegenüber dem Westen und versuchte, phänomenologische Ansätze in den orthodoxen Diskurs zu integrieren.63 Ramfos selbst wurde eine Zeit lang ebenfalls in der Reihe dieser Denker aufgeführt,64 die die Bezeichnung „neoorthodox“ für sich freilich ablehnten.65 Das Bedauern, das aus Sotiris Gounelas’ Äußerungen hinsichtlich dessen geistiger Neuorientierung Ende der neunziger Jahre zu entnehmen ist, 59 Eine neuere Zusammenfassung findet sich hier: „Νεορθόδοξοι“ [„Neoorthodoxe“] 2010. 60 Payne 2011: 2 f. Zu Geschichte und Bedeutung von Zoe vgl. Constantelos 1959, Bratsiotis 1960, ausführlicher Psilopoulos 1966 sowie Maczewski 1970. In jüngerer Zeit äußerte sich dazu Makrides 1988. 61 Zur Theologie des Romanides vgl. Sopko 1998. 62 Makrides 1998: 142. 63 Zur Personalismusdebatte in Griechenland und Ramfos’ Beitrag dazu vgl. unten das Kapitel 5 Personale Anthropologie im Kontext der neoorthodoxen Diskussion. 64 Indirekt verrät dies der polemische Text von Gounelas 2001, der die (angeblichen und tatsächlichen) inneren Widersprüche in Ramfos’ Werk vor und nach seiner „Kehre“ thematisiert. 65 Makrides 1998: 142.

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spricht jedenfalls dafür, dass, wenn sich Ramfos vielleicht auch nicht als Teil einer bestimmten geistigen Strömung verstanden hatte, ihm zumindest andere Denker vorwerfen konnten, nach seiner „Kehre“ nicht mehr „einer der ihren“ zu sein.66 War die neoorthodoxe Bewegung also ein Sammelbecken unterschiedlicher anti-westlicher gesellschaftlicher Strömungen, so hat sie auch einen theologischen Kern, der in jüngerer Zeit neutraler als Theologie der sechziger Jahre bezeichnet und untersucht wurde.67 In den Phasen der großen politischen Spannungen mit dem Westen fanden auch die radikalen neoorthodoxen Ansichten gesellschaftlich großen Anklang. Takis Michas beschreibt, wie in den Jahren des Embargos gegen Serbien im Rahmen der Jugoslawienkriege in den späten 1990er Jahren nicht zuletzt durch den Erzbischof Christodoulos starke antiwestliche Ressentiments in Griechenland geschürt wurden, die schließlich zu einem orthodoxen Schulterschluss mit den Serben und zu einer zeitweiligen Verehrung der „orthodoxen Helden“ Radovan Karadžić und Slobodan Milošević führten.68 So vermischten sich in der öffentlichen Wahrnehmung in Griechenland die theologische Erneuerungsbewegung der Neoorthodoxen mit der Rhetorik von Politikern wie Andreas Papandreou, dem Führer der sozialistischen PASOKPartei und Ministerpräsidenten Griechenlands von 1981 bis 1989 sowie von 1993 bis 1996,69 und ergaben ein für Außenstehende schwer nachzuvollziehendes Klima von Ressentiments gegen Europa und den Westen im Allgemeinen, gemischt mit einer gewissen nationalen Arroganz und der Glorifizierung der Vergangenheit, allerdings auch nicht frei von inneren Widersprüchen, die aufgrund der komplizierten Verflechtung von griechischer und christlicher Identität nicht zu vermeiden sind. Makrides beschreibt die Problematik wie folgt:

66 Gounelas 2001: 21 und passim. 67 Diese Phase der Theologie wurde erst in jüngerer Zeit aufgearbeitet, etwa im theologischen Kongress in Volos vom Mai 2005 mit dem zugehörigen Band herausgegeben von Kalaitzidis/Papathanasiou/Ampatzidis aus dem Jahr 2009. 68 Michas behandelt in seiner Studie ausführlich die Verwicklungen der Griechisch-Orthodoxen Kirche und der griechischen Regierung in die kriegerischen Auseinandersetzungen in Bosnien, wo der „Kampf der Serben gegen die Türken“ in Griechenland in gewisser Weise glorifiziert wurden. Zur Radikalisierung der Griechisch-Orthodoxen Kirche vgl. Michas 2002: 109–119. 69 Für seinen antiwestlichen politischen Kurs zusammen mit seiner ostentativ gezeigten Vorliebe für die von kleinasiatischen Flüchtlingen geprägte Musiktradition des Rembetiko wurde zeitweilig sogar der spöttische Begriff der „Bauchtanzkratie“ (τσιφτετελοκρατία – tsiftetelokratia) verwendet (Gauntlett 2003: 259).

Westorientierung Griechenlands und Gegenbewegungen

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The semantics of the Christian and Romeic genos, as well as of the pre-national ethnos, were gradually transformed and connected with the modern Greek nation and state, which was to become the abode of the Orthodox Greeks. Even if there was a systematic policy to homogenize the country, tensions did remain between the Hellenic and the Romeic/Christian models of identity throughout modern Greek history […] The Christian history of salvation was thereby turned into a history of Hellenism across time. In various Orthodox discourses, emphasis was also placed on the people, the land, and the popular Orthodox culture and experience. This was meant as a reaction against imported Western influences, and especially Western-based modernization programs. Alternative modernization projects, based on indigenous resources, were also suggested, such as modernization as true re-Hellenization, or the revitalization of the pre-modern Greek local communities against modern individualism. In fact, there is a whole mythology about the function of the local communities in Byzantine and Ottoman times, whose prototype is supposed to offer alternative solutions for social organization today.70

Vor diesem Hintergrund ist die ideologische Entwicklung von Ramfos besonders bemerkenswert. Ähnlich wie bei den Neoorthodoxen, deren „populistische Ideologie griechischen Nationalismus, eine antiwestliche und antimoderne Haltung sowie Orthodoxie“71 vermengt, kreist Ramfos’ Interesse um die griechische nationale Identität, wobei seine historischen Untersuchungen vornehmlich die modernen Griechen im Blick haben.72 In den Werken aus den späten achtziger bis hin zu denen der späten neunziger Jahre wandte er die Paradigmen der Theologie der sechziger Jahre fraglos an, angefangen von der Wiederentdeckung der Theologie der Kirchenväter, deren Platonlektüre er als einziger als ernst zu nehmenden Interpretationsansatz der antiken Philosophie übernahm. Hierzu gehören die Schriften, die in Φιλοσοφία ποιητική. Πλατωνικὰ ζητήματα [Poetische Philosophie. Platonische Fragen] sowie in Τριῴδιον [Dreigesang] versammelt sind. Eine weitere Parallele zu einem Denker wie John Romanides ist die herausragende Bedeutung, die Ramfos in seinem Werk Ἱλαρὸν φῶς τοῦ κόσμου [Das heitere Licht der Welt], der Theologie des Gregor Palamas einräumt, die auch Ramfos zur Alternative zu Augustinus stilisiert. Seine intensive Beschäftigung mit dem Marxismus und seine Versuche, die Philosophie von Karl Marx auch nach 1968 nicht in Bausch und Bogen abzulehnen, nähern ihn anderen, ehemals linken neoorthodoxen Denkern an. In der Behandlung der Sprachenfrage weist sein Denken in dieser Phase auch kulturkonservative Züge auf. Hier enden jedoch bereits die Parallelen mit den Neoorthodoxen.

70 Makrides 2013: 345 ff. 71 Roudometof 2005: 91 f. 72 Ramfos GA 3: 84 und öfter.

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Griechischer Osten und Lateinischer Westen

Ramfos wies wiederholt den Vorwurf von sich, er habe in seinem Denken eine Kehre vollzogen, und verwies vielmehr auf die Kontinuität seiner wissenschaftlichen Interessen. Diese Position betont er auch in den neu verfassten Vorworten zu älteren Werken, die im Abstand von 15 oder mehr Jahren in die Gesamtausgabe aufgenommen wurden. Keine Palinodie findet sich noch in dem Band GA 7 von 1999, den er nach 10 Jahren kommentarlos (im Hinblick auf seine Neuorientierung) wieder veröffentlicht hat. In GA 8 allerdings bemerkt er anlässlich der Wiederveröffentlichung (2005), ihm hätten damals die „anthropologischen Kategorien“ gefehlt, die er sich erst in Der Schmerz des Einen (GA 16, veröffentlicht 2000) erarbeitet habe.73 In den beiden Sammelbänden über die Sprachenfrage, GA 5 und 6, beide wieder veröffentlicht 2010, deren Artikel aus den achtziger Jahren stammen, geht Ramfos mit sich selbst noch wesentlich schärfer ins Gericht und spricht von Hellenozentrismus und einer romantischen Zugangsweise zum Thema Sprache.74 Im Interview mit Lalas fällt auch der bereits zitierte Satz von der „ständigen Selbstkorrektur“.75 Zusammenfassend können wir feststellen, dass Ramfos sich durchaus der massiven ideologischen Neuorientierung in seinen Untersuchungen bewusst geworden ist, auch wenn er dies erst im Nachhinein sozusagen „offiziell“ äußerte. Damit will er auch seine früheren Bücher nicht als überholt, sondern als „notwendige Schritte einer Entwicklung“76 sehen.

73 74 75 76

Ramfos GA 8: 14. Ramfos GA 6: 78. Ramfos 2012 c: 23. Ramfos GA 8: 15.

3 Platon und das Streben nach dem „mystischen Licht“ 3.1  Die Platonlektüre der Pariser Zeit Ramfos’ Studium in Paris umfasste auch eine ausführliche Beschäftigung mit der antiken griechischen Philosophie. Sein persönlicher Zugang zu ihr war jedoch geprägt von der Frage nach dem Wesen des griechischen Denkens in seiner gesamten Geschichte und von seiner Begeisterung für die byzantinische Lektüre der altgriechischen Philosophie, insbesondere der Platons. Platons Werke bilden immer den Hintergrund der byzantinisch-christlichen Tradition und so kreist verständlicherweise auch ein großer Teil von Ramfos’ Schaffen um diese Dialoge. Im Laufe der Jahre lassen sich in der Interpretation jedoch Akzentverschiebungen und Entwicklungen erkennen, die im Folgenden dargestellt werden sollen. Es war Ramfos’ Intention, das antike hellenische Menschenbild von der dreigeteilten Seele in seiner Metamorphose darzustellen, die in das mittelalterliche Bild der göttlichen Dreifaltigkeit und der Schilderung der Beziehung des Menschen zu Gott mündet. Diese Metamorphose ist als Bild aus der Natur zu verstehen; wie eine Raupe, die sich in einen Schmetterling verwandelt, hat sich der Kern der antiken griechischen Philosophie – nämlich die Vorstellung einer unsterblichen Seele und die Metaphysik der Erleuchtung – transformiert und in der orthodoxen Tradition erhalten. Die Kontinuität besteht also nicht in der Erhaltung des äußerlichen Typus als sinnentleerter Form (dieser Vorwurf ergeht vielmehr an die Antikenrezeption der Renaissance), sondern im Erhalt des Wesentlichen: Eine Interpretation des Hellenentums darf demzufolge nicht die lineare Kontinuität fordern, die nur in der Unbeweglichkeit der äußerlichen Formen existieren kann, sondern sie muss durch da ständige Werden und Vergehen hindurch zum mystischen Licht führen, das es am Leben erhält.1

Dieses „mystische Licht“ ist also der Kern von Ramfos’ Untersuchungen; ihm ist das vorliegende Kapitel gewidmet. Das Licht manifestiert sich in Platons „Idee 1 „Μιὰ ἑρμηνευτικὴ τοῦ Ἑλληνισμοῦ δὲν μπορεῖ νὰ ζητᾷ ἑπομένως τὴν γραμμικὴ συνέχεια, ποὺ μόνο στὴν ἀκινησία τῶν τύπων διαφυλάσσεται, πρέπει μέσα ἀπὸ τὶς ἀλλεπάλληλες νεκραναστασίες νὰ ὁδηγηθῇ στὸ μυστικὸ φῶς ποὺ τὸν θερμαίνει.“ (Ramfos GA 2, 162).

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Platon und das Streben nach dem „mystischen Licht“

des Guten“ ebenso wie im „überirdischen Licht“ des Gregor Palamas und ist nach Ramfos noch heute in dem Teil der griechischen Seele vorhanden, der noch nicht von der westlichen Kultur geprägt ist.2 Ein wichtiger Schlüssel zu einer umfassenden Beurteilung von Ramfos’ Werk ist sicherlich, dass sich Ramfos, vielleicht als einer der letzten Denker heutzutage, in der Nachfolge der platonischen, oder genauer gesagt, neuplatonischen Philosophie sieht, und zwar aus der Perspektive der kappadokischen Kirchenväter.3 Seine ersten Platonstudien, die aus seiner Lehrtätigkeit an der Pariser Universität VIII (Vincennes) hervorgingen, sind auch aus dem zeithistorischen Kontext zu verstehen. Vincennes gab als experimentelles Studienzentrum linken Aktivisten der Studentenbewegung und dem akademischen Establishment fernstehenden Philosophen eine Plattform: unter ihnen waren die Philosophin und Frauenrechtsaktivistin Hélène Cixous, Philosophen wie Alain Badiou, Michel Foucault, Jean-François Lyotard, Gilles Deleuze und der Psychoanalytiker Jaques Lacan.4 Ramfos’ Vincennes-Vorlesungen zur antiken Philosophie entstanden in seiner Auseinandersetzung mit Platon und dem Neuplatonismus, aber auch als Gegenentwurf zur gängigen Lehrmeinung zu Platon, die zu jener Zeit in Frankreich vorwiegend in den Händen katholischer Theologen5 lag. Ramfos unterstreicht, wie sehr ihn dieses Interesse überrascht, aber auch irritiert hat: Ich war sehr beeindruckt von der riesigen Bedeutung, die die Europäer dem griechischen und dem Platonischen Denken entgegenbringen, und zum ersten Mal fühlte ich das Gewicht meiner nationalen Herkunft. Dieselben Intellektuellen jedoch, die das Griechentum in den Himmel hoben, kamen schließlich doch dahin, mit Heidegger an ihrer

2 Ebenso betrachtet Beierwaltes Platon als den Ursprung der besonderen Lichtmetaphysik der Griechen, beschränkt ihren Einfluss jedoch nicht auf den griechisch-orthodoxen Teil der christlichen Tradition, sondern sieht auch in der westeuropäischen Tradition eine ungebrochene Linie bis hin zu Goethe [Beierwaltes 1957: 37; 68 (Augustinus u.a.); 42 f. (Goethe)]. 3 Ramfos GA 6: 11. 4 Zu dem gesamten Experiment s. Soulier 2012. 5 „It tells us much about the purposes which Neoplatonism serves in twentieth-century France that, after Bréhier, the future of Neoplatonism in France is primarily not with laic but with Catholic scholars, theologians and philosophers most of whom were priests, or who, like Pierre Hadot and Michel Tardieu, started their scholarly careers as priests.“ (Hankey 1999, 140). Hankey nennt weiterhin auch Gelehrte wie den Jesuiten Jean Daniélou (Autor der Studie Platonisme et la théologie mystique über Gregor von Nyssa, Daniélou 1944), sowie André-Jean Festugière, Dominikaner und Herausgeber des Corpus der hermetischen Schriften (Festugière 1944–54). Vgl. hierzu Hankey 1999: 147–151.

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Spitze, es als Metaphysik zu verdammen und ihm die Krise unserer Zeit aufzubürden. Ich reagierte instinktiv und beschloss, mich mit den Klassikern zu befassen, um mir, so weit das möglich war, eine eigene Meinung zu bilden.6

Wie Hankey in seinen Arbeiten7 dargestellt hat, entwickelte sich in Frankreich seit Beginn des 20. Jahrhunderts eine Schule der Platonexegese, die sich sehr deutlich von der primär idealistisch geprägten Platonrezeption zu eben dieser Zeit etwa in Deutschland unterschied. Während in Deutschland eine Verbindung von christlicher Philosophie und Theologie mit Platon und Platonismus nicht vorstellbar war, galt dies jedoch umso mehr für Frankreich, wo viele katholische Geistliche oder Persönlichkeiten, die eine Ausbildung in diese Richtung begonnen hatten, sich für die spirituelle Seite der Lehre Platons und für die mystischen und theurgischen Schriften der heidnischen Neuplatoniker in der Spätantike zu interessieren begannen. Die Vertreter dieser neuplatonische Wende unter den katholischen Denkern waren vorwiegend antihegelianisch und antiaugustinisch8 eingestellt und beschäftigten sich ausführlich mit der Verknüpfung der einzelnen Philosophenschulen und dem religiösen Leben in jener Zeit, als sich das Christentum allmählich im Römischen Reich etablierte und aus der auch die wichtigsten Texte der griechischen Kirchenväter stammen, welche die orthodoxe Tradition maßgeblich beeinflusst haben. Zu der Zeit, als Ramfos in Paris Philosophie studierte, gab es dort also durchaus mehr als eine Herangehensweise an Platons Werk. Die deutsche, neo-scholastisch geprägte Tendenz erreichte ihn indirekt über die Auseinandersetzungen, die die deutsche Philosophie mit dieser führte, insbesondere bei Friedrich Nietzsche und Martin Heidegger, was Ramfos tief beeindruckte.9 Auf der anderen Seite gab es in Paris katholische Theologen, die Alternativen zur scholastischen Auslegung der antiken Spiritualität suchten10 und die auch mit Interesse die griechisch-christliche

6 „Εντυπωσιάστηκα από την τεράστια σημασία που αποδίδουν οι Ευρωπαίοι στην Ελληνική και δη την πλατωνική σκέψη, και για πρώτη φορά αισθάνθηκα το βάρος της εθνικής μου καταγωγής. Όμως οι ίδιοι αυτοί οι διανοηταί, που ανέβαζαν την ελληνικότητα στα σύννεφα, κατέληγαν, με επικεφαλής τον Χάιντεγκερ, να την εξορκίζουν ως μεταφυσική και να της φορτώνουν την κρίση της εποχής μας. Αντέδρασα εξ ενστίκτου και αποφάσισα να εμβαθύνω στους κλασικούς, για να μορφώσω, ει δυνατόν, ιδίαν γνώμη.“ (Makris 1983: 89). 7 Hankey 1999 und Narbonne/Hankey 2006. 8 Hankey 1999: 139. 9 Ramfos GA 3: 84. 10 „Not surprisingly, one of the main accomplishments of the clerical scholars so far as Neoplatonic studies are concerned has been to show the intimate connection in the

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Platon und das Streben nach dem „mystischen Licht“

Tradition wahrnahmen.11 Dieses fruchtbare Aufeinandertreffen verschiedener Lehrmeinungen im philosophischen und im theologischen Bereich dürfte Ramfos’ Denken in dieser Phase beeinflusst haben, auch wenn er dies an keiner Stelle ausdrücklich schreibt. Im Rückblick eines Interviews aus dem Jahr 1983 berichtet Ramfos von seinem Eindruck, dass: […] die zeitgenössische Philosophie im Antlitz des Platonismus den scholastischen Intellektualismus bekämpft, durch den sie ihn empfangen hatte, und nicht den Geist Platons, wie er den Texten der Dialoge entspringt. Diese Feststellung führte mich zur folgenden Frage: Wenn der Rationalismus ein notwendiges Element der europäischen Kultur ist und den antiken Geist entstellt, wie existiert dann das antike Denken im Kontext der byzantinischen Spiritualität?12

Ausgehend von dieser Frage machte sich Ramfos auf die Suche nach dem Wesen des griechischen (platonischen) Denkens, das für ihn von der zeitgenössischen Philosophie offensichtlich missverstanden wurde. Er konnte, wie er sich später schools of Late Antiquity between philosophy and religious life. Thus, even if they accept E.R. Dodds’ demonstration that no recourse to the Orient is required to explain the Plotinian doctrine of the One or mysticism, they are happy to find in the character of the philosophy an opening to the Oriental. While this religious turn begins among the clergy, it will also enable Neoplatonism to become a substitute for Catholicism among laicized priests and the disenchanted. For example, Pierre Hadot has spent the greatest part of his scholarly career teaching, one might almost say preaching, that philosophy is a way of life, une spiritualité.“ (Hankey 1999: 141, Hervorhebung vom Autor). Hadot äußert sich selbst zu seinem Zugang zu Plotin: „Je suis venu a Plotin à cause de l’intérêt passionné que, dans ma pieuse jeunesse, j’éprouvais depuis longtemps pour la mystique. La lecture des derniers chapitres des Degrés du Savoir de Maritain, qui laissent entrevoir la possibilité d’une mystérieuse expérience de Dieu, peut-être aussi les développements que Bergson avait consacrés à l’appel des mystiques dans Les deux Sources avaient suscité cet enthousiasme. Je lisais donc assidûment Thérèse d’Avila et Jean de la Croix. […] Elles décrivaient admirablement l’expérience unitive, d’autre part, il était évident que elles avaient aidé Grégoire de Nysse ou Augustin à formuler leur propre expérience.“ (Hadot 1999 a: 8). Siehe auch Louth 2007: 203, Anm. 7. 11 Als ein Beispiel sei nur das Kapitel genannt „Das Christentum als offenbarte Philosophie“ in Hadot 1999 b: 273–310. 12 „Διαπίστωσα ότι στο πρόσωπο του πλατωνισμού η σύγχρονη φιλοσοφία μάχεται τη σχολαστική νοησιαρχία, δια της οποίας τον παρέλαβε, και όχι το πνεύμα του Πλάτωνος, όπως αναβλύζει από το πνεύμα των διαλόγων. Η διαπίστωση αυτή με οδήγησε στο ακόλουθο ερώτημα: εάν η λογοκρατία είναι συστατικό στοιχείο του ευρωπαϊκού πολιτισμού και παραποιεί το κλασικό πνεύμα, πώς υπάρχει ο αρχαίος στοχασμός στον κόσμο της βυζαντινής πνευματικότητος;“ (Makris 1983: 89). Ähnlich argumentiert Ramfos auch in GA 3: 84 ff.

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erinnert,13 also den ersten Teil der obigen Frage nach der Rolle der modernen Philosophie beantworten, nicht aber den zweiten Teil, nämlich, wie Platon im byzantinischen Kontext gelesen worden war.14 Dies war also der neue Fokus seiner Studien, die in seine thèse an der Sorbonne zum Thema Lumière et création. Essais sur la métaphysique platonicienne mündeten. Er konnte feststellen, dass das […] byzantinische Denken auf Fragen antwortet, die die scholastische Exegese – Lehrmeisterin der europäischen Wissenschaft – unbeantwortet lässt. […] Mir wurde klar, dass diese Spiritualität, eine Spiritualität, deren herausragender und unveränderlicher Charakter die Suche nach der Wahrheit als Öffnung der Seele ist, der Königsweg war, Platon zu verstehen und sich in den Geist der antiken griechischen Philosophie zu vertiefen.15

Dass das geistige Erbe der Antike in Byzanz nicht zuletzt deswegen authentischer tradiert wurde als im Westen, weil die griechische Sprache dieselbe geblieben war, gibt Ramfos auch Anlass zu der Beobachtung, dass die Verbindung der modernen griechischen Kultur zur antiken und mittelalterlichen Vergangenheit bis heute besteht. Die Erforschung der Philosophie Platons in der Erkundung ihrer grundlegenden Aussage von der Existenz zweier Welten, die durch die schöpferische Kraft der unsterblichen Seele miteinander kommunizieren können, ist für Ramfos auch die Basis für die Erkundung der griechischen Gegenwart.16 So vereinen sich in Ramfos’ Platoninterpretation zwei unterschiedliche Ziele, zum einen, eine Antwort zu geben auf die Metaphysikkritik der modernen Philosophie, und zum anderen, den byzantinisch-orthodoxen Beitrag zur europäischen Kulturgeschichte herauszuarbeiten. Für letzteren Aspekt half ihm auch die besondere Situation in Paris. Mit der Emigration russischer Gelehrter nach der Oktoberrevolution waren unter anderen etliche orthodoxe Theologen dorthin gekommen,17 deren Arbeiten über die orthodoxe Spiritualität und die Bedeutung der griechischen Kirchenväter zumindest indirekt bedeutende Impulse auch für ihre französischen katholischen Kollegen brachten.

13 Ibid.: 84 f. 14 Ibid.: 82. 15 „Ὁ βυζαντινὸς στοχασμὸς ἀπαντᾷ σὲ ἐρωτήματα ποὺ ἡ σχολαστικὴ ἐξηγητική ‒ τροφὸς τῆς εὐρωπαϊκῆς ἐπιστήμης ‒ ἀφήνει ἀναπάντητα. […] Ἐπείστηκα πώς ἡ πνευματικότης αὐτή, πνευματικότης τῆς ὁποίας ἐξέχων καὶ ἀπαράλλακτος χαρακτὴρ εἶναι ἡ ζήτησι τῆς ἀλήθειας ὡς ψυχικῆς ἀνοίξεως, ἀποτελεῖ τὴν βασιλικὴ ὁδὸ γιὰ νὰ κατανοήσουμε τὸν Πλάτωνα καὶ νὰ ἐμβαθύνουμε στὸ πνεῦμα τῆς ἀρχαίας ἑλληνικῆς φιλοσοφίας.“ (Ramfos GA 3: 85). 16 Ibid.: 82. 17 Gavrilyuk 2014 a.

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Einen wichtigen Impuls setzte Georgi Florowski dessen neo-partistische Synthese18 als Antwort auf den Modernismus entstanden war.19 Wladimir Nikolajewitsch Losski (als Autor in der französischen Transkription Vladimir Lossky, 1904–1958) nahm in seinem Hauptwerk Essai sur la théologie mystique de l’Église d’Orient20 diesen Ansatz wieder auf und brachte mithilfe seiner tiefen Kenntnisse der europäischen Philosophie das orthodoxe Denken in einen breiteren Zusammenhang mit der westlichen Tradition. Obwohl er zu der Zeit, als sich Ramfos in Paris aufhielt, bereits gestorben war, hatte er unter katholischen wie orthodoxen Theologen in Paris einen tiefen Eindruck hinterlassen.21 Diese beiden Elemente, Heideggers Philosophie und die neu entdeckte orthodoxe Tradition der russischen Exiltheologen prägten nicht nur Ramfos, sondern auch viele weitere griechische neoorthodoxe Intellektuelle.

3.2  Platon und die christliche Tradition – ein Gegensatz? Ramfos’ Platonexegese zielt also auf eine neue Deutung des klassischen Erbes unter Beachtung der orthodoxen Tradition ab. Im Wesentlichen handelt es sich um zwei Thesen, die Ramfos’ Lektüre unausgesprochen leiten: erstens die Behauptung einer grundsätzlichen Vereinbarkeit von antiker Philosophie und christlicher Lehre auf der Ebene der Lebensweise, und zweitens die Einstellung, dass auch die antike Philosophie, insbesondere die von Platon beeinflusste, von einem anagogischen Prinzip geleitet wird, mithin dass sie den Menschen zu seinem wahren Selbst und zu Gott führen kann. Der Aufstieg des Menschen zum Göttlichen wird zum ständig wiederkehrenden Leitmotiv nicht nur in den Schriften über Platon, sondern auch, wie später zu sehen sein wird,22 in den Arbeiten über die orthodoxe spirituelle Tradition: Es wird deutlich, dass nicht nur im Höhlengleichnis, sondern auch im Phaidon (62 b und 65 b–d), im Symposion (210–211 c), im Phaidros (246 d–248 c) und im Kratylos (400 c) Platon das Symbol des Aufstiegs besonders gerne verwendet, weil es die Bedeutung der Erkenntnis als Erhebung perfekt wiedergibt.23

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Vgl. unten Kapitel 5.2 Die russische Exiltheologie und die neoorthodoxe Strömung. Id. 2014 a und id. 2014 b: 191. Lossky 1944. Vgl. unten in Kapitel 5.2 Die russische Exiltheologie und die neoorthodoxe Strömung. Vgl. unten Kapitel 3 Orthodoxe monastische Mystik und platonisches Erbe. „Ὅπως φαίνεται, ἐκτὸς τοῦ μύθου τῆς σπηλιᾶς, καὶ ἀπὸ τὸν Φαίδωνα (62 b καὶ 65 b–d), τὸ Συμπόσιον (210–211 c), τὸν Φαίδρο (246 d–248 c) καὶ τὸν Κράτυλο (400 c), ὁ συμβολισμὸς τῆς ἀναβάσεως εἶναι ἰδιαιτέρως προσφιλὴς στὸν Πλάτωνα, διότι ἀποδίδει τέλεια τὴν ἔννοια τῆς γνώσεως ὡς ἐξυψώσεως.“ (Ramfos GA 1: 193).

Platon und die christliche Tradition – ein Gegensatz?

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Der Aufstieg des Menschen durch die Philosophie, seine völlige Transformation durch den Übergang von der einen Welt in die andere, der Aufstieg als Transzendenz und Eintritt in eine andere Seinsweise ist für Ramfos der Kern allen griechischen Denkens in der Antike wie im Christentum. Die Kraft, die dem Menschen diese Verwandlung ermöglicht, wurde von Platon als „Liebe“ (Eros) beschrieben, im christlichen Kontext erhält diese die Form der Gnade, ist aber in jedem Fall eng verbunden mit der Schönheit und ihrer Grundform, dem Licht: Schönheit ist Licht im Sinne von Energie, die verwandelt, die Epiphanie des Übersinnlichen im Sinnlichen, jenseits und oberhalb der materiellen Eigenschaften des letzteren. Das übersinnliche Sein der Schönheit macht den Philosophen wie den Hesychasten zu seinem Liebhaber, jeder wird dies auf seine Weise. Jedenfalls bedeutet die vita contemplativa des antiken Philosophen keine Ansammlung abstrakten Wissens, sondern eine innere Transformation durch die geistige Lebensweise und die asketische Praxis […], um genau zu sein, durch eine Hinwendung zu seinem wahren Selbst, das nichts Weiteres ist als der Geist in uns.24

Nach Ramfos liegt der gemeinsame Nenner von antiker und christlicher Philosophie in der Anleitung zu einem erfüllten und guten Leben. Hier greift Ramfos einen Aspekt der antiken Philosophie heraus, der in der westlichen Forschung erst in relativ jüngerer Zeit in den Fokus gerückt ist; wichtige Grundlagen legte hierfür Paul Rabbow 1954 mit seinem Buch Seelenführung. Methodik der Exerzitien in der Antike,25 in dem er die radikale Veränderung der Lebensweise der Philosophen und die dafür notwendigen geistigen Übungen in sämtlichen antiken Philosophenschulen herausarbeitete und die Parallelen in der christlichen Seelenleitung aufzeigte. Pierre Hadot entwickelte diesen Ansatz dahin gehend weiter, dass die Philosophie, indem sie sie in die Mitte des Lebens eingegriffen habe, ursprünglich weit mehr als ein abstraktes Gedankenspiel gewesen sei.26 Dieser Ansatz fand 24 „Κάλλος εἶναι τὸ φῶς ὡς μεταμορφωτικὴ δύναμις, ἡ ἐπιφάνεια τοῦ ὑπεραισθητοῦ στὸ αἰσθητὸ πέρα καὶ πάνω ἀπὸ τὶς ὑλικὲς ἰδιότητες τοῦ τελευταίου. Ἡ ὑπεραισθητὴ οὐσία τοῦ κάλλους κάνει τὸν φιλόσοφο καὶ τὸν ἡσυχαστὴ ἐραστάς του μὲ τὸν τρόπο τους. Ἄλλωστε καὶ ὁ θεωρητικὸς βίος τοῦ ἀρχαίου φιλοσόφου δὲν ἔγκειται σὲ συσσώρευση ἀφῃρημένων γνώσεων ἀλλὰ σὲ ἐσωτερική του μετάλλαξι διὰ τῆς πνευματικῆς βιοτῆς καὶ τῆς ἀσκητικῆς πράξεως […] γιὰ τὴν ἀκρίβεια μὲ στροφὴ πρὸς τὸν ἀληθινὸ ἑαυτό, ποὺ δὲν εἶναι παρὰ τὸ ἐντός μας πνεῦμα.“ (Ramfos GA 13: 15). 25 Erschienen in München. 26 „Pierre Hadot has spent the greatest part of his scholarly career teaching, one might almost say preaching, that philosophy is a way of life, une spiritualité.“ (Hankey 1999: 141 Hervorhebung vom Autor). Hadot verfasste etliche Studien zum Thema Philosophie als Lebensform, auch in Zusammenarbeit mit seiner Frau Ilsetraut, etwa Hadot 1991 und Hadot/Hadot 2002.

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durch seinen Schüler Michel Foucault mit dessen Ansatz der Sorge um sich (Le souci de soi) auch Eingang in die zeitgenössische Philosophie Frankreichs und erstreckte sich auch auf eine Reihe weiterer Denker der Postmoderne.27 Sinn und Zweck der antiken Philosophie liegen Hadot zufolge nicht allein in der bloßen Erkenntnis des Wesens der Welt und der Dinge jenseits derselben, sondern die Philosophie ist vielmehr eine Lebensweise, die es dem Weisen ermöglicht, sich Gott möglichst stark anzunähern; in Platons Worten: ὁμοίωσις θεῷ κατὰ τὸ δυνατόν.28 Diese Verschiebung des philosophischen Interesses von einem systematischen hin zu einem ethischen Schwerpunkt verlief auch parallel zu Entwicklungen der modernen europäischen Philosophie, die mit Bergson, Nietzsche und dem Existentialismus bewusst zu einer Weltanschauung und einer Lebensform wurde.29 Pierre Hadot30 argumentiert, dass die ursprüngliche Gestalt der Philosophie keine rein theoretische Konstruktion gewesen sei, sondern vielmehr ein Versuch, den Menschen zu formen; hieraus ergab sich auch der hohe Stellenwert, den Platon wie alle anderen antiken Philosophen der Bildung (παιδεία) zuwies. Diese Lebensweise sollte den Menschen dazu führen, die Welt anders wahrzunehmen. Dies gelingt durch die kontinuierliche Praxis von Askese (ἄσκησις), die im antiken Kontext nichts weiter bedeutete als Übung, gleich ob körperlicher oder geistiger Art. Die geistigen Übungen,31 die es dem Menschen ermöglichen sollen, bewusster und glücklicher zu leben, liegen dem Philosophieverständnis aller antiken Philosophenschulen zugrunde. Die philosophische Lebensweise, die in Platons Lehrer Sokrates vorgelebt und in Platons Schriften idealisiert wurde, besteht im Wesentlichen darin, das Leben32 und das Sterben33 zu lernen. Damit wendet sich

27 Davidson 2010 stellt den Einfluss von Hadot auf Foucault hinsichtlich der exercices spirituels dar, ebenso Lorenzini 2010. Zum Einfluss der Schriften von Pierre Hadot auf die Nachwelt vgl. einen jüngst erschienenen Sammelband: Chase/Clark/McGhee 2013. Hier sind Untersuchungen versammelt, die Verbindungen von Hadots Werk zu Wittgenstein bis zu den französischen Denkern der Postmoderne ziehen. 28 Platon, Theaithet 176 a–b. 29 Hadot 1991: 9; 45. 30 Ibid.: 45 f. 31 Diskussion des Begriffs geistige Übungen: ibid.: 13 f. Zu den antiken Belegen des Begriffs ἄσκησις als philosophischer Praxis vgl. ibid.: 15, Anm. 6. 32 Platon, Politeia 618 b. Vgl. Hadot 1991: 84 ff. 33 Platon, Phaidon 98 e. Ramfos GA 3: 90 f. Vgl. auch: Hadot 1991: 13–47; Hadot 1999 b: 52 ff; Ramfos GA 1: 66; 240.

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die Philosophie an jeden Einzelnen, wobei sich dies im Hellenismus sogar noch weiter in Richtung auf eine besondere Individualisierung entwickelt: Analog zur Trennung von Philosophie und Fachwissenschaften verlagerte sich innerhalb der Teilgebiete der hellenistischen Philosophie der Schwerpunkt von Physik und Logik (oder Erkenntnistheorie) auf die Ethik. Diese Ethik richtet sich nun nicht mehr an den Bürger als Glied der Polisgemeinschaft, sondern an das Individuum.34

Dieser Aspekt der neuplatonischen Philosophie wurde im christlichen Kontext besonders intensiv absorbiert und assimiliert. Diese Kontinuität hat bereits Paul Rabbow unterstrichen;35 er ließ allerdings seine Betrachtungen von der Perspektive des lateinischen Mönchtums ausgehen, namentlich durch den Vergleich antiker Philosophie mit den Exercitia spiritualia des Ignatius von Loyola. In seinem Werk entwickelt Rabbow eine Geschichte der „europäischen Meditation“, die von der orthodoxen deutlich zu unterscheiden ist.36 Aber auch orthodoxe Gelehrte sehen in der besonderen Bedeutung, die Tod und Auferstehung im orthodoxen Kontext einnehmen, eine wichtige ethische Dimension der Endlichkeit des Menschen im Gegensatz zur Unvergänglichkeit im Ewigen Leben, das die Religion verspricht.37 Ramfos unternimmt einen vergleichbaren Versuch, eine Gesamtdarstellung einer „griechischen Metaphysik“ zu erarbeiten, indem er die Philosophie Platons durch die Texte der griechischen Kirchenväter und die orthodoxen Gelehrten liest, um die Verbindungen zwischen diesen, in anderer Hinsicht doch sehr unterschiedlichen Traditionen herauszustellen. Weshalb aber diese oben geschilderte Interpretation der antiken Philosophie als Lebenshilfe oder praktischer Anleitung in der modernen Philosophiegeschichtsschreibung nicht selbstverständlich ist, begründet Hadot damit, dass Mittelalter und Neuzeit die Philosophie als rein intellektuellen und abstrakten Vorgang betrachteten, was sich wiederum aus der Rolle des Christentums erklärt. Schon in den ersten Jahrhunderten bezeichnete sich das Christentum selbst als die „wahre“ Philosophie (im Gegensatz zur heidnisch geprägten Gelehrsamkeit) und eignete sich die Tradition der geistigen Übungen an, was

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Erler 1994: 7. Rabbow 1954: 15 f. Ibid.: 80. Die Ausrichtung des Lebens auf das Jenseits gemäß den Grundsätzen der Orthodoxie ist ein weiterer Aspekt der „Theosis“, der Annäherung an Gott. Nicht der physische Tod beendet das Leben des Menschen, sondern nur das Leben in Sünde entfernt ihn von Gott und damit endet die Aussicht auf das ewige Leben (Hamalis 2008: 183 f.).

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insbesondere für Autoren wie Clemens von Alexandria, Origenes und das Mönchswesen im Allgemeinen gilt.38 In der Scholastik spielte die Philosophie als ancilla theologiae eine untergeordnete Rolle, die der Theologie begriffliches Material und die logische Methode liefern sollte. Diese theoretische Ausrichtung hat sie, mit wenigen Ausnahmen, bis heute behalten; daher wird sie nach wie vor eher als professoraler Diskurs denn als eine praktische Lebenshilfe wahrgenommen.39 Das Auseinanderbrechen von Theorie und Praxis macht Hadot im Mittelalter fest, „als die Philosophie Hilfswissenschaft der Theologie wurde“.40 Foucault hingegen macht Descartes dafür verantwortlich.41 Ramfos sieht, in Übereinstimmung mit den neoorthodoxen Denkern in Griechenland und den russischen Theologen, namentlich Losski, den Ursprung bereits bei Augustinus, dessen besondere Auslegung der christlichen Lehre den Sonderweg des westlichen Denkens mitbegründet haben soll. Obwohl alle genannten Denker den Wandel der (westeuropäischen) Philosophie von einer Lebenspraxis zu einer rein spekulativen Disziplin an jeweils anderen Vertretern und in anderen Epochen festmachen, eint sie doch der Versuch, Alternativen zum lange Zeit herrschenden Philosophieverständnis aufzuzeigen. Ramfos spricht in diesem Zusammenhang von einem „Missverständnis“ einer durch die Scholastik geprägten antiken Philosophiegeschichte, und stellt die im westlichen Europa verloren gegangene Dimension der antiken Philosophie, die er in der orthodoxen Tradition erhalten sieht, wieder her. Die philosophische Anleitung zum Leben eines göttlichen Menschen verschwand somit eben nicht mit der Schließung der Athener Philosophenschule oder mit dem Aussterben des Polytheismus, sondern sie erfuhr eine, allerdings tief greifende, Umwandlung, eine Metamorphose, um dann in der Lebenspraxis der orthodoxen Mönche wiederaufzuleben.42 Diese These wird in gewisser Weise auch durch westliche Untersuchungen gestützt, nämlich im Zusammenhang mit der Funktion des sogenannten göttlichen Menschen (θεῖος ἀνήρ). Die Nachfolge des antiken Philosophen, der durch seine vorbildhafte Lebensweise Gott näher gekommen ist und daher seine Mitmenschen 38 Den genannten Autoren und insbesondere der Tradition der gesammelten Aussprüche der Vater (und Mütter) der Wüste widmet sich Ramfos in seinem Buch über die Apophthegmata patrum (Ramfos GA 18). 39 Dazu unten das Kapitel 5.4.1 Trinitätslehre und orthodoxes Menschenbild. 40 Hadot 1991: 180. 41 Ibid.: 180 f. 42 Ramfos GA 1: 76.

Platon und die christliche Tradition – ein Gegensatz?

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anleiten und unter Umständen sogar durch Wundertaten retten kann, haben nun im christlichen Kontext die Mönche und alle anderen Gläubigen angetreten, die Gott bereits erfahren haben.43 Ramfos bleibt jedoch nicht bei der Parallele oder auch der möglichen Interdependenz von antiken und christlichen heiligen Männern stehen, sondern er geht einen wesentlichen Schritt weiter und versucht eine einheitliche Metaphysik genuin griechischen Ursprungs herauszuarbeiten, die sich in den verschiedenen historischen Epochen in anderer Ummantelung, aber mit gleichem Kern manifestiere.44 Dies führt zur zweiten These, die ebenfalls einen wichtigen Schlüssel zu Ramfos’ Philosophieverständnis darstellt, nämlich seine Konzentration auf die religiöse Dimension der antiken und spätantiken Philosophie. Dieser selektive Blick hängt ebenfalls mit seiner Deutung dieser Texte aus der orthodoxen Perspektive zusammen, da diese insbesondere in die monastische Tradition eingegangen sind, in der praktische Anweisungen für das Leben der Mönche ausgeführt werden. Andererseits geht heute auch die breitere Platonforschung davon aus, dass sich bereits im sogenannten „Mittelplatonismus“ eine Hinwendung aller Philosophenschulen zu religiösen Themen beobachten lässt.45 Die Parallelen zwischen heidnischem und christlichem Denken lassen sich aus der Globalisierung der spätantiken Gesellschaft erklären. Diese erzeugte eine all43 Die wichtigsten Untersuchungen zu den Parallelen in der literarischen Darstellung des Typus des „göttlichen Menschen“ in hellenistischen und spätantiken Texten heidnischen und insbesondere die Übereinstimmungen von heidnischer und christlicher Tradition stammen von Biehler 1935–1936 und Betz 1983: 234 ff. Eine zusammenfassende Beurteilung der Forschungsgeschichte findet sich bei Elm 2003, hier: 32–45. Erler weist zudem nach, dass das Motiv des göttlichen Menschen in der Figur des Sokrates in Platons Dialogen als einer Art „Vorläufer“ betrachtet werden kann. Hier wird Sokrates als „Göttergeschenk“ angesehen, der den Menschen bei ihrem schwierigen Weg der Selbsterkenntnis hilft, ein Bild, das später von den Platonikern vertieft und weiter ausgearbeitet wurde (Erler 2002). 44 Diese nicht ganz unproblematische These gewichtet Ramfos im Laufe der Zeit nicht immer gleich. In späteren Schriften gesteht er zunehmend einen Bruch zwischen Antike und Christentum ein, der auch in der Altertumsforschung relativ einhellig festgestellt wird. Ramfos betont insgesamt jedoch die Kontinuität und die Gemeinsamkeiten eher als die Unterschiede. 45 Baltes stellt eine wechselseitige Annäherung spätantiker paganer Schriften wie die Orakel der Chaldäer oder die Schriften des Hermes Trismegistos und der zeitgenössischen Texte aus dem Mittleren Platonismus dar. Die hermetische Literatur vermittelte platonische Gedanken als Weisheiten der ägyptischen Offenbarung, während Mittelund Neuplatoniker sich ihrerseits durch die Autorität der hermetischen Schriften bestätigt sahen. (Baltes 1999: 133 f.).

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gemeine Atmosphäre der Unsicherheit, wie sie für eine Gesellschaft im Umbruch bezeichnend ist; sie wiederum ließ eine Hinwendung zum Jenseitigen und eine Sehnsucht nach Heilsversprechen in allen Lebensbereichen sichtbar werden.46 Die allmähliche Verbreitung des Christentums auch in höheren gesellschaftlichen Schichten sorgte für ein Zusammentreffen der griechischen Bildung (paideia) mit der Botschaft des Evangeliums. Die Voraussetzung für die Annäherung an das Göttliche ist im heidnischen philosophischen wie auch im christlichen Kontext nun eine innere Verwandlung des Menschen, die ihn alles Wesensfremde, Materielle abstreifen lässt und ihn dann, in der Reduktion auf das Wesentliche, mit der Erkenntnis der Idee des Guten oder, christlich formuliert, mit der Schau Gottes konfrontiert. Diese Transformation wird von Ramfos in Anlehnung an die mythische Erzählung von der Seelenreise in Platons Phaidros als „Weg nach oben“ verstanden, ist aber ebenso ein „Weg nach Innen“, in dessen Verlauf sich die Selbsterkenntnis entwickelt.47 Daher spricht Ramfos davon, in seiner Forschung die griechische „Innerlichkeit“48 zu ergründen, mithin die Zusammensetzung der menschlichen Seele aus griechischer Sicht und die Entwicklung der orthodoxen Spiritualität aus der griechischen Antike.

3.3  „Innerlichkeit“ und „griechische Psychologie“ Die Begegnung des Menschen mit dem Göttlichen spielt sich auf der Ebene der Seele ab, weswegen diese beiden Sphären in engem Zusammenhang stehen. Nicht anders als andere Altertumswissenschaftler beginnt Ramfos mit der Untersuchung der Konstruktion der „Innerlichkeit“ lange bevor die Philosophie in Erscheinung tritt, nämlich in den homerischen Epen, besonders der Ilias. Hier fehlen noch Vorstellung und einheitliche Begrifflichkeiten für die Seele als des geistigen Zentrums des Menschen49 ; der Mensch ist noch von außen bestimmt.50 Sein Schicksal ist durch persönliche Entscheidungen nicht zu beeinflussen, seine Herkunft und sein gesellschaftlicher Status bestimmten seine Handlungen,51

46 Ramfos GA 13: 214. Er verweist hier u.a. auf Brown 1978. 47 Ramfos GA 13: 204. 48 „Στροφὴ πρὸς τὰ μέσα“ und „γύρισμα πρὸς τὰ μέσα“ (Ramfos GA 13: 218), vgl. GA 8: 9. 49 Zu den verschiedenen Begriffen für die geistig-seelischen Organe des homerischen Menschen vgl. Fränkel 1993: 85 ff. 50 Ramfos GA 7: 23 f. sowie GA 13: 43. 51 Ibid., vgl. Fränkel 1993: 89 f.

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wie es noch Aristoteles viel später in der Nikomachischen Ethik beschrieb: „So wie ein Mensch ist, so spricht und verhält er sich auch und so lebt er.“52 Ein individuelles Fortleben jenseits der physischen Existenz war nur dann möglich, wenn der Mensch Heldenruhm, (κλέος ἄφτιτον), erlangte, der im Gegensatz zum menschlichen Dasein als ewig angesehen wurde. So überwand der Mensch die Furcht vor dem Tod, da in diesem Weltbild „nicht das Leben an sich das höchste Gut darstellt, sondern der Ruhm. Betrachtet wird nicht die physische Tatsache des Lebens, sondern sein geistiger Inhalt.53 Das Heranreifen eines Bewusstseins für die eigene Persönlichkeit und die eigene Seele wurde durch die Suche nach dem Urgrund der Dinge in der später aufkommenden Philosophie und in den Naturwissenschaften befördert, ebenso wie durch die Rhetorik als Kunst, die eigene Meinung gegenüber den anderen durchzusetzen. In der Figur des Sokrates wird der Bruch mit den traditionellen Werten von Macht und Ansehen besonders deutlich. Mit seiner radikalen Forderung nach ständiger Gewissensprüfung und dadurch, dass er seine eigenen moralischen Prinzipien über die Forderungen der Gesellschaft setzte, irritierte er seine Athener Mitbürger derart, dass sie ihn schließlich vor Gericht stellten und zum Tode verurteilten. Reflexe dieser nicht unumstrittenen Entwicklung finden sich auch in der Tragödie, die eine kritische Haltung gegenüber einem entmythologisierten, rationalistischen Menschenbild sichtbar macht. Ramfos denkt beispielsweise an das Scheitern des König Ödipus, der versucht hatte, seinem Schicksal, das ihm in der Form eines Orakelspruchs verkündet wird, zu entgehen. Seine auf dem Intellekt basierende, geradezu detektivische Suche nach der Ursache der Seuche in der Stadt enthüllt seinen Mord am eigenen Vater und die Ehe mit der Mutter, mithin seine eigene Schuld, und die Erfüllung des Orakelspruchs. Anders als die Philosophie zeigt die Tragödie nach Ramfos also die Grenzen der menschlichen

52 Aristoteles, Nikomachische Ethik 1127 A 26–28: „ἕκαστος δ΄οἷός ἐστι, τοιαῦτα λέγει καὶ πράττει καὶ οὕτω ζῇ.“ Vgl. Ramfos GA 7: 327. Ähnlich bei Fränkel 1993: 93 f. 53 „[Καρπὸς εὐνόητος αὐτῆς τῆς ἠθικῆς εἶναι] ἡ ἀφοβία τοῦ θανάτου, ἐπειδὴ πρωτεῦον δὲν θεωρεῖται ἡ ζωὴ καθ’ ἑαυτὴν ἀλλὰ ἡ τιμή, δὲν θεωρεῖται τὸ φυσικὸ γεγονὸς τοῦ βίου ἀλλὰ τὸ πνευματικό του περιεχόμενο.“ (Ramfos GA 7: 24). Dieses Bemühen um den Nachruhm wird später im christlichen Kontext allerdings als Ausdruck extremer Selbstbezogenheit verdammt werden (Ibid.: 25). Stattdessen wird die Demut, die absolute Negation des Selbst, eine der wichtigsten monastischen Tugenden werden, vgl. unten den Abschnitt über die Demut der Mönche.

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Vernunft auf54 und macht den Konflikt zwischen der alten und der neuen, von der platonischen Philosophie bestimmten Mentalität, sichtbar. Einen weiteren wichtigen Schritt hin zur Entdeckung der „Innerlichkeit“ und der Lichtmetaphysik stellen die Mysterienkulte dar, in denen bereits viele Aspekte der Seelenvorstellung Platons enthalten sind.55 Diese Kulte hatten in der antiken religiösen Sphäre eine besondere Stellung. Während die einzelnen Gottheiten der homerischen Religion jeweils eine kosmische Energie verkörperten (beispielsweise Aphrodite den Zeugungstrieb) und sie daher nicht personal gedacht werden können, trat im Mysterienkult dem Eingeweihten (Mysten) im Zustand der Ekstase der Gott von Angesicht zu Angesicht entgegen und ermöglichte die Erfahrung der seelischen Reinigung und der persönlichen Entwicklung. Bereits die ursprüngliche Bedeutung des Wortes Mystik verweist nach Ramfos auf eine Konzentration auf das eigene Innere: das Verb μύω bedeutet die Lippen oder Augen „fest schließen“.56 Die alte, offizielle Religion diente hingegen der Stärkung des sozialen Gefüges und gab dem Einzelnen keinen Raum zur persönlichen Entfaltung und Entwicklung.57 Die sich zu dieser Zeit immer deutlicher abzeichnende Individualisierung fand jedoch in diesen alternativen religiösen Praktiken ihren Raum und trieb ihre Verbreitung voran. Wenn also Platon im Symposion seine Theorie des Eros als Katalysator für den Aufschwung der Seele58 zum jenseitigen Prinzip entwickelt, ist es nicht verwunderlich, dass dieser Prozess deutliche Parallelen zum damaligen Mysterienkult aufweist.59 Für die Initiation in den Kult bedurfte es eines Leiters, des Mystagogen, der den Weg bereits einmal gegangen war und der den Initianden begleitete. Im Dialog Symposion spielt diese Rolle die Seherin Diotima, die Sokrates in das wahre Wesen der Liebe einführte.60 Sobald der Myste sich gereinigt hat – auch dies war ein wesentlicher Bestandteil der philosophischen Lehre – wird

54 Ramfos GA 9 a: 359 f. Vgl. dazu auch Ramfos’ Analyse von Sophokles’ Drama König Ödipus [= GA 12]. 55 Zu dieser Verbindung bei Platon vgl. auch Beierwaltes 1957: 23–29. 56 Ramfos GA 1: 73. 57 Ramfos GA 7: 63–65. 58 „Ἡ Διοτίμα […] διδάσκει τὴν τέχνη τῆς ἀνόδου πρὸς τὰ πάνω.“ [„ Diotima lehrt die Kunst des Aufstiegs nach oben.“] (Ibid.: 65). 59 Ähnlich wie das Symposion handelt auch der Dialog Phaidros von der Liebe als Motor der Gotteserkenntnis, und auch hier häufen sich die Parallelen zu den Mysterienkulten. Die Termini der Mysteriensprache im Phaidros listet Beierwaltes einzeln auf (Id. 1957: 81, Anm. 2). 60 Ramfos GA 7: 63; 73.

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er vom Mystagogen von einem „finsteren Ort zu einem hellen geführt, wo die Erleuchtung stattfindet, und sich, in einem dritten Stadium, die Seele des Mysten in Ekstase mit Gott vereinigt“.61 Hier finden wir also das Motiv des Aufstiegs62 als Entdeckung des wahren Ichs in der Folge der Reinigung von falschen (materiellen) Vorstellungen und Begierden, was in der späteren philosophischen und theologischen Tradition immer wieder aufgegriffen werden wird. Nichtsdestotrotz, und das ist Ramfos wichtig zu betonen, geht Platon nicht von einer vollständigen Trennung von materieller und geistiger Welt aus: In dem Augenblick, wo das Schöne in der Welt die Idee des Schönen widerspiegelt wie ein Bild das Original, haben wir statt eines absoluten Dualismus orientalischer Prägung eine Gemeinschaft von Ideen und Phänomenen. Der platonische Dualismus ist ein Begriff von Reinigung, ist also methodologisch mit erkenntnistheoretischen und eschatologischen Kriterien verbunden und keineswegs mit einer billigen Zwei-Welten-Lehre. […] Die Seele entledigt sich mit Hilfe der Dialektik der Verunreinigung durch die falsche Meinung und reinigt sich, da der dialektische Aufstieg zu den Ideen oder zur Erleuchtung führt. Schließlich bringt sie die erotische Ekstase zur Schau des Guten und zur Vereinigung mit diesem. Der Gang des Philosophen von unten nach oben stellt, ebenso wie in den Mysterienkulten, eine persönliche Entdeckungsreise dar. So erschafft Platon aus der Mysterienreligion eine philosophische Religion der Reinigung und aus der ekstatischen Vereinigung der Seele mit dem Göttlichen einen enorm wirkungsmächtigen mythischen Archetypus – die Liebe. Wenn in dieser philosophischen Religion die dialektische Methode der Kern von Platons Denken ist, verleiht der mythische Archetypus des Eros der abstrakten Theorie Lebendigkeit, in dem sie die Kommunikation von Mensch und Gott in unser Inneres verlegt, so dass jede einzelne Seele die Begierde nach der irdischen Schönheit in der Sehnsucht nach dem Jenseits ausleben kann.63

61 „Ὁ μυσταγωγὸς ὁδηγεῖ τὸν μύστη ἀπὸ διωρισμένο σκοτεινὸ χῶρο σ’ ἕναν φωτεινό, ὅπου λαμβάνει χώραν ἡ ἔλλαμψις, κι ἐν συνέχειᾳ, σὲ τρίτο στάδιο, ἡ ψυχὴ τοῦ μύστου ἔρχεται σ’ ἐκστατικὴ ἕνωση μὲ τὸν θεό.“ (Ibid.: 64). 62 Zum Motiv des Aufstiegs der Seele vgl. Culianu 1983. 63 „Ἀπὸ τὴν στιγμὴ κατὰ τὴν ὁποία τὸ φυσικῶς ὡραῖο ἀντανακλᾷ τὴν ἰδέα τοῦ ὡραίου καθὼς ἡ εἰκόνα τὸ πρωτότυπο, ἀντὶ ἑνὸς ἀπολύτου δυϊσμοῦ ἀνατολικοῦ τύπου ἔχουμε κοινωνία τῶν ἰδεῶν καὶ τῶν φαινομένων, κοινωνία ἡ ὁποία στηρίζει καὶ διασῴζει τὰ φαινόμενα. Ὁ πλατωνικὸς δυϊσμὸς εἶναι ὅρος λυτρώσεως, συνυφαίνεται δηλαδὴ μὲ κριτήρια μεθοδολογικὰ γνωσιολογικῆς καὶ ἐσχατολογικῆς ὑφῆς, κατὰ κανένα τρόπο μὴ συνᾴδοντα πρὸς τὴν ὁποία πολωμένη κοσμικὴ δυαρχία. Ἡ ψυχὴ, πρῶτα, διὰ τοῦ λογικοῦ ἐλέγχου ἀπαλλάσσεται ἀπὸ τὸ μίασμα τῆς δόξης καὶ καθαίρεται, κατόπιν ἡ διαλεκτικἠ ἀναγωγὴ πρὸς τὶς ἰδέες προκαλεῖ τὴν ἔλλαμψι καὶ τέλος ἡ ἐρωτικὴ μανία τὴν ὁδηγεῖ στὴν θεωρία ἢ ἕνωση μὲ τὸ Ἀγαθό. Ἡ ἄνοδος τοῦ φιλοσόφου ἐκ τῶν κάτω πρὸς τὰ ἄνω συνιστᾷ ἀκριβῶς, ὅπως καὶ στὰ μυστήρια, προσωπικὴν ἀνακάλυψη.

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Nach Platon, so Ramfos, wird später Plotin die Wendung zur Innerlichkeit in seinen Abhandlungen zur Schönheit64 weiter vollziehen: Die gesamte Philosophie Plotins lehrt uns die Wende nach innen. […] In dem Augenblick, wo die Schönheit nicht mehr zur Sphäre der sinnlichen Wahrnehmung gehört, verwehrt nichts mehr die Hinwendung zur Innerlichkeit.65

Ramfos’ Arbeiten kreisen also immer um die Frage, wie sich in der griechischen Kultur stellvertretend für die ganze Menschheit das Bewusstsein des Selbst und die Beziehung zu Gott als dem Punkt, von dem alles ausgeht und zu dem alles zurückkehrt, herausgebildet hat.66 Die Errungenschaften der Philosophen, allen voran diejenigen Platons und Plotins, verschmolzen schließlich mit der Botschaft des Christentums und fanden dort ihre Fortsetzung, während das Christentum dadurch wiederum eine philosophische Basis erhielt. Diese Kontinuität wird, so Ramfos, in der westlichen Philosophiegeschichte aber nicht ausreichend wahrgenommen, weil das lateinische Christentum schon früh eine andere Richtung genommen habe. Deswegen unternimmt es Ramfos, in der Analyse zahlreicher Texte das Fortleben antiker griechischer Vorstellungen im orthodox geprägten Mittelalter und darüber hinaus aufzuzeigen: Ἀπὸ τὴν θρησκεία, ἔτσι, τῶν μυστηρίων ὁ Πλάτων δημιουργεῖ μία φιλοσοφικὴ θρησκεία λυτρώσεως καὶ ἀπὸ τὴν ἐκστατικὴ ἕνωσι τῆς ψυχῆς μὲ τὸ θεῖον ἕνα μυθικὸ ἀρχέτυπο δυνάμεως μεγατόννων ‒ τὸν ἔρωτα. Ἐὰν στὴν φιλοσοφικὴ τούτη θρησκεία ἡ διαλεκτικὴ ἀναγωγὴ ἀποδίδῃ τὸν πυρῆνα τῆς πλατωνικῆς σκέψεως, τὸ μυθικὸ ἀρχέτυπο τοῦ ἔρωτος, μεταφέροντας ἐντός μας τὴν ἐπικοινωνία τοῦ ἀνθρώπου μὲ τὸν θεό, προσδίδει στὸν ἀφῃρημένο λόγο ὑπόσταση καὶ ζωή, ποὺ ἡ κάθε ψυχὴ μπορεῖ μέσ’ ἀπ’ τὸν πόθο τοῦ ἐνσάρκου ὡραίου νὰ βιώσῃ στὴν λαχτάρα τοῦ ἄνω κόσμου.“ (Ibid.: 64 f.). 64 Plotin, Enneaden I 6 [1]; V 8 [31] und VI 7 [38]. Diese Texte sind die Grundlage für Ramfos’ Versuch, die Ideenphilosophie Platons mit den monastischen Idealen, wie sie in der Philokalia, einer Sammlung byzantinischer Schriften, in denen die monastische Tradition dokumentiert wird, zusammen zu lesen. Plotins neuplatonische Ausarbeitung sollte dabei als Bindeglied oder Übergang fungieren. Das Projekt wurde jedoch unterbrochen und so beschränkt sich der Vergleich im Buch Μεταφυσικὴ τοῦ Κάλλους (GA 13) auf die Texte Platons über das Schöne (namentlich im Dialog Phaidros) und die oben genannten Traktate des Plotin. Zur Philokalia siehe die Kapitel 4.6 Die orthodoxe Antwort auf den westlichen Humanismus: Gregor Palamas und 4.7 Politischer Hesychasmus und verhinderte Modernisierung der orthodoxen Welt. 65 „Τὴν στροφὴ πρὸς τὰ μέσα διδάσκει σύνολη ἡ φιλοσοφία τοῦ Πλωτίνου […] Ἀφ’ ἧς στιγμῆς τὸ κάλλος ἀφίσταται τοῦ κόσμου τῶν αἰσθήσεων, τίποτε δὲν ἐμποδίζει τὸ γύρισμα πρὸς τὰ μέσα.“ (Ramfos GA 13: 218). 66 Ramfos GA 2: 11–38.

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Ich verstehe die griechische Geschichte als ununterbrochenen Weg zur Vollendung und Bewusstwerdung des Selbst und nicht als Übergang von einem kosmischen Gefühl zu einer persönlichen Vernunft.67

Um also diese Kontinuität im Sinne von Ramfos darzustellen, werden zunächst seine Überlegungen zum Ineinandergreifen von Ethik, Erkenntnistheorie und Metaphysik bei Platon sowie zur idealen Lebensweise der Philosophie skizziert. Anschließend werden Ramfos’ Überlegungen zur Lebensweise der Mönche als die der Heiligkeit am nächsten stehenden Menschen zu betrachten sein, da die Figuren des Philosophen und des Heiligen sich sehr ähnlich sind und innerhalb des jeweiligen Systems den gleichen Platz einnehmen: den des „göttlichen Menschen“.68

3.4  Der philosophische Weg zur Erleuchtung In seinen Untersuchungen zum Wesen der griechischen Innerlichkeit kommt Ramfos immer wieder auf Platon zurück, der als erster griechischer Denker die Dimensionen der Seele ausgelotet und in so wirkungsmächtige Bilder gefasst hat, dass sie später zur Grundlage der orthodoxen wie auch der abendländischen Psychologie wurden. Allerdings muss bemerkt werden, dass Ramfos’ Platonlektüre sich nicht ganz zweckfrei präsentiert. Ramfos liest und interpretiert Platon seit Beginn seiner philosophischen Arbeit inzwischen seit gut vierzig Jahren im Kontext seiner Analyse des Griechentums, die hier nachgezeichnet werden soll. Diese Perspektive verengt in gewisser Weise auch seinen Blick. Wie Ramfos mehrfach unterstreicht, versteht er die antike Philosophie aus dem Blickwinkel der Kirchenväter, was bedeutet, dass bestimmte Themen ins Zentrum rücken, die von der neuplatonischen Tradition in die christliche Theologie Eingang fanden. Andererseits wird er auch in seiner Behandlung der byzantinischen Tradition die platonischen Bezüge sehr stark fokussieren, sodass auch hier eine gewisse Verzerrung festgestellt werden muss. Eine ganze Zeit lang fügten sich Ramfos’ philosophisch-theologischen Traktate über die Besonderheit der griechisch-orthodoxen Kultur relativ gut in den neoorthodox geprägten Diskurs im Griechenland der achtziger und neunziger Jahre ein, wobei er, anders als andere Autoren, die wie er in der theologischen Zeitschrift Σύναξη [Synaxi] publizierten, eher philosophisch als theologisch argumentierte.

67 „Καταλαβαίνω τὴν ἑλληνικὴ ἱστορία ὡς διαρκῆ πορεία πρὸς ὁλοκλήρωσι καὶ αὐτοσυνειδησία, ὄχι ὡς μετάβασι ἀπὸ τὸ κοσμικὸ αἴσθημα στὸν ἀτομικὸ λόγο.“ (Ramfos GA 2: 140; vgl. auch ibid.: 22 und passim). 68 Ramfos GA 1: 76.

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Platon setzte also die wichtigsten Eckpfeiler der griechischen Anthropologie. In seinen Arbeiten konzentriert sich Platon auf folgende Aspekte: Die Seelenlehre, die philosophische Liebe als Antrieb des Menschen auf der Suche nach Höherem und die Schau des Göttlichen in der Form des überirdischen Lichts, wobei all diese Themen eng miteinander verknüpft sind. Die Seele wurde bei Platon einerseits zum Zentrum des Ichs, in ihrer Unsterblichkeit verwies sie jedoch auch außerhalb des Individuums auf eine höhere, göttliche Sphäre, die zwar die materielle Welt des Diesseits transzendiert, in der Seele aber das Bindeglied zur menschlichen Dimension besitzt. In der philosophischen Psychologie verbinden sich also die Vorstellung vom Menschen, seinem Denken und Handeln, mit dem Göttlichen, das Anfang und Ziel der menschlichen Existenz ist. Philosophie ist in diesem Zusammenhang nicht ein „Anhäufen abstrakten Wissens“,69 sondern ein Leitfaden zum Erreichen des guten, das heißt tugendhaften Lebens, das in der Annäherung an das Göttliche in der Erkenntnis desselben gipfelt. In Platons Schriften wird deutlich, dass die Philosophie nicht als ein vom Alltag losgelöstes abstraktes Konstrukt verstanden werden darf. Philosophie, die Liebe zur Weisheit, war in der Antike eine besondere Seinsweise, ein Habitus.70 Die besondere philosophische Lebensweise besteht in der Selbsterkenntnis der unsterblichen menschlichen Seele, indem sie überflüssigen irdischen Ballast abstreift und zu dem wird, was sie ursprünglich immer gewesen ist. Aus dem gleichen

69 „Συσσώρευση ἀφῃρημένων γνώσεων“ (Ramfos GA 13: 15). 70 In der zeitgenössischen deutschen Philosophie hat sich insbesondere Wilhelm Schmid die Begrifflichkeit der „Philosophie als Lebenskunst“ zu eigen gemacht. Mit dem praktischen Ansatz, die Philosophie aus den scheinbaren Engpässen der Erkenntnistheorie und der Sprachphilosophie zu befreien, greift Schmid hier auf das Spätwerk von Foucault zurück und konzentriert sich auf einen ethischen Blick auf die Lebensführung. Der Grundlegung seiner Philosophie der Lebenskunst 1998) ließ Schmid viele andere folgen, unter den wichtigsten Schmid 2000 und 2004. Ähnlich wie Ramfos liest auch Schmid die antike Philosophie, u.a. auch Platon, aus der Perspektive des guten Lebens: „Die reflektierte Lebenskunst setzt an bei der Sorge des Selbst um sich […] Selbst die platonischen Ideen des Wahren, Schönen und Guten dienen ja dazu, in der Orientierung auf sie das Selbst von der begrenzten Reichweite der Alltagsperspektive, ihrer Zufälligkeit und Wankelmütigkeit unabhängig zu machen.“ (Schmid 1998: 51). Die Gemeinsamkeiten mit Ramfos’ Betrachtung der Antike erschöpfen sich jedoch auch bereits hier. Schon Foucaults Auseinandersetzung mit der antiken Lebenskunst, sein Konzept der Sorge um sich und seine Vorstellung einer ästhetischen Existenz sind, ganz anders als bei Ramfos, von der Konzeption eines Individuums (Ibid.: 165) und dessen Freiheit geprägt und gehen von einem Kontrast von Antike und Christentum aus, während Ramfos die Kontinuität unterstreicht.

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Stoff bestehend wie die Götter, geht sie dann in der Betrachtung des Guten auf.71 So geht die Seele eine ekstatische Vereinigung mit dem Göttlichen ein und der Mensch kehrt zu seinem Ursprung zurück, befreit von den schmerzhaften Affekten, zu denen ihn sein Körper und die Umwelt zwingen. Die Vorstellung der menschlichen Vervollkommnung nimmt in Ramfos’ Platonlektüre einen breiten Raum ein; er widmete dieser Vorstellung, die von Platon in zwei ausgesprochen poetischen Dialogen, dem Symposion und dem Phaidros, entwickelt wird, je eine ausführliche eigene Monographie.72 Eine Besonderheit der Denkform Platons ist es, die komplexesten Aspekte seiner Philosophie nicht systematisch darzustellen, sondern sie in die Form eines philosophischen Mythos zu kleiden. Diese Mythen weisen aufgrund ihrer poetischen Offenheit über das, was in menschlichen Worten darstellbar ist, hinaus. Sie sind Abbilder ohne Original, Zeichen, die […] weder bezeichnen noch verbergen. Sie benennen etwas, indem sie es verbergen und verbergen es beim Benennen – Ansichten des Unsichtbaren.73

Die Mythen unterstreichen daher den religiösen Charakter der Philosophie Platons, denn sie formulieren weniger einen logischen Beweis als vielmehr ein theologisches Dogma, an das man glauben muss.74 Sie stellen dar, auf welchen Weg 71 Platon, Phaidros 246 a. 72 Ramfos GA 7, GA 13 sowie GA 14, in dem die Parallelen zwischen der Seele des Einzelmenschen im Verhältnis zur Gesellschaft im Mittelpunkt stehen. Ein weiterer Band (GA 20) zum Phaidros ist vom Verlag Armos angekündigt worden, ist aber zum Zeitpunkt der Abfassung unserer Untersuchung noch nicht erschienen. 73 „[…] οὔτε ὀνομάζουν, οὔτε ἀποκρύβουν, ἀλλὰ λένε κρύβοντας, κρύβουν λέγοντας – ὄψεις τοῦ ἀθεάτου.“ (Ramfos GA 1: 52; vgl. auch ibid. 139). Snell sieht in der Eigenart der platonischen Philosophie eine gewisse Notwendigkeit, sich in Gleichnissen auszudrücken: „Die platonische Philosophie ist voll von solchen übergreifenden Analogien, und jede Philosophie, die nicht nur einen Aspekt der Welt ergreifen möchte, die zu einer Einheit des Wissens kommen will, wird notwendig solche μετάβασις εἰς ἄλλο γένος, solchen Modell-Wechsel und Analogie-Sprung vollziehen; da Platon als erster ein Gesamt-System der Philosophie errichtet und die verschiedenen Ansätze Früherer zu vereinen sucht, treten bei ihm die dadurch entstehenden Fragen deutlicher zutage als bei Späteren, und bei ihm lässt sich am ehesten zeigen, wie das, was im naiven Sprechen sich harmlos in Bildern und Gleichnissen, Metaphern und grammatischen Umformungen zusammenfügt, dem reflektierenden Bewusstsein sich trennt und wie es mühevoll wird, die verschiedenen Phänomene, die dem vagen und undeutlichen Sprechen zugrunde liegen, zu trennen und wieder zu einem klaren Ganzen zu fügen.“ (Snell 1946: 202). 74 Ramfos GA 1: 138. In diesem Kontext verweist Ramfos immer wieder auf die poetische und weniger analytische Form der platonischen Philosophie.

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sich der Weise begeben muss, um den Tod zu überwinden und zu seinem „besseren Selbst“ zu finden. Das Unendliche, das Göttliche manifestiert sich auch in der diesseitigen Welt, wenn auch verschleiert oder versteckt, aber die Voraussetzung, um es zu finden, wohnt jedem einzelnen Menschen inne in dem Verlangen und der Sehnsucht nach dem Schönen. In Platons Symposion lesen wir, dass der Weg zum Göttlichen über die Liebe (ἔρως) verläuft, einem unwiderstehlichen Drang, sich mit dem Schönen zu vermischen. Die Frucht dieser Liebesbeziehung ist die „Zeugung im Schönen“ (τόκος ἐν τῷ καλῷ)75 aus dem Wunsch heraus, sich in einem neuen Wesen zu verewigen. Somit ist die Liebe der einzige menschliche Instinkt, der über ihn selbst hinausgeht, der durch ein Verhältnis zum Anderen eine Form der Unsterblichkeit hervorbringt, und dem somit eine Möglichkeit des Aufstiegs innewohnt.76 Denn so wie ein Liebender sich zunächst von der physischen Schönheit des geliebten Menschen angezogen fühlt, später aber viel mehr von der Schönheit seines Charakters, so verlagert sich der Wunsch nach der Zeugung vom Körper auf die Seele, da bei den Menschen nur diese unsterblich ist.77 Aus philosophischer Perspektive bedeutet aber, Schönheit in der Seele des Geliebten zu erzeugen, die Praxis der Erziehung (παιδεία), in der ein Lehrer dem Schüler hilft, sich zu entwickeln. All das gilt jedoch nur, weil „der platonische Eros von der Unsterblichkeit determiniert wird“,78 mithin etwas darstellt, das die Menschen in ihrem Bemühen, ihre natürlichen Grenzen zu überschreiten, über sich hinauswachsen lässt.79 Die Unsterblichkeit der Seele ist also die Voraussetzung für den oben dargestellten Prozess; Platon beschreibt diese besonders eindringlich in einem weiteren 75 Platon, Symposion 206 d; Ramfos GA 1: 179 und GA 7: 78 ff. 76 Ramfos GA 1: 138 und GA 7: 81. 77 Platon, Symposion 208 a–b, vgl. Ramfos GA 7: 93. 78 „… ὁ πλατωνικὸς ἔρως καθορίζεται ἀπὸ τὴν ἀθανασία.“ (Ramfos GA 1: 139). 79 Dem Platonischen Liebesbegriff stellt Ramfos ausdrücklich die orthodoxe Vorstellung der Gottesliebe als Voraussetzung für die Gotteserkenntnis gegenüber, namentlich anhand der Hymnen der göttlichen Liebe des Symeon des Neuen Theologen (GA 7: 177–246); vgl. dazu unten Kapitel 4.5 Gottesschau und byzantinischer Humanismus: Symeon der Neue Theologe. Die ideologische Zielsetzung dieser Interpretation wird deutlich aus den Schlüssen, die Ramfos aus seiner stark von Denis de Rougemonts Werk L’ Amour et l’Occident (Rougemont 1972) beeinflussten Position zieht, indem er die Todessehnsucht der westlichen Liebesauffassung der Hinwendung zum Leben im Osten entgegensetzt; dazu unten Kapitel 5.4.2 „Individualistische“ vs. „metaphysische“ Liebe in Ost und West. Der besseren Übersichtlichkeit halber werden die einzelnen Argumente aber historisch angeordnet.

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philosophischen Mythos, nämlich dem des Aufstiegs der Seelen im Phaidros (246a–248c),80 den Ramfos mehrfach behandelt.81 Er bemerkt, wie Platons Menschenbild auch in dieser Hinsicht tief in der griechischen Vorstellungswelt verwurzelt ist.82 Der Mensch wird dort in seiner Verbindung von Körper und Seele wahrgenommen, wobei Letztere zwar nicht sichtbar ist, aber dennoch die lebenswichtigen Impulse gibt und im Augenblick des Todes den Körper verlässt.83 Im Mysterienkult der Orphik nahmen die Initiierten nach ausführlicher Reinigung an der Schau des Göttlichen teil, was ihr Leben veränderte. Hier wurde bereits ein gewisser Widerspruch zwischen Leib und Seele sichtbar; der Körper mit seinen materiellen Bedürfnissen verunreinigt und belastet die Seele, die erst durch Reinigung wieder ihren ursprünglichen Charakter erhält und sich wieder ihrer Bestimmung zuwenden kann. In der Erfahrung des Göttlichen kehrt sie „nach Hause“ zurück. Platon übernahm im Wesentlichen diese Vorstellung des Leib-Seele-Antagonismus, ging aber in der Ausarbeitung der Beschaffenheit der Seele wesentlich tiefer und formte daraus den Kern seines philosophischen Werks. Die von Ramfos durch die gesamte griechische Geistesgeschichte verfolgte griechische „Innerlichkeit“ findet in Platons Werk einen deutlich markierten Anfang, auf dessen Basis und in Auseinandersetzung mit diesem sich schließlich auch die christliche, orthodoxe Anthropologie herausbildete. Aus den zuvor als einzeln wahrgenommenen Sinnesorganen hat Platon also die Seele als einheitliches, wenn auch zusammengesetztes Zentrum des Ichs beschrieben.84 Hierfür

80 Ramfos GA 7: 97 f. 81 Der erste Kommentar zum Phaidros entstand im Rahmen von Ramfos’ Lehrtätigkeit in Paris und erschien in griechischer Übersetzung 1978. Erst erheblich später erschien GA 13 (2003), wo Ramfos allerdings die Gemeinsamkeiten mit der byzantinisch-christlichen Tradition unterstreicht, ein Thema, das einen großen Teil seines Werkes durchzieht; ein weiteres wichtiges Beispiel ist die Gegenüberstellung der Funktion der Liebe im platonischen und im christlichen Kontext in GA 7. Dies beeinflusst freilich seine Interpretation und unterstreicht den religiösen Aspekt der Philosophie. 82 Ramfos GA 7: 64. 83 In Homers Odyssee etwa wird im elften Gesang der Abstieg des Helden in die Unterwelt geschildert, wo er unter anderem die Seelen (Schatten) der Toten befragt. Zur Trennung von Leib und Seele nach dem Tod: Fränkel 1993: 84. 84 Migliori unterstreicht diese Vielfalt in der Einheit folgendermaßen: „[…] a me sembra che i dialoghi propongano un soggetto unitario e articolato, l’essere umano, un intero fatto di parti tra loro diverse, che ha ‚al suo interno‘ un’anima umana, che è a sua volta un intero fatto di tre parti tra loro diverse, le quali interagiscono tra di loro in un rapporto che dura a lungo, anche prima e dopo la morte dell’essere umano; all’interno di

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schuf er das Bild der Seele als Einheit von Wagen, Wagenlenker und zwei geflügelten Pferden,85 die gemeinsam mit der großen Schar aller Seelen zum Himmel hinauffahren (Phaidros 246 a–248 c), und das Bild der Dreiteilung der Seele (Staat 558 ff.). Kaum eine andere Erzählung hat die spätere Philosophie derart entscheidend geprägt wie diese, in der geschildert wird, wie alle Seelen, menschliche wie göttliche, immer wieder versuchen, sich an der Schau der höchsten Ideen zu erfreuen. Um den unterschiedlichen menschlichen Verhaltensweisen Rechnung zu tragen, besteht in der platonischen Vorstellung die Seele nun aus drei Teilen, dem ἐπιθυμητικόν, dem begehrenden Seelenteil, der für die materiellen Bedürfnisse zuständig und stark vom Körper abhängig ist, dem θυμοειδές, das diejenigen Teile des Ichs beinhaltet, die mit Zorn, Stolz und Mut verbunden werden, und dem λογιστικόν, dem einzigen Seelenteil, der allein den Menschen vorbehalten ist und der das rationale Prinzip verkörpert.86 Die manchmal auch gegeneinander kämpfenden Teile der Seele werden im Dialog Phaidros durch das Bild des Wagens dargestellt, wo der Wagenlenker, parallel zum λογιστικόν, die Zügel in der Hand hält und das widerspenstige Pferd (das ἐπιθυμητικόν) in Schach halten muss, während das andere Pferd (das θυμοειδές) diszipliniert den Anweisungen folgt. Den göttlichen Seelen gelingt dies ohne Weiteres; schwierig wird dies jedoch für die Seelen der Menschen, die ja an einen Körper gebunden sind, der diese beschwert und nach unten zieht. Die beiden Pferde sind also nicht „rein“, nur eines gehorcht dem Lenker, das zweite wird vom Irdischen angezogen und schert immer wieder aus. Der Aufstieg ist für die menschliche Seele somit sehr beschwerlich, denn sie möchte einerseits den Göttern folgen, muss sich aber ständig um das ungehorsame Pferd kümmern. Kommen die Götter schließlich am Zenith an, durchbrechen questa unita ‚anima‘ c’ è un intero più semplice e unitario, un’anima superiore, fatta di parti assemblate con un procedimento complesso da Dio stesso, un misto ma non mescolato, un’anima immortale che sopravvive anche dopo la morte delle altre due parti.“ (Migliori 2007: 126). 85 Dieses Seelenmodell sollte später die Basis für jede antike philosophische Anthropologie werden; diese Lehre formte auch das Denkmodell in der Zeit, als sich das Christentum etablierte und mit dem sich die Philosophie auseinandersetzen musste. Halfwassen stellt die auf Platon zurückgehende Lehre vom Seelenwagen dar und weist nach, wie die Theorie im späteren Platonismus unter Aufnahme der aristotelischen Pneuma- und Ätherlehre ausgestaltet und jeweils differenziert verwendet wurde (Halfwassen 1995: 111). 86 Ramfos GA 13: 69. Diese Einteilung geht zurück auf Platons Staat 438 d–441 c und 443 c–445 e.

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sie die Himmelssphäre und halten sich, nunmehr unbeweglich, jenseits des Seins im Reich der Ideen auf (ὑπερουράνιος τόπος), um dann wieder umzukehren. Diese Schau ist nach Ramfos gleichsam die Nahrung der Seele,87 die ihr die Kraft gibt, mithilfe ihrer Flügel wieder und wieder aufzusteigen. Für die Seelen der Menschen ist dies weit schwieriger; gerade einmal den Philosophen gelingt es, kurz den Kopf aus der Himmelssphäre herauszustrecken, alle anderen versagen in ihrem Kampf um den Aufstieg, straucheln und geraten in ein Knäuel strampelnder Pferde, die sich gegenseitig die Flügel zertreten.88 Nicht nur die menschlichen, auch die göttlichen Seelen sind in gewisser Weise der Schwerkraft unterworfen, daher benötigen sie die Flügel, um nach oben zu kommen. Dennoch ist der Unterschied gewaltig: während die Götter ohne Probleme in die Sphäre jenseits der Himmelssphäre gelangen, ist es für die Menschen ausgesprochen schwierig.89 Dieses Eigengewicht der Seelen, eine Art „geistiger Körper“, wie Ramfos es interpretiert,90 zeigt ihre Eigenart eines „dazwischen“ an, ihre Verortung zwischen Himmel und Erde, ein „weder–noch“, das in der platonischen Philosophie als das Wesen der menschlichen Seele bezeichnet wird.91 Die Schwere der Seele korreliert mit dem ständigen Streben nach dem Raum der Ideen und zeigt einen radikalen Mangel an – einen Mangel, der auch den Eros im Symposion kennzeichnet. Gerade die menschlichen Seelen in ihrem Kampf um den Aufstieg besitzen das Privileg der Freiheit – auch der Freiheit zum Fall – und damit ist in ihnen schon das Prinzip eines freien Willens angelegt.92 Hierin sieht Ramfos eine christliche Problematik ante litteram, auf die später ausführlicher einzugehen sein wird. Ramfos’ Lektüre Platons hebt besonders die mystischen Aspekte dieser Philosophie hervor. Das Ziel der menschlichen Suche ist in beiden philosophischen Erzählungen aus Symposion und Phaidros dasselbe, denn im Symposion wird das Gute (ἀγαθόν) mit dem Schönen (καλόν) gleichgesetzt, was nur für den modernen Leser merkwürdig erscheint.93 Das Gute ist für den antiken Menschen keine moralische Kategorie – zu dieser wurde es erst durch die Scholastik; das Gute drückt im griechischen Kontext allein einen „natürlichen Nutzen“ (φυσικὸ 87 88 89 90

Ramfos GA 1: 149. Ramfos GA 13: 62–85. Ramfos GA 13: 65 ff. Ibid.: 66. Die „Schwere“ (ἐμβρίθεια) der göttlichen Seelen vergleicht Ramfos mit der Materie der Himmelskörper, die in der Antike ebenfalls als Gottheiten gelten. 91 Platon, Phaidon 74 e, vgl. Ramfos GA 1: 140 und GA 7: 135. 92 Ramfos GA 1: 157 ff. und GA 13: 69. 93 Platon, Symposion 201c und 202 c–d, vgl. Ramfos GA 7: 79 f.

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ὄφελος) aus, der letzten Endes das Glück (εὐδαιμονία) hervorbringt. Das Glück des Menschen liegt also in der Schau und in der möglichst intensiven Teilhabe am Schönen und Guten.94 Es bleibt nun noch ein Schritt zu vollziehen, der die Verbindungslinie von Platonischer Philosophie zu orthodoxer Theologie offenkundig werden lässt: die Gleichsetzung des Schönen bzw. Guten mit der Wahrheit und dem Licht oder die Verbindung der richtigen Erkenntnis mit dem Glück. Diese Verknüpfung zog Ramfos bereits in einem seiner frühen Werke, das aus einer seiner Vorlesungen in Vincennes im akademischen Jahr 1972/73 entstanden ist und in dieser Hinsicht als eine Art Schlüsselwerk verstanden werden kann.95 Hier werden die Schritte des Aufstiegs der menschlichen Seele gemäß Ramfos’ Platonverständnis dargelegt. Ramfos verbindet die philosophischen Mythen verschiedener Dialoge zu einer Gesamtvision des menschlichen Strebens nach Transzendenz. Allem liegt das Licht als Voraussetzung der Erkenntnis zugrunde, ein Licht jenseits der Sonne, welches das griechische Denken seit jeher beflügelt habe: Das Licht lässt das Sehen zu, nicht das Auge. Sehen außerhalb des Lichts existiert nicht, denn das Sehen und das Licht sind unterschiedliche Dinge, und so wichtig unsere Augen auch sind, die Nacht macht sie blind. […] Das Auge ist mit dem Verstand verbunden, weil dieser Energie ist, der göttliche Geist aber wird das ἄπειρον ὄμμα (das grenzenlose Auge) der Orphik, dem das unsichtbare Licht entspricht, wie das ἀφεγγὲς φῶς des Ödipus in Kolonos (v. 1549), welches jenseits des Objektiven und der Psychologie ist […] es ruft den Menschen auf zur geistigen Vereinigung mit Gott. Nichts bleibt in sich geschlossen unter dem Licht der Sonne: Die Sonne ordnet an und bringt näher, sie ist der Ursprung der Wahrheit – das Erscheinen des Beleuchteten und das Scheinen selbst. […] Unverständlich ohne ihre sonnenhaften Eigenschaften fällt die Platonische Wahrheit in das Seiende ein, um die Überlegenheit des Jenseits zu zeigen. Sie musste demnach als Ekstase des Seienden und nicht als logozentrische Präzision des Auges verstanden werden, eine unbezwingbare Sehnsucht nach der transzendenten Welt der Ideen. Ich begegne der Wahrheit, weil meine Seele fast Idee ist (Phaidon 79 e und 106 d), weil meine Augen sonnenähnlich sind und nicht einfach, weil ich sehen kann.96

94 Ramfos GA 7: 80. 95 Μύησι στὸ φῶς [Einweihung ins Licht], in der GA 1: 169–200. 96 „Τὸ φῶς ἐπιτρέπει τὴν θέα καὶ ὄχι τὸ μάτι. Ὅρασι ἐκτὸς τοῦ φωτὸς δὲν ὑφίσταται διότι θέα καὶ φῶς διαφέρουν, καὶ ὅσο σπουδαῖα νὰ εἶναι τὰ μάτια μας, ἡ νύχτα τὰ τυφλώνει. […] Τὸ μάτι συνδέεται μὲ τὸν νοῦ, ἐπειδὴ ὁ τελευταῖος εἶναι ἐνέργεια, ἡ δὲ θεία νόησι γίνεται τὸ ἄπειρον ὄμμα (ἀπέραντο μάτι) τῶν ὀρφικῶν, εἰς τὸ ὁποῖο ἀντιστοιχεῖ ἕνα ἀθέατο φῶς, σὰν τὸ ἀφεγγὲς φῶς τοῦ Οἰδίποδος ἐπὶ Κολωνῷ (στ. 1549), ποὺ βρίσκεται πέρα τοῦ ἀντικειμενικοῦ καὶ τῆς ψυχολογίας […] καλεῖ δὲ τὸν ἄνθρωπο σὲ πνευματικὴ ἕνωσι μὲ τὸν θεό. Τίποτε δὲν μένει κλειστὸ στὸν ἑαυτό του κάτω ἀπὸ τὸ φῶς τοῦ ἡλίου: ὁ ἥλιος διαθέτει καὶ πλησιάζει, εἶναι ἀρχὴ τῆς ἀλήθειας

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In diesem Absatz verbindet Ramfos in der ihm eigenen Weise die oben genannte Wahrheit der Erkenntnis und das Gute mit einem alles Physische transzendierenden Licht. Die wichtigsten antiken Philosophen nimmt er als Autoritäten für die Beschreibung einer Erscheinung, die in diesem Maße erst die orthodoxe Mystik, etwa bei Symeon, dem Neuen Theologen oder bei Gregor Palamas, ins Zentrum rücken wird: das Licht als unmittelbare Gotteserkenntnis. Ramfos erweist sich also auch hier nicht nur als Exeget der antiken Philosophie, sondern er entwickelt ein eigenes Konzept des mystischen Lichts; so verweisen im oben zitierten Absatz Begriffe wie die „Vereinigung mit Gott“ und die „Ekstase“ auf eine stark neuplatonisch beeinflusste orthodoxe Umdeutung der philosophischen Konzepte Platons.

3.5  Lichtmetaphorik und Platons Metaphysik 3.5.1  Platons Lichtmetaphorik Ein weiteres zentrales Element der von Ramfos als Einheit betrachteten griechischen antik-orthodoxen Tradition ist die Bedeutung des Lichts als physischer und metaphysischer Entität, die in der Antike und in der orthodoxen Tradition Voraussetzung von Erkenntnis ist. Aus Gründen der Übersichtlichkeit müssen wir auch hier für den orthodoxen Teil auf ein späteres Kapitel zur byzantinischen Lichtmystik verweisen,97 während im Folgenden der antike Teil behandelt wird. Schon in der frühesten griechischen Literatur kann das Licht als Symbol für eine jenseitige Realität nachgewiesen werden; die entsprechenden Textbelege sind in der bis heute gültigen Untersuchung von Werner Beierwaltes, Lux intelligibilis. Untersuchungen zur Lichtmetaphysik der Griechen98, vereint. Das Licht steht für eine sinnlich nicht erfassbare Realität, es symbolisiert bei Homer Glück, Rettung, Sieg und, besonders bei Parmenides, das Recht (δίκη), mithin Attribute, die in die

– ἡ προφάνεια ἐκείνου ποὺ φωτίζεται καὶ ἡ ἴδια ἡ φάνεια […] Ἀδιανόητη χωρὶς τὰ καθ’ αὑτά, ποὺ λούζονται στὸ φῶς τοῦ ἡλίου, ἡ πλατωνικὴ ἀλήθεια εἰσβάλλει στὸ ὄν, γιὰ νὰ τονίσῃ τὴν ὑπεροχὴ τοῦ ἐπέκεινα. Θὰ πρέπῃ νὰ θεωρῆται ἔκστασι τοῦ ὄντος καὶ ὄχι λογοκρατικὴ ἀκρίβεια τοῦ βλέμματος, ἀκατάσχετος πόθος πρὸς τὸν ὑπερβατικὸ κόσμο τῶν ἰδεῶν. Ἀντικρύζω τὴν ἀλήθεια ἐπειδὴ ἡ ψυχή μου εἶναι σχεδὸν ἰδέα (Φαίδωνος 79 e καὶ 106 d), ἐπειδὴ τὰ μάτια μου ἔχουν φύσι ἡλιακὴ καὶ ὄχι διότι μπορῶ ἁπλῶς νὰ βλέπω.“ (Ramfos GA 1: 177 f. Hervorhebungen vom Autor.). 97 Dies sind die folgenden Kapitel der vorliegenden Untersuchung: 4.5 Gottesschau und byzantinischer Humanismus: Symeon der Neue Theologe und 4.6 Die orthodoxe Antwort auf den westlichen Humanismus: Gregor Palamas. 98 Diss. Hamburg 1957.

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Sphäre des Göttlichen gehören, sowie das Göttliche selbst in seiner Epiphanie. Platon verbindet all diese Bilder, geht dabei aber weit über seine Vorläufer hinaus, indem er das Licht als Ausgangspunkt für seine Ontologie und seine Erkenntnistheorie wählt, die wiederum auch die Grundlage für die Ethik sind. Insofern habe, so Beierwaltes, durch Platon vermittelt, folgendes Bild […] auf die Nachwelt besonders gewirkt: die Sonne als Prinzip des Lebens und der Ordnung und als Quelle des Lichtes, das wiederum als Symbol hinweist auf das geistige Licht Gottes.99

Nun äußert sich Platon nicht explizit und in der einheitlichen Form eines Traktats zur Bedeutung des Lichts; eine Übersicht ergibt sich jedoch durch die von Beierwaltes geleistete Untersuchung einer Reihe von platonischen Dialogen: Es handelt sich im Einzelnen um den Staat (hier finden sich die unten aufgeführten Gleichnisse von der Höhle, der Linie und der Sonne) für die Verknüpfung von Licht und Erkenntnis, den Dialog Timaios für Licht und Sein sowie die Dialoge Phaidros und Symposion für das Licht als Ziel menschlichen Strebens und Handelns. Diese Texte zieht auch Ramfos für seine Deutung der Lichtmetaphysik Platons heran. Bemerkenswert ist hierbei, dass er an dieser Stelle nicht nur Platons Philosophie darstellt, sondern gleichzeitig ein bestimmtes Programm verfolgt, nämlich die antike Philosophie – wie er es sieht – von westlichen Fehldeutungen zu befreien. Hier richtet sich Ramfos insbesondere gegen Martin Heideggers an Platons Werk festgemachte Metaphysikkritik.

3.5.2  Heideggers Platonverständnis und Ramfos’ Kritik Das Höhlengleichnis aus dem Staat ist in diesem Zusammenhang insofern zentral, als es das Licht als Form des Göttlichen einführt und das Sehen als Erkenntnisprozess mit ihm vereint. So hatte auch Heidegger, mit dem sich Ramfos seit seinen Anfängen intensiv auseinandergesetzt hat, für seine Vorlesung Vom Wesen der Wahrheit das Höhlengleichnis als „Mitte des Platonischen Philosophierens“100 verstanden und es seinen Ausführungen über den Wandel des Wahrheitsbegriffs zugrunde gelegt. Ramfos entwickelt in seiner Darstellung der Erkenntnistheorie, ohne es jedoch ausdrücklich zu schreiben, eine Verteidigung der Platonischen Philosophie gegen den Vorwurf Heideggers, dieser habe den ursprünglichen Seins- und Wahrheitsbegriff verdinglicht:

99 Beierwaltes 1957: 37, 57 und passim. 100 Heidegger 2001: 124.

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Der Gebrauch der Begriffe (sc. im Höhlengleichnis, Anm. I.S.) σαφέστερα [klarer], sowie kurz vorher ἀληθέστερα [wahrer], und, am Ende des Absatzes, ἀληθῶν [in Wahrheit seiend], zeigt, dass der Begriff ἀλήθεια [Wahrheit] bei Platon nicht in ein abstraktes Substantiv umgewandelt wurde. Im Gegenteil, es lässt die ihm eigentümliche Wirklichkeit erscheinen, die als Dasein im Licht gedacht wird, ganz wie es die Grundbedeutung des Wortes nahelegt. Das Unverborgene befindet sich im Licht und strahlt Licht aus, in der Art, dass die Wahrheit keine logische Sicherheit darstellt, sondern Fülle im Licht und dass es in etwa gleichbedeutend ist wie Dasein, wie es auch Homer meinte. Nur unter dieser Voraussetzung konnte das Dasein vier Jahrhunderte später durch sich die Wahrheit vor den Völkern wiedererlangen, und dies nicht als Idol des Geistes oder als Erscheinen des Seins, sondern als Erscheinen im Fleisch der göttlichen Tatsächlichkeit, als wirkliches Leben.101

Hier eignet sich Ramfos Heideggers Verständnis der Wahrheit als Unverborgenheit an, das dieser in seiner Parmenides-Vorlesung vom Wintersemester 1942/43 ausführlich erörtert. Das Licht der Sonne ist die unbedingte Voraussetzung für das Sehen, mithin für die Erkenntnis der Wahrheit (ἀ-λήθεια), die sich im Licht ent-birgt. Heidegger präzisiert seinen Wahrheitsbegriff als einen Rekurs auf das vorphilosophische, d.h. vorplatonische Verständnis der Griechen: Der Gegensatz zum „Unverborgenen“, das Verborgene, ergibt sich dem Namen nach leicht, wenn wir nur das α-privativum zurücknehmen und die Beseitigung des Verborgenen aufheben und es, das „Verborgene“, bestehen lassen. Dem Wortlaut nach führt die Durchstreichung des α zu ληθές. […] In der Wurzel ‚λαθ‘ liegt ‚Verbergen‘.102

Dieses Wahrheitsverständnis bedeutet in Heideggers Interpretation, dass Seiendes durch ein Ent-decken aus der Verborgenheit herausgenommen wird. Durch den Rückgriff auf diese Auffassung versteht Heidegger seine Arbeit auch als Wiederaneignung eines ursprünglichen Wahrheits- und Seinsbegriffes, bevor dieser durch die (sokratisch-platonische) Philosophie verändert bzw. verfälscht wurde.103

101 „Ἡ χρῆσις τοῦ σαφέστερα, καθὼς ἀμέσως πρὶν τοῦ ἀληθέστερα καὶ, στὸ τέλος τοῦ παραγράφου, τοῦ ἀληθῶν, δείχνει πὼς ὁ ὅρος ἀλήθεια δὲν ἔχει μετατραπῆ στὸν Πλάτωνα σὲ ἀφῃρημένο οὐσιαστικό. Ἀπεναντίας δηλώνει τὴν καθεαυτὸ πραγματικότητα, νοουμένη ὡς ὕπαρξι στὸ φῶς, κατὰ τὸ ἔτυμον τῆς λέξεως. Τὸ μὴ λανθάνον βρίσκεται στὸ φῶς κι ἐκπέμπει φῶς, εἰς τρόπον ὥστε ἡ ἀλήθεια νὰ μὴν συγκροτῇ πρωτογενῆ λογικὴ βεβαιότητα ἀλλὰ πληρότητα στὸ φῶς καὶ ν’ ἀποτελῇ συνώνυμο περίπου τοῦ ὑπάρχειν, ὅπως ἤθελε ὁ Ὅμηρος. Μόνο ὑπ’ αὐτὴ τὴν προϋπόθεσι ὁ Ὢν μπόρεσε νὰ διεκδικήσῃ μετὰ τέσσερις αἰῶνες δι’ ἑαυτὸν τὴν Ἀλήθεια ἐνώπιον τῶν ἐθνῶν, καὶ τοῦτο ὄχι ὡς ἴνδαλμα τοῦ νοῦ ἢ παρουσία τῆς οὐσίας, ἀλλὰ ὡς ἐν σαρκὶ φανέρωσι τῆς θείας πραγματικότητος, ὡς ὄντως ζωή.“ (Ramfos GA 8: 42, Hervorhebungen vom Autor). 102 Heidegger 1982: 30. 103 Als eine Stelle von vielen: Heidegger 1927: 220.

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In der Tat setzte Heidegger den „letzten Kampf des früheren (ursprünglichen) und des späteren Wahrheitsbegriffs in der Philosophie Platons“ an. Wenig deutet jedoch darauf hin, dass Heidegger allein Platon für diesen Wandel verantwortlich macht, noch dass der Übergang bereits von diesem vollzogen worden sei; vielmehr verweist er hier auf Aristoteles. Hier hat sich der Wandel von der Wahrheit als Unverborgenheit hin zur Wahrheit „im Satz“, zur „Übereinstimmung mit der Sache“ vollzogen.104 Ramfos legt jedoch nahe, dass die griechische, durch das orthodoxe Mittelalter geprägte Interpretation der antiken Philosophie zu wesentlich anderen Ergebnissen führt. Er unterstreicht die Bedeutung der Angleichung (ὁμοίωσις) als die wesentliche Bewegung des orthodoxen Denkens, was eher dem neuen Wahrheitsbegriff von Heidegger entspricht: Die Griechen hatten demnach zwei Deutungen der Wahrheit. Wahrheit als Offenbarkeit bestand zuerst, aber aus wesentlichen Gründen erhielt den Vorrang die Wahrheit als Angleichung des Denkens und des Sehens. Bei Platon erleben wir noch einmal das Aufflackern der beiden Arten der Wahrheit. Von Platon an gewinnt die Eigenschaft des Satzes die Oberhand. Heute ist sie so selbstverständlich, dass es sich niemand bei Strafe einfallen lassen darf, anders zu meinen.105

Nicht zuletzt Heideggers Kritik an der abendländischen Philosophie war es, die Ramfos zu seinen frühen Platon-Studien motivierte. Wir beobachten diesen starken Einfluss auf Ramfos’ gesamtes Werk, zuletzt auch in seiner Studie über Heideggers Sein und Zeit.106 Ramfos eignete sich also in Paris bereits Heideggers Kritik an der abendländischen Philosophie an und formuliert in seiner neoorthodoxen Phase (nicht anders als Christos Yannaras, der als wichtigster Vertreter der neoorthodoxen Philosophie in Griechenland gilt) seine Kritik am Westen in Heideggers Fußspuren, mit dem signifikanten Unterschied, dass Ramfos die Zerstörung der ursprünglichen griechischen Philosophie der lateinischen Scholastik anlastet, während Heideggers Kritik das Christentum mit seiner Metaphysik insgesamt als korrumpierenden Faktor bewertet: Für dieses Phänomen des Verfalls der Philosophie – andere sehen darin einen Aufstieg – ist im Grunde das Christentum verantwortlich […] sofern es die Philosophie mit dem Bedürfnis nach seelischer Vertiefung, seelischer Erhebung verquickte.107

104 Heidegger 2001: 122. 105 Ibid.: 222. 106 Ramfos GA 21 von 2012. 107 Heidegger 1992: 255 f.

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Dem Bedürfnis nach geistiger Unterhaltung, welches Heidegger despektierlich als „Schwachsinn“ bezeichnet, verdankt die Metaphysik ihren Erfolg.108 Ramfos’ Kritik am Westen hat Heidegger als Basis. Sie teilt mit ihm jedoch nicht die grundsätzliche Kritik an der Metaphysik, ganz im Gegenteil.

3.5.3  Das Höhlengleichnis Rekapitulieren wir kurz die platonische Erzählung im Staat: In der Erzählung von der Höhle soll man sich vorstellen, Menschen lebten in einer solchen, an Händen und Füßen gefesselt und ohne die Möglichkeit, ihren Kopf zu drehen. Das einzige, was sie zu sehen bekommen, sind die Schatten von Gegenständen, die hinter ihnen vorbei getragen werden und die von einer großen Lichtquelle (Feuer) hinter ihrem Rücken stammen. Man stelle sich weiterhin vor, einer dieser Gefesselten bekäme die Möglichkeit, auf die Erdoberfläche zu gelangen und die echten Gegenstände von der originalen Lichtquelle (der Sonne) beleuchtet zu sehen; er würde seinen Wahrnehmungen von früher keinen Glauben mehr schenken, andererseits aber größte Schwierigkeiten bekommen, wollte er seine Mitgefangenen ebenfalls davon überzeugen.109 In dieser Erzählung kondensiert Platon viele sehr unterschiedliche philosophische Probleme; für Ramfos’ Interpretation ist aber die Dimension des Lichts im Zusammenhang mit der Erkenntnis von zentraler Bedeutung. Die menschliche Wahrnehmung gliedert sich nach Platon in zwei Bereiche, den des sinnlich Wahrnehmbaren und den des verstandesmäßig zu Erschließenden. Sie verhalten sich untereinander wie Original und Abbild, Gegenstand und Schatten. Die zwei Bereiche gliedern sich also wiederum in zwei Abschnitte, was auch im sogenannten „Liniengleichnis“110 nochmals erklärt wird. Sie sind stufenweise immer weiter von der Wahrheit entfernt: Das Licht der Sonne, das künstliche Licht (Feuer), der beleuchtete Gegenstand sowie der Schatten des Gegenstandes. Diese vier Stufen entsprechen den vier Stufen des Seins: Die Ebene der Idee (erkennbar durch die reine Vernunft – νόησις), die Ebene der mathematischen Formen (erkennbar durch Verstandestätigkeit – διάνοια), die Ebene des Materiellen, die sinnlich erfassbar ist durch αἴσθησις bzw. πίστις,111 und die Ebene von deren Abbildungen durch die bildenden Künste und die Dichtung, die die niedrigste

108 Ibid. 109 Platon, Staat, 514 a–516 c, und Ramfos GA 8: 25 ff. 110 Platon, Staat, 509 d–511 e. 111 Πίστις (Glaube) entspricht in diesem Zusammenhang in etwa der δόξα (Meinung), vgl. Timaios 29 c und 37 b; hierzu Beierwaltes 1957: 58 mit Anm. 1.

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ist und am wenigsten zuverlässige Erkenntnis erlaubt, da sie nur den Anschein wiedergibt (εἰκασία). Da die Voraussetzung für die Erkenntnis der Wahrheit die Sonne ist, wird das Erkennen als höheres Sehen verstanden.112 Der philosophisch Gebildete überspringt nun die ersten beiden materiellen Ebenen und befasst sich ausschließlich mit den Dingen jenseits davon. Hier schließt sich der Kreis der mystischen Lehre Platons vom Aufstieg der menschlichen Seele zur wahren Erkenntnis: Das Verlangen richtet sich auf die Wahrheit, der Mensch erkennt sich selbst als Person im Bewusstwerden der Wahrheit. Der platonische Liebende steigt auf zur Wahrheit durch den Gebrauch der Dialektik (ὥσπερ ἐπαναβαθμοῖς χρώμενον, Symposion 211 c), die Schau der Wahrheit ist jedoch Aufgabe des reinen Geistes, der das Auge der Seele ist (Symposion 212 a, Staat 526 d–e und 533 d). Die irdische Dimension der Liebe erlaubt es Platon, sich vom sinnlich Wahrnehmbaren zum Geistigen aufzuschwingen und die Erfahrung der göttlichen Schau und des Sehens – beschreibt denn nicht der Phaidros (255–256) die erotische Verbindung als göttliche Schau? – in seiner philosophischen Arbeit gleichzusetzen. Die Einweihung des Liebenden wird in der visionären (Symposion 210 d), den logischen Schlüssen völlig fremden (211 a–b) Entdeckung des Schönen gipfeln. Die Platonische Schau verharrt daher nicht zwischen den Welten; sie führt mit dem schöpferischen Impuls, den nur die visionäre Wahrnehmung des Absoluten hervorbringen kann, von dieser Welt in die andere.113

In diesem Textabschnitt aus einem frühen Werk tauchen einige der wichtigsten Begriffe für Ramfos’ Philosophieverständnis auf, die ihn auch später viel beschäftigen werden: Platons Lehre von den zwei Welten, von denen eine nur ein flüchtiges Abbild des Originals, einen Trugschluss der Sinne darstellt, während die andere 112 Vgl. auch Ramfos GA 6: 50. Zur Entsprechung von ἰδεῖν und εἰδέναι Snell 1924: 96. Auch Heidegger unterstreicht die Parallele von Sehen (ὁρᾶν) und Verstehen (νοεῖν) im Höhlengleichnis (Heidegger 2001: 195 ff.). 113 „Ὁ ἔρως εἶναι γιὰ τὴν ἀλήθεια, ὁ δὲ ἄνθρωπος ἀναγνωρίζεται ὡς πρόσωπο στὴν συνείδησι τῆς ἀληθείας. Ὁ πλατωνικὸς ἐραστὴς ἀνεβαίνει στὴν ἀλήθεια χρησιμοποιώντας τὴν διαλεκτική (ὥσπερ ἐπαναβαθμοῖς χρώμενον, Συμποσίου 211 c), ἡ θεωρία ὅμως τῆς ἀληθείας εἶναι ὑπόθεσι καθαροῦ πνεύματος, ποὺ ἀποτελεῖ τὸ μάτι τῆς ψυχῆς (Συμποσίου 212 a, Πολιτείας 52 6 d–e, καὶ 533 d). Ἡ κοσμικότης τοῦ ἔρωτος ἐπιτρέπει στὸν Πλάτωνα νὰ ξεκινήσῃ ἀπὸ τὸ αἰσθητὸ γιὰ νὰ ὑψωθῇ στὸ νοητό, νὰ ἀντιπαραθέσῃ δὲ τὴν ἐμπειρία τῆς θέας καὶ τὴν ὄρασι ‒ ὁ Φαῖδρος (255–256) δὲν περιγράφει τὸν ἐρωτικὸ δεσμὸ ὡς θέα; ‒ στὸν φιλοσοφικό του ἀγῶνα. Ἡ μύησι τοῦ ἐρωτευμένου θὰ καταλήξῃ στὴν ἐνορατικὴ (Συμποσίου 210 d) καὶ ἀπολύτως ξένη πρὸς τὰ λογικὰ σχήματα (211 a–b) ἀποκάλυψη τοῦ Ὡραίου. […] Ἡ πλατωνικὴ θεωρία ἑπομένως δὲν εἶναι μετεωρισμός  •  ὁδηγεῖ ἀπὸ τοῦτο τὸν κόσμο στὸν ἄλλο, μ’ αὐτὴ τὴν δημιουργικὴ ὁρμή, ποὺ μόνο ἐνορατικὴ σύλληψι τοῦ ἀπολύτου δύναται νὰ προκαλῇ.“ (Ramfos GA 1: 181 f.).

Reinigung und Befreiung der Seele

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nur unter gewissen Anstrengungen zugänglich ist, und die durchlässige Grenze zwischen diesen beiden Welten, entlang derer sich für ihn das Leben des griechischen Geistes abspielt. Für den Weg in ein Reich jenseits dessen, was die unmittelbare Wahrnehmung erscheinen lässt, also in die Welt der Ideen, die nur durch reine Anschauung erkannt werden können und die frei von den irreführenden Sinneseindrücken sind, bedarf es jedoch eines langen und aufwendigen Prozesses der Vorbereitung, der das wahrnehmende Organ, die Seele, in die Lage versetzt, an ihr Ziel zu gelangen. Diese Vorbereitung besteht in der Reinigung (κάθαρσις).

3.6  Reinigung und Befreiung der Seele Um das Ziel der Vision des Schönen zu erreichen, darf, um im Bild des Seelenwagens zu bleiben, die Seele nicht zu schwer sein, sie darf sich, mit anderen Worten, nicht an den Bedürfnissen und den Affekten des Körpers orientieren, sondern sie muss sich davon reinigen und befreien. Dies ist allerdings erklärungsbedürftig, denn Platon spricht im Phaidros zwar einerseits davon, dass es dem Urzustand der Seele entspricht, sich leicht und unbelastet wie die Götter auf den Weg nach oben zu begeben, andererseits muss er feststellen, dass es den meisten Menschen nicht gelingt, sich von den Verirrungen der Sinnlichkeit zu befreien. Im Gegenteil, nur einige wenige, nämlich die philosophisch Gebildeten, haben überhaupt die Möglichkeit, sich der Annäherung an das Göttliche zu widmen, das den reinsten Genuss des Geistes verspricht. Dieser Genuss ist angeboren (οἰκεῖαι oder σύμφυτοι ἡδοναί, Philebos 47 d–52 c) und wird in gleicher Weise von geometrischen Formen und schönen Melodien hervorgerufen; darüber hinaus gibt es aber auch einen authentischen „ästhetischen“ Genuss des Geistes, beschrieben im Phaidros (259 b–d im Mythos von den Zikaden), der von allen irdischen Bedürfnissen ablenkt: Die Zikaden seien einst Menschen gewesen, die, als die Musen zur Welt kamen, derart fasziniert von der Schönheit ihrer Kunst waren, dass sie darüber Speise und Trank vergaßen und starben.114 Ähnlich wie die kunstliebenden Zikaden wird also auch der Mensch, der sich der Philosophie zuwendet, auf vieles verzichten, was seine Mitmenschen für unabdingbar halten: irdischer Besitz, Ehre und Ansehen im Gemeinwesen, bis hin zu seiner irdischen Existenz. Ramfos unterstreicht hier das heilende Moment115 der Philosophie, was eine weitere Gemeinsamkeit mit der Askese der christlichen Mönche darstellt: 114 Ramfos GA 9: 188. 115 „Ἡ πλατωνικὴ φιλοσοφία ἐπιδιώκει ἐνσυνείδητα νὰ εἶναι ψυχικὴ θεραπεία.“ [„ Die Philosophie Platons versucht ganz bewusst, Therapie für die Psyche zu sein.“] (Ramfos GA 8: 54).

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Platon und das Streben nach dem „mystischen Licht“ Die Seele leidet an der Vermischung mit dem Körper und seinen Bedürfnissen, sie wird aber durch die Reinigung wieder geheilt. Und die radikale Reinigung ist, wie es der Dialog Phaidon (67 a–c) beweist, der Tod als Trennung von Körper und Seele (κάθαρσις … τὸ χωρίζειν ὅ,τι μάλιστα ἀπὸ τοῦ σώματος τὴν ψυχήν), während die μελέτη θανάτου [Übung im Sterben] die Abwendung des Philosophen von den krankhaften Einflüssen der Affekte zu Lebzeiten bedeutet (καθαροὶ ἀπαλλατόμενοι τῆς τοῦ σώματος ἀφροσύνης).116

Auch diese Phase der inneren Reinigung habe Platon ebenso wie den gesamten Initiationsprozess aus der Orphik übernommen,117 wo sie der Vorbereitung des Mysten auf die Begegnung mit dem Göttlichen diente. Die Nähe von Heiligkeit und Heilung wird in vergleichbaren Reinigungsritualen, etwa im Heiligtum des Asklepios, deutlich und so ist es nicht verwunderlich, dass die philosophische Katharsis im Zusammenhang mit dem Versuch, den irdischen Zwängen zu entkommen, eine viel größere Bedeutung gewann; als göttliche Therapie wurde sie zu einer unabdingbaren Voraussetzung für die Schau der körperlosen Ideen, denn nur die von der Sinnlichkeit gereinigte Seele ist in der Lage diese Ideen im Sinne einer Teilhabe und eines Zusammentreffens von Ähnlichem und Ähnlichem zu erkennen: Der Zustand der geistigen Umnachtung ist, nach Platon, auf eine Verunreinigung des göttlichen Elements der Seele durch eine Neigung zu den Affekten und der Materie zurückzuführen, eine Verunreinigung, die sich im Wahnsinn des Schattenbetrachtens äußert und nur durch eine innere Neuordnung geheilt werden kann – nicht etwa im Auslöschen des Triebteils der Seele, sondern durch die Wiederherstellung der korrekten Ordnung der einzelnen Seelenteile.118

Das „Schattenbetrachten“ ist ein beliebtes Spiel bei den gefesselten Höhlenbewohnern. Platon zeigt durch die Bezeichnung dieses Spiels als „Wahnsinn“, dass die Sorgen der diesseitigen Welt ein reines Schattenspiel sind. Die Reinigung von den schädlichen Einflüssen des Körpers wird für den Philosophen zu einem 116 „Ἡ ψυχὴ πάσχει ἀπὸ τὴν μῖξι μὲ τὸ σῶμα καὶ τὶς ὀρέξεις του, θεραπεύεται δὲ μὲ τὴν κάθαρσι. Καὶ ῥιζικὴ μὲν κάθαρσι, καθὼς βεβαιώνει ὁ Φαίδων (67 a–c) εἶναι ὁ θάνατος ὡς χωρισμὸς τοῦ σώματος ἀπὸ τὴν ψυχή (κάθαρσις … τὸ χωρίζειν ὅ,τι μάλιστα ἀπὸ τοῦ σώματος τὴν ψυχήν), ἐνῷ μελέτη θανάτου εἶναι ἡ μὲν ἐν ζωῇ ἀπαλλαγὴ τοῦ φιλοσόφου ἀπὸ τὶς νοσηρὲς ἐπιδράσεις τῶν αἰσθήσεων (καθαροὶ ἀπαλλατόμενοι τῆς τοῦ σώματος ἀφροσύνης).“ (Ibid.). 117 Ibid.: 55 f. 118 „Τὸ καθεστὼς τῆς πνευματικῆς σκοτίας ὀφείλεται, κατὰ τὸν Πλάτωνα, σὲ μίανσι τοῦ θεϊκοῦ στοιχείου τῆς ψυχῆς ἀπὸ τὸ ἐμπαθὲς καὶ πρόσυλο, μίανσι ἐκδηλουμένη στὴν τρέλλα τῆς σκιοψίας, ποὺ θεραπεύεται μόνο μὲ ἐσωτερικὴν ἀνάπλασι – ὄχι μὲ εξορκισμὸ τοῦ ἐπιθυμητικοῦ ἀλλὰ μὲ ἐπανιεράρχηση τῶν ψυχικῶν μεριῶν.“ (Ibid.: 86).

Reinigung und Befreiung der Seele

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Lebenswerk. Im Dialog Phaidon, in dem sich Sokrates von seinen Schülern verabschiedet, nachdem er den Schierlingsbecher geleert hat, wird die philosophische Lebensweise als μελέτη θανάτου [Übung im Sterben] geschildert.119 Der Philosoph weiß um das wahre Leben, das erst nach dem Tode und nach der Trennung von Körper und Seele beginnen wird und verbringt daher sein irdisches Dasein damit, sich vorzubereiten, die Dinge jenseits der Sinnestäuschungen und der gesellschaftlichen Konventionen zu studieren und so schon zu Lebzeiten dem Zustand nahe zu kommen, der eigentlich erst mit dem Tode eintritt: die äußerste Form der Freiheit. Für Ramfos steht die Philosophie Platons somit ein weiteres Mal in der Tradition der Mysterienkulte, denn sie verspricht eine Therapie der Seele. Die Heilung ist in diesem Zusammenhang als Reinigung von den schlechten Einflüssen des Körpers und der Sinnesorgane zu verstehen, was eine eindeutige Parallele in der damaligen Medizin hatte; hier wurde Heilung in erster Linie in der Wiederherstellung des ursprünglichen Gleichgewichts durch die Reinigung des Körpers von schädlichen Umwelteinflüssen verstanden.120 Für die Seele ist die Philosophie jedoch die wirksamste Therapie, denn diese befreit sie von allem Materiellen, das ihre ursprüngliche Bestimmung verschleiert und bereitet sie bereits im diesseitigen Leben auf das Leben nach dem Tode, nach der Trennung von Leib und Seele, vor. Mit dem den Menschen angeborenen Verlangen nach dem Schönen über das dadurch veranlasste Streben nach dem, was jenseits der materiellen Welt liegt, bis hin zur Gleichsetzung des Schönen und Guten mit dem Wahren, was in der Vorstellung des Lichts als Ursprung der wahren Erkenntnis schlechthin kulminiert, hat Ramfos nun die Sinnsuche und die „Wendung nach innen“121 des antiken griechischen Menschen nachgezeichnet. Gewisse Ansätze dafür erkennt er schon in der vorsokratischen Tradition: Eine Konzentration auf den Urgrund der Dinge (ἀρχή),122 der auch die eigentliche „Wahrheit“ ist, und ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber den Sinneseindrücken. Wirklich vollzogen wird die Wende nach innen jedoch erst mit der Entdeckung des Jenseits und der Vorstellung, dass ein Teil des Menschen nach seinem Tode weiterlebt: 119 Vgl. Ramfos’ gleichnamigen Essay, jetzt in GA 2. 120 Ramfos GA 8: 69. Zur Gesundheit als Gleichgewicht der verschiedenen physiologischen Komponenten vgl. Platon, Gorgias 504 a–c, Staat 444 d, Timaios 82 a–b und Philebos 25 d–e. Dazu Szaif 2009: 220 f. 121 Ramfos GA 13: 218. 122 Zur philosophischen Bedeutung des ἀρχή-Begriffs sind besonders die frühen Arbeiten von Ramfos relevant, namentlich der Abschnitt Νόστος [Heimkehr], jetzt in GA 3: 37–62.

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Platon und das Streben nach dem „mystischen Licht“

Die homerische Religion verhinderte die Innerlichkeit, da sie dem schattenhaften Dasein nach dem Tode keine eigentliche Existenz zubilligte, während die mystischen Kulte diese erkannten und die Perspektive einer Rettung in Form spiritueller Unversehrtheit nach dem Tode eröffneten. Daher übernahmen diese auch die Funktion einer Vorform der Innerlichkeit.123

Dass dieses „urgriechische“ Element der Projektion des Lebens auf das Jenseits in der christlichen Tradition weiterhin existiert, liegt für Ramfos auf der Hand; ebenso ähneln sich auch in gewisser Weise die Wege, die der Philosoph und der Heilige einschlagen, um sich schon im diesseitigen Dasein dem Leben im Jenseits möglichst anzunähern und das Jenseits auf das Diesseits zu projizieren.

3.7 Θεωρία – Sehen und Erkennen im philosophischen Kontext Ziel der philosophischen Bemühungen im Sinne Platons war es also, zu wahrer Erkenntnis zu gelangen, die nicht durch die trügerischen Sinne verzerrt ist. Nun ist Platon dabei aber nicht den Weg gegangen, den der individualistisch geprägte, zeitgenössische westliche Mensch einschlägt, nämlich den der Abstraktion, der zur Verwendung von Begriffen führt. Vielmehr war Platons Weg der, der zum „Begreifen des Einen in seiner Vielfalt“ führt. Platons εἶδος bzw. die ἰδέα wird wie folgt erklärt. Es ist das […] Begreifen des Einen in seiner Vielfalt. Die Idee zu suchen bedeutet, die Vielheit ähnlicher Phänomene zu einem Typus zusammenzufassen oder zusammen zu sehen, nach Phaidros 265 d; wie auch das geometrische Schema alle entsprechenden materiellen Formen zusammenfasst, bzw. synoptisch auffasst, wie im Staat 537 c, und sie gedanklich durchdringt. In Platons Werk zeigt die Idee die gedanklich vergegenwärtigte Form des lebenspendenden und Einheit bringenden Einen, bei dessen Betrachtung, in der optischen Metaphorik, die Wahrheit der Idee mit der Wirklichkeit des Seins in eins gesetzt wird […] Indem Platon Wahrheit und Wirklichkeit nicht unterscheidet, kann er das in Wahrheit Seiende untersuchen […] anstatt, wie wir, den Begriff.124

123 „Ἡ ὁμηρικὴ θρησκεία ἐμπόδιζε τὴν ἐσωτερικότητα διότι δὲν ἀναγνώριζε πραγματικὴν ὑπόστασι στὴν σκιώδη ζωὴ μετὰ θάνατον, ἐνῷ οἱ μυστηριακὲς λατρεῖες ποὺ ἀνεγνώριζαν, ἔδιναν τὴν προσδοκία μιᾶς σωτηρίας ὡς μετὰ θάνατον πνευματικῆς ἀκεραιότητος. Γι’ αὐτὸ καὶ διεδραμάτισαν ῥόλο ἐμβρυουλκοῦ τῆς ἐσωτερικότητος.“ (Ramfos GA 8: 60). 124 „Ἡ ἰδέα ἀποτελεῖ σύλληψι τοῦ ἑνὸς στὴν πολλαπλότητα. Ζητῶ τὴν ἰδέα θὰ πῇ: συναιρῶ – ἢ συνορῶ, κατὰ τὸν Φαῖδρο 265 d – τὸ πλῆθος τῶν ὁμοιογενῶν φαινομένων σ’ ἕναν τύπο, ὅπως τὸ γεωμετρικὸ σχῆμα συναιρεῖ – ἢ συνοψίζει κατὰ τὴν Πολιτεία 537 c – καὶ λογοποιεῖ ὅλα τὰ ἀντίστοιχά του ὑλικὰ μορφώματα. Ἡ ἰδέα καὶ τὸ εἶδος δηλώνουν

Θεωρία – Sehen und Erkennen im philosophischen Kontext

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Wahre Erkenntnis im Sinne Platons ist also die Zusammenschau der Phänomene, nicht die Abstraktion von denselben, die, im Gegenteil, ein abendländisches Missverständnis des griechischen Denkens ist. Ramfos unterstreicht im oben zitierten Absatz auch die bildliche Verwendung des Sehens im Sinne von Erkennen. Darauf wird unten noch näher einzugehen sein. Wichtig in diesem Zusammenhang ist der Realitätsbezug der Platonischen Ideen; es handelt sich also nicht um eine Verdoppelung der Wirklichkeit, aber eben auch nicht um eine immer weiter voranschreitende Entleerung der Begriffe durch Verallgemeinerung, was schon Aristoteles kritisiert hatte.125 Die Ideen sind aus der Realität erkennbar; im Folgenden wird zu erläutern sein, wie.126 In den Platonischen Mythen werden zwei Wege angedeutet, auf denen die Seele Zugang zur wahren Erkenntnis hat; in den früheren Dialogen spricht Platon von ἀνάμνησις [Erinnerung]127 : Mittels der Sokratischen Maieutik „erinnert“ sich die Seele an Dinge, die sie vor ihrer Verbindung mit einem Körper gesehen hat. Ab dem Staat mit dem Höhlengleichnis und in späteren Werken ersetzt Platon dieses Bild durch die θεωρία.128 Hier geschieht Erkenntnis durch ein „Ähnlichwerden“, eine Angleichung von menschlichem und göttlichem Geist, sowie durch die Teilhabe des ersteren an Letzterem.

στὸ ἔργο τοῦ Πλάτωνος τὴν ὁρατὴ ἐν λόγῳ μορφὴ τοῦ ζωοποιοῦ κι ἑνοποιοῦ ἑνός, στὴν θεωρία τοῦ ὁποίου, κατὰ ὀπτικὴν μεταφορά, ἡ ἀλήθεια τῆς ἰδέας ταυτίζεται μὲ τὴν πραγματικότητα τῆς οὐσίας. […] Ἀληθινὸ καὶ πραγματικὸ εἶναι γιὰ τὸν Πλάτωνα ἀδιαχώριστα, ἐνῷ γιὰ τὸν ἐξατομικευμένο σύγχρονο ἄνθρωπο τοῦ δυτικοῦ πολιτισμοῦ εἶναι χωριστὰ […] Τὸ ἀδιαχώριστο ἀληθείας καὶ πραγματικότητος ἐπιτρέπει στὸν Πλάτωνα ν’ ἀναζητεῖ τὸ ἀληθὲς εἶναι, τὴν ἰδέα ὡς πραγματικότητα, καὶ ὄχι, σὰν ἐμᾶς, τὴν ἔννοια.“ (Ibid.: 56 f.). 125 Aristoteles, Metaphysik 991 b 20–26; 1079 b 24–30. Aristoteles kritisiert, durch die Einführung der Ideen werde neben der wahrnehmbaren Welt eine zweite, ideelle, konstruiert, und den Ideen, die die äußerste Abstraktion der sinnlich wahrnehmbaren Welt darstellten, käme so kein eigener ontologischer Status zu. 126 In der modernen Platonforschung ist das Verhältnis der Ideen zur sinnlich wahrnehmbaren Welt längst nicht abschließend geklärt. Vgl. dazu Erler 2007: 397 ff. 127 Ramfos GA 8: 76. 128 Ibid.: 71–84. Die Bedeutung, die Ramfos der Theorie bei Platon zumisst, erklärt sich nicht zuletzt daraus, dass diese bei Palamas zum Zentrum seiner Theologie wird. Unten wird erläutert werden, inwiefern die Lehre des Palamas von orthodoxen Theologen als Schlüssel zur Orthodoxie verstanden wird; Kapitel 4.6 Die orthodoxe Antwort auf den westlichen Humanismus: Gregor Palamas. Ramfos’ Platoninterpretation erschließt sich vollständig erst im Hinblick auf die orthodoxe Fortentwicklung der antiken philosophischen Themen.

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Platon und das Streben nach dem „mystischen Licht“

Das Wort θεωρία ist eine Umdeutung Platons des in der griechischen Alltagssprache bereits vorhandenen Verbs θεωρεῖν aus den Wörtern θέα (Betrachtung) und ὁρᾶν (sehen), das für die Teilnahme an kultischen Handlungen oder bei Theateraufführungen gebraucht wurde;129 in der neuen Bedeutung gewinnt der Begriff jedoch eine wesentliche semantische Ausweitung und bezieht sich nun auf die für den Philosophen erstrebenswerte Lebensweise.130 Dazu bedarf es wiederum natürlich einer ausführlichen Vorbereitung; die Reinigung der Seele von materiellem und sinnenbehaftetem Ballast ist die unabdingbare Voraussetzung dafür, mit der Allseele in Verbindung zu treten. Hierin liegt auch ein Erlösungsgedanke; nach drei Zyklen des Lebens als Philosoph, d.h. in der Lebensform der θεωρία, entgeht die Seele dem Kreislauf von Werden und Vergehen, von versuchtem Aufstieg und Fall zurück in ein irdisches Dasein und bleibt für immer im Himmel.131 Die Bedeutung des göttlichen Lichts in der orthodoxen Theologie einerseits sowie Heideggers132 Umdeutung des Phänomens des Sehens sind der Ausgangspunkt für ein Thema, das Ramfos in unterschiedlichen Kontexten immer wieder aufgreifen wird: die Verbindung von antiker optischer Theorie mit einem philosophischen Inhalt. Er legt die Beobachtung nahe, dass im Osten die antike optische Theorie vom Sehstrahl und der Feuernatur des Auges weitaus länger die Vorstellung davon, was das Denken sei, beherrscht habe als im Westen, wo mit der Renaissance die Perspektive Einzug in die Kunst gehalten und das Sehen sich zur passiven Wahrnehmung eines Gegenstandes verwandelt hätte. Ausführlich beschäftigt sich Ramfos mit dem abendländischen Prinzip der Perspektive in seinem Werk Ἱλαρὸν φῶς τοῦ κόσμου [Das heitere Licht der Welt].133 Die Fragestellung, auf die Ramfos mit seiner Behandlung der Unterschiede in der Wahrnehmung und insbesondere des Sehens implizit eingeht, lässt sich zurückverfolgen auf eine Problematik, die der amerikanische 129 Ibid.: 96. 130 Rauschs Untersuchung zur Theoria (Rausch 1982) gibt einen Überblick über philosophische und philologische Studien zur Herkunft des Begriffs. 131 Ramfos GA 8: 76. 132 Etwa in der Vorlesung Vom Wesen der Wahrheit (Heidegger 2001: 195–200) und öfter. In seinem späteren Werk ersetzt Heidegger seine Interpretation der Wahrheit als „Unverborgenheit“ durch den deutschen Begriff der Lichtung. Das Suffix „-ung“ bezeichnet das prozesshafte des Ausgangs aus dem Dunkel. Mit der Abwertung der aletheia als „Unverborgenheit“ geht eine Aufwertung der „Lichtung“ einher: Sie ist eine Dimension, die dem Menschen im Zeitalter der Technik nicht im besinnenden Rückgang auf die Griechen, sondern allein im von Heidegger praktizierten Denken zugänglich ist. Vgl. zu diesem Punkt Pöggeler 1963: 205. 133 GA 8.

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Philosoph Thomas Nagel134 in der Überlegung darlegte, inwieweit ein Mensch und eine Fledermaus das gleiche Objekt aufgrund ihrer unterschiedlich strukturierten Sinnesorgane auf unterschiedliche Weise wahrnehmen können. Die Frage, ob nicht nur die verschiedene Art der Sinnesorgane, sondern in ähnlichem Maß auch kulturelle Unterschiede unterschiedliche Wahrnehmungen desselben Gegenstandes, insbesondere im Falle eines Kunstwerkes, hervorrufen, fand unter den westlichen Forschern im Bereich der byzantinischen Kunstgeschichte breiten Widerhall.135 Es wurde in diesem Bereich mehrfach die Frage gestellt, unter welchen hermeneutischen Vorbehalten ein moderner Kunsthistoriker, der gezwungenermaßen von den massiven Veränderungen in der Wahrnehmung, die die cartesianische Wende hervorgerufen hat, beeinflusst ist, die Kunst einer vorneuzeitlichen Epoche überhaupt „richtig“ sehen kann, wobei „richtig“ bedeutet, auf die gleiche Weise wie der (ideale) byzantinische Betrachter. Es gilt also, sich in den hermeneutischen Horizont der Adressaten der Kunstwerke hineinzuversetzen, um nicht unweigerlich historischen Missverständnissen zu unterliegen, die entstehen, sobald die modernen Kriterien zur Beurteilung unreflektiert eingesetzt werden. So unterscheidet etwa Leslie Brubaker im Oxford Handbook of Byzantine Studies zwei unterschiedliche Betrachter, den byzantinischen und den modernen.136 Ähnliche argumentierte auch Robert Nelson in seinem programmatischen Sammelband Visuality Before and Beyond the Renaissance. Seeing as Others Saw,137 in dem er die Abhängigkeit unserer modernen Vorstellung der visuellen Wahrnehmung von Descartes’ Philosophie unterstreicht, die das Sehen als mechanischen Vorgang dargestellt und ihn somit der Neutralität und der Abstraktion verpflichtet, während das mittelalterliche, byzantinische Verständnis aktiver gewesen sei und insgesamt eine mehr körperliche Erfahrung dargestellt habe.138 Ähnlich argumentierten schon früher weitere Vertreter der byzantinischen Kunstgeschichtsforschung, etwa Henry Maguire,139 Liz James,140 Hans Belting141 und

134 Nagel 1974. 135 Vgl. hierzu die kritische Stellungnahme von Silvia Pedone 2013, auf die sich dieser Absatz bezieht, einschließlich der Zitate und Literaturverweise. Ich danke Frau Valentina Cantone für den wertvollen Hinweis. 136 Brubaker 2008: 63. 137 Nelson 2000. 138 Nelson 2000: 6, zitiert nach Pedone 2013: 23. 139 Maguire 1981; id.: 1995; id.: 1996. 140 James 2004. 141 Belting 1990.

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Platon und das Streben nach dem „mystischen Licht“

Robin Cormack.142 Auch in jüngerer Zeit hat diese Debatte noch Relevanz, wie die These des amerikanischen Philosophen Arthur Danto zur Historizität des Auges zeigt.143 Einen vergleichbaren Vorbehalt bezüglich der historischen Relativität von Wahrnehmungsmodellen äußert ebenfalls Ramfos, allerdings nicht im Hinblick auf die Wahrnehmung von Kunstwerken, sondern in Bezug auf den philosophischen Erkenntnisvorgang, das körperliche und das geistige Sehen in der griechischen Tradition sowohl vor als auch nach der Annahme des Christentums sehr eng miteinander verknüpft waren.144 Wenn das Höhlengleichnis das Streben nach der höchsten Idee mit dem richtigen Gebrauch des Denkens, nämlich mit der Betrachtung der Sonne als sichtbarer Repräsentation der Idee des Guten, verbindet, so existiert diese Gleichsetzung in der Philosophie Platons nicht nur im Bereich der Ethik und Metaphysik. Vielmehr ist sie nach Ramfos bereits ein fester Bestandteil der antiken griechischen Naturwissenschaft. Die antike Sehtheorie schreibt dem Auge aufgrund seiner Beweglichkeit eine aktive Rolle bei der Wahrnehmung zu, anders als etwa dem Ohr, das mit seiner komplizierten Trichterform nur zur passiven Rezeption des Schalls in der Lage ist. In seinen Ausführungen über die antike Sehtheorie bezieht sich Ramfos wiederum in erster Linie auf die Lehre Platons. Auf die nicht unerheblichen Unterschiede zu Platon, wie sie in den Lehren des Aristoteles145 und später der Stoiker146 erscheinen, geht er zwar stellenweise ein,147 dennoch

142 Cormack 1989. 143 Di Monte 2007. 144 Ähnlich argumentiert auch Halliwell 2002. Pizzone zieht ebenfalls eine Verbindung von der antiken, platonisch beeinflussten Ästhetik hin zu Texten der Periode der Auseinandersetzung um den Ikonoklasmus, in denen die Verehrung der Ikonen verteidigt wird, insbesondere zu Theodoros Studites und einem seiner Briefe aus dem Jahr 818, in dem die durch visuelle Eindrücke stimulierte φαντασία [phantasia] zu einer geradezu physisch wahrnehmbaren Kraft, ähnlich dem Tastsinn, wird (Pizzone 2012; 2013). 145 Für Aristoteles (De Anima 418 b) besteht der Sehvorgang zunächst darin, dass Licht auf ein Objekt fällt. Dies bewirkt eine Bewegung des Zwischenraums, der als durchsichtig gilt (διαφανής), was ein Bild des betrachteten Objekts zum Auge transportiert. Der Sehvorgang ist somit der Akt (ἐνέργεια) des Zwischenraums auf das Auge; die Sichtbarkeit entsteht somit aus dem Zusammenwirken von Objekt, Licht und Raum (διαφανές) (Vasiliu 1997: 39). 146 Chrysipp geht davon aus, dass der Sehstrahl, der aus fester Materie (d.h. gespannter Luft) besteht, seine Eigenschaften je nach Eigenschaft des Objektes verändert (Arnim 1903: Nr. 866 und 869; James 1996: 61. 147 Ramfos GA 8: 30; 112.

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meint er, wenn er von der antiken Optik spricht, die platonische Lehre aus dem Timaios.148 Grundsätzlich herrschte demnach in der Antike die Vorstellung, dass jeder Gegenstand […] sein eigenes Licht aussendet, sei es als Strahl (Platon, Empedokles) oder als Abbild (Demokrit, Epikur); unsere Augen ebenso, und das Zusammentreffen der beiden Strahlen ergibt, „wie das Tasten der Hände“, die optische Wahrnehmung.149

Zu diesen beiden Lichtstrahlen – dem, den der Gegenstand aussendet und dem, den das Auge aussendet – kommt noch ein drittes Licht, nämlich das Tageslicht, ohne welches das menschliche Auge nicht sehen kann. Das Licht „sieht“ also auf eine gewisse Weise und das Auge hat an diesem Vorgang teil aufgrund seiner feurigen Beschaffenheit. Der [antike, I.S. Seh-] Vorgang als gleichzeitiges Aussenden von Lichtstrahlen von den Augen und von den materiellen Gegenständen verleiht der antiken Optik eine besondere geistige Dimension. Diese Dimension hat die Neuzeit verloren, denn durch den Verlust der Vorstellung von der Feuernatur der Augen entfernt sie radikal den Vorgang des Sehens von dem des Denkens, während für die Antike das Sehen auch gleichzeitig Denken ist, das Denken aber nicht ein rein logisches Erfassen, sondern auch eine Art sinnlicher Wahrnehmung.150

Im Timaios konkretisiert Platon dieses Konzept, wobei besonders die Ähnlichkeit des Lichtes der Sonne mit dem vom Auge ausgesandten Licht unterstrichen wird. Die Verwandtschaft der beiden Lichtarten erklärt sich daraus, 148 Hinsichtlich der unterschiedlichen Auffassungen von der Natur des Lichts in der antiken Philosophie stellt auch Mugler die Atomisten und Platon nebeneinander im Gegensatz zu Aristoteles: „Pour Empédocle, les atomistes et Platon la lumière est une variété particulièrement fluide de feu dont les particules, lancées par les sources lumineuses, traversent l’espace. Pour Aristote, au contraire, la lumière est l’entéléchie du transparent (…) Pour Empédocle et Platon la lumière chemine en traversant successivement l’espace qui sépare la source d’émission des corps qui l’arrêtent où la perçoivent. Aristote enseigne qu’elle se réalise instantanément dans tout un milieu.“ (Mugler 1964: 7). 149 „[…] ἐκπέμπει τὸ δικό του φῶς, δίκην ἀκτῖνος (Ἐμπεδοκλῆς, Πλάτων) ἢ εἰδώλου (Δημόκριτος, Ἐπίκουρος), οἱ ὀφθαλμοί μας ἐπίσης, καὶ ἡ τῶν δύο φώτων συνάντησι προκαλεῖ, καθάπερ χειρῶν ἐπαφή, τὴν αἴσθησι τῆς ὁράσεως.“ (Ramfos GA 8: 30). 150 „Ἡ ὅρασι, ὡς ταυτόχρονη ἐκπομπὴ φωτὸς ἀπὸ τοὺς ὀφθαλμοὺς καὶ ἀπὸ τὰ ὑλικὰ ἀντικείμενα, προσδίδει στὴν ἀρχαία ὀπτικὴ μιὰ διάστασι ἐξόχως πνευματική. Αὐτὴ τὴν διάστασι ἔχασε ἡ ὀπτικὴ τῶν Νέων χρόνων, διότι στερούμενη τῆς ἰδέας τῶν διαπύρων ὀφθαλμῶν διαστέλλει ῥιζικὰ τὴν λειτουργία τῆς ὄψεως ἀπὸ τῆς νοήσεως, ἐνῷ γιὰ τοὺς Ἀρχαίους τὸ ἰδεῖν εἶναι καὶ νοεῖν, τὸ δὲ νοεῖν ὄχι μόνο κατάληψις λογικὴ ἀλλὰ ἐπίσης αἴσθησι.“ (Ibid.).

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dass die menschliche Seele auch Bestandteile aus dem gleichen Material wie die Weltseele beinhaltet (34 b–36 d; 41d–e), wobei aber die Seele durch die Verbindung mit einem Körper allerlei irrationalen Einflüssen ausgesetzt ist (42 a–b). Das Sehen wird nun dadurch möglich, dass unsere „lichttragenden Augen“ (φώσφορα ὄμματα, 45 b 3) aus dem gleichen Feuer wie das von der Sonne ausgestrahlte Licht bestehen. Dieses Feuer brennt nicht, sondern verstrahlt ein ebenso angenehmes (ἥμερον, 45 b 5) Licht wie das Tageslicht. Das Licht der Sonne verstärkt nun das Augenlicht aufgrund seiner Natur, Ähnliches trifft auf Ähnliches (ὅμοιον πρὸς ὅμοιον, 45 c 4), die Lichtstrahlen verschmelzen zu einem Sehstrahl, der vom Auge ausgeht. Mit diesem Strahl wird der Gegenstand ertastet, der Sinneseindruck gelangt in den Körper und die Seele; dies bewirkt dann den Sehvorgang (45 d 3). Die Verwandtschaft und das Zusammenwirken dieser beiden Lichtarten wird besonders deutlich, wenn Timaios erklärt, warum das Sehen ohne Tageslicht nicht möglich ist; da das Augenlicht nachts von seinem Artgenossen (συγγενοῦς) getrennt ist und mit Ungleichem (der Dunkelheit) zusammenkommt, erlischt es; dies ist der Grund, warum wir nachts und im Dunkeln nichts sehen können (45 d).151 Das menschliche Auge und das „Auge“ der Sonne am Himmel teilen also eine Reihe von Eigenschaften; sie sind von der gleichen feuerartigen Natur, bestehen aus dem gleichen milden Feuer, das nicht verbrennt und es dem Auge erlaubt, seine wässrige Konsistenz zu behalten. Beide, Auge und Sonne, sind dem gleichen Rhythmus von Tag und Nacht unterworfen, weswegen das Auge nachts eben nichts sehen kann. Sonne und Auge wirken zusammen, um den Sehvorgang zu ermöglichen. Auf die physikalische Erklärung des Sehvorgangs folgt auch eine metaphysische, da in der platonischen Lehre der Mensch in seinem Mikrokosmos den Makrokosmos des Universums abbildet. Die enge Verbindung dieser beiden Sphären macht es also möglich, von der Beschreibung des Sehens überzugehen zur Erkenntnis der Wahrheit. Der Mensch der Antike, präzisiert Ramfos, besitzt keine ausgeprägte Vorstellung von Innerlichkeit. Daher war das Sehen kein Prozess, der im Inneren des Menschen ablief, wie es der Mensch von heute begreifen würde, sondern es war eher wie ein Spiegel zu verstehen, der die Umwelt reflektierte.152 Dies bedeutet jedoch auch, dass alles, was nicht sichtbar war, keine Wirklichkeit besaß, sondern als eine Negation derselben betrachtet wurde. Während 151 Ramfos GA 13: 228 ff. und Johansen 2004: 110–113. 152 Zur Thematik des Spiegels verweist Ramfos auf den Beitrag von Frontisi-Ducroux 1997, vgl. Ramfos GA 13: 293.

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für einen modernen Menschen ein Schatten das Produkt eines Gegenstandes ist, der eine Lichtquelle verdeckt, war der Schatten in der Antike geradezu eine negative Realität, was im Höhlengleichnis den Gegensatz zwischen den Schatten, die die Menschen in der Höhle sehen, und den realen Gegenständen, die der Befreite auf der Erdoberfläche mithilfe des Sonnenlichts sehen kann, erst wirklich dramatisch werden lässt. Die Höhlenbewohner sahen demnach nicht „nur“ die Schatten der Dinge, sondern das Gegenteil der Dinge, deren Nicht-Sein und entbehrten daher die wahre Erkenntnis gewissermaßen in „doppelter“ Weise.153 In der optischen Theorie von den aufeinandertreffenden Strahlen liegt also ein reziprokes Verhältnis von Subjekt und Objekt anstatt einer einseitigen Energie: Nur dann sind Wissen und Tugend miteinander verbunden […] Als Schau des Guten umfasst die Energie der Erkenntnis Verstand und Ethos, und so kann sie zu einer Annäherung an Gott werden. Denn als Schau der Wahrheit und des Guten ist das Sehen eine Beziehung und nicht eine einseitige Energie, die Tugend ist nicht das Ergebnis einer nachträglichen Anpassung des Schauenden an das Geschaute, sondern es ist das Betrachten selbst als Affekt der Wahrheit/des Guten.154

Dies bringt für die gesamte Vorstellung vom Denken eine ganze Reihe wichtiger Konsequenzen mit sich. Zunächst einmal gehen Subjekt und Objekt im Erkenntnisvorgang eine Verbindung ein, die sich aber von der westlichen Vorstellung der Identifikation beider wesentlich unterscheidet.155 Denn ohne Sonnenlicht, ohne den Glanz der Idee des Guten ist eine korrekte Wahrnehmung nicht möglich. Ein Drittes, die Wahrheit selbst, ist also die Voraussetzung für die wahre Erkenntnis. 153 Ramfos GA 8: 33 f. Im Zusammenhang mit der optischen Theorie verweist Ramfos auch auf die unterschiedliche Bedeutung der Schatten in der europäischen neuzeitlichen Malerei und der orthodoxen Kunst. Während die Perspektive die Schatten nutzt, um den Körpern mehr Dimension zu verleihen und damit die Fläche des Bildes sprengt, setzt ein Ikonenmaler die Lichtpunkte dorthin, wo die Figuren von sich aus erstrahlen (ibid.: 34 und GA 11: 227 f.). Diese Technik ist als „umgekehrte Perspektive“ aus der Kunstgeschichte bekannt. In orthodoxen Kreisen gewann diese dann auch eine übertragene Bedeutung. Vgl. dazu die Zusammenfassung in Plested 2012: 9 f. mit Anm. 1. 154 „Τότε μόνο ἡ γνῶσι καὶ ἡ ἀρετὴ συνυφαίνονται. […] Ὡς θέα τοῦ ἀγαθοῦ ἡ γνωστικὴ ἐνέργεια περιλαμβάνει μαζὶ μὲ τὴν διάνοια τὸ ἦθος καὶ γι’ αὐτὸ μπορεῖ νὰ τρέπεται σὲ ὁμοίωσιν θεῷ. Ἐπειδὴ ὡς θέα τῆς ἀληθείας καὶ τοῦ ἀγαθοῦ ἡ ὅρασι ἀποτελεῖ σχέσι καὶ ὄχι μονομερῆ ἐνέργεια, ἡ ἀρετὴ δὲν συνιστᾷ καρπὸ ἐκ τῶν ὑστέρων συμμορφώσεως τοῦ θεωροῦ πρὸς τὸ θεώμενον, ἀλλὰ εἶναι ἡ ἴδια ἡ θέα ὡς πάσχος τῆς ἀλήθειας/ ἀγαθοῦ.“ (Ramfos GA 8: 93). 155 Ibid.: 93 f.

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Platon und das Streben nach dem „mystischen Licht“

Somit lasst sich die metaphysische Dimension der Philosophie von der antiken Theorie vom Sehstrahl nicht trennen.156 Weiterhin wird offenbar, dass, sobald Subjekt und Objekt in gleicher Weise Strahlen aussenden, die in der antiken Vorstellung in gewisser Weise als materiell gedacht wurden, sich automatisch eine gegenseitige Beeinflussung ergibt; eine vergleichbare Vorstellung hielt in die westliche Naturwissenschaft erst mit Werner Heisenbergs „Unschärferelation“ Einzug. Konkret bedeutet diese Interpretation Platons, dass der Sehstrahl, der vom Auge des Betrachters ausgeht, auf das Betrachtete, oder sogar auf die angesehene Person einen gewissen Einfluss ausübt; dies erklärt auch, warum in Griechenland auch heute der „Böse Blick“ als Tatsache begriffen wird.157 Somit ist die Erkenntnis im griechischen Sinne niemals „abstrakt“, d.h. von der Umwelt lösbar. Hier wird ein weiterer radikaler Unterschied zwischen der östlichen und der westlichen Auffassung von der Welt sichtbar: Nicht die Reduktion auf logische Prozesse bestimmt das griechische Denken, nicht die Beschränkung der „Offenbarung auf die Fähigkeit des menschlichen Intellekts“,158 sondern eine mystische Schau dessen, was im Christentum den Namen des „Heiligen Geistes“ erhalten wird. Ramfos dehnt diesen erkenntnistheoretischen Unterschied zwischen Ost und West in einem zweiten Schritt auf eine ethische und eine soziologische Dimension aus. Wenn die Vorstellung vorherrscht, dass das, was ich sehe, auch mich „sieht“, entsteht automatisch eine moralische Beziehung. Das Sehen ist in einer von starken Ehr- und Schamgefühlen durchdrungenen Gesellschaft wie der antiken griechischen auch ein „Gesehen werden“,159 denn der Mensch sieht sich in den Augen des Anderen. 156 Ramfos GA 7: 200. 157 Ramfos GA 13: 296. Zum Phänomen des „Bösen Blicks“ in Griechenland s. Herzfeld 1981 und Lykiardopoulos 1981. 158 Ramfos GA 3: 122. Die byzantinischen Philosophen lateinischer Abstammung, Johannes Italos und Barlaam aus Kalabrien, waren demnach nicht durch einen falsch verstandenen Rückgriff auf die antike Philosophie in Konflikt mit der Orthodoxie geraten, sondern aufgrund ihrer logozentrischen und historizistischen Auffassung der Christologie, wie dies ebenso für alle Philosophen der Scholastik gilt. Vgl. dazu unten das Kapitel 4.6 Die orthodoxe Antwort auf den westlichen Humanismus: Gregor Palamas. 159 Dodds übertrug den anthropologischen Begriff der shame culture als erster auf die Verhaltensweisen der homerischen Helden, deren Wertekanon sich auf Ehre basierte; ein Fehlverhalten konnte diese verletzen und das Individuum aus der Gesellschaft ausgrenzen (Dodds 2004: 28–63).

Θεωρία – Sehen und Erkennen im philosophischen Kontext

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Der Mensch der Antike war unauflöslich mit der Natur und der Gesellschaft verbunden, und er erhielt seine Bestätigung aus dem Grad, in dem er mit dieser natürlichen und gesellschaftlichen Ordnung übereinstimmte.160 Die Selbsterkenntnis war somit nicht durch die Introspektion möglich (dies war erst eine der großen Errungenschaften des Christentums), sondern der Mensch erkannte sich selbst in den anderen Mitgliedern einer Gesellschaft. So verweist Ramfos auf Aristoteles in den Magna Moralia: So wie wenn wir unser eigenes Gesicht sehen wollen und in den Spiegel blicken, so verhält es sich auch, wenn wir uns selbst erkennen wollen; wir erkennen uns wohl, indem wir unseren Freund ansehen; der Freund ist nämlich, wie man sagt, ein anderes Ich.161

Das Sehen bedingt also nicht nur das Erkennen, sondern es begründet auch eine Beziehung von Betrachter und Betrachtetem. Diese Reflexivität wird besonders im Verhältnis Gott-Mensch realisiert, und, davon abgeleitet, in der Beziehung der Menschen untereinander.162 Das Sonnenlicht, das „dritte“ Licht, neben dem jeweils vom Objekt und dem Auge ausgesandten Strahl, ermöglicht erst die Erkenntnis und besitzt eine metaphysische Dimension. Es ist die schöpferische Energie an sich, in deren Strahlen sich das Absolute in die Welt verströmt. Das Licht ist die unmittelbare Verbindung zur Idee des Einen, Wahren und Guten, das im Augenlicht des Menschen sein Abbild hat, und an dem der Mensch im Prozess der wahren Erkenntnis teilhaben kann. Dasselbe Licht, das außerhalb der Platonischen Höhle erstrahlt, erhellt die orthodoxe Theologie in byzantinischer Zeit.163 Hier wird deutlich, worauf Ramfos mit seiner Interpretation der antiken Philosophie abzielt: Diese, in besonderer Weise diejenige Platons, betrachtet Denken und Handeln, Theorie und Praxis als unauflösliche Einheit, was in der orthodoxen Tradition unter veränderten Vorzeichen, aber ohne substanzielle Veränderung beibehalten wird, der neuzeitlichen westlichen Philosophie mit ihrer Trennung von den Naturwissenschaften jedoch abhandengekommen ist. Das Unbehagen an der westlichen Kultur, das mit den Entwicklungen der Moderne zusammenhängt, teilen Ramfos und die orthodoxe Tradition mit

160 Ramfos GA 7: 255. 161 Aristoteles, Magna moralia 1213  a 20–24: „ὥσπερ οὖν θέλομεν αὐτοὶ αὑτῶν τὸ πρόσωπον ἰδεῖν, εἰς τὸ κάτοπτρον ἐμβλέψαντες εἴδομεν, ὁμοίως καὶ ὅταν αὐτοὶ αὑτοὺς βουληθῶμεν γνῶναι, εἰς τὸν φίλον ἰδόντες γνωρίσαιμεν ἄν∙ ἔστι γάρ, ὡς φαμέν, ὁ φίλος ἕτερος ἐγώ.“ (Ramfos GA 13: 233; zum Thema auch ibid.: 296 ff.). 162 Diese Besonderheit des orthodoxen Menschenbildes wird unten in Kapitel 5 Personale Anthropologie im Kontext der neoorthodoxen Diskussion genauer dargestellt. 163 Ramfos GA 3: 126: über Symeon den Neuen Theologen.

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Platon und das Streben nach dem „mystischen Licht“

Vertretern einer westlichen „Gegenkultur“, die einen holistischen Ansatz verfolgen. Das Modell einer „ganzheitlichen“ Philosophie wird im 19. Jahrhundert besonders in Deutschland in Idealismus, Klassik und Romantik ausgearbeitet; es prägt eben die Philosophen, mit denen sich Ramfos besonders intensiv auseinandergesetzt hat, nämlich Friedrich Nietzsche und Martin Heidegger. Das 20. Jahrhundert brachte zudem mit dem Vitalismus, dem Holismus, der New Age- und der Ökologiebewegung eine Vielzahl von Gegenbewegungen zur technologischen Moderne hervor, die zwar höchst unterschiedliche Zielsetzungen verfolgen, aber darin übereinstimmen, […] dass sie sich als Opponenten zum mechanistischen Denken verstehen und auf die Gegenbegriffe zur Analyse, Zerstückelung, Kausalität usw., nämlich auf die Kategorien der Einheit, Ganzheit, Lebendigkeit und Spiritualität, bauen.164

In diesen breiteren Kontext kann auch die neoorthodoxe Strömung in Griechenland und zeitweise auch Ramfos’ Denken eingeordnet werden, in der sich nicht nur konservative und rückwärts gewandte Einstellungen spiegeln, sondern auch viele (ehemalige) linke Intellektuelle eine geistige Heimat gefunden haben und in die sich auch verschiedene andere Erneuerungsbewegungen aus der Mitte des 20. Jahrhunderts einordnen lassen.165 Der Vorwurf, die westliche, von der Scholastik beeinflusste Philosophie habe die Wahrheit auf die Übereinstimmung von Subjekt und Objekt reduziert, den Ramfos an vielen Stellen in seinen Schriften wiederholt, ähnelt der Philosophiekritik Heideggers, wenn dieser den ursprünglichen Wahrheitsbegriff der Griechen mit dem neuen Verständnis von Wahrheit kontrastiert, der sich bereits in Platons Philosophie abzeichne, wenn er sich auch erst in Aristoteles vollständig durchgesetzt habe. Sowohl Yannaras, der sich explizit auf die deutsche Existenzphilosophie beruft, als auch Ramfos lehnen sich in ihrer Kritik am westlichen Denken stark an Heidegger an. Andererseits sehen wir in Ramfos das Bemühen, Platons Philosophie im Besonderen, aber auch insgesamt die griechische Philosophie von angeblichen westlichen Fehlinterpretationen zu „reinigen“, das heißt, ihn in der griechischen, orthodoxen (und somit „richtigen“) Tradition zu lesen und ihn also wiederum in gewisser Weise gegen Heidegger zu verteidigen. Ramfos verlegt also aus seiner Sicht den Beginn des modernen europäischen Denkens auf die mittelalterliche lateinische Tradition und ihre Lektüre antiken Denkens, die Ansätze in die antike griechische Philosophie hineinträgt, die dort nicht vorhanden sind. 164 Gloy 1996: 155. 165 Makrides 1998: 141.

Das Auge der Seele. Plotins Entdeckung der Innerlichkeit

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Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Ramfos’ Platonlektüre eine doppelte Strategie verfolgt. Einerseits gilt es, Platon als zentrale Figur des griechischen Denkens im Licht der orthodoxen Tradition neu zu lesen und in gewisser Weise zu „dekolonialisieren“, die westlichen Interpretationsansätze zu überschreiben und das griechische Denken auf eine neue Basis zu stellen. Andererseits wird in der intensiven Auseinandersetzung mit Nietzsche und Heidegger aber deutlich, wie sehr Ramfos’ Denken in der westlichen Tradition der Modernekritik verwurzelt ist. Von hier aus ist die „Kehre“, seine spätere Hinwendung zu einer pro-westlichen Haltung, die ihn heute zu einem der vehementesten Verfechter einer Modernisierung Griechenlands macht, durchaus nachvollziehbar. Es muss aber auch unterstrichen werden, dass die von orthodoxen Denkern angeprangerte Fehldeutung der griechischen Antike durch die lateinische mittelalterliche Tradition sowohl Hegel166 als auch seinen Kritikern Nietzsche und Heidegger sehr wohl bewusst war. Sie alle entwickeln in der Tat ihre eigene Deutung der Philosophie Platons wie auch der gesamten griechischen Antike, um ihre Systeme oder auch deren Kritik zu legitimieren. Freilich gingen sie dabei zweifellos weniger naiv vor, als Ramfos und die orthodoxe Philosophie es in ihrer Polemik glauben machen wollen. Fest steht jedenfalls, dass um die korrekte Interpretation der Platonischen Philosophie auf abendländischer wie auch auf orthodoxer Seite nach wie vor gerungen wird, und in keinem der beiden Lager kaum ein neues System ohne die Legitimierung durch die Antike Bestand zu haben scheint. Anders betrachtet ist der erbitterte Kampf um die richtige Exegese der gemeinsamen Tradition aber auch ein Anzeichen dafür, dass sich diese kulturellen Räume trotz allem sehr nahestehen.

3.8  Das Auge der Seele. Plotins Entdeckung der Innerlichkeit Die religiöse Dimension der griechischen Philosophie, die Ramfos schon in Platons Werk angelegt sieht, findet in Plotin ihren Abschluss und Höhepunkt, bevor sie im Christentum aufgehoben wird.167 Für Ramfos stellt dessen Werk 166 „[…] il [Hegel, Anm. I. S.] précise bien que ‚ce que nous nommons immortalité de l’âme‘, car notre pensée à ce sujet a été radicalement modifiée par le christianisme, dans l’interprétation augustinienne de Platon, elle-même réinterprétée par Malebranche, et par conséquent nous ne mettons plus sous ces mots le contenu qu’y mettaient les Grecs.“ (Vieillard-Baron 1979: 253). 167 „Eine natürliche Theologie, die Religion und Philosophie verbindet, fragt nach einem letzten, überpersönlichen Einen. Ausgehend von der alten „orphischen“ Einheitsidee („Aus einem ist alles geworden und in eines kehrt alles zurück“: vgl. Diels 1879: 179

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Platon und das Streben nach dem „mystischen Licht“

einen weiteren Meilenstein in der Entwicklung des griechischen Seelenlebens dar; in dem ursprünglich als Trilogie geplanten Werk Μεταφυσικὴ τοῦ Κάλλους [Metaphysik der Schönheit]168 fungieren die Schriften Plotins über das Schöne als Bindeglied zwischen dem Seelenflug im Phaidros und den mystischen Höhen der Väter der Nüchternheit in der Philokalia. So schreibt Ramfos beispielsweise über Symeon, den Neuen Theologen, von dem einige Texte ebenfalls in der Sammlung der Philokalia vertreten sind:169 Konsequent in der antiken philosophischen Tradition identifiziert Symeon die Schönheit mit dem Licht. Vom ἐκφανέστατον des Platondialogs Phaidros über die Licht-Energie des Geistes in den entsprechenden Abhandlungen des Plotin (I, 6 und V, 8) und von dort zu seinen [des Symeon, Anm. I.S.] Hymnen der göttlichen Liebe ist die Kontinuität ungebrochen.170

In Plotins Werk wird der philosophische Weg des Aufstiegs zum Absoluten genauer ausgearbeitet, und in einem Weltbild verankert, das die Entstehung des Kosmos der Trias von Einem (Ἕν), Nous (Νοῦς) und Seele (ψυχή) verdankt. Das Eine, das grundsätzlich nur sich selbst reflektiert, bringt die Zweiheit hervor und damit den Nous, der sich wiederum in Form der Seele in die materielle Welt verströmt. Für die Welt ist das Eine die voraussetzungslose Voraussetzung, ohne dass man jedoch von einer Schöpfung ex nihilo sprechen könnte; es handelt sich vielmehr um eine Organisation der immer vorhandenen ungeordneten Materie. sowie den orphischen Zeushymnus bei Plat. Leg. IV 715 e) findet sie ihren krönenden Abschluss in der monistischen Begriffsmetaphysik Plotins mit der Idee des Einen (῞Εν). In ihm hat das All seinen Ermöglichungsgrund und von ihm geht der Nous aus (Plot. I 7, 1; VI 8, 20; VI 9, 4; VI 9, 9).“ (Woschnitz/Hutter/Prenner 1989: 58, Anm. 32). 168 Ramfos GA 13, erschienen 2003. 169 Ramfos behandelt diesen Autor in drei unterschiedlich umfangreichen Werken, Ἡ πολιτεία τοῦ Νέου Θεολόγου [Das Wirken des Neuen Theologen], verfasst 1981, jetzt in GA 3, 93–195, Φιλόσοφος καὶ θεῖος ἔρως [Philosophischer und göttlicher Eros], GA 7, Athen 1999, zuerst erschienen 1989, 127–260, sowie Τὸ ἀδιανόητο τίποτα. Φιλοκαλικὰ ῥιζώματα τοῦ νεοελληνικοῦ μηδενισμοῦ [Das undurchschaubare Nichts. Die Wurzeln des neugriechischen Nihilismus in der Philokalia], GA 18, Athen 2010, 283–320. Zur unterschiedlichen Bewertung des Theologen in den Phasen des Werkes von Ramfos siehe unten Kapitel 4.5 Gottesschau und byzantinischer Humanismus: Symeon der Neue Theologe. 170 „Συνεπὴς πρὸς τὴν ἀρχαία φιλοσοφικὴ παράδοσι ὁ Συμεὼν ταυτίζει τὸ κάλλος μὲ τὸ φῶς. Ἀπὸ τὸ ἐκφανέστατον τοῦ πλατωνικοῦ Φαίδρου στὸ φῶς-ἐνέργεια τοῦ νοῦ τῶν ἐπὶ τούτου διατριβῶν τοῦ Πλωτίνου (I, 6 καὶ V, 8) καὶ ἀπὸ ἐκεῖ στοὺς δικούς του Ὕμνους θείων ἐρώτων, ἡ συνέχεια εἶναι ἀδιάσπαστη.“ (Ramfos GA 7: 247, Hervorhebungen vom Autor).

Das Auge der Seele. Plotins Entdeckung der Innerlichkeit

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Die Seele entsteht aus dem Nous, der sich verteilt, und sie verleiht der formlosen Materie das Leben. Jede irdische Einzelseele hat an ihr Teil und trägt somit einen göttlichen Funken in die Welt. Dem kosmologischen Modell folgt auch ein ethisches; dem Abstieg vom Einen über den Nous und die Seele in die Welt entspricht nach Ramfos auf der anderen Seite der Aufstieg der individuellen Seele zurück zum Einen als Ausweg aus der schmerzhaften Zersplitterung in der Welt: Wir sind Seelen, die vom göttlichen Nous und dem schöpferischen Logos des Einen abstammen, die Seele als Abkömmling des Einen hat nur die eine Aufgabe, der materiellen Existenz ein Ende zu setzen, sich von ihrem Gewicht zu befreien und sich so weit wie möglich dem Einen zuzuwenden.171

Mit dieser Konzentration auf die Seele und ihre Verbindung über die Weltseele zum Absoluten entwickelt Plotin die platonische Vorstellung von einer unsterblichen Seele, die eine Existenz auch nach dem Tode besitzt, wesentlich weiter. Der ethische Auftrag der philosophischen Lebensweise wird dringlicher, die Abwendung von der Welt deutlicher; der Körper als die materielle Seite des Menschen wird weiter in den Hintergrund gerückt. Die Unsicherheit der menschlichen Existenz im dritten nachchristlichen Jahrhundert scheint radikalere Ansprüche an die Philosophie gestellt und das Individuum mehr auf sich selbst zurückgeworfen zu haben, als dies im Athen zur Zeit Platons der Fall war; jedenfalls verspürte der Mensch in jener Epoche den göttlichen Funken in sich selbst und sehnte sich danach, in der Vereinigung mit dem Einen selbst göttlich werden. Hier wird deutlich, wie der philosophische Weg nicht mehr nur als die höchste Tugend im Diesseits und insgesamt als die beste Lebensform betrachtet wurde, sondern dass er lehrt, wie man der traurigen conditio humana in einer regelrechten Flucht aus der Welt entkommen kann.172 Mehr und mehr richtete sich der Blick nach innen, der sokratische Imperativ γνῶθι σαὐτόν – erkenne dich selbst wurde zur ersten Stufe einer Suche nach dem Göttlichen im eigenen Ich. In Plotins Philosophie, die durchaus heilsbringerische Züge trägt, konkretisiert sich nach Ramfos einmal mehr der griechische Urmythos von der menschlichen Geworfenheit und den Irrwegen, auf die eine mangelhafte materielle Welt und unvollständige Sinneseindrücke den Menschen führen, und weiterhin die

171 „Εἴμαστε ψυχὲς προερχόμενες ἀπὸ τὸν θεῖο Νοῦ καὶ δημιουργὸ λόγο τοῦ Ἑνός. Ἡ Ψυχὴ ὡς προέκτασι τοῦ Ἑνὸς ἔχει ἀποκλειστικὸ ἔργο νὰ τελειώσῃ τὴν ὑλικὴ ὕπαρξη, νὰ τὴν ἐλευθερώσῃ ἀπὸ τὸ βάρος της καὶ νὰ στρέψῃ πρὸς τὸ Ἓν κατὰ τὸ δυνατόν.“ (Ramfos GA 13: 211 f.). 172 Ramfos GA 13: 212.

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Platon und das Streben nach dem „mystischen Licht“

Botschaft von einem Ausweg, der in einer Neuordnung des Lebens und einer Hinwendung zu sich selbst und Gott besteht, als einem Weg vom Dunkeln ins Licht und vom Irrtum zur Wahrheit. Parallelen zur Gnosis und ihrem strengen Dualismus, der die irdische Welt als Produkt eines bösen Schöpfergottes oder Demiurgen begreift, sind nicht zu übersehen, wenn Plotin sich auch vehement gegen die Vorstellung zweier widerstreitender Welten, einer spirituellen und einer materiellen, wehrt.173 Dennoch gilt für ihn die Reinigung der Seele, das heißt, ihre Trennung vom Körper, als Voraussetzung für ein philosophisch geleitetes Leben. Zwar wohnt dem Menschen ein göttlicher Teil inne, dieser kann aber nur dann zur Geltung kommen, wenn die Abkehr von Körper und Sinnlichkeit vollständig vollzogen ist. Wenn aber die „Reinigung eine Tugend“ ist (I 6) und jeder Körper nichts weiter als ein schwaches Abbild (εἴδωλον)174 der Seele, die ihn belebt, bleibt für die wahre Erkenntnis nur noch der Blick nach innen. Hierzu öffnet sich ein drittes Auge, das Auge der Seele; während die körperlichen Augen die Welt aufgrund ihrer Feuernatur mithilfe des Sonnenlichts wahrnehmen, kann das Auge der Seele in Analogie hierzu das Licht des Guten erblicken, da es selbst ein Teil dessen ist. Ist das Gute der Seele nicht sichtbar, wird das innere Auge aktiv und arbeitet wie ein Bildhauer; es meißelt, glättet und poliert, bis die Figur vollendet ist und das göttliche Licht darauf erglänzt. Sobald das innere Auge mit sich selbst eins wird, ohne dass es negative Einflüsse stören, wird es zum wahren Licht, jenseits von Maß und Grenze, und kann die transzendente Schönheit betrachten. Unmittelbar über der absoluten Schönheit steht das absolute Gute, das die Quelle der Schönheit ist (I 6, 9). Für Plotin spielt die Verbindung von wahrer Erkenntnis und mystischer Vereinigung eine wichtige Rolle, was als zentrales Motiv im orthodoxen Christentum weiter existieren wird: Nun ist das Ziel, dass das innere Selbst zum Licht wird, eine Gestalt, die die göttliche Natur der Seele mit dem von den Affekten gereinigten Willen des Körpers und die Besonnenheit zur Siegerin auf den heiligen Sockel erhebt. Als Licht kann sie sich nun dem Licht des Schönen zuwenden und es betrachten […] Die Seele kann entsprechend unserer Reinheit bzw. Befleckung sehen und unter diesem Gesichtspunkt entspricht ihre Vision

173 Plotin, Enneaden II, 9: Πρὸς τοὺς κακὸν τὸν δημιουργὸν τοῦ κόσμου καὶ τὸν κόσμον κακὸν εἶναι λέγοντας [Gegen die Anhänger der Behauptung, der Schöpfer der Welt sei schlecht], vgl. auch Ramfos GA 3: 137 und GA 13: 64. 174 Zum Verhältnis Körper und Seele wie Abbild und Original s. Porphyrios, Vita Plotini 1,7 und Ramfos GA 13: 219 f. mit Verweis auf Stern-Gillet 1997.

Das Auge der Seele. Plotins Entdeckung der Innerlichkeit

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einem aufsteigenden Weg von der sinnlich wahrnehmbaren Schönheit zum gedachten, authentischen Schönen.175

Mit der Einführung des inneren Auges erhält die Seele eine neue Tiefendimension, da sich mit dem Übergang der Betrachtung der sinnlich erfahrbaren Schönheit zur geistigen Schönheit der Blick nach innen richtet. Das Schöne wird also gänzlich spirituell und immateriell. Weiterhin erweitert sich jedoch auch dramatisch die Ausdehnung der Innerlichkeit, die, aufgrund ihrer Verwandtschaft mit dem Guten, mit diesem in direkter Kommunikation steht: Das Bewusstsein erkennt also das Ich als freies Subjekt an, es erkennt es als unbefleckte Seele an, eine reine Form, die sich dem Nous wieder zuwendet in den Gedanken an das Ganze, von dem es abgefallen war. Indem es zum Nous aufsteigt, gelangt das individuelle Ich (bei Plotin ἡμεῖς) zu einer Gesamtschau der Wirklichkeit, innerhalb derer die Teilung drastisch zurückgedrängt wird und sich fast verliert.176

Die Entwicklung der Innerlichkeit, die Ramfos in der griechischen Philosophie sieht, ist somit fast ganz vollzogen. Wir haben beobachtet, wie von der fremdbestimmten, nur über den Umweg der gesellschaftlichen Anerkennung sichtbar gewordenen Selbstreflexion der homerischen Zeit der Mensch mit der Entwicklung der Athener Demokratie, der Herausbildung der Mysterienkulte und in Platons Philosophie in einem gewaltigen Entwicklungssprung zu einer nie gekannten Selbstbestimmung gelangte. Um diese zu realisieren, musste er sich jedoch auch einer ständigen Gewissensprüfung und Selbstbetrachtung unterziehen, um die Freiheit, die ihm in dieser Individualisierung ante litteram zur Verfügung stand, zu nutzen. In der Zeit des römischen Kaiserreichs und in der Spätantike wurden die Grenzen der bekannten Welt noch weiter hinausgeschoben, was neben der Entgrenzung des menschlichen Bewusstseins eine schwerwiegende Bedrohung vermittelte. Politische Unsicherheit und Existenzängste verstärkten somit, wie Ramfos in seiner Plotin-Inter175 „Σκοπὸς τώρα εἶναι ὁ ἐντὸς ἑαυτὸς νὰ γίνει φῶς, μορφὴ ποὺ ἑνώνει τὴν θεία φύσι τῆς ψυχῆς μὲ τὴν κεκαθαρμένη ἀπὸ πάθη θέλησι τοῦ σώματος καὶ ἀνεβάζει τὴν σωφροσύνη νικήτρια στὸ ἱερὸ βάθρο. Ὡς φῶς μπορεῖ τότε νὰ στραφῇ πρὸς τὸ φῶς τοῦ Ὡραίου καὶ νὰ τὸ ἀτενίσῃ. […] Ἡ ψυχὴ βλέπει ἀναλόγως τῆς καθαρότητος ἢ τῆς μιάνσεώς μας, ὑπ’ αὐτὴν τὴν ἔννοια ἡ θέα της ἀντιστοιχεῖ σὲ ἀνοδικὴ πορεία ἀπὸ τὸ αἰσθητὸ κάλλος πρὸς τὸ νοητό, τὸ αὐθεντικὸ κάλλος.“ (Ramfos GA 13: 305 f.). 176 „Ἡ συνείδησι ἔτσι ἀναγνωρίζει τὸ Ἐγὼ ἐλεύθερο ὑποκείμενο, τὸ δέχεται ὡς ἀμίαντη ψυχή, μορφὴ καθαρὴ ἡ ὁποία ξαναγυρνᾷ στὸν Νοῦ, στὴν σκέψη τοῦ ὅλου ἀπ’ ὅπου καὶ ἐξέπεσε. Καθὼς ἀνέρχεται στὸν Νοῦ, τὸ ἀτομικὸ Ἐγὼ (ἡμεῖς) ἐπιτυγχάνει καθολικὴ θέασι τῆς πραγματικότητος, ἐντὸς τῆς ὁποίας ἡ μερικότης ὑποχωρεῖ δραστικὰ ἕως χάνεται.“ (Ibid.: 307).

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Platon und das Streben nach dem „mystischen Licht“

pretation darlegt, die Entwicklung der Innerlichkeit und die Neigung, nicht nur an das irdische Leben zu glauben.177 Von hier ist es nur noch ein kleiner Schritt zur christlichen Introspektion, von der im folgenden Kapitel die Rede sein soll.

177 Bei dieser Einschätzung folgt Ramfos der Interpretationslinie von Peter Brown (1978; 1988; 1995; 1996); dazu ausführlicher im folgenden Kapitel 4.1 Der Übergang von der antiken zur christlichen Innerlichkeit.

4 Orthodoxe monastische Mystik und platonisches Erbe 4.1 Der Übergang von der antiken zur christlichen Innerlichkeit Im vorangegangenen Kapitel wurden die wichtigsten Interpretationsansätze von Ramfos in Bezug auf das platonische und neuplatonische Denksystem und Weltund Menschenbild vorgestellt. Wir konnten feststellen, dass Ramfos im Zentrum dieses Denkens ein Streben nach dem „überirdischen Licht“ ansiedelt, das als Symbol für die Idee des Guten eine starke Sogwirkung auf die menschliche Seele ausübt, welche sich in einer Hinwendung zur Innerlichkeit und zum philosophischen Eros manifestiert. In dieser unwiderstehlichen Sehnsucht sieht Ramfos die Voraussetzung für den Aufstieg des Menschen aus seiner materiellen Befangenheit hin zu seinem besseren Selbst, was letzten Endes das Ziel des philosophischen „Übung im Sterben“, der μελέτη θανάτου,1 ist: die Befreiung von weltlichen Abhängigkeiten als Vorbereitung auf die Ewigkeit.2 Hier überschneiden sich die Interessen von antiker Philosophie und christlicher Glaubenslehre wie kaum an anderer Stelle, und so ist es nicht verwunderlich, dass die frühen christlichen Denker, die sich trotz des insgesamt sehr unterschiedlichen Weltbildes dennoch der antiken griechischen Kultur nahe fühlten, hier Parallelen sahen und Teile von deren philosophischen Systemen übernahmen und in die Sprache des Evangeliums übersetzten.3

Der Begriff stammt aus Platons Phaidon 64 a 4 und klingt noch in Heideggers Deutung des Daseins als Sein-zum-Tode nach. Anders als Heidegger mit seiner Metaphysikkritik versteht Ramfos den Tod in der antiken Philosophie jedoch als Befreiung des Menschen vom irdischen Leben. 2 „Μελέτη θανάτου σημαίνει προετοιμασία γιὰ τὴν αἰωνότητα. Θὰ ἔλεγα μάλιστα πρακτικὴ τῆς αἰωνότητος, μιὰ πλήρωσι τῆς πράξεως καὶ τῆς ὑπάρξεως ἐλευθερωτική. Ὡς βίωμα ἐλευθερίας ἡ μελέτη θανάτου εἶναι συνώνυμο τοῦ ἑλληνισμοῦ.“ [„Melete thanatou bedeutet Vorbereitung auf die Ewigkeit. Ich würde sogar sagen, die Praxis der Ewigkeit, eine befreiende Vollendung der Praxis und des Daseins. Als Umsetzung der Freiheit ist die melete thanatou gleichbedeutend mit Hellenentum.“] (Ramfos GA 2: 103). 3 Stefaniw beispielsweise argumentiert gegen die Vorstellung, es hätte in der Kaiserzeit zwei konkurrierende kulturelle Systeme gegeben, die sich voneinander Begriffe 1

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Orthodoxe monastische Mystik und platonisches Erbe

Nichtsdestotrotz weisen die beiden Weltbilder, als Ausdruck der christlichen und der antiken Kultur, erhebliche Differenzen auf; ihre gegenseitige Vermischung wird allerdings ganz unterschiedlich beurteilt: Die philosophiehistorische Forschung im Westen auf den kulturellen Bruch hin, der sich infolge der Etablierung des Christentums manifestiert hat.4 Der große Erfolg des Christentums und dessen Ausbreitung im Mittelmeerraum vom 2.–4. Jh. hatte zweifelsohne soziale, politische und wirtschaftliche Gründe.5 Peter Brown betont insbesondere die soziale und weltanschauliche Neuausrichtung, in der sich das Christentum etabliert du in gewisser Weise in eine Lücke schlüpft, die der Zusammenbruch des gesellschaftlichen Systems gelassen hatte: Es bot eine Gemeinschaft, die in symbolischer Form den Zusammenbruch jenes Gleichgewichts akzeptierte, auf dem die traditionelle heidnische Gemeinschaft geruht hatte. Ihre Initiation sollte Menschen hervorbringen, die die Komplexitäten ihrer irdischen Identität abgelegt hatten. Ihr Ethos ging von einer eher atomistischen Auffassung des Menschen aus, der nun weniger als früher durch verwandtschaftliche, nachbarschaftliche und regionale Bande gebunden war.6

Ramfos hingegen betont dennoch eine Kontinuität von platonischer Philosophie und orthodoxer christlicher Lehre, weil dies besser in sein hellenisches Geschichtsbild passt und weil so auch der Unterschied zur westlichen Tradition schärfer dargestellt werden kann. In Ramfos’ Denken spielt Platons zentraler Begriff des Eros eine sehr bedeutsame Rolle. So kann auch nicht verwundern, dass auch für seine Definition der kulturellen Unterschiede zwischen Ost und West die Liebesauffassung von zentraler Bedeutung ist.7 Der Eros, der bei Platon der innere Motor des Menschen

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und Vorstellungen ausborgten; vielmehr wiesen die offensichtlichen Parallelen auf ein religiös-weltanschaulich neutrales Begriffssystem hin, innerhalb dessen sich alle gesellschaftlichen Gruppen einschließlich der „Heiden, Gnostiker, Juden, Arianer oder Orthodoxe“ bewegen konnten (Stefaniw 2010: 383). Zu den teilweise gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen den religiösen Gruppen in der Spätantike vgl. auch die Werke von Athanassiadi, insbesondere 2010 und 2015. Als ein Beispiel unter vielen soll hier Hadot zitiert werden: „[…] on pouvait alors se demander légitimement si le mysticisme néoplatonicien n’avait pas influencé considérablement le mysticisme chrétien et, question plus grave encore, si l’influence platonicienne n’avait pas introduit dans le christianisme quelque chose qui était étranger à son essence.“ (Hadot 1999: 7). Martin 2001: 109–146 (mit Forschungsbericht 207–224). Brown 1995: 106. Vgl. id. 1996: 31 ff. Der Aspekt der Individualisierung in der Entwicklung der Liebesauffassung wird unten in Kapitel 5.4.2 „Individualistische“ vs. „metaphysische“ Liebe in Ost und West näher beleuchtet.

Der Übergang von der antiken zur christlichen Innerlichkeit

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war und der ihn zur Selbstvollendung antreibt, entwickelt sich nicht erst im Christentum zu einer weitaus stärkeren Energie kosmischen Ausmaßes.8 Losgelöst von der Verbindung mit der menschlichen Fortpflanzung verschmilzt er schon im Neuplatonismus mit dem Guten, und von einem menschlichen Antrieb, sich zu erheben, wird die Liebe in der Form der Agape (ἀγάπη) zu einem göttlichen Attribut, das die Freude des Schöpfers an der Schöpfung (Plotin: αὐτέρως) ausdrückt. Ramfos gibt der Vermutung Ausdruck, dass diese Verschiebung möglicherweise dem christlichen Einfluss auf Proklos zuzuschreiben ist.9 Bei Proklos sehen wir die größte Annäherung der beiden Formen der Liebe im Zyklus des Sich-Verströmens des Einen in die Welt mit der Rückkehr zu sich; somit kehrt sich die Richtung der Liebe um von einem Drang zum Aufstieg zum Abstieg der göttlichen Gnade. In jedem Fall war im christlichen Denken die Wesensähnlichkeit von Seele und Gott nicht mehr gegeben, die bei den Platonikern die unmittelbare Kommunikation dieser beiden Sphären ermöglicht hatte; im Gegenteil, das Verhältnis Gottes zu seinem Geschöpf war nun gekennzeichnet von einem unüberwindlichen ontologischen Unterschied. Das Streben des Menschen nach Vergöttlichung, der ὁμοίωσις θεῷ, wurde nun ersetzt durch die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus. Fortan wird die christlichen Denker, ebenso wie zuvor die antiken Philosophen, das Verhältnis von Seele und Gott beschäftigen, mit dem Unterschied jedoch, dass die creatio ex nihilo, die Schöpfung aus dem Nichts gemäß der jüdischchristlichen Tradition, diesem Verhältnis ein völlig anderes Gesicht gegeben hat. Die Überzeugung, dass Geist und Materie nicht mehr gleichwertig und gleichzeitig nebeneinander existieren und sich gegenseitig durchdringen, sondern dass der Geist in Gott die Materie erst erschaffen hat und ihr somit ontologisch und zeitlich vorangestellt ist, zeigt den fundamentalen Unterschied beider Weltbilder. Der antike Mensch trug einen, wenn auch von den irdischen Einflüssen, also von den irreführenden Eindrücken seiner Sinne und den daraus resultierenden falschen Begierden völlig überwucherten und kaum erkennbaren göttlichen Funken noch in sich. Er konnte durch philosophische Askese freigelegt und zum Leuchten gebracht werden. Eine Befreiung aus eigener Kraft war hier durchaus möglich und der Aufstieg zum Licht galt als letzte Konsequenz der philosophischen Praxis. 8 Zur Geschichte der Begriffe Eros und Agape zieht Ramfos das Standardwerk von Anders Nygren Den kristna karlekstanken genom tidema: Eros och Agape [Die christliche Idee der Liebe im Laufe der Zeit: Eros und Agape] III, Stockholm 1930–36, engl. Übersetzung von Philip S. Watson, Agape and Eros, London 1953, heran. 9 Ramfos GA 7: 127.

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Die „göttliche Hilfe“ wird allerdings in der Figur des Mystagogen in der Mystik oder des guten Pädagogen und geistigen Führers in der Philosophie spürbar.10 Wird Gott jedoch der Schöpfer des Universums betrachtet, kann folgerichtig das Geschöpf nicht von sich aus den Sprung aus diesem heraus bewerkstelligen.11 Die einzige Möglichkeit der Überwindung des Gegensatzes von Schöpfer und Geschöpf war die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus, in der Gott in seiner Liebe, der Agape, das größtmögliche Opfer brachte, nämlich das Opfer des eigenen Sohnes, um die Menschheit zu retten. Die Liebe hat sich nun von einem menschlichen Gefühl, das den Menschen zur Überwindung der eigenen Grenzen befähigte, verwandelt in eine kosmische göttliche Energie, die die Welt belebt und bewegt; so spricht auch Dante Alighieri im (lateinischen) Hochmittelalter von l’amor che muove il sole e l’altre stelle.12 Im orthodoxen Kontext betrachtet Ramfos die Liebe einerseits als innere Bewegung des Menschen, anderseits aber auch als eine göttliche Macht, die sich insbesondere in der Gnade manifestiert.

4.2  Die christlich-orthodoxe mystische Tradition In seiner mittleren Schaffensphase widmete sich Ramfos verstärkt dem Studium des frühen christlichen Denkens in griechischer Sprache. Sein Interpretationsansatz lässt sich hier als „neoorthodox“ charakterisieren, das heißt, er steht hier, wie schon oben in Kapitel 2.5 Westorientierung Griechenlands und Gegenbewegungen ausgeführt, in jener theologischen und religionsphilosophischen Tradition, die sich aus der russischen Theologie der Diaspora entwickelt hat.13 Da in der griechischen Diskussion der Terminus „neoorthodox“ auch in gewisser Weise zu einem Kampfbegriff geworden ist,14 dem auch negative Konnotationen anhaften, zum einen seitens der Linken, konservativ, reaktionär und nationalistisch zu sein, vonseiten konservativer Theologen wiederum, politisch links zu stehen, hat sich in der jüngeren theologischen Diskussion zu dieser geistigen Strömung die 10 Erler untersucht die Beschreibung des Wirkens des philosophischen Lehrers insbesondere im Neuplatonismus, der heilsbringerische Zuge tragt und gut in das Bild des göttlichen Menschen passt, das sich in der Spätantike entwickelt hat und im Christentum häufig übernommen wurde (Erler 2002). 11 Zizioulas 2006: 14–32. 12 So schließt die Vision des Paradieses und das Hauptwerk des Dante Alighieri, La Divina Commedia, Paradiso XXXIII, 145. 13 Zur Entwicklung siehe unten Kapitel 5 Personale Anthropologie im Kontext der neoorthodoxen Diskussion. 14 Vgl. Plested 2012: 205 mit Anm. 82.

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neutrale Bezeichnung Theologie der sechziger Jahre15 eingebürgert. Da die neoorthodoxe Strömung jedoch nicht nur von Theologen getragen wurde, behalten wir in dieser Arbeit diese Bezeichnung dann bei, wenn pauschal von der gesamten Bewegung die Rede ist. Bei ausschließlich theologischen Themen und Auseinandersetzungen verwenden wir die Bezeichnung der Theologie der sechziger Jahre, wobei ausdrücklich darauf hinzuweisen ist, dass in unterschiedlichen Texten die beiden Bezeichnungen in der Regel synonym gebraucht werden. Wie an späterer Stelle noch ausführlicher dargestellt werden wird,16 entsteht die russische Exiltheologie aus dem Versuch, zum einen die orthodoxe Theologie im Westen bekannter zu machen und zum anderen, diese von der westlichen Tradition eindeutig abzusetzen. Im Anschluss an Florowski begreift Losski, nicht nur orthodoxer Theologe, sondern auch Schüler des französischen Mediävisten Étienne Gilson (1884–1978) und profunder Kenner des westlichen Mittelalters, die gesamte Geschichte des östlichen Christentums als eine Weiterentwicklung der christlichen Mystik.17 Damit legt er den Grundstein für die Themen, die insbesondere griechische Theologen in den sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts aufgreifen und ausarbeiten werden. Losski zufolge ist das Wesen und der Gipfel der orthodoxen Religion die Mystik, also die ausschließliche Beschäftigung mit Gott mit dem Ziel, sich mit ihm zu vereinen. Diese Vereinigung, die von den Kirchenvätern je nach Kontext unterschiedlich als Gottesschau, Theognosie oder Vergöttlichung des Menschen bezeichnet wird, geht zum einen vom Menschen aus; sie vollzieht gleichsam eine Bewegung nach „oben“. Es existiert jedoch auch die umgekehrte Bewegung des Abstiegs Gottes in die Schöpfung in Form der göttlichen Gnade, in der sich Gott ständig manifestiert, ebenso wie in der Inkarnation in Christus. Das zweite Element dieser soteriologischen Auffassung ist ein stufenartiges Weltbild. Der Aufstieg des Menschen vollzieht sich demnach in einem schrittweisen Verlassen der Materie in einer inneren Reinigung, die in eine stets zunehmende Unabhängigkeit von der Welt bis hin zum Verlassen derselben mündet. Dieses Element der mystischen Theologie, wie sie Losski beschrieben hat, war der Ausgangspunkt für das große Interesse an der frühen monastischen Tradition seitens seiner Schüler und schließlich auch der neoorthodoxen Denker. 15 Etwa bei der Konferenz, die diese im Titel tragt und dem dazu gehörigen Tagungsband von Kalaitzidis, Papathanasiou und Ampatzidis, der aus den Arbeiten eines theologischen Kongresses in Volos 2005 entstanden ist (Kalaitzidis/Papathanasiou/ Ampatzidis 2009). 16 Vgl. unten Kapitel 5.2 Die russische Exiltheologie und die neoorthodoxe Strömung. 17 Lossky 1944.

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Auch die Tendenz von Ramfos, die Offenbarung mit Erleuchtung gleichzusetzen sowie die große Bedeutung, die dem Licht als Erscheinungsform Gottes beigemessen wird, geht auf Losskis Einfluss18 und den seiner Schüler, insbesondere Georgi Florowski zurück. Losski beruft sich auf eine starke orthodoxe Tradition, deren Textauswahl, angefangen von den Schriften des Evagrios Pontikos (345–399) über Symeon den Neuen Theologen bis hin zu Gregor Palamas reicht. Auch traf er für späteren, sich auf ihn stützenden Theologen, aber auch den Kulturphilosophen Ramfos, aus der gesamten Tradition sozusagen eine Vorauswahl. Die oben genannte Auswahl von theologischen Texten und besonders das Weglassen anderer, im Mittelalter und darüber hinaus sehr bedeutsamer Autoren wie beispielsweise Athanasios dem Großen und Johannes Chrysostomos, ist freilich ebenfalls tendenziös. Mit der Betonung der Vergöttlichung des Menschen als Zentrum und Ziel der orthodoxen Religion wird der griechischen Theologie der sechziger Jahre eine bestimmte Ausrichtung gegeben, die wiederum andere Aspekte der Theologie unterdrückt hat. Wie Papalexandropoulos betont,19 fällt damit ein ganzer Zweig der orthodoxen Religiosität weg, nämlich der der […] Ökonomie, welche in der Reihe von Praktiken besteht, aus denen Gott für die Rettung der Welt hervorgeht. […] Das ganze Christentum wird auf eine Kommunikation mit Gott reduziert.20

Ramfos’ intensive Beschäftigung mit der orthodoxen monastischen Tradition ist also im Kontext einer neuen Orientierung an der neoorthodoxen griechischen Theologie der sechziger Jahre zu verstehen.21 Diese legte also, wie oben 18 „The Bible is full of expressions relating to the light, to the divine illumination, to God who is called Light. In the mystical theology of the Eastern Church, these expressions are not used as metaphors or as figures of speech, but as expressions of the Godhead. […] Gnosis, the highest stage of awareness of the divine, is an experience of uncreated light, the experience of itself being light.“ (Lossky 1976: 218). 19 Papalexandropoulos 2009 schildert den Beitrag der russischen Exiltheologie zur griechischen Theologie der sechziger Jahre. 20 „[…] δηλαδὴ τῆς ὀνομαζόμενης θείας οἰκονομίας, ἡ ὁποία συνίσταται μὲ τὴν σειρὰ τῶν πράξεων, στὶς ὁποῖες προβαίνει ὁ Θεός, γιὰ τὴν σωτηρία τοῦ κόσμου. […] Ὁλόκληρος ὁ Χριστιανισμὸς μεταποιεῖται σὲ μιὰ ἐπικοινωνία (καὶ μόνο) μὲ τὸν Θεό.“ (Papalexandropoulos 2009: 57). 21 Einen anderen Zugang zum byzantinischen Mönchtum hatte der in Deutschland tätige Soziologe Demosthenes Savramis. Er versuchte, das orthodoxe Mönchtum in seiner Dissertation Zur Soziologie des byzantinischen Mönchtums (1962) nach soziologischen Kriterien zu untersuchen. Dabei wies er vor allem auf die positiven Auswirkungen des Mönchtums auf die byzantinische und moderne griechische Gesellschaft hin,

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erläutert, großen Wert auf den mystischen Aspekt der Orthodoxie. Von westlichen Theologen wiederum wurde die orthodoxe Theologie ebenfalls oft als „mystisch“ bezeichnet, was nach Louth, dessen Werk über den Ursprung der christlichen mystischen Tradition22 eine ganze Generation von orthodoxen Theologen stark beeinflusst hat, einerseits eine Charakterisierung sein konnte, aber wohl eher als ein Hinweis auf einen gewissen Defekt zu verstehen ist; die östliche Theologie sei demzufolge weniger „dogmatisch“, in ihren Differenzierungen diffuser und in gewisser Weise chaotisch.23 Diese begriffliche Verwirrung lässt sich am ehesten dadurch auflösen, dass man sich bewusst macht, dass dogmatische und mystische Theologie eng miteinander verbunden sind und einander benötigen. Wie Louth bemerkt, fällt die Entwicklung beider Aspekte in der christlichen Theologie in die gleiche Phase der Patristik einschließlich der areopagitischen Schriften: The basic doctrines of the Trinity and Incarnation, worked out in these centuries, are mystical doctrines formulated dogmatically. That is to say, mystical theology provides the context for direct apprehension of the God who has revealed himself in Christ and dwells within us through the Holy Spirit; while dogmatic theology attempts to incarnate those apprehensions in objectively precise terms which then, in their turn, inspire a mystical understanding of the God who has thus revealed himself which is specifically Christian.24

Dies bedeutet auch, dass aus orthodoxer Perspektive die westliche Trennung von mystischer und dogmatischer Theologie zumindest für die Zeit der Kirchenväter künstlich ist.25 Für den antiken wie christlichen Denker griechischer Prägung ist demnach der Erkenntnisvorgang keine reine Verstandesaktivität. Er bezieht als „höheres Sehen“ gleichzeitig sinnliche und emotionale Aspekte mit ein. Der Nous des Plotin ist nicht allein der Verstand, was in modernen Übersetzungen schon zu Irritationen führt,26 sondern eine Intuition, die im buchstäblichen Sinne zum einen auf ihren Einfluss auf die Politik des Kaiserreiches, zum anderen auf ihre kulturelle Bedeutung, insofern als in den Klöstern ein großer Beitrag zur kulturellen und religiösen Vereinheitlichung im byzantinischen Vielvölkerstaat geleistet worden ist, wies aber auch auf negative Auswirkungen hin. 22 Louth 2007. Im Nachwort zu dieser Neuauflage setzt sich Louth mit verschiedenen Auffassungen der Mystik auseinander und präzisiert seinen Untersuchungsgegenstand. 23 Louth 2007: ix. 24 Ibd.: x. 25 „But, in the fathers, there is no divorce between dogmatic and mystical theology.“ (Ibid.: xi). 26 Plotinus: The Enneads, übersetzt von S. MacKenna, überarbeitet von B. S. Page, London, 4. Aufl. 1969: xxv, zitiert nach Louth 2007: xv. Im Folgenden habe ich mich dafür entschieden, den Begriff Nous unübersetzt zu lassen, um die deutsche Übersetzung

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„begreift“ und den Abstand zwischen Erkennendem und Erkanntem ignoriert. So schreibt Festugière: [the soul] aspires to a knowledge that is a direct contact, a “feeling” (sentiment), a touching, something seen. It aspires to a union where there is total fusion, the interpenetration of two living things.27

Auch Ramfos unterstreicht die Gefahr, als moderner, von der cartesianischen Logik beeinflusster Leser, den Erkenntnisvorgang in den griechischen, paganen wie christlichen Autoren jener Epoche falsch zu verstehen.28 Diese bewegten sich noch vollständig in den von der platonischen Philosophie gesteckten Grenzen und verlegten das Denken nicht ausschließlich in den Verstand des Denkenden. Im Gegenteil: die Voraussetzung für die richtige Erkenntnis war ein bestimmter Lebensstil, der den Menschen so formte, dass eine Annäherung an das Eine, Wahre und Gute möglich wurde. Auf der anderen Seite bewirkte dessen Erkenntnis auch eine radikale Veränderung im Menschen. Im Symposion und im Phaidros schildert Platon beispielhaft, wie die Erfahrung des Schönen den Menschen „plötzlich“ (ἐξαίφνης) überfallt.29 Die Erschütterung, die eine solche Vision auslöst, wird im christlichen Kontext als mystische Erfahrung verstanden, die den Menschen in die Nähe Gottes bringt.30

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„Geist“ zu vermeiden wegen der Missverständlichkeiten, die aus der besonderen Bedeutung dieses Begriffs im deutschen Idealismus entstehen können. Festugière 1944: 65, zitiert nach Louth 2007: xv. Ramfos GA 2: 125 und öfter. Ramfos GA 7: 188 f. stellt diese Parallele zwischen Platons Symposion und dem Bericht des Symeon des Neuen Theologen über seine mystische Erfahrung her. Vgl. auch Ramfos GA 2: 96. Dieses Phänomen der plötzlichen Erkenntnis spiegelt sich noch in dem, was Goethe als Aperçu bezeichnet, den unvorhergesehenen Geistesblitz oder die unvorbereitete Erleuchtung, die in Goethes Kunstverständnis eine wichtige Rolle spielt. Wie Safranski unterstreicht, verweist dieser geniale Einfall auf das große Ganze, das sich plötzlich in einer Einzelheit enthüllt. Der Mensch fühlt sich durch diese Einsicht völlig verwandelt, wie aus der Vereinzelung gelöst und mit dem Höheren verbunden, was ihm seine „Gottähnlichkeit vorahnen“ (Goethe MA 16: 725) lässt. Mit seiner Plötzlichkeit markiert das Aperçu einen tiefen Einschnitt in die Existenz des Individuums, der nichts mehr so lässt, wie es vorher war. „Das Aperçu mit diesen drei Aspekten – Erfahrung der Totalität, Verwandlung des Subjektes, Plötzlichkeit – nennt Goethe eine ‚genialische Geistesoperation‘ (MA 16: 725)“, so Safranski 2013: 89 f. Matussek verfolgt die damit verbundene Empfindung weiter, die Goethe im Gespräch von 18.02.1829 mit Eckermann schildert: „Das Höchste, wozu der Mensch gelangen kann […] ist das Erstaunen, und wenn ihn das Urphänomen in Erstaunen setzt, sei er zufrieden; ein

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Ramfos übernimmt also in seinen Schriften die These einer Kontinuität der mystischen Schau von Losski31 und von Louth32, denen zufolge die christliche Mystik in der platonischen und neuplatonischen Lehre ihre Wurzeln hat, ebenso wie die Auswahl der frühchristlichen Texte und die Setzung der Analyseschwerpunkte. Gottesnähe suchten in der Spätantike viele Menschen; es waren nicht nur Christen, die sich aus der Welt in die Wüste zurückzogen und das entwickelten, was später zum vitalen Zentrum des orthodoxen Christentums werden sollte: das Mönchtum.33 Die literarischen Zeugnisse aus diesem Bereich sind sehr umfangreich und erstrecken sich über einen mehr als tausendjährigen Zeitraum vom vierten bis ins siebzehnte Jahrhundert. Zwei Werke, die jeweils am Anfang beziehungsweise am Ende dieser literarischen Produktion stehen, behandelt Ramfos in je einer eigenen Studie; es handelt sich um die Apophthegmata Patrum34 und die Philokalia35 . Beide sind anonyme Sammlungen von Aussprüchen und Texten aus der asketischen und hesychastischen Tradition, die schon als Gattung ihre eigenen Tücken

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Höheres kann es ihm nicht gewähren, und ein Weiteres soll er nicht dahinter suchen; hier ist die Grenze.“ Matussek bemerkt hier: „Die Mischung aus Scheu und Staunen, von der Goethe hier spricht, hat zweifellos mit dem Schaudern […] an der Grenze der sichtbaren Welt zu tun.“ (Matussek 2010: 110). Die Erfahrung des Schauderns, geschildert in Goethes Faust, markiere den Übergang zum Raum des Heiligen, und Matussek verweist hier auf Rudolf Ottos mysterium tremendum (Otto 1947: 5, zitiert nach Matussek 2010) der damit auf die „leibliche Erfahrung […] des Numinosen“ hinweist (ibid. 111), die eine starke innerliche Erschütterung auslöst. So liegen auch bei Goethe, ähnlich wie bei Platon, die Erfahrung des Schönen in der Kunst und das Göttliche sehr nahe beieinander; in dem kurzen Augenblick der Erleuchtung wird die Grenze zum Jenseits durchlässig und der Mensch erhält bei Lebzeiten einen Einblick in die Ewigkeit. Losski betont, wie mit ihm auch Ramfos, die Bedeutung des Symeon des Neuen Theologen und des Gregor Palamas für die orthodoxe Tradition (Lossky 1944). Louth (2007) zieht die Verbindungslinie von Platon, Philo und Plotin zu denjenigen christlichen Denkern, die am stärksten von der platonischen Philosophie geprägt sind, nämlich Gregor von Nyssa und Origenes hin zum Mönchtum. Ramfos’ analytischer Ansatz bei der Ausarbeitung der griechischen Spiritualität mutet wie eine Kombination der Narrative von Losski und Louth an. Aus den vielen Überblickswerken zum frühen christlichen Mönchtum siehe besonders Festugière 1961–65; Chitty 1966; Nagel 1966; Rousseau 1985; Desprez 1998 sowie Elm 1994 zu weiblicher Spiritualität. Veröffentlicht als Πελεκᾶνοι ἐρημικοί. Ξενάγησι στὸ Γεροντικόν, GA 10, 1994. Veröffentlicht als Τὸ ἀδιανόητο τίποτα. Φιλοκαλικὰ ῥιζώματα τοῦ νεοελληνικοῦ μηδενισμοῦ, GA 17, 2010.

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aufweisen: Es sind Textsammlungen, die im Laufe der Zeit an Bedeutung und Umfang gewonnen haben. Sie haben keinen Autor im eigentlichen Sinne, wurden aber doch zu einem nicht festliegenden Zeitpunkt von einer Person kompiliert und sind daher schwer zu datieren; wichtig ist jedoch, dass sie ab diesem Zeitpunkt als einheitliche Tradition wahrgenommen wurden.36 Neben diesen Sammlungen behandelt Ramfos weiterhin zwei prominente Theologen der byzantinischen Tradition, Symeon den Neuen Theologen und Gregor Palamas. In beiden, zeitlich weit auseinanderliegenden Studien weist seine Interpretation signifikante Schwerpunktverschiebungen auf, die sein verändertes Forschungsinteresse und seine Abwendung von besonders extremen hellenozentrischen Positionen deutlich machen.

4.3 Die Wüstenväter: Vorreiter der Erweiterung der Innerlichkeit Ramfos widmet der Tradition frühchristlicher Spiritualität einen ganzen Band (GA 10). Er sieht in der Sammlung fragmentarischer Anekdoten aus dem Umfeld syrischer und ägyptischer Mönche eine weitere wichtige Stufe seiner Geistesgeschichte der Griechen. Die Apophthegmata Patrum nehmen innerhalb der spätantiken Literatur eine herausragende Rolle ein und sie prägen die orthodoxe Tradition bis heute maßgeblich.37 Die Entfaltung des christlichen Mönchtums im vierten Jahrhundert (mit einigen Vorläufern)38 wird gewöhnlich erklärt mit dem Wegfall des Märtyrertums nach dem Ende der Christenverfolgung39 seitens des Römischen Staates mit der sogenannten „Konstantinischen Wende“40 nach Kaiser Konstantins endgültigem Sieg über Licinius 323 und, andererseits, mit dem Bedürfnis der Christen, trotzdem mit Leib und Leben für ihren Glauben einzustehen. Das „rote“ (blutige) Martyrium, der Tod durch die staatliche Verfolgung, wurde ersetzt durch das „weiße“ (unblutige) Martyrium, der Nachfolge Christi im Kampf gegen die Welt, als das Christentum an sich im Römischen Reich geduldet und später sogar zur offiziellen Religion wurde. 36 37 38 39

Zu dieser Problematik vgl. beispielsweise Piccione 2003. Die jüngste Edition (3 Bde.) mit französischer Übersetzung fertigte Guy 1993–2005 an. Zu den vormonastischen asketischen Bewegungen vgl. Frank 1964: 123 ff. Zur „Konstantinischen Wende“, die die Christianisierung des Römischen Reichs einleitete, vgl. Girardet 2006. 40 Aus der umfangreichen Literatur zur Christenverfolgung seien die Sammelbände von Twomey/Humphries (2009) und von Leemans 2010, mit weiterer Literatur, genannt.

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Dieser etwas merkwürdig anmutende Übergang lässt sich dadurch erklären, dass sich die Märtyrer seit frühester Zeit als Kämpfer Christi verstanden; sie stritten in einem großen Kampf (ἀγών) gegen das Böse in der Welt, sei es nun gegen die Staatsgewalt der Heiden und ihre oft als dämonisch wahrgenommen Ansprüche der Götterverehrung, oder gegen die Dämonen, die die Menschen bedrohen. Der Kampf gegen die Dämonen wurde durchaus als physische Auseinandersetzung begriffen, weshalb sowohl die Märtyrer der frühen Zeit als auch die Eremiten in der Wüste als „Soldaten an der vordersten Front“ angesehen wurden.41 Märtyrer wie Mönche teilen in ihren spirituellen Bemühungen das gleiche Ziel: die Heiligkeit. Formuliert wird dieses Lebensideal etwa in den Paulusbriefen, wo die Menschen durch den Tod des Erlösers und ihre Reinheit und Heiligkeit zu Gott zurückkehren können;42 der Wille Gottes ist die Heiligkeit des Menschen.43 Im orthodoxen Verständnis finden wir unterschiedliche Kategorien von Heiligen. Es handelt sich um fünf bzw. sechs verschiedene Typen: Apostel, Märtyrer, Propheten, Hierarchen, Mönche und die „Gerechten“.44 Die Reihenfolge zeigt die Wichtigkeit der einzelnen Kategorien für die orthodoxe Kirche; natürlich gebührt den Aposteln, die die unmittelbare Anwesenheit Jesu Christi erfahren haben, der höchste Rang. Die Märtyrer stehen an zweiter Stelle, weil die Kirche ohne diese in der frühen Zeit der Christenverfolgungen nicht überlebt hätte. Die Propheten des Alten Testaments gehen diesen zwar zeitlich voraus, sind ihnen aber in der Bedeutung nachgeordnet. Die letzten drei Gruppen sind die zahlenmäßig größten, nämlich die der Hierarchen (Bischofsheiligen), die sich ihre Verdienste als Führer und Organisatoren erworben haben, Mönche und Nonnen sowie Laien, die als „Gerechte“ die Gebote befolgten. Diese Aufzählung zeigt, dass zwar manche Arten von Heiligkeit nur einem begrenzten Kreis von Personen zugänglich war (etwa war das Martyrium nur im historischen Kontext der Christenverfolgung denkbar), andere, wie die Heiligkeit

41 Vgl. Ramfos GA 8: 16 f. und ibid. das Kapitel zum „mönchischen Heldengesang“ 137 ff.; ähnlich auch Louth 2007: 95 f. 42 Kol 22: „νυνὶ δὲ ἀποκατήλλαξεν ἐν τῷ σώματι τῆς σαρκὸς αὐτοῦ διὰ τοῦ θανάτου, παραστῆσαι ὑμᾶς ἁγίους καὶ ἀμώμους καὶ ἀνεγκλήτους κατενώπιον αὐτοῦ.“ [„ Er hat euch nun erlöst durch den Tod seines sterblichen Leibes, damit ihr vor sein Angesicht treten könnt, heilig, untadelig und makellos.“]. 43 1 Thess 4,3: „Τοῦτο γάρ ἐστιν θέλημα τοῦ θεοῦ, ὁ ἁγιασμὸς ὑμῶν.“ [„ Denn dies ist der Wille Gottes, unsere Heiligkeit.“]. 44 Fünf Typen bei Petros Damaskinos, sechs bei Nikodemos Hagiorites und den Verfassern der Hymnen zum Sonntag der Allerheiligen und an den Fastensamstagen, vgl. Cavarnos 1986: 7.

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der „Gerechten“, stehen allen offen, auch den Laien, sofern sie die Gebote des christlichen Lebens erfüllen und geistige wie körperliche Askese betreiben wie Almosen geben und fasten.45 So ist die Heiligkeit für die orthodoxen Gläubigen keine abstrakte Kategorie, sondern die Lebensaufgabe eines jeden einzelnen. Den Gläubigen stehen mit der Vielzahl erbaulicher Schriften auch viele Ratgeber zur Verfügung, wie dieses Streben nach Heiligkeit in der Lebenspraxis umgesetzt werden kann.46 In der oben skizzierten Reihenfolge der möglichen Wege zur Heiligkeit nehmen dennoch die Mönche und Nonnen eine herausragende Stellung ein. Da sie die Welt verlassen haben, gelingt es ihnen viel leichter als den Laien, dieses Ideal zu verwirklichen. Ausdruck der monastischen Lebensform und wichtigste Voraussetzung ist die Wahl der Einsamkeit und der völlige Bruch mit allen sozialen und familiären Bindungen. Dies galt sowohl für die klösterliche Gemeinschaft, die eine Familie in Christus darstellt, als auch umso mehr für die Anachoreten, die sich noch weiter zurückzogen und fast völlig allein lebten. Diese Männer und Frauen bezogen ihre Erkenntnisse aus dem Leben in der Einsamkeit, ganz der Hinwendung zu Gott gewidmet. Dementsprechend stammen ihre Äußerungen aus zweiter Hand; eigene Aufzeichnungen existieren nicht. Ihre Ratschläge antworten gewöhnlich auf Fragen von Mitbrüdern oder Hilfe suchenden Laien. Denn obwohl sie die Gemeinschaft der Mönche mieden – in der Regel lebten sie mindestens eine Tagesreise vom Kloster entfernt, das sie nur zum Gottesdienst besuchten – hatten sie immer ein offenes Ohr für die Sorgen und Nöte ihrer Mitbrüder und Mitschwestern, mit denen sie, wie auch mit interessierten Laien, regelmäßig zusammentrafen. So ließen sie die Gemeinschaft an ihren spirituellen Erfahrungen teilhaben und spendeten Unterstützung und Trost. Die Apophthegmata Patrum, im Deutschen unter verschiedenen Titeln, etwa als Sprüche der Wüstenväter, oder ähnlichen bekannt, vereinigen kurze und pointierte Aussagen (oft auch als Antworten auf Fragen von Laien dargestellt) von heiligen Männern und Frauen, die sich, als nach der Mailänder Toleranzvereinbarung der Kaiser Licinius und Konstantin 31347 das Christentum an sich nicht mehr Anlass für einen Kampf innerhalb der Gesellschaft mit Aussicht auf 45 Vgl. Cavarnos 1986: 8 ff. 46 Besonders seit der theologischen Etablierung des Hesychasmus durch Gregor Palamas im 14. Jahrhundert wurde diese Lebensform auch für die Laien im byzantinischen Reich erstrebenswert; viel dazu beigetragen hat mit seinem Werk Nikolaos Kabasilas. Zu dessen Leben und Werk vgl. die Schriften von Marie-Hélène Congourdeau, insbesondere ihre Edition von Cabasilas Werken (1991). 47 Zur Mailänder Vereinbarung vgl. Rist 2001 und Herrmann-Otto 2007: 76–80.

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den Märtyrertod war, allein immer tiefer in die syrische und ägyptische Wüste zurückzogen, um die Bequemlichkeiten des Leben in der Gemeinschaft hinter sich zu lassen und ihren Kampf, anstatt gegen die Heiden, nunmehr gegen böse Geister fortzusetzen. Obwohl diese Eremiten den Kontakt zu anderen Menschen bewusst mieden, erlangten sie bald immense Popularität; sie galten als Weise und teilweise auch als Wundertäter. Ihre Aussagen und Antworten auf die Fragen der frommen Besucher wurden gesammelt, verbreitet und über Jahrhunderte zur geistigen Erbauung gelesen.48 Am Leben der Wüstenväter und Wüstenmütter interessiert Ramfos besonders die Tatsache, dass sie ein ganzes Instrumentarium an asketischen Praktiken entwickelt haben, um sich in einen dem Diesseits entrückten Zustand zu versetzen, der sie dann für die Schau Gottes empfänglich macht. Durch die strenge Abgeschiedenheit, in der sie leben, konzentrieren sie sich ausschließlich darauf, Gott nahe zu sein und die Nachfolge Christi anzutreten. Die Einsamkeit ist die grundlegende Voraussetzung für eine Vielzahl weiterer Übungen, wie Verzicht auf Nahrung, Schlaf und persönlichen Besitz, Duldsamkeit, bedingungsloser Gehorsam gegenüber dem geistigen Mentor, mithin Tugenden, die sich als Indifferenz gegenüber körperlichen Bedürfnissen und irdischen Gütern zusammenfassen lassen. Sie befreien den Menschen von seiner Abhängigkeit von seinem Körper, ähnlich wie in der antiken Philosophie, aus der sie auch den Begriff der Apathie (ἀπάθεια), wörtlich: die Freiheit von Leidenschaften, übernommen haben, der zu jener geistigen Ruhe führt, die zur Schau Gottes befähigt. Während jedoch in der Antike, besonders in der Philosophie Plotins, die Leibfeindlichkeit besonders ausgeprägt ist und dem Körper allenfalls die Funktion eines Gefäßes für die Seele zukommt, die aber in diesem Gefängnis von ihrer ursprünglichen Bestimmung ferngehalten wird, tritt mit der Menschwerdung Christi eigentlich eine Aufwertung des Körpers ein, die diesen als wichtigen Bestandteil des Menschen versteht und der ihn auch nach seiner körperlichen Auferstehung im Jenseits begleitet. So ändert sich die Vorstellung von den negativen Einflüssen des Körpers, welche die innere Wahrnehmung trüben. An die Stelle von körperlichen Bedürfnissen, die noch in der Antike als „animalischer“ Teil des Menschen als zu beherrschen galten, und somit das Selbst nur gleichsam von außen angriffen, verlegt das christliche Menschenbild

48 Die Deutung der Texte über die Anachoreten ist trotz oder gerade wegen ihrer scheinbaren literarischen Einfachheit nicht leicht. Einen knappen, aber gelungenen Versuch der Erläuterung unternehmen Schulz/Ziemer 2010: 122–130.

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diese negativen Impulse in das Ich hinein, die der Mensch, wenn sie zu stark werden und zu große Macht über ihn erlangen, irgendwie zähmen muss, ohne sie jedoch für immer externalisieren zu können. Der Mensch verfügt darüber hinaus über einen freien Willen, der sich für das Gute oder das Böse entscheiden kann. Da jedoch der innere Raum des Menschen noch nicht in dem Maße entwickelt ist, um Gefühle und negative Erfahrungen zu repräsentieren, treten diese oft in Form von Dämonen, also bösen Geistern auf, die Leib und Seele des Mönchs bedrohen und die er bekämpfen muss. Sie erscheinen in der Gestalt von Versuchungen oder von wilden Tieren, und sie begleiten den Mönch in seiner Askese. Je nachdem, an welchem Punkt er in seiner Askese angelangt ist, manifestieren sie sich meist in Versuchungen körperlicher Art (etwa Visionen vielfältiger Speisen für den Fastenden), wobei insbesondere das sexuelle Verlangen als am schwierigsten zu bändigen gilt.49 Weiter fortgeschrittene Asketen mussten sich später mit den Versuchungen des Geistes auseinandersetzen, wie Hochmut und Stolz, die als viel schwerer zu besiegen galten als die Dämonen von Hunger und Durst. Die Flucht der Mönche aus der Stadt oder der Dorfgemeinschaft, die sprichwörtliche Einsamkeit der Eremiten, wird als Möglichkeit gesehen, sich von den genannten irdischen Bindungen zu befreien. Die Leidenschaften und Begierden des selbstsüchtigen Ich werden als dämonische Kräfte wahrgenommen, gegen die der Eremit allein mit sich und Gott antritt. Diese Affekte (πάθη) sind es, die den Menschen unfrei machen, weil er sich an irdische Dinge klammert, wie Bequemlichkeiten, gesellschaftliches Ansehen und Genüsse, die jedoch niemals endgültig sind und den Menschen in seiner Angst vor dem äußersten Verlust und seiner eigenen Endlichkeit, alleine lassen. Der Rückzug aus der Gesellschaft allein verspricht die Seelenruhe (ἡσυχία), welche die Erlösung von der Zeit und den menschlichen Existenzängsten ist: Der Asket sucht nach jener geistigen Verwandlung, in der die Zeit Dauer hervorbringt anstatt Vollstreckerin des Niedergangs zu sein. […] Die Anachorese als Tod wird zur Auferstehung, da sich mit Christus die Zeit erfüllte; dies ist der neue Sinn des Lebens in der Auferstehung. Der Tod offenbart sich als Zeichen des großen Zusammentreffens, Ort und Zeit des Eintritts des Anderen in meine Welt, und in diesem Sinne, statt und wie bisher wie ein dunkles Unbekanntes zu umfangen, füllt er sich mit Leben. Ich würde sagen, dass ab diesem Punkt die Zeit beginnt, gemessen zu werden, da es sich ja um eine

49 Frank 1964: 30 ff. Zur sexuellen Enthaltsamkeit im frühen Christentum sei der Klassiker von Peter Brown (1988) genannt; zu verschiedenen Formen der Askese, insbesondere dem Fasten, vgl. auch Shaw 1998.

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Geburt handelt. […] Hier wird der Kreislauf der Natur durchbrochen, und durch den Tod erneuert sich der Mensch.50

Der Rückzug aus der Gesellschaft geschieht demnach, um das Ich zu schwächen und um die geistigen Tugenden zu fördern. Die Aufgabe von Besitz, das strenge Fasten und das Schweigen sind also nicht um ihrer selbst willen zu praktizieren, was viele Aussprüche verdeutlichen. Die Befreiung von den körperlichen Bedürfnissen ist jedoch nur der erste Schritt, denn der Weg der Mönche führt in letzter Konsequenz mit seiner Betonung der geistigen Askese von Demut und Gehorsam zu einer Selbstverleugnung und zur Auslöschung des übersteigerten Selbst. Durch diesen Verzicht auf alles, was ein menschliches Leben auszumachen scheint, versuchen sich die Mönche in ihrer Lebensweise so weit wie möglich den Engeln anzunähern, jenen perfekten Geschöpfen, die nach der zeitgenössischen Vorstellung im gleichen Zustand leben wie die ersten Menschen vor dem Sündenfall.51 Das Streben nach Gott erfüllt den Mönch so sehr, dass in ihm kein Raum mehr bleibt für andere Bedürfnisse. Somit sind die Anforderungen der Askese, wie die Armut und die Ablehnung irdischer und zeitgebundener Werte, eine natürliche Konsequenz seiner Hingabe. Sie „bedrückt zwar seinen Leib, befreit aber seine Seele.“52 Die absolute Konzentration des Mönchs auf Gott schlägt sich somit nicht nur in der körperlichen Enthaltsamkeit nieder, sondern der Mönch nimmt auch Abstand von den Aktivitäten des eigenen Willens und des eigenen Ichs, um Ruhe (ἡσυχία) zu finden. Diese Form der Enthaltsamkeit betrifft weniger den animalischen Teil der Seele (ἐπιθυμητικόν), der sich um die körperlichen Bedürfnisse kümmert, sondern den mittleren (θυμοειδές), in dem die Leidenschaften wie der Zorn angesiedelt sind, die zusammen mit dem menschlichen Willen das ungezähmte Ich ausmachen. Die Platonische Aufteilung der Seele in drei Teile ist hier zwar noch sichtbar, eine 50 „Ὁ ἀσκητὴς ἐπιζητεῖ ἐκείνη τὴν πνευματικὴν ἀλλοίωσι ποὺ τρέπει τὸν χρόνο ἀπὸ συντελεστὴ φθορᾶς σὲ παράγοντα διάρκειας […] Ἡ ἀναχώρησι ὡς θάνατος γίνεται ἀναστάσιμο γεγονός, ἐφ’ ὅσον μὲ τὸν Χριστὸ ἦλθε τὸ πλήρωμα τοῦ χρόνου – τὸ καινὸ καὶ ἀναγεννητικὸ νόημα τῆς ζωῆς. Ὁ θάνατος φανερώνεται σημεῖο τῆς μεγάλης συναντήσεως, ὁ τόπος καὶ ὁ χρόνος τῆς εἰσόδου τοῦ ἄλλου στὸν κόσμο μου, καὶ ὑπ’ αὐτὴν τὴν ἔννοια, ἐνῷ πρὶν μᾶς τύλιγε σὰν σκοτεινὸ ἄγνωστο, τώρα πλέον βιώνεται.“ (Ramfos GA 10: 36). 51 Ramfos GA 18: 160: „ἀγγελικὴ βιοτή“. Zu den einzelnen Bestandteilen der monastischen Askese und dem Vorbild des engelgleichen Lebens vgl. Frank 1964: 17–122. 52 „[Ἡ ἀκτημοσύνη] θλίβει ἐνδεχομένως τὸ σῶμα, ὅμως ἀναπαύει τὴν ψυχή“ (Ramfos GA 10: 230).

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systematische Zuordnung von Lastern zu den einzelnen Seelenteilen, wie sie die antike Philosophie postuliert, kennen die Wüstenväter nicht, sie wird erst durch Evagrios fixiert.53 Ramfos unterscheidet vier Formen von Enthaltsamkeit.54 Er versucht nachzuweisen, dass es in dieser Form der geistigen Askese nicht um eine Verweigerung des Lebens geht und auch nicht um ein Lob der Faulheit,55 sondern um die Enthaltung von den Dingen, die die Aufmerksamkeit des Hesychasten für sich selbst und Gott schmälern; er „opfert seine Fähigkeiten und seine Energie auf dem Altar der Gottesliebe“.56 Die Askese ist in erster Linie „Konzentration“ auf das Wesentliche, auf Gott, was letztlich eine Befreiung des Menschen von seinem eigenen Ich zur Folge haben sollte.57 Anhand der Aussprüche stellt Ramfos die Selbstverleugnung und die Demut der Wüstenväter heraus, die sie in den Augen ihrer Zeitgenossen zu besonders bewunderungswürdigen Vorbildern machten. Mit der vollständigen Auslöschung des Ichs, der Entleerung ihres Selbst und der Aufgabe eines eigenen Willens sind sie Gott nähergekommen als alle anderen.58 Der Verzicht auf ein unabhängiges Selbst, die völlige Hingabe an Gott ist es, die dem orthodoxen Menschen die Teilhabe an der göttlichen Gnade (χάρις) gewährt: Die Gnade als radikale Gemeinschaftlichkeit nach dem Vorbild des dreifaltigen Gottes erweist sich als dem Menschen wesensverwandt, sie ist seine Freiheit in der Welt, nicht von der Welt. Gemeinschaftlichkeit wird demnach nicht als eine zusätzliche Zusammenkunft verstanden, Gemeinschaftlichkeit ist die Gemeinschaft der Seelen, welche die Gnade als ihr eigentliches Ziel bewirkt, die wechselseitige Durchdringung der Seelen in ursprünglicher, höherer und höchster Hinsicht, mit anderen Worten, in persönlicher Weise.59

53 Vgl. unten Kapitel 4.4 Verstand, Seele und Körper: Die Anthropologie des Evagrios Pontikos. 54 Im Einzelnen gliedert sich das Kapitel wie folgt: Der Verzicht auf die Macht (Παραίτησις ἀπὸ τὸ δύνασθαι, 253–267), der Verzicht auf alle Aktivitäten (Παραίτησις ἀπὸ τὸ πράττειν, 269–282), das Schweigen (Παραίτησις ἀπὸ τὸ λέγειν, 283–295), was schließlich gipfelt in der Leugnung der eigenen Existenz (Παραίτησις ἀπὸ τὸ εἶναι, 297–313). 55 Ramfos GA 10: 269. 56 „[…] ὅτι προσκομίζει τὶς δυνατότητες καὶ τὶς ἐνέργειές του στὸ θυσιαστήριο τοῦ θεοῦ.“ (Ibid.: 278 f.). 57 Cavarnos 1986: 23. 58 Ramfos GA 10: 310. 59 „Ἡ Χάρις ὡς ῥιζικὴ κοινωνικότης κατ’ εἰκόνα τοῦ τριαδικοῦ Θεοῦ ἐκδηλώνεται ἐγγενῶς στὸν ἄνθρωπο, εἶναι ἡ ἐλευθερία του στὸν κόσμο καὶ ὄχι μιὰ ἐλευθερία ἀπὸ τὸν κόσμο. Κοινωνικότης, ἄρα, δὲν λογίζεται κάποια ἐπὶ ταυτῷ συνάθροισις, κοινωνικότης εἶναι συμψυχισμὸς ποὺ ἐργάζεται ὡς αὐτόσκοπος ἡ Χάρις, ἡ ἀμοιβαία

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Die Gnade in der orthodoxen Vorstellung unterscheidet sich nach Ramfos erheblich von der in der westlichen Theologie. Hier (1994) argumentiert Ramfos noch ganz „neoorthodox“, also im Sinne einer Ideologie, die der griechischen Theologie der sechziger Jahre mit ihrer Betonung des griechischen Sonderwegs und ihrem Antiokzidentalismus verhaftet ist. Er beschreibt das orthodoxe Verständnis von Gnade wie folgt: Der orthodoxe Gläubige glaubt an die göttliche Gnade. Damit meine ich nicht die Theologie des Hl. Gregor Palamas, sondern jene bodenständige, im Evangelium begründete Überzeugung, welche die asketische und hesychastische Lehre der Kirchenväter beseelte, eine Überzeugung, welche im römisch-katholischen Westen vergessen und im lutherischen Denken oft missverstanden wurde bis hin zu ihrer Auslöschung. Erstere verstand die Gnade als geschaffene Energie Gottes, die Gabe von Eigenschaften, durch die der Mensch zur göttlichen Quelle zurückkehrt; die zweite vergisst, dass Gott den Menschen in Freiheit erschaffen und diesem die geistige Freiheit verliehen hat. Die geistige Freiheit lässt den Menschen aktiv werden bei seiner Erlösung, wobei die Initiative immer bei Gott liegt. Der Protestantismus behauptet, die Erlösung des Menschen liege ausschließlich bei der Energie Gottes, und charakterisiert jegliche Aufwärtsbewegung der Seele als Pervertierung des wahren christlichen Geistes. Der orthodoxe Glaube basiert auf der Vorstellung von dem Zusammenwirken von göttlicher Gnade und menschlichem Willen, definiert aber den menschlichen Anteil in der Annahme des Heils nach dem Vorbild der Gottesmutter. Diese akzeptierte es, die Mutter Gottes zu werden; es entschied nicht Gott an ihrer Stelle.60

μέθεξι τῶν ψυχῶν σ’ ἐπίπεδο πρωτογενές, ἀνώτερο ἢ ἀνώτατο, ἤγουν προσωπικό.“ (Ramfos GA 10: 460). 60 „Ὁ ὀρθόδοξος χριστιανὸς πιστεύει στὴν θεία Χάρι. Δὲν ἐννοῶ μ’ αὐτὸ τὴν θεολογία τοῦ ἁγίου Γρηγορίου Παλαμᾶ, ἀλλὰ τὴν ἑδραία ἐκείνη εὐαγγελικὴ πεποίθησι, ποὺ ἐνέπνευσε τὴν ἀσκητικὴ καὶ ἠσυχαστικὴ διδασκαλία τῶν Πατέρων, πεποίθησι ἡ ὁποία ἐν πολλοῖς λησμονήθηκε στὴν ῥωμαιοκαθολικὴ Δύσι καὶ συχνὰ παρανοήθηκε μέχρις ἐξοντώσεως ἀπὸ τὴν λουθηρανικὴ. Ἡ πρώτη κατενόησε τὴν Χάρι ὡς κτιστὴν ἐνέργεια τοῦ Θεοῦ, δωρεὰ ἰδιωμάτων, δι’ ὧν ἐπιστρέφει ὁ ἄνθρωπος στὴν θεϊκὴ πηγή  • ἡ δεύτερη ξεχνᾷ ὅτι ὁ Θεὸς δημιούργησε τὸν ἄνθρωπο ἐλεύθερα καὶ τοῦ παρέσχε τὴν πνευματικὴν ἐλευθερία. Ἡ πνευματικὴ ἐλευθερία κάνει τὸν ἄνθρωπο συνεργὸ στὴν σωτηρία του, τὴν πρωτοβουλία τῆς ὁποίας τὴν ἔχει πάντως ὁ Θεός. Πρεσβεύει λοιπὸν ἡ Διαμαρτύρησις ὅτι ἡ σωτηρία τοῦ ἀνθρώπου ὀφείλεται ἀποκλειστικὰ εἰς τὴν ἐνέργεια τοῦ Θεοῦ καὶ χαρακτηρίζει κάθε κίνησι τῆς ψυχῆς πρὸς τὰ ἄνω διαστροφὴ τοῦ αὐθεντικοῦ χριστιανικοῦ πνεύματος. Ἡ πίστι τῶν ὀρθοδόξων βασίζεται στὴν ἰδέα τῆς συνεργασίας θείας Χάριτος καὶ ἀνθρωπίνης θελήσεως, ἐντοπίζει δὲ τὴν ἀνθρώπινη συμμετοχὴ στὴν ἀποδοχὴ τῆς προσφερομένης σωτηρίας κατὰ τὸ προηγούμενο τῆς Παναγίας. Ἡ Παναγία ἐδέχθη νὰ γίνῃ Μήτηρ Θεοῦ, δὲν ἀποφάσισε ὁ Θεὸς γιὰ λογαριασμό της.“ (Ibid.: 449).

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Nur die göttliche Gnade verleiht auch allen asketischen Bemühungen erst den Erfolg. Mag zwar die Entscheidung, sich dem Leben als Mönch zuzuwenden, eine individuelle sein, so ist keine der drei Stufen ohne das Zutun der göttlichen Gnade zu erreichen. Grundsätzlich ist dies, so unterstreichen es auch orthodoxe Denker wie Andrew Louth und John Zizioulas, der größte Unterschied zwischen antiker Philosophie und mittelalterlicher Lebensauffassung.61 Ist der Aufstieg zum Göttlichen in der Philosophie Platons und seiner Nachfolger grundsätzlich für jeden möglich, wenn er durch die richtige Erziehung (παιδεία) nur entsprechend angeleitet wird, ist für den orthodoxen Gläubigen dieser nicht ohne die Hilfe Gottes erreichbar.62 Es geht, so Ramfos, in all den Erzählungen und Aussprüchen der Wüstenväter nicht um die Askese an sich; diese ist nur der Weg zum Ziel, eben jener Transformation, die den Menschen läutert und im Licht der göttlichen Liebe erstrahlen lässt.63 In der selbstlosen Liebe Gottes übt sich auch der Asket, wenn er sein Selbst vernachlässigt, egoistische Anwandlungen durch grenzenlose Demut kompensiert und prinzipiell die Belange der anderen über die eigenen stellt. Die Feindesliebe suggeriert schon das Evangelium (Mt 5,44 und Lk 6,27 und 35); für die Mönche ist eben diese der richtige Weg zum Heil. Somit ist die Liebe in diesem Zusammenhang kein subjektives Gefühl, sondern eine Geisteshaltung.64 Mit der Überwindung des Ich wird auch die eigennützige Form der Liebe im Sinne des Besitzes eines Individuums und seiner Ausnutzung für die eigene Lust ausgelöscht, und die Liebe (ἔρως/ἀγάπη) findet ihren Gipfel in Gott, der die Liebe nicht empfindet, bzw. hat, sondern ist.65 Die Sprüche der Wüstenväter überliefern, wenn man sie wie Ramfos als Anleitung zur Heiligkeit liest, somit eine sehr detailreiche Beschreibung der einzelnen Stufen des Aufstiegs der Mönche, mit allen Schwierigkeiten, die ihnen auf dieser Reise drohen. Als Reise zu Gott, als persönliche Heilsuche wurde diese Textsammlung denn auch in der orthodoxen Tradition verstanden und als solche geschätzt. Auch das kaum zu beschreibende letzte Stadium dieses Aufstiegs, die unmittelbare 61 Zur Umkehrung der Bewegung vom Aufstieg in der Antike zum Abstieg von Gottes Gnade vgl. Louth 2007: 96 und ähnlich Zizioulas 2006: 14–32. 62 Ramfos GA 8: 339 und GA 18: 84. Konstantinowsky beurteilt die Trennung menschlicher und göttlicher Erkenntnis weniger scharf, vgl. ead. 2009: 27–46. 63 Zur Läuterung durch die Erleuchtung schreibt Ramfos wie folgt: „Τὸ φῶς τοῦτο φωτίζει καὶ συγχρόνως καθαρίζει.“ [„Dieses Licht leuchtet und reinigt zugleich.“] (Ramfos GA 10: 457). 64 Ramfos GA 10: 424 ff. und GA 7: 236. 65 Ramfos GA 10: 432.

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Gotteserfahrung, wird zumindest indirekt geschildert. Die griechische Theologie scheute sich in gewisser Weise, die Gotteserfahrung zu beschreiben, weswegen sie als apophatisch, also ex negativo charakterisiert wird.66 Dies bedeutet jedoch nicht, dass diese höchste Erfahrung nicht ausgedrückt werden kann. Allerdings, so zeigen die Sprüche der Wüstenväter, ist dies nicht direkt im Sinne einer verstandesmäßig nachvollziehbaren Erkenntnis möglich, sondern indirekt. Hier wird immerhin von drei Persönlichkeiten berichtet, die wohl ebendiese Gotteserfahrung gemacht haben, obwohl sie nicht oder nur unter Vorbehalt darüber gesprochen haben. Die Annäherung an Gott, die ὁμοίωσις θεῷ ist erkennbar im Widerschein des göttlichen Lichtes in ihrem Antlitz. Dies konnte gerade in der äußersten Selbstverleugnung geschehen, weil sie durch die Auslöschung ihres Selbst gleichsam durchlässig wurden für das göttliche Licht, das sie so zum Strahlen brachte, dass es auch ihre Umgebung wahrnehmen konnte. Und ebendiese Selbsterniedrigung ist es, die diese Persönlichkeit Gott ähnlich macht, da dieser in seiner Menschwerdung und Kreuzigung die größte Erniedrigung auf sich genommen hat. Dafür bildet Ramfos das Oxymoron, dass Gott in seiner Inkarnation gleichzeitig allmächtig (πανταδύναμος) und völlig machtlos (πανταδύναμος) ist, im griechischen Original ein Wortspiel.67 Die Eremiten der Wüste treten also zu Gott in ein Verhältnis, das jedoch nicht in der völligen Aufhebung der Gegensätze besteht,68 sondern in der Kommunion der Eucharistie: Mit seinem eigenen Opfer bringt sich der Mensch der Gnade als Einzelner dar. Die Gnade kommt auf den Einzelnen herab, sie ist die Enthüllung des Einzigartigen im Bestimmten.

66 Innerhalb der orthodoxen Theologie besteht die Unterscheidung zwischen der kataphatischen („bejahenden“) Theologie, die beschreibt, wie Gott durch seine Schöpfung oder die Heiligen Schriften erkannt werden kann, und der apophatischen, auch negativen Theologie, die auf die Transzendenz der göttlichen Natur hinweist und auf die Tatsache, dass der Mensch nicht in der Lage ist, Gott vollständig zu erkennen. Der Begriff „apophatische Theologie“ wurde zuerst vom neuplatonischen Philosophen Proklos verwendet und in den Pseudo-Dionysischen Schriften auf das Christentum übertragen und bezeichnet im weiteren Sinne auch die Vorstellung, dass Gott nicht durch Begriffe verstanden werden kann, sondern nur mittels einer Lebensweise, die den ganzen Menschen im Gebet an Gott annähert. Die Idee, dass Gott nicht durch positive Aussagen beschrieben werden kann, eröffnet vielfältige Möglichkeiten der indirekten Annäherung durch Bilder und Poesie, wie etwa in den unten in Kapitel 4.5 untersuchten Hymnen des Symeon des Neuen Theologen. 67 Ramfos GA 10: 471. 68 Dies charakterisiert eine Mystik westlichen Zuschnitts, vgl. Ramfos’ Analyse des Aufstiegs zum Berg Karmel des Johannes vom Kreuz, Ramfos GA 10: 472 ff.

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[…] Es gibt keine allgemeine Gnade für alle, sondern getrennt für jeden Einzelnen. Der Mensch gewordene Gott liebt uns, jeden für sich, so dass die Annahme seines Geschenks mit unserer persönlichen Belebtheit verknüpft ist.69

Die Frage, ob es sich für einen modernen Menschen lohnt, die heutzutage stellenweise befremdlich anmutenden Aussprüche und Wundergeschichten der Wüstenväter zu lesen, beantwortet Ramfos positiv. Im Gegenteil, die Beschäftigung mit einer auch im orthodoxen Kontext fremd gewordenen Religiosität ist im wahrsten Sinne therapeutisch, weil sie den Zugriff auf geistige Sphären erlaubt, die Ramfos heute als verloren bedauert: Die Sprüche der heiligen Wüstenväter handeln von den letzten Dingen aus ihrer eigenen Erfahrung, sie zeigen die Grundzüge des neuen Lebens aus der Praxis, und sie sind für uns von vitalem Interesse, wenn es darum geht, unseren Archetyp aus erster Hand kennenzulernen. Welchen Menschen, welche Zusammensetzung der Seele und welche geistige Haltung zum Leben brachte das Christentum hervor? So lernen wir ihn als unsere geistige Erbanlage kennen und erkennen ihn wieder – das ist das Wesentliche in den Elementen unserer eigenen Erfahrung, ansonsten bleiben Buch und Archetyp gleichermaßen ein Geheimnis.70

Ramfos liest die Lebensweise der Mönche in Syrien, Ägypten und Palästina als Fortsetzung der altgriechischen Spiritualität und als integrativen Bestandteil des orthodoxen Denkens. Hier liegt jedoch auch ein gewisser Widerspruch, den er selbst in seinem späteren Werk indirekt thematisiert; einige Jahre später wird er selbst auf den Einfluss des Evagrios auf das Mönchtum im Westen durch die Vermittlung des Cassian hinweisen.71 Zudem erscheint es zumindest gewagt, die gesamte orthodoxe monastische Tradition und die daraus resultierende Hinwendung zur Innerlichkeit als rein griechisches Kulturelement zu lesen.

69 „Εἰς τὴν αὐτοδαπάνη του ὁ ἄνθρωπος προσφέρεται στὴν Χάρι ὡρισμένος. Ἡ Χάρις κατέρχεται στὸ ὡρισμένο, εἶναι ἡ ἀποκάλυψη τοῦ μοναδικοῦ στὸ συγκεκριμένο […] Δὲν ὑπάρχει Χάρις γιὰ ὅλους γενικά, ἀλλὰ ξεχωριστὰ γιὰ τὸν κάθε ἕνα. Ὁ ἐνανθρωπήσας Θεὸς μᾶς ἀγαπᾷ ἕναν ἕνα, ὁπότε ἡ δεξίωσι τῆς δωρεᾶς Του ὑφαίνεται μὲ τὴν προσωπική μας ἐμβίωσι.“ (Ibid.: 474 f.). 70 „Τὰ ἀποφθέγματα τῶν ἁγίων Γερόντων εἶναι λόγος τοῦ ἐσχάτου ἐκ πείρας, πρακτικὴ ὑποτύπωσις τῆς καινούργιας ζωῆς, καὶ μᾶς ἐνδιαφέρουν ζωτικὰ γιὰ νὰ γνωρίσουμε ἀπὸ πρῶτο χέρι τὸ ἀρχετυπό μας: τί λογῆς ἄνθρωπο, ῥυθμὸ ψυχῆς καὶ πνεῦμα ζωῆς ἔφερε στὸν κόσμο ἡ χριστιανικὴ πίστις. Νὰ τὸ γνωρίσωμε ὡς πνευματική μας καταβολὴ καὶ νὰ τὸ ἀναγνωρίσωμε – τὸ κυριώτερο – στὰ στοιχεῖα τῆς δικῆς μας ἐμπειρίας, ἀλλιῶς βιβλίο καὶ ἀρχέτυπο θὰ μείνουν ἄλυτα αἰνίγματα.“ (Ramfos GA 10: 17). 71 Ramfos GA 18: 58; 82; 98.

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Obwohl die ursprünglichen Bewohner der genannten Regionen [sc. von Syrien, Ägypten und Palästina, Anm. I.S.] die monastische Bewegung begründeten, waren die Griechen diejenigen, die das asketische Leben organisierten und seine Ideale verbreiteten, wobei sie die Kategorien der Philosophie und des Hermetismus anwendeten.72

Nun hat Frank bewiesen, dass sich in der negativen Einstellung zu Welt und Körperlichkeit und in einer übertriebenen Askese gerade beim syrischen Mönchtums die Abgrenzung zum Manichäismus und seinem dualistischen Weltbild zeigt, mithin auch andere kulturelle Einflüsse verarbeitet als nur die griechischen. Der Vergleich mit spätjüdischen asketischen Bewegungen wie der Gemeinschaft von Qumran weist ebenfalls darauf hin, dass Mönchtum und Anachorese keine ausschließlich christlichen, und somit erst recht keine rein griechischen kulturellen Phänomene waren.73 Ohne einer Bemerkung am Rande wie der oben genannten zu viel Gewicht beimessen zu wollen, scheint uns jedoch, dass auch daran exemplarisch der Umgang Ramfos’ mit dem historischen Kontext der von ihm untersuchten Texte deutlich wird. Nicht umsonst betont er in seinem Konzept einer „kreativen Hermeneutik“, die griechische Tradition ontologisch und nicht historisch lesen zu wollen. Dies führt jedoch stellenweise zu Zuspitzungen, die er in späterer Zeit immer wieder relativieren muss. Im Falle der oben dargestellten Untersuchung liegt Ramfos’ hermeneutischer Schwerpunkt auf der Ausarbeitung einer einheitlichen griechischen Lichtmetaphysik von Platon bis Palamas, stellenweise auch auf Kosten neuerer oder ihm widersprechender Forschungsergebnisse.74 Zu Ramfos’ Verteidigung ist jedoch anzuführen, dass er in seinen jüngeren Werken weniger stark auf die Singularität der griechischen Kultur abhebt.75 Vielmehr wendet er sich nach seiner „Kehre“ von der radikalen These der ungebrochenen 72 „Μολονότι τὴν πρωτοβουλία τῆς μοναστικῆς κινήσεως εἶχαν οἱ αὐτόχθονες τῶν ἐν λόγῳ περιοχῶν, ὡστόσο Ἕλληνες εἶναι ἐκεῖνοι οἱ ὁποῖοι συνεκρότησαν οὐσιαστικὰ τὴν ἀσκητικὴ ζωὴ καὶ διέπλασαν τὸ ἰδεῶδες της, χρησιμοποιώντας μάλιστα τὶς κατηγορίες τῆς φιλοσοφίας καὶ τοῦ ἑρμητισμοῦ.“ (Ramfos GA 10: 16 f.). Diese Behauptung ist zumindest fragwürdig, wenn man das Umfeld und die Entstehungsgeschichte des Mönchtums betrachtet, vgl. Frank 1964: 123 ff. 73 Frank 1964: 140 ff. sowie 183 ff. 74 Eine ähnliche Tendenz ist auch in der Untersuchung von Louth 1981, ersichtlich. Ramfos argumentiert an vielen Stellen parallel zu diesem Buch, ohne dies jedoch kenntlich zu machen. 75 So geht er im Abschnitt zu Evagrios in GA 18 auf den Einfluss des Philon von Alexandria auf die evagrianische Lehre ein und stellt somit eine Gleichwertigkeit von Judentum und Christentum her; möglicherweise gilt das aber nur, weil Philon in Griechisch schreibt und sich somit die griechische Kultur angeeignet hat.

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Kontinuität der griechischen Kultur durch die historischen Epochen hindurch ab76 und liest die Texte der monastischen Tradition, wie die Philokalia, eher von ihrer Rezeption her. Dabei untersucht er nun in erster Linie ihren Einfluss auf die Herausbildung einer modernen griechischen Mentalität: Jetzt gewinnen wir die Möglichkeit, systematisch zu arbeiten und eine neugriechische Anthropologie philosophisch zu untermauern. Nun wird es also greifbar, die Last bestimmter Ideen, und zwar religiöser Ideen, in unserem Denken und in unserem Leben, aufzuzeigen, welche seit der byzantinischen Epoche unsere Innenschau und unsere Selbstreflexion drastisch verhindern. […] Indem wir mythische und ideologische Antworten auf die Fragen des Lebens geben, […] provozieren und perpetuieren [wir] eine akute und endlose Identitätskrise.77

Ramfos’ Beschäftigung mit der mittelalterlichen monastischen Tradition hat demzufolge eine Reihe unterschiedlicher Facetten, die auf die jeweilige ideologische Ausrichtung seiner Werke und ihren historisch-gesellschaftlichen Kontext zurückzuführen sind. Sein neoorthodoxer und insgesamt sehr hellenozentrischer Zugang, mit der Betonung der Kontinuität von der Antike zum Christentum wird später abgelöst vom Versuch, die orthodoxe Spiritualität in einen globalen Zusammenhang zu stellen. Hierzu seien einige kleine, aber signifikante Beispiele angeführt. Sein Blick richtet sich im Vergleich zunächst lediglich auf die westliche, katholische Mystik, von der er die orthodoxe Praxis streng abgrenzen möchte. Keine Erwähnung findet die innerweltliche Askese im Protestantismus, ebensowenig zieht er im Werk von 1994 Vergleiche zu den spirituellen Praktiken anderer Religionen, namentlich des Buddhismus und des islamischen Sufismus. Den Verweis auf Parallelen zu ostasiatischen religiösen Praktiken holt er erst 2010 in Das undurchschaubare Nichts nach, wo er wiederholt auf die Ähnlichkeit zwischen dem hesychastischen „Herzensgebet“ oder „Jesusgebet“ mit seiner Kontrolle des Atems und den Praktiken des Yoga hinweist,78 eine Verbindung, der bereits verschiedene Untersuchungen gewidmet wurden.79 Ramfos trägt hier der Tatsache Rechnung, dass diese Praxis, ein Gebet, während der ununterbrochen der Name Jesu Christi 76 Ramfos GA 18: 10. 77 „Τώρα ἀποκτοῦμε τὴν δυνατότητα νὰ ἐνεργήσουμε συστηματικὰ θεμελιώνοντας φιλοσοφικὰ μία νεοελληνικὴ ἀνθρωπολογία. Καθίσταται ἔτσι ἐφικτὸ νὰ ἀναδείξουμε τὸ βάρος ὡρισμένων ἰδεῶν καὶ δὴ θρησκευτικῶν στὴν σκέψι καὶ στὴν ζωή μας, ποὺ ἀπὸ τὰ βυζαντινὰ χρόνια ἐμποδίζουν τραυματικὰ τὴν ἐνδοσκόπησι καὶ τὴν αὐτοσυνειδησία: Μὲ τὸ νὰ δίνουμε μυθικοϊδεολογικὲς ἀποκρίσεις στὰ ἐρωτήματα τῆς ζωῆς […] προκαλοῦμε […] καὶ συντηροῦμε ὀξεῖα καὶ ἀτέρμονη κρίση ταυτότητος.“ (Ibid.: 9 f.). 78 Ramfos GA 18: 341; 360; 365. 79 Zusammenfassung der Geschichte der Fragestellung bei Baier 1998: 32–72.

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angerufen wird und die in der Orthodoxie weit verbreitet ist, inzwischen auch jenseits ihrer Grenzen Verbreitung gefunden hat.80 An solchen Hinweisen wird die Abwendung von dem Antiokzidentalismus seiner früheren Schriften hin zu einer Einordnung der Orthodoxie in einen kulturwissenschaftlichen, globalisierten Kontext deutlich. Nicht zuletzt in seiner Hervorhebung der Gnade als maßgeblichem Element des Aufstiegs zeigt sich in Pelikane in der Einsamkeit seine enge Verbindung zu neoorthodoxen Ansätzen.

4.4 Verstand, Seele und Körper: Die Anthropologie des Evagrios Pontikos Wie im vorangehenden Kapitel angedeutet wurde, verändert sich Ramfos’ Zugang zur orthodoxen theologischen Tradition im Laufe seines Schaffens. Um dies nachzuzeichnen, wurden aus der Vielzahl der von Ramfos behandelten Autoren drei wichtige ausgewählt, die Ramfos in unterschiedlichen Arbeitsphasen bearbeitet und kommentiert hat. Es sind dies Evagrios Pontikos, Symeon der Neue Theologe und Gregor Palamas (1296/97–1359). In den folgenden drei Unterkapiteln sollen die unterschiedlichen Interpretationslinien auch im Hinblick auf die Entwicklung von Ramfos’ Werk nun dargestellt werden. Die Persönlichkeit, die dem orthodoxen Mönchtum vielleicht am deutlichsten ihren Stempel aufgedrückt hat, ist Evagrios Pontikos.81 In jungen Jahren empfing er bereits von Basilius dem Großen und Gregor von Nazianz82 die ersten kirchlichen Weihen, ging dann als noch junger Mann nach Konstantinopel, wo er intellektuell brillierte, aber auch wegen einer gefährlichen Liebschaft sein Leben 80 Zur Globalisierung des Hesychasmus und der dazu gehörigen Praktiken vgl. Johnson 2010. 81 Die wichtigsten biographischen Quellen für Evagrios sind die Historia Lausiaca (38) des Palladios, die Kirchengeschichte (6. 30) des Sozomenos und die Kirchengeschichte (4. 23) des Sokrates, die jedoch in einem wichtigen Punkt, dem Verhältnis zu Gregor von Nyssa, voneinander abweichen. Wie Ilaria E. L. Ramelli nachweist, scheint der Einfluss des Gregor von Nyssa auf Evagrios weitaus größer gewesen zu sein als bisher angenommen, was auch die Nähe beider zu den Schriften des Origenes besser erklären würde (Ramelli 2013). 82 Ramfos GA 18, 79 f. übernimmt hier die bisher gängige Deutung (auch in der Biographie von Guillaumont 2004) der Biographen Sokrates und Sozomenos. Nur Palladios schreibt, Evagrios sei von Basilius und Gregor von Nyssa geweiht worden, was Ramelli für den historisch korrekten Hergang der Ereignisse hält (Ramelli 2013: 120 f.), ebenso wie die Tatsache, dass es Gregor von Nyssa und nicht Gregor von Nazianz war, der ihn nach Ägypten begleitete, was unter anderem ein neues Licht auf die Beurteilung des Origenismus im 6. Jahrhundert werfen würde.

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aufs Spiel setzte, weswegen er schließlich die Hauptstadt verließ und in Palästina in ein Kloster eintrat. Er verbrachte sein weiteres Leben als Eremit in der ägyptischen Wüste und fasste sein erlebtes Mönchtum in jene Werke, die später den gesamten ostkirchlichen Raum stark beeinflussten. Sein umfangreiches Werk war stark geprägt von Origenes und verschwand darum nach der Verdammung seines Lehrers infolge der fünften (553) und sechsten (680–81) Ökumenischen Reichskonzil aus den griechischen Manuskripten, mit Ausnahme seiner Schrift über das Gebet, des Praktikos,83 eines Texts, der kaum Einflüsse des anathematisierten Origenismus aufwies und der unter dem Namen des Neilos von Ankyra weiter tradiert wurde. Evagrios galt den syrischen und armenischen Monophysiten allerdings als heilig, weswegen dort seine Werke vollständig und unter seinem echten Namen weitergegeben wurden.84 Formal lehnt sich das in kurze Kapitel (κεφάλαια) unterteilte asketische Werk,85 das in aphoristischer Manier prägnante Aussagen zu einem Thema sammelt, an die Apophthegmata Patrum an. Es bleibt jedoch nicht bei dieser äußerlichen Verwandtschaft mit der Tradition der Wüstenväter, die seine Zeitgenossen waren und mit denen er in Kontakt stand; der gesamte geistige Horizont jener Eremiten spiegelt sich in Evagrios’ Schriften. Da das asketische Werk des Evagrios keine dogmatischen Fragen tangierte und daher nicht, wie die anderen Schriften, anathematisiert wurde, wurde es bald zum Grundstein des christlichen Mönchtums, im Westen durch die Vermittlung des Cassian,86 im Osten durch die Rezeption des Maximus Confessor.87 83 Die kritische Textausgabe des Praktikos besorgte Guillaumont 1971. Der Text Über das Gebet in der Philokalia (hg. von Makarios und Nikodemos in Venedig 1782), dem Neilos zugeschrieben, entspricht im Großen und Ganzen dem Text, wie er später in der Patrologia Graeca 79, 1165–1200 abgedruckt wurde, wenn auch in anderer Nummerierung. 84 Von besonderer Bedeutung sind hier die Kephalaia Gnostica, in der Patrologia Orientalis XXVIII, 1 (Paris 1971). 85 Zu den literarischen Besonderheiten Gattung der Kephalaia vgl. Ivánka 1954: 288. 86 Ramfos folgt hier der von Chadwick vorgegebenen und lange Zeit als gültig anerkannten Interpretationslinie, Cassian sei „the first guide to the contemplative ideal in the history of western thought“ gewesen und „not only a worthy predecessor, but a founder of the Benedictine tradition“. (Chadwick 1968: 162). Leben und Werk des Cassian unterwirft Tzamalikos in zwei neuen Büchern einer radikalen Neubewertung: The Real Cassian Revisited: Monastic Life, Greek Paideia, and Origenism in the Sixth Century sowie A Newly Discovered Greek Father: Cassian the Sabaite eclipsed by John Cassian of Marseilles, beide 2012, und schreibt dessen Schriften dem (griechischen) Mönch Kassianos aus Skythopolis, später Abt des Sabbas-Klosters in Palästina, zu. Die lateinischen Texte seien demnach mittelalterliche Fälschungen, die einer fiktiven Figur, dem Johannes Cassianus, der in Marseille gelebt haben soll, zugeschrieben wurden. 87 Ramfos GA 18: 82.

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Mit dem Werk des Evagrios haben wir einen Versuch vor uns, die Erfahrungen christlicher Asketen zu systematisieren und mit den gelehrten Meinungen der Zeit in Einklang zu bringen. Ganz auf Augenhöhe mit den wichtigsten Gelehrten seiner Zeit hat er sich in der zweiten Phase seines Lebens den praktischen Erfahrungen der berühmtesten Eremiten gewidmet, diese besucht und ihre Askese selbst praktiziert. In diesem Zusammenhang sollen die wichtigsten Punkte des Menschenbildes des Evagrios, wie es bei Ramfos im 2010 veröffentlichten Buch Das undurchschaubare Nichts. Die Wurzeln des neugriechischen Nihilismus in der Philokalia erscheint. Anders als in Pelikane in der Einsamkeit untersucht Ramfos dort die Tradition des Mönchtums ein weiteres Mal, diesmal aber nicht unter dem Blickwinkel der Vergöttlichung des Menschen als Zentrum der orthodoxen Theologie, sondern es interessiert ihn die psychologische Entwicklung der Griechen, ihre bereits mehrfach erwähnte Entfaltung der Innerlichkeit. Ramfos beschreibt die Seelenlehre des Evagrios und setzt diese in ein Verhältnis zu seinen christlichen wie heidnischen Vordenkern, allen voran Origenes und Plotin. Dabei untersucht er besonders die sorgfältige Ausarbeitung des seelischen Zustandes des Mönchs in seiner Askese, sowie die Schwierigkeiten, die dabei auftreten können. Neben dem Fokus auf die Beschäftigung mit dem Selbst bleibt allerdings Ramfos’ frühere Begeisterung für die Gottesschau bestehen und so liest er auch in diesem späteren Buch die monastische Tradition als Übergang zur inhaltlichen Fortsetzung der antiken Philosophie etwa durch Symeon den Neuen Theologen.88 Es werden also auch in der Behandlung des orthodoxen Mönchtums mit dem Werk der Evagrios die beiden Grundthemen von Ramfos’ Werk sichtbar, nämlich zunächst die Darstellung einer Kontinuität von Platonischer Metaphysik und orthodoxer Mystik sowie später die Entdeckung der bedeutenden Rolle der Innerlichkeit in der griechischen Kultur, die sich ebenfalls in weiten Teilen aus dem Platonischen Einfluss speist. Evagrios unterteilt, ähnlich wie sein Vorbild Origenes, das geistliche Leben in die drei Teile praktikē, physikē theoria und theologia,89 deren erster auf die Einhaltung der göttlichen Gebote, ein Leben in Tugend und generell eine Abwendung von den Affekten abzielt.90 Neben der körperlichen Askese waren es für Evagrios ganz besonders die geistigen Übungen, die das Leben der Mönche charakterisierten; seine diesbezüglichen Systematisierungen wurden maßgeblich für die späteren Klöster in Ost und West. Damit wendete sich der Blick des Mönchs nach 88 Siehe unten Kapitel 4.5 Gottesschau und byzantinischer Humanismus: Symeon der Neue Theologe. 89 Evagrios Pontikos, Praktikos 1. 90 Zum Folgenden vgl. Ramfos GA 18: 83 ff.

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innen: der Seele als Zentrum der Gottesbetrachtung wurde eine wichtigere Rolle zuerkannt denn je. Die Seele (ψυχή) war bereits in der Antike am ehesten der Ort, an dem das Bewusstsein des Menschen und damit sein „Ich“ lokalisiert wurde, aber ihre Bedeutung veränderte sich innerhalb der griechischen Geistesgeschichte sehr stark. Bei Homer bedeutet sie „Lebensatem“ (in dieser Bedeutung dem lateinischen animus/ anima am nächsten stehend, was auf dieselbe indogermanische Wurzel zurückgeht wie das griechische Wort für „Wind“, ἄνεμος). Sie bezeichnet aber auch die fahlen Schatten der Verstorbenen, die im Hades umhergehen. Heraklit betrachtet sie möglicherweise als erster als Zentrum der menschlichen Persönlichkeit.91 Platons Verständnis von der Seele als unsterblichem, immateriellen Teil des Menschen, der mit der Allseele verknüpft ist, spielt in der Folgezeit eine immense Rolle, wird aber immer auch mit der Auffassung des Aristoteles kontrastiert, für den die Seele die Form des materiellen Körpers ist, mithin das Prinzip, das den Körper belebt und ihn tatsächlich verwirklicht (ἐντελέχεια). Die Seele ist kein vom Leib unabhängiges Wesen, sondern sie hat lediglich sein Vollendungspotenzial inne.92 Diese beiden, offensichtlich konkurrierenden Modelle von der Natur der Seele werden von den christlichen Denkern wieder aufgegriffen und existieren auch in der christlichen Tradition parallel zueinander weiter. Das Verhältnis von Leib und Seele spielt im Christentum eine noch wichtigere Rolle als in der antiken Philosophie; schließlich hängt davon ab, wie die Auferstehung der Gläubigen und das Leben nach dem Tod vorstellbar sein sollen. Unter den frühem christlichen Denkern scheint die antike Vorstellung eines (platonischen) Dualismus, nämlich der grundsätzlichen Unabhängigkeit der Seele vom Körper, in der der Körper die Seele mehr oder weniger bekleidet, wenn nicht gar einsperrt (τὸ μὲν σῶμά ἐστιν ἡμῖν σῆμα – der Körper ist das Grab der Seele),93 verbreitet gewesen zu sein.94 Demzufolge löst sich die Verbindung von sterblicher Hülle und unsterblicher Seele erst mit dem Tod.95 Im Neuen Testament ist der Körper innerhalb einer anthropologischen Dreiteilung des Menschen angesiedelt 91 Kahn 1979: 126. 92 Aristoteles, De Anima II, 412 ff. 93 Platon, Gorgias 493 a 23; Phaidros 250 c und Kratylos 400 c; dieses Zitat wird auch den Orphikern zugeschrieben, vgl. Frg. 1 B 3 Diehls/Kranz. 94 Zu den Metaphern der Seele und ihrem Grab bzw. ihrer Einkerkerung von der Antike bis zum Mittelalter vgl. Courcelle 1975: 325–414. 95 Platon Gorgias 524 b: „Ὁ θάνατος […] οὐδὲν ἄλλο ἢ […] διάλυσις τῆς ψυχῆς καὶ τοῦ σώματος.“ [„ Der Tod […] ist nichts anderes als die Trennung von Leib und Seele“].

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und ist nur im Verbund von Geist (πνεῦμα), Seele (ψυχή) und Körper (σῶμα) zu verstehen.96 Für die Psychologie des Evagrios ist der platonische Seelenbegriff mit seiner Einteilung in einen begehrenden (ἐπιθυμητικόν), einen muthaften (θυμοειδές) und einen vernünftigen Teil (λογιστικόν) weiterhin von zentraler Bedeutung.97 Der begehrende Teil ist rein auf die Sinneswahrnehmung und auf die Befriedigung körperlicher Bedürfnisse wie Ernährung oder Fortpflanzung ausgerichtet.98 Der Wille, der im muthaften Teil der Seele angesiedelt ist, ist verantwortlich für subjektive Meinungen und wertende Urteile; ohne die Kontrolle seitens des vernünftigen Teils hat er jedoch kein ethisches Korrektiv und kann negative Eigenschaften wie Übermut, Misstrauen und Neid zuungunsten der positiven wie Eifer, Milde, Sanftmut und Respekt ausbilden.99 Über die genannten unteren, von tierischen Impulsen getriebenen und eng mit dem Körper verknüpften Seelenteile soll der vernünftige Teil die Herrschaft übernehmen, so wie ein Wagenlenker zwei Pferde unter Kontrolle hält.100 Evagrios’ Weg zur menschlichen Perfektion, die die Schau Gottes zum Ziel hat, verläuft über die Bekämpfung der Affekte (πάθη) mit dem Ziel der Affektlosigkeit (ἀπάθεια). Diese Strategie verfolgen bereits die spätantiken Philosophenschulen, wobei sie durchaus auch auf Konzepte in Platon und Aristoteles zurückgreifen;101 hier gilt die Kontrolle der körperlichen Bedürfnisse, die in den beiden unteren Seelenteilen angesiedelt sind, durch den Verstand als höchste Form der Freiheit und als unbedingte Voraussetzung für ein gelungenes Leben. In der jüdisch-christlichen Tradition verbinden sich später zwei Vorstellungen von den Affekten, da sie aus der iranischen Welt die dualistische Vorstellung negativer (materieller) Energien übernommen hat, die den Menschen bedrohen und die sich als Dämonen und böse Geister manifestieren, wie sie auch im Neuen Testament zahlreich belegt sind.102 Der ständige Kampf gegen die Versuchungen in Form von Dämonen, der das Leben der Wüstenväter prägte, findet sich in

96 1 Thess 5,23. 97 Platon, Staat 438 d–441 c, 443 c–445 e. 98 Platon, Staat 580 e–581 a. 99 Platon, Staat 581 b–e. 100 Platon, Phaidros 246 a–247 c; 253 c–254 e. Zum Bild des Seelenwagens in der Antike und seiner späteren Ausgestaltung siehe Halfwassen 1995. 101 Platon, Gorgias 492 e und 494; Phaidros 250 c; Philebos 33 e. Aristoteles, Eudemische Ethik 1221 a 22; Stoicorum veterum fragmenta (Arnim) III, 109 und 48; Cicero, Tusculanae disputationes III, 4. 102 Philon, Nomon allegoriai II, 93; III, 131 f. Clemens Alexandrinus, Stromateis IV 22.

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abgewandelter Form auch in den Ermahnungen des Evagrios wieder, der diese in die philosophischen Begrifflichkeiten der Affekte übersetzt. Die Befreiung von den Affekten gelingt dann, wenn sich alle Seelenteile, jeder nach seiner Art, der Tugend zuwenden.103 Im Praktikos unterstreicht Evagrios die Notwendigkeit, sich von den Begierden des Körpers frei zu machen und listet dafür die acht schädlichen Gedanken (λογισμοί)104 auf, die dem Menschen auf seinem Weg zur richtigen Erkenntnis am gefährlichsten werden: Gefräßigkeit, Wollust, Geldgier, Traurigkeit, Zorn, Antriebslosigkeit, Ruhmsucht und Stolz, die der Ausgangspunkt für alle weiteren geistigen Fehltritte sind, die den Mönch von seinem spirituellen Weg abbringen und von denen sieben als die Sieben Todsünden später Eingang in die gesamte christliche Tradition fanden. Es ist diskutiert worden,105 ob es einen Unterschied gibt zwischen den Affekten (πάθη) und den (negativen) Gedanken (λογισμοί, νοήματα), die den Gläubigen vom reinen Gebet abhalten, jedoch scheint sich die Bedeutung der beiden Begriffe bei Evagrios zu überlappen. Man kann mit Sperber-Hartmann argumentieren, dass Evagrios als erster das philosophische Konzept der Affektlosigkeit mit der mönchischen Tugend von der Bekämpfung der Dämonen in Form von trügerischen und verführerischen Gedanken, wie sie in den Apophthegmata Patrum geschildert werden, vereint hat. Diese Affekte sind Dysfunktionen der Seele, die wie Krankheiten therapiert werden müssen.106 Dies gelingt durch das Gebet (προσευχή), also die direkte Kommunikation mit Gott im Gegensatz zur einfachen Bitte (δέησις). Waren schon die Schriften vieler Philosophen der Spätantike und der Kaiserzeit viel mehr Handbücher für die praktische Lebenshilfe als theoretische Abhandlungen,107 so gilt dies umso mehr für die Schriften des Evagrios, der seine

103 Zur Geschichte der Affekte in der antiken Philosophie und bei den christlichen Denkern vgl. Ramfos GA 18: 88 ff. und die Zusammenfassung der Diskussion bei Corrigan 2009: 53–57. 104 Evagrios scheint mit dieser Bezeichnung, ebenso wie in der Dämonologie, ganz in der christlich-jüdischen Tradition zu stehen, vgl. Corrigan 2009: 77 f. 105 Die Diskussion wird zusammengefasst bei Sperber-Hartmann 2011: 28 ff. und 143 f. 106 Ramfos GA 18: 151. 107 Erler 1994: 127 beschreibt die therapeutischen Techniken in der hellenistischen Philosophie als „Hilfe zur Selbsthilfe“. Es handelt sich hierbei um sehr präzise Handlungsanweisungen, die besonders im Epikureismus, aber auch in der Stoa in Gebrauch waren, und allem Anschein nach wesentlich weiter verbreitet waren als die theoretischen Grundlagen der jeweiligen Philosophenschulen.

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eigenen monastischen Erfahrungen in regelrechte Handreichungen für seine Mitbrüder einfließen ließ. Mit Evagrios stehen wir also bereits an der Schwelle zu einer neuen Zeit, da bei ihm noch eine weitere folgenreiche Entwicklung des inneren Raums auszumachen ist, die besonders wichtig für das Mönchtum wurde, nämlich die Beschreibung der Phantasie als einer Dimension, in der nicht-reale Dinge sichtbar werden. Im Kontext der antiken Philosophie war dies problematisch gewesen, da die Vorstellung vorherrschte, alles Sichtbare, auch wenn es nur vor dem „inneren Auge“ erscheint, müsse in irgendeiner Weise von einem äußeren Eindruck her stammen. Dass der menschliche Geist von sich aus Bilder verfertigte, war zwar gerade den Dichtern nicht fremd, aber philosophisch schwer zu begründen. Dies führte schließlich auch zur Ablehnung der Dichtung durch Platon, da diese durch das Hervorbringen von Bildern und die Produktion falscher Eindrücke einen schädlichen Einfluss auf den Menschen habe.108 Man sollte meinen, ein Eremit in der Wüste sei in seiner völligen Isolation gegen die Dämonen der Versuchung gefeit, da er keinen Zugang zu Dingen hat, die solche negativen Gedanken hervorbringen konnten. Nichtsdestotrotz ist der Kampf der Einsiedler gerade gegen diese Versuchungen besonders hart, da sie sich aus der eigenen Erinnerung (μνήμη) und der Phantasie speisen und daher nicht mehr außerhalb der Seele lokalisiert werden können. Aus der Auseinandersetzung von Körper und Seele, wie sie aus der Antike bekannt ist, wird ein Kampf im Inneren des Selbst. So erweist sich die Unerschütterlichkeit des Asketen dadurch, dass er sowohl gegenüber aktuellen körperlichen Reizen immun ist, als auch gegenüber denen, an die er sich erinnert.109 Die Erinnerungen sind insofern besonders tückisch, als sie sich, ebenso wie die Phantasie, die durch diese genährt wird, bereits im Inneren des Menschen befinden. Sie äußern sich einerseits in den Versuchungen (λογισμοί), nachts aber, wenn der Mönch sich nicht mehr völlig unter Kontrolle hat, schleichen sie sich durch die Träume ein.110 Nur in der vollständigen Selbstbeherrschung erreicht der Asket die erforderliche Reinheit, die ihm zur θεωρία, zur unmittelbaren Kommunikation mit Gott verhilft, wenn er in sich das Licht Gottes erblickt.

108 Dazu Ramfos GA 14: 287–300. Zur Dichterkritik Platons vgl. Halliwell 1997 und 2002. 109 Evagrios, Praktikos 67. 110 Evagrios, Praktikos 56 und Ramfos GA 18: 101. Zu den dämonischen Träumen in der monastischen Tradition Lienhard 2006: 42–47. Die Autorin beschreibt Träume, Visionen und andere imaginäre Erfahrungen in der frühbyzantinischen monastischen Literatur. Zu den Visionen in der Vita des Antonios vgl. Ramfos GA 17: 75–89.

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Die negativen Gedanken, die den Mönch von seinem Weg zu Gott ablenken, können jedoch durch die Beachtung der Regeln der Askese, deren Ziel ein engelsgleiches Leben (βίος ἀγγελικός) ist, therapiert werden. Sie sind gleichsam Krankheiten der Seele,111 die durch die asketischen Praktiken geheilt werden können; meist geht es dabei darum, den Gedanken durch Limitierung der Grundbedürfnisse wie Nahrung, Schlaf oder ähnlichen die Grundlage zu entziehen. Dieses körperliche und geistige Training soll schließlich eben jene innere Ruhe (ἡσυχία) bewirken, die für das byzantinische Mönchtum entscheidend wichtig war.112 Für Evagrios verläuft dieser Weg zur Vereinigung mit Gott in erster Linie über das Gebet. Dieses Gebet nennt er als erster einer langen orthodoxen Tradition das „Gebet des Geistes“ (νοερὰ προσευχή), was später im Hesychasmus eine besondere Bedeutung erlangen wird.113 Die Einbeziehung der Erinnerung und der Phantasie jenseits der Vorstellung, die φαντασίαι seien lediglich kleine Abbilder von physischen Phänomenen, die durch die Augen aufgenommen werden und die sich dann in die Seele einprägen114 sowie der Träume als Quelle von Versuchungen, stellt im Vergleich zur Antike eine gewaltige Ausweitung der Innenbetrachtung dar. Ramfos versteht diese als Ausdruck eines weiter gefassten Begriffs von Innerlichkeit im christlichen Kontext und als eine Art der Erweiterung des inneren Raums. Jedoch spielt sich nicht nur die Bekämpfung der dämonischen Einflüsse nunmehr im Inneren des Menschen ab, sondern natürlich auch die Erkenntnis des Metaphysischen. Dazu geht Ramfos auf die christliche Tradition in der Nachfolge des Origenes115 sowie die Verbindung derselben mit dem neuplatonischen Strang und dessen Hauptvertreter Plotin ein.116 111 Evagrios, Praktikos 55: „Πήξις δὲ εἰδώλων ἀρρώστιας γνώρισμα.“ [„ Die Manifestation von Bildern ist ein Zeichen von Krankheit.“]. 112 Die spirituelle Bedeutung der seelisch-geistigen Ruhe wird bereits in frühbyzantinischen Texten der monastischen Tradition unterstrichen, vgl. Dodel 1997: 149, sowie Hausherr 1956: 540, 247–285, zitiert nach: Lienhard 2006: 16, Anm. 38. 113 Meyendorff 1974: 68. 114 So in Aristoteles, De Anima III, 3. Zur phantasia der Stoiker vgl. Sedley 2005. 115 Hier beruft sich Ramfos auf Rahner 1932, siehe Ramfos GA 18: 128 ff. Auch FraigneauJulien geht von einer mystischen Strömung aus, die im ganzen byzantinischen Mittelalter vorhanden ist und die auf die inneren Sinne als Werkzeug der Gotteserkenntnis zurückgreift; diese beginnt bei Origenes und umfasst Vertreter wie Gregor von Nyssa, Pseudo-Makarios, Diadochos von Photika, Maximus Confessor und schließlich Symeon den Neuen Theologen. Allerdings wird abgesehen von einer Anknüpfung an die neuplatonische Philosophie, die für Ramfos so wichtig ist (Fraigneau-Julien 1985: 27 f.). 116 In der Ausarbeitung der Rolle Plotins verweist Ramfos auf Dillons Aufsatz zur Aisthêsis noêtê (1986), vgl. Ramfos GA 18: 133 f.

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Mit der platonischen Teilung der Welt in eine sichtbare Sphäre (die der Phänomene) und eine unsichtbare (das Reich der Ideen) wurde, so Ramfos, auch die Frage nach der Erkennbarkeit der Welt jenseits der Phänomene problematisiert.117 Wenn es einen Raum jenseits des Sichtbaren gibt, wie kann dieser wahrgenommen werden? Mit den traditionellen fünf Sinnen ist dies nicht möglich. Plotin löste dieses Problem mit der Annahme einer αἴσθησις νοητή, einer „geistigen Wahrnehmung“, oder einem „inneren Sinn“, welcher mit dem göttlichen Licht wesensähnlich, nämlich feuerartig ist und somit das göttliche Licht wahrnehmen kann. In Anlehnung an Platon nannte Plotin dies das „Auge der Seele“, wie dieser auch den Nous bezeichnet hatte.118 Auf der anderen Seite bezieht Ramfos die christliche Tradition auf der Basis der paulinischen Briefe ein, in denen die „Augen des Herzens“ thematisiert wurden.119 In der alexandrinischen Schule, christlicher oder heidnischer Ausrichtung, herrschte wiederum die Vorstellung von der allegorischen Sinngebung vor, derzufolge alles Sichtbare auf etwas Anderes verweise. Diese Besonderheit hatte einen starken Einfluss auf die philologische Arbeit der Gelehrten in Alexandria, die antike Texte, wie etwa die Epen des Homer, mittels allegorischer Deutung für ihre Zeitgenossen zugänglicher machten.120 Im philosophischen und theologischen Kontext bot eben diese allegorische Deutung die Möglichkeit, vielfältige Einflüsse zu integrieren, was jedoch im Fall von Origenes auch die Grenze zur Häresie leicht zu überschreiten drohte. In jedem Fall stimmte die Theorie der fünf inneren Sinne des Origenes mit der allegorischen Auslegungspraxis neuplatonischer wie christlicher Autoren überein, in der die wahrnehmbare Welt ein Abbild und ein Symbol der Ideen ist. So wurde im alexandrinischen Umfeld die Kosmologie des Timaios gelesen und so wurde, im christlichen Kontext, die Vorstellung des unsichtbaren Gottes erklärt.121 Der hermeneutische Aufstieg vom Buchstaben zum Geist und von der Materie zum Immateriellen stellte notwendigerweise die Frage nach den entsprechenden Sinnesorganen. Abgesehen von den fünf körperlichen Sinnen existieren nach Origenes weitere fünf, welche er als seelische, geistige, göttliche oder ähnlich bezeichnet. Für diejenigen, die von den Affekten gelenkt werden, bleiben letztere funktionslos, da ihre Aktivierung der Askese,

117 Ramfos, GA 1: 219 und GA 13: 227. 118 Platon Sophistes 254 a und Staat 533 d. Vgl. Ramfos GA 13: 247 ff. und GA 18: 107 f. und 133. 119 Eph 1,18 und Hebr 5,14. 120 Eine umfassende Darstellung der allegorischen Exegese in Alexandria bietet Dawson 1992. 121 Joh 1,18 und Röm 1,20.

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des Gebets und der Gnade von oben bedarf. Im Gegensatz zu den körperlichen Sinnen, die mit der Seele verbunden sind, sind die geistigen Sinne Organe des Nous und geeignet, die übersinnliche Realität wahrzunehmen. Das geistige Auge sieht besser, solange wir die körperlichen Augen schließen. Der Nous kann die körperlosen Dinge unterscheiden und er kommt somit zu einer Wahrnehmung jenseits der Logik. […] Solange der Hesychasmus des christlichen Ostens nach dem Antlitz Gottes und seinem Licht suchen wird, wird er auf das „Werkzeug“ der geistigen Sinneswahrnehmungen zurückgreifen.122

Der Zusammenhang der Theorie der „geistigen Sinneswahrnehmungen“ mit der Hermeneutik der Origenes ist einleuchtend. Wie auch Philon, Valentinus, Klemens und Hippolytos las dieser die heiligen Schriften auf mehreren Ebenen, wobei er davon ausging, dass die Wahrheit gleichsam „zwischen den Zeilen“ steht. Somit sind sowohl das Alte als auch das Neue Testament auf Christus ausgerichtet und durchzogen von geheimen Vorausverweisen, die nur für den kundigen Leser verständlich sind. Analog zum buchstäblichen und zum übertragenen Sinn der Schriften existieren demnach auch die entsprechenden (inneren) Sinnesorgane im Gegensatz zu den „äußeren“, den körperlichen Sinnen, mit denen der Mensch die Wahrheit erfassen kann.123 Ganz in antiker Manier ist also bei Origenes die Erkenntnis in Stufen angelegt, vom Sinnlichen zum Übersinnlichen, wobei die „erste“, körperlich-sinnliche Wahrnehmung, stets auf etwas Übergeordnetes verweist. Hier ist auch das Symbol entstanden, etwas, das „für etwas Anderes“ steht, welches für die byzantinische und in deren Folge auch für die moderne griechische Kultur von enormer Bedeutung sein wird, und nach Ramfos’ Auffassung einer der Hauptgründe für eine spätere Tendenz zur Erstarrung und Verkrustung im östlichen Christentum ist.124 122 „Ἡ ἑρμηνευτικὴ ἀναγωγὴ ἀπὸ τὸ γράμμα στὸ πνεῦμα καὶ ἀπὸ τὰ ὑλικὰ στὰ νοητὰ ἔθετε ἐπιτακτικὰ τὸ αἴτημα τῶν ἀντιστοίχων αἰσθήσεων. Ἐκτὸς τῶν πέντε σωματικῶν αἰσθήσεων ὑφίστανται κατὰ τὸν Ὠριγένη ἄλλες πέντε, τὶς ὁποῖες χαρακτηρίζει ψυχικές, πνευματικές, θεῖες κ.τ.ὅ. Γιὰ ὅσους κυριαρχοῦνται ἀπὸ τὰ πάθη, οἱ αἰσθήσεις αὐτὲς μένουν ἀνέργητες, ἐνῷ ἡ ἐνεργοποίησί τους προϋποθέτει ἄσκησι, προσευχή καὶ ἄνωθεν Χάρι. Ἐν ἀντιθέσει πρὸς τὶς σωματικὲς αἰσθήσεις ποὺ συνδέονται μὲ τὴν ψυχή, οἱ πνευματικὲς εἶναι ὄργανα τοῦ νοῦ κατάλληλα νὰ προσλαμβάνουν τὴν ὑπεραισθητὴ πραγματικότητα. Ὁ νοερὸς ὀφθαλμὸς διακρίνει ὀξύτερα ἐφ’ ὅσον κλείνουμε τὰ μάτια τοῦ σώματος. Ὁ νοῦς διακρίνει τὰ ἀσώματα ὄντα καὶ κατορθώνει ἔτσι μία ὑπὲρ λόγον αἴσθησι. […] Ὅσο ὁ ἡσυχασμὸς τῆς χριστιανικῆς Ἀνατολῆς θὰ ἀναζητῇ τὴν ὄψι τοῦ Θεοῦ καὶ τοῦ φωτός του, θὰ καταφεύγῃ στὸ ‚ἐργαλεῖο‘ τῶν πνευματικῶν αἰσθήσεων.“ (Ramfos GA 18: 129). 123 Ramfos GA 18: 129 f. 124 Ramfos GA 8: 46 ff; GA 18: 132 und öfter.

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Nach Evagrios erweiterte die Einführung der inneren Sinne die Vorstellung von der Innerlichkeit für die gesamte folgende orthodoxe monastische Tradition. Die Hinzufügung der inneren Sinne zu den äußeren bedeutet, dass dem Verstand als oberstem Seelenteil unter bestimmten Voraussetzungen auch die jenseitige Welt, die immaterielle, unsichtbare Realität unmittelbar zugänglich ist, und zwar in einer Form des geistigen Erfassens, die nicht, wie etwa in der scholastischen Theologie,125 den Umweg über die abstrakte Verstandestätigkeit gehen muss. Diese Erkenntnis ist insofern „mystisch“, als sie Seele, Herz und Geist gleichermaßen ergreift. Über Origenes und Evagrios gelangt hier, wenn auch über Umwege, auch neuplatonisches Gedankengut in die orthodoxe Theologie, das im Westen erst viel später, mit Marsilio Ficinos Platonexegese, wieder auftauchen wird. Die Erkenntnis des göttlichen Lichtes gleicht bei diesem einem raptus, einem furor divinus, der den Menschen ganz plötzlich (ἐξαίφνης)126 ergreift und völlig verwandelt. Die Einführung der inneren Sinne verändert jedoch nicht nur die Vorstellung davon, wie Erkenntnis funktioniert, sondern sie bringt einen ganz anderen Menschen hervor. Neben dem „äußeren“ gibt es nun auch ein „inneres“ Ich, welches nach ausführlicher Vorbereitung im reinen Gebet, wenn auch nur vorübergehend, den Zustand der vollständigen seelischen Reinheit erlangen kann, in dem es das „eigene Licht“ (οἰκεῖον φῶς)127 sehen kann, welches auch das göttliche ist. Dies bedeutet, dass das innere Ich ein „himmlischer Ort“ ist, der nur durch die Affektlosigkeit erreicht werden kann. Diese ist […] das entscheidende Moment für das authentische geistige Leben des Hesychasten. […] Die Affektlosigkeit führt geradewegs zu innerer Reinheit und im geistigen Seelenteil zum Sehen eines inneren Lichtes.128

125 Zur Ablehnung der lateinischen Scholastik durch orthodoxe Theologen siehe auch unten Kapitel 5.4.1 Trinitätslehre und orthodoxes Menschenbild. 126 Platon, Phaidros 245 und 249; Ion 533–534. Ramfos GA 2: 135 und GA 18: 112; 140, und öfter. In seinem Buch zum Ursprung der christlichen mystischen Tradition, aus dem Ramfos wahrscheinlich weit mehr übernommen hat als nur den Hinweis auf Rahner (1932) verweist Louth ebenfalls auf den Aspekt des Plötzlichen in der platonischen philosophischen Tradition (Louth 2007: 13 bei Platon; 46 bei Plotin; 69 bei Origenes). 127 Evagrios, Peri logismon, 34, 18. Vgl. Ramfos GA 18: 109 in Bezugnahme auf Guillaumont 1996. 128 „[…] σημεῖο καθοριστικὸ γιὰ τὴν αὐθεντικὴ πνευματικὴ ζωὴ τοῦ ἡσυχαστοῦ. […] Ἡ ἀπάθεια παραπέμπει ἀκριβῶς σὲ ἐσωτερικὴ καθαρότητα συνυφασμένη μὲ ἀπὸ μέρους τοῦ νοῦ ὅρασι ἑνὸς ἔνδον φωτός.“ (Ramfos GA 18: 109).

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In seiner Darstellung des orthodoxen Mönchtums hebt Ramfos fast ausschließlich die philosophischen Aspekte dieser Tradition hervor, was einer sehr starken Eingrenzung des Phänomens gleichkommt. Während in der Abhandlung über die Wüstenväter die Praktiken der Askese im Vordergrund standen, mithilfe derer die Mönche ein engelsgleiches Leben führen und damit das Paradies bereits im irdischen Dasein verwirklichen konnten, steht in der Abhandlung über Evagrios’ Psychologie die Weiterentwicklung der Philosophie Platons in der orthodoxen Tradition im Zentrum. Beide Untersuchungen gehen dennoch von einer substanziellen Kontinuität von Antike und Christentum aus, die (und hier schließt Ramfos sich der Tendenz der griechischen Theologie der sechziger Jahre an) anders verläuft als die lateinische Rezeption. Die latent apologetische und in gewisser Weise antiwestliche Haltung, die in dieser Konzeption durchscheint, ist charakteristisch für Ramfos’ gesamtes damaliges geistiges Umfeld. Diese Tendenz setzt sich in seinen weiteren Untersuchungen der byzantinischen Geistesgeschichte fort, wie die beiden folgenden Beispiele, Symeon der Neue Theologe und Gregor Palamas, zeigen werden. Darüber hinaus zeigt sich bei Symeon jedoch auch eine weitere Facette von Ramfos’ Denken, die erst in den späten 1990er Jahren in den Vordergrund rückt, nämlich die Existenz und historische Bedeutung einer Epoche des Humanismus und der Renaissance in der byzantinischen Tradition.

4.5 Gottesschau und byzantinischer Humanismus: Symeon der Neue Theologe Der Hl. Symeon der Neue Theologe (949–1022), auch bekannt als „Symeon der Jüngere“ oder als der „Neue Theologe“, um ihn gegen seinen Lehrer Symeon Studites, auch Eulabes genannt, abzugrenzen, ist für Ramfos eine weitere Schlüsselfigur für die Erklärung des mittelalterlichen orthodoxen Denkens. Er stammte aus einer adeligen Familie aus Galata in Paphlagonien (Kleinasien) und traf im Alter von 14 Jahren seinen späteren spirituellen Lehrer Symeon Eulabes (aufgrund seiner Klosterzugehörigkeit auch Studites genannt)129 in Konstantinopel. Symeon trat in das Kloster der Studiten ein, wechselte aber binnen Jahresfrist – ebenfalls in Konstantinopel – in das kleine Kloster des heiligen Mamas über, dessen Abt er nach drei Jahren wurde.

129 GA 7: 111–129. Zum Einfluss des Symeon Studites auf den Neuen Theologen vgl. Alfeev 2003.

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Wegen seiner strengen Lebensweise, die er auch seinen Mitbrüdern abverlangte, und wegen der übertriebenen Verehrung seines 987 verstorbenen geistlichen Vaters wurde Symeon angefeindet und musste nach einer Revolte im Jahr 1005 sein Amt niederlegen. Daraufhin lebte er als Einsiedler in der Nähe des Klosters. Schließlich wurde er vom Patriarchen von Konstantinopel Sergios II. rehabilitiert. Symeon der Neue Theologe verbrachte die letzte Phase seines Lebens im Kloster der Hl. Marina, wo er einen großen Teil seiner Werke schrieb.130 Symeon gilt als einer der ersten orthodoxen Heiligen, der ausführlich über seine mystischen Erfahrungen berichtet, die er noch vor seinem Leben als Mönch gemacht hatte.131 Ramfos behandelt Symeon in mehreren Werken. Zuerst erscheint 1981 ein Essay zu Symeon, der in erster Linie der Ausgangspunkt zu einer breiteren, sehr ideologisch und neoorthodox geprägten Betrachtung der griechischen Kultur ist.132 Später widmet er ihm die zweite Hälfte seiner Studie Philosophischer und göttlicher Eros,133 in dem er, ganz im Sinne seiner These von der Kontinuität der griechischen vorchristlichen in der orthodoxen Kultur, den philosophischen Liebebegriff des ἔρως mit der Liebe, die Symeon in seinen Hymnen der göttlichen Liebe (῞Υμνοι θείων ἐρώτων) thematisiert, gleichsetzt. In Das undurchschaubare Nichts134 hingegen, einem seiner jüngeren Werke, beschreibt Ramfos Symeon als einen Vertreter einer byzantinischen Renaissance, die aufgrund ungünstiger historischer Umstände, aber auch wegen gewisser innerer Widersprüche nicht die radikalen Folgen hatte wie die Renaissance im Westen. Ein vergleichsweise kurzer Text von Ramfos aus dem Jahr 2000135 enthält dazu einige Vorarbeiten und geht insbesondere auf die Gründe für das Scheitern einer byzantinischen Renaissance ein. An dieser unterschiedlichen Bewertung derselben historischen Figur zeigt sich, wie Ramfos die historischen Quellen als Ausgangspunkt für seine eigene Suche nach dem Wesen des Griechentums nutzt und wie sich seine ideologische Wende auch auf die Bewertung seiner Quellen auswirkt. In beiden „Phasen“ begreift Ramfos die „östliche“ und die „westliche“ Kultur als grundverschieden, wobei er implizit „westlich“ mit 130 Zur Biographie des Symeon vgl. die ausführliche Darstellung in Alfeyev 2000: 27–42. 131 Eine ausführliche Darstellung der mystischen Schriften mit vielen Originalzitaten des Symeon in Blum 2009: 207–264, mit Literatur, außerdem auch Alfeyev 2000: 208–270. 132 Ἡ πολιτεία τοῦ Νέου Θεολόγου. Προϊστορία καὶ ἀγωνία τοῦ Νέου Ἑλληνισμοῦ [Das Leben des Neuen Theologen. Vorgeschichte und existenzielle Angst des modernen Griechentums], Athen 1981, jetzt in GA 3: 93–195. 133 Ramfos GA 7. 134 Ramfos GA 18: 283–320. 135 Ramfos GA 16: 232–254.

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„modern“ gleichsetzt. Aus diesem Paradigma versteht sich seine Absicht, die griechische Kultur in Abgrenzung zum Westen zu begreifen. Ein wichtiger Aspekt, auf den später noch weiter eingegangen wird,136 ist hierbei die Individualisierung, die er im Hinblick auf Symeons Sonderstellung gebraucht. Aus seinen Ausführung wird klar (ohne dass er dies explizit formulieren würde), dass er hier eine Begrifflichkeit vergleichbar mit der von Simmel (1989) auffasst, nach der Modernisierung, soziale Differenzierung und Individualisierung korrelative Begriffe sind, die grundsätzlich auf einen übergeordneten gesellschaftlichen Gesamtprozess verweisen.137 In seiner noch entlang neoorthodoxer Prinzipien ausgearbeiteten Analyse Philosophischer und göttlicher Eros konzentriert sich Ramfos’ Interpretation der Hymnen des Symeon auf die beiden Aspekte der Philosophie Platons, die er im Christentum erhalten sieht: Die Schau des göttlichen Lichts als Ziel der Philosophie oder Theosis in der Orthodoxie auf der einen Seite und die Bedeutung der Liebe (ἔρως) bzw. der göttlichen Gnade (Χάρις) auf der anderen, wobei er die Liebesauffassung im westlichen Mittelalter auf der Basis des Werkes von Denis de Rougemont, L’Amour et l’Occident138 als Folie verwendet. Dies dient ihm einerseits dazu herauszuarbeiten, inwiefern im westlichen Europa mit dem Entstehen des Reiches der Karolinger nicht nur eine politische, sondern auch eine kulturelle Abnabelung von der Tradition der (griechischen) Antike vollzogen wurde, zum anderen versucht er, eine genuin griechische und orthodoxe Liebesauffassung zu beschreiben. Das göttliche Liebeserlebnis als zutiefst mystische und religiöse Erfahrung, wie es Symeon in ungebrochener Tradition analog zum Platonischen Liebesbegriff aufgefasst haben soll, wird in diesem Buch in Abgrenzung zur westlichen Kultur ausgearbeitet.139 Symeon thematisiert in seinen Hymnen der göttlichen Liebe seine mystischen Erfahrungen. Dass diese trotz ihrer unbestrittenen Beliebtheit niemals in den Hymnensammlungen der Kirche auftauchen, liegt möglicherweise an der ausgesprochen bildhaft formulierten Liebesmetaphorik der Vereinigung des Menschen mit Gott. Ramfos fügt jedoch diese Form der Liebe, die in die Vereinigung mündet, nämlich den ἔρως γαμήλιος, in die Tradition der orthodoxen Kirche und Kultur ein, der zufolge die „Schönheit und die Liebe in der Seele und im 136 Siehe unten Kapitel 6.5 Individualisierung und „ethnopsychologische“ Kritik. 137 Zur Individualisierung bei Simmel vgl. Beck 1986: 121 ff. 138 Paris 1939 und öfter. 139 Da in diesem Buch der Aspekt des Individuums betont wird, folgt eine ausführlichere Darstellung dieses Buchs in Kapitel 5.4.2 „Individualistische“ vs. „metaphysische“ Liebe in Ost und West.

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Leben des geistlich ganzheitlichen Menschen“140 ihren Platz haben. Die körperliche menschliche Liebe ist hier, ganz in der Tradition von Platons Symposion bis zu den Kirchenvätern, das Modell für die göttliche Liebe, freilich weniger wegen der Intensität und der Süße der Empfindungen als vielmehr, weil die Schau des Schönen und die Empfindung einer Fülle, welche das Trauma unserer eigenen Unvollkommenheit heilt, dieses Gefühl in der Seele des Liebenden hervorbringen.141

Hier zeichnen sich klar die zentralen Themen von Ramfos’ früherer philosophischer Interpretation der Texte des Symeon ab, nämlich die Identifikation der Begriffe Schönheit und Licht, sowie die Liebe als Motor der menschlichen Gotteserkenntnis. Ramfos zieht eine Parallele zwischen Platons Liebesbegriff aus dem Symposion und dem Phaidros einerseits, zwei Dialogen, die den Bogen schlagen von der menschlichen, erotischen Liebe zu ihrer philosophischen Überhöhung, die es dem Menschen erlaubt, das Göttliche zu schauen, und den mystischen Liebesgedichten des Symeon andererseits. Die christliche Tradition bewegt sich hier auf den bereits erprobten Pfaden der neuplatonischen Schule und setzt die Schau des Lichts mit der Erkenntnis Gottes gleich142, verlagert jedoch den philosophischen Eros auf eine Ebene jenseits des Körpers in die Vorstellung der göttlichen Gnade.143 Bemerkenswert in dieser Untersuchung ist die Ausarbeitung der göttlichen Schau in der orthodoxen Mystik, die sich hinsichtlich der Art der Erkenntnis von der westlichen stärker unterscheidet als etwa von der islamischen. Geschieht die Vereinigung, etwa beim deutschen Mystiker Meister Eckhart, in der Gleichsetzung von Erkennendem und Erkanntem,144 vereint die Theosis im Osten sinnliche wie intellektuelle Elemente.145 Ramfos postuliert, vergleichbar mit den Studien 140 „Ὁ ἔρως τοῦ ἁγίου Συμεὼν εἶναι γαμήλιος, εἶναι ἔρως ἑνώσεως καὶ ὄχι πάθος.“ [Der Eros des Hl. Symeon entspricht der ehelichen Form der Liebe, es ist eine Liebe der Vereinigung, nicht eine Liebe der Leidenschaft.] (Ramfos GA 7: 252). 141 „[…] ὄχι τόσο γιὰ τὴν ἔντασι καὶ τὴν ἡδύτητα τοῦ αἰσθήματος, ὅσο διότι αὐτὸ τὸ αἴσθημα τὸ γεννᾷ στὴν ψυχὴ τοῦ ἐρῶντος τὸ θέαμα τῆς ὀμορφιᾶς, μιᾶς πληρότητος ἡ κατοχὴ τῆς ὁποίας ἐπουλώνει τὸ τραῦμα δικῆς μας ἐλλείψεως.“ (Ramfos GA 7: 247). 142 Dazu oben das Kapitel 3.5 Lichtmetaphorik und Platons Metaphysik zu Platons Höhlengleichnis. 143 Dazu unten mehr in Kapitel 5.4.2 „Individualistische“ vs. „metaphysische“ Liebe in Ost und West. 144 Einen Vergleich der Mystiker Meister Eckhart und Jalal al-Din Rumi erarbeitet Zarrabi-Zadeh 2016. 145 Ramfos GA 18: 303 f.

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von Henri Corbin (1903–1978) zur persischen Mystik,146 neben der sinnlichen Wahrnehmung und der logischen Verstandestätigkeit eine dritte Form der Erkenntnis, die weder rein ästhetisch noch rein abstrakt ist, sondern Merkmale beider vereinigt: Wenn die wahrgenommene Schau die des geoffenbarten Gottes ist, also nicht gemäß einem bestimmten theologischen Dogma, sondern im Erleben der Liebe Gottes geschieht […], dann besteht sie nicht in einem logischen Erfassen, vermittelt durch strenge kirchlichen Hierarchien und verknöcherte Regeln, sondern es ist eine unmittelbare Schau, welche die Wahrnehmung des Herzens und in Christus voraussetzt.147

Die „unmittelbare Schau“, die „Wahrnehmung des Herzens“,148 diese und ähnliche Bezeichnungen verwendet Ramfos für diese spezielle Art der Gotteserkenntnis, die eine dritte Form des Erkenntnisvorgangs beschreibt. Vergleichbar ist sie mit dem Begriff des Imaginalen (l’imaginal) bei Corbin, der mit dieser Neuschöpfung den arabischen Terminus des ‘ālam al-mithāl mit mundus imaginalis wiedergibt: Il s’agit de ce monde en position médiane entre le monde de l’intelligible pur et le monde de la perception sensible, ce monde que j’ai proposé de designer comme monde imaginal pour éviter toute confusion avec ce que l’on appelle couramment l’imaginaire.149

Diese in der östlichen Tradition von Orthodoxie und Islam erhalten gebliebene, im Westen aber verloren gegangene Fähigkeit zur mystischen Schau, zeichnet in Ramfos Werk abermals eine ursprüngliche, nicht westlich überformte Mystik aus, die sich aus der Tradition von Origenes und Evagrios entwickelt hat. Hier kommt der zweifachen Funktion des „Sehens“ eine besondere Bedeutung zu, die Ramfos bereits in Homer angelegt sieht.150 Die antike Philosophie übernimmt diese Vorstellung und bleibt unverändert bis in die byzantinische Epoche.151 Das Produkt dieser unmittelbaren Erkenntnis, 146 Vgl. die Einleitung zu Corbin 1979. 147 „Ἐὰν αἰσθητὴ θέα εἶναι ἡ κατὰ τὴν φανέρωσι τῆς θεότητος, ὄχι δηλαδὴ κατὰ ὡρισμένο θεολογικὸ δόγμα, ἀλλὰ κατὰ βίωσι τῆς ἀγάπης τοῦ Θεοῦ […], τότε δὲν συνιστᾷ λογικὴ σύλληψι, μεσιτευόμενη ἀπὸ ἄτεγκτες ἐκκλησιαστικὲς ἱεραρχίες καὶ ἀποπετρωμένους κανόνες, συνιστᾷ ὅρασι ἄμεση, ἡ ὁποία προϋποθέτει αἴσθησι ἐγκάρδια καὶ χριστοφορία.“ (Ramfos GA 3: 144). 148 Ramfos GA 18: 303 f. 149 Corbin 1977: 186 f., Hervorhebung vom Autor. 150 Vgl. die Untersuchungen von Bruno Snell; eine Sammlung seiner wichtigsten Beiträge zum Thema sind in dem Band Die Entdeckung des Geistes. Studien zur Entstehung des europäischen Denkens bei den Griechen, Hamburg 1946, versammelt. 151 Der Gesichtssinn galt den Griechen auch durch die ganze byzantinische Epoche als das verlässlichste Erkenntniswerkzeug: vgl. etwa bei Johannes Damaskinos, De fide

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die sowohl die Wahrnehmung als auch das rationale Denken mit einschließt, ist die Lichtschau, die den Menschen gottähnlich werden lässt: Er wird eins mit dem Licht (φωτοειδής) und damit mit Gott.152 An diesem Erkenntnisvorgang sind sowohl die physischen Augen als auch die „Augen der Seele“ beteiligt, wenn Gott in der Vision Mensch wird; Symeon fasst dies unter dem Begriff ἀΰλως καθορῶμεν [wir sehen immateriell] zusammen: Wenn wir also mit ihm [Symeon, Anm. I. S.] meinen, dass die Schau dieses Lichts das Herz berührt, […] dann wird deutlich, dass es als Verwandlung in uns selbst gedacht wird, wenn dies auch mit Basis der modernen Optik nicht vereinbar ist. […] Der strahlenden Erscheinung Gottes entspricht durch Teilhabe die glänzende Reinheit des wiedergeborenen Menschen.153

Die Kommunikation mit Gott in der Erfahrung des göttlichen Lichts ist einerseits der Inhalt der mystischen Liebe in Symeons Hymnen, verweist aber auch auf die eher theoretische Abhandlung Über den Glauben, die ebenfalls in der Sammlung Philokalia überliefert ist. Hier setzt Ramfos’ zweite Studie zu Symeon an, in der sich der Interessenschwerpunkt verschiebt hin zu einer orthodoxen Form des Humanismus und der Individualisierung, wie sie im Band Das undurchschaubare Nichts erörtert wird. Die Frage, ob es in Byzanz mit der italienischen Renaissance vergleichbare geistige Entwicklungen gegeben habe, ist in der Forschung lange diskutiert orthodoxa, II 18: „Πρώτη αἴσθησις, ὅρασις. Αἰσθητήρια δέ, καὶ ὄργανα τῆς ὁράσεως, τὰ ἐξ ἐγκεφάλου νεῦρα, καὶ οἱ ὀφθαλμοί  •  αἰσθάνεται δὲ ἡ ὄψις, κατὰ πρῶτον μὲν λόγον, τοῦ χρώματος  •  συνδιαγινώσκει δὲ τῷ χρώματι, καὶ τὸ κεχρωσμένον σῶμα, καὶ τὸ μέγεθος αὐτοῦ, καὶ τὸ σχῆμα, καὶ τὸν τόπον ἔνθα ἐστίν, καὶ διάστημα τὸ μεταξύ, καὶ τὸν ἀριθμόν.“ [„ Der erste Sinn ist das Sehen. Die Sinnesorgane des Sehens sind die Nerven des Gehirns und die Augen. Das Sehen ist in erster Linie die Wahrnehmung von Farbe; mit der Farbe nimmt es auch den farbigen Körper, seine Größe, Form, Position, die Entfernung und die Anzahl wahr.“] Vgl. dazu James 1996: 135 f. 152 Vgl. Völker 1974: 376 mit der Anm. 35. Völker versucht in der Lichtschau Vorgang und Effekt, Theoria und Gnosis, zu unterscheiden, vielleicht nicht ganz glücklich, wie sein Ringen um die Bedeutung der beiden Begriffe bei Symeon nahelegt, ibid. 319 ff. Möglicherweise unterscheidet Symeon selbst sie nicht so deutlich voneinander, sondern sieht darin die Vergöttlichung des Menschen, ohne Vorgang und Effekt voneinander scharf zu trennen. 153 „Ἐὰν μάλιστα ἐννοοῦμε μαζί του πὼς ἡ θέα τούτου τοῦ φωτὸς ἀγγίζει τὴν καρδιά […] γίνεται σαφὲς ὅτι νοεῖται ὡς ἀλλοίωσις μέσα μας, ἔστω καὶ ἂν ἡ νεώτερη ὀπτικὴ τὸ καθιστᾷ ὑποστατικῶς ἀδιανόητο. […] Εἰς τὴν ἀκτινόβολο παρουσία τοῦ Θεοῦ ἀντιστοιχεῖ μεθεκτικὰ ἡ μαρμαίρουσα καθαρότης τοῦ ἀναγεννημένου ἀνθρώπου.“ (Ramfos GA 7: 206).

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worden.154 Positiv beantwortet würde sie die Bedeutung der östlichen Theologie und Philosophie erheblich steigern und die Notwendigkeit ihres Studiums auch im Westen nahelegen. Tatsächlich zeigt das Interesse an der antiken paganen Bildung in Byzanz ab dem neunten Jahrhundert, dass durchaus von einem byzantinischen Humanismus gesprochen werden kann, wobei dem Menschen und der ihm innewohnenden Vernunft wieder eher zugetraut wird, die Ordnung der Dinge in der Welt und darüber hinaus zu begreifen und zu beschreiben.155 Als eine der zentralen Figuren in diesem Zusammenhang wurde üblicherweise oft Michael Psellos herangezogen, der als Philosoph, aber auch als Politiker oft mit dem Klerus zusammenstieß und dessen Thesen mehrmals angegriffen wurden.156 Sein Schüler Johannes Italos wurde schließlich im Jahr 1082 der Häresie des Platonismus für schuldig befunden und verurteilt, woraufhin das Interesse an spekulativer Philosophie in Byzanz weitestgehend erlosch und die Kultur sich dort in eine ganz andere Richtung weiterentwickelte.157 Wie unten zu zeigen sein wird, entwickelt Ramfos am Beispiel von Symeon seine eigene Vorstellung von einem byzantinischen Humanismus. Der Idee von einem Humanismus, der sich in gewisser Weise außerhalb der Kirche und in Abgrenzung von der kommentierenden Praxis der traditionellen Theologie entwickelte, setzt Ramfos nun seine Interpretation der Figur des Symeon des Theologen entgegen, der zwar innerhalb des Klerus und auch in der Bevölkerung Konstantinopels sehr umstritten war, aber in seinem Denken Ansätze zu einem Individualisierungsprozess und zu einer Art Humanismus innerhalb der orthodoxen Theologie aufweist.158 Maltese als ein Vertreter der Byzantistik katholischer Prägung beispielsweise konstruiert einen sehr plakativen Gegensatz zwischen der Gelehrsamkeit am byzantinischen Kaiserhof im 10. und 11. Jahrhundert mit Figuren wie Michael

154 Zum Diskussion um die Renaissance(n) in Byzanz und zur Rolle des Michael Psellos bei der Entwicklung aufklärerischer Tendenzen in der byzantinischen Philosophie siehe Schwaderer 2007 mit Literatur. 155 Zum vermehrten Interesse an der Antike und der Gründung von Bildungseinrichtungen als Ausbildungsstätten für die Verwaltung des Kaiserreichs in Konstantinopel siehe Lemerle 1971. 156 Zu Psellos als Historiograph vgl. Kaldellis 1999 und Pietsch 2005. 157 Clucas 1981 beschreibt die Ereignisse um die Verurteilung des Italos fast wie eine Hexenjagd und geht auch ausführlich auf die politischen Hintergründe eines nur scheinbar rein akademischen und theologischen Streits ein. Siehe auch Agapitos 1988. 158 Ramfos GA 18: 308 ff.

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Psellos und Johannes Xiphilinos, und dem monastischen Kontext. Während im Umkreis des Psellos sich zumindest zeitweise ein byzantinischer Humanismus entwickelt habe, hätte in den Klostern ein extrem konservatives Klima geherrscht. Gerade im Kapitel über Symeon den Theologen wirft Maltese der byzantinischen Theologie ihre Unfähigkeit zu einer argumentativ strukturierten Theologie vor.159 Man kann Ramfos’ erste Analyse also auch als Antwort auf die westliche Byzantinistik verstehen, für die, in Analogie zur Situation im Italien des 15. und 16. Jahrhunderts, die Entwicklung von Humanismus und Renaissance notwendigerweise im Gegensatz zum christlichen Glauben und der offiziellen Kirche stehen. Ramfos hingegen hebt in seiner Lektüre der Texte des Symeon eine Individualisierung ante litteram aus dem Geist der Orthodoxie hervor, die innerhalb der monastischen Tradition verwirklicht worden sei.160 Während Maltese, stellvertretend für die katholisch geprägte Theologiegeschichte, Symeons mystische Texte als Ausdruck einer extrem subjektiven Spiritualimus mit anarchischen Zügen verurteilt, da diese die gesellschaftliche Ordnung in Gefahr gebracht hätten,161 wird Symeon im Urteil von Ramfos zu einem Vorreiter der Individualisierung und somit zu einem Teil eines postulierten byzantinischen Humanismus des 10. und 11. Jahrhunderts.162 Symeons Individualisierung verläuft allerdings auf anderen Wegen als die im Westen und ist eigentlich nur cum grano salis als solche zu verstehen. Ramfos sieht in der bedingungslosen Verehrung des Meisters, aber insbesondere in der 159 „La preghiera e la visione sono e restano, nel complesso dell’esperienza bizantina, il modo autentico della conoscenza di Dio […] Non a caso gli ambienti monastici furono i più gelosi tutori della tradizione ed esercitarono un ruolo di aspra opposizione avverso i fermenti di novità prodotti dal movimento umanistico sviluppatosi in pieno nel XI secolo. Possiamo parlare, insomma, di un’atrofia congenita della teoresi bizantina in ambito teologico, un’atrofia che ha le sue radici nella fase di fondazione, nei testi patristici e pseudo-dionisiani.“ (Maltese 1996: 556). 160 Den Vergleich Symeons mit Psellos und dessen gescheiterter Individualisierung zieht Ramfos in GA 18: 317 ff. 161 „Una simile posizione si collocava all’estremo di uno spiritualismo soggettivo e anarcoide che aveva sì radici remote e mai del tutto dimenticate nella religiosità e nell’ascetica bizantina, ma che mai era stato espresso con tanto vigore; soprattutto metteva a repentaglio l’equilibrio faticosamente raggiunto a Bisanzio tra le istanze ascetico-eremitiche e l’organizzazione cenobitica. Da questo, e dal sostanziale diniego dei valori istituzionali e societari che a questo si accompagnava, sorgeva il moto di opposizione al misticismo del Nuovo Teologo.“ (Maltese 1996: 561). 162 Ramfos GA 18: 309 ff.

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unmittelbaren Schau Gottes, die ohne das Dazwischentreten klösterlicher und kirchlicher Strukturen auskommt, einen Bruch mit der Tradition: Hier vollzieht Symeon die Individualisierung von theologischem Leben und theologischer Geistlichkeit hinsichtlich der inneren Erfahrung der Transzendenz und der ihm eigenen Form des Bewusstseins.163

Die Entdeckung der inneren Sinne durch Origenes und Evagrios hatte bereits eine Erweiterung der Innerlichkeit zur Folge gehabt; Symeon übernimmt diese Vorstellung der „inneren“ oder „geistigen“ Sinne und geht noch weiter, wenn er von einem „inneren Menschen“ spricht, der mit Gott unmittelbar in Kontakt tritt. Diese Unmittelbarkeit der Erkenntnis „erfordert ein neues Verhältnis zu uns selbst“164 und lässt eine neue Form des Bewusstseins entstehen.165 Symeons Weg des Gebets und des Strebens nach der Schau Gottes schon im Diesseits ist für die byzantinische Kultur in der Folge wesentlich einflussreicher geworden als die als anthropozentrisch empfundene Aufklärung seines Widersachers Stephanos von Nikomedia. Der Humanismus nach westlichem Muster sei schließlich ins Leere gelaufen und sei vom „Theo-Humanismus“166 des Symeon überflügelt worden, der schließlich, „stets im Rahmen der von der Kirche dominierten Gesellschaft die Frage nach dem Menschen als Person aufbrachte“.167 Die Theosis in der Gottesschau bei Symeon, die in ihrer direkten Beziehung zu Gott individualistische Züge trägt, markiert demnach einen „orthodoxen Humanismus“. In der mystischen Schau konstituiert sich das Individuum in der existenziellen Erfahrung der geistigen Wiedergeburt, es verinnerlicht das Göttliche und entwickelt sich so, ohne in die Gefahr einer Verweltlichung zu geraten.168 Der individuelle Zugang zu Gott manifestiert sich in einer Transformation des Menschen, im Übergang zu einem engelsgleichen Zustand, den Symeon wie folgt beschreibt: „… wenn dein Licht mir deutlich erscheint / … und mich den Engeln gleich macht, / vielleicht sogar größer als diese …“169 In diesem engelgleichen, 163 „Ἐδῶ ὁ Συμεὼν διεκδικεῖ τὴν ἐξατομίκευσι τῆς θεολογικῆς ζωῆς καὶ πνευματικότητος στὸ πεδίο τῆς ἐσωτερικῆς ἐμπειρίας τοῦ ὑπερβατικοῦ καὶ τῆς ἰδιότυπης συνειδήσεώς του.“ (Ramfos GA 18: 295). 164 „Ἡ ἄμεση σχέσι μὲ τὸν Θεὸ ἀπαιτεῖ νέα σχέσι μὲ τὸν ἑαυτό μας“ (Ramfos GA 18: 313). 165 Ibid. 166 Ramfos GA 7: 234. 167 „[…] προβάλλει καὶ σχηματίζεται ἁδρά, στὰ πλαίσια πάντοτε τοῦ κοινωνικοῦ ἐκκλησιασμοῦ, τὸ αἴτημα ἑνὸς προσωπικοῦ ἀνθρώπου.“ (Ibid.). 168 Ramfos GA 18: 311. 169 „[…] ὅταν φανῇ […] τρανῶς τὸ φῶς σου∙ ⁄ […] καὶ τῶν ἀγγέλων μὲ ὅμοιον ἀποδείξει, ⁄ ἴσως καὶ μείζονα αὐτῶν.“ Symeon, Hymnen 7, 15–24, zit. nach Ramfos GA 18: 312.

Gottesschau und byzantinischer Humanismus: Symeon der Neue Theologe 159

weltabgewandten Zustand liegt allerdings auch eine Gefahr, die Ramfos erst in seinem spätesten Text zu Symeon deutlich werden lässt. Zwar löst diese neue Wende nach innen das Individuum im unmittelbaren Verhältnis zu Gott aus dem Kontext der Masse und verleiht ihm eine gewisse Unabhängigkeit; sie trennt es jedoch in der Konzentration auf das Jenseits von der materiellen Welt.170 Dies sollte der byzantinischen Kultur schließlich zum Verhängnis werden, wie später noch auszuführen sein wird. Ob die These von der beginnenden Individualisierung bei Symeon zu halten ist, ist allerdings umstritten.171 Petrà gibt Ramfos hier mit gewissen Einschränkungen Recht, bezweifelt aber dessen historische Bewertung des Neuen Theologen.172 Auch Podskalsky lehnt es ab, Symeon irgendeine Verbindung zum Humanismus zuzugestehen, im Gegenteil, er sieht in ihm vielmehr den intellektuellen Gegenspieler des Michael Psellos.173 Für die orthodoxe Theologie um die Jahrtausendwende sei stellvertretend Hilarion Alfeyev genannt, der in seiner viel beachteten Monographie über Symeon jeglichen Verdacht auf Züge von Erneuerung im Denken des Heiligen zurückweist und Symeon statt dessen in die unbestrittene Tradition der Kirchenväter stellt.174 Für Ramfos manifestiert sich in Symeon bereits der Übergang vom mittelalterlichen, byzantinischen Menschen zum problematischen „neuen“ Griechen der Neuzeit, wenn er die Bedeutung des byzantinischen Humanismus unterstreicht, aber gleichzeitig feststellt, dass die historischen und politischen Umstände der Zeit einen wesentlichen Einfluss auf breitere Schichten der Bevölkerung verhin170 Ibid.: 312 ff. 171 Ganz anders beurteilt dies Loudovikos 1999: 124 ff. 172 „Non è probabilmente nel torto Ramphos quando sottolinea alcuni aspetti individualistici di Simeone. Cosi non lo è quando sottolinea il carattere unificante dell’illuminazione spirituale contro quello disintegrante del peccato o quando mette in luce la verticalizzazione della salvezza. Tuttavia, egli si appoggia troppo allo schema areopagitico. […] La difficoltà maggiore ad accettare la tesi di Ramphos, tuttavia, e dovuta in parte al suo trascurare la dimensione escatologica in Simeone e, in parte forse maggiore, al fatto che il suo giudizio sui limiti di Simeone non è puramente storico, ma diventa giudizio di valore.“ (Petrà 2003: 252). 173 Podskalsky 2003: 14, Anm. 4. 174 Alfeyev eindeutig in seinem Resumée: „[I]t has been proved that all the major ideas of Symeon are rooted in Orthodox tradition and that his teaching corresponds to the ideas of the preceding Fathers, in the particular of Gregory Nazianzen; Maximos the Confessor, John Klimakos, Theodore and Symeon the Studites, and Isaak the Syrian. Can we therefore say that in some way Symeon’s personal message was very much a continuation and development of that of his predecessors?“ (2000: 273).

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derten. Dies galt besonders für die enge Verzahnung von Kirche und Staat, für die Konzentration der Macht auf die Hauptstadt und die allgemeine Schwächung des Staates nach der Eroberung Konstantinopels durch die Kreuzfahrer 1204, die alle zusammen für ein Klima der Unsicherheit und für eine stärkere Orientierung an der Vergangenheit verantwortlich sind. Dies, und seine intrinsische Tendenz zu einer Abwendung von der materiellen Welt, führten dazu, dass der Humanismus in der orthodoxen Welt schließlich scheiterte und Platz machte für einen weltabgewandten Hesychasmus, der jede weitere Entwicklung blockierte.175 Diesen, niemals in aller Konsequenz durchgeführten Individualisierungsprozess sieht Ramfos in der Geistesgeschichte Griechenlands angelegt, doch, was weit wichtiger ist, er spricht sich dafür aus, dass dieser in der Vergangenheit fehlgeschlagene Versuch nichtsdestotrotz gerade heute, in Zeiten der Krise und Neuverortung, wieder belebt werden kann und sollte. Mit dieser Kritik am Hesychasmus wird Ramfos’ Paradigmenwechsel sehr deutlich; während der Hesychasmus vor der Kehre für Ramfos noch ein Ruhmesblatt für die orthodoxe Kultur darstellte, wird er nun zu einem Hemmschuh der Modernisierung, einer „babylonischen Gefangenschaft“176, aus der es endlich herauszutreten gilt. Die Behandlung der Hymnen des Symeon durch Ramfos beinhaltet also, auch aufgrund der historischen Entwicklung von Ramfos’ Werk selbst, verschiedene Aspekte. In der früheren Phase behandelt er Symeon als einen Meilenstein der byzantinischen Geistesgeschichte, eine Art Epochenschwelle, an der sich eine orthodoxe Form des Humanismus entwickelt. Dies kann durchaus als Antwort auf die sehr umfangreiche (westliche) Diskussion um die Existenz und die Art eines byzantinischen Humanismus und eine oder mehrere Renaissancen in Konstantinopel gelesen werden. Hier entfernt er sich durchaus von der allgemeinen Tendenz in der orthodoxen Theologie, die eher auf die Betonung der Kontinuität der orthodoxen Tradition bedacht ist. Die Idee von der Spaltung der Welt in Ost und West behält er auch in seiner jüngeren Beschäftigung mit Symeon bei, wenn auch ohne die antiwestlichen Invektiven der früheren Werke. Insgesamt kann der Abschnitt zu Symeon in der Schrift Das undurchschaubare Nichts als die reifste und ausgewogenste der einzelnen unterschiedlichen Untersuchungen angesehen werden, was angesichts ihrer späten Abfassungszeit auf der Hand liegt. Zudem zieht Ramfos hier auch 175 Ramfos GA 16: 249 ff. 176 Siehe das Kapitel: Ἡ βαβυλώνιος αἰχμαλωσία τῆς Ὀρθοδοξίας στὰ σύμβολα [Die babylonische Gefangenschaft der Orthodoxie in den Symbolen], GA 16: 188–223, außerdem GA 18: 132 und 153 f.

Die orthodoxe Antwort auf den westlichen Humanismus: Gregor Palamas 161

vermehrt aktuellere Studien anderer Autoren zum Thema heran, was er vorher vermissen ließ.

4.6 Die orthodoxe Antwort auf den westlichen Humanismus: Gregor Palamas Sollte sich mit Symeon dem Neuen Theologen zaghaft eine neue Tendenz in Richtung „Humanismus“ in der byzantinisch-orthodoxen Kultur angedeutet haben, so hat sie sich letztendlich, so verläuft Ramfos’ Interpretationsansatz weiter, jedoch in eine andere Richtung entwickelt. Letztendlich wurde die Frage, inwieweit die Orthodoxie und der neue Geist des Westens zueinander finden konnten, im 14. Jahrhundert mit dem Werk des Gregor Palamas und dem tiefen Einfluss, den er – wenn auch erheblich später – in der orthodoxen Welt hinterließ, von lateinischer wie von griechischer Seite negativ beantwortet. Palamas (1296/7–1359) wird in Zeiten politischer Umbrüche in Konstantinopel in eine adelige Familie geboren. Nach Studien bei Theodoros Metochites (1270–1332) zieht er sich auf den Berg Athos zurück und widmet sich dort der Praxis des Jesusgebetes. Die von ihm so ersehnte „Ruhe“ (ἡσυχία – hesychia) dieser spirituellen Ausrichtung bleibt ihm jedoch aufgrund der schwierigen Lage und der Bedrohung durch serbische und türkische Überfälle wechselte er mit seinen Mitbrüdern oft den Aufenthaltsort. Er engagiert sich in äußerst umstrittenen theologischen Auseinandersetzungen und wird 1346 auch als Erzbischof in Thessalonike, der zweitgrößten Stadt des Reiches, eingesetzt. Die Glaubensfragen, die er in seine Schriften behandelte waren so kontrovers, dass sie während zweier Synoden diskutiert und schließlich bekräftigt wurden. Er gerät sogar eine Zeit lang in türkische Kriegsgefangenschaft und ist bis zum Schluss in theologische Dispute auf höchster Ebene eingebunden. Seine kultische Verehrung beginnt schon ein Jahrzehnt nach seinem Tode, er verliert jedoch bald wieder an theologischer Bedeutung, um dann im 19. Jahrhundert wieder entdeckt zu werden.177 Das umfangreiche Werk des Palamas bildete zugleich den Gipfel wie auch in gewisser Weise den Schlusspunkt des orthodoxen theologischen Denkens. Entstanden vor dem Hintergrund des Ringens um eine politische und kulturelle Neuorientierung des byzantinischen Reichs wurde es spätestens seit dem Beginn des 20. Jahrhundert als geistiger Höhepunkt der orthodoxen Theologie verstanden.178 Die herausragende Bedeutung von Gregor Palamas wurde insbe177 Zur Biographie des Palamas vgl. Blum 2009: 355–359, Fyrigos 2001 und Meyendorff 1959 b und 1983. 178 Ramfos GA 8: 250 f; GA 18: 393., vgl. Nichols 1995: 41–56.

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sondere von Theologen wie Dumitru Stăniloae (1903–1993), Wladimir Losski, John Meyendorff (1926–1992) und anderen unterstrichen. In ihren Schriften zeigt sich auch die Tendenz, die Unterschiede zwischen Ost- und Westkirche zu betonen und letzten Endes im Kontext der Moderne und der damit verbundenen Modernekritik eine orthodoxe Antwort auf die „Krise des Westens“ zu geben.179 In Übereinstimmung mit orthodox wie lateinisch geprägten Kirchenhistorikern schildert Ramfos den endgültigen kulturellen Bruch zwischen Westkirche und Ostkirche im 14. Jahrhundert anhand eines theologischen Disputs zweier orthodoxer Denker. Was sich im Laufe der Zeit zu einem Streit mit kirchen- wie staatspolitischen Auswirkungen entwickelte, wird in der theologischen Auseinandersetzung zwischen Gregor Palamas, Bischof von Thessaloniki, und Barlaam von Kalabrien, dem Abgeordneten der byzantinisch-kaiserlichen Delegation beim Konzil von Florenz deutlich. In dieser Auseinandersetzung spiegeln sich jedoch mehr als nur zwei unterschiedliche theologische Auffassungen innerhalb der orthodoxen Kirche wider.180 Zwar war in diesem Streit die lateinische Kirche nicht unmittelbar vertreten, die Frage einer möglichen Kirchenunion, die stand jedoch unausgesprochen hinter der gesamten Problematik. Es treffen hier also in gewisser Weise lateinisch beeinflusstes und orthodoxes Denken aufeinander. In zahlreichen Untersuchungen, betont Müller-Schauenburg, werde diese Polarisierung bereitwillig zugespitzt, sodass „Palamas zu jener Figur [wird], an der sich die theologische Ost-West-Differenz ausgezeichnet festzumachen scheint.“181 Die letztendliche Entscheidung der orthodoxen Kirche für 179 Hierzu mehr unten in Kapitel 5.2 Die russische Exiltheologie und die neoorthodoxe Strömung. 180 Ramfos GA 8: 252 ff.; GA 18: 381 f. 181 Müller-Schauenburg 2011: 173. Eine historische Einordnung des Barlaam-PalamasKonfliktes, die ohne die Scheingefechte des angeblichen Ost-Westkonfliktes auskommt, ist die von Blum 2009: 355–393. Gewisse Einschränkungen macht auch Podskalsky 1977, der seinen Untersuchungen folgendes caveat vorausschickt: „Um es vorweg zu sagen: Dieser Streit ist, zumindest in seiner ersten Phase (bis 1351), keine Auseinandersetzung zwischen westlicher Scholastik und östlicher Spiritualität, zwischen Humanisten und mystischer Theologie – denn Vertreter beider Richtungen kämpfen auf beiden Seiten; auch kein Ansturm der ‚Theologen‘ der Hauptstadt gegen Hierarchie und atonitisches Mönchtum – selbst unter dieser Rücksicht, versteht man sie nicht nur im Sinne des sozialen Zugehörigkeitsgefühls, sind die Kontrahenten nicht säuberlich zu scheiden –, obwohl das bleibende Ergebnis des langwierigen Kampfes schließlich zu einem radikalen Bruch zwischen bildungsfeindlicher Orthodoxie (aller Stände, besonders aber der Hierarchie und des Mönchtums) und assimilationsfreudiger theologischer Wissenschaft führte.“ (Podskalsky 1977: 125).

Die orthodoxe Antwort auf den westlichen Humanismus: Gregor Palamas 163

die Theologie des Gregor Palamas wird sowohl von Forschern, die Palamas positiv rezipieren, als auch von seinen Kritikern, relativ einhellig als richtungweisend für die weitere Entwicklung bzw. die kulturelle Stagnation im christlichen Osten angesehen, nachdem (je nach Sichtweise) die Bedrohung durch oder die Befreiung von westliche(n) Einflüsse(n) gebannt wurde und die Orthodoxie zu ihrem Glück oder fatalerweise ihre mystische und vernunftkritische Ausrichtung bekräftigt hat.182 Komplex wird die Beurteilung dieser in ihren Anfängen rein innerorthodoxen Auseinandersetzung dadurch, dass westliche Einflüsse auf die orthodoxe Theologie in spätbyzantinischer Zeit und später nachweisbar sind. Ausgehend davon versuchten orthodoxe Autoren der Moderne, „echt“ orthodoxes Denken von westlich beeinflussten geistigen Strömungen, sogenannten Pseudomorphosen,183 zu unterscheiden.184 Oft behandeln sie die Theologie des Palamas mit dem Ziel und dem Anspruch einer Apologetik der Orthodoxie. Ein einflussreicher Vertreter der neopalamitischen185 orthodoxen Theologen sind Staniloae186 und auch Losski mit seinem Hauptwerk La théologie mystique de l’Église d’Orient,187 in dem, so schreibt jüngst Giankazoglu, die […] „theologische Unterscheidung von Substanz und Energien vorherrscht und der ‚mystische‘ und ‚personalistische‘ Charakter der orthodoxen Theologie in Gegensatz zum Essentialismus und der Logokratie der westlichen Scholastik gestellt und unterstrichen wird.“188

Unter den jüngeren orthodoxen Denkern unterstreicht besonders Christos Yannaras, dass es unmöglich sei, Palamas mit der Begrifflichkeit der westlichen Theologie zu fassen;189 im Wesentlichen schließt sich auch Ramfos in seiner ersten Studie zu Palamas dieser Interpretation an, wird aber später davon Abstand

182 Müller-Schauenburg 2011: 173. 183 Zur Pseudomorphose im orthodoxen Kontext vgl. unten Kapitel 5.1 Individuum, Person und orthodoxe Pseudomorphose. 184 Yannaras 1992: 101 ff. 185 Als neopalamitisch bezeichne ich im Anschluss an Podskalsky diejenige Strömung in der orthodoxen Theologie, für die Gregor Palamas den Schlüssel zum Verständnis der Orthodoxie darstellt und die von einer grundsätzlichen Unterscheidung zwischen westlicher (= scholastischer) sowie östlicher (= mystischer) Theologie ausgeht. Eine zeitgemäßere Einordnung des Denkers Palamas bei Müller-Schauenburg 2012. 186 Zur Behandlung des Denkens des Palamas durch Staniloae vgl. Weber 2012 und Agachi 2013. 187 Lossky 1944. 188 Giankazoglu 2001: 23. 189 Yannaras 1975, zitiert nach: Savvidis 1997: 155, Anm. 9.

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nehmen. Dementsprechend gespalten ist auch seine Beurteilung des Nachwirkens der palamitischen Theologie. Vergleichen wir die Bewertung des Werks des Palamas in Ramfos’ früherer Schaffensphase in der Schrift Das heitere Licht der Welt190, basierend auf einer öffentlichen Vorlesung des akademischen Jahres 1989–90, mit der jüngeren Phase in Das undurchschaubare Nichts191 von 2010 (hier untersucht Ramfos Fragen zum Hesychasmus im Allgemeinen und bei Palamas im Zusammenhang mit der Philokalia), so zeigt sich ein deutlicher Unterschied in der Beurteilung. In beiden Phasen liest Ramfos palamitische Texte mit dem Fokus auf der Evolution der antiken (platonischen) Philosophie in einem orthodoxen Kontext. Während ihm aber in seinem früheren Werk Palamas gleichsam als Krone des orthodoxen Denkens gilt, verschiebt sich später seine Zielrichtung hin zur griechischen Gegenwart. Diese, wie er es nennt, „anthropologische Wende“ charakterisiert sein Werk nach Der Schmerz des Einen192 (Erstveröffentlichung 2000) und noch deutlich schärfer nach 2009, als sich die dramatischen Folgen der Finanzkrise für Griechenland allmählich abzuzeichnen beginnen. Es ist wohl auch kein Zufall, dass die Wende in Ramfos’ Schreiben gerade in der Beurteilung von Palamas besonders gut sichtbar wird, denn mit Palamas entwickelt die orthodoxe Theologie zum ersten Mal seit der Patristik ein eigenständiges Modell, das später im gesamten orthodoxen Raum als Antwort auf die Modernisierungstendenzen im Westen begeistert aufgenommen wurde. Sowohl in seiner Entstehung als auch in seiner Wiederaufnahme durch die russischen Theologen und Religionsphilosophen ist das Werk des Palamas nicht nur eine Anleitung für den Gläubigen in seiner Suche nach Erkenntnis und nach Gott, sondern es gilt der orthodoxen Theologie seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert auch als eine Verweigerung der spezifisch westlichen kulturellen Entwicklungen des Humanismus und der Renaissance. So wie man Palamas selbst mit seinem Werk als Antwort auf die „irrigen“ Meinungen der römischen Kirche und der scholastischen Theologen verstanden wissen wollte, so wurde dessen Denken auch später von Kritikern des Westens immer wieder in polemischer Absicht verwendet. Diese Problematik muss auch bei der Lektüre von Ramfos’ Interpretation der palamitischen Theologie immer präsent sein, ja sie ist für ihn in gewisser Weise der Leitgedanke. Angedeutet hat sich dies schon in der frühen Phase, als Ramfos sich hinsichtlich seines Europabildes noch mehr an Yannaras orientiert, viel

190 GA 8. 191 GA 18, hier besonders der Abschnitt über Palamas: 373–403. 192 GA 16.

Die orthodoxe Antwort auf den westlichen Humanismus: Gregor Palamas 165

deutlicher wurde sie aber später, als er sich bewusst von seinem eigenen neoorthodoxen und neopalamitischen Denken distanziert. Vergleicht man die beiden Herangehensweisen unseres Autors zunächst inhaltlich, so kann beobachtet werden, dass er, wie bereits in der Beurteilung des Symeon des Theologen,193 im Laufe der Zeit schließlich einen Wechsel der Perspektiven vollzieht. Im frühen Werk von Ramfos steht die Gottsuche des Menschen im Mittelpunkt. Er betont hier die Kontinuität von antiker und die byzantinische Tradition der mystischen Gottesschau und spielt den kulturellen Bruch, den das Christentum im Römischen Reich verursacht hat, etwas herunter, um den Gegensatz zwischen lateinischem Westen und griechischem Osten schärfer darstellen zu können.194 Später wird er auf die negativen Folgen des von Palamas ausgehenden Hesychasmus für die Kulturgeschichte des orthodoxen Raums eingehen. In Das heitere Licht der Welt zeichnet Ramfos zunächst die Auseinandersetzung von Barlaam aus Calabrien und Palamas nach, die in einer Reihe von aufeinander bezogenen Schriften erhalten ist,195 und die Ramfos anhand der drei Triaden des Palamas196 (die gesammelten Antworten auf die Positionen des Barlaam) analysiert. Diese Betrachtung ist jedoch in einen breiteren Kontext eingeordnet, in dem Ramfos die mystische Schau (θεωρία/theoria)197 im griechisch-orthodoxen Denken der Philosophie der „Perspektive“ (διοπτρική/dioptriki)198 in der westlichen Neuzeit und Moderne von Descartes bis Heidegger gegenüberstellt, mithin also einen extremen Ost-West-Gegensatz im Denken konstruiert. Die zentralen Themen der Auseinandersetzung Barlaam vs. Palamas sind zum einen die intellektuelle Annäherung an Gott mithilfe rationaler Erkenntnis im Gegensatz zu einer Erfahrung Gottes mit dem Zeugnis der Schrift und der Kirchenväter als einzigem Zeugnis, sodann der Streit um die hesychastische Praxis des geistigen Gebetes (νοερὰ προσευχή), die Unterscheidung der absoluten

193 Siehe dazu das vorangegangene Kapitel 4.5 Gottesschau und byzantinischer Humanismus: Symeon der Neue Theologe. 194 In einer zusammenfassenden Darstellung der historischen Entwicklungen unterstreicht er die grundsätzliche Verschiedenheit der lateinischen Theologie von der griechischen, die trotz aller Unterschiede zur Antike „ihren Wurzeln treu blieb.“ [„παρέμεινε ἀκλόνητη στὶς ῥίζες της“] (GA 8: 379). 195 Die derzeit gültige kritische Ausgabe der Briefe des Barlaam gegen Palamas besorgte Antonis Fyrigos 1975. 196 Die Triaden sind als kritische Ausgabe mit französischer Übersetzung besorgt durch Meyendorff 1973. 197 GA 8: 19–116. 198 Ibid.: 117–243.

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göttlichen Substanz und der geschaffenen Energien Gottes, an denen der Mensch teilhaben kann, und die Erleuchtung, die Gottesschau und die Vereinigung mit Gott als zentralem soteriologischen Ziel für die Gläubigen.199 Die Diskussion der beiden Denker konkretisiert sich an drei Fragen hinsichtlich Spiritualität und die Gotteserkenntnis, wie sie Palamas vertritt. Die erste Frage, die Ramfos behandelt, betrifft die Rolle der Philosophie in ihrem Verhältnis zur Theologie.200 Während Barlaam in Übereinstimmung mit Denkern des radikal antithomistischen Franziskanismus nach Duns Scotus eine Gleichwertigkeit von Theologie und Philosophie einfordert, und zwar im Sinne zweier Wege, die zum gleichen Ziel führen, lehnt Palamas diese Aufwertung der heidnischen Tradition entschieden ab, da sie bedeuten würde, dass die Erkenntnis des Wesens der Welt und die Erkenntnis des Wesens Gottes gleichgesetzt würden. Er unterstreicht, dass die philosophischen Disziplinen, allen voran die Logik, einen großen Nutzen hätten, aber nur für die Beseitigung von Unklarheiten innerhalb der Offenbarung, keinesfalls aber, um eine konkurrierende, objektive Realität zu erschaffen,201 was eine Usurpation der Position des Schöpfers durch den Menschen bedeuten würde: Für Gregor Palamas ist das Problematische an der Wahrheit Folge des Sündenfalls, des Aufstands der von den Sinnen bestimmten Seele, die ihren verstandesmäßigen Teil von der ursprünglichen Schönheit entfernte. Daher ist die Lösung des Problems nicht die Frage einer richtigen Methode und einer Entwicklung von intellektuellen Fähigkeiten, sondern die Wiederherstellung des Urzustandes des Menschen vor dem Sündenfall. Wir sind aufgerufen, Gott im praktischen Leben zu erkennen, wieder zu seinem Ebenbild zu werden (Praxis), und nicht lediglich abstrakte Meinungen über ihn zu konstruieren (Theorie) und so den Sündenfall in alle Ewigkeit zu perpetuieren. […] Es gibt, so Palamas, die Möglichkeit einer Erkenntnis der Wahrheit, die gewiss ist und

199 Zu der Auseinandersetzung vgl. Giankazoglu 2001: 24 und besonders die Zusammenfassung von Blum 2009: 355 ff., hier 356. 200 Zu Palamas, Triaden, 1,1 (Die Zählung bezieht sich auf die Edition von Meyendorff 1973), Ramfos GA 8: 264–283. 201 Diese Auffassung der teilweisen Nutzung der heidnischen Philosophie „nach Art der Honigbiene, die nur das Nützliche auswählt“ (Basilius, Ad adolescentes, 4, 36–48), hat sich nach heftigen Diskussionen in der Spätantike herauskristallisiert und gilt auch für das gesamte lateinische und griechische Mittelalter. Vgl. hierzu Bräutigam 2003: 82–89. Die Forderung nach der Unabhängigkeit der Philosophie weist bereits in eine neue Zeit. Vgl. hierzu den Tagungsband des Kongresses Nach der Verurteilung von 1277. Philosophie und Theologie an der Universität von Paris im letzten Viertel des 13. Jahrhunderts von Aertsen/Emery/Speer 2001.

Die orthodoxe Antwort auf den westlichen Humanismus: Gregor Palamas 167 die in der unmittelbaren Anschauung der ungeschaffenen göttlichen Energien seitens des Menschen liegt.202

Die praktische Annäherung an Gott hat also, so Ramfos über Palamas, anders als die rein theoretische Betrachtung der Antike, den gesamten Menschen im Blick, Leib und Seele gleichermaßen. Dem sokratischen Erkenne dich selbst – γνῶθι σαὐτόν 203 setzt er das Sorge dich um dich – πρόσεχε σεαυτῷ204 der Kirchenväter entgegen, was Ramfos wiederum wie folgt hervorhebt: Der antike Mensch möchte sich von seinem Körper entfernen; der Christ dagegen sich selbst retten von den Abhängigkeiten, die es ihm verwehren, die Fülle der Schönheit und Wahrheit des Daseins als göttliches Geschenk zu sehen, so dass er also die Freiheit als Apathie erlangt, und, anstatt sich von der Welt zu entfernen, sich wahrhaft mit ihr vereint. Aus dem Blickwinkel des „Erkenne dich selbst“ fallen Verstand und Gutes zusammen; aus der Perspektive des „Sorge dich um dich“ haben Verstand und Gutes weder den gleichen Ursprung, noch sind sie gleich.205

Palamas wende sich also gegen die rationalistische, für ihn allzu menschliche Interpretation der Offenbarung durch Barlaam, bei dem die göttliche Dimension der Gnade fehle: „Echte Theosophie ist die Gnade, nur diese reinigt und heilt die Erkenntnisfähigkeit der Seele.“206 Nur mit der Erfahrung der Gnade, die der

202 „Γιὰ τὸν Γρηγόριο Παλαμᾶ τὸ προβληματικὸ τῆς ἀληθείας ἀποτελεῖ συνέπεια τῆς πτώσεως, τῆς ἐπαναστάσεως τοῦ παθητικοῦ τῆς ψυχῆς, ποὺ ἀπεμάκρυνε τὸ λογιστικὸν ἀπὸ τὸ ἀρχέτυπον κάλλος. Ἑπομένως ἡ ἄρσις τοῦ ἀδιεξόδου δὲν εἶναι ζήτημα κατάλληλης μεθόδου καὶ ἀναπτύξεως δυνατοτήτων διανοητικῶν, ἀλλὰ ἀποκαταστάσεως τοῦ ἀνθρώπου στὴν προπτωτικὴ κατάσταση. Καλούμεθα νὰ γνωρίσωμε τὸν Θεὸν ἐμπράκτως, νὰ ξαναγίνωμε εἰκόνες Του (ἔργον) καὶ ὄχι ἁπλῶς νὰ σχηματήσωμε οἱεσδήποτε θεωρητικὲς ἀπόψεις περὶ Αὐτοῦ (λόγος), διαιωνίζοντας τὴν συνθήκη τῆς πτώσεως […] Ὑπάρχει, λέει ὁ Παλαμᾶς, δυνατότης ἀσφαλοῦς τῆς Ἀληθείας γνώσεως καὶ ἔγκειται στὴν ἄμεση αἴσθησι ἐκ μέρους τοῦ ἀνθρώπου τῶν ἀκτίστων ἐνεργειῶν τοῦ Θεοῦ.“ (Ramfos GA 8: 267). 203 Platon, Apologie 23 b und Xenophon, Memorabilia IV, 2, 24 ff. 204 Basilius von Cäsarea, Oratio XXIII. 205 „Ὁ ἀρχαῖος θέλει ν’ ἀπαλλαγῇ ἀπὸ τὸ σῶμα του  •  ὁ χριστιανὸς νὰ σώσῃ τὸν ἑαυτό του ἀπὸ τὶς ἐξαρτήσεις ποὺ δὲν τὸν ἀφήνουν νὰ ἰδῇ τὴν πληρότητα τῆς ὀμορφιᾶς καὶ ἀλήθειας τῆς ὑπάρξεως ὡς δωρεᾶς θεϊκῆς, νὰ κερδίσῃ δηλαδὴ τὴν ἐλευθερία ὡς ἀπάθεια καὶ ἀντὶ νὰ χωρίσῃ ἀπὸ τὸ πᾶν νὰ ἑνωθῇ αὐθεντικὰ μαζί του. Στὴν προοπτικὴ τοῦ ‚γνῶθι σαὐτόν‘ τὸ ἀγαθὸ καὶ ὁ λόγος συμπίπτουν  •  στὴν προοπτικὴ τοῦ ‚πρόσεχε σεαυτῷ‘ τὸ ἀγαθὸ καὶ ὁ λόγος οὔτε ἔχουν κοινὴ καταγωγὴ οὔτε εἶναι ἴδια.“ (Ramfos GA 8: 268). 206 „Θεοσοφία πραγματικὴ εἶναι ἡ Χάρις, καθαίρουσα ἐκείνη μόνο καὶ θεραπεύουσα τὸ γνωστικὸν τῆς ψυχῆς.“ (Ibid.: 269).

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Mensch nicht ohne seine Einwilligung, also nach seinem freien Willen erhält, ist die Vergöttlichung des Menschen im Sinne von Palamas möglich. In dieses Schema gepresst wird allerdings in der Behandlung durch Ramfos (wie auch in der anderer modernen orthodoxer Theologen) aus einer innerorthodoxen theologischen Auseinandersetzung eine essentialistische Projektion angeblicher Ost-West-Unterschiede in die mittelalterliche Vergangenheit. Hier wird wiederum eine problematische, da anachronistische, Diskussion um Individualisierung oder nicht zwischen lateinisch und griechisch bestimmter Theologie angestrengt, die den komplexen historischen Sachverhalt nicht unbedingt klarer werden lässt. Der zweite Streitpunkt, den Ramfos behandelt, handelt von der Technik des hesychastischen Gebets, bei dem der Mönch das Kinn zur Brust senkt und seine Körpermitte, das Herz oder den Nabel betrachtet, seine Atmung unter Kontrolle hält und dabei kurze, prägnante Sätze ständig wiederholt.207 Von ihren Gegnern wurden diese Mönche daher auch verächtlich als ὀμφαλόψυχοι (die ihre Seele im Nabel haben) bezeichnet. Diese Technik zielt auf die absolute Konzentration des Mönches auf seinen Geist ab, der, von den Ablenkungen der Umgebung unberührt, sich selbst als „Bildnis Gottes“ betrachten und somit zu seiner ursprünglichen Bestimmung zurückkehren kann. Dieser Diskussion, so folgert Ramfos im Einklang mit einem großen Teil der Theologen in Ost und West, liegen letzten Endes zwei unterschiedliche, wenn nicht gegensätzliche Menschenbilder zugrunde. Kurz gesagt versucht die westliche Vorstellung dem Menschen seine Würde und Freiheit zu verleihen, die ihm von Natur aus gegeben sind, während im Osten das enge Verhältnis von Schöpfer und Geschöpf im Vordergrund steht.208 Demzufolge kommt auch dem menschlichen Geist eine jeweils ganz unterschiedliche Bedeutung zu. Für beide ist die Erkenntnis Gottes das wichtigste Ziel; die Wege, dies zu erreichen, unterscheiden sich jedoch erheblich. Während im Westen die Überwindung der Grenzen des Körpers und der Welt die Erkenntnis des Transzendenten in einer die allgemeinen Naturgesetze überwindenden Ekstase im Sinne eines Heraustretens aus dem Selbst ermöglicht, soll das

207 Palamas, Triaden 1,2 und 2,2; Ramfos GA 8: 284–315. 208 Auf die unterschiedlichen Menschenbilder in Ost und West wird in einem eigenen Kapitel eingegangen werden, siehe unten Kapitel 5 Personale Anthropologie im Kontext der neoorthodoxen Diskussion.

Die orthodoxe Antwort auf den westlichen Humanismus: Gregor Palamas 169 […] hesychastische Gebet als traditionelle Praxis der Rückkehr des Geistes in den Körper die Unversehrtheit des Menschen in einer Perspektive der Verwandlung erhalten. Dies erreicht er mit dem sogenannten einförmigen Zusammenrollen, der kreisförmigen Bewegung des Geistes, was auch dessen „beste und eigenste“ Energie ist, weil sie zum Herzen zurückkehrt. Daher auch die rhythmische Atemtechnik, die Technik des Einrollens des Körpers, die Konzentration der Augen auf das Körperzentrum im Nabel.209

Diese Art der Übungen haben einen starken therapeutischen Charakter, und Ramfos unterstreicht in Übereinstimmung mit vielen orthodoxen Theologen die Bedeutung der Heilung in der Orthodoxie, die so weit gehen kann, dass sie den Menschen von seinem größten Makel, nämlich der Erbsünde, befreien und ihn zu seiner ursprünglichen Form vor der Vertreibung aus dem Paradies zurückführen kann.210 Der Geist ist demnach so angelegt, dass er nicht nach außen agieren, sondern vielmehr die Sinne vernachlässigen soll. Nur so kann er sich selbst betrachten und somit seine Gottesebenbildlichkeit erfahren. Diese ursprüngliche Funktion des Geistes wird aber, so Ramfos, durch die Entwicklungen der westlichen Philosophie, gipfelnd in der Forderung von Descartes nach einem das Bewusstsein begründenden „cogito“, zerstört, der Geist auf die logischen Funktionen reduziert und ein auf sich selbst, statt auf Gott, bezogenes Individuum geschaffen. Die Spiegelung des Bewusstseins im Schein Gottes erschafft im Osten die Gemeinschaft der Kirche, die Reflexion des Ichs dagegen die Vereinzelung in der westlichen Gesellschaft.211 Die dritte Frage in der Auseinandersetzung von Barlaam und Palamas bezieht sich auf das göttliche Licht, auf dessen Schau und darauf, in welcher Form der Mensch an Gott teilhaben könne.212 Hier kommt nun derjenige Aspekt der palamitischen Theologie zur Sprache, der auch innerhalb der Orthodoxie umstritten war, bevor er verbindlich festgelegt wurde.213 Barlaam bestritt die Möglichkeit der Schau des Taborlichtes durch den Gläubigen, jenes Lichtes, das Jesus 209 „Ἡ ἡσυχαστικὴ προσευχὴ ὡς παραδόσιμη πρακτικὴ τῆς ἐπιστροφῆς τοῦ νοῦ εἰς τὸ σῶμα, διασῴζει τὴν ἀνθρώπινη ἀκεραιότητα σὲ μιὰ μεταμορφωτικὴ προοπτική. Τὸ ἐπιτυγχάνει μὲ τὴν λεγόμενη ἑνοειδῆ συνέλιξιν, τὴν κυκλικὴ κίνησι τοῦ νοῦ, ἡ ὁποία καὶ ἀποτελεῖ τὴν ‚κρείττονα καὶ ἰδιαιτάτη‘ του ἐνέργεια, ἐπειδὴ γυρνᾷ στὴν καρδιά. Ἐξ οὗ καὶ ἡ τεχνικὴ τῆς ῥυθμικῆς ἀναπνοῆς, τοῦ κυκλοτεροῦς σχηματισμοῦ τοῦ σώματος, τῆς προσηλώσεως τῶν ὀφθαλμῶν εἰς τὸ ὀμφάλιο κέντρο.“ (Ramfos GA 8: 293). 210 Ibid. 211 Ibid.: 294 ff. 212 Palamas, Triaden, 1,3 und 2,3. Ramfos GA 8: 315–341. 213 Dass die Spiritualität des Palamas auch innerhalb der Orthodoxie zunächst nicht allgemein akzeptiert wurde, zeigt die Tatsache, dass es einer Reihe von Konzilien in Konstantinopel zwischen 1341–51, die als Fünftes Konzil von Konstantinopel

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geschaut hatte (Mt 17,18; Mk 9,28; Lk 9,28–36). Dieses Ereignis der Transformation (μεταμόρφωσις), also die Verklärung Christi, bedeutet seine Vergöttlichung214 noch zu Lebzeiten. Barlaam verneint die Möglichkeit einer Vergöttlichung des Menschen vor dessen Tod und behält dies allein Jesus Christus vor. Das Taborlicht identifiziert Barlaam mit Gott selbst, den Christus geschaut hat; Gott selbst aber ist für den Menschen nicht erkennbar. Palamas hält diese Art der Verklärung jedoch grundsätzlich für möglich und verwendet dafür die folgende Argumentation: Gott besteht nicht nur aus unfassbarer Substanz (οὐσία), sondern auch aus ewigen, ungeschaffenen Wirkkräften (ἐνέργειες bzw. δυνάμεις),215 in denen sich Gott offenbart und an denen der Mensch unter bestimmten Voraussetzungen durchaus teilhaben kann.216 Diese Energien oder Auswirkungen sind die Verbindung des ewigen, ungeschaffenen Gottes zur Schöpfung, so etwa die Weisheit, die Liebe, und eben auch das Licht Gottes, die sich in die Welt erstrecken und ohne die der Mensch Gott tatsächlich nicht erkennen kann.217 Hier sieht Ramfos einen weiteren grundsätzlichen Unterschied zwischen den beiden geistigen Systemen: Während Barlaam eine deutliche Trennlinie setzt zwischen Ewigem und Zeitlichem, sieht Palamas zwischen Gott und Geschöpf etwas Vermittelndes, das unmittelbar von Gott ausgeht und für den Menschen erreichbar ist. So verwirklicht er ein wesentliches Element der orthodoxen Spiritualität: Die „Sehnsucht nach der Überbrückung der Kluft zwischen dem Diesseitigen und dem Jenseitigen.“218 In der Entscheidung für die Position des Palamas sehen orthodoxe Autoren wie Meyendorff219 und auch Ramfos220 eine Abkehr von den neuzeitlichen Entz­ usammengefasst wurden, bedurfte, bis die Lehre des Palamas als verbindlich für die orthodoxe Kirche angenommen wurde, vgl. Flogaus 1997: 45 ff. 214 Zur Vergöttlichung des Menschen bei Palamas vgl. die Monographien von Flogaus 1997, Savvidis 1997 und Giankazoglu 2001. 215 Zur Entwicklung des philosophischen Begriffs der Energien gibt es wenige spezielle Untersuchungen. Einen Versuch der Synthese unternimmt Müller-Schauenburg 2011: 163 ff. 216 Dazu Ramfos GA 8: 354 ff. 217 Palamas, Triaden, 3,1–3 und Ramfos GA 341–378. 218 Ostrogorsky 1963: 423. 219 „In condemning Barlaam, the Byzantine church had condemned the spirit of the Renaissance“, Meyendorff 1974: 90. Ähnlich argumentiert auch Dumitru Stăniloae, vgl. Weber 2012: 216. 220 „Πίσω ἀπὸ τὸ ἡσυχαστικὸ παράγγελμα καὶ ἀπὸ τὴν βαρλααμική του ἀθέμιτη ταύτισι μὲ τὸ ἀρχαιοελληνικὸ ‘γνῶθι σαὐτὸν’ κρύβονται δύο διαφορετικὲς περὶ ψυχῆς

Die orthodoxe Antwort auf den westlichen Humanismus: Gregor Palamas 171

wicklungen im Westen, namentlich dem Humanismus und der Renaissance. Im Westen hatte Podskalsky den Streit um die Theologie des Palamas als Dichotomie zwischen Humanismus und Anti-Humanismus in Byzanz dargestellt.221 Diese pauschalisierende Polarisierung ist umstritten.222 Sie ist jedoch dann behilflich, wenn die Auseinandersetzung Barlaam vs. Palamas nicht als eine innerorthodoxe Diskussion begriffen werden, sondern als Beweis für zwei einander entgegengesetzte Weltbilder gelten soll. Somit steht Barlaam als Vertreter einer westlichen, scholastisch geprägten, logokratischen Theologie einer genuin orthodoxen, traditionalistischen, an den Kirchenvätern orientierten Weltanschauung gegenüber. Diese Abgrenzung gegen den Westen wurde im orthodoxen Denken des Dumitru Stăniloae sichtbar, der, ebenso wie Ramfos, in der Auseinandersetzung um den Hesychasmus den Widerstreit zweier kultureller Sphären, sah, was nach Weber zusammengefasst heißt: […] dass Staniloae den Hesychasmus als eine abwehrende Reaktion auf den Versuch der scholastischen Überfremdung der eigenen orthodoxen Tradition und retrospektiv als einen Sieg dieser Lehre im Osten gegen das Eindringen der scholastischen Lehre versteht.223

Weber führt das unter anderem auch zurück auf eine ad fontes-Bewegung in der Orthodoxen Kirche infolge der Veröffentlichung einer Synodalen Enzyklika der Kirche von Konstantinopel an die Kirche Christi in aller Welt seitens des Ökuἀντιλήψεις: ἡ τῆς ὀρθοδόξου ἐκκλησίας, περὶ Χάριτι ψυχικῆς ἀθανασίας, ἄρα ἐπιλογῆς ἢ ὄχι τοῦ θανάτου ὡς τελικοῦ περιεχομένου τῆς ζωῆς, καὶ ἡ τῶν Λατίνων, περὶ φύσει ψυχικῆς ἀθανασίας, ἡ ὁποία συνεπάγεται μετὰ θάνατον κολασμὸ ἢ ἐπιβράβευση τῆς ψυχῆς ἀπὸ ἕνα δικαστὴ Θεό, ἀνάλογα μὲ τὴν ἠθικότητα τῶν πράξεων τῆς ζωῆς ἑκάστου κρινομένου.“ [„ Hinter der hesychastischen Botschaft und der unrechtmäßigen Gleichsetzung mit dem antiken ‚Erkenne dich selbst‘ durch Barlaam verbergen sich zwei unterschiedliche Seelenauffassungen; die der orthodoxen Kirche mit der Unsterblichkeit der Seele der Gnade halber, also im Hinblick auf die Wahl des Todes als letztendlichem Inhalt des Lebens oder eben nicht, und die der Lateiner, mit einer Unsterblichkeit der Seele von der Natur her, die nach dem Tod eine Strafe oder die Belohnung der Seele durch einen richtenden Gott mit sich bringt, je nach dem, wie moralisch der zu Beurteilende in seinem Leben gehandelt hat.“] (Ramfos GA 8: 287). Wesentlich vorsichtiger beurteilt Ramfos dies in GA 18: 380; hier konstatiert er lediglich, Palamas argumentiere gegen den zeitgenössischen byzantinischen Humanismus (und nicht gegen die gesamte lateinische Kultur). 221 Podskalsky 1977, Darstellung bei Müller-Schauenburg 2012: 288 f. 222 Flogaus 1997: 56 ff. Vgl. auch die Artikel desselben Autors zur Rezeption des Augustinus durch Gregor Palamas (Flogaus 1996) und eine neue Beurteilung des Ost-WestGegensatzes in der Kontroverse um den Hesychasmus (Flogaus 1998: 32). 223 Weber 2012: 195 f.

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menischen Patriarchats im Jahre 1920. Diese Rückbesinnung orthodoxer Denker wie Staniloae auf die eigenen Traditionen ist sicherlich eine Antwort auf die drängenden politischen Fragen nach Modernisierung (oder eben deren Ablehnung) im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert; Weber beschreibt die Konsequenzen dieser Position wie folgt: Betrachtet man diese Auseinandersetzung von ihrem Ergebnis her, dann war diese äußerst fruchtbar für die rumänisch-orthodoxe Theologie, weil ihr diese Auseinandersetzung zu einer eigenen theologischen Position verhalf, die sich nun auf ihre eigenen spirituellen Wurzeln berief. Von hier aus war man dann in der Lage, gegen Vereinnahmungen durch die neuen politischen Kräfte zu bestehen und auch nach außen eine eigene und selbstbewusste theologische Position zu vertreten.224

Die sich zu dieser Zeit bereits abzeichnende politische Spaltung Europas in eine westliche, individualistisch-demokratische, und eine östliche, der Demokratie kritisch gegenüberstehende, kollektivistische Sphäre unter kommunistischer Vorherrschaft wurde also im theologischen Kontext im Lichte einer bereits Jahrhunderte alten Auseinandersetzung kommentiert. Die maßgeblichen theologischen Unterschiede im Mittelalter wurden auf die besondere Entwicklung der lateinischen Theologie in der Scholastik zurückgeführt, deren Ursprünge noch viel früher, nämlich in der Theologie des Augustinus, gesehen wurden. Besonders den traditionalistischen Theologen unserer Zeit war nun daran gelegen, dieser westlichen Entwicklung mit Palamas einen bedeutenden orthodoxen Denker entgegenzustellen, der als „geistiger Antipode des Augustinus“225 gelten konnte. Hier spielt auch die Frage eine wichtige Rolle, inwiefern Palamas ein Neuerer gewesen ist (so verstand dies die westliche Seite), oder ob er lediglich eine Facette der urchristlichen Botschaft der orthodoxen Kirchenväter ausgearbeitet hat, was viele orthodoxe Autoren behaupten.226 In der jüngeren Forschung findet inzwischen eine vermittelnde Position Gehör, die Palamas in die „großen intellektuellen und religiösen Suchbewegungen seiner Zeit“227 einordnet und ihn, hinsichtlich seiner innerhalb der 224 Ibid.: 187. 225 Ibid.: 196. 226 Meyendorff 1974: 90 ff., dessen Position viele orthodoxe Autoren im Großen und Ganzen übernommen haben. Von den jüngeren Arbeiten vgl. etwa Savvidis 1997: 154, und schließlich Giankazoglu 2001, der diese Frage in seinem Überblick über den Forschungsstand zu Palamas (Seiten 21–40) ebenfalls nicht problematisiert. 227 Müller-Schauenburg 2011: 174–194. Freilich muss hier betont werden, dass sich das hesychastische Gebet keineswegs in Konkurrenz zu den kirchlichen Sakramenten versteht, vgl. Hausamann 2005: viii und 233, Anm. 187 mit Verweis auf Meyendorff 1974: 53 und 58.

Die orthodoxe Antwort auf den westlichen Humanismus: Gregor Palamas 173

orthodoxen Kirche zunächst sehr umstrittenen Position in die Nähe der Bogumilen228 rückt, einer Erneuerungsbewegung, die sich ab dem 10. Jahrhundert von Bulgarien aus über den Balkan und wahrscheinlich bis nach Südfrankreich verbreitete.229 Das würde auch der Erkenntnis Rechnung tragen, dass das byzantinische Reich des 14. Jahrhunderts keineswegs einen streng konservativen Block östlich von Europa darstellt, der, während sich im Westen die ersten Anzeichen eines neuen Zeitalters herausbildeten, in strenger Vätertreue an den Entwicklungen der Spätantike festhielt. Im Gegenteil kamen auch im kosmopolitischen Konstantinopel, wo neben den zahlreichen Vertretern der Völker innerhalb und entlang der Grenzen des ehemals großen Reiches besonders die Niederlassungen der Agenten der italienischen Seefahrerstädte großen Einfluss hatten, die Dinge in Bewegung. Hier das Bild zweier streng getrennter Welten zu sehen, die nicht nur das Mittelmeer, sondern auch den Himmel darüber unter sich aufteilten, scheint also eher eine Projektion späterer Entwicklungen zu sein als historische Realität.230 Die Theologie des Palamas stellt demnach fraglos eine Erweiterung des orthodoxen Denkens dar, die in der Folge zum orthodoxen Dogma erhoben wurde und sich somit im orthodoxen Verständnis in der Tradition der Kirchenväter bewegte. Nach ihrer Anerkennung durch die orthodoxe Kirche geriet die Theologie des Gregor Palamas bald wieder und für lange Zeit in Vergessenheit. Sie wurde erst durch russische Theologen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts wiederentdeckt, welche die oben skizzierte Polarisierung der Auseinandersetzung Barlaam/Palamas in einen politischen Ost-West-Gegensatz übersetzten. Seitdem tobte hier eine Art Stellvertreterkrieg der Historiker, die sich fast ausnahmslos um die eine oder andere Position scharten, und die, insbesondere im orthodoxen Lager, die Ergebnisse der Untersuchungen auf die Politik ihrer Zeit übertrugen. In dieser Auseinandersetzung steht der „Hesychasmus“ des Palamas im Zentrum, und soll den Kern seiner Lehre und die Essenz der Orthodoxie im Allgemeinen bezeichnen. Der Begriff Hesychasmus war bereits lange vor der Barlaam-Palamas-Kontroverse aufgetaucht und war einigen Bedeutungswandlungen unterworfen. Im Kontext des ägyptischen Mönchtums wurde der Terminus Hesychast (aus gr. ἡσυχία = Ruhe) für die Anachoreten gebraucht, die, im Gegensatz zu den Koinobiten, nicht in einem Kloster lebten.231 Später weitete sich die Bedeutung auf alle diejenigen 228 Die ausführlichste Darstellung findet sich bei Rico 1989. 229 Zu den Verbindungen zwischen den Bogumilen und den europäischen geistigen Erneuerungsbewegungen vgl. Schmaus 1951 sowie Auffarth 2005, zitiert nach MüllerSchauenburg 2011: 176, Anm. 332. 230 Ibid.: 175. 231 Hausherr 1956: 247.

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aus, die für sich im Anschluss an Evagrios Pontikos und Makarios dem Großen das Gebet als Praxis für die Annäherung an Gott anwendeten.232 Im Kontext des Hesychasmusstreits, also der Auseinandersetzung um Gregor Palamas und seine Auslegung der Spiritualität, wird Hesychasmus jedoch mit Palamismus gleichgesetzt.233 Insbesondere Gerhard Podskalsky arbeitete die Dichotomie von Palamismus/Hesychasmus und der humanistisch geprägten Position des Barlaam heraus, die Ramfos seinerseits übernimmt.234 In der Folge wurde aus dem zunächst theologischen ein politischer Hesychasmus,235 der im Russland des ausgehenden 19. Jahrhunderts seinen Ursprung hat und dort gerade heute wieder eine Renaissance erlebt. In den anderen orthodoxen Ländern wurde die politische Dimension des Hesychasmusstreits in unterschiedlichen Epochen ebenfalls rezipiert.236 In Griechenland gehören John Romanides und Christos Yannaras zu den einflussreichen zeitgenössischen Vertretern, die die ideologischen Implikationen der Auseinandersetzung um den Hesychasmus in Griechenland etablierten.237 Die antiwestliche Ausrichtung dieser Geschichtsinterpretation wurde in der Zeit des Kalten Krieges von vielen Theologen im orthodoxen Raum geteilt. Als die unmittelbare Gefahr eines Krieges zwischen dem westlichen und dem östlichen Block nicht mehr so akut war und viele ehemals linke Intellektuelle sich mehr nationalen Themen zuwendeten, blieb die antiwestliche Tendenz eine Art gemeinsamer Nenner für neoorthodoxe Denker. In jüngerer Zeit hat Ramfos sich mit dem Buch Das undurchschaubare Nichts238 jedoch besonders von seinen eigenen früheren griechisch-nationalen, antiwestlichen Ansichten distanziert. 232 Neben zahlreichen anderen galt auch Symeon der Neue Theologe als ein Vertreter des Hesychasmus, was Ramfos in GA 18 auch übernimmt. 233 Hausherr 1966: 51. 234 Podskalsky 1977: 124–173 erläutert ausführlich die Position des Barlaam. Zu Barlaam außerdem Fyrigos 1998 und 2001. 235 Diesen Begriff prägte für die wissenschaftliche Diskussion Petrunin in seinem Buch 2009, als er in der Soziallehre der Russischen Orthodoxen Kirche des zweiten Jahrtausends Züge desselben Gedankengutes ausmachte, welches er aber nicht nur auf das 19. Jahrhundert bezog, sondern bis in byzantinische Zeit zurückverfolgte. Stöckl stellt zu Recht diese Historisierung infrage, da die Vorstellung von einem politischen Hesychasmus in byzantinischer Zeit zumindest problematisch ist. Zwar hatte die religiöse Auseinandersetzung um Barlaam und Palamas durchaus auch politische Aspekte, einen politischen Hesychasmus bereits im 14. Jahrhundert erkennen zu wollen, scheint eine Projektion der gegenwärtigen Auseinandersetzung zu sein. (Stöckl 2011: 502). 236 In Rumänien der Zwischenkriegszeit ist Dumitru Stăniloae zu nennen, dazu die Monographie von Weber 2012. 237 Dazu die Monographie von Payne 2011. 238 GA 18.

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Zwar geht er nach wie vor von der gleichen ideologischen Voraussetzung wie die Neoorthodoxen aus, nämlich von zwei unterschiedlichen Welten, die sich aus einer gemeinsamen Tradition schon früh (durch Augustinus) allmählich auseinanderentwickelt haben, deren endgültiger Bruch durch das Schisma von 1054 repräsentiert wird und die bis heute verschiedene Menschenbilder entwickelt haben. Seine Interpretation geht jedoch in eine andere Richtung als früher; in der Studie Das undurchschaubare Nichts versucht er, die Theologie des Palamas im Dialog mit den Bedürfnissen des 21. Jahrhunderts zu verstehen. Hier hebt Ramfos auch die theologischen Neuerungen des Palamas hinsichtlich der Frage der ungeschaffenen Energien hervor. Anders als seine Vorgänger in der orthodoxen Theologie, wie Gregor von Nyssa, Pseudo-Dionysios und Maximus Confessor habe Palamas zwischen die göttliche Substanz und die ungeschaffenen Energien eine Unterscheidung gesetzt, die eine direkte Auswirkung auf die Vorstellung des menschlichen Geistes hatte. Eine Grenze zwischen der für den Menschen nicht erkennbaren göttlichen Substanz und den erkennbaren ungeschaffenen Energien Gottes bricht die Apophatik der orthodoxen Mystik auf, die eine aktive Beteiligung des menschlichen Verstandes bei der Erkenntnis Gottes ablehnt. Konträr zu den neoorthodoxen Theologen seiner Zeit versucht Ramfos aus Palamas’ Theologie einen orthodoxen Humanismus abzuleiten, der in die Zukunft weisen soll. In den ungeschaffenen Energien soll ein Humanismus im Rahmen der Apophatik Platz finden, in dem die seelische Passivität abgelöst wird von einer aktiven Bewusstwerdung des Selbst, das dann auch aus sich heraustreten kann: In diesem Fall wäre das Heraustreten aus dem Selbst ein Zugehen auf den Anderen anstelle einer Weltflucht, wenn das Bewusstsein nur für sich selbst besteht und nur annehmen und nichts hervorbringen kann.239

Wie später ausführlicher dargestellt werden soll, arbeitet Ramfos in seinen jüngeren Werken mit einer Anthropologie der Relation, die das Verhältnis des Subjekts zum anderen Menschen im Blick hat.240 Ramfos sieht also im Hesychasmus, insofern er die griechisch-orthodoxe Kultur von Welt und Materie abschirmt und nur auf das Jenseits ausgerichtet ist, eine große Gefahr, weil er die Menschen in der Vergangenheit gefangen hält. Die starke Verbindung des Menschen zu Gott, die sich im Hesychasmus eines Symeon und eines Palamas manifestiert, birgt jedoch auch die Chance der Öffnung hin zum anderen. 239 „Σ’ αὐτὴ τὴν περίπτωσι ἡ ἔξοδος ἀπὸ τὸν ἑαυτὸ εἶναι πρὸς τὸν ἄλλο καὶ ὄχι ἔξοδος ἀπὸ τὸν κόσμο, ὅπως συμβαίνει ὅταν ἡ συνείδησι ὑπάρχῃ μόνο καθ’ ἑαυτὴν καὶ μπορῇ ἁπλῶς νὰ δέχεται ἀντὶ νὰ ἐνεργοποιεῖται.“ (Ramfos GA 18: 391). 240 Der Ansatz, den Begriff der Relation aus der Phänomenologie in den orthodoxen Kontext zu integrieren stammt von Yannaras. Ausführlicher dazu das Kapitel 5.4.3 Die neoorthodoxe Debatte um die Person.

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Die kulturphilosophische Wende, die Ramfos zwischen den Jahren am Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts vollzogen hat, zielte zunächst darauf ab, die wesentlichen Unterschiede der westlichen und der östlichen Kirchen und Kulturen in der Geistesgeschichte bis zu ihren Ursprüngen zurückzuverfolgen. Sie gipfelt, wie noch auszuführen sein wird, in der Herausarbeitung der unterschiedlichen Menschenbilder, die dem westlichen „Individuum“ im Gegensatz zur „Person“ im Osten zugrunde liegen.241 Aus diesem historischen Material erstellt Ramfos in seinen kulturgeschichtlichen Analysen eine Bestandsaufnahme der aktuellen Krise Griechenlands, die Lösungsvorschlägen den Weg ebnen soll.

4.7 Politischer Hesychasmus und verhinderte Modernisierung der orthodoxen Welt Wenn das Bewusstsein einer eigenen Identität immer in Abgrenzung zu einem anderen geschieht, war für den orthodoxen Osten die Auseinandersetzung mit dem Fortschritt der europäischen Völker immer der Gradmesser für die eigene Position.242 Der Verlust der wirtschaftlichen und politischen Bedeutung des oströmischen Reiches gegenüber den von technischer Entwicklung und philosophischreligiöser Erneuerung geprägten westeuropäischen Staaten zog ein Gefühl der Minderwertigkeit und einer geistigen Abhängigkeit nach sich, die dazu führten, dass die eigene Standortbestimmung, etwa in Griechenland, ausschließlich im Kontrast zum Westen geschah.243 Die Ablehnung des Unionskonzils Ferrara-Florenz seitens der orthodoxen Bevölkerung in Konstantinopel sowie der russischen orthodoxen Kirche markieren die historische Wasserscheide, nach der eine Integration von Entwicklungen wie der Reformation und der Aufklärung in der orthodoxen Welt nicht mehr erstrebenswert erschienen. Ramfos diagnostiziert im Bedeutungsverlust der orthodoxen Welt ein historisches Trauma, dessen Bewältigung durch eine ideologische Fixierung auf die Vergangenheit verhindert wird. So löste der durchschlagende Erfolg eines Werkes wie der Philokalia im gesamten orthodoxen Bereich, in einer kirchenslawischen sowie einer rumänischen Übersetzung, gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine „Renaissance der Kirchenväter“ aus.244

241 Dazu unten das Kapitel 5 Personale Anthropologie im Kontext der neoorthodoxen Diskussion. 242 Ramfos GA 18: 437. 243 Ibid., mit Verweis auf Podskalsky 1988, vgl. auch id. 1998. 244 Zur Wirkung der Philokalia in Rumänien vgl. Neamţu 2012.

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In Griechenland vollzog sich diese erst verspätet, zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Dies führte dort zu einer geistigen Blüte der russischen Religionsphilosophie, die Ramfos in seinen jüngeren Publikationen, bei allem Respekt für ihre Bedeutung, für die weitere historische Entwicklung nicht nur positiv einschätzt. Denn Griechenland und, mit gewissen Einschränkungen, die gesamte orthodoxe Welt einschließlich Russlands, suchten seit drei Jahrhunderten den Anschluss an das westliche Europa. Diese Bewegung wurde jedoch immer wieder zurückgedrängt von einer starken traditionalistischen Tendenz, die sich Neuerungen jeder Art verweigerte und den status quo beibehalten wollte im Namen sittlicher Werte, die in der Modernisierung obsolet zu werden drohen.245 Diese politisch-gesellschaftliche Kraft bezeichnet Ramfos als „Hesychasmus“; sie ist für ihn gleichsam der ideologische Hintergrund der orthodoxen Spiritualität. Diese schließt die rein rationale Erfassung des Göttlichen aus, beschränkt sich auf eine starke emotionale Annäherung an Gott, und negiert gleichzeitig die materielle Welt. Der unvoreingenommene Zugang zur Materie ist jedoch die Basis eines wissenschaftlich fundierten Weltbildes, ohne die die Entwicklung einer Modernisierung nicht möglich ist. In dieser Praxis wird einseitig das subjektive Erleben in den Mittelpunkt gestellt; die strenge, körper- und weltfeindliche Askese des Hesychasmus verleitet den Menschen zudem dazu, die Realität zu ignorieren: In diesem Überblick zeigte sich und zeigt sich auch weiterhin der innere Widerspruch eines Menschen mit traditioneller Mentalität, der aber gleichzeitig in den Kontext eines wissenschaftlichen Weltbildes von einem unendlichen Universum eingebunden ist, das die Neuzeit hervorgebracht hat. In einem solchen Zusammenhang wird das Problem aufgeschoben, ohne gelöst zu werden, da die Quelle der Wahrheit weiterhin der Glaube als psychischer Habitus anstelle von Vernunft oder Wille ist, wahrend die äußere Realität als bedrohlich wahrgenommen wird. Diese weltfeindliche Emotion kann die Hinwendung des Menschen zum Absoluten schnell in einen totalen Nihilismus verwandeln. […] Die Reinigung des Menschen abseits von Welt und Körperlichkeit begünstigt ein moralisches Verhalten, welches an die Stelle des verstandesmäßigen Urteils die Meinung der Gesellschaft setzt, so dass sich die individuelle Spiritualität der geltenden Wahrheit unterordnet. Der mittelalterliche Mensch, den die hesychastische Praxis voraussetzt, verinnerlicht nicht seine eigenen Verstandesleistungen, da er, wie der antike Mensch, seine individuelle Überzeugung an der breiteren gesellschaftlichen Auffassung ausrichtet. Der antike Mensch akzeptiert die Regeln des Lebens aus der Natur der Dinge und nimmt sie als

245 Für die gesamte Darstellung der Position von Ramfos sei auf das abschließende Kapitel in GA 18 verwiesen, hier: 437–470. Zur Problematik der Modernisierung des orthodoxen Kulturraums vgl. Makrides 2011.

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Tugenden an; der Mensch des Mittelalters nimmt sie als gottgegeben und demzufolge als heilig an; der moderne formt sie mit seinem Verstand und seinem subjektiven Willen.246

Die Gefahr einer solchen weltabgewandten Mentalität ist einerseits die latente Tendenz zum Totalitarismus, wie Ramfos mit Verweis auf die Thesen Berdjaews bemerkt, demzufolge der Kommunismus auf dem geistigen Fundament der sobornost’ entstanden ist, wie auch die Orthodoxie.247 Die hesychastische Praxis hat im griechischen Kontext darüber hinaus dazu verleitet, die Realität vollkommen zu verkennen und sich in einer Art Paralleluniversum möglichst bequem einzurichten, was Ramfos anhand zweier populärreligiöser Texte darstellt, deren Neuerscheinen zu Beginn des letzten Viertels des 20. Jahrhunderts für einiges Aufsehen gesorgt hatte. Es handelt sich hierbei um die Die Theoria der Väter der Nüchternheit248 aus der Feder eines anonymen Mönches vom Athos und um ein Bändchen mit Texten des griechischen Freiheitskämpfers und Volkshelden Makrygiannis mit dem Titel Visionen und Wunder,249 die beide 1851 verfasst wurden. Keines der beiden ist ein ernst zu nehmendes theologisches Werk, sie zeigen nach Ramfos aber exemplarisch: […] auf rein persönlicher Ebene die Konsequenz der strukturellen Hindernisse unserer neueren historischen und psychologischen Realität, wie sie sich tendenziell seit Beginn des 18. Jahrhunderts in Form eines Widerstands gegen den Westen und die Aufklärung mit einer gleichzeitigen Rückkehr zu den Wurzeln der Kirchenväter manifestierte.250

246 „Στὸ ταξίδι αὐτὸ ἀναδείχθηκε καὶ ἐξακολουθεῖ νὰ ἀναδεικνύεται τὸ ἀδιέξοδο ἑνὸς ἀνθρώπου μὲ νοοτροπία παραδοσιακή, ἐντεταγμένου ταυτόχρονα στὸ περιβάλλον τοῦ ἐπιστημονικοῦ κοσμοειδώλου ἑνὸς ἀπείρου συμπάντος, ποὺ ἔφεραν μαζί τους οἱ Νέοι χρόνοι. Σὲ μιὰ τέτοια περίπτωσι τὸ πρόβλημα καταργεῖται χωρὶς νὰ λύνεται, καθὼς πηγὴ ἀλήθειας ἐξακολουθεῖ νὰ εἶναι ἡ πίστι σὰν ψυχικὴ ῥοπὴ καὶ ὄχι ἡ διάνοια εἴτε ἡ θέλησι, ἐνῷ ἡ κοσμικὴ πραγματικότητα βιώνεται ἀπειλητικά. Τὸ ἀρνησίκοσμο τοῦτο αἴσθημα δὲν εἶναι δύσκολο νὰ μεταβάλῃ τὴν ἐκτίναξι τοῦ ἀνθρώπου πρὸς τὸ ἀπόλυτο σὲ μηδενισμό. […] Ἐν προκειμένῳ ἡ ἐκτὸς κόσμου καὶ σώματος λύτρωσι τοῦ ἀνθρώπου εὐνοεῖ τὴν ἀρετολογικὴ συμπεριφορά, ἡ ὁποία στὴν θέσι τῆς ἐλλόγου κρίσεως βάζει τὴν κοινὴ γνώμη, ὥστε ἡ ἀτομικὴ πνευματικότητα νὰ παραδίδεται στὴν τρέχουσα ἀλήθεια. Ὁ μεσαιωνικὸς ἄνθρωπος, τὸν ὁποῖο προϋποθέτει ἡ ἡσυχαστικὴ πρᾶξι, δὲν ἐσωτερικεύει προϊόντα τῆς δικῆς του λογικῆς ἐπειδὴ ἑδραιώνει, σὰν τὸν Ἀρχαῖο, τὴν ἀτομική του πεποίθησι στὴν εὐρύτερη κοινωνικὴ ἀντίληψι. Ὁ ἀρχαῖος δέχεται κανόνες ζωῆς ἀπὸ τὴν φύση καὶ τοὺς υἱοθετεῖ ὡς ἀρετή, ὁ ἄνθρωπος τοῦ Μεσαίωνος τοὺς δέχεται ἐκ Θεοῦ ἐν εἴδει ἁγιασμοῦ, ὁ νεώτερος τοὺς μορφώνει μὲ τὸν λόγο καὶ τὴν ὑποκειμενική του θέλησι.“ (Ramfos GA 18: 438 f.). 247 Berdjaev 1937. 248 Anonymus 1979. 249 Makrygiannis 1999. 250 „[…] παραδειγματικὴ ἀποτύπωση σὲ προσωπικὸ ἐπίπεδο δομικῶν κωλυμάτων τῆς νεωτερικῆς ἱστορικῆς καὶ ψυχικῆς μας πραγματικότητος, ὅπως ἔτεινε νὰ διαμορφωθῇ

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Im ersten Buch, Die Theoria der Väter der Nüchternheit, beschreibt ein anonymer Mönch vom Heiligen Berg die hesychastischen Praktiken, wie etwa das „Herzensgebet“, die offensichtlich von der Tradition der Philokalia beeinflusst sind251 sowie seine Visionen Christi, der Gottesmutter und von Heiligen, die er in seiner Askese erfahren hat. Die naive und gänzlich unreflektierte Darstellung seiner Erfahrungen in der Ekstase gipfeln in einem Gespräch mit Jesus Christus, der ihm versichert, dass seine Aufzeichnungen wirklich mit göttlicher Billigung abgefasst und von seiner Gnade durchdrungen seien. So durchlebt der Anonymus, der sich als der „Verzweifelte“ (ὁ Ἀπελπισμένος) apostrophiert, eine geistige Praxis, die Ramfos als „emotionalen Hesychasmus“252 bezeichnet. Ihn zeichnet ein besonderer Seelenzustand aus, „der die hesychastische Tradition, erneuert durch Nikephoros den Mönch und in groben Zügen bis heute gültig“253 charakterisiert. Diese Tradition […] adaptiert die antike Vorstellung vom Herzen als innerem Organ des menschlichen Körpers, welches Seelenzustände hervorbringt, wie etwa die Leber Galle absondert. Diese körperliche Besonderheit erschafft eine bestimmte Psychologie von guten und schlechten Gedanken, während das Gebet wie ein Feuerlöscher gegen die erhitzten Affekte eingreift, welche mit dem Willen gleichgesetzt werden.254

Das Herzensgebet, welches das ständige Wiederholen der Formel Κύριε Ἰησοῦ Χριστέ, Υἱὲ τοῦ Θεοῦ, ἐλέησόν με [Herr Jesus Christus, Sohn Gottes, erbarme dich meiner] wie ein Mantra beinhaltet, beeinflusst die Seele insofern positiv, als es diese von negativen Gedanken befreit. Dieses Herzensgebet ist also eine Form orthodoxer Autosuggestion, durch die die Sehnsucht nach der Annäherung an Gott gleichzeitig die völlige Negation der Realität zur Folge hat. In der abgewerteten Welt regieren im Namen eines magischen Verständnisses der Gnade die Emotionen auf Kosten jeglicher Logik, während die Sehnsucht nach der Vereinigung mit Gott unter der Voraussetzung der Zurückdrängung des physischen Ichs zum

ἀπὸ τὶς ἀρχὲς τοῦ δεκάτου ὀγδόου αἰῶνος ἐν εἴδει ἀντιπαραθέσεως πρὸς τὴν Δύσι καὶ τὸν διαφωτισμό, μὲ παράλληλη ἐπιστροφὴ στὶς πατερικὲς ῥίζες.“ (Ramfos GA 18: 437). 251 Anonymus 1979: 38. 252 „Συναισθηματικὸς ἡσυχασμός“ (Ramfos GA 18: 440). 253 „[…] προεκτείνει τὴν ἡσυχαστικὴ παράδοση, ὅπως ἐγκαινιάζεται ἀπὸ τὸν Νικηφόρο Μονάζοντα καὶ ἐξακολουθεῖ νὰ ἰσχύει σὲ πολὺ γενικὲς γραμμὲς ἕως σήμερα.“ (Ibid.: 441). 254 „[…] υἱοθετεῖ τὴν ἀρχαία ἀντίληψι γιὰ τὴν καρδιὰ ὡς ἐσωτερικοῦ ὀργάνου τοῦ σώματος, ποὺ παράγει τὰ ψυχικὰ φαινόμενα ὅπως περίπου ἐκκρίνει τὴν χολὴ τὸ ἧπαρ. Ἡ φυσιολογία τούτη δημιουργεῖ μιὰ περιωρισμένη ψυχολογία πονηρῶν λογισμῶν καὶ ἀγαθῶν νοημάτων, ἐνῷ ἡ προσευχὴ παρεμβαίνει σὰν πυροσβεστικὸς μηχανισμὸς τῶν ἐξημμένων αἰσθημάτων, τὰ ὁποία ταυτίζονται μὲ τὴν θέλησι.“ (Ibid.).

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Einspringen des Überichs in die entstandenen Leere und weiterhin zu einem Willen führt, der nicht fähig ist, seiner Dynamik Raum zu verschaffen, so dass sie schließlich jeder organisierten Ausdrucksform sozialer Existenz gänzlich negativ gegenübersteht. Ist es also abwegig, wenn jemand behauptet, dass ohne Kultur die göttliche Liebe lediglich bedeutet, dass sich die Emotionen zu einem undurchdringlichen Nichts255 versteigen? Oder dass ohne die materielle Realität der Kultur die ungeschaffenen Energien des Dreifaltigen Gottes den Menschen dazu zwingen, sowohl das Urteil der Vernunft wie auch die Welt überhaupt als negativ zu verinnerlichen? Umso mehr, wenn das Überich an die Stelle des zu verdammenden, aber dennoch ständig präsenten natürlichen Ichs tritt und damit eine Verwirrung der beiden hervorruft, was zu prahlerischer Selbstüberschätzung und dem Ausbruch endloser innerer Auseinandersetzungen auf den verschiedenen Ebenen des persönlichen und sozialen Lebens der Orthodoxen führt?256

Nach modernen medizinischen Begriffen wäre diese Realitätsverweigerung Ausdruck einer seelischen Erkrankung mit depressiven Zügen, die sich im zweiten oben angeführten Büchlein auf die Enttäuschung des ehemaligen Feldherrn Makrygiannis angesichts seiner Marginalisierung und des allgemeinen politischen Verfalls im befreiten Vaterland zurückführt. Ramfos plädiert dafür, in diesem Werk nur die „andere Seite der Medaille“ zu sehen, die sich in Makrygiannis’ weit verbreiteten und gern gelesenen Kriegserinnerungen257 Makrygiannis 2000. nicht so offen zeigte. Sie ist aber durchaus typisch für einen orthodoxen Menschen seiner Zeit, für den die glühende Begeisterung für die Befreiung des Vaterlandes der gleichen Quelle entspringt wie der Drang zur Annäherung an Gott. Es handelt sich um eine Tradition, die das Gefühl und die Emotionen überproportional betont und die das Ich unterschiedslos im Wir verankert, da „sie das ‚Was und das Wie bin Ich‘ nicht

255 Anonymus 1979: 252. 256 „Στὸν ἀπαξιωμένο κόσμο ἐπικρατοῦν ἐν ὀνόματι μιᾶς μαγικῆς ἀντιλήψεως τῆς Χάριτος τὰ αἰσθήματα εἰς βάρος κάθε λογικῆς, ἐνῷ ὁ πόθος τῆς ἑνώσεως μὲ τὸν Θεὸ ὑπὸ τὸν ὅρο τῆς συντριβῆς τοῦ φυσικοῦ Ἐγὼ ὁδηγεῖ σὲ εἰσπήδησι τοῦ Ὑπερεγὼ στὸ δημιουργημένο κενὸ καὶ περαιτέρω σὲ μιὰ θέλησι ἀνήμπορη νὰ δώσῃ μορφὴ στὸν δυναμισμό της, φθάνοντας νὰ ἀντιμετωπίζῃ μηδενιστικὰ κάθε συγκροτημένη ἔκφρασι κοινωνικῆς ὑπάρξεως. Εἶναι ἆράγε ἄτοπο νὰ ὑποστηρίξῃ κανεὶς ὅτι χωρὶς πολιτισμὸ ὁ θεῖος ἔρωτας μένει ἁπλῆ ἔφοδος τοῦ αἰσθήματος πρὸς ἕνα ‚ἀκατανόητον τίποτες‘; Ἢ ὅτι χωρὶς τὴν κτιστὴ πραγματικότητα τοῦ πολιτισμοῦ, μόνες τους οἱ ἄκτιστες ἐνέργειες τοῦ Τριαδικοῦ Θεοῦ ὑποχρεώνουν τὸν ἄνθρωπο νὰ ἐσωτερικεύῃ ἀρνητικὰ τόσο τὴν ἔλλογη κρίσι ὅσο καὶ τὸν κόσμο; Πολὺ περισσότερο ὅταν ἡ ὑποκατάστασι τοῦ Ὑπερεγὼ στὸ ἐξορκιστέο ἀλλὰ πάντα παρὸν φυσικὸ Ἐγὼ προκαλεῖ τὴν μεταξύ τους σύγχυσι, μὲ ἀποτέλεσμα τὴν ἀλαζονικὴ ἔπαρσι καὶ τὸ ξέσπασμα ἀενάων ἐμφυλίων πολέμων στὰ διάφορα ἐπίπεδα τῆς ἀτομικῆς καὶ τῆς συλλογικῆς ζωῆς τῶν Ὀρθοδόξων.“ (Ramfos GA 18: 444). 257 Makrygiannis 2000.

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vom ‚Was und dem Wie sind Wir alle‘ unterscheiden kann“,258 und damit keinen Abstand zu sich selbst einnehmen kann, um dieses Selbst objektiv zu erfassen und zu beschreiben. Die mangelnde innere Distanz ist auch der problematische Kern der hellenischen Mentalität, der es bis heute nicht gelungen ist, die Grenze von Ost nach West zu überwinden. Die hesychastisch geprägte geistige Tradition der Orthodoxie, aus der sich nach wie vor die zeitgenössische griechische Kultur speist, ist also – so unterstreicht Ramfos in seinen jüngsten Schriften insbesondere nach 2009 – infolge ihrer Weltverachtung und ihrer ständigen Hinwendung zur Ewigkeit letzten Endes die Ursache für die soziokulturelle Krise, die sich heute in Griechenland abspielt. Das Ergebnis dieser Traditionsbindung ist ein „Nihilismus“, der durchaus auch Parallelen zu der Geisteshaltung im Russland des ausgehenden 19. Jahrhunderts besitzt und der auf die Gräuel der zukünftigen Revolution und des Totalitarismus des 20. Jahrhunderts vorausweist.259 Dieser „Nihilismus“ äußert sich im Ignorieren der aktuellen Realität zugunsten eines rückwärtsgewandten Sich-Klammerns an die angebliche ehemalige Größe und ist schließlich der Grund für die heutige soziopolitische wie wirtschaftliche Marginalisierung Griechenlands. Aufgrund der falschen Selbsteinschätzung durch die übergroße Mehrheit der Griechen wird diese Bedeutungslosigkeit immer weiter perpetuiert, wenn nicht ein grundsätzlicher Sinneswandel eintritt, der die einzige Möglichkeit zu einer Umkehrung dieser Tendenz wäre. Mit dieser Einschätzung entwirft Ramfos also ein neues „großes Narrativ“ vom Triumph des Hesychasmus und der Kanonisierung Theologie des Palamas, die die eigentliche große Katastrophe der Epoche darstellt und die die Orthodoxie endgültig zur Weltabgewandtheit und schließlich zum Scheitern verurteilt hat.260 Ramfos beschreibt hier bereits, wie auch in späteren Schriften noch deutlicher, die Besonderheit der griechischen Mentalität in der Terminologie einer psychischen Anomalie, die aus der Überbetonung des Emotionalen und der unzeitgemäßen Konstruktion des Selbst entsteht. Im folgenden Kapitel soll nun näher auf das neoorthodoxe Menschenbild, Ramfos’ Analyse desselben und seinen Beitrag zur Diskussion eingegangen werden.

258 „[…] ἐπειδὴ ἀδυνατοῦσε νὰ διακρίνῃ τὸ ‚τί‘ καὶ ‚πῶς‘ εἶμαι ‚Ἐγὼ‘ ἀπὸ τὸ ‚τί‘ καὶ ‚πῶς‘ εἴμαστε ‚ Ὅλοι‘.“ (Ramfos GA 18: 453 f.). 259 Ibid.: 438. 260 Plested 2012: 3.

5 Personale Anthropologie im Kontext der neoorthodoxen Diskussion 5.1  Individuum, Person und orthodoxe Pseudomorphose Während in den beiden vorangegangenen Kapiteln versucht wurde, Ramfos’ Interpretationslinien in seiner Darstellung der antiken Philosophie und des Christentums und gleichzeitig seine erkenntnistheoretischen Grundsätze von der philosophischen Schau des Lichts und der Annäherung an Gott kritisch nachzuverfolgen, soll im vorliegenden Kapitel auf ein Thema eingegangen werden, das in den späten 1990er Jahren in Ramfos’ Interessenzentrum rückt und bis heute sehr wichtig geblieben ist. Es betrifft die unterschiedlichen Menschenbilder in Westeuropa, dem Erben der Renaissance und des Humanismus, sowie im orthodoxen Osten, und deren Auswirkungen auf die heutige griechische Kultur und Gesellschaft. Während sich in Westeuropa nach und nach eine Individualisierung1 vollzogen hatte, blieb diese in anderen Teilen der Welt, wie auch in den orthodox bestimmten Kulturen, im Wesentlichen aus. Diese nicht oder nur ansatzweise vollzogene Individualisierung stellt Griechenland heute, im Kontext einer globalisierten Welt, vor neue Probleme, die Ramfos immer wieder plakativ als „Identitätskrise“2 bezeichnet. Die Frage nach einer orthodoxen Anthropologie als Antwort auf das Menschenbild des säkularen, individualisierten Westens, die im Themenkomplex um einen byzantinischen Humanismus bereits angeschnitten wurde, hat eine Vorgeschichte in der Wendung der orthodoxen Theologie, die durch russische Exiltheologen vollzogen wurde. Hier war es besonders Georgi Wassiljewitsch Florowski (1893–1979), einer der bedeutenden orthodoxen Theologen des zwanzigsten Jahrhunderts, der die Rückkehr der orthodoxen Theologie zu den griechischen Kirchenvätern als Ausgangspunkt für ihre Erneuerung postuliert hat. In seiner Nachfolge konstruierte Christos Yannaras ein auf der orthodoxen Trinitätsauffassung basierendes „Menschenbild der Person“, das in Griechenland eine bewegte Debatte um den Personalismus auslöste. Hier schaltete sich Ramfos

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Zum Begriff und zur Geschichte der Individualisierung vgl. unten Kapitel 6.4 Umstrittene Modernisierung: Antworten auf die Krise in Griechenland. Ramfos GA 11: 10 und Ramfos GA 16: 9 f.

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2000 mit seinem Band Der Schmerz des Einen3 ein und verband die Frage nach der Individualisierung mit der nach der Genese der Person. Was die theologischen Kategorisierungen betrifft, bewegt sich Ramfos in seiner Anthropologie auf den Fundamenten der orthodoxen Theologie. Er geht jedoch in seiner gesellschaftlichen Analyse der griechischen Gegenwart über diese hinaus und wendet seine Ergebnisse auf die soziale Realität seiner Zeit an, was sicherlich auch einer der Gründe für seine stetig wachsende Bekanntheit und Rezeption in breiten Kreisen der griechischen Intellektuellen ist. Die Unterscheidung zwischen griechischer und westeuropäischer Kultur und vor allem die skeptischen bis negativen Urteile über die Letztere teilte Ramfos etwa bis in die Mitte der 1990er Jahre mit den Vertretern der neoorthodoxen Bewegung in Griechenland und besonders mit ihrem herausragenden Vertreter Christos Yannaras. Die Neoorthodoxen hatten sich in der Nachfolge des griechisch-amerikanischen Theologen John Romanides seit den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts zum Ziel gesetzt, die orthodoxe Theologie von ihrer „Pseudomorphose“ zu befreien und sie wieder auf genuin orthodoxe Ansätze, namentlich auf die Tradition der kappadokischen Kirchenväter zurückzuführen.4 Den Terminus Pseudomorphose, eigentlich ein Begriff aus der Mineralogie, hatte Florowski dem einflussreichen Werk Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte5 des deutschen Kulturphilosophen Oswald Spengler (1880–1936) entnommen. Er bezeichnete damit seine These, dass die orthodoxe Theologie unter dem Einfluss der westlichen Theologie unnatürliche Formen hervorgebracht habe, eben Pseudomorphosen, die durch die Rückbesinnung auf die Tradition beseitigt werden sollten.6 Begleitet wurden diese Bemühungen von einer Übertragung auf die gesellschaftliche und politische Dimension des religiösen Denkens, dem oben dargestellten politischen Hesychasmus.7 Diese Tendenzen sind heute auch in anderen orthodoxen Ländern, insbesondere in Russland, zu beobachten.8

3 4 5 6 7 8

GA 16. Zur Auseinandersetzung um die westliche Pseudomorphose in der orthodoxen Theologie vgl. als Beispiele unter vielen Wendebourg 1997 und Felmy 2010. Spengler 1923: Band II, Kapitel 2, § 12. Zum Einfluss von Florowskis neopatristischer Synthese auf die orthodoxe Theologie siehe Gavrilyuk 2013 und 2014a. Petrunin 2009. Daniel P. Payne ist es gelungen, in seinem Buch The Revival of Political Hesychasm in Contemporary Orthodox Thought: The Political Hesychasm of John S. Romanides and Christos Yannaras, Lanham 2011, einen Überblick über dieses komplexe Thema zu

Die russische Exiltheologie und die neoorthodoxe Strömung

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In Der Schmerz des Einen formuliert Ramfos eine Antwort auf die Theologie der sechziger Jahre und versucht, die griechische Position gen Westen hin zu öffnen. Bevor dieses Thema vertiefet wird, soll jedoch die Geschichte des neoorthodoxen Denkens in Griechenland und dessen Wurzeln in der russischen Religionsphilosophie sowie die religiös fundierte Anthropologie in der damaligen Personalismusdebatte kurz skizziert werden. In absteigender Reihenfolge von Lehrer-Schüler-Beziehungen sehen wir Ansätze von Losskis Denken bei Florowski und dessen Schüler Romanides, der wiederum großen Einfluss auf Yannaras gehabt hatte und schließlich auch bei Ramfos.

5.2 Die russische Exiltheologie und die neoorthodoxe Strömung Die Wurzeln des neoorthodoxen Denkens reichen bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts zurück, als russische Theologen versuchten, zunächst die Lehre von den ungeschaffenen göttlichen Energien des Gregor Palamas gegen den Vorwurf der Häresie seitens westlicher Theologen zu verteidigen und infolgedessen, als Antwort auf die Herausforderungen des Westens, die gesamte orthodoxe Theologie wieder auf die Basis der Lektüre der griechischen Kirchenväter zu stellen. Wie Payne ausführt, kann die Wiederentdeckung des palamitischen Denkens innerhalb des ökumenischen Annäherungsprozesses zwischen katholischen Intellektuellen und orthodoxen Emigranten nach der Revolution von 1917 angesetzt werden.9 Das Pontificio Istituto Orientale (gegründet 1917) hatte das Studium der Ostkirchen zur Aufgabe, um die Möglichkeiten einer eventuellen Union mit den östlichen Kirchen, insbesondere der Orthodoxen Kirche, deren politische Zukunft nach dem Zusammenbruch des osmanischen Reiches alles andere als sicher war, auszuloten. In dieser Zeit erschienen die ersten Untersuchungen zu Palamas. Die katholischen Theologen Martin Jugie (1878–1954) und Sebastien Guichardon bezichtigten darin Palamas der theologischen Innovation und der Häresie.10 schaffen und die unterschiedlichen Einflüsse, die in dieses Denken mundeten, zu analysieren. Dieser Abschnitt über die griechische Theologie der sechziger Jahre verdankt diesem Werk sehr viel. Ein weiteres Werk, das das geistige Klima jener Zeit und das Denken des Yannaras untersucht, ist die unveröffentlichte Dissertation von Pantelis Kalaitzidis, Ελληνικότητα και Αντιδυτικισμός στη „Θεολογία του ’60“ [Hellenizität und antiwestliche Orientierung in der Theologie der sechziger Jahre], Thessaloniki 2008. 9 Payne 2011: 124 ff. 10 Zu nennen sind hier Jugies Einträge zu Palamas und zur Kontroverse zu diesem im Dictionnaire de Théologie Catholique (1932), hier: coll. 1738 und 1742 und zwei Artikel zu Palamas von 1931 und 1933, sowie Guichardon 1933.

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Die erste Antwort, die belegen sollte, dass sich Palamas durchaus innerhalb der orthodoxen Tradition bewegte, verfasste der Bischof Basil Krivochéine,11 dem weitere folgten, unter anderen Dumitru Stăniloae.12 Nach dieser eher historischen Aufarbeitung des Denkens des Gregor Palamas war es schließlich Losski, der als erster orthodoxer Theologe des 20. Jahrhunderts das palamitische Denken systematisch anwendete. Wie Payne beschreibt, war Losski: […] strident in his emphasis on theological methodology, which leads to a proper Christian understanding of the doctrine of the Holy Trinity. Utilizing patristic methodology, particularly the Pseudo-Dionysian method of apophaticism, Cappadocian trinitarism, and Palamite existentialism, Lossky produces the classic theological synthesis of Orthodox theology in the twentieth century.13

Mit der Wiederentdeckung der Theologie des Gregor Palamas wurde das Interesse an einer eigenen, orthodoxen Tradition stärker und führte zu einer ganzen Reihe von Abgrenzungsbewegungen gegen die westliche Theologie und zu einer Suche nach den eigenen Wurzeln. In diesem Kontext ist auch die neopatristische Synthese von Florowski zu sehen, die mit ihrer Rückwendung zu den griechischen Kirchenvätern eine restaurative Wende innerhalb der russischen und der gesamten orthodoxen Theologie einleitete.14 Der Vorwurf erstreckte sich auch auf die orthodoxe Religionsphilosophie des frühen 20. Jahrhunderts, namentlich die von Solowiow und Sergei Bulgakow, die als „verwestlicht“ ausgeklammert werden sollte, da sie sich zu sehr an den deutschen Idealismus angelehnt hatte.15 Payne sieht darin eine Antwort auf die Krise der russischen Religionsphilosophie des sogenannten Silbernen Zeitalters infolge der Kontroverse um die Sophiologie von Bulgakow. Diese war – wahrscheinlich wegen ihrer stark neuplatonischen Ausrichtung16 – in den Verdacht der Häresie geraten.17 Mit seiner Abwendung von westlichen Vorbildern zeichnete Florowski die weitere Entwicklung der russischen Theologie und der griechischen Theologie der sechziger Jahre vor.18 In The Ways of Russian Theology kritisiert er die Annäherung an westliche Methoden und besonders an den deutschen Idealismus und plädiert für die Wiederbelebung der patristischen Tradition: 11 12 13 14 15 16 17 18

Krivochéine 1987. Staniloae 1938. Payne 2011: 129. Vgl. auch Plested 2012: 193–204. Payne 2011: 173. Horuzhy 2000: 314, zitiert nach Payne 2011: 168 ff. Payne 2011: 172. Ibid.: 184.

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Recovery of the patristic style is the primary and fundamental postulate for Russia’s theological renaissance. Renaissance does not mean some sort of “restoration” or some repetition of or return to the past. “Following the fathers” always means moving forwards, not backwards; it means fidelity to the patristic spirit and not just the patristic letter. One must be steeped in the inspiration of the patristic flame and not be simply a gardener pottering around amongst ancient texts.19

Um also den lateinischen Einfluss in der Orthodoxie rückgängig zu machen, stellt sich Florowski in die Tradition der spätbyzantinischen Theologen wie Gregor Palamas und anderen, die eine Re-Hellenisierung durch eine neue Lektüre der griechischen Patristik anstrebten.20 Dies verlangte, so Florowski, auch nach einem kreativen Ansatz, im Geiste der Kirchenväter die Probleme der Moderne anzugehen: What is really meant and required is not blind or servile imitation and repetition but rather a further development of this patristic teaching both homogeneous and congenial. We have to kindle again the creative fire of the Fathers, to restore to ourselves the patristic spirit.21

Diese Aufforderung zur Rückkehr zu den Wurzeln traf auch in der griechischen Theologie jener Zeit einen wichtigen Nerv. Neben der Konzentration auf die Tradition der Väter war für die ideologische Ausrichtung der griechischen Theologie der sechziger Jahre ein weiterer Aspekt von Florowskis Arbeiten wichtig, nämlich sein Begriff eines Christlichen Hellenismus.22 Hierbei geht es insbesondere um das Verhältnis von heidnischer griechischer Antike und dem neu aufgekommenen christlichen Denken. Die vorherrschende Meinung in den Altertumswissenschaften jener Zeit ging – so die neoorthodoxe Position – von einer Hellenisierung des Christentums im dritten und vierten Jahrhundert aus, was in gewisser Weise die Abkehr von den biblisch-semitischen Traditionen im Zuge der Etablierung des Christentums im Römischen Reich bedeutete.23 Florowski betrachtete das Phänomen der Vermischung der beiden Kulturen in seinen historischen Arbeiten aber unter umgekehrten Vorzeichen und sprach von einem Christlichen Hellenismus.24 Diese Verschiebung der Perspektive durch Florowski gab den griechischen Theologen die Möglichkeit, die Kontinuität von griechischer Antike und orthodoxem 19 20 21 22 23 24

Florovsky 1987: 294, zitiert nach Payne 2011: 175. Payne 2011: 175 f. Florovsky 1969: 230, zitiert nach Payne 2011: 175. Zur Einordnung Gavrilyuk 2010; 2013. Eine kritische Betrachtung bei Wendebourg 2009. Florovsky 1974: 25, zitiert nach Payne 2011: 176.

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Christentum weiterhin zu vertreten; sie wertete aber auch das Denken der kappadokischen Kirchenväter auf, die somit eine neue Kultur und ein neues philosophisches System geschaffen hatten. Einer unter ihnen, Basilios von Cäsarea, hatte bereits diese selektive Aneignung mit der Arbeit der Biene verglichen, die alles, was süß und nützlich ist, sammelt, Giftiges aber meidet.25 So wurde die Metaphysik der heidnischen Philosophie von den Christen selbstverständlich abgelehnt, bestimmte Teile aber wurden übernommen und mit der biblischen Tradition verbunden, was letztendlich den Sieg des Christentums über die pagane Antike festigte. Florowski formuliert dies folgendermaßen: The new culture was a great synthesis in which all the creative traditions and moves from the past were merged and integrated. It was “New Hellenism” but a Hellenism drastically christened and, as it were, “churchified”.26

Träger der neuen Philosophie sollte das Mönchtum werden, innerhalb dessen der Mensch zu seinem besseren Selbst und zu Gott finden konnte. Beide Aspekte von Florowskis Werk, die Rückkehr zu den Vätern und der Christliche Hellenismus machten diesen Denker in Griechenland sehr populär, da diese Elemente dort national gedeutet werden konnten und sehr gut in das politische Schema auch nicht-theologischer Denker passte. Viele seiner Ansätze übernahm sein Schüler John Zizioulas (geb. 1931), der heute Titularbischof von Pergamon ist.27 Nicht alle Charakteristika des neoorthodoxen Denkens finden sich jedoch schon bei Florowski. Die ablehnende Haltung gegenüber allem Lateinischen ist eine größtenteils griechische Zutat. In seiner Interpretation der griechischen Kirchenväter geht Florowski kaum auf die lateinische Tradition ein; nur in einem Vortrag anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde an der Universität Thessaloniki wird eine verhaltene Kritik an Augustinus vernehmbar;28 um diesen jedoch an andere Stelle ausdrücklich in eine Reihe mit den griechischen Vätern zu stellen.29 Diese wurde aber von Florowskis griechischen theologischen Gefolgsleuten umso ausführlicher entwickelt und zu einer regelrechten Polemik gegen Augustinus ausgebaut.30 Somit beobachten wir in Griechenland schon ab der Mitte des 20. Jahrhunderts eine Politisierung ursprünglich theologischer Inhalte. Für griechische Denker

25 Basilius, Ad adolescentes, 4, 36–48. Siehe dazu auch oben Anm 562. 26 Florovsky 1952: 14. 27 Ramfos GA 16: 76. 28 Florovsky 1987: 109–113, zitiert nach Payne 2011: 192. 29 Plested 2012: 200. 30 Payne 2011: 192 f., Anm. 183.

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eröffnete dies einerseits eine neue, nationale Perspektive auf die Antike und auf das byzantinische Denken, andererseits auch die Möglichkeit, ihre historischen Positionen auf die als extrem krisenhaft empfundene Gegenwart auszudehnen. In diesem Kontext ist auch Ramfos’ Lektüre der antiken Philosophie zu sehen; sie ist eine Interpretation im Geiste der Kirchenväter, die neben der neuen Sichtweise auch eine Dekolonialisierung des antiken Erbes und eine Wiedergewinnung von verlorenem kulturellem Terrain darstellt. Die griechische Antike, die bis weit ins 20. Jahrhundert hinein als kulturelle Basis des westlichen Europas galt, wurde so zu einem Instrument der Definition des griechischen nationalen Bewusstseins.31

5.3 Die orthodoxe Augustinuslektüre zwischen Theologie und Politik Neben der geschilderten Diskussion um die Theologie des Gregor Palamas um die kulturhistorische Neubewertung der griechischen Kirchenväter kam in der historischen Neuorientierung der orthodoxen Theologen also noch ein weiterer Aspekt ins Spiel, nämlich die Ablehnung der Lehre des Aurelius Augustinus (354–430). Beim Abstecken des geistigen Territoriums des orthodoxen Denkens konnten die Aussagen aller griechischen Kirchenväter der Spätantike als gültige Tradition betrachtet werden; eine besondere Stellung erhielt jedoch das Werk des Augustinus. Auch dieser Kirchenvater, der zwar in lateinischer Sprache schrieb und sich an das weströmische Publikum Nordafrikas und Italiens wandte, galt in der orthodoxen Tradition zunächst als Heiliger; der byzantinische Patriarch Photios (820–891) widmete ihm inmitten einer harschen Auseinandersetzung zwischen Rom und Konstantinopel eine Verteidigung, die ihn in der Reihe der kanonischen Kirchenväter halten sollte; zweifelsohne ein Akt kritischer Rezeption.32 Im 20. Jahrhundert setzten orthodoxe Denker aber gerade in seiner Person und seinem Werk, in mehr oder weniger polemischer Absicht, die Wasserscheide zwischen östlichem und westlichem Christentum an. Die Bezeichnung „geistiger Antipode des Augustinus“,33 die viele orthodoxe Theologen auf Palamas anwendeten, zieht also eine direkte Verbindungslinie zwischen der angeblichen Abweichung des Augustinus mit ihren dramatischen Folgen für den Westen einerseits und andererseits für die Restauration des orthodoxen 31 Die Frage formulierte Yannaras auch in einem Vortrag mit dem Titel Wem gehört die griechische Antike? (Yannaras 2009). 32 Demacopoulos/Papanikolaou 2008: 15. 33 Weber 2012: 196.

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Glaubens im 14. Jahrhundert. Die im Westen und Osten unterschiedlichen Konzepte der Gnade können, so die neoorthodoxen Theologen, mit der Theologie des Bischofs von Hippo ebenso erklärt werden wie die unterschiedliche Auffassung von der Trinität, sowie schließlich auch die unterschiedlichen Menschenbilder, die sich aus diesen kontroversen theologischen Modellen ergeben haben.34 Als einer der ersten orthodoxen Denker beschäftigte sich der russische Theologe Sergei Nikolajewitsch Bulgakow (1871–1944) im Pariser Exil mit der Trinitätsauffassung des Augustinus. Er stellt Augustinus noch auf eine Ebene mit den griechischen Vätern, aber im Laufe der Zeit wurden einige seiner Argumente von anderen orthodoxen Denkern aufgenommen, die den Chor der östlichen Augustinuskritiker bildeten, der bis heute lautstark vernehmbar ist.35 Bulgakow stellte heraus, dass die Dreifaltigkeit bei Augustinus mit der göttlichen Essenz beginnt, während die kappadokischen Kirchenväter die Dreiheit der Personen in den Mittelpunkt stellten. Der Heilige Geist bildet, so Augustinus, das Band der Liebe zwischen den beiden anderen Hypostasen, die somit enger verknüpft sind als die lediglich nebeneinander gestellten Personen der Trinität in der griechischen Tradition.36 Die neopatristische Schule um Georgi Florowski und insbesondere dessen griechische Schüler erweiterten die unterschiedlichen Positionen im Bereich der Trinitätsauffassung in den beiden Kirchen zu einem ideologischen Graben und dehnten die ursprünglich rein dogmatischen Differenzen auf einen breiten, politisch-kulturellen Kontext aus.37 Sie verlegten schließlich sogar die Ursache für die Entwicklung einer säkularen, modernen Gesellschaft zurück auf Augustinus’ Humanismus und auf neuplatonische Einflüsse in seinem Gottesbild. Auch die Lehre des Ausgangs des Geistes aus Vater und Sohn, die später zum sogenannten filioque-Streit zwischen der östlichen und der westlichen Kirche führte, habe Augustinus zum ersten Mal formuliert. In dieser Kontroverse zwischen der westlichen und der östlichen Kirche geht es um eine unterschiedliche Formulierung in der lateinischen Fassung des Glaubensbekenntnisses von NizäaKonstantinopel von 381, in der der Ausgang des Heiligen Geistes aus dem Vater und dem Sohn (filioque) bekräftigt wird. Dieses Dogma gilt neben dem Primat des Papstes bis heute als der wichtigste theologische Streitpunkt zwischen der 34 Dazu das Kapitel I, 3 Die trinitätstheologischen und ekklesiologischen Konsequenzen der verschiedenen Denkweisen in Ost und Westkirchen von Haudel 2006: 67–75. 35 Demacopoulos/Papanikolaou 2008: 22 mit Anm. 47. 36 Ibid.: 21 ff. Zu Person und Hypostase in der neueren orthodoxen Theologie vgl. Wendebourg 1988. 37 Ibid.: 27 ff.

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römischen und der orthodoxen Kirche.38 Mit Augustinus war somit der Urheber für die kulturellen Differenzen zwischen östlicher und westlicher Theologie gefunden; an seinem Gottes- und Menschenbild orientierten sich in der Folge viele theologische Studien, die sich mit der Spaltung der Kirchen und deren Folgen beschäftigten. Nach der sogenannten Kleinasiatischen Katastrophe, die im verlorenen Krieg gegen die Türkei 1922, der völligen Aufreibung der griechischen Armee und in dem daraus resultierenden Bevölkerungsaustausch bestand, der mehrere Millionen Flüchtlinge aus dem türkischen Staatsgebiet nach Griechenland brachte, war die bis dahin vorherrschende Große Idee,39 nämlich der Wunsch Griechenlands, die Position des inzwischen zerfallenen Osmanischen Reiches, mit der Hauptstadt Konstantinopel zu übernehmen, endgültig illusorisch geworden. Dies war freilich nicht die einzige Demütigung, die Griechenland im 20. Jahrhundert hinnehmen musste. Kaum mehr als zwei Jahrzehnte später war das vom zweiten Weltkrieg und dem darauffolgenden Bürgerkrieg gezeichnete und geschwächte Land aufgrund seiner geopolitischen Lage zwischen den zwei Blöcken so gut wie nicht in der Lage, sich politisch und kulturell zu verorten und schien wenig mehr als ein Spielstein auf dem Brett der Großmächte zu sein. Ein streng konservatives, antiliberales politisches System, beengte wirtschaftliche Verhältnisse und das zunehmend schwierige Verhältnis zum Nachbarn Türkei nährten das Gefühl der

38 Zu den historischen, ökumenischen und dogmatischen Perspektiven der Auseinandersetzung siehe Bohnke/Kattan/Oberndorfer 2011. 39 Mit der Gründung des griechischen Nationalstaates 1830 entstand auch der griechische Irredentismus, da ein großer Teil der griechischsprachigen und orthodoxen Bevölkerung weiterhin innerhalb der Grenzen des Osmanischen Reiches verblieben waren. Auch lagen keine der größeren städtischen Zentren auf griechischem Territorium, was den Irredentismus noch beförderte. Die Megali Idea (Große Idee) kam auf als zu verwirklichender Abschluss einer unfertigen Entwicklung, an deren Ende die Ersetzung des Osmanischen Reiches durch ein griechisches stehen sollte. Dies implizierte auch die mission civilisatrice Griechenlands im östlichen Mittelmeerraum und umspannte sämtliche Gebiete des Balkans und Anatoliens, deren christliche Bevölkerung gewillt war, die griechische Kultur anzunehmen, wobei sprachliche Unterschiede zu albanischen, bulgarischen, vlachischen oder türkischen Bevölkerungsteilen zugunsten der religiösen Einordnung in das millet-System in den Hintergrund traten. Diese Vorstellung leitete die Außenpolitik Griechenlands in den folgenden fast hundert Jahren, in denen sich die Ausdehnung des Staatsgebietes vervielfachte, kam aber 1923 mit dem verlorenen Krieg gegen die Türkei und dem durch den Vertrag von Lausanne ratifizierten Bevölkerungsaustausch endgültig zu einem Ende (Zur Megali Idea siehe Clogg 1988).

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Personale Anthropologie im Kontext der neoorthodoxen Diskussion

eigenen Machtlosigkeit und nicht zuletzt den Eindruck, nach den Jahrhunderten der türkischen Fremdherrschaft nun nicht nur der politischen, sondern auch der geistigen Vorherrschaft des Westens unterworfen zu sein. Unter den jungen Theologen und Intellektuellen führte dies zu antiwestlichen Reaktionen, aber auch zu einer scharfen Wendung gegen das theologische establishment in Griechenland, das sie als verlängerten Arm der westlichen Theologie empfanden.40 Den Anfang machte hierbei die zunächst sehr umstrittene Dissertation von John Romanides, die an der theologischen Fakultät der Universität Athen im Jahre 1957 mit dem Titel Τὸ προπατορικὸν ἁμάρτημα [Die Erbsünde] eingereicht wurde.41 Darin versucht Romanides, die traditionelle orthodoxe Lehre zur Erbsünde und anderen Themen gegen die an der Universität vertretene Lehre durchzusetzen. Die problematischsten Punkte hierbei waren die scholastische Definition der göttlichen Essenz als actus purus, die Romanides, im Einklang mit der Lehre des Gregor Palamas, als unvereinbar mit den Kirchenvätern bezeichnet. Die Definition Gottes als Intellekt lehnt Romanides ab, da dies dem Ziel der orthodoxen Theologie, nämlich der Vergöttlichung des Menschen zu seinen Lebzeiten, widerspricht. Zuletzt geht es auch um das Verhältnis von Gott zur Schöpfung; die beiden von den westlichen Kirchen angebotenen Erklärungen, der analogia entis (seitens der katholischen Kirche) und der analogia fidei (seitens der protestantischen Lehre) will Romanides durch die orthodoxe Lehre von der Vergöttlichung, wie sie im Denken des Gregor Palamas verankert ist, ersetzt sehen.42 Dieser Versuch einer Wiederherstellung orthodoxer Glaubenssätze leitete eine bedeutende Wende in der griechischen Theologie ein, die sich nunmehr nicht mehr an der katholischen Scholastik orientiert, sondern ausschließlich an der Tradition der Kirchenväter. Doch der Einfluss von Romanides ging noch weiter. Während bisher theologische Differenzen zwischen den westlichen Kirchen und den Orthodoxen das Zentrum der Auseinandersetzung bildeten, kam mit den späteren Arbeiten von Romanides zur Romiosini-Frage ein weiterer Aspekt hinzu. In ihnen betonte er, nicht selten polemisch, die kulturelle Ost-West Differenz. Anstatt die theologischen Unterschiede zwischen den östlichen und den westlichen Kirchen als historisch gewachsen hinzunehmen, erweitert und vertieft er sie so um eine kulturelle Perspektive. Die „Häresie“ der westlichen Kirchen lässt sich jedoch auf die kulturellen Veränderungen, die aufgrund der lateinischen Hinwendung zum Subjekt, welche letzten Endes auf Neuerungen in der Theologie

40 Demacopoulos/Papanikolaou 2008: 27 f., Plested 2012: 184 ff. und Ramfos GA 16: 56. 41 Demacopoulos/Papanikolaou 2008: 30 ff. 42 Payne 2011: 201.

Die orthodoxe Augustinuslektüre zwischen Theologie und Politik

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des Augustinus zurückgeht, reduzieren. Man kann deshalb, so unterstreichen in einer rezenten Publikation Demacopoulos und Papanikolaou, einen großen Teil von John Romanides’ späterem historischen Werk somit auch sehen als […] postcolonial search for an authentic Orthodox identity in the midst of what he took to be a poisonous western influence in the theological academies of the Christian East. Romanides was, of course, not the only Orthodox writer of the twentieth century to point to Augustine as the cause for most of what went wrong in the West in the middle ages, but it was his work that first articulated and likely informed the sentiments espoused by later authors, including Christos Yannaras (b. 1935) and John Zizioulas (b. 1931).43

In dieser Tradition steht auch Ramfos in der frühen Phase seines Werks, in der er die grundsätzlichen Positionen von Florowski und Romanides übernimmt. Demzufolge stellen sich die Besonderheiten der augustinischen Trinitätslehre wie folgt dar: Im Denken des Augustinus ist Gott eine Natur oder eine Substanz in drei Teilen, wobei die Betonung jedoch auf der Einheit der Substanz liegt, nicht auf einer Triade mit drei Personen. Die Einheit der göttlichen Substanz geht also bei Augustinus der wechselseitigen Beziehung der drei Personen voraus oder anders gesagt: die Linearität der Personen liegt ihrer Relation voraus.44 Grundsätzlich unterscheidet sich die westliche von der östlichen Trinitätsauffassung in der Betonung der einen, gemeinsamen göttlichen Substanz – griechisch οὐσία – im Westen und dem Primat der drei Personen, die aber eng miteinander verbunden sind, im Osten. Mit diesem Verständnis von Augustinus’ Lehre begründet Ramfos mit anderen neoorthodoxen Denkern den theologischen, aber auch den kulturellen Abstand zwischen westeuropäischer und griechischer Kultur. Die Kritik an Augustinus, die neoorthodoxe Theologen wie Yannaras und Romanides äußern, und die auch Ramfos in seinen Zusammenfassungen in den Arbeiten zur Person übernimmt,45 lässt sich, nach Demacopoulos und Papanikolaou, auf die Frage der „Distanz“ zwischen Gott und den Menschen reduzieren: What both see occurring in Augustine is the foundation for a theological method that would ultimately deny theosis, the realism of divine-human communion, and reinforce a distance between the God-world relation in terms of a propositional understanding of theological knowledge, an understanding of grace as “created” and, hence, a legalistic,

43 Demacopoulos/Papanikolaou 2008: 32 f. 44 Ramfos GA 11: 237 und GA 16: 125. 45 Der ausgedehnte Essay ‘Ως ἀστραπὴ τῶν ἐσχάτων, zuerst erschienen 1998 in Chronik einer neuen Zeit, jetzt in der GA 11, ist im Wesentlichen eine erste Darstellung der Problematik, die Ramfos zwei Jahre später in Der Schmerz des Einen ausführlicher ausgearbeitet hat.

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Personale Anthropologie im Kontext der neoorthodoxen Diskussion

Anselmian understanding of salvation. The question must be raised, however, whether Romanides and Yannaras were judging Augustine anachronistically through a hesychast framework. It might also appear that they were injecting neoscholastic-manual understandings of theological epistemology and salvation, albeit in their filtered, imitative Greek form, into Augustine.46

Für Yannaras, und mit Einschränkungen auch für Zizioulas, ist die Beurteilung der augustinischen Theologie und Trinitätslehre kein Selbstzweck. Sie liefert insbesondere Yannaras die Grundlage für dessen Theorie der Person, einer philosophischen Anthropologie mit deutlichen Anleihen bei der orthodoxen Tradition und einer stark antiwestlichen ideologischen Ausrichtung.47 Auch für Zizioulas steht Augustinus’ Trinitätslehre der der Kappadokier diametral entgegen. Er kommt zu dem Schluss, dass aus ihrer orthodoxen Trinitätsauffassung letztendlich eine nichtwestliche, den moderne und postmodernen Bedürfnissen angemessenere, orthodoxe Ontologie herausgelesen werden kann.48 Diese Ontologie wird insbesondere durch die Hervorhebung der Person gegenüber der Substanz charakterisiert; das Sein ist in diesem Zusammenhang stärker mit Begriffen wie Relationalität, Andersheit und Gemeinschaftlichkeit assoziiert,49 was wiederum deutliche Parallelen zur Position von Yannaras erkennen lässt. Die Theologie der sechziger Jahre und Ramfos bewegen also sich im Rahmen einer Tradition, die Augustinus als Repräsentanten der westlichen Trinitätslehre schlechthin versteht und ihn einer „östlichen“ Lehre in der Nachfolge der Kappadokier gegenüberstellt. Nur wenige westkirchliche Theologen schenken dieser Strömung überhaupt Beachtung, und wenn, so in polemischer Sicht. Kany beschreibt diese Ost-West-Dichotomie folgendermaßen: Angeblich gibt es einen grundlegenden Gegensatz zwischen griechischer und lateinischer oder auch zwischen morgen- und abendländischer Trinitätsauffassung. Sehr grob gesagt waren die westeuropäischen und amerikanischen Systematiker in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts überwiegend der Meinung, die westliche, augustinische sei der ostkirchlichen Theologie überlegen, während sich in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts

46 Demacopoulos/Papanikolaou 2008: 34 f. 47 In seiner Dissertation, die er später mit einigen Änderungen mehrfach wieder publiziert hat (zuletzt 1982 unter dem deutschen Titel: Person und Eros. Eine Gegenüberstellung der Ontologie der griechischen Kirchenväter und der Existenzphilosophie des Westens) arbeitet Yannaras seine Theorie der Person aus, dazu ebenfalls unten Kapitel 5.4.4 Ramfos´ Theorie der Person. 48 Zizioulas 2006: 77. 49 Demacopoulos/Papanikolaou 2008: 36.

Die orthodoxe Augustinuslektüre zwischen Theologie und Politik

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die Wertung umkehrte. […] Mit diesem Schema wird in der Regel auch die Ansicht verbunden, dass die „östliche“ Auffassung stärker „ökonomische“, die „westliche“ stärker „immanente“ Trinitätslehre betreibe.50

Dass diese Differenzen in der Auffassung der Personen in der Trinität letztendlich auf Augustinus zurückgingen und dass es sich hier um einen ganz unterschiedlichen Zugang handelt, war lange in der ostkirchlichen und westkirchlichen Theologie gleichermaßen akzeptiert. So weist etwa Michael Schmaus, Autor einer einflussreichen Monographie in der westkirchlichen Theologie zu Augustinus’ Trinitätslehre, diese dem „westlichen“ Typ zu, der von der Einheit Gottes statt von den Personen ausgehe; die „östliche“ hingegen verfahre umgekehrt.51 Diese Position, die in viele Lehrbücher Eingang gefunden hat, wurde erst in jüngerer Zeit kritisch beleuchtet.52 Der Vorwurf, Augustinus’ Interpretation der Trinität gehe vom einen Wesen Gottes aus, hätte damit den ontologischen Vorrang der Einheit des Wesens vor der Verschiedenheit der Personen festgelegt und hätte seitdem Gottes Wesen letztendlich zu einem Objekt der menschlichen Erkenntnis herabgewürdigt, ist nur in der orthodoxen Theologie zu finden, ebenso die Schlussfolgerung, dass diese lateinische Abweichung von der authentischen Trinitätslehre letzten Endes für den Westen große Schwierigkeiten hervorgebracht habe.53 Die unterschiedliche Trinitätslehre in Ost und West und die Auseinandersetzung um das Hervorgehen des Heiligen Geistes nicht allein aus dem Vater, sondern auch aus dem Sohn (die filioque-Kontroverse) habe letzten Endes einen Stein ins Rollen gebracht, der schließlich unvereinbare theologische Kulturen bis hin zum Schisma hervorgerufen habe.54 Während in byzantinischer Zeit Kritik an Augustinus nur hinsichtlich der filioque-Frage geäußert wurde, häufen sich, so betonen Demacopoulos und Papanikolaou, die kritischen Stimmen besonders im slawophilen Kontext im

50 Kany 2007: 324. 51 Schmaus 1927: 12. Vgl. dazu Kany 2007: 137. 52 Roland Kany widmet dieser Diskussion ein Kapitel, „Griechische“ versus „lateinische“ Trinitätsauffassung? in id. 2007: 324–330. 53 „The modern crisis of deism, the increasing difficulty faced by modern theologians in explaining and justifying the being of God as a philosophically definable entity, may prove helpful, not only in solving the medieval controversy between East and West, but also in the revival of a more authentic Trinitarism.“ (Meyendorff 1974: 19). 54 Meyendorff 1974: 182. Das in dieser Hinsicht einflussreichste Kompendium der orthodoxen Theologie ist das dreibändige Standardwerk des Panagiotis N. Trembelas, Dogmatique de l’Église Orthodoxe Catholique, Chevetogne 1966–68. Hierzu auch die Studie von Biedermann 1989.

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Personale Anthropologie im Kontext der neoorthodoxen Diskussion

Russland des frühen neunzehnten Jahrhunderts und dann unter den neoorthodoxen Denkern in Griechenland gegen Ende der fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts: In both situations the anti-Augustine sentiment emerges together with a reaction against what is perceived to be western influences that are incompatible with the intellectual and spiritual tradition in Russia and Greece. The move toward a restoration of a more authentic national, intellectual, and spiritual identity in these Orthodox countries was based on a construction of a particular set of categories, namely “the West” and “the East”, and an understanding of these categories in terms of diametrical opposition. Anything falling on one side of the divide was judged as opposed to the other. Augustine, one could say, simply lived on the wrong side of the tracks. The contemporary Orthodox response to Augustine, coupled with an anachronistic emphasis on the essence/energies distinction as the hermeneutical key for interpreting East/West dichotomy, may have as much to do with Orthodox identity formation vis-à-vis “the West” as it does with genuine theological differences.55

Es ist also zu beobachten, dass die Kontroverse um die Trinitätslehre des Augustinus in der Mitte des 20. Jahrhunderts von orthodoxer Seite her sehr stark in Anspruch genommen wurde, nicht zuletzt um die Theologie des Palamas in Abgrenzung zu Augustinus zu definieren und deren Bedeutung hervorzuheben. Dies trug viel dazu bei, einen anachronistischen theologisch-kulturellen Gegensatz zu konstruieren, der in der Zeit des Kalten Krieges, in den Griechenland aufgrund seiner geopolitischen Grenzlage indirekt verwickelt war, eine große Bedeutung hatte. In Griechenland, das militärisch und politisch schon sehr früh in die Strukturen der NATO eingebunden wurde, regten sich in verschiedenen Teilen der Bevölkerung antiwestliche Ressentiments, die sich auch in der Theologie der sechziger Jahre, die die Entfernung von Europa und die kulturelle Nähe zum orthodoxen Russland betonte, niederschlugen. Auf der Basis dieses theologischen Dissenses entstand in Griechenland eine Debatte um das orthodoxe Menschenbild. Dieses sollte, analog zum unterschiedlichen Gottesverständnis in Ost und West, grundsätzlich verschieden sein vom westlichen Menschenbild, das geprägt ist von Humanismus, Renaissance und Aufklärung. Die orthodoxen Theologen entwarfen also eine Anthropologie der Person (parallel zu Person der Trinität), die im Gegensatz zur Anthropologie des Individuums, dem westlichen, modernen Menschenbild steht. Zum theologischkulturellen Unterschied der unterschiedlichen Trinitätsauffassungen kommt hier aber noch ein weiteres Element hinzu. Es handelt sich um eine Kritik an der 55 Demacopoulos/Papanikolaou 2008: 37 f.

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Moderne, wie sie in der deutschen Philosophie des frühen 20. Jahrhunderts formuliert worden war und die sich ab der Mitte des 20. Jahrhunderts weltweit in unterschiedlichen antimodernen und antiwestlichen Erneuerungsbewegungen niederschlug. Auch die griechische Theologie der sechziger Jahre war dahin gehend ein Kind ihrer Zeit und ist nicht ohne Grund von Papalexandropoulos in den globalen Zusammenhang von (religiösen) Erneuerungsbewegungen gestellt worden.56

5.4  Die Anthropologie der Person 5.4.1  Trinitätslehre und orthodoxes Menschenbild Bei der Darstellung der unterschiedlichen Entwicklung des Bilds vom Menschen im lateinischen Westen und im griechischen Osten57 konzentriert sich Ramfos zunächst auf die Interpretation der Trinität durch Augustinus. Er tut dies vor allem um zu zeigen, wie die unterschiedliche Auffassung der Trinität auch zu einem anderen Menschenverständnis beigetragen hat. Indem nämlich die Personen der orthodoxen Trinität sich voneinander hinsichtlich 56 „Ἀκόμα θὰ πρέπει νὰ δοῦμε, κύριοι συνάδελφοι, ὅτι ὑπάρχουν καὶ ἄλλες δυνάμεις, ἰδεολογίες, θρησκεῖες, στὶς ὁποῖες δὲν εἶναι ἀδιάβροχος κανεὶς καὶ τίποτα, καὶ κατὰ κάποιο τρόπο ἁπλώνουν τὴν ἐπιρροή τους παντοῦ κι ἐμεῖς νομίζουμε ὅτι νά, αὐτὸ εἶναι ὀρθόδοξο, ἐνῶ στὴν πραγματικότητα δὲν εἶναι. Εἶπε ὁ κ. Ἀμπατζίδης, ἂς ποῦμε, ὅτι τὴν ἐποχὴ τοῦ ‘60 ἔχουμε τοὺς χίπις, ἔχουμε τὰ anti-cultural κινήματα, τὰ ἐναντίον τοῦ δυτικοῦ πολιτισμοῦ, καὶ σὲ αὐτὰ συμπεριέλαβε κατὰ κάποιο τρόπο τὴ θεολογία τῆς δεκαετίας τοῦ ‘60, ὡς ἕνα μέρος τῶν νέων αὐτῶν ἀνέμων ποὺ ἔπνεαν […] Ἐγὼ θὰ ἔβλεπα ἀκριβῶς μέσα σὲ μία τέτοια γενικὴ ἔξαρση, αὐτοῦ ποὺ ὀνομάζω πνευματικότητα, διαθρησκειακὴ ἂν θέλετε, τὴν ὀρθόδοξη πνευματικότητα σὰν ἕναν, πῶς νὰ τὸ πῶ, ἀντικατοπτρισμὸ ἢ σὰν ἕνα παράγωγο προϊὸν αὐτοῦ τοῦ γενικοτέρου φαινομένου.“ [„ Außerdem müssen wir auch sehen, verehrte Kollegen, dass es auch andere Kräfte, Ideologien und Religionen gibt, gegen die nichts und niemand unempfänglich ist, und die irgendwie überall ihre Spuren hinterlassen, und wir denken, nun, das ist orthodox, aber in Wirklichkeit ist es das nicht. Herr Ampatzidis sagte beispielsweise, in den sechziger Jahren gibt es die Hippies, es gibt die anti-cultural Bewegungen gegen die westliche Kultur, und unter diese ordnete er auch in gewisser Weise die Theologie der sechziger Jahre ein, als ein Teil der damaligen Strömungen […] Ich würde genau innerhalb einer solchen allgemeinen Aufbruchstimmung, die ich als – transreligiöse, wenn Sie wollen – Spiritualität bezeichne, die orthodoxe Spiritualität als, wie soll ich sagen, eine Spiegelung oder als ein Nebenprodukt dieses allgemeinen Phänomens betrachten.“] (Diskussionsbeitrag von Stelios Papalexandropoulos in Kalaitzidis/Papathanasiou/Ampatzidis 2009: 101 f. 57 Zum Thema die Monographie von Gnau 2015.

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[…] hypostatischer Eigenschaften unterschieden, das heißt, die Ungezeugtheit des Vaters, das Gezeugt-Sein des Sohnes und das Ausgesandt-Sein des Geistes, stellen sie unterschiedliche Seinsweisen Gottes und nicht Kategorien des inneren Lebens der Gottheit als psychologische Größen dar.58

Diese Auslegung bei Augustinus hat nach Ramfos dagegen zu einer „Subjektivierung Gottes mit der Objektivierung der Schöpfung“59, sowie zu einem anthropomorphen Gottesbild geführt, während die Sichtweise der kappadokischen Kirchenväter im Gegensatz dazu in einem theomorphen Menschenbild kulminierte.60 Im Westen habe also eine Verschiebung der Perspektive hin zu einem „psychologischen“ Gottesverständnis stattgefunden, wie es schon in Augustinus’ Wunsch deum et animam scire cupio61 deutlich wurde. Dies habe zu einer Beschäftigung mit dem „Seelenleben“ Gottes aus menschlicher Sicht geführt.62 In letzter Konsequenz hat Augustinus damit nach Ramfos die Basis für die revolutionäre kulturelle Umwälzung der Renaissance gelegt, für ihre Hinwendung zur Gewissensprüfung und zur Introspektion sowie zum Menschen als Subjekt, der sich existenziell als von der Welt getrennt wahrnimmt.63 Ramfos behält also die neoorthodox geprägte Teilung in eine lateinisch beeinflusste (west-)europäische und eine orthodoxe Sphäre grundsätzlich bei. Dies bedeutet, dass er auch die Annahme der zwei angeblich unterschiedlichen vorherrschenden Menschenbilder übernimmt. Besonders in der späteren Phase seines Denkens bewegt ihn die Frage nach dem Zusammenhang dieser philosophischtheologischen Diskussion mit dem Stand der Individualisierung in Griechenland, mit Griechenlands Verhältnis zu Europa sowie seinem Platz in einer globalisierten Welt. Für die Orthodoxie ist dies deshalb problematisch, weil die Werte, für die die westliche Welt steht, nämlich Humanismus, Renaissance und schließlich die Aufklärung, nicht nur erst nach dem Schisma von 1045 entstanden sind, sondern insbesondere, weil sie auf eben den Voraussetzungen beruhen, die zu diesem Schisma geführt haben. Zu akzeptieren, dass die heutige globale Kultur sich immer mehr nach diesen Prinzipien richtet, ist für die orthodoxe Kirche schmerz58 Ramfos GA 11: 241 f. 59 „… ἦταν ἀρκετὸ γιὰ νὰ κατανοηθῇ στὴν Δύσι ὁ Θεὸς ὡς ὑποκείμενο, μὲ ἀντικείμενο τὴν δημιουργημένη ἀπὸ τὸν ἴδιο κτίσι.“ (Ibid.: 242). 60 Ibid.: 237. 61 Augustinus, Soliloquia I 2, 7. 62 Zur Struktur des menschlichen Geistes nach Augustinus, der Selbstreflexion und der Erkenntnis Gottes in De Trinitate siehe Brachtendorf 2000. 63 Ramfos GA 11: 237 f.

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haft; nichtsdestotrotz ist nach Auffassung von Ramfos eine Anpassung an die neueren Entwicklungen unbedingt notwendig.64 Eine weitere Frage ist die nach den Konsequenzen der unterschiedlichen Menschenbilder in Ost und West. Sie beschäftigte Ramfos bereits relativ früh. Er untersuchte zunächst verschiedene Formen der Individualisierung anhand der Analyse von unterschiedlichen Arten der Liebesbeziehung. Sein Interesse galt der (erotischen) Liebe in Romanen oder in Biographien, aber auch der den Menschen verwandelnden Liebe zu Gott, wie sie etwa in den Hymnen des Symeon des Theologen thematisiert wird.

5.4.2  „Individualistische“ vs. „metaphysische“ Liebe in Ost und West Unterscheidet sich nach Ramfos’ die lateinisch-westliche Kultur von der orthodoxen im Menschenbild, namentlich in der Opposition von Individuum und Person, so erscheint ebendiese Unterscheidung auch im wichtigsten Motor des menschlichen Handelns, der Liebe. Diese manifestiert sich in Form des philosophischen Eros in Platons Symposion, wo sie aufgrund der mangelhaften Natur des Menschen dessen Sehnsucht nach dem Einen, Schönen und Guten erfüllt und seinen Aufstieg zum Göttlichen motiviert. Die Agape des Paulus scheint nach Anders Nygren65 eine neue Sphäre der Liebe im christlichen Kontext zu eröffnen, die nicht die Aufwärtsbewegung des Menschen antreibt, sondern in Form der Gnade die Liebe Gottes zu seinen Geschöpfen darstellt. Hier trifft die anthropozentrisch gedachte Vervollkommnung des antiken Menschen auf eine altruistische Auffassung von Liebe, die genuin christlichen Ursprungs sein soll. Die Liebe Gottes zum sündigen Menschen (Agape) ist voraussetzungslos, während das Streben nach Gottähnlichkeit (Eros) geradezu überhebliche Züge trägt. Diese scheinbar gegensätzlichen Sphären sind in der frühen christlichen Apologetik noch streng voneinander getrennt; bald aber vermischen sie sich jedoch wieder und bei Athanasios wird der Aufstieg des Menschen durch die Menschwerdung Gottes wieder möglich. Nach Gregor von Nyssa besteht […] die Ähnlichkeit von Gott und Mensch „nach seinem Bilde“ und in der Wahlfreiheit zwischen Tod und Unsterblichkeit, die daraus resultiert. Er setzt Eros und Agape gleich; letztere gibt nicht nur, sondern sie ersehnt auch. Anstatt das Verlangen auszumerzen, wird es hier geheiligt.66

64 Ramfos GA 16: 17. 65 Ramfos GA 7: 127–138. 66 „[…] ὁ Γρηγόριος Νύσσης θεωρεῖ θεμέλιο τῆς κοινωνίας Θεοῦ καὶ ἀνθρώπου τὴν μεταξύ τους συγγένεια οὐσίας, βάσει τοῦ κατ’ εἰκόνα καὶ τῆς ἐλευθέρας ἐπιλογῆς

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Während für Ramfos Antike und griechisch geprägtes Christentum eine deutliche Kontinuität aufweisen, entwickle sich der Westen auch in der Liebesauffassung wiederum anders.67 In dieser Hinsicht folgt Ramfos im Wesentlichen dem inspirierten, wissenschaftlich aber nicht unumstrittenen, einflussreichen Werk von Denis de Rougemont, L’ Amour et l’Occident von 1939. Die ritterliche Liebe in der westlichen mittelalterlichen Literatur zu einer gesellschaftlich unerreichbaren, da verheirateten Frau in der Poesie der Troubadours und besonders im altfranzösischen Roman de Tristan, der in der Versfassung von Beroul68 vor allem um die Schwerpunkte Verwundung und Heilung durch Liebe kreist, findet hier außerhalb des gesellschaftlich akzeptierten Rahmens der Ehe statt, was von de Rougemont keineswegs moralisch sanktioniert wird. Ramfos vergleicht diese altprovenzalischen und altfranzösischen Dichtungen mit den zwar von westlichen Vorbildern abhängigen,69 aber den heimischen gesellschaftlichen Verhältnissen angepassten byzantinischen Ritterromanen, deren Liebespaare letztendlich immer ihr Eheglück finden, und leitet daraus ab, dass im orthodoxen Kontext die Liebe nicht auf die Erfüllung egoistischer Wünsche zielt, sondern nur im gesellschaftlich akzeptierten Rahmen der Übernahme von wechselseitiger Verantwortung und der Gründung einer Familie stattfindet. Die wichtigste These de Rougemonts besteht in der von ihm postulierten Parallele zwischen der geistigen Welt der Troubadours in der Provence des 12. Jahrhunderts, die die unerfüllte Liebe preisen und die begehrte Herrin („dompna“) aus der Ferne („amor de lonh“) idealisieren und der radikalen religiösen Bewegung der Katharer, die vor allem in Südfrankreich, aber auch in ganz Europa, vom Schwarzen Meer bis zu den Pyrenäen vom 12. bis 14. Jahrhundert erheblichen Zulauf hatte. Unter der Bezeichnung Bogumilen oder Paulikianer soll sich diese Strömung vom Iran und Kleinasien über den Balkan nach Westen verbreitet haben, wo ihre Anhänger unter der Bezeichnung Patarener, Albigenser oder Katharer als Häretiker verfolgt wurden. Diese propagierten ein dualistisches Weltbild, einen Widerstreit zwischen einem guten Gott und einer bösen Schöpfung, die in der θανάτου-ἀθανασίας ποὺ αὐτὸ συνεπάγεται, ταυτίζει δὲ τὸν ἔρωτα μὲ τὴν ἀγάπη, ἡ ὁποία δὲν δίνει μόνο ἀλλὰ καὶ ἐπιθυμεῖ. Ἀντὶ ὁ πόθος νὰ ἐξοβελισθῇ, ἐδῶ ἐξαγιάζεται.“ (Ibid.: 131). 67 Hierzu das Kapitel Ὁ ἔρως καὶ ἡ Δύσις [Der Eros und der Westen], ibid.: 126–138. 68 Moderne Ausgaben des Textes: Tristan et Iseut. Les poèmes français. La saga norroise, Walter/Lacroix 1989 und Tristan et Iseut. Les premières versions européennes, Marchello-Nizia 1995. 69 Spezialliteratur zum byzantinischen Ritterroman mit Werkanalysen in Beck 1971: 129 ff.

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Form der Gnosis und des Manichäismus schon früh in Konkurrenz zum Christentum gestanden hatte. Für ihre strenge Askese und absolute Verachtung des Irdischen wurden sie dennoch vielerorts bewundert, was nach de Rougemont auch den Einfluss dieser Aspekte auf die Ausformung der „keuschen Liebe“ und ihre enorme Wirkungskraft auf die westeuropäische Literatur erkläre. Diese griffige These vom Zusammenhang der Troubadourlyrik mit der theologischen Position der Katharer und mit ihnen verwandter Sekten wurde auch von anderen Autoren wieder aufgegriffen, ist aber kaum schlüssig nachzuweisen.70 Ramfos betont seinerseits, dass die als individualistisch gedachte Liebe des literarischen Paares Tristan und Isolde und des realen Paars Abelard und Heloise, anders als bei den Paaren in den spätantiken und byzantinischen Romanen, um ihrer selbst willen erlebt und vor allem erlitten wird. Doch geht die Todessehnsucht dieser Form von Liebe, die nicht in körperlicher Erfüllung und sozialer Anerkennung in Form von Heirat aufgehoben sein will, sondern das Leben verneint und im Liebestod gipfelt, nach Ramfos auf eine falsche Interpretation Platons zurück. Die „platonische Liebe“ (also eine Liebe, die auf körperliche Vereinigung verzichtet) ist also eigentlich ein Streben nach Vergöttlichung, das eine Energie in die Welt bringt, welche den Menschen unwiederbringlich in das Jenseits trägt. Es ist die „absolute Suche nach dem Licht, der Reinheit und Vereinigung in der pathologischen Transzendenz des Hier und Jetzt“,71 wie sich Ramfos sehr kryptisch ausdrückt, das die Individuen verglühen lässt, anstatt ihre Energie schöpferisch zu nutzen. Diese Form der Liebe, die Ramfos als πάθος [Leidenschaft] versteht, ist die letzte Konsequenz einer extremen Individualisierung und einer Übersteigerung der Ziele des Ich, das auf Erfüllung individueller Lust aus ist, nicht aber auf eine familiäre Bindung mit Zukunft. Im Gegensatz dazu haben nach Ramfos sowohl Platon in seinem Symposion als auch Symeon der Neue Theologe in seinen Hymnen eine griechische, orthodoxe Form der idealen Liebe formuliert, nämlich die alles transformierende Liebe des Menschen zu Gott, eine „metaphysische Sehnsucht“,72 eine „Liebe der Vereinigung, nicht der Leidenschaft“.73 In der festen Bindung zweier Menschen manifestiert sich, wie in der Hochzeit zwischen Christus und der Kirche, die Liebe im Sinne einer göttlichen Teilhabe, welche das Sterbliche in das Unsterbliche verwandelt und das Körperliche in das Geistige. 70 Kienzle 2001: 49 und der Verweis auf de Rougemont in Anm. 101. 71 „Πρόκειται γιὰ ἀπόλυτο αἴτημα φωτός, καθαρότητος κι ἑνότητος στὴν παθιασμένη ὑπέρβασι τοῦ ἐδῶ καὶ τώρα.“ (Ramfos GA 7: 142). 72 „[…] ἀκραία μεταφυσικὴ δίψα“ (Ramfos GA 7: 250). 73 „[…] ἔρως ἑνώσεως καὶ ὄχι πάθος.“ (Ramfos GA 7: 252).

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Daher gebe es in der griechischen Tradition kein Vorbild für die leidenschaftliche Liebe nach europäischem Modell, in dem sich der Mensch ausschließlich dem sinnlichen Genuss hingebe. Für Ramfos war der Mensch der Antike fest mit der Natur und der Gesellschaft verbunden. Seine Selbstbestätigung erhielt er aus dem Grad, in dem er mit dieser natürlichen und gesellschaftlichen Ordnung übereinstimmte. Ebenso bietet die christliche Tradition Identifikationsmodelle innerhalb der gesellschaftlichen Ordnung und nicht außerhalb dieser. Nur die westliche, moderne und individualistische Kultur bringt in ihrer Verherrlichung des Individuums und in dem Drang nach unmittelbarer Stillung der Begierden den sozialen Zusammenhalt in Gefahr.74 Die oben zitierten Überlegungen spiegelten noch die neoorthodox beeinflusste und tendenziell antiwestliche Deutung des Kulturgegensatzes wider. Ramfos zeigte sehr deutlich, dass er die orthodoxe Kultur als die ursprüngliche, „gesündere“ und dem Menschen angemessenere Lebensform darstellen will. Dies ändert sich radikal in seiner zweiten Untersuchung zur Individualisierung, Der Schmerz des Einen. Nun wird die Hinwendung zur westlichen Kultur durch die Individualisierung als einziger Weg aus der griechischen „Krise“ dargestellt.

5.4.3  Die neoorthodoxe Debatte um die Person Die Grundlage für Ramfos’ Versuch einer neuen Verortung Griechenlands in Der Schmerz des Einen ist die kritische Analyse des neoorthodoxen Verständnisses der Person (πρόσωπον). Mit dieser Studie schaltet sich Ramfos in die seit den späten siebziger Jahren in Griechenland sehr kontrovers diskutierte Personalismusdebatte ein, der er nun seinen eigenen Stempel aufdrücken möchte. Zentrum der orthodoxen Anthropologie ist der Begriff der Person als Alternative zum westlichen Individuum. Ursprünglich stammt der Begriff der Person aus dem antiken Theater, wo er die Maske des Schauspielers bezeichnete. Das griechische Wort πρόσωπον war ein Gegenstand, der vor (πρός) das Gesicht (ὤψ) gehalten wurde; im lateinischen wurde analog dazu daraus persona gebildet; der Begriff bezeichnete die Maske des Schauspielers und die Rolle in einem Drama; das Wort selbst ist möglicherweise eine Entlehnung aus dem Etruskischen.75

74 Ramfos GA 7: 255. 75 Brasser 2008: 57 ff.

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Persona wurde zu einer grammatikalischen und auch juristischen Kategorie und erhielt schließlich in der stoischen Philosophie die Bedeutung des Bewusstseins.76 Im christlichen Kontext fand der Begriff der Person bei den unterschiedlichen Erklärungen der Trinität schließlich Eingang in die griechische und lateinische Theologie. In der Trinitätslehre des Augustinus und im Weiteren bei Boethius lässt sich die lateinische Interpretation des Begriffs ablesen, die sich bereits deutlich von der griechischen Sicht bei den kappadokischen Kirchenvätern unterscheidet.77 Letztere hat sich im Laufe der Geschichte kaum verändert; erst in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts haben in Griechenland die theologischen Neuerungen der russischen Religionsphilosophen zum Begriff der Person über Frankreich Verbreitung gefunden.78 Im Westen hat sich die Personalismusdebatte freilich viel weiter entwickelt; insbesondere kann die Vorstellung, die Kategorie der Person sei allein auf die christliche Theologie zurückzuführen, als überholt gelten.79 Die neoorthodoxe Herleitung des Begriffs πρόσωπον ist freilich eine andere. Hier ist das πρόσωπον das, was man sieht. Das, was das Gesicht verdeckt, ist das προσωπεῖον, die Maske.80 Mit dieser Neuinterpretation des Begriffs geben neoorthodoxe Denker die Richtung vor, in die sich die griechische Debatte entwickeln sollte. An dieser Stelle setzen Ramfos’ Überlegungen zur griechischen Bedeutung des Begriffs in Der Schmerz des Einen ein. Er zitiert vier wichtige Diskussionsbeiträge; es handelt sich um die Studie Person und Eros von Christos Yannaras sowie die Artikel Ἀπὸ τὸ προσωπεῖον εἰς τὸ πρόσωπον [Von der Maske zur Person] von John Zizioulas,81 Ὀντολογία ἢ Θεολογία τοῦ προσώπου; [Ontologie oder Theologie der Person?] von Ioannis Panagopoulos82 und Μποροῦν τὰ πρόσωπα τῆς Τριάδας νὰ δώσουν τὴ βάση γιὰ περσοναλιστικὲς ἀπόψεις περὶ τοῦ ἀνθρώπου; [Können die Personen der Trinität die Grundlage für personalistische Ansichten hinsichtlich des Menschen bilden?] von Savvas Agouridis.83 Anhand dieser vier Beiträge fasst Ramfos die zeitgenössische griechische Diskussion um die Person aus philosophischer und theologischer Sicht zusammen, um schließlich seinen eigenen Beitrag 76 77 78 79

Zur Begriffsgeschichte der Person und der Identität siehe Teichert 1999: 93 ff. Teichert 1999: 102–116. Ramfos GA 16: 14. Siehe dazu den Sammelband über die philosophische, anthropologische und historische Kategorie der Person von Carrithers/Collins/Lukes (1985). 80 Zizioulas 1983. 81 Ibid. 82 Panagopoulos 1985. 83 Agouridis 1990.

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hinzuzufügen, der zur Zeit des Erscheinens und bis heute in der theologischen Diskussion wenig Beachtung fand. Die Grundlage für den Begriff und die Geschichte des Begriffs „Person“ in Griechenland legte Christos Yannaras, der die Grundlinien der Existenzphilosophie Martin Heideggers aufnahm und aus den Lehren der griechischen Kirchenväter eine Antwort auf die philosophische Krise des Westens formulierte. Seiner Ansicht nach ist eine gemeinsame Voraussetzung von östlichem Christentum und Heideggers Ontologie die Ablehnung der Vorstellung, dass die Wahrheit des Seins sich im Zusammentreffen von Subjekt und Objekt erschöpft.84 Yannaras gab der Ontologie Heideggers eine theologische Wendung und erforschte unter dieser Voraussetzung den orthodoxen Begriff der Person.85 In Yannaras’ Werk verbinden sich auch Gedanken der französischen Philosophie und der Orthodoxie aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts; vor allem spiegeln sich hier die Ideen des Personalismus eines Emmanuel Mounier (1905–1950),86 orthodoxer Denker wie Nikolai Berdjaew (1874–1948) und Losski, sowie jüdischer Philosophen wie Martin Buber (1878–1965) und Emmanuel Lévinas (1906–1995). Sie alle eint der Versuch, dem individualistischen Menschenbild der radikalen, atheistischen Aufklärung wie auch des Idealismus ein christlich fundiertes Menschenbild entgegenzusetzen. Mouniers Personalismus war auch die Basis einer alternativen politischen Bewegung in Frankreich, die einen „dritten Weg“ jenseits von Kapitalismus und Kommunismus zu etablieren und die ethische Dimension in die Politik einzubringen versuchte.87 Eine Antwort auf den westlichen Individualismus ist für Yannaras das orthodoxe Verständnis des menschlichen Bewusstseins als „relationaler Beziehung […] als Bewusstsein (συνείδησις) der Person. Die Funktion des Bewusstseins ist auf jeden Fall relational.“88 Das mittelalterliche griechische Denken bietet nach Yannaras zwei Denkkategorien, einmal die Person als relationale Individualität des Menschen in Beziehung zu anderen Personen und zweitens die Liebe (Eros), als die Seinsweise der Person. Die Person transzendiert ihr individuelles Dasein durch die ekstatische Überwindung des egoistischen Selbst und hat in der Liebesbeziehung Zugang zum Sein.

84 85 86 87 88

Zum Personenbegriff des Yannaras vgl. die Studie von Gnau 2015: 145–193. Ramfos GA 16: 30 f. Mounier 1949. Zur Entwicklung des Personalismus und seiner Geschichte siehe Bengtsson 2006. Yannaras 1982, 17. Dies gilt für den orthodoxen Personenbegriff allgemein: Gnau 2015: 262.

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Der Übergang von der Ontologie zur Ethik bei Yannaras ist fließend. Die Wahrheit ist nämlich nur in der Relation zu den anderen Personen zu verstehen und nicht in der Übereinstimmung von Subjekt und Objekt.89 Die menschliche Person unterscheidet sich vom physischen Menschen bzw. dem Individuum wie die göttliche Hypostase von der Essenz (οὐσία). Die Analogie von menschlicher und göttlicher Person führt wieder zurück zum Trinitätsverständnis der Kirchenväter, das drei göttliche Personen (Hypostasen) mit einer gemeinsamen Substanz oder Natur definiert. Der Westen hat die göttliche Substanz betont, während der Osten die Liebesbeziehung der Personen der Trinität in den Vordergrund rückte, wobei die Wahrheit mit der gemeinschaftlichen Erfahrung (κοινωνία) und nicht mit der objektiven Erkenntnis gleichgesetzt wurde.90 Yannaras kontrastiert seinen eigenen und den westlichen Begriff der „Person“ wie folgt: Die Unterscheidung zwischen der Apophatik der Person und der Apophatik des Wesens erschöpft sich nicht in einem theoretischen Unterschied, sondern vertritt und begründet zwei diametral entgegengesetzte geistige Haltungen, zwei Lebensweisen, schließlich auch zwei verschiedene Kulturen. Auf der einen Seite gründet sich das Leben auf die Wahrheit als Beziehung und existenziale Erfahrung; die Wahrheit wird als Leben verwirklicht und das Leben als Wahrheit gerechtfertigt. Auf der anderen Seite wird die Wahrheit verstandesmäßigen Definitionen gleichgestellt, sie wird objektiviert, der Nützlichkeit unterworfen; und Wahrheit als Nützlichkeit objektiviert das Leben selbst, setzt es um in technische Hysterie, in Qual und Entfremdung des Menschen.91

Der antiwestliche Impetus92 von Yannaras Schriften ist hier deutlich vernehmbar. Im Vorwort zur englischen Übersetzung seines Buchs relativiert er jedoch diese feindliche Haltung: The critique of Western theology and tradition which I offer in this book does not contrast “Western” with something “right” which as an Orthodox I use to oppose something “wrong” outside myself. I am not attacking an external Western adversary […] I am a Western person searching for answers to the problems tormenting Western people today.93

Die personale Andersheit wird in ihrer ekstatischen Relation begriffen, in ihrer Beziehung zu den anderen Personen.94 Jede Person existiert also in ihrer Anders89 90 91 92 93

Ramfos GA 16: 31 f. Ibid.: 32 und Yannaras 1982: 29 ff. Yannaras 1982: 31. Makrides/Uffelmann 2003: 114. Yannaras 2006: xiii–ix. Zitiert nach Louth 2009: 332. Auch Ramfos spricht von „uns“, wenn er die „Menschen der westlichen Kultur“ meint, etwa in GA 8: 57. 94 Yannaras 1982: 32.

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heit, überwindet sich ständig selbst, um die natürlichen Grenzen ihrer Individualität zu sprengen, innerhalb derer sie nur im Abstand (apostatisch) statt ekstatisch sein kann, was gleichbedeutend ist mit der Leugnung der Beziehung.95 Ramfos stellt dazu fest, dass Yannaras hier eine asketische Atmosphäre in philosophische Begriffe fasst, wenn die Ganzheit des Menschen einerseits in der ekstatischen Andersheit und andererseits in der Überschreitung seiner Grenzen in der Beziehung zu den anderen Personen gesehen wird.96 Nach Yannaras, wie im Allgemeinen auch andere orthodoxe Denker, ist „Person“ die menschliche Wesenheit nach der biblischen Vorstellung des Ebenbilds des dreieinigen Gottes κατ᾽εἰκόνα καὶ καθ᾽ὁμοίωσιν (Gen 1,26).97 Es geht hier also nicht um das natürliche Individuum im Sinne einer Verbindung von Leib und Seele, sondern um unsere besondere geistige Seinsweise. Während der Leib den ganzen Menschen in seiner physischen Bestimmung umfasst und die Seele diesen in der geistigen Wirklichkeit umgreift, bleibt die Verbindung der beiden Sphären zur Person dennoch ein Geheimnis. Die Einheit der Person transzendiert das Leib-Seele-Individuum und definiert sich in ihrer Relationalität, mithin in ihrer Beziehung zu den anderen. Das Individuum ist der Mensch als beseelter Leib, seine ekstatische Energie charakterisiert ihn aber als Person, deren Wesenskern zwar unerkannt bleiben muss, die sich aber in ihrer Handlung (ἐνέργεια) manifestiert. Das gilt in erster Linie auch für die göttlichen Personen: Als Gnade bezeichnen wir das Ereignis, dass Gott sich in erotischer ekstatischer Hingabe schenkt: unerkennbar und unzugänglich seinem Wesen nach – „weil er über allem ist und herausgenommen von allem“ – offenbart er sich als liebende Hingabe gegenüber jeder menschlichen Person.98

Yannaras verknüpft in seiner Theorie der Person Ansätze aus der Existenzphilosophie Heideggers mit der orthodoxen Tradition und nimmt Gedanken von Losski aus dessen postumem Werk À l’image et à la ressemblance de Dieu auf.99 Insbesondere die Unterscheidung von Natur und Energie der (menschlichen wie göttlichen) Person weisen in diese Richtung. Mit seiner orthodoxen Antwort auf Fragen der westlichen Existenzphilosophie hat Yannaras, der sich eigentlich als Philosoph versteht, stark auf die Entwicklung der griechischen Theologie eingewirkt. Wie

95 96 97 98 99

Ramfos GA 16: 32 f. Ibid.: 33. Gnau 2015: 261. Yannaras 1982: 73. Hervorhebung vom Autor. Ramfos GA 16: 34 f. Zur Bedeutung von Losski für die neoorthodoxe Bewegung vgl. Petrà 2005: 148 und Plested 2012: 204.

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wir sehen werden, stammen alle weiteren Behandlungen des Themas der Person ebenfalls aus der Theologie, wo die Debatte um den Personalismus, mit Ausnahme von Ramfos’ Werk, bis heute verortet wird. Der zweite von Ramfos behandelte Vertreter des orthodoxen Personalismus in Griechenland ist Ioannis (John) Zizioulas, der in seinem Werk eine Synthese orthodoxer und westlicher Theologie anstrebt. Während Yannaras vorwiegend ontologisch argumentiert, geht Zizioulas in seiner Analyse historisch vor. In seinem oben genannten Beitrag mit dem Titel Von der Maske zur Person legt er die theologische und die historische Entwicklung des Personenbegriffs im orthodoxen Denken dar. Die Antike, so argumentiert Zizioulas, hat keine Person gekannt, und ebenso wenig persönliche Freiheit. Diese entdeckten erst das Christentum und führten den Menschen aus der essentiellen Individualität hin zu einer Individualität der Transzendenz und der Differenz.100 Der Mensch kann sich nicht durch seine physische Selbstbestimmtheit retten, sondern nur durch die göttliche Gnade und die Teilhabe an Gott. Demzufolge hat der Personenbegriff in der westlichen Kultur keinen Platz, da der Mensch im westlichen Humanismus seine Voraussetzung aus sich selbst zieht. Nur die (orthodoxe) Theologie kann von einer wahren „Person“ sprechen, die als absolute ontologische Freiheit ungeschaffen und völlig unabhängig sein muss. Die Annahme von Zizioulas, es habe in der Antike keinen Begriff einer selbst bestimmten Person gegeben, stellt Ramfos infrage und argumentiert mit viel philosophiegeschichtlichem und auch kunsthistorischem Material gegen diese eindimensionale Beurteilung des antiken Menschenbildes.101 Schließlich wendet er sich auch gegen Zizioulas’ Versuch, die „Philosophie durch die Theologie“ zu begründen.102 Kommen wir zum dritten Text: Während Yannaras und Zizioulas die Hypostasen der Trinität als Basis für ihre Theorie der Person wählten, setzt sich Joannis Panagopoulos in Ontologie oder Theologie der Person einen anderen Ausgangspunkt. Er kritisiert das Ausblenden der göttlichen Substanz in der zeitgenössischen Diskussion um die Person und die Konzentration auf die Trinität und ihre Hypostasen. Eine orthodoxe Anthropologie könne nicht von der göttlichen Trias ausgehen; ihre Grundlagen seien vielmehr in den christologischen Auseinandersetzungen des 6. Jahrhunderts zu suchen. Nicht von der Frage um die

100 Ramfos GA 16: 37 f. 101 Ibid.: 70–108. 102 Ibid.: 70–76.

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Ungeschaffenheit der Personen der Trinität, sondern vom Zusammentreffen von menschlicher und göttlicher Natur in der Person Jesu Christi innerhalb der göttlichen Ökonomie muss die Untersuchung der menschlichen Person ausgehen.103 In der Person Christi verbinde sich das Ungeschaffene mit der Schöpfung und die menschliche Natur fließt mit der göttlichen zu einer unauflöslichen Einheit zusammen. Der gläubige Mensch vereint individuell in sich die gottmenschliche Einheit in Christus und kann so, nach seinem Bilde, zur wahren Person werden. Die gesamte Dimension der Person beginnt und erschöpft sich in Christus; die Beziehung ist dieser Person nachgeordnet und geht ihr nicht voraus. Insgesamt, so unterstreicht Panagopoulos, braucht die Theologie keinen Begriff der Person, sondern sie verweist auf den neuen Menschen in Christus, dessen Gottesebenbildlichkeit den Kern seiner Persönlichkeit darstellt. Dem hält Ramfos entgegen, dass diese Gottesebenbildlichkeit zwar von den meisten Theologen als Basis für die menschliche Person herangezogen wird. Dies stelle aber einen schlichten Anachronismus darstellt. Sinn habe diese Gleichsetzung zwar im byzantinischen Mittelalter gehabt, sie sei aber in einem modernen Kontext nicht ausreichend, um das Problem des zeitgenössischen Menschen zu lösen.104 Der letzte Text, den Ramfos in Der Schmerz des Einen diskutiert, ist Können die Personen der Trinität die Grundlage für personalistische Ansichten hinsichtlich des Menschen bilden? von Savvas Agouridis. Dieser wirft Yannaras wie Zizioulas vor, offen oder verdeckt Paradigmen der westlichen Philosophie in die orthodoxe Theologie einführen zu wollen und leugnet, dass deren „existenzia-listische“ Auffassung von der „Person“ ein korrektes Verständnis des Dogmas der Trinität darstellt. Richtig sei hingegen ein soteriologischer Zugang, der „den apophatischen Charakter des göttlichen Mysteriums“ wahrt.105 Insgesamt hält Agouridis den historischen Zugang sowohl von Yannaras als auch von Zizioulas für rückwärtsgewandt und ungeeignet, auf heutige Probleme zu antworten; eine solche antiwestliche Propaganda diene nur schlecht als Kompensation der theologischen Unzulänglichkeiten in seiner Argumentation.106 Ramfos sieht in diesem schnell und in polemischer Absicht verfassten Beitrag von Agouridis dennoch ein wichtiges Korrektiv aus einer anderen orthodoxen Position heraus, stellt jedoch auch klar, dass der Rückgriff auf 103 Ramfos GA 16: 42 f. Weitere Diskussionen der Personalismusdebatte in Spiteris 1992: 409–411, zitiert nach Russell 2006. 104 Ramfos GA 16: 109 f. 105 Ramfos GA 16: 49. 106 Ramfos GA 16: 51.

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die patristische Theologie nicht zwangsläufig eine antiwestliche Haltung implizieren muss. So argumentiere der Theologe und Titularbischof von Diokleia, Kallistos Ware, in seinen Werken zum patristischen Personalismus107 keineswegs nur antiwestlich.108 Dies gilt, um dies gleich vorwegzunehmen, auch für Ramfos’ eigene orthodox fundierte Theorie der Person, der wir uns nun zuwenden wollen.

5.4.4  Ramfos’ Theorie der Person Nachdem Ramfos den Stand der orthodoxen theologischen Diskussion um die Person anhand dieser vier wichtigen Stimmen zusammengefasst und deren Stärken und Schwächen analysiert hat, kommt er nach einem kurzen Überblick über die Geschichte des Begriffs der Person im lateinischen und im orthodoxen Mittelalter und einem ausführlicheren zweiten Teil über die griechischen Individualisierungsansätze mit dem Titel Ἡ ἄπρακτη ἐξατoμίκευση [Die träge Individualisierung]109 schließlich zu seinem eigenen Konzept einer Anthropologie der Person. Ramfos führt hier die Problematik des Personalismus zum ersten Mal nach Christos Yannaras wieder aus dem Bereich der Theologie heraus und hin zu einer philosophischen Analyse. Dieser disziplinäre Abstand zu den übrigen Autoren der Personalismusdebatte führte allerdings dazu, dass Ramfos’ Beitrag zur Diskussion oft pauschal zurückgewiesen wurde.110 Seine Position außerhalb der dominierenden akademischen Zirkel machte es ihm schwer, in der nach wie vor fast ausschließlich unter Theologen geführten Diskussion Fuß zu fassen. Ihnen waren seine „platonisierenden“ Argumente von vornherein nicht „orthodox“ genug.111

107 Ware 1987. 108 Ramfos GA 16: 120. 109 Ibid.: 169–325. 110 Etwa von Christos Yannaras in seiner Antwort auf das Buch Der Schmerz des Einen (genaugenommen auf Ramfos’ Kritik von Yannaras Position in Person und Eros) in Loudovikos 2001. Die Kritik des Loudovikos ist ein recht ungeordnetes Bündel von ideologischen Vorbehalten gegen Ramfos’ angeblichen Marxismus und Idealismus, seine Vorliebe für antike Philosophie und dem Vorwurf der oberflächlichen Kenntnis der orthodoxen Tradition seitens des „Autodidakten“ Ramfos (gemeint ist wohl die Tatsache, dass dieser nicht Theologie studiert hat). Die inhaltlich wenig aussagekräftige Abhandlung beklagt u.a. den Verfall der griechischen Gesellschaft, seit sich dort eine gewisse, von Ramfos allerdings mehrmals geforderte, Säkularisierung manifestiert hat. Vgl. Loudovikos 2009: 113–152. 111 So etwa von Giankazoglu 2006.

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Das Hauptproblem dabei scheint nicht zuletzt die kaum zu überblickende Fülle von Texten aus völlig heterogenen Gattungen zu sein, aufgrund deren Ramfos in Der Schmerz des Einen seine dem theologischen mainstream zuwiderlaufenden Schlüsse zieht. So zieht Ramfos beispielsweise Schriften Kirchenväter, Briefe, byzantinische Kriegshandbücher, volkssprachliche Texte und Benimm-Ratgeber aus dem 20. Jahrhundert – um nur die griechischen Texte zu nennen – in gleicher Weise als Quellen und Belege für seine Thesen heran. Seine Untersuchung ist freilich auch aus einem weiteren Grund viel umfassender als die seiner Vorläufer in der Personalismusdebatte: Es geht Ramfos nämlich weniger um die Lösung eines theologischen Problems als vielmehr um eine globale Beurteilung der kollektiven griechischen Gemütsverfassung. Für eine akademische Diskussion sind seine Argumentationen zu weit gefasst und wurden deshalb in Fachkreisen allenfalls in Auszügen rezipiert, bestenfalls diskutiert, aber mindestens ebenso oft einfach ignoriert. Erst seine unübersehbare Medienpräsenz seit etwa 2008 hat dies etwas verändert, sodass er nun auch in der theologischen Diskussion ernster genommen wird.112 Ramfos Behandlung der Frage nach der „Person“ findet also auf der Grundlage der oben beschriebenen innergriechischen Debatte statt; sein Konzept unterscheidet sich jedoch erheblich von dem seiner von ihm attackierten Vorgänger. Dies liegt wohl nicht zuletzt daran, dass er darin historische und philosophische Untersuchungen verbindet und versucht, die phänomenologische Diskussion um die Person in seinen Ansatz mit einzubeziehen. Anhand unterschiedlicher Texte weist er nach, dass Autoren des byzantinischen Mittelalters immer wieder Schritte in Richtung Individualisierung unternommen haben, die dann aber aufgrund politischer und sozialer Umstände niemals auf weitere Bevölkerungsschichten übergreifen konnten. Betrachtet man die unterschiedlichen Entwicklungsgeschichten des Begriffs der Person in Ost und West, besteht ein fundamentaler Unterschied durch die Jahrhunderte von der Antike bis heute fort: Im Westen sieht Ramfos den individuellen Einzelmenschen, der in der Tiefe seiner eigenen Seele nach sich und nach Gott sucht, der im Diesseits nicht nur die Vorbereitung auf das Jenseits sieht und der ständig in sich und aus sich heraus die Antwort auf die existentiellen Fragen sucht: „Wer bin ich?“, „Woher komme ich?“ und „Wohin gehe ich?“ Zu diesem Zweck verfasst der Mensch im Westen Autobiographien, Geständnisse, Tagebücher, Reisenotizen, Liebesgedichte und vielerlei mehr an Literatur, was allein dazu dient, die Dimension des Selbst zu erfassen und zu dokumentieren. 112 Giankazoglu 2006 und Papagiannopoulos 2009

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Diesem Erkenntnisdrang ordnet der westliche Mensch seine ganze Welt unter; um sich selbst zu erkunden, blickt er auf seine Umwelt, wie er sie sieht und erfährt, und nicht etwa, wie sie aufgrund einer Tradition zu sein hätte. Im orthodoxen Osten hingegen wird all solchen Äußerungen in der philosophischen und theologischen Diskussion keine besondere Bedeutung zugemessen. Dem einzelnen Menschen wird nicht zugetraut, die Dinge zu sehen, wie sie sind; dafür gibt es die lange und von der Kirche sanktionierte Tradition des Wissens um Gott, die Welt und die beste Lebensform. Hier gibt es nichts Neues zu entdecken, die Topographie aller möglichen Lebensformen beinhaltet keine weißen Flecken. Der Rahmen des Lebens ist in allen einzelnen Stadien, von der Wiege bis zur Bahre, gesellschaftlich vorgegeben, die Freiheit und das Glück findet der Mensch darin, diese gesellschaftliche Rolle auszufüllen. Daher sind alle Texte im östlichen Mittelalter, die sich in irgendeiner Form mit Pädagogik oder Kultivierung der Innerlichkeit befassen, mannigfaltige Handreichungen, das Leben zu bewältigen. Sie bieten ein Identifikationsmodell an und sind keine Erfahrungsberichte eines echten Aufbruchs zu sich selbst. In der Tat scheinen Welten zwischen der schonungslosen Beichte und der Introspektion in den Confessiones des Aurelius Augustinus und den byzantinischen Heiligenviten zu liegen, die strengen Mustern folgen und deren historische Aussage daher mit großer Vorsicht herausgelesen werden muss. Wie oben bereits ausgeführt,113 sind auch die byzantinischen Liebes- und Abenteuerromane weit entfernt von spektakulären Einzelschicksalen wie denen von Abaelard und Héloise, deren Liebesbeziehung sich nicht nur vollkommen außerhalb jeglicher gesellschaftlicher Konventionen abspielte, sondern deren Briefwechsel später einen ähnlichen Rang einnahm wie andere beliebte Texte der romanesken Unterhaltungsliteratur; das Besondere ist hier der Stolz und das Selbstbewusstsein, mit denen die beiden Liebenden sämtliche Sanktionen in Kauf nehmen.114 In der orthodoxen Gesellschaft wären diese beiden Beispiele nicht vorstellbar gewesen; nicht dass es keine reuigen Sünder oder illegitime Liebesbeziehungen gegeben hätte; aber sie haben es niemals zu einer, wenn auch späten, literarischen Akzeptanz gebracht. Auf der Suche nach der griechischen Innerlichkeit durchstreift Ramfos das gesamte Mittelalter und untersucht auch die Literatur des 19. und des 20. Jahrhunderts. So beobachtet Ramfos zwar gewisse Individualisierungsansätze in der

113 Siehe oben Kapitel 5.4.2 „Individualistische“ vs. „metaphysische“ Liebe in Ost und West. 114 Die unterschiedlichen Liebeskonzeptionen in Ost und West behandelt Ramfos in GA 7.

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byzantinisch-mittelalterlichen literarischen Tradition, doch sprengen diese niemals vollständig den gesellschaftlich sanktionierten Rahmen. Es sind auch weniger Protokolle subjektiver Wahrnehmungen, sondern vielmehr Handreichungen aller Art für ein gelungenes Leben, von den sogenannten Fürstenspiegeln der Spätantike über pädagogische Ratgeber115 bis hin zu neuzeitlichen Kompendien mit Benimm-Regeln, Florilegien aus französischen Pendants des „Knigge“, die Zeugen einer Gesellschaft im Umbruch sind, die, innerlich zutiefst gespalten, einen modus vivendi im Stil einer europäischen Bourgeoisie mit Kernfamilie und Frauenemanzipation auf dem Fundament einer patriarchalen Gesellschaft zu finden hofft.116 Insgesamt, so stellt Ramfos fest, hat im orthodoxen, griechischen Raum eine Individualisierung nach europäischem Vorbild niemals stattgefunden. Im Gegenteil, die rigiden Strukturen des byzantinischen Kaiserreichs haben es niemals ermöglicht, die Grenzen der „verkrusteten Symbole“117 zu sprengen. Das Symbol mit seiner von vornherein fixierten Bedeutung steht bei Ramfos für die hierarchischen Wissens- und Machtstrukturen, die dem byzantinischen Reich zwar über mehr als ein Jahrtausend eine relative Stabilität verliehen haben, auf der anderen Seite aber jeden Keim einer Erneuerung erstickten und damit schließlich für den politischen Untergang von Byzanz und für die kulturelle Stagnation in der Zeit zwischen dem Fall Konstantinopels und der Gründung eines unabhängigen griechischen Staates im 19. Jahrhundert verantwortlich gewesen sind.118 Diese Unbeweglichkeit der Symbole hat die Menschen innerhalb ihres sozialen Umfeldes gefangen gehalten und sie als Gruppenwesen auch der Weltsicht eben dieser Gruppe unterworfen. Dies war insbesondere deswegen möglich, weil sich die tatsächliche Auffassung der Kirchenväter hinsichtlich der hypostatischen Person der Trinität im orthodoxen Kontext niemals so stark hätte entfalten können, dass sie wirklich auf das Leben der Menschen übertragen werden konnte. Allein der Heilige mit seiner völlig weltabgewandten Existenz wurde zum moralischen Vorbild und zum Symbol für den byzantinisch-orthodoxen Menschen. Diese Symbolfigur hat sich allmählich zu einer versteinerten Wahrheit verhärtet. Ihre Weltabgewandtheit, Technikfeindlichkeit und Abwendung von jeder Modernisierung (hier folgt Ramfos wieder dem neoorthodoxen Schema der Opposition 115 Die Kapitel Spaneas und Der Brief des Bessarion, in Ramfos GA 16: 268–281. 116 Hierzu das Kapitel Das „savoir-vivre“ des 20. Jahrhunderts, ibid.: 304–325. 117 Für Ramfos ist die orthodoxe Gesellschaft mit ihren symbolischen Bezügen und Ausdrucksformen noch ganz im mittelalterlichen Weltbild verhaftet. 118 Ramfos GA 16: 112 ff. und 221 ff.

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Barlaam-Palamas)119 hatte der rückwärtsgewandten Gesellschaft in Byzanz schließlich auf der weltpolitischen Bühne den Todesstoß versetzt.120 Der orthodoxe Mensch des Mittelalters, so führt Ramfos weiter aus, sah sich als Opfer des Sündenfalls, das als Geschöpf zwar Gottes Ebenbild gewesen war; doch als solches war er längst verblasst aufgrund seiner Verstrickungen in der Welt, mit einer nur vagen Hoffnung auf Erlösung, die darin bestand, die Welt hinter sich zu lassen. Dieses gespaltene Verhältnis eines ständig moralisch zerknirschten Menschen zur Realität hatte schließlich, um jeden Egozentrismus auszuschließen, einen kreativen und selbstbewussten Umgang mit der Welt verhindert und alle natürliche menschliche Neugier unterdrückt. Während Byzanz allmählich in die historische Bedeutungslosigkeit versank, hat im Westen indessen ein optimistisches, vom Menschen her entwickeltes Welt und Menschenbild eine fulminante Entwicklung hervorgerufen. Ausgehend von einigen Besonderheiten der Psychologie des Augustinus, in der die Person als einzelnes Individuum die Introspektion entwickelt, um auf diese Weise zu einer Erkenntnis Gottes zu gelangen, ist im Westen schließlich ein weit deutlicher ausgeprägtes Bewusstsein einer Innerlichkeit entstanden, mit all ihren Selbstreflexionen, Autobiographien und insgesamt einer großen Aufwertung einer Beschäftigung mit der eigenen Person, wie sie sich im Hier und Jetzt darstellt, und nicht, wie im Osten, stets darauf bedacht, ihre eigenen Defekte im Vergleich zum versteinerten Symbol des Heiligen aufzudecken.121 Im Osten hat die Trinitätslehre somit selbst dadurch für ihre historische Marginalisierung gesorgt, dass sie die „Person“ in erster Linie in Relation zu den anderen verstanden hat, also immer in Bezug auf eine Differenz außerhalb ihrer selbst. Die Person besaß in der Orthodoxie keine „anthropologische“ Dimension122 und trotz der detailreichen Ausarbeitung der Personen der göttlichen Trinität war dort kein Platz für eine menschliche Innerlichkeit. Das Interesse der zeitgenössischen griechischen Theologie für die Person ist, trotz des scheinbaren Widerspruchs, einem starken westlichen und auch einem russischen Einfluss geschuldet, wobei gerade Letzterer mit seiner Sophiologie und seiner Betonung der geistigen Schönheit statt der Askese, nach Ramfos viel dafür geleistet hat, die Erstarrung der 119 Dazu das Kapitel 4.7 Politischer Hesychasmus und verhinderte Modernisierung der orthodoxen Welt. 120 Ramfos GA 16: 118. 121 Ramfos GA 16: 224 ff. 122 Im Sinne einer humanistischen Herleitung. Freilich sehen orthodoxe Denker sehr wohl eine anthropologische Dimension ihres Denkens als zentral an, eine Darstellung in Gnau 2015: 261–280.

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byzantinischen Kultur aufzubrechen. Schließlich hat dieser Einfluss auch dazu beigetragen, einen orthodoxen Weg in die Moderne zu suchen.123 Der Niedergang der byzantinischen Kultur und die Krise, in der das moderne Griechenland permanent steckt, sind letzten Endes darauf zurückzuführen, dass die Orthodoxie sich niemals in einer historischen Dimension verstanden hat.124 Die Gegenwart ist in Byzanz immer im Verhältnis zur Ewigkeit empfunden worden, was sowohl zu einer Verherrlichung der Vergangenheit als auch zu einem historischen Stillstand geführt hat. Die Akzeptanz der Veränderung und die positive Konnotation des Fortschritts, die die westliche Kultur charakterisieren, hätten eine Verjüngung und eine Wiedergeburt ermöglicht, was aber unter den politischen Verhältnissen in Byzanz nicht möglich war. Stattdessen hatte sich die byzantinische und post-byzantinische Gesellschaft durch ihre Hinwendung zum letzten Endes nihilistischen Hesychasmus erfolgreich gegen jede Form der Erneuerung gewehrt. Die hesychastische Theologie hatte diesen historischen Stillstand zu einem großen Teil mit zu verantworten in ihrer Verbindung der göttlichen Hypostasen mit den ungeschaffenen Energien Gottes, da darin eine gewisse Apophatik, ein Ausblenden des unergründlichen göttlichen Wesens stattgefunden hat. Dies hat jeden Keim einer naturrechtlichen Neugier des Menschen erstickt und hat letzten Endes sogar dazu geführt, dass das griechische, wie auch alle übrigen orthodoxen Völker, sich selbst in das historische Abseits und damit in die Bedeutungslosigkeit manövriert haben.125 Diese provokanten Thesen stellt Ramfos in den Raum, um seinen eigenen Ansatz für ein modernes griechisches Menschenbild vorzubereiten. Sein anthropologischer Ansatz geht von einem Ich aus, das einen weitaus breiteren Raum einnimmt und auch die Differenz beinhaltet. So kann der Mitmensch zum Referenzpunkt des menschlichen Handelns werden, da dieser in der je eigenen Identität des Einzelnen mit existieren kann und diese nicht von außen begrenzt oder einengt. Diesen Begriff der „Person“ setzt Ramfos vom „psychologischen“ Ich der psychoanalytischen Tradition eines Sigmund Freud oder eines Carl Gustav Jung ab. Er verfolgt dagegen, nicht anders als auch Zizioulas in seiner später veröffentlichten Aufsatzsammlung Communion and Otherness,126 einen phänomenologischen Zugang zur Person.127 In ihrer Konstruktion der Person als Differenz 123 Ramfos GA 7: 249 ff. 124 Eine ausführliche Erörterung des Phänomens der griechischen Krise folgt in Kapitel 6.4 Umstrittene Modernisierung: Antworten auf die Krise in Griechenland. Das besondere Verhältnis der griechischen Gesellschaft zur Dimension der Zeit behandelt Ramfos in einem Essay 2012 a. 125 Ramfos GA 16: 225 ff. 126 Zizioulas 2006. Eine Analyse des Werks bei Gnau 2015: 195–260. 127 Zu Zizioulas’ Verhältnis zur postmodernen Philosophie vgl. Knight 2006: 1 f.

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verweist Ramfos ebenso wie Zizioulas auf den Denker Emmanuel Lévinas und seine Ethik der Alterität. So weist Zizioulas Ausarbeitung eines ethischen Handlungsspielraums in einer relationalen Ontologie Parallelen zu Lévinas’ Autrement qu’être ou au-delà de l’essence auf.128

5.4.5  Der Begriff des Enhypostatons Nach der Analyse der zeitgenössischen griechischen Diskussion um die Person, einer historischen Bestandsaufnahme der Begriffsgeschichte in Ost und West und einer breit angelegten Untersuchung der gescheiterten Versuche der Individualisierung in byzantinischer und postbyzantinischer Zeit stellt Ramfos seinen eigenen Beitrag zur Lösung der griechischen Identitätskrise vor. Er besteht in einem eigenen Entwurf eines Menschenbildes, das in der orthodoxen Tradition verwurzelt sein und dennoch eine Modernisierung nicht scheuen soll. Ziel ist es zu zeigen, dass Orthodoxie und Moderne, zwei scheinbar entgegengesetzte Begriffe, einander nicht unbedingt ausschließen müssen. Das theologisch-philosophische Fundament von Ramfos’ eigener orthodoxer Theorie der Person ist der Begriff des Enhypostaton des Leontios von Byzanz.129 Dieser Begriff entstand aus der Problematik, die zwei Naturen Christi, nämlich die menschliche und die göttliche, in einer Person oder Hypostase der Trinität zu verbinden. Im Konzil von Chalkedon wurden die Begriffe Natur und Hypostase, die zuvor meist synonym gebraucht worden waren, voneinander getrennt. Grundsätzlich stand das Problem im Mittelpunkt, wie sich in der Hypostase Christi menschliche und göttliche Natur zueinander verhielten. Die orthodoxe Lösung130 dieser Frage formulierte Leontios von Byzanz (485– 543).131 Er stellt sich die zwei Naturen Christi als gleichzeitig und ineinander 128 Lévinas 1964. Vgl. dazu den Text von Zygmunt Bauman zur postmodernen Ethik (Bauman 2003). 129 Ramfos GA 7: 255 ff. und GA 16: 342–351. 130 Das vierte ökumenische Konzil von Chalkedon (451) entschied den lange und erbittert geführten Streit um das Verhältnis zwischen der göttlichen und der menschlichen Natur in Jesus Christus. Im Verlaufe des Konzils wurde die Lehre des Nestorius, die bereits zwanzig Jahre zuvor beim Konzil von Ephesos (431) abgelehnt worden war, endgültig für häretisch erklärt. Gegen eine andere extreme Position, den Monophysitismus (genauer ist Miaphysitismus), der vor allem von den mächtigen Kirchen Ägyptens und Syriens verfochten wurde, auf der einen und dem Nestorianismus auf der anderen Seite definierte das Konzil Christus als wahren Gott (Gott der Sohn als zweite Person der Dreifaltigkeit) und wahren Menschen zugleich. (Sellers 1953; zu den beiden Figuren des Nestorius und des Eutyches auch Camelot 1951). 131 Ramfos GA 16: 342 ff. Zu den Begriffen der Person und der Subsistenz und der philosophischen Anthropologie des Leontios von Byzanz vgl. auch Otto 1968; ganz anders

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existierend vor und prägt dafür den Begriff des Enhypostaton (ἐνυπόστατον). Die beiden Naturen bilden somit eine unauflösliche Einheit, ohne sich jedoch zu vermischen. Menschliche und göttliche Natur bleiben in diesem Modell unterscheidbar ohne voneinander getrennt zu sein. Zur Verdeutlichung verwendet Leontios das Bild von der Fackel und der Flamme: Man muss sich das wie bei einer Fackel vorstellen; man unterscheidet zwischen dem Docht und dem Feuer aus feuriger Substanz; sie existieren zusammen und ineinander, und beide zusammen bilden eine Fackel. Wollte man das Beispiel noch weiter führen, könnte man sagen, sie ist zu Holz gewordenes Feuer und entzündetes Holz; letzteres (das Holz, Anm. I. S.) hat an der Leuchtkraft des Feuers teil und jenes (das Feuer, Anm. I. S.) erhielt im Zusammenhang mit der Fackel feste Substanz. So tauschen sie miteinander die Eigenschaften aus und bleiben dennoch ständig und unvermischt sie selbst.132

So wie eine Fackel das Feuer als unverzichtbaren Teil beinhaltet, so beinhaltet die göttliche Natur Christi auch dessen menschliche Natur. Ohne Feuer ist die Fackel nur ein einfaches Stück Holz, und ohne menschliche Natur ist Gott nicht Christus. So will Leontios zeigen, dass in Christus eine göttliche und eine menschliche Natur existieren können, so wie die menschliche Hypostase aus Leib und Seele besteht.133 Ramfos nutzt nun diesen Begriff des Enhypostaton und verleiht dadurch der „Person“ eine neue Dimension: In dem Augenblick, in dem die „Natur“ von der „Hypostase“ unterschieden wurde, und sogar von letzterer umfasst werden konnte, wie das Göttliche und das Menschliche in der Hypostase oder der Person Christi, war das Individuum nicht mehr nur eine zufällige Erscheinung, ein Akzidenz, das von seinem Oberbegriff – seiner Gattung – absorbiert wird und konnte so nicht mehr auf eine Maske oder Rolle reduziert werden.134

beurteilt dies Evans 1970, der Leontios’ Christologie in den Zusammenhang mit dem Origenismus stellt. 132 „Οἷον ὡς ἐπὶ λαμπάδας ἔστι θεωρῆσαι. Ἄλλο μὲν γὰρ τί ἐστιν ἡ θρυαλλίς, ἕτερον δὲ πάλιν ἡ φλογώδης τοῦ πυρὸς οὐσία. Σὺν ἀλλήλοις δὲ καὶ ἐν ἀλλήλοις ὄντα, μίαν πεποίηκεν ἀμφότερα λαμπάδα. Καὶ ὡς ἄν τις ἐκβιασάμενος εἴποι, πῦρ ἐστιν ἐξυλόμενον, καὶ ξύλον ἐμπεπρησμένον, καὶ τὸ μὲν τῆς τοῦ πυρὸς μετέχει λαμπρότητος, τὸ δὲ τῆς κατὰ τὴν δᾷδα κεκοινώνηκε γεώδους παχύτητος, καὶ ἀντιδέδωκε θάτερον θατέρῳ τῶν ἰδιωμάτων, ἐν τῇ μονίμῳ ἑαυτῶν καὶ ἀσυγχύτῳ ἰδιότητι μείναντα.“ (Leontios von Byzanz, PG 86 A, 1304 B–C). 133 Ramfos GA 16: 343. 134 „Ἀφ’ ἧς στιγμῆς ἡ ‚φύσι‘ διεκρίθη ἀπὸ τὴν ‚ὑπόστασι‘, καὶ μάλιστα μποροῦσε νὰ περιληφθῇ, ὅπως τὸ θεῖο καὶ τὸ ἀνθρώπινο, στὴν ὑπόστασι ἢ πρόσωπο τοῦ Χριστοῦ, τὸ ἄτομο ἔπαψε ν’ ἀποτελῇ μία συμπτωματικὴ παρουσία, συμβεβηκὸς ἀπορροφώμενο ἀπὸ τὴν γενικὴ του ἔννοια – τὸ γένος του – καὶ τρεπόμενο ἔτσι σὲ προσωπεῖο ἢ ρόλο.“ (Ibid.: 344).

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Das Enhypostaton ist weniger eine theologische Neuerung als vielmehr eine logische Kategorie, die definiert, wie zwei Begriffe unter einem subsumiert werden können. Auf diese Weise löst Leontios das Problem der zwei Naturen Christi im Rahmen der Orthodoxie. Ihm folgend konstruiert Ramfos einen modernen Begriff der Person, die in sich das körperliche und das geistige Element subsumiert.135 So wie sich im Menschen Leib und Seele vereinen, aber dennoch unterschiedliche Sphären einnehmen, soll die Person das individuelle Element mit dem sozialen verbinden. Ramfos betont, dass die Aufwertung der Materie und der Welt als Schöpfung einen wichtiger Ansatz seines Personenbegriffs darstellt; anstatt auf der mittelalterlichen Leib-Seele-Spaltung zu beharren, ist nach Ramfos auch für die orthodoxe Theologie notwendig, sich der Sphäre der materiellen Welt im Sinne einer gesunden menschlichen Neugierde zu öffnen, da sie letzten Endes Motor der notwendigen naturwissenschaftliche Entwicklung ist.136 Nichtsdestotrotz bleibt die Person mehr als die Summe ihrer Teile; Körper und Seele sind Enhypostata, also ineinander enthalten, und keines der beiden Teile geht dem anderen logisch oder zeitlich voraus.137 Anders als Yannaras und Zizioulas mit ihrem relationalen Personenbegriff entfaltet Ramfos einen Personenbegriff, der die „Person“ nicht nur in ihrem Verhältnis zu anderen definiert; es gibt für ihn durchaus eine Person außerhalb der Gesellschaft, eine Form des Individuums, in dem aber auch das Verhältnis zum Anderen angelegt ist: Aber wenn die Seele und der Leib als Enhypostaton in der Person einander beinhalten, ohne mit diesem identifiziert zu werden, ist es dann möglich, dass sie als Ich in ihrer Ausdehnung im Wir enthalten sind und dieses in letzter Konsequenz die Person darstellt? Mit anderen Worten: Können wir die Person in der Kategorie der Gesellschaft oder, anders gesagt, der Relation, einordnen? Ist ihre Individualität relational oder müssen wir sie als selbstständig und unabhängig betrachten? Wenn letzteres gilt, und wenn die Person nicht autistisch sein soll, wer ist und wo befindet sich dann der Andere?138

135 Ibid.: 346. 136 Ibid.: 351–364. 137 Ramfos GA 16: 364. 138 „Ἀλλὰ ἐὰν ἡ ψυχὴ καὶ τὸ σῶμα περιέχωνται ἐνυποστάτως στὸ πρόσωπο χωρὶς νὰ ταυτίζωνται μὲ αὐτό, εἶναι δυνατὸν ὡς Ἐγὼ νὰ περιλαμβάνωνται κατ’ ἐπέκτασιν στὸ Ἐμεῖς καὶ τὸ τελευταῖο νὰ συνιστᾷ ἐν ἐσχάτῃ ἀναλύσει τὸ πρόσωπο; Μὲ διαφορετικὰ λόγια: Μποροῦμε νὰ ἐντάξωμε τὸ πρόσωπο στὴν κατηγορία τῆς κοινωνίας ἢ ἀλλιῶς τῆς σχέσεως; Εἶναι ἡ ἀτομικότης του ἀναφορικὴ ἢ μήπως πρέπει νὰ τῆς ἀναγνωρίσωμε τὸ ἰδιοϋπόστατον; Ἐν τοιαύτῃ ὅμως περιπτώσει καὶ ἂν τὸ πρόσωπο δὲν πάσχει αὐτισμό, ποιός εἶναι καὶ ποῦ βρίσκεται ὁ ἄλλος;“ (Ibid.: 365 f.).

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Mit diesen Überlegungen möchte Ramfos aus der Sackgasse des orthodoxen Personalismus herauskommen, der den Menschen ausschließlich in seiner Beziehung zum Anderen und der Gesellschaft betrachtet, und ihm damit die Individualität abspricht und einen Massenmenschen generiert, der sich nicht zu einem mündigen Bürger entwickeln kann.139 Durch die Integration der Alterität in seinen Personenbegriff versucht Ramfos dieses Dilemma zu umgehen. Die Person der Relation, wie sie etwa Yannaras als orthodoxe Antwort auf die Herausforderung der modernen Philosophie vorgeschlagen hat, definiert sich, so Ramfos, allein über die anderen und leidet daher an einer inneren Leere,140 während die Person, in der die Gesellschaft als Enhypostaton mit inbegriffen ist, dennoch jenseits dieser existieren und sich aus sich selbst heraus, als Subjekt, begreifen kann: Wenn sie ihre Freiheit sichern will, kann die Person nicht nur als objektive Größe existieren, sie muss auch Subjekt sein. Als Subjekt erhält sie nicht nur sich selbst und pflanzt sich fort, sondern sie denkt sich als besondere und entwickelt sich so weiter. Ich verstehe darunter nicht das Subjekt, das nur um seiner selbst willen existiert, um seiner psychosomatischen Individualität willen, sondern ich meine das Subjekt, das eine Ganzheit verkörpert und ausstrahlt. Aus der Perspektive der lebendigen Ganzheit existiert die Person als Individuum, das, anstatt sich seiner selbst im anderen zu versichern, sich seiner selbst im Licht seiner Ganzheit bewusst wird. Die Person umfasst nicht die Beziehung, noch besteht sie in der Biologie; als logisch vorgeordnete Entelechie, als Sinn der menschlichen Existenz in seiner sich ständig transzendierenden Metamorphose, besteht die Person innerhalb des biologischen Menschen und umfasst gleichzeitig die Gesellschaft. Die Person ist metabiologisch und hypersozial – eine Ganzheit des Ziels, in dessen Innerem Natur und Gesellschaft enhypostatisch existieren, wie im Gott-Logos der Mensch enhypostatisch existiert oder im Menschen Leib und Seele beinhaltet werden. Wenn die Christologie den Leib mit der Person verbindet und es dem heutigen Gläubigen tatsächlich erlaubt, in Liebe das zuvor Dagewesene zu transzendieren, so kann ihm eine Idee wie das Enhypostaton weiterhin die Möglichkeit geben, diese Transzendenz mit wahrer Freiheit zu verbinden.141

139 Ibid.: 347. 140 Ibid.: 368. 141 „Ἂν θέλῃ τὴν ἐλευθερία του, τὸ πρόσωπο δὲν μπορεῖ νὰ ὑπάρχῃ μόνο ὡς μέγεθος ἀντικειμενικό, πρέπει νὰ εἶναι καὶ ὑποκείμενο. Ὡς ὑποκείμενο δὲν συντηρεῖ καὶ ἀναπαράγει ἁπλῶς τὸν ἑαυτό του ἀλλὰ κυρίως τὸν στοχάζεται καὶ τὸν μεταβάλλει. Δὲν ἐννοῶ τὸ ὑποκείμενο ὡς ὀντότητα ποὺ ὑπάρχει γιὰ τὸν ἑαυτό του, τὴν ἰδίαν ψυχοσωματικὴ ἀτομικότητα, ἐννοῶ τὸ ὑποκείμενο ποὺ ἐνσαρκώνει καὶ ἐκπέμπει μία καθολικότητα. Στὴν προοπτικὴ τῆς ζωντανῆς καθολικότητος τὸ πρόσωπο ἀποτελεῖ ἄτομο τὸ ὁποῖο ἀντὶ νὰ βεβαιώνεται στὸν ἐμπειρικὸ ἄλλο, αὐτοβεβαιώνεται στὸ φῶς τῆς καθολικότητός του. Δὲν περιλαμβάνει ἡ σχέση τὸ πρόσωπο οὔτε ἡ βιολογία τὸ συνιστᾷ  •  ὡς λογικῶς προτέρα ἐντελέχεια, ὡς νόημα τῆς ὑπάρξεως τοῦ

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Ein weiteres Problem des orthodoxen Menschenbildes, und zwar das im (orthodoxen wie westlichen) Christentum problematische Verhältnis des Menschen zu seinem Körper, streift Ramfos hier nur, führt es aber an anderer Stelle aus. Ramfos’ Beurteilung der Körperlichkeit ist nicht immer gleich. Während er in den Schriften, in denen er die Bedeutung der monastischen Tradition unterstreicht, zu einer Abwertung der Welt und des materiellen Aspektes des menschlichen Daseins tendiert, verändert sich diese Haltung vollkommen in seinen späteren Werken, in denen er von extremen neoorthodoxen Ansichten klar Abstand genommen hat. In seiner Analyse der Philokalia kritisiert er sogar ausdrücklich eben diese Ausrichtung der orthodoxen Kultur auf das Jenseits. Auf längere Sicht habe sich diese Abwendung von der Welt als ausgesprochen schädlich herausgestellt, denn anstatt, ähnlich dem westeuropäischen Menschen, in der Renaissance zu einer Aufwertung der physischen Welt, des Körpers und des eigenen Selbstbewusstseins zu gelangen, tendiere der orthodoxe Gläubige noch heute dazu, sich in weltabgewandter Nostalgie und der Tendenz zur Mythisierung der Welt abzuschließen.142 Mit dem logischen Instrument des Enhypostatons gibt Ramfos dem orthodoxen Menschen eine aus der eigenen Tradition geborene Möglichkeit, sich einer postmodernen, globalisierten Gegenwart anzupassen. So möchte er nicht ein „westliches“ Subjekt mit seinem Selbstbewusstsein in einen orthodoxen Kontext verpflanzen, sondern er verwendet das plotinische „Wir“ als Ausgangspunkt für das Selbstbewusstsein,143 das weder rein aus dem Ego noch allein aus der Gesellschaft entspringen soll, sondern allein seiner Ganzheitlichkeit geschuldet ist. Giankazoglu bemerkt in seiner Analyse von Ramfos’ Menschenbild dazu: Der Begriff der Person [bei Ramfos, I.S.] verleiht dem Selbst Ganzheitlichkeit, in dem Maß, in dem er die Differenz in sich selbst generiert. Die Person ist zeitgleich das tiefere und breitere Selbst, das „Du“ (Εσύ) und das „sie“ (Αυτοί) des Ich. In dieser Intentionalität des Bewusstseins gehört der Andere schon zu unserer Welt, bevor er außerhalb als Differenz auftaucht. Diese Individualisierung, die angeblich den Kern des Denkens der Kirchenväter trifft, zeigt den Stellvertretercharakter des Individuums und ist nicht

ἀνθρώπου στὴν συνεχῆ μεταμορφωτική του αὐθυπέρβασι, τὸ πρόσωπο συνιστᾷ τὸν βιολογικὸ ἄνθρωπο καὶ περιέχει τὴν κοινωνία. Τὸ πρόσωπο εἶναι μεταβιολογικὸ καὶ ὑπερκοινωνικό – καθολικότης σκοποῦ στοὺς κόλπους τῆς ὁποίας ἐνυποστατεῖται ἡ φύσις καὶ ἡ κοινωνία, ὅπως στὸν Θεό-Λόγο ἐνυποστατεῖται ὁ ἄνθρωπος ἢ στὸν ἄνθρωπο τὸ σῶμα καὶ ἡ ψυχή. Ἐὰν ἡ Χριστολογία συνδέῃ τὸ σῶμα μὲ τὸ πρόσωπο καὶ ἐπιτρέπῃ ὄντως στὸν σημερινὸ πιστὸ νὰ ὑπερβῇ φιλικὰ τὰ τὸ πρὶν διεστῶτα, μιὰ ἰδέα ὅπως τὸ ἐνυπόστατο τοῦ προσφέρει περαιτέρω τὴν δυνατότητα νὰ συνδέσῃ αὐτὴ τὴν ὑπέρβασι μὲ γνήσια ἐλευθερία.“ (Ibid.: 369). 142 Ramfos GA 18: 148 ff. 143 Giankazoglu 2006: 119 und Ramfos GA 7: 256 ff.

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Personale Anthropologie im Kontext der neoorthodoxen Diskussion

eine tiefe Selbstbewusstmachung des Ichs. Sie unterscheidet sich vom Bewusstsein des platonischen Ichs, weil es auch den Körper umfasst.144

Für einen orthodoxen Theologen wie Giankazoglu ist Ramfos’ Ansatz also, trotz des Rückgriffes auf die orthodoxe Tradition mit Leontios, doch zu platonisch und zu heidnisch, ja er vergleicht Ramfos gar mit Plethon.145 Ramfos’ Modernisierung ist für ihn, trotz aller gegenteiligen Beteuerungen, gleichbedeutend mit Säkularisierung, Aufklärung und Imitation des Westens. Giankazoglu erläutert dann seinen eigenen Vorschlag für eine Ethik der Differenz in der Orthodoxie, der schließlich auf eine postmoderne, pluralistische Toleranzethik hinausläuft, die bereits im Neuen Testament angelegt sein soll. Auch in dieser innerorthodoxen Auseinandersetzung kann man, wie bereits mehrfach bemerkt, die Konstante einer umstrittenen Moderne feststellen. In Giankazoglus Argumentation steht Ramfos auf der Seite der Modernisierer, und dass er für seine Gegenargumentation postmoderne Denkansätze heranzieht, ist kein Zufall. Die Orthodoxie findet in den modernekritischen Strömungen der postmodernen Philosophie Schützenhilfe für ihre eigenen Positionen.146 Innerhalb der zeitgenössischen griechischen theologischen Diskussion um ein der Moderne und der Globalisierung angemessenes Menschenverständnis hat sich Ramfos also offenbar doch Gehör und einen eigenen, wenn auch marginalen Platz verschafft. Dennoch ist Der Schmerz des Einen wohl nicht das letzte Wort in dieser Diskussion. Insgesamt hat Ramfos in seiner neuen Theorie der Person versucht, zahlreiche Ansätze aus verschiedenen kulturellen Bereichen zusam144 „Η έννοια του προσώπου προσδίδει καθολικότητα στον εαυτό, στο μέτρο που πραγματοποιεί την ετερότητα εντός του εαυτού. Το πρόσωπο είναι ταυτόχρονα ο βαθύτερος και ο πλατύτερος εαυτός, το Εσύ και Αυτοί του Εγώ. Στην αναφορικότητα αυτή της συνείδησης ο άλλος ανήκει ήδη στον δικό μας κόσμο πριν ακόμη εμφανισθεί έξω ως ετερότητα. Η εξατομίκευση αυτή, που συναντά δήθεν τον πυρήνα της πατερικής σκέψης, δηλώνει τον εκπροσωπισμό του ατόμου και δεν συνιστά μιαν αβυσσαλέα αυτοβεβαίωση του εγώ. Διαφέρει από τη συνείδηση του πλατωνικού εγώ γιατί περιλαμβάνει και το σώμα.“ (Giankazoglu 2006: 119). 145 Ibid.: 120. 146 Ibid.: 121 ff. Zum Verhältnis der orthodoxen Tradition im Allgemeinen zu postmodernen Denkansätzen schreibt Makrides: „Postmodernity stands rather for the relativity and the partiality of all human discourses, a pluralism of methods and approaches, the multidimensionality of reality, and the potential mixing of seemingly incompatible perspectives. This kind of humility can be located mutatis mutandis within the Eastern Orthodox tradition, which always reminded believers about the limits of human beings in all their endeavours because of their `created nature´ subjected to inexorable laws of corruption and death.“ (Makrides 2012 a: 273).

Die Anthropologie der Person

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menzubringen, was ihm nicht immer völlig befriedigend gelingt. Seine präzise Kritik, insbesondere an der historischen Argumentation seiner Dialogpartner, vor allem im Fall von Zizioulas, lässt außer Acht, dass auch er selbst nie ausschließlich historisch arbeitet. Wie er oft unterstreicht, sind gerade für ihn selbst die theologischen Quellen immer nur der Ausgangspunkt für die Interpretation eines viel weiter gefassten Problems, nämlich die Untersuchung der Gesamtsituation der griechischen Kultur. Insgesamt kann man annehmen, dass Ramfos’ Begriff der Person, der auch die Differenz beinhaltet, bis zu einem gewissen Grad von der postmodernen Philosophie der Alterität, wie sie etwa im Werk Autrement qu’ être ou au-delà de l’essence von Emmanuel Lévinas erscheint, beeinflusst ist. Lévinas konstruiert hier ein Menschenbild auf der Basis einer Verantwortung für den Anderen, ausgerichtet auf das Antlitz des Anderen, in dem sich das Ich erst erkennt und konstituiert, und ohne das es nicht existieren kann. Ramfos nimmt freilich an keiner Stelle auf Lévinas und die Diskussion, die dessen Werk im Westen auslöste, Bezug. Sein Ansatz, dessen historische Fundierung durchaus klar ist, entbehrt der präzisen philosophischen Ausarbeitung im Rahmen der aktuellen gesamteuropäischen Diskussion. So lässt sich abschließend feststellen, dass Ramfos’ orthodoxe ausgerichtete Anthropologie nur ein, wenn auch ausführlich vorbereiteter Denkanstoß bleibt; dies ist für Ramfos durchaus typisch, da er für sich nicht beansprucht, ein systematisch vorgehender Denker zu sein. Auch das weitläufige und sehr heterogene Material (von theologischen Texten des 10. Jahrhunderts bis hin zu Gebrauchsliteratur des zwanzigsten Jahrhunderts), das er aufwendet, um seinen Begriff von Individualisierung in der griechisch-byzantinischen Tradition zu belegen, ist stellenweise verwirrend, da der Grund für die Auswahl nicht immer klar dargelegt wird. Möglicherweise erklärt dies auch, weshalb sein Beitrag bis jetzt nicht das zweifellos verdiente Echo hervorgerufen hat. Fest steht jedoch, dass Ramfos in diesem Werk seine wichtigsten Ansätze für eine moderne orthodoxe Anthropologie in einer originellen Form gebündelt hat. Es scheint uns, dass dieses Thema in der aktuellen philosophischen Debatte in Griechenland noch keineswegs ausdiskutiert ist.

6  Der griechische Weg in die Moderne 6.1 Die schwierige Suche nach einer griechischen Kulturtradition In einem umfangreichen Teil seines Werks widmet sich Ramfos der Frage nach der nationalen Identität des modernen Griechenlands. Dieses Thema, das den letzten wesentlichen Schwerpunkt unserer Untersuchung darstellen soll, ist in Ramfos’ Werk von Beginn an präsent. Besonders dominiert es die achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts und die Folgezeit, wo es besonders charakteristisch für seine kürzeren Texte, Essays und Interviews ist, die für ein breiteres Publikum bestimmt sind. Auch hier versteht sich Ramfos als Philosoph in der platonischen Tradition, für den die Philosophie nicht Erkenntnis als Selbstzweck ist, keine Disziplin, die sich in einen Elfenbeinturm verschließt und mit der Außenwelt bricht; im Gegenteil, bleibt man im Bild des Höhlengleichnisses, so trostlos die conditio humana auch ist, so behaftet mit Unzulänglichkeiten und Fehlern, darf der Weise, der die Platonische Höhle verlassen hat, dennoch nicht in der Kontemplation der Ideen verharren, sondern er muss zu seinen ehemaligen Mitgefangenen zurückkehren, um sie zu erziehen und aus der Unwissenheit herausführen.1 Seiner Verpflichtung kam und kommt Ramfos seit seiner Rückkehr aus Paris nach Griechenland sehr gewissenhaft nach, und daher wird unsere Untersuchung auch hier verschiedene Phasen seiner politisch-kulturellen Orientierung berücksichtigen müssen. Wie Ramfos selbst und auch sein Kritiker Sotiris Gounelas2 unterstreichen, haben alle seine philosophischen und theologischen Überlegungen letzten Endes die Klärung einer Frage im Blick: Wo steht Griechenland in einer modernen, aufgeklärten und globalisierten Welt? Denn Griechenland hat nach Ramfos heute die folgende Entscheidung zu treffen: Soll sich das Land an seine Vergangenheit klammern und Widerstand leisten, oder soll es sich an die westliche Kultur und an die Weltmacht USA anschließen? Und es hat sich zu fragen: Ist die im vorangehenden Kapitel dieser Arbeit angesprochene Individualisierung eine notwendige Realisierung von in der griechischen geistigen Entwicklung bereits angelegten Voraussetzungen oder handelt es sich hierbei um einen Verrat an der eigenen Tradition?

1 Platon, Staat, 519 d. Dazu auch Droz 1994: 91. 2 Gounelas 2001: 69.

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Der griechische Weg in die Moderne

Ramfos’ Arbeit ist hier nicht im eigentlichen Sinne deskriptiv. In jeder seiner Arbeitsphasen bleibt er ein Idealist, in dem Sinne, dass er die griechische Realität mitzugestalten versucht, sei es in seinen orthodoxen Platonstudien und seiner Beschäftigung mit der orthodoxen Theologie, aber auch in seinen Kommentaren zu einer breit gefächerten Auswahl an mehr oder weniger aktuellen kulturellen Fragen, die im vorliegenden Kapitel untersucht werden sollen. Als politischer Publizist und Diskussionspartner genießt Ramfos, auch ohne dass er ein politischer Visionär wäre, der das Land ermutigt und inspiriert, heute viel Beachtung. Er bleibt also auch in seinen essayistischen Texten, die sich nicht an ein Fachpublikum von Historikern, Philosophen und Theologen richten, immer noch ein Lehrer, der für seine Landsleute die Rolle eines Lehrers des Volkes (ἐθνο-διδάσκαλος – Ethnodidaskalos) verkörpert, eine Figur des Mahners und Wegweisers, der das Volk ständig an die Gefährdung seiner Identität erinnert. Diese fast mythische Figur war für die Griechen unter osmanischer Herrschaft und in der Diaspora der Dorflehrer, der auch oft der einzige „Gelehrte“ der Gemeinschaft war, neben der Kirche die einzige Instanz, welche die Bevölkerung vor der drohenden Überfremdung bewahren sollte.3 Der Begriff der Krise, der in den deutschen Medien während der Finanzkrise mit der Lage in Griechenland assoziiert wird, taucht, was nicht überraschen kann, auch in Ramfos’ Werk auf, bezeichnenderweise allerdings schon lange bevor die globale Finanzkrise 2008/9 ausbrach und schließlich auch Griechenland als Staatsschuldenkrise erfasste.4 Das Phänomen der Krise, das – so suggeriert es zumindest ihre griechische Grundbedeutung Wendepunkt – eine zeitlich begrenzte, vorübergehende Erscheinung sein sollte, begleitet, überblickt man die Darstellungen von Ramfos und der meisten übrigen griechischen Intellektuellen, den modernen griechischen Staat jedoch schon seit seiner Entstehung im Jahre 1821 als andauernder Zustand.5 In den meisten der gesellschaftlichen Analysen des Ramfos dominiert dementsprechend der

3

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Mit dem Zusammenbruch der Großen Idee schien diese Figur jedoch erst einmal ausgedient zu haben, wie etwa die Ausgestaltung des Dorflehrers im Roman der Stratis Myrivilis, Ἡ Παναγιά ἡ Γοργόνα [Die Madonna mit dem Fischleib], erschienen 1949, nahelegt; hier schildert Myrivilis die Geschichte der Flüchtlinge nach der Kleinasiatischen Katastrophe, die sich in Lesbos ansiedeln. Der Lehrer sieht seine Lebensaufgabe nunmehr darin, die verlorene Heimat zu beschworen; als die Flüchtlinge jedoch im Laufe der Jahre sich mit ihrer neuen Heimat arrangiert und die alte vergessen haben, versinkt der Lehrer in Depression und Alkoholismus. Zum Zusammenhang von orthodox geprägter Kultur und den Entwicklungen um die Staatsschuldenkrise vgl. Makrides 2015 a. Ramfos GA 5: 288.

Die schwierige Suche nach einer griechischen Kulturtradition

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Eindruck einer permanenten Krise der heutigen griechischen Gesellschaft und Kultur mit den entsprechenden negativen Folgen für das griechische Selbstbewusstsein.6 Diese Problematik ist nicht von den politischen Diskussionen der jeweiligen Phase des Lebens und Denkens von Ramfos zu trennen. In seiner Jugend rief die von den Vereinigten Staaten gestützte Militärdiktatur in Griechenland, in Anlehnung an die südamerikanischen, ebenfalls von den USA geförderten Diktaturen, auch Junta genannt, unter den ins Exil getriebenen griechischen Intellektuellen eine massive Ablehnung aller„ westlichen“, vor allem amerikanischen Kulturphänomene hervor.7 In den Jahren um und nach ihrem Sturz (1974) reihte sich auch Ramfos in die Gruppe derer ein, die ein neu erwachtes Interesse an der Tradition der griechischen Kirchenväter mit einer gewissen Sympathie für den Marxismus, den viele Denker in ihrem Pariser Exil absorbiert hatten, verband. Diese Sympathie verflog jedoch im Verlauf der achtziger und neunziger Jahre, mit dem Ende des Marxismus als Staatsdogma und dem Zusammenbruch des von der Sowjetunion geführten Ostblocks. Auch in Griechenland wurde deutlich, dass sich die Intellektuellen der massiven ökonomischen und kulturellen Veränderungen der Globalisierung zu stellen hatten. Dies galt und gilt auch heute noch für Ramfos. Man muss somit auch in den folgenden Ausführungen zur griechischen Identitätsproblematik bei Ramfos wiederum zwischen einer frühen, neoorthodoxen,

6 Ramfos GA 5: 35, 139, 184, 231, 288 und passim. 7 Pel stellt dar, wie sich die Ablehnung der Militärdiktatur seit ihrem Putsch in breiten Schichten der Bevölkerung breitmachte, vornehmlich aber unter Studenten und Intellektuellen. 1973 erreichten die Proteste der Studenten in Thessaloniki und später in Athen ihren Höhepunkt und wurden gewaltsam niedergeschlagen. Der Widerwillen gegen die Diktatur wurde begleitet von einer Abneigung gegen die Vereinigten Staaten, als deren Marionetten die Generäle der Regierung galten: „By the turn of 1973/4 antiAmericanism had become a force sufficiently strong to leave an impression on a broad spectrum of political opinions. It was a sentiment shared by people ranging from Andreas Papandreou via Karamanlis’ supporters to Alekos Papadongonas, the leader of May 1973 conspiracy in the Greek Navy. This resentment was all the more important as a new phenomenon in Greek politics was emerging, a separate ’youth movement’ which had come of age during the period of the Junta. This movement had demonstrated sufficient will and coherence to stand up against the Junta and was a force that every national party had to reckon with, as it also posed a challenge to the traditional political groupings.“ (Pel 2006: 340). Der griechische Antiamerikanismus war also zu einem gesamtgesellschaftlichen Phänomen geworden, das auch nach dem Fall der Diktatur bis zum Ende des Kalten Krieges weiter großen Einfluss ausübte. Zu antiwestlichen Strömungen in Griechenland im Zusammenhang mit orthodoxer Tradition vgl. Makrides 1993; 2009 und 2014, sowie Makrides/Uffelmann 2003 und Giannakopoulos 2002.

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Der griechische Weg in die Moderne

theologisch konservativ und politisch antiwestlich geprägten und einer späteren, dem Westen zugewandten Phase unterscheiden. Ramfos’ Beschäftigung mit der Sprachenfrage, die sich über etliche Jahre hinzieht (1980er bis zum Anfang der 1990er Jahre), und, eng damit verknüpft, seine Kritik am öffentlichen Schulsystem eben dieser Zeit, fallen in die konservative Periode. Ein mit der griechischen Selbstwahrnehmung ebenfalls eng verbundenes Thema ist die Stilisierung des bedeutendsten griechischen Erzählers des späten 19. Jahrhunderts, Alexandros Papadiamantis, zu einer nationalen Ikone. Dieses Thema wird Ramfos im Laufe der Zeit mehrmals aufgreifen und unterschiedlich bewerten, was als ein weiteres Argument für eine Kehre in Ramfos’ Entwicklung gesehen werden kann. Diese eher sprachkritischen und literaturwissenschaftlichen Themen werden in jüngerer Zeit abgelöst (ab 2000 bis heute) von gesellschaftlichen Analysen, die von den Umbrüchen, die die griechische Gesellschaft nach der Wiedereinsetzung der Demokratie nach dem Sturz der Militärdiktatur der sogenannten Metapolitevsi (μεταπολίτευση) gezeichnet haben, handeln. Die Schlüsselbegriffe, denen wir in den ausgewählten Texten von Ramfos nachgehen wollen, sind „Säkularisierung“, „Individualisierung“ und „Modernisierung“. Die historischen Hintergründe dieser Phänomene, die zum Teil weit in die griechische Geschichte zurückreichen, zum Teil aber auch eine Folge des Eintritts Griechenlands in die Europäische Gemeinschaft sind, wie etwa die damit Hand in Hand gehende wirtschaftliche und gesellschaftliche Modernisierung, sowie die Überlegungen, die Ramfos zu diesen Phänomenen angestellt hat, sollen Gegenstand der folgenden Kapitel sein.

6.2 Die Sprachenfrage – Konservative Position und Sprachmystik 6.2.1  Kurze Vorgeschichte der griechischen Sprachenfrage Eines der wichtigsten Themen und drängendsten Probleme im Nationsbildungsprozess Griechenlands seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert war das Bemühen um eine einheitliche Sprache, die das kulturelle Zusammenwachsen der heterogenen Teile des neuen Staates erst ermöglichen würde. Das γλωσσικό ζήτημα, die Sprachenfrage, erlebte, wie Peter Mackridge hervorhebt, in drei kritischen Phasen der griechischen Identitätsbildung einen Aufschwung, und zwar zuerst von etwa 1760 bis zum ersten Aufstand 1821, der zur Gründung eines unabhängigen griechischen Staates führte, ein zweites Mal von 1880 bis 1920, als sich das Bürgertum als tragende Kraft des griechischen Staates etablierte, und in jüngerer Zeit nach dem Fall der Militärdiktatur 1974 bis in die 1990er Jahre, als Griechenland

Die Sprachenfrage – Konservative Position und Sprachmystik

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entscheidende Schritte in Richtung Westen unternahm.8 Aus dem letzten Zeitraum stammen auch die sprachkritischen Essays von Ramfos, die zum größten Teil in der Tagespresse erschienen sind und damit eine wichtige Stimme in der damaligen Diskussion darstellten. Die Sprachenfrage im Kontext von Ramfos’ Werk betrifft soziale und politische Aspekte des korrekten Gebrauchs der griechischen Schriftsprache und nicht etwa die nichtgriechischen Minderheitensprachen, die auf dem griechischen Staatsterritorium gesprochen werden, die Mackridge9 in seine Untersuchung mit einbezieht. Ramfos schaltet sich in der Zeit kurz nach dem Ende der Militärdiktatur (1974) in die Diskussion ein und beschränkt sich ausschließlich auf die Frage, welche Form des Griechischen in Druckerzeugnissen und in den Schulen verwendet werden soll. Da die Sprachenfrage in Griechenland jedoch zu jenem Zeitpunkt schon eine lange Geschichte hat, soll diese im Folgenden kurz in Bezug auf Ramfos’ Position dargestellt werden. Die Auseinandersetzung darum, welche Form des Griechischen im zu gründenden bzw. erst seit Kurzem existierenden Nationalstaat Gültigkeit haben sollte, fand im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert im Großen und Ganzen zwischen den Befürwortern der sogenannten Reinsprache [Καθαρεύουσα] und den Verfechtern der sogenannten Volkssprache [Δημοτική] statt. Die Katharevoussa gilt als Projekt des Sprachreformers Adamantios Koraïs (1748–1833), der, so Kitromilides, auch als der „spirituelle Begründer der neuen Nation“ gelten kann.10 Sein Anliegen war es, das Griechische von fremden Einflüssen zu „reinigen“, um den moralischen Charakter der Sprecher zu stärken. Zu diesem Zweck sollte das Griechische seiner Zeit näher an das antike, aber nicht notwendigerweise klassische Griechisch herangeführt werden. Die so gereinigte und erhöhte Sprache konnte realistischer Weise nicht die Sprache des fünften vorchristlichen Jahrhunderts sein, sondern ein Kompromiss, der die moderne Sprache berichtigen sollte, indem etwa ein moderner Wortstamm mit antikem Präfix und antiker Endung versehen wurde. Insbesondere „Barbarismen“, d.h. nichtgriechische Einflüsse auf der Ebene der Lexik sollten damit entfernt werden; bei den Wörtern des täglichen Gebrauchs, die zu einem nicht geringen Teil aus dem Türkischen oder den romanischen Sprachen entlehnt waren, überschritt dies nicht selten schon die Grenze der Lächerlichkeit. Die Katharevoussa des Koraïs ist eine nicht endgültig fixierte, hybride Sprachform aus 8 Mackridge 2009: 1 ff. Mackridge behandelt in diesem Buch vorwiegend die beiden ersten Phasen der Sprachenfrage. 9 Ibid.: 4. 10 Ibid.: 103.

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Der griechische Weg in die Moderne

dem Geist des französischen Klassizismus,11 die dennoch in ihrer aufklärerischen Absicht enormen Einfluss auf die Sprachgemeinschaft gehabt hat.12 Die andere Gruppierung, diejenige der Verfechter der Dimotiki, entstand in der sogenannten Generation von 1880, mit den Dichtern Nikos Kampas (1857–1932), Georgios Drosinis (1859–1951), und, sehr prominent, Kostis Palamas (1859– 1947) an der Spitze. Während die griechische dichterische Prosa noch längere Zeit in der Katharevoussa verfasst wurde, tendierten die lyrischen Dichter zu einer neuen Ausdrucksform, die, im Geiste der Romantik, nicht die abgegriffenen Vorbilder der Antike oder der französischen Literatur übernehmen wollte.13 Zwar gab es schon seit dem Mittelalter durch die gesamte byzantinische und postbyzantinische Geschichte hindurch schriftliche Quellen der Dimotiki, die aber, so zeigt das Lexikon der mittelalterlichen griechischen Volkssprache 1100–1669 des Emmanuil Kriaras,14 neben der gelehrten, attisierenden Hochsprache der übrigen Texte marginal blieben.15 Als erster wichtiger Prosatext erschien 1888 schließlich Meine Reise [Τό ταξίδι μου] des in Paris ansässigen Philologen und Autors Jean Psychari (1854–1929), der 1886 eine Reise nach Konstantinopel unternahm und anschließend Feldstudien in Griechenland durchführte. Seine Beobachtungen hielt er in einer Sprache fest, die ausschließlich auf den lokalen Dialekten beruhte; er weigerte sich auch grundsätzlich, Einflüsse aus der Katharevoussa zu übernehmen.16 Dieses andere Extrem eines dimotischen Purismus hat selbstverständlich ebenfalls seine Tücken, und insbesondere Psycharis phonologische Schreibweise wurde auch von späteren Verfechtern der Dimotiki nicht akzeptiert.17 In der Bewegung der Befürworter der Dimotiki wurde jedoch auch eine politische Komponente deutlich, die die Abschaffung der Katharevoussa zugleich mit sozialen Veränderungen, nämlich einer Urbanisierung, umfassender Bildung für alle Bevölkerungsschichten und, nicht zuletzt, mit einer Unterstützung der Μεγάλη Ἰδέα [Großen Idee], der Vision einer Befreiung der griechisch besiedelten Gebiete außerhalb des Staatsterritoriums, große soziale Veränderungen anstrebte.18 11 12 13 14 15 16 17 18

Ramfos GA 6: 78. Mackridge 2009: 102 ff. Ibid.: 203 ff. Kriaras 1968 ff. Ramfos GA 6: 81. Mackridge 2009: 219. Ibid.: 227. Bien 2005.

Die Sprachenfrage – Konservative Position und Sprachmystik

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Trotz massiver Proteste von verschiedenster Seite trat die Dimotiki von da an ihren Siegeszug an. Die erste „offizielle“, vom Staat in Auftrag gegebene Grammatik der Dimotiki wurde von Manolis Triantafyllides 1941 herausgegeben unter massiver Unterstützung des Diktators General Metaxas, der zuvor unterstrichen hatte, dass die Dimotiki eine rein nationale Bewegung sei und nicht kommunistischen Ursprungs; damit bewies er mehr Weitblick als andere Diktatoren.19 Die Notwendigkeit einer solchen Versicherung zeigt jedoch, wie sehr die Dimotiki ansonsten im linken politischen Spektrum verortet wurde; über die „hölzerne Dimotiki der linken Parteien“ klagt Ramfos noch Jahrzehnte später.20 Nach der jahrelangen kulturellen Stagnation unter der Militärjunta, die ausschließlich den Gebrauch der Katharevoussa sanktioniert hatte, ging es in den knapp zwei Jahrzehnten danach in einer neu aufgeflammten Diskussion um eine Einordnung des demokratischen Griechenlands in einen europäischen Kontext, der in die Aufnahme Griechenlands in die EG mündete. Dem äußeren Druck hinsichtlich der Modernisierung der Sprache kam die griechische Regierung 1976 dadurch nach, dass sie die Reinsprache abschaffte und die Volkssprache überall einsetzte,21 und nicht zuletzt auch, um eine breitere Alphabetisierung und die Demokratisierung voranzutreiben.22 Für die Befürworter der Volkssprache war dies ein unumgänglicher Schritt zu einer dringend notwendigen Modernisierung der Orthographie und der Amtssprache, die weiten Teilen der Bevölkerung wegen ihres Abstands zur gesprochenen Sprache schlicht nicht zugänglich war. Mit dem Wahlsieg der sozialistischen Partei PASOK wurde 1982 schließlich mit dem sogenannten μονοτονικό (scil. σύστημα) das System der Akzente vereinheitlicht und die aus dem Altgriechischen stammenden Hauchzeichen über den Vokalen am Wortanfang abgeschafft, was eine weitere Etappe in der Vereinfachung der griechischen Sprache darstellte.23

6.2.2  Ein Beitrag zur Diskussion um die Sprachreform Die Diskussionen der Sprachenfrage verlagerten sich in der Abfassungszeit von Ramfos’ Artikeln, da die Reinsprache nun offiziell abgeschafft worden war, also

19 Mackridge 2009: 301. 20 Ramfos GA 6: 172. 21 Mackridge 2009: 321. Mit der Aufnahme Griechenlands 1981 wurde das Griechische in der Variante der Dimotiki eine der offiziellen Sprachen der Europäischen Gemeinschaft. 22 Ramfos GA 6: 15. 23 Mackridge 2009: 323.

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Der griechische Weg in die Moderne

auf die Beibehaltung oder Abschaffung des polytonischen Systems und auf die Form und die Bedeutung des altsprachlichen Unterrichts in der Schule. Als ein sehr wichtiges Argument für die gesamte Diskussion um die korrekte Form des Griechischen wurde nun die Abschaffung der Lektüre von altgriechischen Texten im Original an der Mittelschule (Γυμνάσιο) angesehen.24 Für die Modernisten war dies eine längst überfällige Erneuerung des Lehrplans, für die Konservativen, unter die sich auch Ramfos eingereiht hatte, bedeutete es jedoch einen weiteren Schritt in Richtung des allgemeinen Verlustes der Muttersprache; für Letztere galt das Griechische nämlich als einheitliche Sprache mit verschiedenen diachronen Varietäten, die aber in der Gegenwart noch allesamt parallel nebeneinander gleichzeitig gültig sein sollten.25 Die Einführung moderner Übersetzungen von antiken Texten im Schulunterricht ließen sie demnach nicht gelten, mit dem Argument, dass der altsprachliche Unterricht in der Oberschule (Λύκειο) nicht ausreiche, um die Schüler zu befähigen, antike Texte selbstständig zu lesen. Die Abschaffung des verpflichtenden Unterrichts des Altgriechischen26 war für Ramfos und andere der Anlass, über den allgemeinen Verfall der Sprache zu klagen, den sie an den Veränderungen, die die Globalisierung mit sich brachte, etwa der stetig steigenden Zahl von Anglizismen, festmachten.27 Auch die Wiedereinführung des altsprachlichen Unterrichts löste das Unbehagen nicht vollständig auf, da von 1993 an vermehrt die Rede von Altgriechisch und Neugriechisch (Ἀρχαῖα vs. Νέα Ἑλληνικά) war, was in den Augen der konservativen Kritiker die Kontinuität der Sprache negierte. So konstatiert Mackridge: The question whether or not Ancient Greek should be taught as a compulsory subject split Greek linguists and educationalists into two opposing camps, one claiming that, without the compulsory teaching of Ancient Greek, Modern Greek would be cut off from its past, the other arguing that Modern Greek should be allowed to develop as selfcontained language without interference from earlier stages […] Those who supported the compulsory teaching of Ancient Greek had an additional argument in their favour: that the vast majority of Greeks are, actually or nominally, Orthodox Christians, that Orthodox church services use the Ancient Greek texts of the Bible and the liturgy, and that therefore Greeks should be taught to be able to understand this language.28

24 Ibid.: 326. 25 Ramfos GA 6: 187, 189 f. 26 Dazu Ramfos GA 5 der Artikel Μάθημα αὐτογνωσίας. Τὰ Ἑλληνικὰ ὡς ἐλπίδα στὰ σχολεῖα μας [Lehrstück der Selbsterkenntnis. Griechisch als Hoffnung in unseren Schulen], 89–128. 27 Mackridge 2009: 324 f. 28 Ibid.: 325 f.

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Jede Beschäftigung mit griechischer Antike und Mittelalter sind, so Ramfos, nur dann sinnvoll, wenn sie Antworten auf aktuelle Fragen geben. So ist die Altertumswissenschaft im westlichen Europa eine Auseinandersetzung mit den Grundlagen der eigenen Kultur, in Griechenland dagegen ein Studium zur Selbsterkenntnis (αὐτογνωσία).29 Eine Reihe seiner Publikationen in der Tagespresse in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts beschäftigt sich infolge dieser Haltung direkt mit dem griechischen Bildungssystem, seinen Schwächen und etlichen konkreten Verbesserungsvorschlägen. Diese Reihen30 entsprangen zunächst dem persönlichen Interesse eines Vaters schulpflichtiger Kinder,31 sind aber auch eine Bilanz von zehn Jahren kultureller Auswirkungen der gesellschaftlichen Neuordnung nach dem Ende der Militärdiktatur 1974, der Metapolitevsi.32 Betrachtet man die heutige Situation, drei Jahrzehnte später, so kann man zu dem Schluss kommen, dass weder die absoluten Verfechter der Katharevoussa noch die der Dimotiki gesiegt haben. Beide Gruppen vertraten nämlich die Position, nur eine einheitliche Sprache, mit einem in sich geschlossenen System der Phonologie, Morphologie, Syntax und Lexik könne das angemessene Instrument der Verständigung unter den Bürgern des griechischen Nationalstaates sein. Obwohl formell die Dimotiki in allen gesellschaftlichen Bereichen als offizielle Sprache gilt, hat sich die Katharevoussa in einzelnen, aber viel gebrauchten Wendungen erhalten. Sie stellt weiterhin Morpheme für die Wortbildung zur Verfügung und ist insbesondere im religiösen Kontext nach wie vor in Gebrauch, da sie eine besondere Atmosphäre von Sakralität generiert. Zwar wurde die Grammatik etwa durch die Abschaffung des Konjunktivs und bestimmter Kasusflexionen vereinfacht und das Akzentsystem vereinheitlicht, aber auf die Einführung einer phonetischen Orthographie wurde, unter anderem aufgrund der zahlreichen Homophone, verzichtet. Das heutige Griechisch verfügt beispielsweise über fünf Schreibweisen für den Laut [i], nämlich ι, υ, η, ει und οι, mehrere für [ε] (ε, αι) und [o] (ο, ω) usw., was bedeutet, dass eigentlich nur eine Person mit soliden Kenntnissen des Altgriechischen die Etymologie und Orthographie der neugriechischen Sprache beherrschen kann. Eine so extreme Maßnahme wie eine grundlegende Rechtschreibreform wurde von politischer Seite jedoch nie ernsthaft erwogen, wohl deswegen, weil der Eingriff in die Sprache zu massiv gewesen wäre und weil eine Vereinfachung auf 29 Ramfos GA 5: 134. 30 Zusammengefasst in GA 5 und 6: Ὀνομάτων ἐπίσκεψις [Gedanken über Namen] und Ἐλευθερία καὶ γλῶσσα [Freiheit und Sprache]. 31 Ramfos GA 5: 17. 32 Ibid.: 7 f.

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der anderen Seite wiederum wegen der zahlreichen Homophone weitere Komplikationen gebracht hätte. Die heutigen griechischen Sprecher bevorzugen eine Mischform aus der gelehrten und der gesprochenen Variante. So hat die Abschaffung der Katharevoussa von offizieller Seite schließlich dazu geführt, dass sich die Grenzen zwischen den beiden Varietäten und die scheinbaren Gegensätze der zunächst einander ausschließenden Positionen auflösten: Von der Dimotiki hat das heutige Griechisch die Lebendigkeit und die Flexibilität der Morphologie, von der Katharevoussa die poetische Dimension und den mannigfaltigen Wortschatz.33 Die Position, die Ramfos in der Diskussion um die Sprache einnimmt, ist aus der Geschichte dieses Streits zu verstehen.34 Zunächst ist hervorzuheben, dass die Sprache neben der Orthodoxie die zweitwichtigste Komponente in der Definition des griechischen Nationsbegriffs ist. Die Sprache wurde und wird in Griechenland nicht nur als Ausdrucksmittel im Alltag verwendet, sondern sie ist auch ein hoch umstrittenes Gut, deren Besitz, ähnlich den religiösen Symbolen, die Herrschaft legitimiert. Beaton35 spricht auch von “talismanic properties”, Mackridge von einer „Verdinglichung“ der Sprache,36 was bedeutet, dass jede gesellschaftliche Bewegung der noch nicht endgültig kodifizierten Sprache ihren eigenen Stempel aufdrücken will. Folgt man Pierre Bourdieus Auffassung, der zufolge Sprache nicht nur der Kommunikation dient, sondern auch ein Instrument der Macht ist,37 ist auch die Auseinandersetzung um die für alle Sprecher verbindliche Form der Sprache von großem politischen Gewicht. Bis in die jüngste Zeit lassen sich die einzelnen Positionen hinsichtlich der korrekten Sprachanwendung zumindest tendenziell auch bestimmten politischen Richtungen zuordnen.38 Die griechisch-orthodoxe Kirche, insbesondere ihr konservativer Flügel, verwendet bis heute unter bestimmten Umständen die Katharevoussa, und stellt damit ein Extrem dar; zwischen dieser Position und der forcierten Verwendung auch überzogener Formen der Dimotiki seitens einiger Mitglieder der Kommunistischen Partei KKE, anderen Linksbündnissen und der sozialistischen Partei PASOK gibt es eine Vielzahl von Zwischenformen, die verschiedene gesellschaftlichen Positionen widerspiegeln. 33 Mackridge 2009: 329 f. 34 Die folgenden Ausführungen über die Geschichte der Sprachenfrage basieren auf dem Buch von Peter Mackridge von 2009. Andere kurz gefasste Überblicke über die Geschichte der Sprachenfrage in Griechenland finden sich bei Beaton 1999: 296–365 und Horrocks 1997: 344–362, sowie Adrados 2002, hier zum Thema des Sprachstreits vor allem die Seiten 286–290. 35 Beaton 1999: 350, zitiert nach Mackridge 2009: 5. 36 Mackridge 2009: 5. 37 Thompson 1991: 1. 38 Mackridge 2009: 322.

Die Sprachenfrage – Konservative Position und Sprachmystik

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Tendenziell hat sich die strenge Unterscheidung von Katharevoussa und Dimotiki nach der Abschaffung der ersteren relativiert; von Verfechtern der einen oder anderen Sprache in ihrer Reinform kann eigentlich nicht mehr gesprochen werden. Ramfos selbst schreibt in der Dimotiki, wenn auch in einer sehr gewählten und gelehrten Form und streng polytonisch, das heißt, unter Verwendung der drei Akzentformen und der Hauchzeichen, und einigen grammatikalischen Besonderheiten, insbesondere der Beibehaltung des heute auch in der Schriftsprache nicht mehr gebräuchlichen Konjunktivs. Ramfos’ Position in der Sprachenfrage in den achtziger Jahren lässt sich aufgrund seiner Werturteile im konservativen, orthodox orientierten Spektrum ansiedeln, was auch in den Organen seiner Publikation deutlich wird; das sind einmal die renommierte Tageszeitung Η Καθημερινή [I Kathimerini],39 die als Flaggschiff des konservativen Lagers gilt, sowie die theologischen Zeitschrift Σύναξη [Synaxi]40 und die Zeitung Ὀρθόδοξος Τύπος [Orthodoxos Typos].41 Reduziert man seine Vorliebe alleine auf seine ideologische, neoorthodoxe Ausrichtung jener Zeit, wäre sie wohl eine recht bizarre Idiosynkrasie, zumal er sie auch nach seiner Kehre beibehalten hat. Die Tatsache, dass Ramfos bis heute für alle seine Veröffentlichungen auf der polytonischen Schreibweise besteht, gibt seinen Schriften auch rein optisch einen ästhetischen, aber auch elitären Anstrich.

6.2.3 Sprachmystik Für Ramfos tritt sicherlich die politische Dimension der Sprachwahl hinter die ästhetische und poetische zurück. Seine Vorliebe für eine extrem gewählte, aber auch elegante und flüssige Sprache ist unter anderem einer der Gründe für seine Beliebtheit – übrigens auch in den Medien des gesprochenen Wortes, in Radio und Fernsehen – beim Publikum. Sie ist also in gewisser Weise auch sein Markenzeichen. 39 Zu nennen wären hier die Beiträge aus den Sonntagsbeilagen aus den Jahren 1984– 1985, zusammengefasst in einem Band mit dem Titel Κυριακοδρόμιο [Sonntagsgang], jetzt in Ramfos GA 5: 173–303, sowie die Artikel Μονοτονισμένη μουσική [Musik mit nur einem Akzent] (01. & 08.06.1986), Ἀδιαίρετα Ἑλληνικά [Unzertrennliches Griechisch] (03. & 10.01.1987), Ὁ ἄνθρωπος τοῦ Καίσαρος καὶ ὁ ἄνθρωπος τοῦ Θεοῦ [Der Mensch des Kaisers und der Mensch Gottes] (10/1987), Οὐρανὸς τὸ σπήλαιον [Die Höhle wird zum Himmel] (Weihnachten 1986). 40 Τέχνη ἀχειροποίητη, Λόγος ἀμετάφραστος [Kunst, nicht von menschlicher Hand, und unübersetzbare Rede] (20/1986). 41 Οἱ πεθαμένοι καὶ ἡ ἀνάσταση [Die Toten und die Auferstehung] (10 & 17.04.1987), Ἡ χάρις καὶ ἡ φθορά [Gnade und Untergang] (15.05.1987).

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Neben dem Wiedererkennungsfaktor ist jedoch Ramfos’ Sprache auch seinen philosophisch-literarischen Vorlieben und einer Besonderheit der griechischen Sprache geschuldet, die er immer wieder herausstellt: ihre spirituelle Dimension. So stellt er fest, dass die Sprachphilosophie der Aufklärung im lateinischen Sprachraum zwar ihre Berechtigung hatte, sie sei aber, auf das Griechische angewendet, wenig nützlich, da – und hier zeigt sich wieder eine neoorthodoxe und nationale Tendenz – das Griechische als die ältere und der Spiritualität zugeneigte Sprache ganz anderen Gesetzen gehorche: Das Wort als Zeichen der Idee, und infolgedessen die Sprache als Mittel der Erkenntnis und Förderin der Ausbreitung der Weisheit, sind Grundlagen, die jemand, der sich mit unserer Tradition auseinandersetzt und sich in die griechische Kultur vertieft hat, nicht ohne Weiteres akzeptieren würde. Er hatte gelernt, dass die Wörter nicht nur Träger einer Bedeutung sind, sondern dass diese als selbständige Einheiten geistiger und materieller Struktur funktionieren, als „Typen“ und Symbole, die in den Windungen des Satzes aufgeladen werden und das Übersinnliche benennen. Ist es ein Zufall, dass die Wahrheit im Altertum das Hervorscheinen der Existenz und des Zeigens des Seienden bedeutete? Die Dinge sprechen in ihrer Daseinsform und nicht im bedeutungshaften Inhalt des Wortes, welches sie unter diesen Umstanden nicht abbildet, sondern bildet. Wenn das Wort eine bestimmte Vorstellung transportiert, ganz wie ein Wagen, so wird es zu einem Zeichen […] Der Begriff Idee etwa beinhaltet die Energie des Sehens (ἰδεῖν), es ist die Daseinsform dieser Energie und nicht ein Zeichen dafür.42

Während in den modernen Sprachen lateinischen Ursprungs beziehungsweise im Einflussbereich des Lateinischen die unmissverständliche Kommunikation und die Präzision der Begriffe im Vordergrund steht, führt eine der griechischen Sprache angemessene Form der Sprachphilosophie das Wort nicht auf eine Konvention zurück, sondern es manifestiert sich im Wort das „Verweisen auf etwas Unfassbares“.43 42 „Ἡ λέξι ὡς σημεῖο τῆς ἰδέας καὶ κατὰ προέκτασι ἡ γλῶσσα ὡς μέσον γνώσεως καὶ παράγων ἐξαπλώσεως τῆς σοφίας δὲν εἶναι ἀρχὲς ποὺ θὰ δεχόταν ἀσυζητητὶ ὅποιος ἔχει ἐπαφὴ μὲ τὴν πνευματική μας παράδοση καὶ ἔχει κάπως ἐμβαθύνει στὰ τῆς ἑλληνικῆς. Θὰ εἶχε μάθει πὼς οἱ λέξεις δὲν φέρουν ἁπλῶς ἔννοιες ἀλλὰ συγκροτοῦν αὐτόνομες ὀντότητες πνευματικῆς καὶ ὑλικῆς ὑφῆς, ‘τύπους’ ἢ σύμβολα ποὺ ἐνεργοποιούμενα στοὺς κόλπους τῆς φράσεως ὀνοματίζουν τὸ ὑπεραισθητό. Εἶναι τυχαῖο ὅτι ἀλήθεια σήμαινε κατὰ τὴν Ἀρχαιότητα τὴν προφάνεια τῆς ὑπάρξεως καὶ τῆς δηλώσεως τῶν ὄντων; Τὰ πράγματα μιλᾶνε στὴν ὑπόστασι καὶ ὄχι στὸ ἐννοιολογικὸ περιεχόμενο τῆς λέξεως, ποὺ κατ’ αὐτὸ τὸν τρόπο δὲν τὰ εἰκονίζει ἀλλὰ τὰ μορφώνει, τὰ ποιεῖ. Ὅταν ἠ λέξι μεταφέρῃ ὡρισμένη παράστασι δίκην ὀχήματος γίνεται σημεῖο […] Ὁ ὅρος ἰδέα, αἴφνης, ἐνσαρκώνει τὴν ἐνέργεια τῆς ὁράσεως (ἰδεῖν), εἶναι ἡ ὑπόστασι αὐτῆς τῆς ἐνέργειας καὶ ὄχι τὸ σημεῖο της.“ (Ramfos GA 6: 50. Hervorhebung vom Autor). 43 Ramfos GA 6: 51.

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Die liturgische Poesie, in ihrer ursprünglichen Form reinster Ausdruck griechischer Spiritualität, beinhaltet in ihrer Gesamtheit eine anagogische Dynamik, mithin die Kraft, den Menschen zu Gott zu erheben. Ihre Bedeutung erschließt sich nicht allein in der Semantik der Worte, sondern in der Verbindung des Gläubigen mit der Gemeinde in der liturgischen Praxis. Kein lyrisches „Ich“ des Dichters wendet sich an das „Ich“ des Hörers, sondern es geht um die kollektive Erfahrung, im Laufe derer auch ein illiterater Gläubiger den Sinn besser erfasst als ein Gelehrter mit seinem intellektuellen Zugang.44 Die Musikalität der griechischen Sprache, die sich nicht in der reinen Funktion der Übermittlung von Bedeutung erschöpft, spricht somit „direkt in die Seele des Gläubigen, gleich wie ungebildet er auch sein mag […] die Worte finden ihren mystischen Widerhall in ihm“.45 Diese mystische Dimension der antiken Sprache hat sich durch das Mittelalter hindurch in den antikisierenden Attizismen der byzantinischen Hymnen bis in die Gegenwart erhalten. Eine Übersetzung etwa der liturgischen Texte in eine moderne Sprachform wäre demnach absurd und würde die Texte ihrer eigentlichen Bedeutung entkleiden; sie würde allenfalls die griechische Kultur dem spirituell verarmten Westen wieder ein Stück näher bringen.46 Daher wird eine Vereinfachung der Sprache, insbesondere die einheitliche Abbildung aller Laute durch jeweils nur ein Zeichen, ihre diachrone Dimension und die poetische Leuchtkraft ihrer Polysemie unweigerlich vernichten: In unserem Falle, wo die Geschichte bis in das Substrat des Lautvorrats unserer Sprache reicht, ist die Bedeutung – dies ist die historische Tiefe der griechischen Rechtschreibung – mit der musikalischen Struktur des Wortes verbunden. In dem Augenblick, wo diese Struktur durch einen staatlichen Eingriff zerstört wird, wird die lautgetreue Schrift, die dann entstehen wird, […] einer eindeutigen und ahistorischen Sprache entsprechen, da die Bedeutung die Begriffe hervorbringen wird, anstatt dass die Bedeutung aus der Gesamtheit des Wortes entspringt […] Das Wort verliert im selben Augenblick die Polysemie, sobald es seine Vergangenheit abwirft, und gleichzeitig wird es im Grunde genommen nutzlos als Ort der Kreativität, was auf Kosten der Kultur geht. Diesen Weg hat das [griechische, Anm. I. S.] Volk mit seiner Einführung des neuen Akzentsystems und seiner simplizistischen Logik eingeschlagen.47

44 Ibid.: 163. 45 „Ἐὰν ἡ ἀττικίζουσα ἐκκλησιαστικὴ μας ποίησι μιλᾷ στὴν ψυχὴ τοῦ πιστοῦ, ὅσο ἄξεστος κι ἂν εἶναι, ὀφείλεται στὸ ὅτι πέρα τῆς προσιτῆς καὶ ἀπροσίτου ἐννοίας των, οἱ λέξεις βρίσκουν μυστικὸ ἀντίκρυσμα ἐντός του.“ (Ibid.: 51). 46 Ibid.: 165 ff. 47 „[…] στὴν περίπτωσί μας, ποὺ ἡ ἱστορία φθάνει μέχρι τὸ φωνολογικὸ ὑπόστρωμα τῆς γλώσσας, ἡ σημασία – αὐτὸ εἶναι τὸ βάθος τῆς ἑλληνικῆς ἱστορικῆς ὀρθογραφίας – συμπλέκεται μὲ τὴν μουσικὴ ὑφὴ τοῦ λόγου. Ἀφ’ ἧς στιγμῆς ἡ ὑφὴ τούτη καταργηθῇ

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Das historische Argument, dass die Akzente ohnehin erst in hellenistischer Zeit, also lange nach der Abfassung der berühmtesten altgriechischen Texte eingeführt wurden, um eine inzwischen nicht mehr existente sprachliche Wirklichkeit künstlich abzubilden und weiter zu tradieren, sieht Ramfos nicht als Grund, diese wieder abzuschaffen, sondern im Gegenteil als Argument für deren Beibehaltung.48 Ramfos zitiert Platons Dialog Kratylos, wobei der Eindruck entsteht, dort würde der Auffassung widersprochen, dass die Bedeutung der Wörter auf Konvention beruhe:49 „Das Wort der Antiken ist kein Mittel zum Zweck, es ist ein In-KraftSetzen, (eine Handlung), lesen wir im Kratylos.“50 Tatsächlich führt Platon in diesem Werk zwei Auffassungen hinsichtlich der Herkunft der Namen der Dinge (ὀνόματα) vor, wobei der eine Dialogpartner, nämlich Kratylos die sogenannte physei-These vertritt, der zufolge die Namen wie auch die Dinge von Natur aus (φύσει) existieren und daher das Sein der Dinge korrekt wiedergeben. Anders behauptet der andere Dialogpartner Hermogenes, die Richtigkeit der Namen sei relativ, da diese durch gesellschaftliche Konvention (θέσει) festgelegt wurden; mithin sei also jede Bezeichnung, die wir den Dingen geben, richtig. Sokrates untergräbt beide Positionen und stellt den Werkzeugcharakter der Sprache in den Mittelpunkt, wobei er die „Richtigkeit der Bezeichnungen weder als arbiträr noch als durch die Natur der Dinge als gegeben kennzeichnet“,51 sodass die Richtigkeit der Bezeichnungen letztlich, abgeleitet aus Platons Ideenlehre, auf ihrem Bezug zwischen den sinnlich wahrnehmbaren Dingen und den ihnen zugrunde liegenden Ideen fußt.52 Die mystische Sprachphilosophie, die Ramfos als Begründung für seine Forderung heranzieht, die griechische Sprache auf ihrem hybriden Niveau des 19. und frühen 20. Jahrhunderts unbeeinflusst von modernen sprachlichen Entwicklungen zu belassen, mutet sehr bemüht an, hat aber im Gesamtkontext von

48 49 50 51 52

διὰ διατάγματος, ἡ φωνητικὴ γραφὴ ποὺ θὰ προκύψῃ […] θὰ ἀντιστοιχῇ σὲ ἰδίωμα μονοσήμαντο καὶ ἀνιστορικό, ἐπειδὴ ἀκριβῶς ἡ σημασία θὰ εἶναι παράγωγο τῶν ἐννοιῶν ἀντὶ νὰ ξεπηδήσῃ ἀπὸ σύνολη τὴν λέξι […] Χάνοντας τὴν ἱστορία ἡ λέξι ἀποβάλλει τὴν πολυσημία, γιὰ νὰ ἀχρηστευθῇ οὐσιαστικὰ ὡς τόπος δημιουργίας εἰς βάρος τοῦ πολιτισμοῦ. Αὐτὸ τὸ δρόμο πῆρε τὸ Ἔθνος μὲ τὴν καθιέρωσι τοῦ μονοτονικοῦ καὶ τὴν νομιμοποίησι τῆς ἁπλουστευτικῆς λογικῆς του.“ (Ibid.: 108). Ibid.: 106; 110. Ibid.: 51 und öfter, sowie Ramfos GA 2: 58. Ramfos GA 2: 58. Kittel/House/Schultze 2011: 129. Zur Platons Sprachphilosophie im Kratylos und in den späteren Schriften siehe Derbolav 1972; zu Sprache und Ontologie im Kratylos Kahn 1973.

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Ramfos’ philosophischem Werk ihren Platz, da sie sich in die anderen platonisch inspirierten Themen einreiht. So trennt nach Ramfos der aufgeklärte, westliche Mensch die Welt von den Gedanken und die Worte von den Dingen, während die griechische Sprache die sinnliche Wahrnehmung mitberücksichtigt und damit die Dinge vollständig wiedergibt. Damit möchte er unterstreichen, dass der Gehalt der Wörter nicht ihr darstellerisches Vermögen ist, sondern das Spannungsfeld zwischen Idee und sinnlicher Wahrnehmung.53 Mehrfach betont Ramfos die Besonderheit der griechischen Sprache auch mit Verweis auf die Mühen der Übersetzer, wie er selbst einer war, als er seine in Französisch verfassten Artikel zur Neuveröffentlichung ins Griechische übertrug.54 Anders als die Sprachen lateinischen Ursprungs, die aufgrund ihres jüngeren Alters und ihrer Bevorzugung des Nominalstils tendenziell abstrakt und eindeutig seien und so einen Sachverhalt logisch abbildeten, seien im Griechischen durch den Verbalstil und die poetische Polysemie des Altgriechischen vergleichbare Strukturen nicht abzubilden gewesen.55 Aus der unterschiedlichen Beschaffenheit der Sprachen leitet Ramfos allerdings auch geradezu metaphysische Differenzen ab. Hier liegt denn auch die Wurzel der Auseinandersetzung um eine angemessene zeitgenössische Form der griechischen Sprache. Den Modernisierern, die für eine Annäherung der gesprochenen und der geschriebenen Sprache und eine gewisse Rationalisierung streiten, steht hier ein Verteidiger von Poesie, Musikalität und spiritueller Dimension der Sprache gegenüber. Tatsächlich verfügt kaum eine andere moderne Sprache über die historische Tiefe des Griechischen und, was noch bedeutender ist, über den Nimbus der Sprachen heiliger Schriften. Vergleichbar hinsichtlich des Alters ist das Griechische allenfalls noch mit dem Mandarin oder, was die Mehrschichtigkeit der sprachlichen Ausdrucksform betrifft, dem Arabischen, das aus ähnlichen Gründen über eine im Mittelalter kodifizierte Schriftsprache verfügt und deren Dialekte sowohl 53 „[…] ὅτι ‚οὐσία‘ τῶν λέξεων δὲν εἶναι ἡ ἀναπαραστατική τους δύναμι ἀλλὰ ἡ διελκυστίνδα ἐννοίας καὶ αἰσθήσεως.“ (Ramfos GA 6: 249). Das Thema der Verbindung von Sinngehalt und Wahrnehmung taucht in abgewandelter Form auch in Ramfos’ besonderer Behandlung des Erkenntnisvorgangs im griechisch-orthodoxen Kontext im Sinne einer Verbindung von rationaler und sinnlicher Wahrnehmung auf, dazu oben Kapitel 4.5 Gottesschau und byzantinischer Humanismus: Symeon der Neue Theologe. 54 Dies ist das Thema seines Vortrags Ἡ προδοσία τῆς μεταφράσεως [Der Verrat der Übersetzung] im Rahmen einer Tagung zum Thema Πρωτότυπο καὶ μετάφραση [Original und Übersetzung] vom 11.12.1978, heute in Ramfos GA 6: 23–31. 55 Ibid.: 23 f.

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untereinander als auch im Vergleich zur Hochsprache immense Unterschiede aufweisen.56 Ramfos’ Versuch, diese sprachliche Besonderheit zu verteidigen, ist durchaus legitim und in der europäischen Sprachphilosophie keineswegs isoliert. Er erinnert in mancher Hinsicht an die Hinwendung deutscher romantischer Philosophen zu der jüdischen Offenbarung und der Kabbala.57 Ihr Interesse an Naturphilosophie, Magie, Pantheismus und mystischen Sprachtheorien sowie deren Symbolismus markierte eine Gegenbewegung zur Aufklärung und entfachte eine Auseinandersetzung über die Sprache,58 die in Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht zuletzt die Sprachmystik der Dichter des George-Kreises hervorbrachte. Das von ihnen diskutierte Problem des Verhältnisses von Sprache und Wirklichkeit beeinflusste wiederum auch die Sprachphilosophie von Martin Heidegger. Dieser unterstreicht die besondere Natur der Sprache, die aufgrund ihrer Reflexivität (wir nutzen die Sprache, um über sie nachzudenken) anderen Gesetzen gehorcht als den logischen. Die lyrische Dichtung, insbesondere das Werk Stefan Georges, weist nach Heidegger auf die besondere Verbindung von Sprache und Sein hin.59 In der Nachfolge von Walter Benjamin verwendet Aleida Assmann den Begriff der „Offenbarungssprache“ im Gegensatz zur im Alltag gebrauchten „Kommunikationssprache“:

56 Ibid.: 145. Eine Ausnahme stellt hier möglicherweise das Ägyptische dar, das durch die Medien von Kino und Fernsehen in den fünfziger und sechziger Jahren auch außerhalb seiner Ursprungsregion verstanden und nicht selten als eine Art der mündliche lingua franca in der Kommunikation arabischer Sprecher aus weit voneinander entfernten Gebieten verwendet wurde (Darwish 2009: 44, hier auch eine Diskussion des Diglossiephänomens für die arabische Sprache, ibid. 44 ff.) Zum Diglossiephänomen in der Koine und dem Arabischen vgl. Niehoff-Panagiotidis 1994. 57 Einer der größte Kenner der Kabbala im 19. Jahrhundert war Franz Joseph Molitor (1779–1860). In seinen jahrzehntelangen Forschungen zu Kabbala, Talmud und jüdischer Philosophie mischten sich ebenso wie in seinen Publikationen sowohl Philologie und Historiographie als auch Theologie, Geschichts- und Sprachphilosophie. In ihm bündelte sich fast das gesamte Spektrum von vielfältigen, heterogenen Zugangsweisen und Interessen in der gelehrten christlichen Kabbala-Rezeption der Romantik in Deutschland (Goodman-Thau/Mattenklott/Schulte 1994). 58 Zur Kabbala und der jüdischen Mystik in der romantischen Geistesgeschichte Goodman-Thau/Mattenklott/Schulte 1994. 59 Gordon 2000: 35 ff.

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Es gibt seit der Antike sehr unterschiedliche Auffassungen von Sprache, von ihrer Funktionsweise, ihren Möglichkeiten, ihrer Bestimmung. Die grundsätzlichste Unterscheidung ist die, ob die Sprache als ein Medium der Kommunikation zwischen Menschen oder als Medium der Offenbarung zwischen Gott (oder einer anderen übersinnlichen Instanz) und den Menschen aufgefasst wird. Im ersten Falle ist die Bestimmung der Sprache ihre Klarheit; Sprache und Schrift sind dazu da, eine Mitteilung so unverstellt wie möglich zu artikulieren. Im zweiten Falle ist die Bestimmung der Sprache ihr Geheimnis; statt auf Mitteilungen hin durchsichtig zu werden, verdichten sich hier Sprache und Schrift zu einer Dunkelheit, welche als Quelle von Offenbarung erfahren wird. Eine Sprach und Schrifttheorie, die nicht von menschlichen, sondern von göttlichen Artikulationen ausgeht, lässt sich keiner Kommunikationstheorie und -technologie unterordnen. Sie widersteht dem rationalisierenden Zugriff einer instrumentellen Vernunft.60

Was für das Hebräische als Sprache des Heiligen Geistes gilt, kann mutatis mutandis auch für das Griechische in Ramfos’ Argumentation gelten. Ramfos’ Sprachmystik fügt sich auch gut in die Ideologie der Neoorthodoxen ein, die in der emotional geführten Diskussion sämtliche westlichen Kulturausprägungen zunächst einmal radikal von den eigenen, griechisch-orthodoxen unterscheidet und dann als „geistlos“ diskreditiert. Mit den Entwicklungen der strukturalistischen Sprachwissenschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts weiß Ramfos dementsprechend wenig anzufangen. Eine strukturalistische Sprachanalyse im Sinne von Ferdinand de Saussure61 schließt er für die griechische Sprache als unangemessen aus, da diese Reduktion auf Zeichenkörper (signifiant) und Bezeichnetes (signifié) ihrer intrinsischen Musikalität, diachronischen Vielfalt und bilderreichen Poesie widerspricht.62 So erklärt sich auch, weshalb ein großer Teil von Ramfos’ besonders streitbaren Texten sich ausgerechnet mit dem nur scheinbar unpolitischen Bereich der korrekten und für alle Griechen verbindlichen Form der Sprache auseinandersetzt. In der Sprache findet sich für ihn nämlich der Kern der griechischen Kultur. Hier liegt der Ausgangspunkt des gesamten Denkens, der Philosophie und auch der göttlichen Offenbarung, hier sucht und findet der Leser den Zugang zur Musik, zur Schönheit und zu Gott.

60 Assmann 1994: 23. 61 Charles Bally, Albert Sechehaye (Hg.), Ferdinand de Saussure, Cours de linguistique générale, unter Mitarbeit von Albert Riedlinger, Lausanne, Paris 1916. 62 Der Artikel Νεοελληνικὴ ἀφασία γιὰ τὸ Γυμνάσιο. Τὸ μήνυμα ἑνὸς „ἀνανεωτικοῦ“ σχολικοῦ βοηθήματος [Neugriechische Aphasie für die Mittelschule. Die Botschaft eines `innovativen´ Unterrichtsmittels] vom 26.05.1985, jetzt in Ramfos GA 5: 221–229, oder allgemeiner in Ramfos GA 6: 106 und passim.

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6.3 Literatur im neoorthodoxen Kontext: Alexandros Papadiamantis 6.3.1  Papadiamantis und der Beginn der neugriechischen Prosa Eine besondere Stellung in Ramfos Werk nimmt der einzige neuzeitliche griechische Autor ein, den Ramfos als literarischen Gewährsmann für seine neoorthodox beeinflusste Vorstellung von einer kulturellen Spaltung in Ost und West benutzt. Es handelt sich um den Romancier und Novellenautor Alexandros Papadiamantis (1851–1911). Dieser gilt heute als einer der großen Schriftsteller, wenn nicht als der bedeutendste Erzähler der neugriechischen Literatur schlechthin, was neben seiner höchst differenzierten, meisterhaften Sprache vor allem an seiner scheinbar naiven, direkten Art des Erzählens liegt. Seine Geschichten sind durchdrungen von Sensibilität und Authentizität bei der Schilderung von einfachen Menschen innerhalb der mediterranen, von der orthodoxen Frömmigkeit geprägten Welt, in der diese leben. In einem viel beachteten Essay über den zur damaligen Zeit, also den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts, zu Unrecht vergessenen Dichterkollegen schreibt der Nobelpreisträger Odysseas Elytis: Auf welcher Seite seiner Erzählungen wir auch verweilen, stets begegnen wir dort hinter dem Christen auch dem Griechen, hinter dem mystisch Fühlenden dem mediterran Sinnlichen, hinter dem Menschen der Kirche dem des Leibes, der duftenden Kräuter und Strände. […] Immer begreifen wir, dass die Natur für ihn weder Rückzugsort noch Trost oder Erleichterung bedeutet. Ebenso wenig stellt sie eine finstere und dämonische Macht dar. Sie ist der ewige und unvergängliche Rahmen, der die Schöpfung zusammenhält, ein Bürge für das, was wir sind oder sein können.63

Papadiamantis besitzt zahlreiche Berührungspunkte zur literarischen Tradition des Verismo der südlichen Romania, insbesondere Italiens.64 Seine Erzählungen schildern ebenso das Leben der Bewohner seiner Heimatinsel Skiathos wie das der Menschen in den ärmlichen Vierteln seiner Wahlheimat Athen, deren Lebensumstände zwar außergewöhnlich hart sind, die aber dennoch über den spirituellen Reichtum ihrer orthodoxen Tradition verfügen.

63 Elytis, Odysseas: Die Magie von Papadiamantis. Wer in Weiß gewandet ist (griechische Erstveröffentlichung 1976) deutsch übersetzt in: Mitsou/Oikonomou 2005: 280. 64 Ein Vergleich der Autoren Papadiamantis und Giovanni Verga, sein Zeitgenosse aus Sizilien, sowie die Herausarbeitung ihrer inhaltlichen und stilistischen Gemeinsamkeiten findet sich in: Schwaderer 2000/2001.

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Papadiamantis galt sein Leben lang als unangepasster, eigenbrötlerischer Autor, der niemals Geschmack am Lebensstil der städtischen Bourgeoisie fand, allein lebte und kinderlos starb, weswegen ihn bald schon der Nimbus des „weltlichen Mönchs“ (ὁ κοσμοκαλόγερος) umgab.65 Für Ramfos’ Auffassung von einer orthodox-byzantinisch geprägten griechischen Identität als Fortentwicklung der heidnischen Antike ist Papadiamantis ein treffendes Beispiel des Rhomäers, des nicht westlich beeinflussten Griechen, zumal er auch als letzter bedeutender griechischer Autor gilt, der in der Katharevoussa, wenn auch mit Einschüben in der Volkssprache schreibt. Dies weist auf die spätere Verdrängung der Reinsprache aus der Literatur voraus; für Ramfos ist er damit jedoch einer der letzten Bewahrer der anspruchsvollen antikisierenden Sprache und liegt auf seiner Linie in der Sprachenfrage.66 Papadiamantis’ Verankerung in der orthodoxen Tradition und seine meisterhafte, als unübersetzbar geltende Sprache sind für Ramfos also die Ausgangspunkte seiner Überlegungen zu diesem Autor. Ramfos liest auch ihn streng genommen aus einer neoorthodoxen Perspektive, was bedeutet, dass er auch im Werk des Papadiamantis wieder die unterschiedlichen kulturellen Muster in Europa und

65 Ramfos GA 2: 68. Michail Peranthis veröffentlichte 1948 einen biographischen Roman über Alexandros Papadiamantis. Im Klappentext einer späteren Auflage des Buchs beschreibt Peranthis seinen Zugang zu seiner Hauptfigur mit einer Intimität, aber auch Demut, die die Tradition der byzantinischen Heiligenviten erahnen lässt. Papadiamantis erscheint ihm postum und ist seine ständige Inspirationsquelle bei der Arbeit: „Ἡ μορφή τοῦ Ἀλεξάνδρου Παπαδιαμάντη μοῦ παράστεκε μέρα καί νύχτα κι ἡ ἁγιότητα τῆς ψυχῆς του διαπότιζε τήν διάθεσή μου. Κουβέντιαζα μαζί του, ἐρχόταν στόν ὕπνο μου, καί πολλές φορές στόν δρόμο νόμιζα πάλι πώς τόν βλέπω νά στρίβει ἀθόρυβος σέ κάποια γωνιά. Ὁ Παπαδιαμάντης βρισκόταν συνεχῶς μπροστά μου. Κι ἦταν περίπου σάν νά συνεργαζόμαστε. Ὅταν κατέστρωνα τό σχέδιο τῆς ψυχολογίας του, ὅταν πάσχιζα νά εἰσδύσω στίς ἐσωτερικές του κυμάνσεις, διαισθανόμουν τίς ἐπιφυλάξεις καί μάντευα τίς συγκατανεύσεις του. Δέν καταστάλαξα ποτέ σέ μιά τελική διαπίστωση ἄν δέν μέ ἀνάπαυε ἡ ἐντύπωση πώς ἦταν κι ἐκεῖνος σύμφωνος.“ [Die Gestalt des Alexandros Papadiamantis stand mir Tag und Nacht bei, sie erschien mir im Traum, und oft hatte ich auf der Straße den Eindruck, er biege gerade lautlos um eine Ecke. Ich hatte Papadiamantis ständig vor Augen. Und es war fast so, als arbeiteten wir zusammen. Als ich den Entwurf seiner psychischen Struktur anfertigte und als ich mich abkämpfte, um in seine inneren Geheimnisse einzudringen, fühlte ich seine Zurückhaltung und erriet seine Hinweise. Ich rang mich nie zu einer endgültigen Entscheidung durch, wenn ich nicht den beruhigenden Eindruck hatte, dass auch er einverstanden war.] Die eigenwillige Akzentsetzung entspricht der Vorlage. 66 Vgl. Elytis 2005: 281 f. und 287 f.; sowie Coulmas 1995: 155 f.

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Griechenland im Blick hat. In einem wichtigen Essay aus dem Jahr 197667 versucht er nachzuzeichnen, wie sich Papadiamantis von der Imitation der europäischen Literatur hin zu einem griechisch-orthodoxen Stil entwickelt hat.68 Es ist zwar hinlänglich bekannt, dass Papadiamantis, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, sehr eifrig als Übersetzer moderner französischer und englischer Literatur ins Griechische tätig war. Es ist die Rede von etwa 14 000 Seiten übersetzter literarischer Texte.69 Es ist allerdings nicht ganz klar, wie stark der Einfluss dieser Texte auf sein eigenes literarisches Schaffen tatsächlich gewesen ist. Mit wenigen Ausnahmen sehen griechische wie nichtgriechische Kritiker den schwer festzulegenden Papadiamantis als ein rein griechisches Phänomen an; Ramfos ist also nicht der einzige Interpret, der ihn zu seinen eigenen hermeneutischen Zwecken verwendet, ja ihn sogar zur orthodoxen Ikone stilisiert. Ramfos’ Lektüre von Papadiamantis spielt sich im neoorthodoxen Spannungsfeld von Tradition und Moderne, Osten und Westen ab. So hat Papadiamantis zu Beginn seiner schriftstellerischen Tätigkeit zwar nach europäischem Vorbild drei Romane verfasst, sich später aber der kleineren Erzählform zugewandt, die dem orthodoxen Lebensentwurf in vollkommener Weise entspreche. Nun ist der Roman, wie der Name schon suggeriert, eine westliche literarische Entwicklung, die zwar schon im Mittelalter in der byzantinischen Literatur Eingang fand, dort jedoch entsprechend der orthodoxen Lebensweise umgeformt wurde.70 Besonders beliebt waren insbesondere die ritterlichen Liebes- und Abenteuerromane, die in Übersetzungen in ganz Europa Verbreitung fanden. Aus dieser Tradition speist sich auch der große und erste moderne Roman von Miguel de Cervantes El ingenioso hidalgo Don Quixote de la Mancha,71 der freilich bereits als Parodie auf die Gattung der Ritterromane zu verstehen ist. Dort wird die groteske Tragik eines Individuums gezeigt, das keinen Bezug mehr zur Wirklichkeit findet. Diesen Roman verwendet Ramfos als Folie für seine Herausarbeitung der kulturellen Ost-West Unterschiede und aus ihm leitet er die Auffassung ab, dass

67 Unter dem Titel Ἡ παλινῳδία τοῦ Παπαδιαμάντη [Die Palinodie des Papadiamantis] 1976 erstmals veröffentlicht. Hier zitiert nach GA 2: 41–97. 68 Die im Titel genannte Palinodie spielt auf den Platondialog Phaidros 243 a an, in dem mit dem Thema des literarischen „Widerrufs“ gespielt wird. Zur Palinodie des Stesichoros und anderen Reminiszenzen aus der Poesie in Platon siehe Demos 1999. 69 Proguidis 1998: 106. 70 Ramfos GA 7: 138 ff. Roman (altfranzösisch: romanz) bezeichnete im französischen Mittelalter alle Texte, die in der Volkssprache (lingua romana) verfasst waren und deren Inhalt Liebes- und Abenteuergeschichten bildeten. 71 1. Teil 1605, 2. Teil 1615. Moderne Edition: Miguel de Cervantes 1998.

Literatur im neoorthodoxen Kontext: Alexandros Papadiamantis

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Papadiamantis’ Werk nicht die Kategorien der westlichen, von der Renaissance und ihrem beginnenden Individualismus geprägten Literatur erfüllt, wie sie sich unter anderem bei Cervantes aufzeigen lassen.72 Die Handlung der drei frühen Romane des Papadiamantis liest Ramfos als Allegorien auf die Unvereinbarkeit des griechischen und des westlichen Lebensstils, beziehungsweise als Metaphern für das Scheitern der Westorientierung des Landes. In drei Variationen werden hier die unglücklichen Geschichten junger griechischer Frauen erzählt, die sich in irgendeiner Weise westlichen Männern anvertrauen und dadurch zugrunde gehen. Für Ramfos zeigt sich darin eindeutig eine Absage an den Westen als Kulturraum: „Der tiefere Sinn ist klar und deutlich ausgedrückt: Verbindet das Neugriechentum seine Geschicke mit dem Westen, begeht es Selbstmord.“73 Diese allegorische Auseinandersetzung zwischen Ost und West wird deutlicher nachvollziehbar, sobald man auch Papadiamantis’ stark antiwestlich geprägtes journalistisches Werk betrachtet. Darin kritisiert dieser die laizistischen Grundlagen des griechischen Staats und die Zerstörung der Orthodoxie auf griechischem Staatsgebiet.74 Allerdings ist eine solche vereinfachende Übertragung politischer Ansichten auf die Interpretation eines literarischen Werkes methodologisch fragwürdig. Ramfos benutzt letzten Endes die journalistischen Äußerungen von Papadiamantis dazu, um sein gesamtes Werk in die Schablone seiner eigenen politischen und philosophischen Überzeugungen zu pressen. Neben der inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem Westen sieht Ramfos aber im Werk von Papadiamantis auch eine formale Diskrepanz zur westlichen Romanpoetik. Er habe sich mit dem Abschied von der literarischen Form des Romans und seiner Zuwendung zur kleinformatigen Erzählung zu einer authentischen orthodoxen Form bekannt. Lakis Proguidis75 spitzt Ramfos’ Argumenta-

72 Zur Begründung der modernen Individualität in literarischen Werken wie in Cervantes’ Roman und anderen europäischen Werken siehe Watt 1996. 73 „Ὁ ὑπαινιγμὸς εἶναι σαφὴς καὶ καλὰ εἰπωμένος: συνδέοντας τὶς τύχες του μὲ τὶς τύχες τῆς Δύσεως, ὁ Ἑλληνισμὸς αὐτοκτονεῖ.“ (Ramfos GA 2: 49). 74 Ricks 2009: 249. 75 Lakis Proguidis ist ein griechischstämmiger, auf Französisch schreibender Literaturwissenschaftler und Kritiker und gibt in Paris die Literaturzeitschrift L’ Atelier du Roman heraus. Seine Monographie zum Verhältnis der griechischen Literatur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zu ihren europäischen Vorbildern (Proguidis 1998) vergleicht die literarischen Neuerungen, die Papadiamantis in die griechische Prosa einführt, sehr kühn mit dem Einfluss von Giovanni Boccaccio auf die europäische Literatur. Beide Autoren seien demnach Schlüsselfiguren einer jeweils neuen Epoche.

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tion in seiner Abhandlung über Papadiamantis auf die folgenden drei Punkte zu: Ramfos beabsichtige zum einen dasjenige Übel zu stigmatisieren, das aus dem Rationalismus, einer Erfindung der Renaissance, erwachse, sodann die literarische Form des Romans abzuwerten, und schließlich das Werk von Papadiamantis allein auf die Kontemplation des Schönen zu reduzieren.76 Das erste Argument ist bereits aus etlichen anderen Schriften von Ramfos bekannt, in denen er in neoorthodoxer Tradition die Individualisierung und Rationalisierung im westlichen Europa aus den speziellen Entwicklungen von Katholizismus und Protestantismus ableitet. Dieses Modell des westlichen Menschen, der sein Schicksal selbst in die Hand nimmt und in Konkurrenz zu Gott tritt, überträgt Ramfos nun auf eine Erzählung von Papadiamantis, Die Mörderin.77 Die Hauptfigur dieser Novelle vereine in sich eben diese Merkmale des westlichen Menschen und sei daher im griechischen Kosmos ein Fremdkörper; die Protagonistin, Chadoula, stehe aufgrund ihres mangelnden Gottvertrauens und ihrer individualistischen Einstellung ganz unter westlichem Einfluss. Sie mordet, weil sie die Welt korrigieren möchte, und wird so zum Instrument des Reichs des Bösen.78 Wie Proguidis recht schlüssig nachweist, ist dies freilich schlicht ein Fehlurteil aufgrund ungenauer Lektüre, denn Chadoula ist trotz allem eine in rein orthodoxen Kategorien denkende Figur, deren bescheidene Herkunft und Biographie keinerlei Verbindung zu modernen Entwicklungen erlaubt.79 Der zweite Punkt der Deutung von Ramfos, auf den Proguidis eingeht, ist die scharfe Kritik an der literarischen Form des Romans, weil dieser par excellence alle negativen kulturellen Entwicklungen des Westens widerspiegle.80 Der Roman beinhalte sämtliche Züge der westlichen Kultur, die aus orthodoxer Sicht zu verdammen sind. Der Roman sei anthropozentrisch in seinem Realismus; seine Hauptfigur wende sich von Gott ab, indem sie aus Verzweiflung über ihre persönliche Lage ihr Schicksal selbst in die Hand nimmt, was katastrophalen Folgen nach sich zieht.81 Im orthodoxen Kontext hat nach Ramfos

76 77 78 79 80 81

Proguidis 1998: 230. Papadiamantis 1989. Ramfos GA 2: 76; Proguidis 1998: 231 f. Proguidis 1998: 233. Ibid.: 233 ff. Ramfos GA 2: 76.

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eine solche Form des Realismus, gepaart mit dem westlichen Rationalismus, keinen Platz.82 Die Ablehnung der Romanform durch Ramfos erinnert nicht zufällig an Platon, der die Dichter aus seiner idealen Stadt vertreiben wollte, weil sie lügen.83 „Lüge“ bedeutet im Zusammenhang mit der Platonischen Ideenlehre, dass sie die Realität durch ihre Kunst gleichsam verdoppelt und künstliche Pleonasmen, also Abbilder von Abbildern der ursprünglichen Ideen, erzeugt.84 So erschafft, so resümiert Proguidis nicht ohne eine gewisse Überspitzung Ramfos’ Position, auch der Romancier phantastische Figuren und Handlungen, die ganz rationalistisch außerhalb der Geschichte keine Existenz haben. So habe die „Erbsünde“ der Renaissance in dem Augenblick ihren Anfang genommen, als der Mensch in die Versuchung geführt wurde, in der Kunst einen unabhängigen Weg einzuschlagen.85 Für Ramfos hat jedoch allein eine christlich-orthodoxe Kunst eine Existenzberechtigung, eine liturgische Kunst, in der „die Welt darum kämpft, sich von der Schwere der Dinge zu befreien und das Himmelreich in tiefster Demut zu erlangen.“86 Der dritte Punkt in der Argumentation von Proguidis, nämlich die Auffassung, dass Ramfos die Texte des Papadiamantis als reine Kontemplation des Schönen deute, bezieht sich ebenfalls auf Ramfos’ Kunstverständnis. Ramfos zufolge verfolgt die wahre orthodoxe Kunst jedoch keineswegs einen ästhetizistischen Schönheitskult, sondern ist prinzipiell liturgischen Charakter oder, anders gesagt, sie ist ein Gottesdienst in Worten, eine einzige Beschreibung des Heiligen in der Welt. In der Tat beschreibt Papadiamantis selbst seine Literatur als „vornehmlich religiös“.87 Etliche seiner Erzählungen handeln von religiösen Feiertagen und Festen, von ländlichen Bräuchen und tiefster bäuerlicher Frömmigkeit, die Naturschilderungen nehmen einen breiten Raum ein und preisen die Schönheit des Daseins und der Schöpfung. Auch die Behandlung der Zeit im Erzählwerk des Papadiamantis verweist auf eine andere Realität:

82 Ibid.: 54. 83 Ibid.: 57 f. Platons schwieriges Verhältnis zur Kunst und zur Literatur im Besonderen ist das Thema des u.a. 10. Buchs des Staates. Dazu der Kommentar von Murray 1996. 84 Platon, Staat, 601 b–c. 85 Proguidis 1998: 235. 86 Ramfos GA 2: 56. 87 Ibid.: 72.

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Es handelt sich ganz eindeutig um eine Vorstellung von Zeit, die sich von der natürlichen Zeit unseres Alltags radikal unterscheidet und die diesen verwaltet, [es handelt sich um] eine seelische Zeit, wo die Gegenwart ein Zeichen der Annäherung der Vergangenheit an die Zukunft ist, und nicht etwa eine Zahl – ein flüchtiger Augenblick des Gangs der Dinge zum Unendlichen. Nicht etwa, dass die Gegenwart nicht existiert, aber ihre Existenz stellt keine Tatsache an sich dar.88

Was die Rolle der Zeit im westeuropäischen Roman betrifft, folgt Proguidis der Meinung von Ramfos: In diesem wird die Gegenwart hervorgehoben und tritt als Historie in Erscheinung, was aus orthodoxer Sicht, die in ständiger Erwartung des Jenseits die Gegenwart negiert, nicht möglich ist. In der orthodoxen Zeitauffassung verschwindet die Gegenwart entweder in der Betrachtung der Ewigkeit oder verwandelt sich in diese durch die Bewegungslosigkeit des Augenblicks. Ramfos sieht in Papadiamantis diese orthodox-byzantinische Zeitvorstellung in der nichtlinearen Erzählweise und der Beschreibung des Alltags auf der Insel verwirklicht und führt diese Unbeweglichkeit der Zeit auf den Philosophen Plotin zurück.89 In diesem letzten Punkt folgt Proguidis der Auffassung von Ramfos nicht mehr. Er sieht Papadiamantis sehr wohl als einen die Gegenwart einfangenden Romanautor, und lobt ihn als den wahrscheinlich ersten Vertreter dieser westlichen literarischen Gattung in griechischer Sprache. Trotzdem verdankt seine Studie La conquête du roman den Überlegungen von Ramfos zu Papadiamantis viel. Nicht zuletzt übernimmt er als wichtige Voraussetzungen für seine eigene Interpretation der Gattungsgeschichte des Romans sowohl die kulturelle Grenzziehung entlang des 18. Längengrades, an dem entlang der Sprachgrenze zwischen dem lateinisch und dem griechisch dominierten Gebiet im Römischen Reich verläuft, als auch den Einfluss des Mönchtums auf die moderne orthodoxe Literatur. Was seine Interpretation von derjenigen von Ramfos, aber auch von dem französischen Papadiamantisforscher und Übersetzer Guy Saunier90 unterscheidet, 88 „Πρόκειται, ἀναμφίβολα, γιὰ μιὰ ἰδέα τοῦ χρόνου ἐντελῶς διαφορετικὴ ἀπὸ τὸν φυσικὸ χρόνο τῆς καθημερινῆς ἐμπειρίας ποὺ δεσπόζει στὴν ζωή μας καὶ τὴν οἰκονομεῖ, ἕναν χρόνο ψυχικό, ὅπου τὸ παρὸν εἶναι σημεῖο προσπελάσεως τοῦ παρελθόντος στὸ μέλλον καὶ ὄχι ἀριθμός – φευγαλέα στιγμὴ τῆς πορείας τῶν ὄντων ἐπ’ ἄπειρον. Ὄχι ὅτι τὸ παρὸν δὲν ὑπάρχει, ἀλλὰ ἡ ὕπαρξί του δὲν ἀποτελεῖ καθ’ ἑαυτὴν γεγονός.“ (Ibid.: 90; siehe auch Proguidis 1998: 237). 89 Ramfos GA 2: 92 und Proguidis 1998: 238. 90 Michel Saunier, Les petites filles et la mort, Paris 1995 (frz. Übersetzung der Mörderin) und Guy Saunier 2001. Trotz der unterschiedlichen Vornamen auf den Veröffentlichungen handelt es sich beim Autor um die selbe Person. Der Professor für neugriechische Literatur an der Sorbonne veröffentlicht seine Übersetzungen aus dem Griechischen unter dem Vornamen Michel, seine wissenschaftlichen Werke unter dem Vornamen Guy.

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ist die Tatsache, dass er Papadiamantis eine erheblich größere Nähe zur westeuropäischen Literatur zugesteht. Dies ist aber auch der Tatsache geschuldet, dass Proguidis andere Texte als Grundlage für seine Argumentation heranzieht. In der jüngsten literaturwissenschaftlichen Diskussion, etwa bei Vardoulakis, wird Papadiamantis aufgrund seiner innovativen literarischen Techniken, aber auch wegen der Gestaltung seiner Figuren mehr an die literarische Moderne herangerückt, als dies Ramfos mit seiner neoorthodoxen Lektüre tut.91 Wie oben bereits angedeutet erscheint diese Position deshalb fragwürdig, weil Ramfos hier die Werke des Papadiamantis nicht als eigenständige literarische Kunstwerke betrachtet, sondern sie als Steinbruch für Beweisstücke benutzt, die seine eigene Kulturphilosophie stützen. In den Kontext von Ramfos’ Gesamtwerk der neoorthodoxen Phase fügt sich der Essay aber nahtlos ein. So sind Ramfos’ Verweise auf andere Kunstwerke wie auf die Gemälde des Domínikos Theotokopoulos, genannt El Greco, und die Romane von Fjodor Dostojewski sinnvoll und eröffnen neue Verbindungslinien und Deutungsmuster.

6.3.2  Papadiamantis und Dostojewski Im neoorthodoxen Weltbild von Ramfos, das von der russischen Theologie beeinflusst ist, darf der Verweis auf die russischen Vorbilder nicht fehlen. Unterstrichen werden die Parallelen in den Werken von Papadiamantis und Dostojewski, insbesondere hinsichtlich dessen slawophiler Tendenzen. Wie entschieden die Hinwendung Dostojewskis zu den Slawophilen nun tatsächlich war, ist noch immer umstritten; fest steht jedoch, dass gewisse Züge ihrer Ansichten, namentlich die romantisch geprägte Ablehnung des Individualismus und des Rationalismus sowie die orthodox geprägte Ideologie des sobornost’,92 durchaus nachzuweisen sind.93 Über diese ideologische Haltung urteilt Sarah Hudspith: “Sobornost’ 91 Vgl. etwa das Kapitel: „The Subject of Modernity. Law and Temporality in Alexandros Papadiamantes“, in dem Dimitris Vardoulakis die ebenfalls die Erzählung Die Mörderin analysiert (Vardoulakis: 2010: 66–105). 92 Der Begriff ist abgeleitet von soborniy (russ.: versammelt, gemeinschaftlich), und ist die seit dem 11. Jahrhundert nachweisbare slawische Übersetzung des griechischen Wortes καθολική (allumfassend, gemeint ist damit die orthodoxe Kirche) im christlichen Glaubensbekenntnis. Zur der aus der deutschen Romantik inspirierten Idee des sobornost’, die auch die Grundlage ist für die moderne Sozialkonzeption der RussischOrthodoxen Kirche ist, siehe Wasmuth 2004 und Wasmuth 2012. Sobornost’ bedeutet in diesem Kontext, dass der Träger der unfehlbaren Lehre in der orthodoxen Kirche das gesamte Kirchenvolk ist. 93 Hudspith 2004: 8 ff. und 161 ff.

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embodies the concept of free unity, mutual love and volontary submission to the whole.”94 Dies ist ein Konzept, das von den neoorthodoxen Denkern in Griechenland bereitwillig aufgenommen wurde. Die beiden theoretischen Köpfe dieser Bewegung, Alexej Chomjakow (1804–1860) und Iwan Kireewski (1806–1856), werden mit dem Werk von Dostojewski in Verbindung gebracht, um die Essenz dieser antiwestlichen orthodoxen Strömung zu beschreiben. Das Gemeinschaftsgefühl, wie es in dem Begriff der sobornost’ ausgedrückt wird, beruht auf der Idealisierung der ursprünglichen russischen bäuerlichen Gesellschaftsstruktur, die von Chomjakow und Kireevski als Gegenpol zur westlichen Welt mit ihren modernen Entwicklungen gedacht wird. Beide Denker identifizierten Katholizismus und Protestantismus mit den westlichen Gesellschaften und deren Entwicklungen, namentlich dem Rationalismus, der Individualisierung und der Gewalt an der Stelle von friedlichem Zusammenleben. Diese aus der russischen Kultur übernommenen Ideale projizierten neoorthodoxe Denker auch auf Griechenland, das in der Konsequenz ebenfalls als Gegenpol zu Europa gedacht wurde. So erklärt sich auch, weshalb Papadiamantis in der Forschung häufig mit Dostojewski verglichen wurde und noch wird.95 Ramfos widmete Papadiamantis und Dostojewski über zwanzig Jahre nach seinem ersten Essay einen weiteren Text.96 Verglichen mit dem früheren Artikel verschiebt sich zwar der Untersuchungsschwerpunkt von der Verteidigung des neoorthodoxen Weltbildes hin zu der Frage, ob und inwiefern schon bei diesem frühen Vertreter der neugriechischen Literatur eine Individualisierungstendenz zu finden sei, aber die meisten gedanklichen Voraussetzungen sind unverändert. Ramfos zählt Papadiamantis nach wie vor zu den vormodernen griechischen Autoren und beschäftigt sich mit der Frage der Innerlichkeit seiner literarischen Figuren. Die Innerlichkeit, die in der Literatur in der Introspektion sichtbar wird und bereits in der Spätantike angetroffen werden kann, trennt Ramfos hier klar von der Individualisierung, die erst mit der Renaissance auftritt: 94 Ibid.: 11. Zur sobornost’ in der russischen Orthodoxie s. Ruppert 1973. 95 Ricks 2009 nimmt Papadiamantis’ Enttäuschung über den modernen griechischen Staat zum Anlass, dessen Affinität zur russischen Tradition zu unterstreichen; Keselopoulos 2011 ist eine Darstellung von Papadiamantis’ Nähe zu Dostojewski in theologischer Hinsicht. 96 Der Artikel Παπαδιαμάντης καὶ Ντοστογιέφσκι [Papadiamantis und Dostojewski] ist jetzt aufgenommen in die GA 15: 218–257.

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Der einzelne Mensch war schon immer ein Individuum, weil er einen Namen trug; im Gegensatz dazu ist das Individuum mit Individualität eine Schöpfung der Neuzeit, ein Produkt der Renaissance, das in seiner Reinform zum Anachronismus wird, wenn wir es in einem anderen kulturellen Kontext suchen […] Die Selbstbetrachtung oder Selbstanalyse gingen nicht über die Grenzen der Beichte des Gläubigen hinaus, der seine Defizite hinsichtlich der geforderten heiligmäßigen Annäherung an Gott beobachtet.97

Ramfos analysiert auch hier die Erzählung Die Mörderin; allerdings ist sein Urteil nun weniger eindeutig als in der früheren Studie. Er bekräftigt seine Einordnung der Protagonistin als „westlichen“ literarischen Charakter ausgehend von ihrem Namen – Frankojannou bezeichnet im griechischen Volksmund die Ehefrau von Jannis dem Franken, das heißt dem Katholiken98 – und aufgrund ihrer rationalistisch geprägten Haltung. In diesem Fall ist er jedoch der Ansicht, Papadiamantis hätte aufgrund seines historischen Hintergrundes gar keine wirklich „westliche“ Figur ausgestalten können. Vielmehr sei Papadiamantis’ Versuch, einen westlich geprägten Charakter zu gestalten, gescheitert. Damit relativiert Ramfos die apodiktische Einschätzung seines ersten Essays zu diesem Thema.99 Ramfos legt in dieser Untersuchung besonderen Wert darauf zu zeigen, wie sehr Papadiamantis noch von der byzantinischen Literatur, namentlich von der Hagiographie beeinflusst gewesen ist. Er unterstreicht mehrfach, dass die Figuren in Papadiamantis’ Werk auch einem Synaxarion, einer byzantinischen Sammlung von Heiligenviten, entnommen sein könnten. Eindimensional und in gewissem Sinne austauschbar, charakterisiert allein durch die Attribute des zeitgenössischen Moralverständnisses, konnten sie kein Eigenleben entfalten; diese engen Grenzen waren dem Autor von den Zeitverhältnissen vorgegeben. Die im Titel des Essays von Ramfos angedeutete Verbindung von Papadiamantis und Dostojewski wird eigentlich nur ex negativo ausgearbeitet; Letzterem sei das gelungen, was dem griechischen Autor aufgrund der sozialen und historischen Umstände nicht möglich war, nämlich echte Romane mit psychologisch ausgestalteten Figuren zu schreiben. Dostojewski formte in seinen Romanen

97 „Ἄτομο ἦταν ἀνέκαθεν ὁ ξεχωριστὸς ἄνθρωπος, φορεὺς τοῦ ὀνόματός του •  ἀντιθέτως, τὸ ἄτομο μὲ ἀτομικότητα εἶναι δημιούργημα τῶν Νέων χρόνων, προϊὸν τῆς Ἀναγεννήσεως, ποὺ στὴν καθαρή του μορφὴ ἀποτελεῖ ἀναχρονισμὸ νὰ τὸ ἀναζητοῦμε σὲ ἄλλους τόπους καὶ ἐποχές […] Ἡ αὐτοσκόπησι καὶ ἡ αὐτοανάλυσι δὲν ὑπέρβαιναν τὰ ὅρια ἐξομολογήσεως τῆς ἀνομοιότητος τοῦ πιστοῦ ἐν συγκρίσει πρὸς τὴν ἀπαιτουμένη ἁγιαστικὴν ὁμοίωσι.“ (Ramfos GA 15: 219). 98 Neugriechisches Lexikon 1998, 1439, s. v. Φράγκος. 99 Ramfos GA 15: 229. Gestützt wird diese Auffassung durch den Essay des Philosophen und Literaturkritikers Kostis Papagiorgis 1997.

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echte orthodoxe Figuren. Insbesondere verkörperten die negativen Charaktere die in der vormodernen Orthodoxie intrinsische Gefahr des Nihilismus, die aus der palamitischen Abwendung von der Welt zugunsten der Vergöttlichung des Menschen liege. Hier lehnt sich Ramfos einmal mehr an die These des Berdjaew zur Affinität von Orthodoxie und Kommunismus an.100 Es zeichnet sich bereits hier (1999) eine Argumentationsstruktur ab, die Ramfos 2010 mit der Verurteilung des Hesychasmus weiter ausarbeiten würde. Die Kehrseite des orthodoxen Weges sei eine gnostische Totalablehnung der Welt, deren nihilistische und menschenverachtende Zuge im Totalitarismus schließlich voll sichtbar werden.101 Auch hier zeigt sich die Arbeitsweise von Ramfos; er zieht sein Material nicht zu einer Analyse literarischer Techniken oder poetischer Ausdrucksformen heran, sondern nimmt es als Ausgangspunkt für seine kulturphilosophischen Überlegungen. Dennoch war sein Interpretationsansatz von Papadiamantis’ Werk lange Zeit sehr einflussreich; sein antiwestlicher Ansatz traf und trifft noch immer auf große Zustimmung, sodass die wenigen Kritiker sich nach wie vor damit auseinandersetzen. Seine Kritik am griechischen Bildungssystem, seine Sprachmystik und seine Auseinandersetzung mit dem größten modernen griechischen Prosaschriftsteller weisen alle in die gleiche Richtung, wenn auch den Arbeiten völlig unterschiedliches Material zugrunde lag. Nach seiner Kehre relativiert Ramfos jedoch seine pauschale Kritik am Westen. Nun stehen für ihn die Errungenschaften der europäischen Zivilisation im Mittelpunkt, die Griechenland aufgrund seiner historischen Situation verpasst hat; und es fehlt ihm nicht an Selbstbewusstsein, auch diese Argumentation aus dem gleichen literarischen Material zu begründen, mit dem er zwanzig Jahre zuvor das genaue Gegenteil beweisen wollte.

6.4 Umstrittene Modernisierung: Antworten auf die Krise in Griechenland In der heutigen öffentlichen Wahrnehmung in Deutschland wird Griechenland im Allgemeinen mit der „Krise“ identifiziert. Die ökonomische und politische Krise, die das südeuropäische Land nach wie vor massiv belastet, ist dasjenige Thema, mit dem Ramfos in der derzeitigen öffentlichen Diskussion in Griechenland identifiziert wird. Welche sind die Auslöser, welche die tieferen Gründe für 100 Berdjaev 1937. 101 Ramfos GA 15: 237 ff. Zum Nihilismus in der Orthodoxie s. oben Kapitel 4.7 Politischer Hesychasmus und verhinderte Modernisierung der orthodoxen Welt.

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diese Katastrophe, und wie wird sich Griechenland wieder davon erholen; solche und ähnliche drängende Gedanken beschäftigen die griechische Öffentlichkeit ununterbrochen und machten Ramfos zu einem sehr gefragten Gesprächspartner der Medien, der mit seiner breiten Gelehrsamkeit und seiner geschliffenen Sprache von einem breiten Publikum gerne gehört und in bestimmten Zirkeln fast wie ein Prophet behandelt wird. Seine provokanteste These ist, dass die Krise, die heute Wirtschaft und Gesellschaft bestimmt, nicht von äußeren Faktoren wie der globalen Ökonomie oder Politik ausgelöst wurde, sondern dem griechischen Selbstverständnis und der eigenen Rückständigkeit geschuldet ist. Die zentralen Begriffe von Ramfos’ soziokultureller Analyse Griechenlands tauchen bereits in den frühesten Veröffentlichungen in Griechenland um 1980 auf, eigentlich zu Zeiten des wirtschaftlichen Aufschwungs wenige Jahre nach dem Sturz der Militärdiktatur, als Griechenland noch hoffnungsvoll der Aufnahme in die EG entgegensah, die dem Land zunächst auch einen nie gekannten Wohlstand bescheren sollte.102 Er macht für die Rückständigkeit seines Landes nicht, wie es nicht nur in Griechenland, sondern auf dem gesamten Balkan üblich war und ist, die Osmanische Herrschaft verantwortlich, sondern bestimmte Grundzuge der süd- bzw. südosteuropäischen Kultur und Mentalität.103 Der griechische Staat, der dem Osmanischen Reich mit massiver europäischer Unterstützung abgerungen wurde, liegt aufgrund seiner speziellen geopolitischen Lage im östlichen Mittelmeer seit jeher an der Schnittstelle von westlichen und östlichen Ansprüchen. Als erster unabhängiger Staat auf den Ausläufern des Balkans und im Mittelmeer, der auf dem Territorium des Osmanischen Reiches entstand, läutete seine Gründung den Rückzug der Osmanen aus Europa ein und war für die europäischen Mächte von immenser politischer Bedeutung. Dies zeigte sich nach dem zweiten Weltkrieg auch in der schnellen Aufnahme Griechenlands in die NATO, nunmehr ein Vorposten gegen den sozialistischen Block, sowie durch seine schnelle Aufnahme in die Europäische Gemeinschaft 1981, wenige Jahre nach dem Sturz der Militärdiktatur. Seine strategische Lage, aber auch seine historische Bedeutung als Erbe der klassischen Antike verliehen Griechenland immer einen besonderen Status in Europa, was allerdings auch dafür sorgte, dass die mächtigen westlichen Verbündeten stets Einfluss auf Politik und Gesellschaft zu nehmen versuchten. Schon in den 1830er Jahren wurden 102 Insbesondere im Artikel Τὸ νῆμα τῆς ζωῆς [Der Lebensfaden], zuerst erschienen in der Ausgabe 42 der Zeitschrift Ἐποπτεία [Epoptia] (Januar 1980), jetzt in: Ramfos GA 6: 45–92. 103 Ibid.: 74 f.

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Hilfsmaßnahmen der Schutzmächte […] wie ein hochverzinslicher Wechsel auf ein dauerhaftes Mitsprachrecht eingesetzt, wobei den unterschiedlichen geopolitischen Interessen in einem Land mit wenig gefestigten gesellschaftlichen Verhältnissen kein nennenswerter Widerstand entgegengesetzt werden konnte. Der Übergang vom zentralistisch beherrschten osmanischen Staatsapparat zu einem nach europäischen Vorbildern konzipierten Königreich hatte ein Machtvakuum hinterlassen, das der Regentschaft Gestaltungsmöglichkeiten bot, das aber auch von den Schutzmächten nach ihrem Gutdünken genutzt wurde.104

So war Griechenland seit je her Empfänger großer Summen zur Unterstützung seines Staatshaushalts, und dies nicht erst seit seiner Mitgliedschaft in der Europäischen Union.105 In jüngster Zeit hat sich die Krise im Zeichen der globalen Finanzkrise bestenfalls zugespitzt, die Abhängigkeit von westlicher Hilfe ist aber keinesfalls ein neues Phänomen. Dies hat freilich seitens der Bevölkerung schon immer ein gewisses Gefühl der Ohnmacht vermittelt, die sich auch in Aggression gegenüber fremder Einflussnahme und vielfältigen Formen von Widerstand äußern konnte und kann. Obwohl Ramfos bereits kurz nach seiner Rückkehr ins Land problematische Aspekte des griechischen Selbstverständnisses hervorgehoben hat und das Wort „Krise“ immer wieder auftaucht, handelt es sich freilich nicht immer um die gleichen Missstände. Liest man die frühen Texte von Ramfos, sieht er den Grund für die Krise zunächst in der historisch bedingten Annäherung Griechenlands an den Westen. Die kulturelle wie politische Annäherung an den Westen habe keineswegs die Probleme der griechischen Selbstverortung gelöst, im Gegenteil. Er beurteilte diese „Verwestlichung“ als negativ, da diese die Griechen von ihrer Tradition abgekoppelt habe. In seinen späteren Veröffentlichungen nach 1990 ist Ramfos ganz im Gegenteil davon überzeugt, dass diese Krise nur durch das Aufholen der Entwicklungsdefizite Griechenlands gegenüber den übrigen europäischen Ländern und schließlich durch eine Integration in die Reihen der modernen Staaten ein Ende finden kann. Die in zahlreichen Veröffentlichungen von Ramfos stets aufs Neue heraufbeschworene Krise bezeichnet, so erscheint es, ein stetiges Unbehagen des Autors angesichts offener Widersprüche in Politik und Alltag. Als aber 2008/9 der katastrophale Zustand des Staatshaushaltes offensichtlich wurde und sich allmählich herausstellte, wie massiv sich die finanziellen Einschnitte auf das Leben der Bevölkerung auswirken würden, war die Krise in aller Munde. Die Bekanntheit und Wertschätzung von Ramfos in der griechischen 104 Turczynski 2003: 239. 105 Dazu Dertilis 1988.

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medialen Öffentlichkeit stieg infolgedessen massiv an, und seine Veröffentlichungen zu den Themen Wirtschaft, Politik und zur Stellung Griechenlands in Europa in Tagespresse, Radio und Fernsehen sind seitdem kaum mehr zu überschauen.106 Es scheint, als habe Ramfos für seine Ermahnungen schließlich doch noch ein ihm zugewandtes Publikum gefunden; in Zeiten der Unsicherheit bietet derjenige, der den Finger in die Wunde legt und der dem Volk seine historischen Fehlentwicklungen vorhält, vor allem für ein gebildetes und kritisches Publikum, das sich weder der extremen Linken noch der extremen Rechten107 zugehörig fühlt, durchaus eine Alternative zu undifferenzierter Kritik am Westen. Seine Rolle als Intellektueller versteht Ramfos auf Nachfrage eines Interviewpartners allerdings nicht als Lieferant von Lösungsvorschlägen, sondern im Aufzeigen der historischen Verstrickungen, die zur heutigen Situation geführt haben. Sei das Problem erst einmal benannt, so der Tenor der Beiträge von Ramfos, würde sich schließlich auch eine Lösung finden.108 Weitblick bewies Ramfos in der Vergangenheit zweifellos bei der Analyse massiver Eingriffe in die Gesellschaft. So wendete er sich beispielsweise gegen den Ausverkauf der Bildung, den er in Griechenland am Werk sieht. Gemeinsam mit der Abschaffung der Lektüre altgriechischer Texte im Original,109 die ebenfalls als eine große Hürde bei der Zulassungsprüfung für die Hochschulen empfunden wurde, wurden insgesamt die Anforderungen für die Zulassung zum Studium gesenkt. Zugleich wurden zahlreiche kleinere Hochschulen abseits der Zentren Athen und Thessaloniki gegründet.110 Viele der Absolventen wurden 106 Artikel und transkribierte Interviews zu diesen Themen erschienen in bisher drei Bänden, Ramfos 2011, 2012 a und b. 107 Von den extremen politischen Bewegungen scheint in Griechenland nicht nur die linke Protestbewegung, sondern insbesondere auch die extreme Rechte in Form der Partei der Goldenen Morgenröte (Χρυσή Αὐγή) profitiert zu haben. Anders als in früheren Konflikten scheint die Linke heute allerdings argumentativ sehr schwach zu sein; der medial und politisch ständig beschworenen Alternativlosigkeit der von außen auferlegten Sparzwänge habe sie nicht viel entgegenzusetzen, so die kanadische Publizistin Naomi Klein in einem Interview mit Sophia Papaioannou des griechischen Fernsehsenders SKAI vom 28.05.2013. Dazu auch ein Interview von Ramfos 2013. 108 Ramfos 2011: 51 f. 109 Dazu Ramfos GA 5 der Artikel Μάθημα αὐτογνωσίας. Τὰ Ἑλληνικὰ ὡς ἐλπίδα στὰ σχολεῖα μας [Lehrstück der Selbsterkenntnis. Griechisch als Hoffnung in unseren Schulen]: 89–128. 110 Die Intention dieser Neugründungen war sicherlich der Versuch, den Zentralismus von Athen aufzubrechen und auch in die Peripherie einen wirtschaftlichen Aufschwung zu bringen, was Ramfos auch anerkennt. Die Frage sei nur, ob dafür die

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in den Staatsdienst übernommen, obwohl sowohl ihre Qualifikation als auch der Sinn ihrer Tätigkeit fragwürdig waren. Schon 1984 warnte Ramfos vor einer sinnlosen Aufblähung des öffentlichen Sektors als Arbeitgeber.111 Heute wird dies allgemein als einer derjenigen Faktoren gesehen, die die aktuelle Staatsschuldenkrise Griechenlands weiter verschärft haben.112 Ab dem Ende der 1990er Jahre konstatiert Ramfos bei den Griechen ein Defizit bei der Modernisierung; zwar habe es Ansätze dafür in einer eigenen Form der Individualisierung auch in Byzanz gegeben, die sich jedoch aufgrund der historischen Umstände niemals durchsetzen konnten, wie etwa die sogenannten Renaissancen des 11. und 14. Jahrhunderts in Byzanz. Auch das theologische Werk des Symeon des Neuen Theologen im 14. Jahrhundert zeige solche Individualisierungstendenzen; sie scheiterten jedoch, so Ramfos, an der byzantinischen Staatsform mit ihrem absoluten Führungsanspruch des Kaisers und der restaurativen Kulturpolitik der orthodoxen Kirche.113 Die Individualisierung und die Säkularisierung galten lange als zwei einander bedingende und tragende Säulen der Modernisierung; ihr Fehlen ist der Schlüssel zum Verständnis der derzeitigen politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Krise Griechenlands. Die Säkularisierung bezeichnet die Verweltlichung im Sinne einer Auflösung der Bindung an die Religion, wie dies insbesondere durch den Humanismus eingeleitet und durch die Aufklärung in Europa vollzogen wurde. Der Begriff Säkularisierung wird abgeleitet vom lat. saeculum (Zeit, Zeitalter, dann: „von der Zeit bestimmte Welt“ im Gegensatz zur Ewigkeit). Die These der Säkularisierung als notwendiger Folge der Modernisierung galt in der Religionssoziologie lange Zeit als zentraler theoretischer Ansatz. Dabei ging man davon aus, dass es zwischen der Moderne und Religion ein Spannungsverhältnis gibt, welches schließlich zu einem sozialen Bedeutungsverlust von Religion führt. Dafür verantwortlich gemacht wurden insbesondere die mit der Modernisierung verknüpften Prozesse der Rationalisierung, Individualisierung und funktionalen Differenzierung von modernen Gesellschaften. Dazu kamen die Auflösung traditioneller Strukturen durch die Urbanisierung sowie die Demokratisierung, die den eher hierarchisch gegliederten kirchlichen Strukturen entgegenstehen sollten. scheinbar willkürliche Gründung von Hochschulen ohne die entsprechenden kulturellen Strukturen im Umkreis zweckmäßig sei, was er anzweifelt. Vgl. Ramfos GA 6: 300. 111 Ibid.: 282. 112 Axt 1997. 113 Siehe oben Kapitel 4.5 Gottesschau und byzantinischer Humanismus: Symeon der Neue Theologe.

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Wichtige Beiträge zur Theorie der Säkularisierung leistete Peter L. Berger 1967 und 1980, in jüngster Zeit relativierte er jedoch viele seiner Erkenntnisse und seine Theorie der Desäkularisierung gilt insbesondere für den postsowjetischen Raum als maßgeblich.114 Die säkularisierte Lebensweise wird zunehmend auf der Basis der menschlichen Vernunft ausgestaltet, anstatt göttlichen Gesetzen zu folgen. Von der Trennung von Kirche und Staat sowie der Überführung kirchlicher Güter in den Staatsbesitz seit dem Westfälischen Frieden 1648 bis zum Kampfbegriff in den Kulturkämpfen des ausgehenden 19. Jahrhunderts und zur sozialistischen und kommunistischen Ideologie, die in der Säkularisierungspolitik in der Sowjetunion ihren Höhepunkt hatte, hat eine erhebliche semantische Verschiebung des Terminus Säkularisierung stattgefunden.115 In der Soziologie wird seit Max Weber die Säkularisierung als Rationalisierung der Welt im Zusammenhang mit dem Bedeutungsverlust der Religion in der Gesellschaft und ihrem Rückzug in die Privatsphäre verstanden. In Webers Dictum von der „Entzauberung der Welt“ gibt es einen direkten Zusammenhang von Modernisierung im Sinne wissenschaftlichen Fortschritts und der Marginalisierung der Religion im gesellschaftlichen Kontext.116 Dieser von Weber postulierte direkte Zusammenhang unterliegt in der Forschung heute zahlreichen Zweifeln, denn es zeigt sich in der politischen Realität, dass Modernisierungstendenzen im nichteuropäischen Kontext von der Religion möglicherweise in anderer Weise beeinflusst wurden, als dies für Mitteleuropa der Fall war. Die Deprivatisierung von Religion117 und die „Rückkehr der Götter“118 machen deutlich, dass Modernisierungsprozesse nicht unbedingt mit einer Säkularisierung Hand in Hand gehen müssen.119 Im Gegenteil, gerade die modernen Entwicklungen, etwa infolge der französischen Revolution beinhalten den „jakobinische Zwang“ zur Gewalt, wie ihn Shmuel N. Eisenstadt herausgearbeitet hat; auch und gerade religiöser Fundamentalismus kann sich mit Elementen der Moderne verbinden, weswegen Eisenstadt

114 Berger 1999. 115 Gabriel 2008: 9. 116 Max Weber, Wissenschaft als Beruf, München 1919, jetzt in Weber 1985. 117 Casanova 1994. 118 Graf 2004. 119 Shmuel N. Eisenstadts wichtiger Beitrag zur Säkularisierungsdebatte (2000) arbeitet typische Entwicklungen der politischen Religion und des Fundamentalismus im Zeitalter der Moderne heraus.

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zu Recht von multiple modernities spricht.120 Die Kritik an einem eindeutigen Abhängigkeitsverhältnis von Modernisierung und Säkularisierung wird zunehmend lauter und gibt pluralistischen Deutungsmustern Raum.121 Karpov fasst die jüngsten kritischen Auseinandersetzungen um die De-Säkularisierung (desecularization) oder Anti-Säkularisierung (counter-secularization) insbesondere im Hinblick auf die Entwicklungen im post-sowjetischen Raum zusammen.122 Der Begriff der Säkularisierung besitzt in Bezug auf Griechenland sehr unterschiedliche Facetten, die zwar eng miteinander verknüpft sind, aber getrennt betrachtet werden müssen. Zunächst machte die Staatsgründung eine Trennung von Kirche und Staat erforderlich, da das neue Staatsoberhaupt nicht mehr automatisch das religiöse Oberhaupt war, wie es im byzantinischen und auch im osmanischen Kontext der Fall gewesen war. Sodann führte die Annäherung Griechenlands an den Westen zu einer gesamtgesellschaftlichen Säkularisierung mit gewissen kulturell bedingten Einschränkungen. Als drittes ist das veränderte Verhältnis von Individuum und Religion zu betrachten, innerhalb dessen sich eine schrittweise Emanzipation des Individuums beobachten lässt. In seinen neoorthodoxen Schriften ist Ramfos bereits mehrfach auf das Phänomen der Säkularisierung eingegangen, hat dies jedoch als ein typisch westliches Phänomen im Zusammenhang mit den Entwicklungen des Humanismus und der Aufklärung gedeutet und für Griechenland nicht akzeptiert. Seit seiner Auseinandersetzung mit der neoorthodoxen Ideologie, insbesondere seit seiner sehr kritischen Analyse des Personalismus in Der Schmerz des Einen123 hat sich jedoch seine Interpretation erheblich verändert und seine Schlussfolgerungen laufen nun darauf hinaus, dass die monolithische und verhärtete Gesellschaft des mittelalterlichen Byzanz ab einem gewissen Punkt nicht mehr die Einheit von Reich und Kirche und insgesamt das Überleben des Großreiches, das sich 120 „[…] the trends of globalization show nothing so clearly as the continual reinterpretation of the cultural program of modernity; the construction of multiple modernities; attempts by various groups and movements to reappropriate and redefine the discourse of modernity in their own terms. At the same time, they are bringing about a repositioning of the major arenas of contestation in which new forms of modernity are shaped, away from the traditional forum of the nation-state to new areas in which different movements and societies continually interact.“ (Eisenstadt 2000: 24). 121 Wilke 2013: 73. 122 „[…] counter-secularizing trends in culture as manifesting themselves in a revival of religious content in a variety of its symbolic subsystems, including the arts, philosophy, and literature, and in a decline of the standing of science relative to a resurgent role of religion in world-construction and worldmaintenance.“ (Karpov 2010: 240). 123 Hierzu Kapitel 5.4.3 Die neoorthodoxe Debatte um die Person.

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von immer stärker werdenden Gegnern umringt sah, garantierte, sondern, im Gegenteil, zu dessen Untergang beitrug.124 Noch kritischer ist seine Analyse der orthodox geprägten Kultur am Ende seines Essays Τὸ ἀδιανόητο τίποτα125 Die Erkenntnisse seiner Überlegungen zur Säkularisierung und Individualisierung in Europa hat Ramfos auch in Zeitungsartikeln zusammengefasst, die für ein breiteres Publikum gedacht waren. Ausschlaggebend für sein Umdenken waren möglicherweise die Auflösung der politischen Lager nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und die Veränderungen, die sich in der darauffolgenden Globalisierung vollzogen. Durch seine unmittelbare geographische Nachbarschaft zum ehemaligen „Eisernen Vorhang“ war Griechenland davon besonders betroffen, und auch bei den Jugoslawienkriegen war Griechenland mehr als nur ein Zuschauer. Da es durch die orthodoxe Tradition Serbien nahestand, forderten auch diese Ereignisse wieder eine Positionierung Griechenlands zum Westen und zur Europäischen Union, die nicht immer völlig klar und eindeutig war. Heute ist die Europäisierung Griechenlands weiter fortgeschritten, was sich nicht zuletzt in religionspolitischen Themen niederschlägt; man denke etwa an die breite gesellschaftliche und politische Diskussion um die Streichung der Religionszugehörigkeit in den griechischen Personalausweisen.126 Die Umstände im Land haben sich erheblich gewandelt und auch Ramfos’ Blick auf die Religion hat sich nach und nach deutlich verändert. Die staatliche Säkularisierung Griechenlands lässt sich historisch schon ab der Staatsgründung beobachten, bei der statt der theokratischen Strukturen des osmanischen Millet-Systems ein Staat nach westeuropäischem Vorbild geschaffen worden war. Im Osmanischen Reich war die Religion das distinktive Merkmal der einzelnen Bevölkerungsgruppen. Die Nicht-Muslime hatten einen anderen sozialen Status als die Muslime, denen aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit allein der Weg zu politischem Einfluss offenstand; erstere wurden in religiösen und privatrechtlichen Belangen ihren jeweiligen religiösen (jüdischen, katholischen, orthodoxen) Oberhäuptern untergeordnet und bildeten ihr jeweils eigenes Millet.127 124 Hierzu Kapitel 4.7 Politischer Hesychasmus und verhinderte Modernisierung der orthodoxen Welt. 125 GA 18. 126 Zur Beurteilung des zuweilen sehr gespannten Verhältnisses von Griechisch-Orthodoxer Kirche und dem griechischen Staat siehe Makrides 2005. 127 Für Details zur Geschichte Südosteuropas in der osmanischen Zeit siehe Sugar 1977; zur Geschichte des osmanischen Reichs siehe Inalcik 1978; zur Situation von Nicht-

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Das größte war das Rum Millet; es umfasste sämtliche orthodoxen Untertanen des Sultans, vereint unter dem Ökumenischen Patriarchat von Konstantinopel, die sich selbst „Christen“ oder „Römer“ („Rum“) nannten, während sie von den Westeuropäern als „Griechen“ (griechisch-orthodoxe) bezeichnet wurden, wenn ihre Muttersprache auch nicht unbedingt das Griechische war. Die griechisch-orthodoxe Dominanz auf dem osmanischen Balkan war im Laufe seiner Geschichte unterschiedlich stark, doch erst mit der Abschaffung des zunächst autokephalen serbischen Patriarchats von Peć und des Erzbistums von Ochrid (1766 und 1767) waren wirklich alle Orthodoxen im Osmanischen Reich „griechisch-orthodox“, das heißt, dem Ökumenischen Patriarchat von Konstantinopel untergeordnet. Unterdessen bildeten sich in der Folge der europäischen Romantik jedoch andere ideologische Strömungen; fortan wurde auch die Sprache zu einem bestimmenden Faktor der nationalen Identität und der erstarkende Nationalismus der Balkanvölker brachte das Millet-System schließlich zum Einsturz. Mit den neuen Balkanstaaten Griechenland, Serbien und Bulgarien wurden den jeweiligen Landeskirchen auch nationsbildende Aufgaben zuteil, sodass sie sich vom supranationalen Ökumenischen Patriarchat lösen mussten.128 Entsprechend der Vorstellung, dass eine Kirche ihre Funktion innerhalb eines Staates wahrnehmen muss, wurde mit der Schaffung eines unabhängigen Staates durch die Einsetzung des Metropoliten von Athen die Autokephalie der griechisch-orthodoxen Kirche angestrebt, aufgrund der engen Verbundenheit zur byzantinischen Tradition des katholischen Patriarchats von Konstantinopel freilich etwas weniger schroff als bei der Begründung der autokephalen russischorthodoxen Kirche im 15. Jahrhundert oder bei der Schaffung aller anderen Nationalkirchen nach dem Zerfall des osmanischen Reiches.129 Die politische Säkularisierung Griechenlands entwickelte sich also parallel zum Nationalstaat, was beispielsweise an der schrittweise vollzogenen Verstaatlichung des Kirchenbesitzes deutlich wurde.130 Nichtsdestotrotz blieb der griechische Staat Muslimen im osmanischen Reich siehe Braude/Lewis 1982; zur Geschichte des Balkans Jelavich 1983 und Hösch/Nehring/Sundhaussen/Clewing 2004. 128 Roudometof 2010: 22 ff. 129 Einen kontrastiven Vergleich zwischen Griechenland und Serbien hinsichtlich der Entwicklung ihrer nationalen Identität bietet Roudometof 1999. 130 Eine sicher nicht ganz untendenziöse Aufstellung des enteigneten Kirchenbesitzes findet sich in einer kleinen Veröffentlichung im Verlag der griechischen Apostolischen Diakonie: Evangelos P. Lekkos, Ἐκκλησιαστικὴ περιουσία. Οἱ προκαταλήψεις, οἱ μύθοι, ἡ ἀλήθεια [Kirchenbesitz. Vorurteile, Mythen, Wahrheit], Athen 2001.

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gemäß der orthodoxen Tradition sehr eng mit der Institution der orthodoxen Kirche verknüpft. Es scheint nicht unmöglich, dass unter den heutigen Umständen, also im Zeitalter der schnell fortschreitenden Globalisierung und der immer komplexeren transnationalen Beziehungen, denen auch Griechenland unterworfen ist, sowie bei einer zunehmend heterogenen Bevölkerungsstruktur, wodurch der Staat weniger leicht eine nationale Identität herstellen kann, dies doch eventuell der Orthodoxen Kirche Griechenlands gelingen wird. Ihre öffentliche Funktion wird sie, so argumentierte auch Evangelos Karagiannis, auch in Zukunft behalten, wobei er mehr als eine Säkularisierung des Staates eine Privatisierung der Kirche für wahrscheinlich hält. Dies bedeutet, dass sie im politischen Raum eher an den Rand treten wird, wobei heute noch nicht ganz abzusehen ist, in welcher Form sie sich weiterhin in der Öffentlichkeit, etwa im Rahmen der Wohlfahrtspflege, engagieren wird.131 Die Säkularisierung im Sinne einer strengen Trennung von Kirche und Staat fordert Ramfos jedenfalls mit Nachdruck.132 Nachdem er die fortgeschrittene Säkularisierung in Griechenland konstatiert hat, schreibt er 2005: In der allein auf die Form bedachten Religiosität verstehen die Menschen sich selbst und ihre Lebensumstände mit den Begrifflichkeiten der Vergangenheit, denn nur dort verorten sie das Heilige; in der verweltlichten Religiosität gehen sie von ihrer individuellen Gegenwart aus und wenden ihren Willen den weltlichen Werten zu. Die Identität aus der Umgebung ist eine Identität aus der Vergangenheit, eine in sich geschlossene Wirklichkeit. Da aber jedes geschlossene System seiner Entropie unterworfen ist, fühlt auch die orthodoxe Kirche die Notwendigkeit, sich der Gegenwart zu öffnen, aber sie wagt es nicht, da sie nicht weiß, wie sie ihren spirituellen Kern wahren soll – den Menschen, der seinen Willen in der Askese oder in der Gesellschaft dem Willen Gottes unterwirft.133

131 Karagiannis 2008: 281 f. 132 Thumann 2012. 133 „Στὴν τυποκεντρικὴ θρησκευτικότητα οἱ ἄνθρωποι κατανοοῦν τὸν ἑαυτό τους καὶ τὴν συνθήκη τους μὲ ὅρους παρελθόντος, ἀφοῦ ἐκεῖ μόνο ἐντοπίζουν τὸ ἱερό. Στὴν ἐκκοσμικευμένη θρησκευτικότητα ἐκκινοῦν ἀπὸ τὸ ἀτομικό τους παρὸν καὶ στρέφουν τὴν θέλησί τους στὶς ἀξίες τοῦ κόσμου. Ἡ ταυτότης ἐκ τοῦ περιβάλλοντος εἶναι ταυτότης ἐκ τοῦ παρελθόντος, πραγματικότητα κλειστή. Ὅμως ἐπειδὴ κάθε κλειστὸ σύστημα ὑποκύπτει στὴν ἐντροπία του, ἡ Ὀρθοδοξία αἰσθάνεται τὴν ἀνάγκη νὰ ἀνοιχτῇ στὸν σύγχρονο κόσμο, ἀλλὰ δὲν τὸ ἀποτολμᾷ, μὴ ξέροντας πῶς νὰ διαφυλάξῃ τὸν πνευματικὸ πυρήνα της – τὸν ἄνθρωπο ποὺ προσφέρει τὸ θέλημά του, ἀσκητικὰ ἢ διὰ τῆς κοινότητος, στὸ θέλημα τοῦ Θεοῦ.“ (Ramfos 2005: 67 f.).

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Erschien die Verweltlichung der Religion und die Ausgestaltung der Welt nach menschlichen Paradigmen in Ramfos’ früheren Schriften noch gleichbedeutend mit ihrem Untergang, warnt er nun davor, sie zu einer Katastrophe zu stilisieren: In dem Augenblick, wo die religiöse Botschaft sich von ihrem magischen Beiwerk befreit und die Frage der moralischen Veränderung mit dem Wechsel der Mentalität verbindet, führt dies zu einem spirituellen Reifungsprozess.134

Eben diese Reife fehlt nach Ramfos’ Ansicht den Griechen zum Teil noch heute, weil sie noch in ihrem herkömmlichen Weltbild verankert sind. Griechenlands Säkularisierung ist also durchaus im Kontext der Enttraditionalisierung aller Gesellschaften in Südosteuropa zu verstehen, wenn auch Griechenland durch seine Geschichte auf der westlichen Seite des Eisernen Vorhangs schon früher Schritte in diese Richtung unternommen hat als die übrigen heutigen Staaten des Balkans. Die Annahme, dass die Moderne die traditionelle Gesellschaft ablöst und gleichsam ersetzt, ist in der neueren soziologischen Forschung allerdings revidiert worden. Vielmehr hat es sich gezeigt, dass die modernen Industriegesellschaften in einer widerspruchsvollen Symbiose moderne und vormoderne Elemente in sich vereinen.135 Giddens vertritt zu dieser Frage die Ansicht, dass die Moderne sich in einer „posttraditionalen Gesellschaft“136 abspiele und Ulrich Beck spricht von einer „reflexiven Modernisierung“.137 Verantwortlich für diesen Wandel ist in Giddens’ Augen die Dynamik der Globalisierung, der Individualisierung und die neuen Risiken, die allesamt Produkte des Modernisierungsprozesses sind.138 Der Tradition haftet, so Giddens, trotz Wandlungsfähigkeit, etwas Statisches an, sie steht für eine gewisse Kontinuität und ist das Medium für die Organisation des kollektiven Gedächtnisses, was ihr eine „bindende und moralische Kraft“ verleiht.139 Dennoch zerstörten und ersetzten Modernisierungsprozesse die Tradition zu einem guten Teil.140 Sterbling führt in Bezug auf den regionalen Bereich des Balkans das Argument an, dass die „Enttraditionalisierungsthese“ für Südosteuropa nur bedingt gelte. Zwar hätten sich in der Region seit dem Zusammenbruch des Kommunismus 134 „Ἀφ’ ἧς στιγμῆς ἐλευθερώνει τὸ θρησκευτικὸ μήνυμα ἀπὸ τὶς μαγικὲς συμπαραδηλώσεις καὶ συνδυάζει τὸ αἴτημα τῆς ἠθικῆς ἀλλαγῆς μὲ τὴν μεταβολὴ τῶν νοοτροπιῶν, ἀποτελεῖ συντελεστὴ πνευματικῆς ὡριμάνσεως.“ (Ramfos 2005: 70). 135 Beck 1986. 136 Beck/Giddens/Lash 1994. 137 Beck 1994. 138 Giddens 1995: 92–101, zitiert nach Sterbling 2008: 608. 139 Giddens 1995: 122 ff. 140 Ibid.: 169.

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erhebliche Veränderungen ergeben, Individualisierung und Globalisierung seien nicht zu leugnen, jedoch scheinen […] in den südosteuropäischen Gesellschaften nach wie vor komplizierte Spannungsund Verschränkungsbeziehungen zwischen traditionalen und modernen Strukturelementen gesellschaftsbestimmend, wobei dies im Zusammenhang mit den verspäteten Prozessen moderner Staaten- und Nationenbildung, der nachhaltigen wirtschaftlichen und sozialen Rückständigkeit wie auch der bis heute fortbestehenden erheblichen Bedeutung ländlich-agrarwirtschaftlicher Strukturgegebenheiten und den von all dem mitgeprägten Denkformen, Wertvorstellungen und sozialmoralischen Orientierungen zu verstehen ist.141

Sterbling plädiert daher dafür, im südosteuropäischen Kontext mit Rüschemeyer von einer „partiellen Modernisierung“ zu sprechen. Dies trage der Tatsache Rechnung, dass moderne und traditionelle Elemente in einer Gesellschaft zueinander in Beziehung treten. Die Wechselwirkung sei dabei besonders interessant: Der Modernisierungsprozess selbst kann paradoxerweise vormoderne Wertorientierungen verstärken. […] Die Entwicklung von ausdrücklich konservativen Ideologien als Reaktion auf moderne Herausforderungen; das verbreitete Auftreten verklärter Bilder der goldenen Vorzeit als Reaktion auf Spannungen; und die nationalistische Betonung der Einmaligkeit der sich wandelnden Gesellschaft und ihrer glorreichen Vergangenheit.142

Diese Merkmale einer „partiellen Modernisierung“ und einer De-Säkularisierung treffen auch auf Griechenland zu, und dies trotz oder gerade wegen seiner größeren politischen und kulturellen Nähe zu Europa. Die gesamte neoorthodoxe Strömung scheint also als Reaktion auf die Herausforderungen der Modernisierung entstanden zu sein. Differenziert argumentiert hierzu auch Angelos Giannakopoulos.143 Nach seiner Ansicht fließen in der griechischen Identität aufklärerische Elemente der Verehrung der Antike mit christlich-orthodoxen Elementen zusammen. Dies habe den Entstehungsrahmen des Phänomens der Neoorthodoxie gebildet, das seit Anfang der achtziger Jahre eine dominante geistige Stellung innerhalb der griechischen Gesellschaft einnehme. Die Neoorthodoxie sei demnach eine Konsequenz der breiten soziopolitischen Umwälzungen, die die griechische Gesellschaft ab dem Jahre 1981 infolge ihrer Integration in die damalige Europäische Gemeinschaft verkraften musste. 141 Sterbling 2008: 610. 142 Rüschemeyer 1971: 384, zitiert nach Sterbling 2008: 610. 143 Giannakopoulos 2007: 114 f.

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In Anbetracht der enormen Herausforderungen entwickelte diese geistige Haltung eine Rekonstruktion des griechischen Nationalcharakters aus der orthodoxen, insbesondere der patristischen Tradition, die an bestimmten Punkten den Werten der Moderne widerspricht. Aus neoorthodoxer Perspektive, so Giannakopoulos, bedeutet „Modernisierung“ indes die Rückbesinnung auf die kommunitaristischen Züge der orthodoxen spirituellen Tradition; der jahrzehntelange griechische Versuch, eine Gesellschaft nach westeuropäischem Vorbild zu schaffen, wird als „rationalistisch“ und „gottlos“ abgelehnt.144 Ramfos’ Analyse der Säkularisierung in Griechenland ist allerdings weniger sozialwissenschaftlicher Art; sein Blickwinkel ist weiter und er zieht kaum empirisches Material für seine Thesen heran, sondern er bleibt bei einer kulturphilosophischen Sichtweise. Hierbei vergleicht er die Säkularisierung, also die schrittweise Abwendung von Bindungen an ein transzendentes System, mit einer Emanzipation des Menschen und mit der oben bereits genannten „geistigen Reife“. Diese gewissermaßen organische Betrachtung der Gesellschaft führt er weiter in Arbeiten nach der Jahrtausendwende, in denen er soziale Entwicklungen psychologisch deutet.

6.5  Individualisierung und „ethnopsychologische“ Kritik Der Begriff, der an dieser Stelle wieder ins Spiel kommt, nämlich die Individualisierung, gilt, neben dem oben diskutierten Begriff der Säkularisierung, ebenfalls als gesellschaftstheoretischer Schlüsselbegriff zum Verständnis der Moderne. Historisch wird der Beginn des Individualisierungsprozesses in Mitteleuropa gewöhnlich in die Zeit der Reformation, im Süden Europas bereits in die der Renaissance verlegt, wenn er auch erst in der Aufklärung mit der expliziten Bezeichnung der „Individualität“ greifbar wurde.145 Gelegentlich wird der Beginn einer solchen selbstreflexiven Individualität bereits mit Augustinus’ autobiographischem Werk angesetzt,146 dessen Konsequenzen erst mit dem Hochmittelalter sichtbar wurden. Aus der westlichen, europäischen Perspektive einer gelungenen Modernisierung wird dieser folglich oft das Fremdstereotyp der verpassten Modernisierung in den östlichen Kulturen 144 Ibid. 116. 145 Zu Individualität und Subjektivität in der Renaissance siehe das Standardwerk von Jacob Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien, Erstausgabe 1860. Burckhardt widmet der „Entwicklung des Individuums“ ein gleichnamiges Kapitel (id. 1928: 121–158). 146 Misch 1931: 14 und öfter.

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gegenübergestellt, die insbesondere hinsichtlich der Individualisierung Defizite aufweist.147 Der Individualisierungsprozess innerhalb der modernen Gesellschaft verläuft in der soziologischen Diskussion parallel zu dem der Säkularisierung. Während eine zunehmend verweltlichte Gesellschaft die traditionellen Bindungen zwischen dem Menschen und den religiösen Strukturen auflöst, bezeichnet die Individualisierung die Loslösung des Einzelnen aus den Verpflichtungen von Klassen, Familien und Geschlechterrollen. Mit der Differenzierung des Arbeitslebens werden traditionelle Stabilitätsmechanismen nicht mehr absolut gesetzt, was eine neue soziale Identitätsbildung in enttraditionalisierten, individualisierten Lebenswelten nach sich zieht.148 Solche einer Individualisierung entgegenstehende Mechanismen sieht Ramfos im heutigen Griechenland noch erhalten. Ganz im Sinne einer Aufklärung, die, wie es Kant formulierte, den „Ausgang aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit“149 anstrebt, wendet er sich in jüngster Zeit energisch gegen diese Situation. Ramfos sieht in der vormodernen griechisch-orthodoxen Gesellschaft kindliche, „unreife“ Verhaltensmuster am Werk, aufgrund derer ihre Mitglieder zwangsweise in einer kindlichen Rolle gefangen bleiben. Diesen nach seiner Ansicht in der heutigen griechischen Gesellschaft noch immer bestehenden Zustand analysiert er mittels psychologischer und medizinischer Kategorien. In einem seiner jüngeren Essays aus dem Jahr 2012150 bezeichnet Ramfos die derzeitige Krise Griechenlands als Ausdruck eines krankhaften Selbstverständnisses der Nation und somit als psychopathologisches Phänomen. Nach dem Vorbild des Freud-Schülers Géza Róheim und der Studien von Georges Devereux151 versucht er, angelehnt an psychoanalytische Methoden, die geistige Malaise seiner Heimat zu diagnostizieren und entwickelt hierzu eine auf Griechenland anwendbare „Ethnopsychologie“. Ramfos verwendet das Bild der niemals aus dem Schatten ihres Vaters herausgetretenen Kinder, das den unreifen, nicht selbstständigen Charakter seiner Landsleute charakterisiert. Kirche und Staat halten das Individuum auf einer kindlichen Entwicklungsstufe. Die Religion trägt hierzu insofern in großem Umfang bei, als sich alle Menschen als „Kinder“ eines Gottes verstehen, welcher väterliche und totalitäre Züge 147 Auernheimer 2001: 40 zur verpassten Modernisierung Griechenlands: Sterbling 2008; dort 608 f. zur Individualisierung in Südosteuropa. 148 Beck 1986: 115 ff. 149 Kant 1784. 150 Ramfos 2012 b. 151 Róheim 1925; id.: 1943 und 1950; Devereux 1970.

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trägt. Schuld an dieser Situation sind zum einen die streng hierarchisch gegliederte Kirche und zum anderen die stets rückwärtsgewandte Gesellschaft, der es seit dem Sturz der Diktatur nicht gelungen ist, echte demokratische Strukturen zu schaffen. Stattdessen ist neben der Familie und dem Herkunftsort eine dritte, „syndikalistische“ Gemeinschaft entstanden, die nicht dazu in der Lage ist, Staat und Gesellschaft zu tragen, da diese Gemeinschaft ihre Bindungen allein aus gemeinsamen Rechtsansprüchen bezieht, im Gegenzug aber kein gemeinschaftliches Gefühl von Pflichten generieren konnte. Die Bürger konzentrieren sich also darauf, aus der Situation jeweils ihren größtmöglichen Vorteil zu ziehen, was in eine vergiftete Atmosphäre von parasitärem Nihilismus mündet.152 Die Probleme der griechischen Gesellschaft resultierten also aus der Tatsache, dass diese den Schritt zur Modernisierung noch nicht endgültig vollzogen hat. Das wird an den gesellschaftlichen Strukturen deutlich, die sich fast ausschließlich entlang der familiären Bindungen bilden: In traditionellen Gesellschaften wie der unseren fällt die Persönlichkeit des Menschen ohne Innerlichkeit mit der gesellschaftlichen Rolle zusammen. Diese bestimmt seine „individuelle“ Identität. Ich meine die Rolle des Vaters, des Vorstands der Familie, die der gehorsamen Gattin, oder die der zwei Eltern, die über das Schicksal der Kinder entscheiden […] Das gleiche gilt für die gesellschaftlich streng fixierten Rollen der Berufsstände, wie den Lehrer, den Priester, den Soldaten, den Arzt […] Mit dieser Erkenntnis können wir das kulturelle – nicht nur psychologische – Phänomen eines übertriebenen, wenn nicht paranoiden griechischen (altgriechischen, byzantinischen, neugriechischen) Egoismus deuten. Er ist eng mit den Gefühlen von Ehre und Scham verbunden, auch mit Missgunst und dem Drang sich darzustellen, ist aber weit von der selbstbewussten Persönlichkeit entfernt, da er in vielerlei Hinsicht mit der gesellschaftlichen Rolle zu tun hat. Die soziale Rolle, unsere Anerkennung durch die Position, nicht durch den Wert als solchen, bestimmen den nicht-individuellen, traditionellen griechischen Individualismus.153

152 Ramfos 2012 b: 25 ff. 153 „Σὲ παραδοσιακὲς κοινωνίες, ὅπως ἡ δική μας, ἡ προσωπικότης τοῦ ἀνθρώπου χωρὶς ἐσωτερικότητα συμπίπτει μὲ τὸν κοινωνικὸ ῥόλο. Αὐτὸς προσδιορίζει τὴν ‚ἀτομική‘ του ταυτότητα. Ἐννοῶ τὸν ῥόλο τοῦ πατέρα, αὐθέντη τῆς οἰκογένειας, ἐκεῖνον τῆς ὑπάκουης συζύγου, ἢ καὶ τῶν δύο γονέων ὡς κυρίων τῆς μοῖρας τῶν παιδιῶν […] Καὶ βέβαια τοὺς στενὰ ἐπαγγελματικοὺς ἕως κοινῆς ὠφέλειας ῥόλους, αἴφνης τοῦ δασκάλου, τοῦ ἱερέως, τοῦ στρατιωτικοῦ, τοῦ γιατροῦ […] Βάσει τῶν ἀνωτέρων, μποροῦμε νὰ σκεφθοῦμε καθαρώτερα ὡς πολιτισμικό – ὄχι μόνο ψυχολογικό – φαινόμενο τὸν παράφορο ἕως παρανοϊκὸ ἑλληνικὸ ἐγωισμό – ἀρχαῖο, βυζαντινό, νεώτερο. Συνδέεται στενὰ μὲ τὰ αἰσθήματα τῆς τιμῆς καὶ τῆς ντροπῆς, συνυφαίνεται μὲ πολὺ φθόνο καὶ ἀνάγκη ἐπιδείξεως, ἀπέχει δὲ γενναῖα ἀπὸ τὴν αὐτοσυνείδητη ἀτομικότητα, καθὼς ἔχει νὰ κάνῃ ἐν πολλοῖς μὲ τὸν καθρέφτη τοῦ ῥόλου. Ὁ κοινωνικὸς ῥόλος, ἡ ἀναγνώρισί μας διὰ τῆς θέσεως, ὄχι τῆς ἀξίας ὡς τέτοιας, καθορίζουν τὸν ἄνευ ἀτομικότητος παραδόσιμο ἑλληνικὸ ἀτομισμό.“ (Ramfos 2000: 47 ff.).

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Die Gründung eines modernen griechischen Staates auf diesen Voraussetzungen, zusammen mit dem Fehlen eines Mittelstandes und dem Verbleib bei kleinteiligen Organisationsformen wie der Familie oder der Dorfgemeinschaft, musste nach Ramfos notwendigerweise problematisch werden.154 Das Fehlen differenzierter, selbstbewusster Persönlichkeiten, die sich kreativ an der Ausgestaltung der Gesellschaft beteiligen und diese aus dem Zustand der Herde herausführen, ist das primäre Defizit Griechenlands.155 In dieser Situation, in einem Staat, der die Form eines paternalistischen politischen Klientelsystems hat, gibt es für das Individuum keinerlei Anreize, sich zu emanzipieren: Das Mittelalter hatte Gründe, den Menschen als „Kind“ haben zu wollen. So wollte es seine Hierarchien bauen und stärken, so dass das „göttliche Kind“ darin seinen Platz fände. Diese Epoche ist jedoch unwiederbringlich vorüber.156

Die politische Neuordnung der Metapolitevsi nach der Diktatur hat nicht die erhoffte Modernisierung gebracht, sondern hat lediglich einen „laizistischen Kommunitarismus“157 eingeführt; mithilfe von Gleichmacherei hat dieser die Gestalt eines staatlichen Schutzmechanismus angenommen, der auf angeblich fortschrittliche Weise das althergebrachte Klientelsystem fortführte. Daraufhin ist ein System der geringen individuellen Anstrengung und des Austauschs von Gefälligkeiten beibehalten worden.158 Diese Analyse von Ramfos stimmt im Grundsatz überein mit aktuellen Studien zur soziologischen Problematik in Südosteuropa. Sterbling beschreibt die südosteuropäischen Gesellschaften als Gesellschaften des „öffentlichen Misstrauens“159, die er mit Christian Giordano160 von denen des „öffentlichen Vertrauens“ unterscheidet. Das allgemeine Vertrauen in das abstrakte System des Staates in Form von öffentlichen Einrichtungen, staatlichen Institutionen und gewählten Vertretern ist die Basis der Gesellschaft nach westlichem Muster. Fehlt jedoch dieses Vertrauen, wie in den Gesellschaften des „öffentlichen Misstrauens“,161 unterstreicht Giordano, so 154 Ramfos 2012 b: 21 f. 155 Ibid. 156 „Ὁ Μεσαίωνας εἶχε λόγους νὰ θέλῃ ‚παιδὶ‘ τὸν ἄνθρωπο. Ἐννοοῦσε νὰ οἰκοδομῇ καὶ νὰ στερεώνῃ ἔτσι τὶς ἱεραρχίες του, ὥστε νὰ βρίσκει θέσι μέσα τους τὸ Θεῖο Βρέφος. Ὅμως ἡ ἐποχὴ ἐκείνη παρῆλθε ἀνεπιστρεπτί.“ (Ibid.: 54). 157 „Λαϊκιστικὸς ὁμαδισμός“ (Ibid.: 27). 158 Ibid. 159 Sterbling 2008: 614. 160 Giordano 2007: 26, zitiert nach Sterbling 2008: 614. 161 Dazu auch Makrides 2015 a: 380 ff.

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[…] stellt die private Sphäre den einzigen Bereich dar, der Sicherheit vermittelt und in welchem Verlässlichkeit herrscht. Die positiven Qualitäten des Privatbereichs rechtfertigen aus der Perspektive der Handelnden jede Bemühung, die das partikularistische Wohl der eigenen Gruppe zu garantieren und zu maximieren versucht. Parallel zur positiven Bewertung des Privatbereichs beurteilen die Mitglieder solcher Gesellschaften den öffentlichen Bereich negativ, denn das Öffentliche gilt als feindlich, unzuverlässig und gefährlich. […] Dementsprechend erwecken öffentliche Institutionen mit überlokalem Charakter stets den Verdacht, dass sei dazu dienen, die Individuen zu unterdrücken und auszunehmen. […] Als Folge dieser Haltung kann das verbreitete Desinteresse am Gemeinwohl verstanden werden. Das bonum commune wird nicht als Ressource angesehen, die bei korrekter Verwaltung dem Wohlergehen und der Prosperität der ganzen Staatsbürgergemeinschaft dient, sondern es gilt als Quelle, die dazu da ist, um partikularistische, d.h. persönliche Vorteile zu ergattern.162

So eine Haltung gegenüber der öffentlichen Sphäre und dem Gemeinwohl führt Sterbling in vielen Fällen auf „langfristige Erfahrungen der Fremdherrschaft, Unterdrückung und Ausbeutung, wie sie im Mittelmeerraum vielfach gegeben waren“, wie auch auf das kommunistische Herrschaftssystem, zurück. Dies führt im Allgemeinen zu einer […] Konzentration und Bündelung des Vertrauens auf persönliche Beziehungen bzw. personalisierte soziale Netzwerke, die von Familien- und Verwandtschaftsbeziehungen über rituelle Verwandtschaft, instrumentelle Freundschaft und Bekanntschaften bis zu Klientelsystemen und mafiösen oder mafiaähnlichen Netzwerken reichen.163

Im paternalistisch geprägten Gesellschaftssystem Griechenlands und in dem dort vorherrschenden traditionalistischen Gruppengefühl sieht auch Ramfos die seelische Unreife als Produkt einer „anachronistischen Anpassung auf sozialem und individuellem Niveau“, und das Verhaftetsein an eine idealisierte Vergangenheit, also die „Nostalgie“.164 Diese Nostalgie ist nach Ramfos eine „passive Erinnerung, sie ist keine aktive Erinnerung, die in die Zukunft weist“.165 Die tief verwurzelte Unsicherheit verstärkt die familiären Bande, und obwohl sich die Struktur der traditionellen Familie heute erheblich verändert hat und den einzelnen Individuen mehr Freiraum denn je zugebilligt wird, bleiben

162 Ibid., 26 f., Hervorhebungen vom Autor. 163 Sterbling 2008: 615 f. mit Verweisen auf Hobsbawm 1979, Hösch 1993, Roth 1983 und Giordano 2007: 27 ff. (Hervorhebungen vom Autor). 164 „[…] ἡ ψυχικὴ ἀνωριμότητα εἶναι πρωτίστως καρπὸς ἀναχρονιστικῆς προσαρμογῆς σὲ κοινωνικὸ καὶ σὲ ἀτομικὸ ἐπὶπεδο.“ (Ramfos 2012 b: 29). 165 „Ἡ νοσταλγία εἶναι παθητικὴ μνήμη· δὲν εἶναι μνήμη ἐνεργός, γιὰ νὰ μετέχῃ στὸ μέλλον.“ (Ramfos 2011: 394).

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die emotionalen Bindungen ihrer Mitglieder untereinander stark und prägen sich unauslöschlich in ihre Seele ein. In einer Gesellschaft wie der griechischen hat die Institution der Familie für die breitesten Bevölkerungsschichten das Gewicht von Naturgesetzen. Die Blutsbande rufen schon früh eine starke Verbreitung von Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen den im weitesten Sinne Verwandten hervor, so dass die schmerzhaften ödipalen Auseinandersetzungen der Emanzipation nicht leicht auf fruchtbaren Boden fallen.166

Die „atrophierte Individualität“ solcher in sozialen Strukturen gefangenen Personen führt dazu, dass selbstbestimmte Entscheidungen aus Misstrauen gegenüber der außerfamiliären Gesellschaft aufgeschoben, verzögert oder verhindert werden. Dieses „kindliche“ pathologische Verhalten führt schließlich für den Einzelnen zu Schwierigkeiten, sich vom Elternhaus zu lösen und für eine ganze Gesellschaft zum Problem, sich von ihrer verklärten Vergangenheit zu emanzipieren.167 Diese Schwierigkeiten fordern rückwärtsgewandte Ersatzhandlungen, wie sie etwa im gestiegenen Interesse am mönchischen Leben sichtbar wurden: Im Umkreis des Heiligen Berges Athos florieren heute Klöster, in denen tatsächlich oder angeblich jene Tugenden herrschen, die in der desakralisierten Welt des „diesseitigen“ modernen Griechenlands nicht zu finden sind: Eintracht, Ordnung, Ästhetik in der Liturgie, Sinn des Lebens, Arbeit an der eigenen Seele, Opferbereitschaft. Man fühlt sich in einer anderen Welt und durch den Kontakt mit ihr innerlich erneuert.168

Eben diese Klosterordnung fordert den Einzelnen jedoch besonders dazu auf, auf seine Individualität zu verzichten, Gehorsam zu üben gegenüber dem Abt, der personifizierten Vaterfigur, als geistliches „Kind“ und in den Reihen der übrigen Mönchs-„Brüder“. Die klösterliche Weltentsagung und das Heraustreten aus dem Raum-Zeitkontinuum des Hier und Jetzt halte den Gläubigen in einer künstlichen Abhängigkeit: „Die magische Welt der kirchlichen Verehrung ist überzeugend, 166 „Ὡστόσο οἱ συναισθηματικοὶ δεσμοὶ τῶν μελῶν της παραμένουν στενοὶ καὶ ἐντυπώνονται ἀνεξάλειπτα στὴν ψυχή τους. Σὲ μιὰ κοινωνία ὅπως ἡ ἑλληνική, ὁ οἰκογενειακὸς δεσμὸς ἔχει γιὰ τὰ εὐρύτερα στρώματα τοῦ πληθυσμοῦ τὴν βαρύτητα φυσικῆς τάξεως. Οἱ δεσμοὶ αἵματος προκαλοῦν ἐνωρίτατα ἰσχυρὴ διάχυσι αἰσθημάτων ἑνότητος μεταξὺ καὶ τῶν ἐν εὐρείᾳ ἐννοίᾳ συγγενῶν, ὥστε νὰ μὴ βρίσκουν εὔκολα πρόσφορο ἔδαφος οἱ ἐπώδυνες οἰδιπόδειες συγκρούσεις τῆς χειραφετήσεως ποὺ ἐνηλικιώνουν τὰ ἄτομα.“ (Ramfos 2012 b: 32). 167 Ibid.: 33 f. 168 „Ἐκεῖ συναντᾷ κανείς […] πράγματα δυσεύρεστα στὴν κοσμική, καὶ ὄχι μόνο, Ἑλλάδα: Ὁμόνοια, τάξι, λειτουργικὴ ὀμορφιά, νόημα ζωῆς, ἐσωτερικὴ ἐργασία, ἐξωτερικὴ προσφορά. Νομίζεις ὅτι βρίσκεσαι σὲ ἄλλον κόσμο καὶ νοιώθεις στὴν ἐπαφὴ μαζί του μὲ ἀνανεωμένο ἑαυτό.“ (Ibid.: 48).

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wenn sie blendet und daher bedarf ihr Zauber in jedem Falle eines Kindes als Rezipienten.169 Weiterhin: Alle kindlichen Menschen und Gesellschaften fühlen sich ständig als Opfer, die Schutz brauchen. Sie wollen sich unbedingt sicher fühlen, anstatt ihre Verpflichtungen wahrzunehmen. Alles und jeder ist schuldig an ihrem Unglück, nur sie selbst nicht. Generell lehnen sie es ab, ihre Verantwortung zu übernehmen, so dass sie dazu tendieren, stur, jähzornig, rachsüchtig und in gewisser Weise selbstzerstörerisch zu werden. Es ist nicht ausgeschlossen, dass sie irgendwann wütend auf sich selbst werden; sie klagen sich an, kein „braves Kind“ gewesen zu sein und machen nicht ihre eigene Unzulänglichkeit für den Fehler verantwortlich. Der Grieche leidet also an einem schweren Mangel an Selbstreflexionsvermögen.170

Ramfos diagnostiziert infolgedessen eine „soziale Paranoia“ für Griechenland, wie schon in seiner Aufsatzsammlung Logik der Paranoia. Die Schizophrenie äußert sich nicht zuletzt im gespaltenen Verhältnis zur Realität, die auch durch das schwierige Verhältnis zur eigenen Körperlichkeit zu erklären ist. Die mittelalterliche Leibverachtung, die einst die Trennung vom eigenen Körper für die Voraussetzung für die Erlösung hielt, kommt hier auf Umwegen wieder zum Vorschein: Wenn aber der Mensch sich von seinem Körper entfremdet, entfernt er sich gleichzeitig auch von der Realität; alles bleibt unbeweglich, während ein anderer Teil des Selbst sich autistisch in eine phantastische Einheit mit dem „Fleisch“ und seinen Begierden einschließt. […] Aber anstatt der als bedrohlich empfundenen Realität zu entkommen, verabsolutiert er diese.171

Eine Person, die sich als von ihrem eigenen Körper getrennt betrachtet, kann die materielle Realität nicht akzeptieren und igelt sich in ihren eigenen Wahn169 „Ὁ μαγικὸς κόσμος τῆς λατρείας πείθει ὅταν θαμπώνῃ καὶ γι’ αὐτὸ ἡ σαγήνη του χρειάζεται ὁπωσδήποτε ἀποδέκτη ἕνα παιδί.“ (Ibid.: 50). 170 „Οἱ νήπιοι ἄνθρωποι καὶ λαοὶ νοιώθουν μονίμως θύματα ποὺ χρειάζονται προστασία. Ἀπαιτοῦν σθεναρὰ νὰ αἰσθάνονται ἀσφαλεῖς καὶ ὄχι νὰ ἔχουν ὑποχρεώσεις. Φθαῖνε ὅλοι καὶ ὅλα γιὰ τὰ ἀτυχήματα ἐκτὸς ἀπὸ τοὺς ἴδιους. Ἀρνοῦνται νὰ ἀναγνωρίσουν ἐν γένει τὴν εὐθύνη τους, ὁπότε εἶναι εὐκολώτερο νὰ γίνουν πεισματάρηδες, θυμώδεις, ἐκδικητικοὶ καὶ κάποτε αὐτοκαταστροφικοί. Δὲν ἀποκλείεται κάποια στιγμὴ νὰ τὰ βάλουν μὲ τὸν ἑαυτό τους, ἀλλὰ τὸν μέμφονται διότι δὲν ἦταν «ὅσο ἔπρεπε» παιδὶ καὶ ὄχι ἐπειδὴ ἔσφαλε ἀπὸ δικὴ του ἀνεπάρκεια. Βιώνει ὁ Ἕλληνας σοβαρὸ ἔλλειμα αὐτοσυνειδησίας.“ (Ibid.: 69). 171 „Ὅμως ὅταν τὸ σῶμα ξενωθῇ ἀπὸ τὸν ἑαυτὸ τοῦ ἀνθρώπου, μαζὶ του ἀπομακρύνεται καὶ ἡ πραγματικότητα, τὰ πάντα μένουν ἀκίνητα, ἐνῷ τὸ ἀπόκομμα πλέον τοῦ ἑαυτοῦ καταφεύγει αὐτιστικὰ σὲ μιὰ φανταστικὰ ὁλοκληρωμένη ἐκδοχή του μὲ ‘σάρκα’ ἀποκλειστικὰ ἐπιθυμίες […] Ἀντὶ δηλαδὴ νὰ ἀποφύγῃ τὴν ‚ἀπειλὴ‘ τοῦ πραγματικοῦ, τὴν διαιωνίζει.“ (Ramfos 2012 b: 72).

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vorstellungen ein. Es mangelt ihr auch an Introspektion, sodass sie die eigenen Gefühle nicht als solche erkennt, sondern sie als quasi-Tatsachen ihrem Verhältnis zur Umwelt zugrunde legt.172 Konsequenzen dieser subjektiven Fehldeutung der Realität und des Mangels an Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, manifestieren sich im heutigen Griechenland auf unterschiedliche Weise, sei es in der Steuerflucht173 oder in kontraproduktiven Streiks174, die das gesamte öffentliche Leben lahmlegen. Die orthodoxe Tradition ist auch, so argumentiert Ramfos 2012 in Time Out für ein irrationales Verhältnis zurzeit in ihrer historischen Dimension verantwortlich. Das Verweilen in der unendlich ausgedehnten Gegenwart der alleinigen Erwartung des Jenseits sei ein weiterer Grund für die Unmündigkeit vieler seiner Landsleute. Dies hat negative Charaktereigenschaften, wie Überdruss, Leichtsinn, Entschlussschwäche, Ungeduld, ein kurzes Gedächtnis und Nostalgie gefördert, aber auch gefährliche Gefühle wie Unsicherheit und Furcht hervorgerufen. Gerade die Nostalgie, also die ständige Erinnerung an eine als ideal gedachte Vergangenheit und das Verharren in Schuldzuweisungen für die Vertreibung aus dem Paradies mit Blick auf einen wie auch immer gearteten Sündenfall verstärkt die Unfähigkeit, die als ψεύτης ντουνιᾶς [verlogene Welt] aufgefasste Realität gestaltend anzupacken.175 Ramfos bedient sich in seiner „Ethnopsychologie“ eines Vokabulars, das einem genaueren medizinischen Urteil sicher nicht standhalten würde. Zu unpräzise ist seine metaphorische und fast austauschbare Verwendung von Begriffen für psychische Störungen wie Schizophrenie, Paranoia und Persönlichkeitsspaltung, die jede für sich ein sehr spezifisches Krankheitsbild aufweisen; wahrscheinlich wird man seinen Essays eher gerecht, wenn man sie als eine Art „Weckruf “ an die Nation liest. Er legt metaphorisch den „Finger in die Wunde“, wenn er das griechische Nationalverhalten als „krank“ und „abnorm“ bezeichnet und seine Landsleute zu kritischer Selbstbetrachtung auffordert. Hier liegt seiner Auffassung nach auch die „Chance der Krise“.176 In der Überwindung der tradierten Mentalität, die in der Moderne und unter den veränderten Umständen der Globalisierung ihre Berechtigung verloren hat, ist es möglich, einen neuen Anfang zu finden. Die heutige griechische Krise ist in großem Maße eine Krise des Vertrauens, des Vertrauens in die eigenen Fähig172 Ramfos 2011: 394. 173 Ibid.: 323; 391. 174 Ibid.: 397 f. 175 Ramfos 2012 a: 43 ff. 176 Ramfos 2011: 341.

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keiten und in die Zukunft,177 die die Menschen daran hindert, endlich erwachsen zu werden und neue Risiken auf sich zu nehmen.178 Die Gestalt unseres Erwachsenwerdens ist die Verbindung des Verstandes mit der Übernahme von Verantwortung; andernfalls ist der Tod nicht die Folge der Umstände, sondern er kommt von innen. Wir haben jetzt die einzigartige Gelegenheit, kreativ an der Lösung unserer Probleme mitzuwirken, anstatt sie den anderen aufzubürden.179

Damit ist Ramfos an einer Position angelangt, die man durchaus als aufklärerisch bezeichnen kann, mit einem Blick nach vorn und vor allem kritisch gegenüber einer Tendenz in Griechenland, die er auch selbst lange vertreten hat, als er ausgehend von einer Unvereinbarkeit von griechischer und westeuropäischer Kultur sowie von einem Gegensatz von Orthodoxie und Moderne, mehr nach einem Schuldigen als nach Lösungen suchte. Seit wann Ramfos diese Position genau vertritt, ist nicht leicht zu fixieren; wir konnten aber beobachten, dass seit der Jahrtausendwende die prowestlichen Äußerungen in seinen Texten deutlich überwiegen. Dies blieb freilich nicht folgenlos. Einige seiner früheren neoorthodoxen Weggefährten haben diese Wende mit Bedauern wahrgenommen. Am deutlichsten formulierte dies Sotiris Gounelas, der ihm wiederum eine blinde Gefolgschaft dem Westen gegenüber vorwirft, im Gegensatz zum immer kleiner werdenden Häuflein der aufrechten Widerständler in Ost und West: Dort wo Antike und der Osten die mystische Tiefe des Seins erreichen – das zum Gottmenschen in der Menschwerdung Gottes „wird“ – erreicht der Westen die logische Sichtweise, das heißt, einen Abschnitt eben dieser Tiefe. Diesen Abschnitt erweitert er und dehnt ihn aus ins Unendliche, und in diesem Abschnitt möchte er mit seiner Technologie heute die Welt von Grund auf verändern: dies ist die „Entwicklung“. Dies haben alle Denker in Europa bestätigt, von Hölderlin bis Artaud, von Heidegger (trotz seines Atheismus) bis Simone Weil, von Pascal bis Papadiamantis wie auch andere Griechen, etwa P. Giannopoulos, Pikionis, Sp. Kyriazopoulos, Pentzikis, Lorentzatos und andere. Diese bildeten (und bilden) die wahren Widerständler, da sie dem Geist des Gigantismus, des gottlosen Humanismus und des Nihilismus, der die ganze Welt umspannt, widerstanden und widerstehen. Was sonst unterscheidet, letzten Endes, die Marktwirtschaft, von einem

177 Ibid.: 313 und 380 ff. 178 Ibid.: 394. 179 „Μορφὴ τῆς δικῆς μας ἐνηλικιώσεως εἶναι ὁ δεσμὸς τῆς συνεννοήσεως καὶ τῆς συνυπευθυνότητος· διαφορετικὰ ὁ θάνατος δὲν θὰ εἶναι προϊὸν τῶν συνθηκῶν, ἀλλὰ θὰ ἔρθῃ ἀπὸ μέσα. Μᾶς δίνεται ἡ μοναδικὴ εὐκαιρία νὰ σκεφθοῦμε καὶ νὰ μετέχουμε δημιουργικὰ στὴν ἐπίλυσι τῶν προβλημάτων μας, ἀντὶ νὰ τὰ φορτώνουμε στοὺς ἄλλους.“ (Ibid.: 394 f.).

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solchen Geist? Was unterscheidet sie von einer Einstellung, die den Menschen auf das Niveau eines bezahlten Sklaven schrumpfen lässt, der arbeitet, um zu konsumieren?180

Zu dieser Gruppierung kann Ramfos heute zweifellos nicht mehr gezählt werden. Dennoch hat er sich nicht völlig vom seinem früheren Denken gelost. Wenn es für einen westeuropäischen Leser vielleicht auch schwer nachvollziehbar ist, so bleiben in der Diskussion über die aktuelle griechische Situation die antike Vergangenheit, die orthodoxe Tradition und der Gegensatz zum Westen immer noch Argumente, die ins Feld geführt werden. Ramfos bildet hier keine Ausnahme. Was ihn jedoch von den Neoorthodoxen einerseits und der politischen Linken andererseits unterscheidet – und hier liegt nach unserer Ansicht auch der Grund für seine Akzeptanz gerade bei den jüngeren Intellektuellen, die die Militärdiktatur nicht mehr erlebt haben und die nicht mehr dem Blockdenken des Kalten Krieges verhaftet sind – ist der Versuch, die griechische Geschichte nicht mehr selektiv zu betrachten, sondern in ihrer Gesamtheit. Während Neoorthodoxe mit Christos Yannaras an der Spitze immer mehr Teile der griechischen Geschichte und des griechischen Erbes als „westlichen Einfluss“ brandmarken und ihn somit ausgrenzen, zeigt Ramfos mit der offenen Perspektive, dass diese Elemente eben doch ein vitaler Teil Griechenlands sind und bleiben sollen.

180 „[…] ἐκεῖ ποὺ ἡ ἀρχαιότητα καὶ ἡ Ἀνατολὴ ἀγγίζουν τὸ μυστικὸ βάθος τοῦ ὄντος – ποὺ ‚γίνεται‘ θεανθρωπία στὴν Ἐνανθρώπηση – ἡ Δύση ἀγγίζει τὴν λογικὴ ὄψη, ἕνα τμῆμα δηλαδὴ αὐτουνοῦ τοῦ βάθους. Τὸ τμῆμα αὐτὸ τὸ διευρύνει, τὸ ἐπεκτείνει στὸ ἄπειρο καὶ θέλει μέσα ἐκεῖ, σήμερα, μὲ τὴν Τεχνολογία νὰ ἀλλάξει συνθέμελα τὸν κόσμο: αὐτὸ εἶναι ἡ ‘ἐξέλιξη’ καὶ αὐτὸ διαπίστωσαν ὅλες οἱ διάνοιες στὴν Εὐρώπη ἀπὸ τὸν Χαίντερλιν μέχρι τὸν Ἀρτώ, ἀπὸ τὸν Χάιντεγκερ (παρὰ τὴν ἀπιστία του) ὣς τὴν Σιμόνη Βέιλ, ἀπὸ τὸν Πασκὰλ ὣς τὸν Παπαδιαμάντη καὶ ἄλλους Ἕλληνες ὅπως ὁ Π. Γιαννόπουλος, ὁ Σπ. Κυριαζόπουλος, ὁ Πεντζίκης, ὁ Λορεντζάτος καὶ μερικοὶ σημερινοί. Αὐτοὶ ἀποτέλεσαν (καὶ ἀποτελοῦν) τοὺς ἀληθινοὺς ἀντιστασιακοὺς, γιατὶ ἀντιστάθηκαν καὶ ἀντιστέκονται στὸ πνεῦμα τοῦ γιγαντισμοῦ, τοῦ ἄθεου οὐμανισμοῦ καὶ τοῦ μηδενισμοῦ ποὺ πάει νὰ τυλίξει ὁλάκερο τὸν κόσμο. Τί ἄλλο εἶναι στὴν τελικὴ ἀνάλυση ἡ οἰκονομία τῆς ἀγορᾶς ἀπὸ ἕνα τέτοιο πνεῦμα; Τί ἄλλο εἶναι ἀπὸ ἕνα πνεῦμα ποὺ συρρικνώνει τὸν ἄνθρωπο σὲ ἐπίπεδο μισθωτοῦ σκλάβου ὁ ὁποῖος δουλεύει γιὰ νὰ ἀγοράζει;“ (Gounelas 2001: 59 f. Hervorhebungen vom Autor).

7 Schluss 7.1 Zusammenfassung In dieser Arbeit habe ich versucht, die wesentlichen Themen des weitläufigen und sehr umfangreichen kulturphilosophischen Werks der Ramfos in groben Zügen darzustellen, soweit dies möglich ist für einen Autor, der noch sehr produktiv ist. Ein Leitgedanke bei der historischen Einordnung von Ramfos’ Texten war der Versuch, ihn einerseits in einen nationalen Diskurs um die Bedeutung des antiken Erbes und der orthodoxen Tradition in einem modernen Staat des zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhunderts einzuordnen. Da Ramfos seit Langem nur noch auf Griechisch schreibt und fast ausschließlich in den griechischen Medien präsent ist, schien uns dies ein wichtiger Aspekt zu sein. Andererseits stellte er sich insbesondere mit seiner wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der antiken und mittelalterlichen philosophischen Tradition in einen internationalen Kontext, den wir ebenfalls darzustellen versucht haben. Letzterer Aspekt wurde jedoch nicht so sehr vertieft, wie es vielleicht möglich gewesen wäre, zum einen, um den Rahmen der vorgesehenen Untersuchung nicht zu sprengen und auch aus der Überlegung heraus, dass Ramfos schon in nationalen Fachkreisen (noch) wenig wahrgenommen wird, und erst recht im internationalen Forschungsdiskurs fast überhaupt nicht präsent ist. Seine umfangreichen Studien zur Philosophie Platons und Plotins sowie der mittelalterlichen Philosophie und Theologie entwickeln sich entlang zweier Leitfragen, deren Gewichtung sich im Laufe der Zeit verschob. Die erste fragt nach einer kontinuierlichen geistigen griechischen Tradition von der Antike bis ins Mittelalter, die sich in einer einheitlichen Lichtmetaphysik manifestiert. Von der Platonischen Theoria und der Angleichung an Gott sei demzufolge eine direkte Verbindung zur Theologie des Palamas zu ziehen, die sich über Zwischenstufen im spätantiken Mönchtum und der geistigen Entwicklung in Byzanz etwa bei Symeon dem Theologen feststellen lässt. In den Ausführungen insbesondere zu Platon wird dabei Ramfos’ intensive Beschäftigung mit Heideggers Philosophie deutlich, gegen dessen Metaphysikkritik er die antike Philosophie zu verteidigen sucht. Mit Heidegger wendet sich Ramfos andererseits, wie auch der bedeutendste Vertreter der neoorthodoxen Strömung in Griechenland, Christos Yannaras, gegen die Metaphysik der Scholastik, argumentiert aber für eine Exegese der antiken Philosophie aus dem Geist der orthodoxen Kirchenväter, die die byzantinische Tradition bestimmten.

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Schluss

Damit wurden einerseits die Missverständnisse bezüglich der Antike, die aus einer von Scholastik und Renaissance bestimmten Interpretationstradition in Europa resultieren sollten, beseitigt, andererseits sucht Ramfos mit zahlreichen Anleihen aus der russischen Exiltheologie nach Antworten auf Fragen der modernen Zeit innerhalb der orthodoxen Tradition. Diese Fragestellung beschäftigte Ramfos bis weit in die neunziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts und charakterisiert eine Phase, in der Ramfos zumindest in Teilen der neoorthodoxen Strömung in Griechenland zugeordnet werden kann, wenn er sich selbst hinsichtlich der Einordnung seiner Werke aus dieser Zeit auch sehr zurückhält. Ramfos’ Themen in dieser ersten Periode seines Schaffens erstrecken sich über die gesamte griechische Geistesgeschichte, und werden von einem starken Interesse an den Gemeinsamkeiten von Antike und Mittelalter geleitet. Insbesondere geht es ihm darum, eine einheitliche griechische Metaphysiktradition darzustellen, in der Platon und Palamas als Gewährsleute für eine ungebrochene Tradition des geistigen Aufstiegs des Menschen zu Gott in der Verehrung des Lichts stehen. Die spezifisch orthodoxe Gottesschau der Theoria wird allerdings, und hier deckt sich Ramfos’ Meinung mit der der russischen Exiltheologie und deren Hauptvertretern wie Losski, Florowski und Meyendorff, als Instrument einer Verteidigung gegen die ihrer Meinung nach häretische Auslegung der Trinitätsfrage und der gesamten scholastischen Philosophie überhaupt, in der westlichen Kirche verwendet. Ramfos geht genaugenommen sogar noch über diesen Ansatz der Verteidigung der griechisch-orthodoxen Tradition gegen die westliche „Fehlinterpretation“ der christlichen Lehre hinaus; zusammen mit dem Versuch, die antike Philosophie und insbesondere Platon gegen Heideggers Kritik der Metaphysik argumentativ zu schützen, der vor allem in seine Pariser Zeit zurückreicht, und in der Verbindung von Antike und Christentum, ist der Umfang seiner gedachten griechischen Metaphysik sogar noch größer. Aus diesem Zusammenhang erklärt sich also sein großes Interesse an denjenigen Teilen der Philosophie Platons, die auch sehr stark auf das Christentum gewirkt haben, namentlich die Dialoge Phaidros, Phaidon, Symposion und der Staat, nicht zuletzt auch wegen ihrer bildhaften Sprache und der philosophischen Mythen, die eine mystische Interpretation erleichtern. An diese antiken Werke schließt sich nahtlos Ramfos’ Analyse christlicher Schriften an. So zieht er viele Parallelen, etwa zwischen dem philosophischen und göttlichen Eros in Platons Symposion und den Hymnen des Symeon des Theologen oder dem göttlichen Licht in Platons Höhlengleichnis und in den Triaden des Gregor Palamas zum Hesychasmus.

Zusammenfassung

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In der Kontinuität von Antike und Christentum, von der er meint, sie sei in der westlichen Forschung verkannt worden, sieht er die Chance eines modernen Griechenlands, das sich bis in die Gegenwart des zwanzigsten Jahrhunderts aus der platonisch-orthodoxen Quelle speisen soll. So tendiert er in kulturpolitischen Themen wie der Sprachenfrage und in Themen der Bildung in den achtziger Jahren zu einer sehr konservativen Position. Vorwürfe, seine Aufsätze seien ethnozentrisch und nationalistisch gewesen, weist er später jedoch entschieden zurück. Nach einer grundsätzlichen Neuorientierung seiner Werke, die sich in den neunziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts vollzog, wandte sich Ramfos zwar nicht von den ihm nach wie vor wichtigen Themen des griechischen Geisteslebens ab, dennoch vollzog er im Hinblick auf sein Verhältnis zum Westen und zu Europa eine regelrechte Kehre. Davon blieben auch die Ergebnisse seiner Untersuchungen zu rein griechischen Themen nicht ausgenommen, da sich sein Fokus von einer Apologie der griechischen Kultur und einer starken Abgrenzung von Europa und dem Westen hin zu einer eher psychologisierenden griechischen Anthropologie verschob. Sichtbar wird dies etwa in seiner Behandlung des Evagrios Pontikos, dem Theoretiker des mittelalterlichen Mönchtums, in dem er einen Vorreiter in der Beschreibung des Seelenlebens sah, und viel deutlicher noch in seiner Kritik am Hesychasmus, dem er unter anderen die Hauptprobleme des zeitgenössischen Griechenlands anlastete, nämlich eine Verkennung der politischen und ökonomischen Realität, die sich aus der Verachtung des Diesseits und einer absoluten Hinwendung zum Leben nach dem Tode in der orthodoxen Tradition erklärt. Das Fehlen geistesgeschichtlicher Entwicklungen, die im Westen durch Humanismus, Renaissance und Aufklärung vonstattengingen, führten, gemeinsam mit der völligen Fehleinschätzung der Bedeutung des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts, nicht nur zum Fall des byzantinischen Kaiserreichs, sondern auch zu der Stagnation, in der die moderne griechische Gesellschaft verstrickt ist. Trotz seiner späteren Abwendung von den ethnozentrischen und antiwestlichen Urteilen, die die griechische Theologie der sechziger Jahre und die orthodoxe Theologie im Allgemeinen fällten, blieb Ramfos einer ihrer Besonderheiten auch später verhaftet, nämlich der starken Betonung der philosophischen beziehungsweise mystischen Themen, wie etwa der Kommunikation des Menschen mit Gott. Dies läuft auf eine starke Eingrenzung des theologischen Horizonts hinaus. Ramfos Vorstellung von der Orthodoxie kommt somit fast schon einer Philosophenreligion gleich, die jedoch mit der heute gelebten Orthodoxie nicht viel gemeinsam hat. Die Behandlung der Lichtmetaphysik in den Hymnen des Symeon beinhaltet mehrere verschiedene Aspekte. In seiner neoorthodoxen Phase behandelt Ramfos

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Schluss

Symeons Werk als eine Art Epochenschwelle für die griechisch-orthodoxe Kultur, an der sich eine besondere Form des Humanismus entwickelt. Im Kontext der umfangreichen (westliche) Diskussion um die Existenz und die Art eines byzantinischen Humanismus und eine oder mehrere Renaissancen in Konstantinopel entwickelt Ramfos hier eine eigene These, die eines Theo-Humanismus, in dem die anthropozentrischen Abirrungen der italienischen Renaissance vermieden würden. In der wissenschaftlichen Kritik fand dieser Beitrag allerdings ein wenig positives Echo. Diese Idee behält er trotzdem auch in seiner jüngsten Beschäftigung mit Symeon bei, wenn auch ohne die antiwestlichen Invektiven der früheren Werke. Interessant ist vielmehr ein weiterer Aspekt, unter dem Ramfos Symeons Werk deutet, nämlich seine optische Theorie, ein häufig wiederkehrendes Thema in Ramfos’ Schriften. Die besondere Funktion des Lichts in der Malerei, und die geringe Aufmerksamkeit, die im byzantinischen Umkreis der Perspektive geschenkt wird, beschreibt Ramfos mit seinem literarischen Quellenmaterial und gelangt so zu ähnlichen Schlüssen wie heutige Kunsthistoriker. Die Figur des Gregor Palamas, dessen Theologie für viele den Schlüssel zum Verständnis der Orthodoxie darstellt, ist ein weiteres Beispiel, an dem wir die unterschiedliche ideologische Prägung von Ramfos’ Schaffensphasen darstellen wollten. An der Person des Palamas entzündete sich nicht nur zu seinen Lebzeiten im 14. Jahrhundert eine heftige theologische Debatte innerhalb der Orthodoxie; Palamas’ Ausarbeitung der orthodoxen Tradition markierte für eine Vielzahl der orthodoxen Theologen des 20. Jahrhunderts auch den endgültigen kulturellen Bruch zwischen orthodoxem Osten und lateinischem Westen, zwischen mystischer Tradition und vernunftzentrierter Scholastik. Dieser scheinbar unüberbrückbare Unterschied wurde in den Zeiten des Kalten Krieges bis zum Ende des 20. Jahrhunderts von Theologen beider Seiten so gedeutet, und ganz besonders von den griechischen Neoorthodoxen, und mit ihnen auch von Ramfos. Dieser nahm in einem frühen Werk die Triaden des Palamas als Ausgangspunkt für eine Kritik der Moderne. Später drehte er das Problem jedoch um, und ohne die Unvereinbarkeit der beiden Mentalitäten grundsätzlich infrage zu stellen, deutete er die hesychastische Tradition als äußerst problematisch für ein modernes Griechenland und fügte seiner Palamas-Interpretation ein Element der phänomenologischen Transzendenz des Selbst hinzu, das auch in anderen späten Schriften anhand anderer orthodoxer Autoren ausgearbeitet werden wird. In seiner Kritik des Hesychasmus zeigt sich 2010 auch schon die spätere Tendenz, die Besonderheiten der griechischen Mentalität in der Terminologie psychischer Anomalien zu beschreiben.

Versuch einer Beurteilung des bisherigen Wegs

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Ramfos’ kulturhistorische Analyse der griechischen antiken und mittelalterlichen Tradition ist jedoch nicht allein aus sich heraus verständlich. Insbesondere für Ramfos’ Beurteilung des Verhältnisses von orthodoxer und westlicher Tradition ist seine Einordnung in die neoorthodoxe Strömung in Griechenland wichtig. Diese Strömung wurde ab den späten fünfziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts von der russischen Exiltheologie stark beeinflusst und war nicht nur im akademischen Diskurs, sondern auch in der Öffentlichkeit sehr präsent und umstritten. Anhand der Debatte um den Personalismus in Griechenland habe ich auch Ramfos’ unterschiedliche Positionen innerhalb dieser Diskussion nachzuzeichnen versucht, der schließlich auch den Versuch unternahm, seine Ansicht von einer notwendigen Annäherung Griechenlands an den Westen durch einen auf die byzantinische Tradition fußenden Entwurf des Personenbegriffs auszuarbeiten. Hier wird deutlich, dass auch für den späten Ramfos die Anbindung an die Tradition sehr wichtig ist, ebenso wie die Orientierung an der phänomenologischen Philosophie. In den bisher zusammengefassten Teilen der vorliegenden Arbeit bezog sich die Analyse von Ramfos’ Werk hauptsächlich auf seine akademischen Texte; im letzten Kapitel, in dem wir dargestellt haben, wie Ramfos Griechenlands Weg in die Moderne kommentiert, kommen auch kleinere Texte, die einem breiteren Publikum zugänglicher sind, zu Wort. Anhand der für die griechische Identität sehr wichtigen Debatte um die korrekte Form der griechischen Sprache wurde besonders Ramfos’ Vorliebe für eine gewählte und stellenweise auch archaisierende Sprache deutlich, in der die poetische Dimension eine zentrale Rolle spielt. Die exemplarische Analyse der Texte zum Schriftsteller Alexandros Papadiamantis zeigen, wie sich Ramfos Position seit der Jahrtausendwende verschoben hat. Ramfos spielt heute in Griechenland eine wichtige Rolle als Kommentator der ökonomischen Krise, die auch zu einer politischen und gesellschaftlichen Krise geworden ist. Hierzu haben wir exemplarisch eine Tendenz thematisiert, die aktuelle schwierige Situation anhand ethnopsychologischer Kriterien zu analysieren, wobei hier alle Stränge von Ramfos früherem Schaffen zusammenfließen: sein Interesse für die Entwicklung der griechischen Innerlichkeit, für die Positionierung Griechenlands im europäischen und internationalen Kontext und schließlich für die historische Krise der griechischen Nation.

7.2  Versuch einer Beurteilung des bisherigen Wegs Ich habe mich bemüht, das Werk von Ramfos in seinen unterschiedlichen Facetten in seiner Entwicklung darzustellen; eine abschließende Beurteilung fällt

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Schluss

jedoch nicht leicht, insbesondere weil Ramfos nach wie vor sehr produktiv ist. Nichtsdestotrotz wurde deutlich, dass Ramfos in der gegenwärtigen griechischen Geisteslandschaft eine singuläre und herausragende Erscheinung ist. Obwohl, oder gerade weil er sich außerhalb der akademischen Strukturen bewegt, besitzt er eine beachtliche öffentliche Wirkung; er polarisiert und ist Objekt von Verehrung, aber auch von Satire.1 Vom Standpunkt der Philosophie- bzw. Theologiegeschichte aus ist sicherlich Vieles gegen Ramfos’ Werk einzuwenden, was dem Autor durchaus auch bewusst ist; seine Untersuchungen umspannen sehr weite Zeiträume und sehr unterschiedliche, historische, soziologische, psychologische und noch weitere Aspekte. Weiterhin verlässt er sich zuweilen auf überholte Forschungsmeinungen und die gegen ihn gerichtete Kritik ist in vielen Fällen berechtigt. Er selbst sieht seine Stärken jedoch in der Spurensuche in der griechischen Geistesgeschichte, in der Kreativität seiner Hermeneutik und im Gegenwartsbezug seiner historischen Analysen. Ramfos’ starke Medienpräsenz spricht ebenfalls dafür, dass seine Gedanken in Griechenland immer einen empfindlichen Nerv treffen. Seine Bedeutung liegt offenbar auch in seiner Wirkung auf die griechische Öffentlichkeit; im Kreis seiner Verehrer spielt er die Rolle eines Lehrers der Nation, der sein Publikum in Zeiten der Krise beständig an ihre Identität erinnert. Ramfos’ Verständnis des orthodoxen Christentums ist zumindest eigenwillig; in seinen Büchern kristallisiert sich eine sehr philosophische Spiritualität heraus, die sich nicht immer mit dem landläufigen Verständnis dieser Religion deckt. Seine geschichtsumspannende Mystik, die sich von der Antike bis in die Gegenwart erstreckt, entbehrt nicht einer gewissen Faszination und ästhetischer Größe. Sein Werk ist vielleicht am ehesten im Sinne Platons als poetisch anzusehen; es spielt sich in jener bedeutungsvollen Sphäre des ἐπέκεινα τοῦ νοῦ ab, jenseits des Verstandes, und umkreist das, was er für den wichtigsten Beitrag Griechenlands zum kulturellen Welterbe hält: die mannigfaltige Beschreibung des geistigen Höhenflugs, des Versuchs, die Begrenztheit des menschlichen Daseins zu transzendieren, sich unter dem gleißenden Strahl des göttlichen Lichts aufzulösen und sich wieder zu finden in Gott, der nur die andere Seite des Menschen ist, sein besseres Selbst. 1 Der einzige mir bekannte Text, der auch als Karikatur von Ramfos gelesen werden kann, ist eine Kriminalerzählung, in der es um einen Ikonen raubenden Nationalphilosophen geht. Die Ähnlichkeit mit Ramfos wird in einer Szene angedeutet, in der der Protagonist, ein Detektiv, in einem von geschraubter Rhetorik und nationalem Pathos getränktem Vortrag des Philosophen, fast einschläft (Agapitos 2007). Zu bemerken ist noch, dass der Verfasser der Erzählung selbst Professor für byzantinische Literatur ist.

8 Literaturverzeichnis 8.1  Werke von Stelios Ramfos 8.1.1 Werke, die als einzelne Bände erschienen sind und teilweise später in die Gesamtausgabe integriert wurden Νόστος [Heimkehr], Athen 1971; 1990 (Jetzt in GA 3). Τόπος ὑπερουράνιος [Jenseits des Himmels], Athen 1975 (Jetzt in GA 2). Ἡ μουσικὴ τοῦ Ἡρακλείτου [Die Musik des Heraklit], Athen 1976 (Jetzt in GA 1). Ἡ παλινῳδία τοῦ Παπαδιαμάντη [Die Palinodie des Papadiamantis], Athen 1976 (Jetzt in GA 2). Μελέτη θανάτου [Vorbereitung auf den Tod], Athen 1980 (Jetzt in GA 2). Ἡ πολιτεία τοῦ Νέου Θεολόγου. Προϊστορία καὶ ἀγωνία τοῦ Νέου Ἑλληνισμοῦ [Das Leben des Neuen Theologen. Vorgeschichte und existenzielle Angst des modernen Griechentums], Athen 1981 (Jetzt in GA 3). Κυριακοδρόμιον. Γλῶσσα-Παιδεία-Παράδοση [Sonntagsgang. Sprache, Bildung, Tradition], Athen 1981 (Jetzt in GA 5). Παιδεία Ἑλληνική [Griechische Bildung], Athen 1982 (Jetzt in GA 5). Θεοῦ γράμματα σπουδάσματα [Gottesgelehrsamkeit], Athen 1983 (Jetzt in GA 5). Ἡ ἀπιστία τοῦ Θωμᾶ [Die Ungläubigkeit des Thomas], Athen 1983 (Jetzt in GA 3). Μαρτυρία καὶ Γράμμα – Ἀπόλογος γιὰ τὸν Μάρξ καὶ λόγος γιὰ τὸν Καστοριάδη [Zeugenaussage und Brief. Abgesang auf Marx und Rede über Castoriadis], Athen 1984 (Jetzt GA 4). Ἡ γλῶσσα καὶ ἡ παράδοση [Sprache und Tradition], Athen 1984; 1990 (Jetzt in GA 6). Vortrag und Diskussion mit Ramfos in: Ὀρθοδοξία καὶ Μαρξισμός [Orthodoxie und Marxismus (Ohne Angabe des Herausgebers)], Athen 21984, 31 ff. Μονοτονισμένη μουσική [Musik mit einem Akzent], Athen 1986 (Jetzt in GA 6). Στάσιμα καὶ Ἔξοδος [Stasima und Exodos], Athen 1988 (Jetzt in GA 6). Φιλόσοφος καὶ θεῖος ἔρως [Philosophischer und göttlicher Eros], Athen 1989 (Jetzt GA 7). Ὑστερόγραφο [Postskriptum], Athen 1990 (Jetzt in GA 1). Μυθολογία τοῦ βλέμματος [Mythologie des Blicks], Athen 1994 (Jetzt in GA 11). Ἱστορία στὴν κόψη τοῦ χρόνου [Geschichte am Ende der Zeit], Athen 2000.

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Literaturverzeichnis

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8.1.2  Werkausgabe des Stelios Ramfos vom Verlag Ἁρμός [Harmos] GA 1 = Φιλοσοφία ποιητική. Πλατωνικὰ ζητήματα [Poetische Philosophie. Platonische Fragen], Athen 1991. GA 2 = Τριῴδιον [Dreigesang], Athen 1995. GA 3 = Ἰθάκη καὶ ἰθαγένεια [Ithaka und Ursprünglichkeit], Athen 2001. GA 4 = Μαρτυρία καὶ γράμμα. Ἀπόλογος γιὰ τὸν Μάρξ καὶ λόγος γιὰ τὸν Καστοριάδη [Zeugenaussage und Brief. Abgesang auf Marx und Rede über Castoriadis], Athen 2002. GA 5 = Ὀνομάτων ἐπίσκεψις [Gedanken über Namen], Athen 2010. GA 6 = Ἐλευθερία καὶ γλῶσσα [Freiheit und Sprache], Athen 2010 GA 7 = Φιλόσοφος καὶ θεῖος ἔρως [Philosophischer und göttlicher Eros], Athen 1999. GA 8 = Ἱλαρὸν φῶς τοῦ κόσμου [Das heitere Licht der Welt], Athen 2006. GA 9 = Μίμησις ἐναντίον μορφῆς. Ἐξήγησις εἰς τὸ Περὶ ποιητικῆς τοῦ Ἀριστοτέλους, Πρῶτον μέρος [Mimesis versus Form. Kommentar zu Aristoteles’ Poetik. Erster Teil], Athen 1992.

Werke von Stelios Ramfos

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GA 9a = Μίμησις ἐναντίον μορφῆς. Ἐξήγησις εἰς τὸ Περὶ ποιητικῆς τοῦ Ἀριστοτέλους, Δεύτερον μέρος [Mimesis versus Form. Kommentar zu Aristoteles’ Poetik. Zweiter Teil], Athen 1993. GA 10 = Πελεκᾶνοι ἐρημικοί. Ξενάγησι στὸ Γεροντικόν [Pelikane in der Einsamkeit. Führung durch die Sprüche der Wüstenväter], Athen 1994. GA11=Χρονικὸ ἑνὸς καινούργιου χρόνου. Ἀφορμὲς πνευματικοῦ ἀναπροσανατολισμοῦ [Chronik einer neuen Zeit. Ansätze einer geistigen Neuorientierung],Athen 2008. GA 12 = Τὸ αἴνιγμα καὶ ἡ μοῖρα. Ποιητικὴ τέχνη στὸν Οἰδίποδα τύραννον [Das Rätsel und das Schicksal. Poetische Kunst im König Odipus], Athen 1997. GA 13 = Μεταφυσικὴ τοῦ Κάλλους [Metaphysik der Schönheit], Athen 2003. GA 14 = Καλλίπολις ψυχή. Σχόλιο στὴν Πολιτείαν τοῦ Πλάτωνος [Die Seele der Kallipolis. Anmerkungen zu Platons Staat], Athen 2013. GA 15 = Μία καλοκαιρινὴ εὐτυχία τρίζει [Flüchtiges Sommerglück], Athen 1999. GA 16 = Ὁ καημὸς τοῦ ἑνός. Κεφάλαια τῆς ψυχικῆς ἱστορίας τῶν Ἑλλήνων [Der Schmerz des Einen. Kapitel der Seelengeschichte der Griechen], Athen 2000. GA 17 = Τὸ μυστικὸ τοῦ Ἰησοῦ [Das Geheimnis Jesu], Athen 2006. GA 18 = Τὸ ἀδιανόητο τίποτα. Φιλοκαλικὰ ῥιζώματα τοῦ νεοελληνικοῦ μηδενισμοῦ [Das undurchschaubare Nichts. Die Wurzeln des neugriechischen Nihilismus in der Philokalia], Athen 2010. GA 19 = Νίτσε γιὰ καλὸ γούστο [Nietzsche für den guten Geschmack], Athen 2009. GA 20 = Δύο φορὲς „Ναί“! Ἡ θυσιαστικὴ ὑπέρβασι τοῦ χρόνου στὸν πλατωνικὸ Φαίδωνα [Zweimal „Ja“! Transzendenz und Opfer der Zeit in Platons Phaidon] (zur Zeit der Drucklegung dieses Bandes noch nicht erschienen). GA 21 = Ὑπάρχεις σὰν μοῖρα. Διαλέξεις γιὰ τὸ Εἶναι καὶ χρόνος τοῦ Χάιντεγγερ [Du existierst als Schicksal. Vorlesungen über Sein und Zeit von Heidegger], 2012.

8.1.3 Übersetzungen von Ramfos’ Werken 8.1.3.1  In die englische Sprache Like a Pelican in the Wilderness: Reflections on the Sayings of the Desert Fathers, übersetzt von Norman Russell, Brookline (Mass.) 2000, (gekürzte Übersetzung des Werkes Πελεκᾶνοι ἐρημικοί. Ξενάγησι στὸ Γεροντικόν [Pelikane in der Einsamkeit. Führung durch die Sprüche der Wüstenväter], Athen 1994). Fate and Ambiguity in Oedipus the King, übersetzt von Norman Russell, Brookline (Mass.) 2006 mit einem Vorwort von Olympia Dukakis. (= Τὸ αἴνιγμα καὶ ἡ μοῖρα. Ποιητικὴ τέχνη στὸν Οἰδίποδα τύραννον [Das Geheimnis und das Schicksal. Literarische Technik im König Ödipus], Athen 1997).

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8.1.3.2  In die italienische Sprache La musica di Eraclito, übersetzt von Filli Rossi, Milano 2000 (= Ἡ μουσικὴ τοῦ Ἡρακλείτου [Die Musik des Heraklit], Athen 1976).

8.2  Primärquellen aus antiker und mittelalterlicher Literatur 8.2.1  Antike Quellen Aristoteles, De Anima, zitiert nach der Paginierung der Ausgabe Aristotelis Opera von Immanuel Bekker, Berlin 1831–70. Aristoteles, Eudemische Ethik, zitiert nach der Paginierung der Ausgabe Aristotelis Opera von Immanuel Bekker, Berlin 1831–70. Aristoteles, Nikomachische Ethik, zitiert nach der Paginierung der Ausgabe Aristotelis Opera von Immanuel Bekker, Berlin 1831–70.  Corpus Augustinianum Gissense, hg. Cornelius Mayer, Basel 1996. Saint Basile, Aux jeunes gens sur la manière de tirer profit des lettres helléniques, hg. Fernand Boulenger, Paris 1935.  M. T. Ciceronis Tusculanae disputationes, hg. Michelangelo Giusta, Torino 1984.  M. T. Ciceronis De finibus bonorum et malorum libri quinque, hg. Leighton D. Reynolds, Oxford 1998. Clément d’ Alexandrie, Les Stromates I–II, hg. Caster Mondésert [= Sources Chrétiennes, 30, 38] Paris 1951–1954. Evagrios Pontikos, Kephalaia Gnostica, hg. Antoine Guillaumont [= Patrologia Orientalis, 28/1], Paris 1971. Évagre le Pontique, Traité pratique ou le moine, hg. Paul Géhin, Antoine Guillaumont, Claire Guillaumont [= Sources Chrétiennes, 170–171], Paris 1971. Évagre le Pontique, Sur les pensées, hg. Paul Géhin, Antoine Guillaumont, Claire Guillaumont [= Sources Chretiennes, 438], Paris 1998.  Herodoti Historiae, hg. Karl Hude, Oxford 31951.  Historia Lausiaca – Die frühen Heiligen der Wüste, hg. Jacques Laager, Zürich 1987.  Q. Horati Flacci Opera, hg. Friedrich Klinger, Bruno Doer, Leipzig 1959.

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ERFURTER STUDIEN ZUR KULTURGESCHICHTE DES ORTHODOXEN CHRISTENTUMS Herausgegeben von Vasilios N. Makrides Band 1 Vasilios N. Makrides (Hrsg.): Religion, Staat und Konfliktkonstellationen im orthodoxen Ost- und Südosteuropa. Vergleichende Perspektiven. 2005. Band 2 Klaus Buchenau: Kämpfende Kirchen. Jugoslawiens religiöse Hypothek. 2006. Band 3 Angelos Giannakopoulos: Tradition und Moderne in Griechenland. Konfliktfelder in Religion, Politik und Kultur. 2007. Band 4 Kristina Stoeckl: Community after Totalitarianism. The Russian Orthodox Intellectual Tradition and the Philosophical Discourse of Political Modernity. 2008. Band 5 Nicolai Staab: Rumänische Kultur, Orthodoxie und der Westen. Der D ­ iskurs um die nationale Identität in Rumänien aus der Zwischenkriegszeit. 2011. Band 6 Sebastian Rimestad: The Challenges of Modernity to the Orthodox Church in Estonia and Latvia (1917–1940). 2012. Band 7 Łukasz Fajfer: Modernisierung im orthodox-christlichen Kontext. ­Der Heilige Berg Athos und die Herausforderungen der Modernisierungsprozesse seit 1988. 2013. Band 8 Alexander Agadjanian: Turns of Faith, Search for Meaning. Orthodox Christianity and Post-Soviet Experience. 2014. Band 9 Thomas Heinzel: Weiße Bruderschaft und Delphische Idee. Esoterische Religiosität in Bulgarien und Griechenland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. 2014. Band 10 Mihai-D. Grigore: Neagoe Basarab – Princeps Christianus. Christianitas-Semantik im Vergleich mit Erasmus, Luther und Machiavelli (1513–1523). 2015. Band 11 Vasilios N. Makrides / Jennifer Wasmuth / Stefan Kube (Hrsg.): Christentum und Menschenrechte in Europa. Perspektiven und Debatten in Ost und West. 2016. Band 12 Alena Alshanskaya: Der Europa-Diskurs der Russischen Orthodoxen Kirche (1996–2011). 2016. Band 13 Stamatios Gerogiorgakis: Futura contingentia, necessitas per accidens und Prädestination in Byzanz und in der Scholastik. 2017. Band 14 Alexander Ponomariov: The Visible Religion. The Russian Orthodox Church and her Relations with State and Society in Post-Soviet Canon Law (1992–2015). 2017. Band 15 Isabella Schwaderer: Platonisches Erbe, Byzanz, Orthodoxie und die Modernisierung Griechenlands. Schwerpunkte des kulturphilosophischen Werkes von Stelios Ramfos. 2018 www.peterlang.com