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German Pages 226 [228] Year 1966
Prauss · Platon und der logische Eleatismus
Gerold Prauss
Platon und der logische Eleatismus
Walter de Gruyter & Co. vormals G. J . Göschen'sche Verlagshandlung · J . Guttentag, Verlagsbuchhandlung · Georg Reimer · Karl J . Trübner · Veit & Comp.
Berlin 1966
Gedruckt mit Unterstützung der Stiftung Volkswagenwerk
Archiv-Nr. 36 56 661
1966 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung . J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung Georg Reimer . Karl j . Trübner . Veit & Comp., Berlin 30, Genthiner Straße 13. Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, M i k r o kopie, Xerokopie) zu vervielfältigen. Printed in Germany. Satz und Druck: Walter de Gruyter & Co., Berlin 30.
Meinen Eltern
Vorwort Die folgende Abhandlung, die im Entwurf bereits im Sommer 1963 vorlag, wurde von Juli 1964 bis März 1965 niedergeschrieben und im Sommer-Semester 1965 von der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich Wilhelms-Universität in Bonn als Dissertation angenommen. Meinen Lehrern, insbesondere Herrn Prof. Dr. Gottfried Martin, Bonn, Herrn Prof. Dr. Günther Patzig, Göttingen, und Herrn Prof. Dr. Hans Wagner, Bonn, sei an dieser Stelle mein aufrichtiger Dank ausgesprochen. Ohne das, was ich im Laufe meines Studiums von ihnen allen lernen konnte, wäre diese Abhandlung nicht zustande gekommen. — Dank gebührt auch Herrn Prof. Dr. Georg Picht, Heidelberg, der mir freundlicherweise für längere Zeit gestattete, das in seinem Hause in Hinterzarten befindliche vollständige Platon-Lexikon zu benutzen, sowie der „Studienstiftung des deutschen Volkes", die diese Studien durch zusätzliche Mittel finanzierte. — Dank schulde ich schließlich dem Verlag Walter de Gruyter & Co. für die Drucklegung dieser Abhandlung, aber auch der Stiftung Volkswagenwerk, die durch einen Druckkostenzuschuß die Veröffentlichung ermöglichte. Oxford, im November 1965
Gerold Prauss
Inhalt Vorwort
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EINLEITUNG
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Erster Teil DIE FRÜHE
IDEENLEHRE
Kapitel I DER ANSATZ DER IDEE § 1. Piaton und Sokrates § 2. Piaton und die Herakliteer § 3. Piaton und Parmenides
17 22 27
Kapitel II IDEE UND LOGOS § § § §
4. 5. 6. 7.
Wahrer und falscher Logos Was heißt διονομάζειν ? Onoma, Rhema und Logos Onoma und Idee
43 46 52 61
Kapitel III IDEE UND EPISTEME Abschnitt 1. Der A u f b a u des E i n z e l d i n g s § 8. § 9. § 10. § 11. § 12.
Die Aistheta als Dynameis Der Begriff der Dynamis Dynamis und Einzelding Sprache und philosophische Reflexion Piaton und der Satz vom Widerspruch
67 71 77 87 93
Abschnitt 2. V o r g a n g u n d logische F o r m der E r k e n n t n i s § 13. Einzelding und Idee. Der Gegenstand der Erkenntnis . . . § 14. Anamnesis und Erkenntnis § 15. άναφέρειν als Erkenntnis-Vorgang. Noemata als ErkenntnisForm §16. Der logische Eleatismus § 17. Aletheia und Pseudos. Die Problematik des logischen Eleatismus
99 104 110 116 125
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Inhalt
Zweiter Teil D I E SPÄTE I D E E N L E H R E Kapitel I WIE IST PSEUDOS MÖGLICH? § 18. Pseudos als Verwechslung von Noemata ? § 19. Pseudos als »falsches* άναφέρειν ? § 20. Pseudos als .falsche' Anamnesis ?
139 146 152
Kapitel II WAS IST EPISTEME? § 21. § 22. § 23. § 24.
Der Traum, den Sokrates erzählt 161 Die Kritik des ontologischen und logischen Eleatismus. . . 174 Ding, Erkenntnis und Satz 183 Satz und Begründung 196
Literatur Namen-, Sach- und Stellen-Register
207 214
In den Anmerkungen werden durch das Zeichen -j- die Stephanus-Zahlen solcher Textstellen verbunden, die allgemein miteinander zu vergleichen sind oder in denen im besonderen die Relate einer Synonymität vorliegen.
— λέγω δέ χαλεπώτατον τό περί τούξ λόγους — PLATON, Staat 498 A
Einleitung Der Ausdruck „Platon und der logische Eleatismus" ist als Titel dieser in zwei Teile gegliederten Abhandlung in zweierlei Bedeutung zu verstehen. Im Hinblick auf ihren ersten Teil bezeichnet er den logischen Eleatismus, wie Piaton ihn im Rahmen der frühen Ideenlehre positiv vertritt; und er bezeichnet im Hinblick auf den zweiten Teil diesen logischen Eleatismus, wie Piaton ihn dann im Rahmen der späten Ideenlehre kritisiert und revidiert. Im ersten Teil, der die frühe Ideenlehre behandelt, gibt das erste Kapitel zunächst eine Einführung in deren Gedankengänge, soweit sie für das gewählte Thema wichtig sind, und legt schließlich fest, was in dieser Abhandlung unter „Eleatismus" verstanden wird. Danach kennzeichnet „Eleatismus" den Wesenszug von Theorien der frühen Ideenlehre, in denen Piaton, wenn er etwas als Einheit oder als Vielheit faßt, Einheit und Vielheit unter dem Einfluß der eleatischen Philosophie jeweils so streng in Alternative denkt, daß sie als Einfachheit und absolute Vielheit einander jedesmal ausschließen. Mit „ l o g i s c h e r Eleatismus" wird dann dieser Eleatismus bezeichnet, soweit er sich in Piatons Theorien von Logos und Erkenntnis niederschlägt. Mit dem zweiten Kapitel beginnt die eigentliche Darstellung des logischen Eleatismus der frühen Ideenlehre. Zunächst wird untersucht, welche Auffassung Piaton zur Zeit der frühen Ideenlehre vom Reden (λέγειν, λόγος) vertritt, genauer: ob er zu dieser Zeit schon die Grundform des Redens, den Satz als Wortverknüpfung, entdeckt hat. Dabei wird sich dann herausstellen, daß dies keineswegs der Fall ist, daß Piaton vielmehr zur Zeit der frühen Ideenlehre das Reden (λέγειν, λόγος) theoretisch als bloßes διονομάζειν, als eine Art Durchworten jeweils mit Hilfe eines bloßen Aggregats, einer absoluten Vielheit von Wörtern, versteht. Liegt mit dieser absoluten Vielheit von Wörtern, die den Logos ausmachen soll, jener als Eleatismus gekennzeichnete Grundzug in Piatons früher Logos-Theorie eigentlich schon vor, so kann doch diese Kennzeichnung in Kapitel II noch nicht vorgenommen werden. Denn vom rein Sprachlichen her, das allein hier thematisch ist, läßt sich noch nicht entscheiden, ob diese eigentümliche Bestimmung von λέγειν, λόγος als Setzen einer absoluten Vielheit von Wörtern
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Einleitung
tatsächlich auf den Einfluß der eleatischen Philosophie zurückgeht. Diese Entscheidung wird daher zunächst zurückgestellt. Das dritte Kapitel schließlich stellt dem zweiten eine Untersuchung der Theorie zur Seite, die Piaton im Rahmen der frühen Ideenlehre von dem entwickelt, was man im allgemeinen im Reden (λέγειν, λόγος) auszudrücken pflegt : von der Erkenntnis. Doch läßt sich das Eigentümliche seiner Theorie der Erkenntnis nur verstehen, wenn zuvor geklärt ist, welche Auffassung Piaton zur Zeit der frühen Ideenlehre vom Gegenstand der Erkenntnis, vom Ding, vertritt. Daher gliedert sich das dritte Kapitel in zwei Abschnitte. Der erste handelt vom Aufbau des Einzeldings und kommt zu dem Ergebnis, daß Piaton in der frühen Ideenlehre das Ding nicht als einheitlichen Träger von sachhaltigen Bestimmungen, nicht als so etwas wie eine Substanz mit Attributen, sondern als ein bloßes Aggregat, als absolute Vielheit von Sachhaltigkeiten, auffaßt und damit in Gegensatz zur Idee setzt, die eine absolute Einheit (Einfachheit, μουοειδές) darstellt. Nach Ermittlung dieses Wesenszuges, der ohne Zweifel Eleatismus ist, aber zur Unterscheidung von jenem andern ,,ontologischer Eleatismus" genannt wird, untersucht der zweite Abschnitt, wie Piaton sich die Erkenntnis des so verstandenen Dings denkt. Indem er jene Sachhaltigkeiten nicht als Attribute einer Substanz, nicht als Bestimmungen eines einheitlichen Trägers (Ding) versteht, sieht Piaton auch das Wesen der Erkenntnis des Dings nicht darin, diese Sachhaltigkeiten als seine Bestimmungen zu erfassen und sie ihm im Denken als solche zuzuordnen (Prädikation). Da die Sachhaltigkeiten, die als Aggregat das Ding ausmachen, je für sich ganz unvollkommen sind und überdies in jenem Aggregat bis an die Grenze ihrer Unterscheidbarkeit vermischt erscheinen, stellt sich Piaton das Wesen der Erkenntnis vielmehr als ein eigentümliches Unterscheiden odei Identifizieren solcher Sachhaltigkeiten dar. Das geht nach Piaton so vonstatten, daß diese Sachhaltigkeiten, die durch Teilhabe an den entsprechenden Ideen bestehen, als unbestimmt wahrgenommene in der Seele das Wissen von diesen Ideen wieder wachrufen (Anamnesis), woraus dann die Seele jeweils das Bestimmte der zunächst nur ganz unbestimmt wahrgenommenen Sachhaltigkeiten ersieht. In Korrespondenz zum Ding als einem bloßen Aggregat unbestimmt wahrgenommener Sachhaltigkeiten besteht dann die Erkenntnis, das e r k a n n t e Ding, ebenfalls in einem bloßen Aggregat: in einer absoluten Vielheit entsprechender erinnerter Ideen in der Seele, in denen jene Sachhaltigkeiten als bestimmte identifiziert sind. Damit aber enthüllt sich, daß Piatons Theorien der Erkenntnis und des Logos in innerem Zusammenhang stehen. Denn die Formulierung so verstandener Erkenntnisse erblickt Piaton jeweils schon im Setzen einzelner Wörter, welche solche Sachhaltigkeiten bezeichnen. Im normalen Sprach-
Einleitung
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gebrauch des alltäglichen Redens werden diese Wörter, die doch eigentlich jeweils das Allgemeine: die Idee, nennen, fortwährend dazu gebraucht, das niemals Allgemeine : die Sachhaltigkeiten der Dinge, anzusprechen (Homonymie). Dieses auf den ersten Blick verwunderliche Faktum deutet Piaton sich mit seiner Theorie des Erkennens als äußeres Zeichen dafür, daß bei diesem Reden als διονομάζειν, als Durchworten wahrgenommener Sachhaltigkeiten, diese mit Hilfe der entsprechenden erinnerten Ideen identifiziert, erkannt werden. Damit weisen Piatons Theorie des Dings als auch die der Erkenntnis des Dings wie auch die des Logos, der solche Erkenntnis ausdrückt, denselben Eleatismus auf : Bei aller Verschiedenheit ihres Gegenstandes, dessen, wovon sie jeweils Theorien sind,ist ihnen allen doch als Theorien gemeinsam, daß sie diesen ihren Gegenstand immer wieder nur im Sinne einer absoluten Vielheit fassen. Die durch den genannten ontologischen und logischen Eleatismus gekennzeichnete frühe Ideenlehre stellt mithin einen in sich widerspruchsfreien theoretischen Entwurf dar, — führt anderseits aber in unlösbare Schwierigkeiten, da auf ihrem Boden beispielsweise das Wesen des Pseudos völlig unerklärbar bleiben muß. Alle diese Gedanken sind in bestimmter Hinsicht nicht neu. In der bisher vorliegenden Platon-Literatur findet sich stellenweise schon vermerkt, daß Piaton zur Zeit der frühen Ideenlehre das Ding noch nicht als Einheit einer Vielheit von Sachhaltigkeiten, als Träger von Bestimmungen, kennt und entsprechend auch nicht die Erkenntnis im Sinne der Prädikation und ebensowenig den Satz als Wortverknüpfung. Das aber läuft darauf hinaus, immer wieder nur zu konstatieren, daß Piaton seit Aristoteles Bekanntes und bis heute Geläufiges noch nicht entdeckt hat. Solche Aussagen unterscheiden sich mithin in ihrem Aussagewert nicht wesentlich von einer Feststellung wie etwa der, daß bei Piaton noch keine transzendentale Deduktion der reinen Verstandesbegriffe vorhegt. Daran wird deutlich, wie wenig mit solchen wenn auch zutreffenden Feststellungen gewonnen ist. Worauf es eigentlich ankommt, ist nicht, bei Piaton die Nichtvorhandenheit von etwas Bekanntem und Geläufigem, sondern die Vorhandenheit von etwas in diesem Sinne noch weitgehend Unbekanntem und Ungeläufigem zu ermitteln, nämlich die eigentümlich platonische Ding-, Erkenntnis- und Logos-Theorie selbst. Mit jenen negativen Feststellungen steht man noch nicht am Ziel, sondern erst am Anfang. Ziel muß vielmehr sein, jene formalnegativen Feststellungen durch die entsprechenden positiven gleichsam mit Gehalt zu erfüllen: Welcher Art sonst ist Piatons Auffassung vom Ding, wenn er es nicht als den einheitlichen Träger einer Vielheit von Bestimmungen begreift? Welcher Art sonst ist Piatons Auffassung von der Erkenntnis dieses Dings, wenn er sie nicht im Sinne von Prädikation versteht ? Welcher Art sonst ist Piatons Auffassung vom Reden, vom Logos,
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Einleitung
wenn er dessen Grundform, den Satz als Wortverknüpfung, noch nicht entdeckt hat ? Sollen die Antworten hierauf gelingen, so verbietet sich für ihre Formulierung von vornherein jeder Rückgriff auf Ausdrücke, die in irgendeiner Weise mit den seit Aristoteles geläufigen Theorien von Ding, Erkenntnis und Logos in Zusammenhang stehen. Statt dessen gilt es immer wieder, Ausdrücke zu finden oder zu formen, die das Eigentümliche, das Piaton bei seinen theoretischen Ausführungen vorschwebt, einigermaßen angemessen wiederzugeben vermögen. Gelingen diese Antworten, so besteht der erzielte Gewinn nicht nur darin, daß man nun positiv,angeben kann, welche Auffassung Piaton zur Zeit der frühen Ideenlehre von Ding, Erkenntnis und Logos vertreten hat, sondern nun auch nachweisen kann, daß er bei diesen Theorien, welche, wie am Beispiel des Pseudos schon angedeutet, unzulänglich sind, nicht stehengeblieben ist. Wenn man weiß, was Piaton zur Zeit der frühen Ideenlehre unter Ding, Erkenntnis und Logos verstanden hat, kann man auch die Stellen der Spätdialoge genau bezeichnen, an denen er diese frühe und unzulängliche Auffassung kritisiert und durch neue Theorien re vidiert. Viele dieser Stellen sind bisher, wenn überhaupt, nur sehr unzureichend oder unter nur wenig wahrscheinlichen Hypothesen erklärt, beispielsweise die gesamte zweite Hälfte des „Theaitetos". Im zweiten Teil dieser Abhandlung wird daher versucht zu zeigen, daß die zweite Hälfte des „Theaitetos", von der eine befriedigende Gesamtdeutung bislang noch aussteht, als kritische Auseinandersetzung Piatons mit seinen eigenen frühen Theorien von Ding, Erkenntnis und Logos gedeutet werden kann, in der sich die entsprechenden neuen Theorien der späten Ideenlehre, insbesondere des „Sophistes", schon ankündigen. Die Entdeckung des Dings als Einheit einer Vielheit von Bestimmungen und entsprechend der Erkenntnis als Prädikation, des denkenden Verbindens von Begriffen zum Urteil, und entsprechend des Satzes als einer Wortverknüpfung, — all dies gelingt Piaton in der späten Ideenlehre, insbesondere im „Sophistes", und vollzieht sich als Uberwindung des ontologischen und logischen Eleatismus, den er selbst mit den Theorien der frühen Ideenlehre vertreten hatte. Diese Überwindung freilich wird Piaton nicht im Sprung, sondern, im Rahmen einer Gesamtentwicklung, erst ganz allmählich gelungen sein. Nur ist es außerordentlich schwierig, den Gang dieser Entwicklung in seinen einzelnen Phasen zu verfolgen. Deshalb legt diese Abhandlung, mit der Gegenüberstellung von früher und später Ideenlehre, nur durch zwei, allerdings deutlich unterscheidbare Punkte dieser Entwicklung gleichsam zwei Querschnitte. Damit sei jedoch nicht ausgeschlossen, daß Piaton zwischen diesen beiden Punkten seiner Entwicklung noch Zwischenstadien, durchlaufen hat.
Erster Teil
Die frühe Ideenlehre
Kapitel I DER ANSATZ DER I D E E § 1. Piaton und Sokrates Die Interpreten der frühen und mittleren Dialoge Piatons sehen sich immer wieder vor die Frage gestellt : Wo liegt die Grenze zwischen Piatons historischem Bericht über Leben und Lehre des Sokrates und der Darlegung seiner eigenen Philosophie ? Diese Grenze zu ziehen, ist schwierig1. Einmal, weil Piaton mit seiner Philosophie eng an Gedanken seines Lehrers anknüpft. Insbesondere aber deshalb, weil das Neue seiner Philosophie zunächst nur in einem neuen Gesichtspunkt besteht, unter dem er die Gedanken des Sokrates auslegt 2 . Diesen Gesichtspunkt kennzeichnet man im allgemeinen als den ontologischen3 : Während Sokrates darauf ziele, einzelne Allgemeinbegriffe, beispielsweise Tapferkeit oder Besonnenheit, zu definieren, habe Piaton erstmals nach der Existenz des Allgemeinen überhaupt gefragt 4 und diese Frage mit der Ideenlehre beantwortet. So zutreffend diese Kennzeichnungen auch sein mögen, so bleiben sie doch in einem Punkte unzureichend. Wie die entsprechenden Äußerungen des Aristoteles 6 verraten auch sie nichts über die Gründe, die Piaton möglicherweise dazu bestimmt haben, in der genannten Weise über Sokrates hinauszugehen. Sie lassen die Ideenlehre wie einen von Sokrates her unmotivierten Einfall Piatons erscheinen und legen eine Frage nahe, die in mustergültiger Weise Kapp formuliert hat: „Why a doctrine of .ideas', although the doctrine of concept-definition.. . had already been initiated ?" e Im folgenden wird versucht, diese Frage zu beantworten, und zwar durch den Aufweis, daß ein Motiv für den Aufbau der Ideenlehre bei Sokrates 1
Vgl. Gulley (2), S. 3: „. . . the difficulty of deciding where, in the early dialogues, Socratic portraiture ends and Platonic interpretation begins". 2 Vgl. Classen, S. 7, der bemerkt, „daß diese Neuinterpretation" des Allgemeinen als Ousia „nicht Sokrates gehört, sondern Piaton, der sie zögernd seinem Meister in den Mund legt". * Mittelstrass, S. 33: „ . . . a l s Ontologe geht Piaton über Sokrates hinaus...". 4 Bluck (1) S. 10: „. . . that Platos' primary aim is to explain how the objects which Socrates had encouraged men to define can exist". — Robinson (2), S. 53 kennzeichnet die Leistung der Ideenlehre als „reflection on essence in general, or the essence as a body, as opposed to concentrating always on one particular essence." » Aristot. Met. 987 a 29 ff, 1078 b 30 ff. • Kapp, S. 33. Pr«u»s, Pktoo
2
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Der Ansatz der Idee
durchaus vorlag. Gelingt dies, so ist damit auch der Punkt bezeichnet, an dem Piaton, von Sokrates ausgehend, zugleich über ihn hinaus zur Ideenlehre fortschreitet. Seine Versuche, ein Allgemeines näher zu bestimmen, leitet Sokrates häufig mit der Frage ein: Du nennst doch e t w a s . . . ? 7 beispielsweise „Tapferkeit" oder „Besonnenheit". Durch diese Frage setzt er sich mit seinem Mitunterredner zunächst ins Einvernehmen darüber, daß sie beide jeweils eine bestimmte Sache meinen (τούτο τό πράγμα) 8 , wenn sie jenes Wort gebrauchen. Näher verdeutlicht wird dies oft dadurch, daß Sokrates sein Verfahren gegen ein anderes abgrenzt, für das als Beispiel immer wieder das bloße όνόματα διαιρείν des Prodikos dient9. Nicht Onomata sucht Sokrates zu bestimmen, sondern die πράγματα, όντα10, denen sie als Bezeichnungen zugeordnet (έπιφέρειν, τίθεσθαι) sind11. Eine Voraussetzung der Existenz des Allgemeinen, das Sokrates jeweils definieren möchte, wird jedoch abgesehen von seiner Kennzeichnung als πράγμα und όν in den Frühdialogen nie ausdrücklich formuliert. Sie scheint sowohl für Sokrates wie zunächst auch für den historischen Berichterstatter Piaton eine Selbstverständlichkeit gewesen zu sein. Anderseits tritt die Existenz des Allgemeinen als Teil einer anderen Voraussetzung auf, die Sokrates seinem Verfahren nachweislich zugrunde legt. Und diese Voraussetzung zieht eine Schwierigkeit nach sich, die jene Existenz des Allgemeinen, die zunächst selbstverständlich schien, überaus fragwürdig machte. An einer Textstelle des „Charmides" läßt sich dies näher erläutern. In diesem Dialog führt Piaton insofern einen Sonderfall des sokratischen Verfahrens vor, als die Sophrosyne, um deren Definition es dort geht, in Charmides selbst vorhanden sein soll (Ινεστιν, πάρεστιν)12. Die Aufforderung an Charmides, sie zu definieren, kleidet nun Sokrates in folgende zweimal formulierte Voraussetzung: δήλον γάρ ότι εϊ σοι πάρεστιν σωφροσύνη, Ιχείΐ τι περί αύτη5 δοξάζειν. . . Und wenige Zeilen später noch deutlicher : !να τοίνυν τοπάσωμεν εϊτε σοι ενεστιν είτε μή, είπέ . . . τί εϊ als Beschreibung dessen, wie die Dinge der bloßen Wahrnehmung e r s c h e i n e n , anerkennt, — als Kennzeichnung dessen, wie die Dinge sind, ist die herakliteische These für ihn bloße Doxa23. Schon häufig ist darauf verwiesen worden, daß das Wort „Doxa" bei Piaton sehr Verschiedenes bedeuten kann 24 . Hartmann beispielsweise 18 " Vgl. Phd. 100 D8. Krat. 411 Cl—2. „Auch für Piaton sind diese sinnlichen Gegensätze in einer unlöslichen Einheit.", Lewinsohn, S. 18. 20 Vgl. Cherniss (1), S. 463: „The data with which the investigation has to work are the constantly shifting phenomena of the physical world, and Plato accepts this unceasing flux as a characteristic of all phenomenal existence." — Ähnlich betont auch Nakhnikian S. 310, „that Plato accepts the Heraklitean formula when it is restricted to the visible world . . .". 21 Krat. 411 Cl. 22 2 Krat. 411 C2—3. » Krat. 411 C2. 24 Den verschiedenen Bedeutungen von Doxa bei Platon hat zuletzt Sprute eine Untersuchung gewidmet, vgl. Literaturverzeichnis.
M
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Der Ansatz der Idee
meint, sie könne „unter die Vorstellung, ja bis auf die Empfindung hinabgehen, . . . aber auch für wirklichen oder angestrebten Begriffsgehalt stehen. . ," 25 . So sehr dies im wesentlichen zutrifft, so bleibt daran doch eines fragwürdig. Auch wenn sie noch so weit „hinabgeht", behält die Doxa doch immer einen gewissen Anteil an der Verstandesleistung. Mithin kann sie nicht, wie Hartmann offenbar meint, mit der Empfindung, mit jenem πάθος der Aisthesis, gleichbedeutend sein2·. So kennzeichnet Piaton sogar das πάντα ρεΐ nicht nur als Doxa, sondern zugleich auch als Ergebnis des διανοεΐσβαι27. In zunächst ganz undurchsichtiger Weise soll also diese These, die etwas in der Wahrnehmung Empfundenes gleichsam nur noch einmal wiederholt, bereits Leistung der Dianoia sein. Geradezu verwunderlich aber ist daran, daß umgekehrt die Dianoia, die etwa als Denken der Ideen ein Höchstmaß an Sicherheit erreicht, hier eine bloße Doxa zuwegebringen soll. Gerade daraus aber erhellt bei näherem Zusehen die eigentümliche Zwischenstellung der Doxa, in der sie sowohl mit der Aisthesis wie mit der Dianoia zwar enge Beziehungen unterhält, mit keiner von beiden aber gleichbedeutend ist28. Das Reich von Begriff, Aussage und Theorie ist für Piaton das ureigenste der Dianoia, indes im Gegensatz zu ihr die Aisthesis ohne Begriff und Aussage in stummem Empfinden verharrt. Während jedoch die Aisthesis an diesen ihren Bereich immer gebunden bleibt, von sich aus die Ebene der Dianoia nie erreicht, ist umgekehrt für die Dianoia dies nicht notwendig. Wie die Aisthesis ihr Wesen dadurch verwirklicht, daß sie, empfindend den Dingen hingegeben, ihrem scheinbaren Fließen restlos folgt, so verwirklicht zwar auch die Dianoia das ihre, indem sie sich an ihren angestammten Bereich hält. Darüber hinaus aber kann sie sich auch der Wahrnehmung wiederum so anmessen, daß sie dem, was diese nur stumm empfindet, ihr Vermögen von Begriff und Aussage zu jenem πάντα ρεΐ leiht. Eine bloße Doxa aber ist dies, weil die Dianoia dabei ihr ureigenes Reich aufgibt. Was sie in jener These durch den Plural πάντα als Unterschiedenes, Feststehendes, ihrem Reich Angehöriges zunächst setzt, hebt sie selbst durch das nachfolgende £>εΐ wieder auf, so daß sie nur scheinbar etwas Sinnvolles aussagt und konsequenterweise mit dem Reich der Begriffe eigentlich auch Wort und Aussage aufgeben und wie die Wahrnehmung verstummen müßte 29 . Die Nähe der Doxa zur Aisthesis ist damit offenbar. Aber auch 25 2e
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28
Hartmann (1), S. 91. Hardie, S. 26: ,,Οί course it is not easy, to make Plato's .doxasta' coincide with his .aesteta'." « Krat. 439 C2, C4. In den Spätdialogen rückt die Doxa sogar in besondere Nähe zur Dianoia; vgl. dazu unten die §§ 18 und 23. Nach Aristot. Met. 1010 a 10 ff soll Kratylos diese Konsequenz gezogen haben.
Platon und Parmenides
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ihr Anteil an der Dianoia wird jetzt klar, wenn man hinzunimmt, daß diese für sie notwendig ist, wenn etwas nicht nur wahrgenommen, sondern auch a u s g e s p r o c h e n , als Theorie b e h a u p t e t werden soll. Daraus wird deutlich, was Piaton zum Ausdruck bringen will, wenn er das ττάντα £εϊ der Herakliteer als eine Doxa kennzeichnet: Der Versuch, das Fließen der Dinge, wie es der Aisthesis erscheint, nicht auf jenes innere ττάθοί, sondern auf eine objektive Gegebenheit zurückzuführen, — dieser Versuch scheitert an der immanenten Inkonsistenz seiner Formulierung 30 . Von der These der Herakliteer her gesehen erweist sich Piatons Ansatz der Ideen als Reflexion auf die Bedingungen, die selbst für eine Leugnung der Ideen, wie das ττάντα φεί, immer schon erfüllt sein müssen. § 3. Piaton und Parmenides Unter den Lehren, die in irgendeiner Weise auf Piatons Denken einwirken, nimmt die Lehre des Parmenides die beherrschende Stellung ein. Ihr Einfluß gibt der frühen Ideenlehre das eigentümliche Gepräge. Die Schwierigkeiten der sokratischen und herakliteischen Lehre bewegen Piaton dazu, das S e i n des Allgemeinen zu begründen. Die eigentümliche Seinsweise dagegen, die er im Rahmen dieser Begründung dem Allgemeinen zuteilt, geht auf den Einfluß der parmenideischen Philosophie zurück. Dessen Niederschlag in der frühen Ideenlehre kennzeichnet man im allgemeinen als Eleatismus 1 . Im folgenden soll die frühe Ideenlehre sowohl in ontologischer wie erkenntnistheoretischer Hinsicht so weit erörtert werden, daß ihr Eleatismus genau bestimmbar wird. Mit der Abwehr des herakliteischen πάντα £εΐ waren die Probleme, die das Wahrnehmbare einerseits und das Allgemeine anderseits aufgeben, für Piaton noch längst nicht bewältigt. Wenn er auch die Unhaltbarkeit dieser These aufgedeckt hatte, so blieb doch immer noch die Frage: Dieses Allgemeine, dessen Existenz die Herakliteer nachweislich zu unrecht leugneten, — wohin mußte man blicken, um es zu finden? Selbst wenn erwiesen war, daß die wahrnehmbaren Bestimmungen der Dinge sich nicht ineinander verwandeln können, — waren sie deshalb schon von einer Art, daß die Suche nach einem in objektiver Bestimmtheit feststehenden Seienden in ihnen ihr Ziel erblicken konnte ? 80
Vgl. Crombie, S. 34: „Perhaps the most important thing about it ( = der Herakliteismus) was its incoherency" ; ferner die Bemerkung von Cherniss (2), S. 218, Anm. 129, „that in Plato's opinion the doctrine when followed to its logical conclusion is self-refuting without the supplementary assumption of non-sensible entities".
1
Vgl. ζ. Β. den Untertitel des im Literaturverzeichnis genannten Buches von Liebrucks.
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Der Ansatz der Idee
Platon läßt keinen Zweifel daran, daß ihnen eine solche Stellung nicht eingeräumt werden kann. Einmal ist es Vieles und zum Teil sehr Unterschiedliches, was wir an wahrnehmbaren Dingen beispielsweise als schön oder tapfer bezeichnen. Gesucht aber ist jenes Eine und Selbige, das wir meinen, wenn wir so Vieles und Unterschiedliches mit demselben Wort bezeichnen2. — Zum andern sind die wahrnehmbaren Dinge das, was sie sind, nur in sehr unvollkommener Weise. Dinge, die wir beispielsweise als gleich kennzeichnen, zeigen bei näherem Hinsehen, daß sie weit hinter dem zurückbleiben (ενδεεστέρας εχειν)3, was wir mit dem Wort „Gleichheit" eigentlich meinen. — Doch selbst wenn man von jener Vielheit und Unterschiedlichkeit sowie von dieser Unvollkommenheit einmal absieht und den Blick nur auf die einzelne wahrgenommene Bestimmung als solche richtet, genügt sie nicht den Ansprüchen, die Piaton an das Gesuchte stellt. So ist beispielsweise dieselbe Handlung, die unter bestimmten Umständen gerecht ist, unter anderen Umständen ungerecht1. Und etwas, das mit bestimmten Dingen verglichen schön ist, wird häßlich, sobald man es neben andere Dinge hält 5 . Je nach Hinsicht kann also dasselbe Ding auf Grund derselben Bestimmung schön u n d häßlich, gerecht u n d ungerecht sein. — Und zu all dem muß schließlich noch offen bleiben, ob die wahrgenommenen Bestimmungen der Dinge nicht sogar untergehen (ή φεύγει ν καΐ ΐπτεκχωρεΐν ή αττολωλέναι)® können. Doch damit nicht genug. Die Probleme, die das Wahrnehmbare aufgibt, mußten für Piaton weiteres Gewicht gewinnen, wenn er auf das sokratische Definitionsverfahren zurückblickte. Dessen Grundzüge hat in mustergültiger Weise Robinson herausgearbeitet. „Socrates", so führt er aus, „is looking for equivalences. He wants an answer, say ,X is AB', such that every X is AB and nothing else AB". Zur Kennzeichnung dieser .Suche nach Äquivalenzen' bedient sich Sokrates, wie Robinson richtig bemerkt, häufig des Wortes όρίζειν. Dessen Bedeutung aber ist so wenig eindeutig, daß „the translations .distinguish' and .determine' are suitable as often or more often than .define'" 7 . Dies bestätigen Textstellen, in denen für dieses όρίζειν ein anderer Ausdruck, beispielsweise διακρίνει ν eintritt 8 . Sokrates sucht zwar durchaus nach der Definition des Allgemeinen. Ihr Zweck aber ist nicht so sehr, über das jeweilige Allgemeine sachhaltige 2
Vgl. z. B. Lach. 191 E, Menon 72 C, E. » Phd. 74 E3—4, vgl. D6. á Vgl. Staat 331 C. « Vgl. Hi. Ma. 289 Β—D. « Phd. 102 D9—E2. 7 Robinson (2), S. 64—55. » Vgl. z. B. Gorg. 465 D2 + D6.
Platon und Parmenides
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Information zu vermitteln. Vielmehr dient die Äquivalenz, die sie angeben soll, vorwiegend dazu, ein Allgemeines von allem andern so zu unterscheiden, daß es als ein bestimmtes Etwas erwiesen und fixiert wird. Diese Beobachtung Robinsons ist von ganz außerordentlicher Wichtigkeit. Auf den ersten Blick scheint nämlich die Ideenlehre, wie Piaton sie ansetzt, mit dem sokratischen Definitionsverfahren in keinem unmittelbaren Zusammenhang zu stehen. Dieser Schein aber schwindet, sobald einmal erkannt ist, daß es Sokrates in erster Linie um ein διακρίνειν geht, dem gegenüber die sachhaltige Information bloßes Mittel und mithin von untergeordneter Bedeutung bleibt. Denn wie sich erweisen wird, ist die Erkenntnis-Theorie, die Piaton im Rahmen der Ideenlehre entwickelt, gerade ein Versuch, die Möglichkeit des διακρίνειν zu begründen, nur mit ganz anderen Mitteln. Und da Piaton im Gegensatz zu Sokrates das gesteckte Ziel mit der Idee erreicht, entfällt auch jegliche Notwendigkeit, sie im Sinne des sokratischen Verfahrens noch zu definieren9. Auch von erkenntnistheoretischer Seite läßt sich somit erklären, warum für die Begründung der frühen Ideenlehre die Definierbarkeit der Idee keine Rolle spielt10. Den Ansatz seiner Erkenntnislehre gewinnt Piaton, indem er jene Probleme der Wahrnehmung mit der Forderung nach dem διακρίνειν in Verbindung bringt. Dabei erweist sich, daß die bloße Wahrnehmung dieser Forderung nur in sehr beschränktem Umfang nachkommen kann. Zu dem, was bereits die Wahrnehmung zureichend unterscheidet (ίκανωξ Cnrò τή Polit. 263 D6. 80 Krat. 437 D3—4. 4·
Idee und Logos
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Nun läßt sich auch die Übersetzung „distinguish by a name" beurteilen, die Liddell/Scott vorschlagen. Da διονομάζειν auf jeden Fall όυομάζειν bedeutet, und das όνομα als solches für Piaton όργανον διακριτικού31 ist, schließt διονομάζειν mit Sicherheit die Bedeutung „unterscheiden" mit ein. Zumal die Gemeinsamkeit des Präfixes einer entsprechenden Assoziation sicherlich Vorschub leistet. Nach den Ergebnissen der vorstehenden Untersuchung aber scheint mir ebenso sicher, daß diese Bedeutung nicht im Vordergrund steht. Wenn auch διονομάζειν das Unterscheiden noch mitbedeutet, so kann diese Teilbedeutung doch ganz sicher nicht durch „distinguish by a name" wiedergegeben werden, sondern allenfalls mit „distinguish by names". Das Präfix δια- bezeichnet die Vielheit von Benanntem und Benennung. Die Bedeutung „unterscheiden" fließt aus dem Stamm -ονομάζειν höchstens mit ein. Setzt man nun in jener Logos-Definition des „Kratylos" für διονομάζειν die ermittelte Bedeutung ein, so erhellt zunächst, wie recht Burnet daran tut, an dieser Stelle der lectio difficilior zu folgen. Bevor Piaton den Logos definiert, stellt er ihm das όνομάζειν (όνομα) als sein μόριον gegenüber32. Würde er anschließend den Logos als bloßes όνομάζειν definieren, so wäre dies schwer verständlich. Denn wie soll der Logos mit etwas identisch sein, was eben noch als ein bloßer Teil von ihm unterschieden wurde. Die Lesart διονομάζειν ist somit nicht nur als lectio difficilior, sondern auch vom Kontext her vorzuziehen. Der Logos ist mehrfaches, ist δι-ονομάζειν. — Zum andern bleibt aber auch die Lesart όνομάζειν bis zu einem gewissen Grade verständlich. Denn daß der Logos in mehrfachem όνομάζειν besteht, ändert nichts daran, daß er p r i n z i p i e l l n u r im όνομάζειν, oder als Resultat des όνομάζειν : nur in einem Aggregat von ονόματα besteht. Ist er nun wahr oder falsch, so kann er diese Wahrheit oder Falschheit nur aus seinen Wörtern beziehen. Denn als bloßes Aggregat von Wörtern konstituiert der Logos nichts, was prinzipiell über das Wortsein hinausführt. Jener Schluß, mit dem Piaton aus der Wahrheit oder Falschheit des Logos die Wahrheit oder Falschheit seiner Onomata folgert, ist somit nicht nur kein .Fehlschluß', sondern im Gegenteil überaus konsequent. Denn der Logos als διονομάζειν kann prinzipiell nichts sein, was seine Wörter nicht immer schon sind. § 6. Onoma, Rhema und Logos
Die vorstehende Untersuchung ergab, daß Piaton unter Logos ein mehrfaches Benennen, ein Aggregat von Wörtern oder Wortsetzungen versteht. 81 82
Krat. 388 B13—Cl. Vgl. Krat. 385 C7 + 387 C6.
Onoma, Rhema und Logos
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Auf der Grundlage dieses Ergebnisses konnte er von dem Vorwurf eines elementaren Fehlschlusses freigesprochen werden. Als bloßes Aggregat von Wörtern kann der Logos wahr oder falsch nur sein, wenn die Wörter es schon sind. Eigentliches Ziel der Untersuchung war jedoch nicht dieser Freispruch, sondern die Aufklärung des Sinnes von Logos. Der ermittelte AggregatCharakter aber ist nicht nur etwas rein Formales, er klärt auch den Sinn von Logos noch so wenig auf, daß er ihn erst eigentlich rätselhaft macht. Denn was soll man unter dem Logos als διονομάζειν verstehen ? Da Piaton bei διονομάζειν nicht im mindesten an eine Verknüpfung von Wörtern denkt, bleibt doch offenbar nur eine Konsequenz. Unter Logos versteht er nicht den Satz, nicht so etwas wie „Die Rose ist rot", sondern das bloße Wortaggregat „die", „Rose", „ist", „rot". Doch braucht man diese Konsequenz nur in Erwägung zu ziehen, um sie sofort wieder abzuweisen. Denn war bereits unwahrscheinlich, daß jener Schluß von der Wahrheit des Logos auf die Wahrheit seiner Wörter ein Fehlschluß Piatons ist, so muß diese Konsequenz geradezu als unmöglich gelten. Jener Anschein eines Fehlschlusses konnte durch die Deutung von διονομάζειν zwar beseitigt werden. Eben dieses διονομάζειν aber wirft nun ein neues und noch weit schwierigeres Problem auf. Wird damit diese Deutung nicht fragwürdig ? Muß nicht mithin überprüft werden, ob διονομάζειν nicht etwas anderes bedeutet ? — Doch daß Piaton den Logos als Aggregat von Wörtern faßt, bezeugt der „Kratylos" auch noch an andern Stellen. Daher sollen zunächst diese ausgewertet werden. Möglicherweise geben sie auch einen Wink für die Lösung dieses neuen Problems. War Piaton zu Beginn des „Kratylos" von der Wahrheit des Logos auf die Wahrheit der Wörter zurückgegangen, so schlägt er später den umgekehrten Weg ein. Wenn es Wahrheit der Wörter gibt1, dann notwendig (άνάγκη) auch Wahrheit des Logos. Denn dieser ist eine σύνθεση aus Wörtern 2 . Daß hierin die Umkehrung zu jener ersten Argumentation vorliegt, bemerkt schon Robinson. Nur gilt ihm, da er bereits jene erste Folgerung als Fehlschluß wertet 3 , auch diese Umkehrung als „the converse mistake" 4 . Doch daß dies kein Fehlschluß ist, konnte gezeigt werden und bestätigt sich hier. Der Logos wird nicht als Verknüpfung gedacht und ist darum wahr nur als Aggregat wahrer Wörter. — Dem Ausdruck σύνθεση, den Piaton hier zur Kennzeichnung des Logos verwendet, gilt die folgende Untersuchung. 1
Die Behandlung der Frage, ob und wie nach Piaton Wahrheit der Wörter möglich ist, muß vorerst zurückgestellt werden, vgl. dazu unten § 17. a Krat. 431 B6—Cl, vgl. 425 A3—4. 1 » Vgl. oben § 4, Anm. 15. Robinson (4), S. 328.
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Idee und Logos
Wie Platon im „Kratylos" wiederholt ausführt, ist der Logos, genau betrachtet, eine σύνθεσις ονομάτων καί ρημάτων5. Im „Sophistes", wo er das Wesen des Logos an Beispielen wie άνθρωπος μανθάνει erläutert, versteht er ihn als συμπλέκων τά ρήματα toïç όνόμασιν®. Liegt damit nicht erneut nahe, auch an jenen Stellen des „Kratylos" όνομα und ^ήμα als Substantiv und Verb, sodann aber auch σύνθεσίξ als so etwas wie Verknüpfung zu deuten und mithin unter Logos den Satz zu verstehen ? — Zu dieser Deutung entschließt sich beispielsweise Oehler: Onoma und Rhema bedeuten hier nicht nur Substantiv und Verb. Vielmehr bezeichnet Onoma nach ihm sogar das „Subjekt der Aussage" und entsprechend Rhema das „Prädikat" : all das, „was von dem Subjekt des Satzes ausgesagt wird" 7 . Doch gegen eine solche Deutung hat bereits Benfey schwerwiegende Einwände erhoben8, denen sich noch weitere hinzufügen lassen. Schon ein erster Vergleich weckt Zweifel daran, daß σύνθεση hier im Sinne von συμπλοκή gemeint sein könnte. Aus dem Ausdruck σύνθεση läßt sich nicht mehr herauslesen als eine reihende Zusammenstellung; über die Stellung der gereihten Wörter z u e i n a n d e r sagt er nichts. Das drückt sich deutlich in dem zweimaligen Genetiv όνομάτων καί ρημάτων aus. Anders jedoch bei συμπλέκειν. Der Grammatik nach könnte Piaton sich auch in diesem Falle mit dem Ausdruck συμπλέκων τά ονόματα καί τά ρήματα begnügen. Dennoch tut er es nicht. Vielmehr sagt er τά ρήματα τοις όνόμασιν und hebt damit deutlich den eigentlichen Sinn von συμπλοκή hervor. Sie meint keine bloße Zusammenstellung, sondern eine eigentümliche Verbindung, eine Zuordnung des Verbs auf das Substantiv. Einen Ausdruck für solch eine verbindende Zuordnung der Wörter aber sucht man nicht nur im „Kratylos", sondern in allen frühen und mittleren Dialogen vergeblich, obwohl Piaton das Verb συμπλέκειν als solches kennt®. Des weiteren ist fraglich, ob Rhema hier überhaupt mit „Verb" wiederzugeben ist. Gewiß, es trifft zu, daß Piaton an einer Stelle, wo er Verben aufzählt, diese als Rhemata bezeichnet10. Dieser einen Stelle aber stehen mehrere andere gegenüber, wo er die Verben ebenso wie alle andern Wörter als Onomata kennzeichnet11. Umgekehrt steht Rhema öfters für die Wörter allgemein, darunter auch für Substantive und Adjektive 12 . Schon von 6 Vgl. ζ. B. Krat. 425 A2—4 + 431 B5—Cl. « Soph. 262 C9—D4. ' Oehler (1), S. 59, Anm. 1; vgl. Bröker, S. 339. 8 Zu Benfey vgl. unten § 6, Anm. 25. 9 Vgl. Staat 533 C4, Symp. 191 A7. B3, E8, vgl. 191 C4. 1 0 Krat. 426 E2. 11 Krat. 426 B4—6, 424 A8—9, 421 C3—6. „. . . daß όνομα im .Kratylos' auch Verba umfaßt", betont auch Benfey, S. 140. 1 2 Vgl. ζ. B. Phd. 102 B9, Symp. 187 A4, 199 B4, Lys. 220 B l .
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daher fällt schwer, Onoma und Rhema als Termini für „Substantiv" und „Verb" oder gar für „Subjekt" und „Prädikat" des Satzes aufzufassen13. Trotzdem ist nicht zu übersehen, daß Piaton zwischen Onoma und Rhema unterscheidet, wenn er den Logos als σύνθεση ονομάτων καΐ βημάτων bestimmt. Nur ist dieser Unterschied möglicherweise ein ganz anderer als der zwischen Substantiv und Verb. Auch hier wieder läuft man Gefahr, Piatons Gedankengang zu verfehlen, wenn mein Onoma und Rhema vorschnell mit Substantiv und Verb identifiziert. Uber den eigentlichen Sinn von Rhema, der es vom Onoma abgrenzt, unterrichtet das Modell, an dem Piaton seine Synthesis des Logos orientiert. Zunächst fällt auf, daß er im „Kratylos" als Beispiel für Logos kein einziges Mal einen Satz nennt, während er seine Logos-Theorie im „Sophistes" gerade an einzelnen einfachen Satz-Beispielen entwickelt. Stattdessen setzt er die Synthesis des Logos zur Zusammensetzung des Worts aus Buchstaben in Parallele, indem er beide mit dem Malen, mit dem Zusammenstellen von Farben zu einem Bild, vergleicht14. Der Maler, so führt Piaton aus, trägt manchmal nur einzelne ungemischte Grundfarben auf, beispielsweise Purpur (όστρεον μόνον), mischt aber bisweilen auch mehrere zusammen (συγκεράννυσθαι), um beispielsweise Fleischfarbe (ανδρείκελοv) herzustellen16. Das gemalte Bild besteht mithin aus solchen einfachen oder gemischten Grundfarben. In derselben Weise (ούτω)1* nun baut sich nach Piaton das Wort auf. Dabei entsprechen den einfachen Farben die Grammata und ihren Mischungen die Syllabai. Zu beachten ist, daß diese Analogie zu einem Begriff von Syllabe führt, der von unserem Begriff der Silbe abweicht. Unter Silben verstehen wir die kleinsten Sprecheinheiten eines Wortes. Danach besteht das Wort „Hilfe" aus den Sprecheinheiten „Hil-" und ,,-fe" und ist mithin zweisilbig. Zweisilbig ist aber auch ein Wort wie „Abend"; es besteht aus den Sprecheinheiten „A-" und ,,-bend". Als Silben gelten uns also auch solche Sprecheinheiten, die nur aus einem einzigen Buchstaben oder Laut bestehen. Anders dagegen bei Piaton. Zwar unterscheidet auch er Sprecheinheiten innerhalb des Worts. Denn sonst könnte er gar nicht auf den Gedanken kommen, das Wort außer in Buchstaben oder Laute auch noch in Syllabai einzuteilen. Von diesen Sprecheinheiten aber bestimmt er nur diejenigen als Syllabai (δ δή συλλαβάς καλοϋσιν), die aus m e h r e r e n 13
Eine solche Deutung weist auch Benfey S. 139—144 mehrfach mit Nachdruck zurück. 14 Vgl. Krat. 424 D7—E4 + 425 A3—5. 15 Krat. 424 D7—E3. " Krat. 424 E4.
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Idee und Logos
Buchstaben oder Lauten zusammengesetzt sind (σύμπολλα)17. Sprecheinheiten aus nur einem Buchstaben oder Laut bleiben für Piaton Grammata. Das Wort συλλαβή hat somit bei ihm noch nicht den rein sprechtechnischen Sinn unseres Wortes „Silbe" ( = Sprecheinheit) entwickelt, sondern den ursprünglichen Sinn der Zusammenfassung noch voll bewahrt. Diesem Sinn gemäß ist für Piaton beispielsweise das Wort Ιδέα .einsilbig'. Neben der .Silbe' ,,-δε-" besteht es nur noch aus den Buchstaben oder Lauten „i-" und ,,-a". Damit wird auch verständlich, was von unserem Begriff der Silbe her unverständlich bleibt: Wenn Piaton vom Aufbau der Wörter spricht, so sagt er immer wieder, sie seien aus γράμμασι καΐ συλλαβαϊς18 zusammengesetzt. Nach unserem Begriff der Silbe ist dies unverständlich, wenn nicht gar falsch. Denn unserer Auffassung nach bestehen die Wörter eigentlich n u r aus Silben, und erst die Silben ihrerseits aus einem oder mehreren Buchstaben oder Lauten. Von Piatons Begriff der Syllabe her ist der Ausdruck γράμμασι και σνλλαβαϊξ dagegen nicht nur verständlich, sondern zur vollständigen Beschreibung des Aufbaus der Wörter sogar erforderlich. Die Wörter bestehen auf jeden Fall aus γράμμασιν. Durch Angabe ihrer Grammata sind sie eigentlich schon vollständig erfaßt. Von diesen Grammata aber nimmt die Sprechweise einige zu σνλλαβαΐς zusammen. Während wir zur Beschreibung des Wortaufbaus beim Wort beginnen und es nach Sprecheinheiten zunächst in Silben und erst dann in Buchstaben oder Laute unterscheiden, geht Piaton grundsätzlich zunächst auf die Grammata des Worts zurück, baut aus einigen dann Syllabai auf und aus diesen zusammen mit den übrigen Grammata erst das Wort. Wie der Maler beim Bildaufbau von einzelnen Farben ausgeht, so beginnt auch Piaton den Aufbau des Worts mit seinen Grammata. Und wie der Maler einige der Farben rein und andere gemischt aufträgt, so gehen auch für Piaton einige Grammata ,rein' und die andern zu Syllabais .gemischt' ins Wort ein. Allerdings birgt diese Theorie eine gewisse Mehrdeutigkeit des SyllabeBegriffs. Im Hinblick auf Wörter, deren Grammata restlos in Syllabai aufgehen, wie beispielsweise in dem Namen Ίττ-ττο-θά-λης, ist die Formulierung γράμμασι καΐ συλλαβαΐζ eindeutig. Sie ordnet die Syllabai den Grammata eindeutig über. Dagegen im Hinblick auf Wörter, deren Grammata n i c h t alle in irgendeiner Syllabe stehen, wird die Stellung der Syllabe doppeldeutig. Versteht man hier im Ausdruck γράμμασι καΐ συλλαßais unter Grammata nur diejenigen, die nicht in Syllabe stehen, dann 17 18
Krat. 424 E5—6. Vgl. 424 D6—7, 393 D l — 3 , 399 A9—B3. Vgl. ζ. B. Krat. 423 E8, 424 A9, 424 D l — 2 , 427 C7, 390 E4, 394 C7. — In stark verkürzender Redeweise sagt er einmal, daß sie aus Syllabai zusammengesetzt seien, vgl. Krat. 425 A l .
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sind Grammata und Syllabai einander nebengeordnete Teile des Worts. Versteht man darunter aber s ä m t l i c h e Grammata eines Worts, dann sind die Syllabai jeweils ihren eigenen Grammata über- und den übrigen nebengeordnet. — Indem nun Piaton nicht nur die Synthesis des Worts, sondern auch die Synthesis des Logos am genannten Modell des Malens entwickelt19, rückt er sie zueinander in Parallele. Danach müssen der Bildaufbau beim Malen, der Aufbau des Worts wie auch der des Logos untereinander vergleichbar sein. Für einen Punkt leuchtet diese Vergleichbarkeit unmittelbar ein. Die Stellung der einzelnen Grundfarben des Bildes, denen im Wort die Grammata entsprechen, nehmen im Logos die Onomata ein. Piaton wiederholt damit nur, was er schon zu Beginn des „Kratylos" ausführt, wo er das Onoma als σμικρότατον μόριον des Logos kennzeichnet20. Ebenfalls schon an dieser Stelle teilt er den Logos aber nicht nur in solche kleinsten Teile, die Onomata, sondern zunächst in μεγάλα und σμικρά μόρια ein21. Dies legt nahe, die Rhemata als solche μεγάλα und σμικρά μόρια des Logos zu identifizieren, zumal die Parallelität des Logos-Aufbaus zum Wort- und BildAufbau solch eine Deutung geradezu fordert. Die Rhemata wären mithin die ,Syllabai' des Logos, nämlich .Syllabai' von Onomata. Und in der Tat grenzt Piaton Rhema und Onoma in dieser Weise gegeneinander ab. Im Mittelteil des „Kratylos" versucht er sich an der Etymologie des Wortes άνθρωπο?. Er erwägt, ob es nicht eine Verkürzung des Ausdrucks άναθρών δ όπωπε darstellt, der einen Wesenszug des Menschen im Unterschied zum Tier kennzeichnet22. Dabei wären dann einige Buchstaben ausgefallen, zwei neue hinzugekommen und schließlich die Akzente verändert worden. Um nun zu zeigen, daß solche Veränderungen in der Sprachentwicklung tatsächlich auftreten, gibt Piaton ein unmittelbar einleuchtendes Beispiel: das Wort δίφιλος als Verkürzung aus ΔιΙ φίλος23. Die Entstehung beider Wörter aber, sowohl die von άνθρωπος aus άναθρών ά όπωπε wie von δίφιλος aus ΔιΙ φίλος kennzeichnet Platon mit den Sätzen: έκ ρήματος όνομα γέγονεν und άντί βήματος όνομα γένηται24. Wie die Syllabe eine Zusammensetzung aus Grammata, so ist mithin das Rhema eine Zusammensetzung aus Onomata 26 . War jedoch Grund der 20 " Vgl. Krat. 424 D7—E4 + 425 A4—5. Vgl. oben § 4. 21 Krat. 386 C4—5, vgl. oben § 4, Anm. 5. 2a 2S Krat. 399 Cl—6. Krat. 399 A6—B4. 21 Krat. 399 B l , B7, vgl. auch das Beispiel in Krat. 421 B l — 3. 26 Schon Benfey weist mit Nachdruck darauf hin, daß Rhema hier noch nicht wie im „Sophistes" das Verb oder gar das Prädikat, sondern „eine Verbindung von Wörtern bedeutet, welche zwar keinen satzlichen, aber einen selbständigen Sinn gewährt. . .'* (S. 241).
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Zusammensetzung im Falle der Syllabe die Sprechweise, so sind es im Falle des Rhema offenbar bestimmte syntaktische Gegebenheiten. In den genannten Beispielen faßt einmal ein Dativ und zum andern ein Relativpronomen die Onomata so zusammen, daß sie, wenn auch keinen vollständigen Satz, so doch einen Ausdruck mit relativ selbständigem Sinn: ein Rhema ergeben 26 . Freilich ist Rhema auch in dieser Bedeutung nicht fester Terminus, der immer wiederkehrte, wenn Piaton von solchen Wortzusammensetzungen spricht. So teilt er an einer Stelle eine Wortzusammensetzung, die er auch Logos nennt 27 , zunächst in Rhemata und diese wiederum in Onomata ein 28 und sagt : diese Onomata lägen ώσττερεί στοιχεία sowohl den Logoi wie den Onomata zugrunde28. Innerhalb weniger Zeilen setzt er somit für das, was er zuerst Rhema nannte, kurzerhand Onomata ein 30 . Dasjenige, δι' ώυ αν τά ρήματα λεχθτ)31, sind eben nichts anderes als die Onomata. Wie Wort und Syllabe eigentlich Grammata, so sind auch Logos (διονομάζειν) wie Rhema eigentlich Onomata. Dies erklärt auch, warum Piaton sagen kann, daß das Rhema wie das Onoma aus Grammata und Syllabai zusammengesetzt ist 32 . Strenggenommen und von Piaton auch vermerkt, besteht es zunächst aus Onomata und erst in zweiter Linie aus Grammata und Syllabai. Allerdings zeigt sich darin deutlich, wie wenig ausgeprägt die Eigenständigkeit des Rhema für Piaton ist, wie locker er sich den Zusammenhang selbst derjenigen Onomata denkt, die er als Rhema von den andern abhebt. Piatons Kennzeichnung des Logos als σύνθεση ονομάτων καί ρημάτων läßt sich nunmehr beurteilen. Sie steht zur Kennzeichnung des Onoma als Synthesis von Grammata und Syllabai in genauer Entsprechung. Und wie die Stellung der Syllabe zu den Grammata mehrdeutig war, so bleibt auch im Falle der Rhemata offen, inwieweit sie den Onomata des Logos überoder nebengeordnet sind. Doch diese Mehrdeutigkeit verstellt den Sinn 26
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Vgl. Oehler (1), S. 68: „Gegenüber όνομα als einzelnem Wort bedeutet hier . . . £ημα einen Komplex oder eine Reihung von Wörtern, so zwar, daß diese keinen vollständigen Satz, aber doch einen einheitlichen Sinn ergeben, der auf ihrer konstruktiven Zusammengehörigkeit beruht." Krat. 421 D9—422 A3. Neben Logos verwendet er für eine solche Wortzusammensetzung auch Onoma. Zu dieser Bedeutung von Onoma, die Liddell/Scott mit „phrase, expression" wiedergeben, vgl. auch Krat. 396 A l — 6 . Krat. 421 E l — 4 2 2 A2. Krat. 422 A2—3. Möglicherweise denkt Piaton hier auch an ein schon zu einem Onoma kontrahiertes Rhema, vgl. 421 B l . Krat. 421 E l — 2 . Vgl. Krat. 425 Al, dazu oben § 6, Anm. 18.
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von Logos so wenig, daß sie eher zu seiner Aufklärung beiträgt. Selbst wenn Piaton diese Mehrdeutigkeit gesehen haben sollte, — daß er sie nicht bereinigt, zeigt ihre Unerheblichkeit. Gleichviel ob seine Onomata sich alle oder nur teilweise oder auch gar nicht zu Rhemata gruppieren, der Logos ist auf jeden Fall διονομάζειν. Der darin ausgedrückte Aggregat-Charakter kennzeichnet aber den Logos so gut wie seine möglichen Rhemata. Deshalb geht Piaton, als er zu Beginn des „Kratylos" von der Wahrheit des Logos auf die seiner Teile schließt, zunächst nur auf die μεγάλα μόρια (Rhemata) zurück und erst in einem zweiten Schritt auf die σμικρότατα (Onomata) 33 . Denselben Zwischenschritt schaltet er ein, wo er später den umgekehrten Gedankengang geht. Wenn Wahrheit der Onomata möglich ist, dann auch Wahrheit der Rhemata; und wenn Onomata und Rhemata, so muß auch deren Synthesis, der Logos, wahr sein können34. Schließlich läßt sich auch das schwierige Problem lösen, das sich zu Beginn dieses Paragraphen stellte. Wenn Piaton den Logos als διονομάζειν, als Aggregat von Wörtern faßt, meint er damit so etwas wie „die", „Rose", „ist", „rot" ? Diese Frage läßt sich beantworten, wenn man noch einmal auf das Modell des Malens zurückblickt. Was der Maler mit Hilfe seiner Farben ins Bild bringt, sind die mannigfaltigen Farben und Formen der Dinge. Eben diese Mannigfaltigkeit sollen entsprechend im Bereich der Sprache mit Hilfe von Grammata und Syllabai die Onomata und mithin auch die Rhemata und der Logos ausdrücken. In einem solchen Logos können also nur Onomata auftreten, die im weitesten Sinne sachhaltige Bestimmungen der Dinge bezeichnen. Für die durch Onomata ausgedrückten Sachhaltigkeiten nennt Piaton eine Fülle von Beispielen. Eines davon ist zugleich das einzige Beispiel, das er im „Kratylos" für Logos gibt. Im Rahmen der Etymologien im Mittelteil des Dialogs kommt er auch auf Zeus zu sprechen und stellt fest, daß der Ausdruck 35 für den höchsten Gott in zwei Namen auseinandergelegt ist (διαιρεΐν)36. Die einen bevorzugen zur Benennung Ζεύς, die andern dagegen Δίς37. Beide Namen aber fassen einen Wesenszug und drücken somit eigentlich nur zusammengenommen την φύσιν του θεοΟ aus38. Den Namen ZEUS, ZU dem der Akkusativ Ζήνα lautet, bringt Piaton mit ζην in Verbindung und verweist von daher auf seine Angemessenheit. Denn Zeus als αίτιος του ζην ist derjenige Gott, δι' ôv ζην άεί πάσι τοις ζώσιν υπάρχει39. Aber auch mit Ais und seinem 33 34 36
36 37
Krat. Krat. Auch Wort Krat. Krat.
385 Cl—8. 431 A8—Cl. hier verwendet Piaton zur Bezeichnung eines komplexen Ausdrucks das Onoma, vgl. oben § 6. Anm. 27. 396 A2. 38 39 396 A4. Krat. 396 A5. Krat. 396 A7 + B l — 2 .
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Akkusativ Δία verbindet Platon einen bestimmten Inhalt. Zeus gilt ihm als εκγουον μεγάλης τίνος διανοίας und trägt von daher auch seinen zweiten Namen zu Recht 40 . Dieser Ausdruck, der für Zeus in zwei nebeneinander bestehenden Namen zwei verschiedene Sachhaltigkeiten entfaltet, ist, wie Piaton vermerkt, geradezu wie ein Logos (άτεχνως οίον λόγος). Nur daß die einen zur Bezeichnung des Gottes nur das eine μέρος dieses Logos benutzen, und die andern wiederum das andere41. ,,Ζεύς, Δις" als Ausdruck für das, was jener oberste Gott ist, stellt somit für Piaton einen Logos dar. Doch dieser oberste Gott, der die Sachhaltigkeiten Zeus und Dis besitzt, taucht in dem Logos „Zeus, Dis" selbst gar nicht auf. Die Vermutung, der Logos als διονομάζειν meine so etwas wie „die", „Rose", „ist", „rot", enthüllt sich damit als voreilig und falsch. Die bloße Feststellung, daß Piaton unter Logos n i c h t den Satz, n i c h t die Wortv e r k n ü p f u n g versteht, bleibt im rein Negativen stehen und mißt Piatons Logos-Theorie immer noch am Maßstab einer Satz-Theorie. Dies aber ist ein Fehler. Piatons Logos-Theorie wird dadurch in eine Alternative gezwungen, die von vornherein falsch gestellt und damit unangemessen ist. Wenn Piaton den Logos als διονομάζειν bestimmt, so denkt er weder an einen verknüpften Satz wie „Die Rose ist rot" noch an einen nichtverknüpften, aber potenziellen Satz wie „die", „Rose", „ist", „rot", sondern überhaupt nicht an so etwas wie Satz. Will man schon Piatons LogosTheorie mit einer Satz-Theorie vergleichen, so läßt sich allenfalls42 sagen: Unter Logos versteht Piaton eine aggregative Aufführung genau dessen, was in m e h r e r e n Sätzen mit verschiedenen Prädikaten und demselben Subjekt auf der Prädikatseite erscheint. Der Logos verknüpft nicht und kann auch gar nicht verknüpfen, weil er schlechterdings nichts vorsieht, w o m i t er seine Onomata verknüpfen könnte. Durch seine Onomata entfaltet und repräsentiert er so ausschließlich Sachhaltigkeiten eines Dings, daß das Ding als solches gar nicht zu Wort kommt. Deshalb kann man auch nicht sagen, daß dieser Logos etwa nur ,Prädikate' reiht. Denn so wenig ohne ein Subjekt Verknüpfung möglich ist, so wenig können Onomata ohne Bezug auf ein Subjekt .Prädikate' genannt werden. Der Logos als διονομάζειν ist Inbegriff der durch ein Aggregat von Onomata entfalteten Sachhaltigkeiten eines Dings oder mehrerer Dinge.
40 41 42
Krat. 396 B5. Krat. 396 A2—3. Doch auch dies ist noch nicht genau, da, wie sich in § 17 zeigen wird, die Vermutung naheliegt, daß Piaton auch S a t z s u b j e k t e als Bezeichnungen für Sachhaltigkeiten zu deuten sucht.
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§ 7. Onoma und Idee Das im vorigen erzielte Ergebnis zeigt nun deutlich, daß Piatons frühe Logos-Theorie noch ganz im Zeichen der Tradition steht. Einmal knüpft Piaton mit seiner Bestimmung des Logos unverkennbar an die ursprüngliche Bedeutung des Wortes λέγειν an, zu dem als Substantiv λόγος gehört, λέγειν heißt ursprünglich „sammeln" 1 und verliert offenbar auch in der Bedeutungsverengung zu „reden" von diesem Sinn zunächst so wenig, daß das rein aggregative Sammeln sogar zur leitenden Vorstellung wird, wenn Piaton λέγειν, λόγος als διονομάζειν kennzeichnet. Diese ursprüngliche Bedeutung von λέγειν hat aber anscheinend schon vor Piaton zu einer Auffassung des Logos geführt, die den Aggregat-Charakter des platonischen vorwegnimmt. In den Lehren der Pythagoreer spielt bekanntlich die Zahl eine wichtige Rolle. Wie beispielsweise von Fritz ausführt, waren sie der Ansicht, „daß man die in den Dingen steckenden Zahlen finden müsse, um sie zu verstehen oder ihr Wesen zu erfassen . . ," 2 . Auf dieser Grundansicht aufbauend stellten sie „Zahlenspekulationen" an. Sie versuchten beispielsweise, „die Zahl der Gerechtigkeit oder der Ehe zu finden, oder gar . . . die Zahl des Pferdes oder des Menschen dadurch zu bestimmen", daß sie „die Umrisse eines Menschen oder Pferdes mit Steinchen ausfüllten . . .". Entsprechend bedeutet bei den Pythagoreern der Logos, der etwas über die Dinge kundtut, „ursprünglich die G r u p p e oder das B ü n d e l von Zahlen 3 , die in einem Ding stecken, und mit deren Hilfe es sich . . . beschreiben . . . läßt . . ." 4 . Aufschluß darüber, wie sehr Piaton mit seiner Logos-Theorie der Tradition verpflichtet ist, gibt aber besonders eine Untersuchung von Boeder. Darin geht er der Auffassung von λέγειν in der frühgriechischen Literatur nach und richtet sein Augenmerk besonders auf den Zusammenhang von λέγειν und κρίνειν. Auch ihm ergibt sich als ursprüngliche Bedeutung von λέγειν das „Sammeln" 5 , doch nicht etwa im Sinne eines wahllosen Zusammenraffens. Vielmehr geht der Sammelnde von vornherein immer auf ganz Bestimmtes aus und sammelt gerade dadurch, daß er ihm vor anderem „den Vorzug gibt" 6 . In diesem Sinne meint Sammeln immer zugleich auch ein „Unterscheiden" 7 und „Auslesen" 8 . Wie Boeder überzeugend aufweist, 1
Vgl. Boisacq, Liddell Scott und Pape s. v. 3 v. Fritz (4), S. 82. Von mir gesperrt. 4 v. Fritz (4), S. 83. — Zu demselben Ergebnis kommt Burkert, der in seinem Werk über die Pythagoreer diese Ausführungen von Fritz' beifällig zitiert, vgl. Burkert (2), S. 414f. 5 Boeder S. 84. 7 « Boeder S. 88. Boeder S. 84. 8 Boeder S. 89. 2
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liegt darin der Grund, warum im Gefolge von λέγειν häufig das κρίνειν auftritt. „Als Reinigen des Vermischten, als Auslesen des Ausgezeichneten gehört das κρίνειν schon zum λέγειν im Sinne des Sammeins"9. Dieser in λέγειν als Sammeln mitbeschlossene Sinn des κρίνειν hält sich nun auch in der Bedeutungsentwicklung zu „sagen, reden" mit durch und prägt die eigentümliche Vorstellung, die man schließlich mit dem als λέγειν gekennzeichneten Reden verbindet, λέγειν meint eine „Aufzählung von Einzelheiten", die „das Ganze eines Gewußten . . . in einem Durchgehen seiner Einzelheiten entfaltet" 10 . Das im λέγειν mitgedachte κρίνειν trägt dabei die Funktion, die aufzuzählenden Einzelheiten allererst zu beschaffen, und zwar dadurch, daß es jenes Ganze in seine Einzelheiten unterscheidet und sondert, λέγειν ist „Klärung des Verworrenen und Undurchsichtigen"; das λέγειν zielt als κρίνειν „auf die Deutlichkeit des Dargelegten"11. Diesen Ausführungen über das frühgriechische λέγειν läßt sich Piatons Logos-Theorie unmittelbar anschließen. Wie die Pythagoreer mit dem Logos als Aufführung von Zahlen, so knüpft Piaton mit dem Logos als Aufführung von Wörtern an den frühgriechischen Sinn von λέγειν an. Bis in einzelne Formulierungen Boeders hinein läßt sich dies verfolgen. Wenn sich ihm als Sinn von λέγειν das „Durchgehen" der Einzelheiten eines Ganzen ergibt, so könnte man meinen, er spreche von Piaton. Denn es bedarf nur der Vergegenwärtigung, daß dieses „Durchgehen" 12 von Einzelheiten im λέγειν mit Hilfe der Onomata geschieht, und man erhält genau jenes Durchworten (διονομάζειν) der sachhaltigen Bestimmungen eines Dings, das nach Piaton den Logos kennzeichnet. Doch Boeder spricht n i c h t von Piaton, untersucht n i c h t etwa die Bedeutung des Wortes διονομάζειν, sondern des frühgriechischen λέγειν. Gleichwohl stimmt das Ergebnis, das er erzielt, mit Piatons Logos-Theorie weitgehend überein und rückt sie dadurch in ein ganz neues Licht. Die Erörterung von Piatons Logos-Theorie konnte in gewisser Hinsicht bisher nur negativ verfahren. Immer wieder mußte belegt und betont werden, daß er unter Logos n i c h t Satz, n i c h t die Wortverknüpfung versteht. Grund dafür war das immer wieder naheliegende Vorurteil, daß Piaton, wenn er von Logos spricht, die Sprache und insbesondere Sätze vor • Boeder S. 89 f. Boeder S. 85. 11 Boeder S. 89. 12 Für dieses Durchgehen der Einzelheiten einer Sache im λέγειν verwendet Piaton selbst einen besonderen Ausdruck, nämlich διέξοδος oder noch häufiger διεξιέναι, vgl. z. B. Lach. 187 C5, Prot. 326 A2, 361 D8, E6, Menon 84 D2, Hi. Mi. 368 B4, Hi. Ma. 286 A4, Staat 376 D3, 412 B3, 510 D2, 645 A2, Tim. 48 C5, Tht. 207 C7, 208 A9, Soph. 217 C3, C5, 237 B6. 10
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Augen hat. Diese negative Abwehrstellung kann nunmehr auf den Boden eines positiven Ergebnisses zurückgenommen werden, das die Abwehr jener Vorurteile mitübernimmt. Wenn Piaton den Logos als διονομάζειν kennzeichnet, so kontrolliert er diese Theorie nicht etwa an der griechischen Sprache, nicht an den Sätzen, die er wie jeder andere Grieche spricht, sondern an der Bedeutung eines einzelnen Worts dieser Sprache : an λέγειν. Konnte im vorigen noch als Zufall erscheinen, daß Piaton im „Kratylos" als Beispiel für Logos nie einen Satz nennt, so enthüllt sich dies nunmehr als Folge der Orientierung am aggregativen Sinn von λέγειν. Für diesen ist nicht der Satz, wohl aber die Zusammenstellung der Farben zum Bild oder der Buchstaben zum Wort ein treffendes Beispiel. Mit seiner Bestimmung des Logos ist Piaton ausschließlich bemüht, in die Durchsichtigkeit einer Theorie zu heben, was der griechische Sprachgebrauch an Vorstellungen im Wort λέγειν schon hinterlegt hat. Die Entscheidung, die er in seiner frühen Logos-Theorie trifft, hängt somit von der Vorentscheidung ab, die mit der Bedeutungskonstitution von λέγειν schon getroffen ist. Die Grenzen der platonischen Logos-Theorie fallen mit den Bedeutungsgrenzen von λέγειν zusammen. Eine ihrer Grenzen zeichnet sich deutlich ab, wenn auf der Grundlage dieser Theorie eine Deutung der Aletheia des Logos mißlingt13. Daß Piaton am Beginn des „Kratylos" von der Aletheia des Logos ausgeht, schließt, wie gezeigt, keine Satztheorie ein, sondern verdeutlicht nur soviel, daß er sich auch hier zunächst vom griechischen Sprachgebrauch leiten läßt. Auch die Griechen erfahren, daß man die Wahrheit oder auch nicht die Wahrheit sagen kann, und drücken diese Wahrheit durch „Aletheia" aus. Zu diesem Sprachgebrauch von Aletheia tritt nun bei Piaton die Deutung des λέγειν als διονομάζειν in Konkurrenz und setzt sich für die theoretische Fassung des Logos durch. Eine Deutung der vom Sprachgebrauch angesetzten Aletheia des Redens (λέγειν, λόγοξ) wird dadurch aber sehr erschwert, wenn nicht gar unmöglich. Ganz folgerichtig verlegt Piaton sie aus dem Logos zunächst in die Onomata zurück und unternimmt es dann, Aletheia als Ähnlichkeit des Onoma mit der Ousia des Dings zu deuten, die es bezeichnet14. Wie die Bilder durch Farben die Dinge, so kann doch durch Buchstaben auch das Onoma die Ousia nachahmen15. Mit der so erzielten
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Entsprechendes gilt für den falschen Logos. Das Problem der Falschheit kann aber erst im übernächsten Kapitel erörtert werden. Dort wird auch das Problem der Aletheia nochmals aufgegriffen werden, vgl. unten § 17. 14 Noch einmal sei daran erinnert, daß Piaton im „Kratylos" „Aletheia" und „Orthotes" synonym gebraucht, vgl. oben § 4, Anm. 8. " Vgl. z. B. Krat. 424 A9—B2.
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Idee und Logos
Ähnlichkeit18 wird es zu einer Art Abbild 17 dessen, was es nachahmt, und besitzt mithin von Natur aus (φύσει)18 eine gewisse Aletheia oder Orthotes. Doch stellt sich schließlich heraus, daß man mit dieser Annahme allein nicht auskommt. Die Ousia der Dinge bezeichnen auch solche Onomata, die ihr nur teilweise oder auch gar nicht ähnlich gebildet sind. Ihre Aletheia oder Orthotes besitzen diese nicht von Natur aus (φύσει), sondern nur durch Ubereinkunft (συνθήκη, όμολογία, I6oç)19. Obwohl mit dieser Einsicht das Kriterium für eine generelle Aletheia oder Orthotes der Onomata eigentlich entfällt, fährt Piaton doch fort, davon zu reden. „Die Preisgabe der PhyseiTheorie tritt auffallend versöhnlich auf, nämlich so, daß das Konventionsprinzip dort ergänzend hinzutreten müsse, wo das Ähnlichkeitsprinzip versage. Plato scheint zu meinen, daß das Ähnlichkeitsprinzip ein vernünftiges, wenn auch in seiner Anwendung nur sehr liberal zu handhabendes Prinzip sei" 2 0 . Doch schränkt dies die Geltung des Ähnlichkeitsprinzips immerhin so weit ein, daß das Onoma nicht als eigentlicher Ort der Aletheia angesehen werden kann. Denn selbst um diejenigen Onomata zu ermitteln, die im Sinne der Ähnlichkeit σληθη sind, muß etwas anderes als Wörter aufgesucht werden (άλλ' c o r a ζητητέα πλην ονομάτων)21. Im eigentlichen Sinne Aletheia ist die Ousia selbst, zu der das Onoma allenfalls ein Abbild darstellt 22 . Die Ousia und αλήθεια των όντων aber sind die Ideen, die Piaton im Anschluß an diese Entscheidung einführt 23 . Was auch immer mit dieser Aletheia gemeint sein möge, — ihr Ort ist nicht der Logos und genau besehen auch nicht das Onoma, sondern die Idee. Ihr Sinn kann daher auch nur im Rahmen einer Erörterung der Ideenlehre aufgeklärt werden. — Doch eine Betrachtung, die den Blick nur darauf richtet, was Piaton in seiner Logos-Theorie schuldig bleibt, geht an ihrer eigentlichen Bedeutung vorbei. Vielmehr gilt es zu begreifen, daß jenes Negative nur die Grenze einer Theorie darstellt, mit der Piaton etwas Positives leistet. Dieses wird greifbar, wenn man berücksichtigt, daß Piaton aus dem Wort λέγειν, bei dem er anknüpft, nicht nur den aggregativen Sinn, sondern auch den des κρίνειν in seine Logos-Theorie überführt. Das Wesen des Logos kennzeichnet der Ausdruck διονομάζειν nur als g a n z e r : durch den Stamm -ονομάζειν nicht weniger als durch das Präfix. Über das όνομάζειν aber bringt Piaton 18
"
18 19 20 21 22 25
Vgl. z. B. Krat. 439 A2, 434 Al, A3. Krat. 439 A3, A7, A8, B l . Ζ. B. Krat. 383 A l — B l . Vgl. Krat. 384 C—D + 435 A—C. Gadamer (4), S. 387. Krat. 438 D5—7. Krat. 439 A7—B2. Krat. 439 C ff.
Onoma und Idee
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in seine Logos-Theorie genau den Sinn von κρίνειν ein, den er im λέγειν vorfindet. Das όνομα ist ihm όργανον διακριτικόν24. Damit wird eine positive Kennzeichnung dessen möglich, was Piaton zur Zeit der frühen Ideenlehre unter Logos versteht. Der Logos verdeutlicht, was die Dinge sind, indem er ihre sachhaltigen Bestimmungen dadurch unterscheidet, daß er sie mit Hilfe von Onomata der Reihe nach hervorhebt. Und von dieser deutlichen Unterschiedenheit, welche die sachhaltigen Bestimmungen im Onoma jeweils gewinnen, verlieren sie durch die Synthesis der Onomata zum Logos so wenig, daß sie sich vielmehr gerade in dieser Synthesis besonders deutlich gegeneinander abheben. Diese Kennzeichnung des Logos wirft jedoch sogleich ein neues Problem auf. Wie ist jenes Unterscheiden der sachhaltigen Bestimmungen der Dinge mit Hilfe der Onomata möglich? — Hierauf aber gibt Piatons Logos-Theorie keine Antwort mehr. Doch bedeutet das keinen Mangel. Wenn auch diese Frage sich noch im Rahmen der Logos-Theorie stellt, — ihre Beantwortung muß anderswoher erfolgen. Indem sie offenbleibt, weist sie über Piatons Logos-Theorie hinaus auf seine Erkenntnis-Theorie und bekundet so ihren Zusammenhang. Bereits im vorigen Kapitel wurde angedeutet, wie wichtig die Rolle ist, die der Begriff des Unterscheidens in Piatons früher Erkenntnis-Theorie spielt. Die Erörterung des Sinnes von Logos erbringt dafür ein erstes Zeugnis. Der Akt der Bezeichnung durch das Wort als όργανον διακριτικόν hängt offenbar mit dem Akt der Unterscheidung und Erkenntnis durch die Idee zusammen. Eine Aufklärung dieses Zusammenhangs ist von einer Erörterung der frühen ErkenntnisTheorie Piatons zu erwarten. 24
Krat. 388 B13—Cl.
P r a u s s , Platon
Ò
Kapitel III IDEE UND EPISTEME Abschnitt 1 Der Aufbau des Einzeldings § 8. Die Aistheta als Dynameis Was Piaton zur Zeit der frühen Ideenlehre unter Erkenntnis versteht, läßt sich angemessen nur erfassen, wenn zuvor geklärt ist, wie er sich die Gegenstände der Erkenntnis denkt. Im folgenden wird daher versucht, aus Piatons frühen und mittleren Dialogen seine Auffassung dessen zu ermitteln, was man im Anschluß an die aristotelische Kennzeichnung καθ' Ικαστον das Einzelding zu nennen pflegt1. Auch dieses Untersuchungs-Vorhaben erscheint wie das des vorigen Kapitels zunächst vielleicht befremdlich. Braucht man doch nur einen beliebigen Dialog aufzuschlagen, um festzustellen, daß Piaton immer wieder solches, was wir als Einzelding kennzeichnen, nicht nur nennt, sondern auch einer Vielzahl von Aussagen unterwirft. Eine Aussage aber besteht doch darin, daß sie, um beim einfachsten Fall zu bleiben, durch Verknüpfung eines Prädikats mit einem Subjekt jeweils im weitesten Sinne einem Ding eine Eigenschaft zuspricht. Steht damit nicht außer Frage, daß Piaton, wenn er beispielsweise über Menschen, Pferde oder Kleider Aussagen macht, wie wir darunter Dinge mit Eigenschaften, Substanzen mit Attributen versteht ? So nahe diese Meinung auch liegen mag, — aus dem bloßen Faktum, daß Piaton in Sätzen über Gegenstände Aussagen macht, kann sie noch nicht gefolgert werden. Sie stellt vielmehr ein MißVerständnis dar, dem hier sogleich durch eine Unterscheidung vorgebeugt werden muß, die der gesamten folgenden Untersuchung zum Grundsatz dienen soll. Wenn Piaton Aussagen macht, so benutzt er seine Muttersprache und fügt sich dabei im wesentlichen den Strukturen, die sie ihm von vornherein vorgibt. Eine davon ist die den indogermanischen Sprachen gemeinsame Grundstruktur der Subjekt-Prädikat-Verknüpfung. Die Auffassung von Hölzern 1
Damit soll freilich nicht geleugnet werden, daß Piaton in der Anamnesis-Lehre auch eine Theorie der Erkenntnis des ideal Seienden, beispielsweise der mathematisch-geometrischen Gegenstände, besitzt; vgl. dazu unten die §§ 14 und 17. 5*
68
Idee und Episteme
oder Steinen als Substanzen mit Attributen dagegen ist eine Theorie und mithin so wenig vorgegeben, daß es zu ihrer Begründung vielmehr angestrengter philosophischer Reflexion bedarf. Mag eine indogermanische Sprache die Ausbildung einer solchen Auffassung auch begünstigen, als Sprache ist sie gleichwohl noch keine Theorie. Durch ihre Subjekt-PrädikatStruktur fällt zwar über die Struktur der Gegenstände bereits eine gewisse Vorentscheidung. Doch nicht in Form einer Theorie, sondern nach Art einer stillschweigenden Voraussetzung, die jeder, der sich der Sprache bedient, zunächst ebenso stillschweigend und ohne jede theoretische Reflexion mitvollzieht. Kriterium dafür, ob Piaton die Gegenstände als Substanzen mit Attributen faßt oder nicht, kann daher niemals der Sprachgebrauch, die bloße Verwendung der Subjekt-Prädikat-Verknüpfung sein. Wenn Piaton diese Auffassung der Gegenstände vertritt, muß sie vielmehr als Theorie auch in theoretischen Formulierungen vorliegen. Dies festzuhalten, ist besonders wichtig. Denn nach dem Stand der Überlieferung wäre Piaton dann der erste, der diese Höhe philosophischer Reflexion erreicht. Theoretische Äußerungen über das Einzelding finden sich nun in größerer Anzahl über die frühen und mittleren Dialoge verstreut. Die meisten davon kennzeichnen es als dasjenige, was ουδέποτε ωσαύτως εχει, was sich niemals κατά ταύτά verhält, sondern immer άλλοτ' άλλως 2 . Einem dauernden Wechsel (μεταβολή, άλλοίωσις) 3 seiner Bestimmungen unterworfen, bietet es sich dem Betrachter bald so, bald anders, in keinem Augenblick jedoch auf ganz dieselbe Weise dar wie in einem andern. Dieses Wechselnkönnen und Wechseln ist aber doch Merkmal des Attributs. Die Attribute einer Substanz zeichnen sich doch dadurch aus, daß sie einander als Bestimmungen der Substanz ablösen können. Stellt sich nicht bereits damit heraus, daß Piaton das Einzelding in der Tat als Substanz mit Attributen faßt? Doch selbst wenn die genannte Deutung, die man der Kennzeichnung ουδέποτε ωσαύτως Ιχει im allgemeinen gibt, genau das träfe, was Piaton meint, so wäre noch keineswegs erwiesen, daß er damit auf ein SubstanzAttribut-Verhältnis zielt. Daß Dinge ihre Bestimmungen wechseln, heißt noch nicht, daß sie sie als Substanzen wechseln. Andere ausführlichere Formulierungen machen dies sogar höchst fragwürdig. Sie zeigen deutlich, daß Piaton mit der Kennzeichnung ουδέποτε ωσαύτως εχει weit mehr meint, als jene Deutung wiedergibt. Indem sie ihre Bestimmungen wechseln, bieten die Dinge sich nicht nur niemals gleich dar, sind sie nicht nur ihren Bestimmungen nach immer verschieden, sondern αυτά αύτοϊς . . . ουδαμώς 2 8
Vgl. ζ. Β. Phd. 78 E 5, D2—3. Ζ. Β. Phd. 78 D4, D7.
Die Aistheta als Dynameis
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κατά ταύτά 4 . Das Ding, das seine Bestimmungen wechselt, wird für Piaton mit jedem solchen Wechsel zu einem andern Ding (άλλο αύτό εύθύς γίγνεσθαι 5 . Darin kündigt sich eine Dingauffassung an, die von einer SubstanzAttribut-Theorie noch weit entfernt ist. Letztere zeichnet sich dadurch aus, daß sie eine Veränderung in der Sinnenwelt jeweils als Wechsel von Bestimmungen an ein und demselben Ding deutet. Substanz ist dieses gerade dadurch, daß es vom Bestimmungswechsel unberührt in seiner Identit ä t beharrt. Umgekehrt sind jene Bestimmungen, die wechseln können, Attribute nur als Bestimmungen einer solchen Substanz. Faßt man nun ein Ding als Substanz S mit den Attributen b, c, d, so kann diese Bezeichnung durch S beibehalten werden, auch wenn etwa das Attribut b am Ding verschwindet oder durch ein Attribut e abgelöst wird. Es ist derselbe Baum, der im Sommer grün war und im Herbst gelb wird. Nun behauptet Piaton aber, daß ein Ding durch einen Bestimmungswechsel αλλο εύθύς γίγνεται. Die Bezeichnung des Dings, beispielsweise durch S, darf somit nach einer Bestimmungsänderung nicht beibehalten werden. Es ist zu einem andern Ding geworden, das nach neuer unterscheidender Bezeichnung verlangt. Damit aber stellt sich sogleich die Frage nach der Dingauffassung, die dieser strengen Forderung Piatons zugrunde liegen könnte. Wenn er Bestimmungsänderung als Entstehung eines neuen Dings ansieht, so wird unwahrscheinlich, daß er im Ding eine Substanz erblickt, die als Träger von Attributen den Wechsel dieser Attribute überdauert. Scheidet jedoch der Substanzgedanke für Piatons Dingauffassung aus, so liegt die Annahme nahe, daß er das Ding als bloßes Aggregat von Bestimmungen faßt. Wenn aus einem solchen Aggregat A von Bestimmungen b, c, d beispielsweise das b verschwindet oder durch ein e abgelöst wird, so bleibt in der Tat dieses Aggregat nicht dasselbe und kann auch nicht mehr mit A bezeichnet werden. Unter dieser Auffassung ist der Baum, der im Sommer grün war und im Herbst gelb wird, n i c h t mehr derselbe Baum. Dabei ist zu beachten, daß das Wechselnkönnen eine Bestimmung noch nicht zum Attribut einer Substanz macht. Einen Aus- oder Eintritt von Bestimmungen gestattet das Ding, gleichviel ob es als bloßes Aggregat oder als substanzieller Träger von Bestimmungen gedeutet wird. Nur ist es im 4
Phd. 78 E3—4 + E5. * Krat. 439 DIO. Vgl. auch 439 E3—4, 440 A l . — Nach den Untersuchungen von Wieland geht sogar Aristoteles noch „davon aus, daß wir zunächst immer von D i n g e n sprechen, die zu andern D i n g e n werden. Keineswegs ist das Werden von der Vorstellung eines beharrenden Substrats aus verstanden, an dem verschiedene Bestimmungen wechseln". Wieland, S. 114.
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Idee und Episteme
Falle der aggregativen Auffassung wenig sinnvoll, diese Bestimmungen als Attribute zu kennzeichnen. Wohl gibt es auch hier etwas, zu dem sie hinzukommen. Dieses Etwas aber sind ebenfalls Bestimmungen. Somit ,inhäriert' im Aggregat das b dem c und d ebensogut wie das c dem b und d oder das d dem b und c. In Substanz-Attribut-Terminologie ausgedrückt, würde dies lauten : Im Ding als bloßem Aggregat von Bestimmungen sind diese Bestimmungen ebensogut Attribut wie Substanz. Der SubstanzAttribut-Gedanke wird damit jedoch sinnlos. Denn durch die Unterscheidung, die er trifft, sucht er gerade das herauszuheben, was so prinzipiell Substanz ist, daß es niemals Attribut, beziehungsweise was so prinzipiell Attribut ist, daß es niemals Substanz sein kann. Daß bei Piaton eine solche Aggregat-Auffassung des Dings vorliegt, bleibt allerdings vorläufig bloße Vermutung. Gewißheit ist hier erst von einer ausführlichen Detail-Untersuchung zu erwarten. Die vorstehenden Überlegungen sollten dieser Untersuchung nicht vorgreifen, sondern nur prinzipiell klarstellen, womit bei Piaton, gleichviel wie er entscheidet, unter Umständen zu rechnen ist. Diese Klärung wird für die Methode der folgenden Untersuchungen wichtig. Wenn auch zweifelhaft ist, ob Piaton die Dinge als Substanzen faßt, so gibt es doch anderseits keinen Zweifel darüber, daß er in ihnen auf jeden Fall das er bückt, was wir heute ihre Eigenschaften oder Attribute nennen. Der heutige Interpret steht damit vor einer terminologischen Schwierigkeit. Die Wörter „Bestimmung", „Eigenschaft", „Attribut", „ Qualität" usw. sind sämtlich Termini, die nicht nur bestimmte Sachhaltigkeiten der Dinge, sondern mehr oder weniger deutlich auch noch deren Bezug auf eine zugrunde liegende Substanz bezeichnen. Bestimmung, Eigenschaft, Attribut oder Qualität ist beispielsweise das Rot nur als Rot von e t w a s , einer mitgedachten Substanz. Falls Piaton die Substanz aber nicht mitdenkt, bleiben all diese Termini unangemessen. Eine Untersuchung, die sie verwendet, schwebt ständig in der Gefahr, Vorstellungen in den Blick zu rücken, die noch außerhalb von Piatons Gesichtskreis liegen, und mit ihnen das, was er eigentlich meint, gerade zu verdecken. Daher gilt es zunächst, bei Piaton nach Wörtern Ausschau zu halten, die das von ihm Gemeinte wenigstens so weit angemessen kennzeichnen, daß sie, als Termini verwendet, weiteren Kennzeichnungen nicht im Wege stehen. Den Bereich des Seienden, das wir die Einzeldinge nennen, grenzt Piaton gegen den Bereich der Ideen ab®. Im Gegensatz zu diesen, die nur das Denken erfaßt, sind sie Gegenstände der αίσθηση7. Menschen, Pferde ' Phd. 79 A6 ff. 7 Phd. 79 A2 ff. — Piaton exemplifiziert das Wahrnehmbare häufig durch τά όρατά, vgl. ζ. Β. Phd. 79 A7, A9, B6.
Der Begriff der Dynamis
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und Kleider oder auch Hölzer und Steine sind die berühmten Beispiele aus dem „Phaidon"8. Doch darf nicht übersehen werden, daß bei Piaton die Einzeldinge als Beispiele für Wahrnehmbares gegenüber anderen in der Minderzahl stehen. Weitaus häufiger führt er solches an, was wir heute im weitesten Sinne Qualitäten oder Attribute von Einzeldingen nennen9. Und schließlich bestimmt er als αίσθητόν oder όρατόν ganz allgemein dasjenige, was έν άλλοις δ ν άλλο ist10, was an verschiedenen Einzeldingen jeweils anders in Erscheinung tritt 11 . Das macht zwar wahrscheinlich, daß Aistheta für Piaton in erster Linie die sachhaltigen Bestimmungen der Dinge sind. Doch über die Stellung im oder das Verhältnis zum Ding, an dem sie jeweils hervortreten, gibt ihre Wahrnehmbarkeit noch wenig Aufschluß. Aufschlußreicher scheint dafür eine andere Kennzeichnung zu sein. Sachhaltige Bestimmungen, die Piaton als Beispiele für Aistheta aufzählt, bezeichnet er an andern Stellen als Dynameis12. Läßt sich ermitteln, was Piaton mit dieser Kennzeichnung im Auge hat, so besteht Hoffnung, auch seine Auffassung vom Aufbau des Einzeldings überhaupt aufzuklären. § 9. Der Begriff der Dynamis Im „Ion" sucht Piaton das Wesen der Dichtkunst und der Kunst des Rhapsoden zu kennzeichnen und geht dafür vom Beispiel des Magnetsteins aus. Dessen Eigenschaft, beispielsweise einen eisernen Ring anzuziehen, nennt Piaton seine Dynamis1. In dieser Verwendung darf Dynamis nicht etwa im Sinne von .Möglichkeit' verstanden werden, den dieses Wort später insbesondere bei Aristoteles bekommt. Jene Dynamis der Anziehung ist so wenig eine bloße Möglichkeit des Steins, daß sie vielmehr ein wesentliches Moment seiner Wirklichkeit ausmacht. Dieses äußert sich als wirkende Kraft, die so wirklich ist, daß sie sich sogar auf den angezogenen Ring überträgt (έυτίθεσβαι)2, der nun seinerseits ebenfalls im Besitz dieser Dynamis weitere Ringe anzieht3. Phd. 78 DIO, 74 AIO. » Ζ. Β. Charm. 167 C8—D5, 168 D3—El, Staat 476 B4—8, 523 E3—524 B2, 507 B2—3 + B5—7 + C3—4 + Dil—E2, Tim. 50 A2—51 A4, Tht. 156 Cl—3, Phdr. 250 A6—B5 + D2—4 + E2—3 + 251 C6, Parm. 129 D7—130 A l . 1 0 Phd. 83 B2—4, vgl. Symp. 211 A5—Bl, Phdr. 247 D6—E2. 1 1 Vgl. Bluck (1), S. 82, Anm. 1 (zu Phd. 83 B) : Er führt aus, „that the phrase does not mean .that which varies in varying conditions' ", sondern „appearing variously in various things . . .". 1 2 Ζ. B. Prot. 320 D5, 321 Cl. Ion 533 D3, E3, 535 E9, 536 A3, Hi. Ma. 296 B8, C6. 1 Ion 533 D3, D6, E3, D3, 535 E9. 2 Ion 533 D6. 3 Ion 533 D7—E2. 8
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Idee und Episteme
Eine Dynamis, der des Magnetsteins vergleichbar, besitzen nun nach Piaton auch die Musen und Götter (θεία δύναμη)4. In ihrem Bann verfaßt der Dichter seine Werke. Und wie die des Magnetsteins so ist auch diese göttliche Dynamis etwas so Wirkliches, daß der Dichter, dem sie sich mitteilt, darunter zu einem Begeisterten (ενθεος), ja von ihr geradezu Besessenen (κατεχόμενος) wird8. Und wie die Dynamis des Magnetsteins sich nicht nur auf einen, sondern von diesem immer weiter auf andere Ringe überträgt, so schlägt auch jene göttliche Dynamis nicht nur den Dichter in ihren Bann. Sie erfaßt vielmehr auch den Rhapsoden, der seine Werke vorträgt, und über den Rhapsoden wiederum viele der Darbietung Lauschende, bis sie schließlich allesamt zu begeisterter Besessenheit vereint 6 . Dichten und Dichtung bedeuten also für Piaton nicht etwa Leistung und Resultat einer vom Dichter angewandten Techne7. Dazu müßte er seines Bewußtseins mächtig sein (εμφρων)8, seine Dichtung aber wäre dann Werk solcher bewußter Techne. Gerade dies ist jedoch nach Piaton nicht der Fall. Schöne Werke bringt ein guter Dichter vielmehr ausschließlich als Begeisterter und Besessener hervor9. Dichtung und Orakel-Spruch stehen für Piaton unter denselben Bedingungen. Zu beidem ist der Mensch unfähig, solange er sich an den Besitz seines Bewußtseins klammert 10 und damit etwas auszurichten sucht. Nach Piaton ist Dichtung so wenig ein Tun des Menschen, daß sein Dichtertum gerade darin besteht, etwas mit sich tun zu lassen. Zum Dichten begeistert ihn der Gott, und zwar dadurch, daß er ihm das Eigene, das Bewußtsein, nimmt und ihm stattdessen seine göttliche Dynamis verleiht11. Diese Deutung des Dichtertums führt zu Konsequenzen, die Piaton selber zieht. Ein vollendetes Dichtwerk stellt genau besehen gar nicht das Werk des Dichters dar12. Er ist nur ποιητής : derjenige, der es m a c h t in dem Sinne, daß er gleichsam nach göttlichem Diktat nur niederlegt, was eigentlich Werk des Gottes ist13. Dichtung wird aber dadurch so wenig bloßes Machwerk, daß sie vielmehr gerade ohne das Werk des Gottes etwas n u r Gemachtes würde. Jeder Gedanke an eine persönliche Leistung, ein genialisches Schöpfertum des individuellen Menschen, liegt Piaton 4
Ion 533 D3, 534 C6, dazu 533 E4, 534 C7. Ion 533 E4, E6, E7, 534 A4, B5. « Ion 535 Β—E. 7 Ion 533 E6. 8 Ion 534 A5. 9 Ion 533 E5—8. 10 Ion 534 B6—7. 11 Vgl. Ion 534 B5 + CI + C3 + C6 + C8. 12 Ion 534 D2, E2—3. « Ion 534 D3—4, E3—4. 5
Der Begriff der Dynamis
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hier völlig fern. Der Dichter ist ausschließlich έρμηνεύς14 dessen, was der Gott sagt 16 . Und sein Sagen wird umso deutlicher und wirkungsvoller, je weniger das Eigene des Dichters, Rhapsoden oder Zuhörers dazwischenspricht. All dies gilt nun in Grundzügen auch für die Vorgänge um den Magnetstein, der die Ausführungen über das Dichtertum als Beispiel begleitet 16 . Wenn Piaton auch sagt, daß der Gott im Dichtwerk spricht, so meint er damit gleichwohl nicht, daß der Gott selbst die Seele des Dichters überkommt. Vielmehr ist es jene göttliche Dynamis, die ihn als θεία μοίρα17, als ein vom Gott zugeteiltes Geschick heimsucht und zum Dichten bewegt (κινεί)18. Entsprechend dringt auch nicht der Magnetstein selbst, sondern seine Dynamis in den eisernen Ring ein. Eigentlich ist es nicht der Magnetstein, der den Ring bewegt und anzieht, sondern seine Dynamis19. Aus dem Stein heraus (εξ εκείνη s της λίθου) ergreift sie den Ring, doch so, daß sie ihn nicht nur bewegt und anzieht. Sie geht so an ihn über (άνήρτηται) 20 , daß sie von ihm aus auf einen zweiten und von diesem wiederum auf einen dritten übergreift usw.21. Und wie die Dynamis des Gottes sich desto weiter und nachhaltiger auswirkt, je weniger der Dichter oder Rhapsode etwas Eigenes zu geben versucht, so dringt auch die Dynamis des Magnetsteins umso stärker und weiter durch, je weniger ihr das im Wege steht, was die Ringe sonst noch enthalten. — Nun ist zwar sicher, daß nicht der Gott oder der Magnetstein selbst, sondern deren Dynamis jeweils in den Dichter oder den Ring eindringt und sich entsprechend auswirkt. Gleichwohl kennzeichnet Piaton dieses Eindringen und Wirken der Dynamis durch zwei verschiedene Ausdrucksweisen. Einmal sagt er: ή δύναμις κινεί22, und macht damit die Dynamis des Gottes beziehungsweise des Magnetsteins zum Subjekt jener Handlung. Dazu stimmt, daß eine Dynamis ihm, wie die vorigen Ausführungen zeigen, als etwas Wirkliches und offenbar relativ Selbständiges gilt 23 . — Daneben verwendet er jedoch Ausdrücke, in denen er derselben Handlung ein anderes Subjekt zugrunde legt. Er sagt: ή λίθος toùç δακτυλίους άγει, oder Ion 534 Ε4. Ion 534 D4. « Ion 533 D3 + 536 A4. 17 Ion 534 Cl, 536 C2. 1 8 Ion 533 D3. 19 Ion 533 D3: Das ώσπερ bezieht das κινεί sowohl auf die Dynamis des Magnetsteines wie auf die des Gottes. 20 Ion 533 E3. 21 Ion 533 E l — 3 . 22 Ion 533 D3. 23 Vgl. das ίντίθησι und άνήρτηται in Ion 533 D6 + E3. 14
16
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Idee und Episteme
vom Dichter: ή Μούσα αύτόν ώρμησεν24, und setzt somit nicht ihre jeweilige Dynamis, sondern den Magnetstein und den Gott als Subjekte der Handlungen an. Damit bestätigt sich, was im vorigen Paragraphen vorweggenommen wurde. Daß Piaton sich in Aussagen der Subjekt-Prädikat-Verknüpfung bedient, heißt nicht, daß er die Dinge als Substanzen mit Attributen versteht. Zu Subjekten für Prädikate kann die Sprache nicht etwa nur D i n g e , sondern auch E i g e n s c h a f t e n von Dingen erheben. Um bei den genannten Beispielen zu bleiben: Sprachlich ist es möglich, jene Tatsache der magnetischen Anziehung sowohl als einwirken des M a g n e t s t e i n s wie auch als Wirken der E i g e n s c h a f t des Magnetsteins auszudrücken. Dieses Wirken, das die eine Ausdrucksweise als Prädikat (άγει = κινεί) eines Subjekts (λίθος) faßt, wird in der andern Ausdrucksweise selbst zum Subjekt (δύναpis), das sich gleichsam selbst noch einmal zum Prädikat (άγει = κινεί) erhält. Denn das κινεΐν oder άγειν ist ja gerade die Dynamis des Magnetsteins, nur daß sie ihn in der zweiten Ausdrucksweise an der Subjekt-Stelle verdrängt. Die Möglichkeit dieser unterschiedlichen Ausdrucksweisen zeigt zwingend, daß vom bloßen Sprachgebrauch her offen bleibt und offen bleiben m u ß , ob Piaton eine Substanz-Attribut-Theorie des Dings vertritt oder nicht. Denn was der Sprache möglich ist, wird in der Theorie überaus schwierig, wenn nicht gar unmöglich. Theoretisch läßt sich schwerlich vertreten, daß jene magnetische Anziehung zugleich das Wirken eines Dings u n d das Wirken der Eigenschaft dieses Dings darstellt. Wenn Piaton eine bestimmte Auffassung vom Einzelding besitzt, ist vielmehr zu erwarten, daß er sich mit ihr eindeutig für eine jener Möglichkeiten entscheidet. Daraus läßt sich nun ein Kriterium dafür gewinnen, welche Äußerungen Piatons zur Ermittlung seiner Dingauffassung überhaupt herangezogen werden dürfen. Dies zu wissen, ist wichtig. Denn oft fällt schwer, den Punkt zu bezeichnen, an dem Piaton vom bloßen Sprachgebrauch zu theoretischen Erörterungen übergeht. Ausgearbeitete Theorien vom Aufbau des Einzeldings liegen vor Piaton offenbar nicht vor. Deshalb kann auch nicht erwartet werden, daß seine eigene Dingauffassung sich als Theorie unmittelbar zu erkennen gibt, indem sie etwa andere Theorien aufgreift oder zurückweist. Wohl aber kann man sicher sein, Piatons Dingauffassung in solchen Aussagen zu finden, welche eine jener vom Sprachgebrauch nahegelegten Auffassungen von Ding und Dynamis aufgreifen und zugleich die andere zurückweisen. — 21
Vgl. Ion 533 D5 + 534 C2—3.
Der Begriff der Dynamis
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Zunächst bezeugen mehrere Text-Stellen, daß Piaton eine Auffassung von Dynamis vertritt, die offenbar der Ausdrucksweise ή δύναμη κινεί folgt. Nach seinen Ausführungen im „Ion" versteht er unter Dynamis etwas Wirkliches und relativ Selbständiges. Allerdings bleibt hier noch offen, ob jener Ausdruck bloßer Sprachgebrauch ist, oder ob Piaton die Dynameis tatsächlich als so selbständig betrachtet, daß er jeweils ihnen selbst wiederum so etwa wie eine Dynamis (κινειν) zuerkennt. Aus dem „Protagoras" ist darüber mehr zu entnehmen. Seinen Erörterungen der Aretai schickt Piaton durch den Mund des Protagoras eine Erzählung über die Entstehung der Lebewesen voraus. Im Auftrag des Zeus, den Prometheus erhält, aber an Epimetheus weitergibt, bekommen dabei zunächst die Tiere zu ihrer Erhaltung je bestimmte Eigenschaften, beispielsweise Stärke, Schnelligkeit, Größe oder Kleinheit26. Auch diese Eigenschaften kennzeichnet Piaton als Dynameis26. Vergleicht man sie mit den Dynameis des „Ion", so wird deutlich, daß der Gebrauch von „Dynamis" 27 keineswegs auf solche Eigenschaften beschränkt ist, die man im eigentlichen Sinne des Wortes zu den Kräften rechnen würde, wie etwa die Anziehungskraft des Magnetsteins. Piaton scheint auch Größe und sogar Kleinheit als Kräfte im weitesten Sinne zu verstehen. Dies wird einsichtig, wenn man beachtet, daß diese Dynameis den Tieren zu ihrer Erhaltung (eis σωτηρίαν)28 verliehen werden. Ohne daß Größe oder gar Kleinheit Kräfte im Sinne der Magnetkraft wären, e r w i r k e n sie gleichwohl den Tieren ihre Erhaltung oder Rettung. Zu den Dynameis in diesem Sinne zählen dann natürlich auch Haare, Felle, Häute, Hufe und Klauen29. Doch Epimetheus, nicht ganz weise30, verteilt so großzügig, daß er zur Erhaltung der Menschen nichts mehr übrig behält. Da greift Prometheus ein und stiehlt zur Ausstattung der Menschen die Sophia des Hephaistos und der Athene31. Doch sind sie auch damit für den Daseinskampf noch nicht zureichend gerüstet. Sie leben vereinzelt und beispielsweise den Angriffen der Tiere wehrlos ausgeliefert. Um sie zu erhalten, schickt ihnen Zeus durch Hermes Aretai, beispielsweise Scham, Gerechtigkeit, Besonnenheit und Frömmigkeit. Diese ermöglichen ihnen, sich zu Städten zusammenzuschließen und so den drohenden Gefahren wirksam entgegenzutreten32. 25
Prot. 320 E. « Prot. 320 D5, E2, 321 Cl. 27 „Dynamis" bezeichnet ursprünglich die körperliche Kraft, vgl. Liddell/Scott 2
s. V. 28
Prot. Prot. 80 Prot. 81 Prot. »2 Prot. 29
320 321 321 321 322
E3. A—B. B7. Dl. A—C + C2 + 323 Al—2 + 326 Al + 329 C.
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Idee und Episteme
Auch Gerechtigkeit, Besonnenheit usw. werden also verliehen, um Erhaltung und Rettung 33 zu erwirken. Sie müssen mithin ebenfalls als so etwas wie Dynameis verstanden werden, auch wenn Piaton diese Dynameis der Menschen hier ausschließlich als Aretai kennzeichnet34. Und in der Tat spricht Piaton diesen Aretai ein bestimmtes Wirken zu, das er als Dynamis der jeweiligen Arete bezeichnet35, und vermeidet wohl aus diesem Grunde, die Aretai selbst Dynameis zu nennen. Damit liegt aber hier im „Protagoras" genau das vor, was im „Ion" nicht zwingend zu erweisen war: daß Piaton den Eigenschaften, gleichviel ob er sie selbst Dynameis nennt oder nicht, doch je eine Dynamis, ein bestimmtes Wirken, zuspricht. Seine Auffassung der Eigenschaften scheint danach der Ausdrucksweise ή δύυαμις κινεί zu folgen: eine Eigenschaft h a t eine Dynamis. Behält man nun im Anschluß an den „Ion" und „Protagoras" (320 D5, E2, 321 Cl) die Bezeichnung einer Eigenschaft durch „Dynamis" bei, so ergibt sich: Eine Dynamis h a t eine .Dynamis'. Seine Auffassung der Eigenschaften bringt Piaton zwar nirgends auf diese Formel. Gleichwohl ist sie gerade durch die zweifache Verwendung des Wortes „Dynamis" zur Kennzeichnung dieser Auffassung gut geeignet. Denn greift man eine solche Dynamis heraus, beispielsweise die σωφροσύνη oder δικαιοσύνη, und fragt, worin denn jeweils die .Dynamis' dieser Dynameis besteht, so gibt es aus dem Text nur eine Antwort: Die .Dynamis' der σωφροσύνη oder δικαιοσύνη ist nichts anderes als das σωφρονειν oder δίκαιον είναι, σωφρονειν oder δίκαιον είναι ist Sache (πεφυκεναι) der σωφροσύνη oder δικαιοσύνη36. Was Platon damit meint, wird im folgenden noch näher erläutert werden. Doch ist auch hier schon soviel deutlich, daß das Wort „Dynamis" in bestimmter Hinsicht geeignet ist, die Eigenschaften, wie Piaton sie versteht, als Terminus zu bezeichnen. Anders als „Qualität", „Attribut" usw. schließt „Dynamis" einen Bezug auf eine zugrunde liegende Substanz so wenig ein, daß es im Anschluß an jene Formel eher so scheint, als sei die Dynamis, welche eine .Dynamis' hat, selbst so etwas wie eine Substanz für ein Attribut. Soweit diese platonische Auffassung der Eigenschaften wiederkehrt, werden daher im folgenden diese Eigenschaften durch das Wort „Dynamis" bezeichnet, auch wenn Piaton selbst dieses Wort nicht verwendet. ss
Prot. 322 Cl. Im „Staat" bezeichnet er auch Aretai als Dynameis, vgl. Staat 433 A8—B4 + D7—9; ferner Savan, der ebenfalls vertritt, daß die Aretai im „Protagoras" als „noble skills" der Menschen aufgefaßt sind (S. 131, vgl. auch S. 132). 35 Prot. 330 A4, A6, B l . s « Vgl. Prot. 330 A 3 — B l + C7 + D5—6 + 332 A 8 — B l + Cl—2 + D6—7 + 333 A5. Diese Deutung dieser Stellen kann erst im weiteren Verlauf dieses Abschnitts zureichend begründet werden, vgl. unten § 11.
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Dynamis und Einzelding
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§10. Dynamis und Einzelding Die Formel: Eine Dynamis h a t eine .Dynamis', wirft auf Piatons Auffassung der Dinge ein erstes Licht. Sie macht unwahrscheinlich, daß er ihre Dynameis als Attribute von Substanzen versteht. Der Gedanke aber, der dies endgültig klarstellen würde, nämlich : Nicht die Dinge, sondern ihre Dynameis haben .Dynameis', liegt in jener Formel erst zur Hälfte vor. Sie ist daher mit Vorsicht zu handhaben. Ihrer Formulierung nach könnte sie zu der Meinung verleiten: Wenn Piaton die Dinge nicht als Substanzen mit Attributen faßt, so deshalb, weil er ihre D y n a m e i s als Substanzen mit Attributen versteht. Damit aber hätte man nicht nur wieder auf unerlaubte Weise aus dem bloßen Sprachgebrauch eine Theorie gefolgert. Das Substanz-Attribut-Verhältnis, das Piatons Dingauffassung vermutlich nicht zugrunde liegt, wäre durch eine Hintertür wieder eingeführt. Ist jedoch unwahrscheinlich, daß Piaton das Substanz-Attribut-Verhältnis seiner Auffassung der Dinge zugrunde legt, so ist mindestens ebenso unwahrscheinlich, daß es seine Auffassung ihrer Dynameis bestimmt. Wahrscheinlich ist dann vielmehr, daß er es überhaupt noch nicht kennt. Und in der Tat läßt sich bei Piaton eine Auffassung von Dynamis nachweisen, die mit jener Formel in Einklang steht, ohne deshalb die Dynamis als Substanz für ein Attribut anzusetzen. Wenn Piaton im „Protagoras" ausführt, daß σωφρονεϊν, δίκαιον είναι oder όσιον είναι Natur (πεφυκέναι)1 der σωφροσύνη, δικαιοσύνη oder όσιότης ist, so denkt er dabei jeweils an das Wirken eines Wirkenden. Dies zeigt sich schon darin, daß er überhaupt nicht auf den Gedanken kommt, statt σωφρονεϊν etwa σώφρον είναι zu sagen2. Und es unterliegt kaum einem Zweifel, daß er auch das Wirken der δικαιοσύνη und όσιότης nicht mit Hilfe von είναι umschreiben würde, wenn ihm die entsprechenden Verben zur Verfügung stünden. Das είναι in δίκαιον είναι oder όσιον είναι darf nicht im abstrakt-prädikativen Sinne der logischen Kopula, sondern muß im Sinne des Verbs σωφρονεϊν d y n a m i s c h verstanden werden. Die .Dynamis' einer Arete ist nicht als ein Attribut gedacht, das ihr zukommt wie die Farbe einem Ding. In dieser .Dynamis' besteht vielmehr ihr Wesen. Sie h a t eine .Dynamis', weil sie im Grunde Dynamis ist. In seiner Abhandlung über „Dynamis" bei Piaton schreibt Souilhé: „Les δυνάμεις désignent souvent les entités, origine et source des activités diverses . . . souvent aussi le terme δύναμις s'applique au fait d'agir, à l'action, plutôt qu'à son principe . ..". Und er fügt treffend hinzu: „. . . la nuance est parfois 1 2
Prot. 330 D6. σωφρονεϊν umschreibt er allenfalls durch σωφρόνως ιτράττειν (ζ. Β. Prot. 332, D5, D6) ; doch der dynamische Sinn von σωφρονεϊν ist darin voll bewahrt.
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imperceptible qui sépare la qualité agissante de la réalité elle-même de l'action" 3 , δικαιοσύνη ist ein δίκαιον wie σωφροσύνη σωφρονεϊν ist. Und das heißt: in einem so dynamischen Sinne, wie er mit einem Wort heute nur noch durch die Sprachgewaltsamkeit „gerechten" angemessen wiedergegeben werden kann 4 . Es wäre nicht falsch, diese dynamische Deutung der Eigenschaften bei Piaton als Rest einer mythischen Auffassung zu kennzeichnen6. Dies birgt jedoch die Gefahr, daß man dann allzu schnell zu der Ansicht neigt, sie sei heute nicht mehr recht nachvollziehbar. Für ihre dynamische Seite mag dies vielleicht zutreffen. Doch bietet Piatons Auffassung der Dynameis noch einen andern Aspekt, unter dem sie sich dem heutigen Verständnis näherbringen läßt. Es fällt auf, daß Piaton als Beispiele für Eigenschaften mit einer gewissen Vorliebe Farben und Laute nennt®. Ein Grund dafür ist sicher, daß er, wie schon an den Dynameis des „Ion" deutlich wurde, eine Eigenschaft als relativ selbständige Wirklichkeit betrachtet. Dies läßt sich am Laut sehr gut veranschaulichen. Denn immerhin ist er etwas, das man ausstoßen und im Echo sogar wieder zurückerhalten kann. Aber auch Farben befinden sich nicht nur an Dingen, sondern auch selbständig in Gefäßen, etwa heute in Dosen und Tuben. Doch die Farbe ist häufiges Beispiel für Eigenschaften auch noch aus einem andern Grunde. Das wird im „Lysis" deutlich, wo Piaton sie nicht nur als Beispiel nennt, sondern sogar zum Modell erhebt, an dem er seine Auffassung der Eigenschaften und ihres Verhältnisses zum Ding entwickelt7. Und wie weit die Gültigkeit des Farbmodells in Piatons Augen 8
Souilhé, S. 149f. So auch Savan, S. 133: „justice does justice". Im Zusammenhang damit weist Savan mit Recht die oft vertretene Auffassung zurück, daß es sich hier um so etwas wie .Selbstprädikation' handelt, Savan, S. 130. s Mit seiner Auffassung der Sachhaltigkeiten der Dinge als Dynameis steht Piaton noch ganz unter dem Eindruck der griechischen Tradition: „In the fifth century ,the hot', for example, was conceived as an active .power' (δύναμι;) residing in bodies . . .", Cornford (4), S. 47. — Die Sachhaltigkeiten der Dinge sind im 6. Jh. wie ebenso noch beim frühen und mittleren Piaton selbst „not as abstract Aristotelian predicates, but as substantial .quality-things'" verstanden. Bis schließlich Platon, doch erst im „Theaitetos" (182 A), „coined the technical term poiotes, the current term for „quality" was dynamis, power. The hot is that which heats, the moist that which moistens . . .", Vlastos (1), S. 41 f. — Vgl. auch Fränkel (2), S. 408: „Konstitutiv für das Weltdenken der archaischen Epoche waren ja nicht die Gegenstände . . ., sondern die Seinsarten, Aktionskräfte, Qualitäten." • Vgl. z. B. Charm. 167 D, 168 D, Gorg. 474 D, Krat. 423 E, Phd. 100 D, Staat 476 D, 480 A, 507 D, E. ' Lys. 217 C. 4
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reicht, läßt sich an den Eigenschaften ablesen, die Piaton den Farben analog behandelt, nämlich „gut" oder „schlecht" und insbesondere das Gute oder Schlechte des Körpers, nämlich Gesundheit oder Krankheit 8 . Piaton wählt zum Modell die Farbe „Weiß" und betrachtet als ganz selbstverständlich, daß das Weiß selbst weiß ist9. Ohne die Farben etwa als Dynameis zu kennzeichnen, behandelt er sie damit doch genau wie im „Ion" und „Protagoras" die Dynameis und Aretai. Wie die δικαιοσύνη ein δίκαιον und die όσιότης ein δσιον, so ist auch das Weiß selbst weiß. Dasselbe gilt, wie sich zeigen wird, für alle Eigenschaften, die Piaton zu den Farben in Analogie setzt. Eine dynamische Deutung dieses Weißseins der Farbe „Weiß" ist aber zumindest deshalb schwierig, weil Piaton hier das Wort „Dynamis" gar nicht verwendet. Damit stellt sich erneut die Frage, ob er für die Dynameis nicht doch so etwas wie ein Substanz-Attribut-Verhältnis ansetzt. Daß es aber gerade die Farben sind, die ihm für diese Auffassung der Dynameis zum Modell dienen, legt eine andere Deutung nahe, die sich an Hand einer Beobachtung unseres eigenen heutigen Sprachgebrauchs entwickeln läßt. Im Rahmen des gesprochenen oder geschriebenen Satzes kennen wir zwei Verwendungsweisen der Adjektive, deren Funktionen die Grammatiken im allgemeinen durch die Kennzeichnungen „attributiv" und „prädikativ" unterscheiden. Im Gegensatz zu andern Sprachen, beispielsweise zum Englischen, läßt sich im Deutschen die Verwendungsweise des Adjektivs bereits an seiner Form erkennen: Im attributiven Gebrauch wird das Adjektiv mit Hilfe von Endungen dekliniert, während es im prädikativen Gebrauch endungslos bleibt. Wir sagen „Die schöne Rose . ..", aber „Die Rose ist schön"10. Diese attributive Funktion der AdjektivEndung ist so ausgeprägt, daß der attributive Sinn auch dann erhalten bleibt, wenn in verkürzender Redeweise das zugehörige Substantiv ausgelassen wird. So kann auf die entsprechende Frage eine deutsche Dame beispielsweise antworten: „Ich ziehe heute abend das grüne an". Dagegen eine englische Lady, die das Adjektiv nicht mit Hilfe von Endungen deklinieren kann, erreicht die entsprechende Kürze nur durch die Umschreibung : „I'll wear the green one tonight". Für Substantivierungen von Adjektiven verwendet man nun im Deutschen ihre deklinierte Form : das Große, das Schöne, das Neue. In der Regel können die Adjektive nur in ihrer deklinierten Form substantiviert 8
Vgl. Lys. 217 A—E + 218 E—219 Β. » Lys. 217 D8. vgl. C7. 10 Von poetischen oder formelhaften Wendungen wie etwa „Kein schöner Land . . . " oder „Auf gut Glück" kann hier abgesehen werden, da sie als Ausnahmen die Hegel bestätigen.
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werden. Von dieser Regel sind nur wenige ausgenommen, von denen sich neben der deklinierten auch die endungslose Form substantivieren läßt. Innerhalb dieser Ausnahmen gibt es nun wieder eine Regel: In beiderlei Form substantivierbar sind sämtliche Farbadjektive, daneben nur noch ganz wenige Ausnahmen. Stellt man die Substantivierungen beider Formen dieser Adjektive einander gegenüber, so zeigt sich eine interessante Sinndifferenz11. Die attributive Funktion der Endung hält sich auch im substantivierten Adjektiv durch. Verglichen mit „das Dunkel" bezeichnet deshalb „das Dunkle" e t w a s , das dunkel ist, während „das Dunkel" von diesem Etwas gerade absieht und isolierend nur die Qualität nennt. „Das Dunkel der Nacht" ist neben „das Dunkle der Nacht" die trefflichere Formulierung. Bei Adjektiven, deren endungslose Form nicht substantiviert werden kann, übernimmt nun die deklinierte Form ihre Funktion noch mit, wird dadurch aber doppeldeutig. Zur Bezeichnung der Qualität zieht man daher der Genauigkeit halber beispielsweise das Voll-Abstraktum „die Schönheit" dem Teil-Konkretum „das Schöne" vor. Anderseits macht man sich diesen Doppelsinn gerade zunutze, wenn man etwa die Ästhetik als „Lehre vom Schönen" kennzeichnet. Denn sie handelt sowohl von dem, was schön i s t , nämlich von Gemälden, Musikstücken usw., wie auch über die Schönheit als solche. Die Sinnverschiedenheit von deklinierter und endungsloser Substantivierung wird nun im Falle der Farbadjektive besonders deutlich. Nicht zufällig ist die endungslose bei den Farbadjektiven durchwegs, bei den übrigen dagegen nur ausnahmsweise möglich. Die Farben verlangen geradezu nach der Möglichkeit einer isolierenden Bezeichnung. Für keine Gruppe von Qualitäten ist die endungslose Substantivierung ihrer Bezeichnungen so sinnvoll wie für die Farben, die man in Dosen und Tuben kaufen kann. Darum wird auch gerade bei den Farbadjektiven der Sinn der endungslosen Substantivierung von dem der deklinierten am schärfsten unterschieden. Wenn ein Maler einen Gehilfen hat, so sagt er ihm vielleicht: 11
Von den Farbadjektiven sehe ich zunächst ab und behandle erst die Ausnahmen. Unter diesen finden sich Fälle wie „das Gut", „das Recht" oder „das Wild", die schon eine so spezielle Bedeutung erlangt haben, daß sie sich mit den entsprechenden deklinierten Substantivierungen nicht mehr recht vergleichen lassen. Besser vergleichbar ist schon ein Fall wie „das Fett" und „das Fette". Am besten eignen sich jedoch die Fälle, wo in den Substantivierungen b e i d e r Formen das Adjektiv noch voll zu hören ist. Zu diesen zählen beispielsweise „das Dunkel", „das Rund" oder „das Übel". — Ganz abgesehen wird von den Sprachbezeichnungen wie „das Deutsch" usw., weil sie sich bedeutungsmäßig von den entsprechenden deklinierten Substantivierungen nicht unterscheiden. Dies dürfte daran liegen, daß sie sprachgeschichtlich sehr wohl Endungen besitzen (-sch, -isch < - i s k ) .
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„Gib mir etwas Grün". Und derselbe Gehilfe, der ihm daraufhin die Farbe reicht, wäre verwirrt und müßte nach ganz andersartigem Ausschau halten, wenn er stattdessen den Auftrag bekäme: „Gib mir etwas Grünes". Beispielsweise nach solchem, was etwa auch eine Dame sucht, die beim Kauf eines Kleides sagt: „Ich denke an etwas Grünes". Diese Unterscheidung, die wir kurzerhand mit Hilfe der Endung treffen, kann etwa der Engländer, dem Endungen nicht zur Verfügung stehen, nur durch Umschreibungen ausdrücken. Das Griechische dagegen kennt wiederum keine endungslosen, sondern ausschließlich deklinierte Adjektive. Wenn darum Piaton, wie er es häufig tut, Gegenstände der Sinnenwelt beispielsweise einfach durch τό καλόν, τά καλά oder auch τά πολλά καλά bezeichnet, so hegt darin eine Quelle für Mißverständnisse. Einmal ist man versucht, τό καλόν durch „das Schöne" wiederzugeben und darunter ein schönes Einzelding zu verstehen. Dazu wurde schon bemerkt, daß Piaton als Beispiele für Wahrnehmbares weit häufiger Eigenschaften von Einzeldingen als Einzeldinge selbst nennt. Durch eine Analyse von „Staat", Buch 5 hat nun Gosling überzeugend nachgewiesen, daß Piaton auch die allgemeinen Ausdrücke τό καλόν, τά (πολλά) καλά „not in the sense of many particular objects", sondern primär zur Bezeichnung von „observable properties", von Eigenschaften der Einzeldinge verwendet12. Damit liegt nahe, τό καλόν weiterhin mit „das Schöne" zu übersetzen, darunter jedoch eine schöne Eigenschaft zu verstehen: so als habe Piaton zwar nicht die Einzeldinge, wohl aber ihre Eigenschaften als so etwas wie Substanzen für Attribute aufgefaßt. Beachtet man jedoch, daß Piaton für Eigenschaften die Farben zum Modell nimmt, so erweist sich dies als ein Mißverständnis. Wie bemerkt, kann Piaton die Adjektive nur dekliniert substantivieren, so wie wir etwa Adjektive wie „schön". Soll nun das Schöne, die isolierte Qualität, bezeichnet werden, so ziehen wir dem Ausdruck „das Schöne" der Deutlichkeit halber das Synonym „die Schönheit" vor. Bei den Farbadjektiven entspricht nun aber dem Ausdruck „das Schöne", wofür wir lieber „die Schönheit" setzen, der Ausdruck „das Weiß" oder „das Grün". Im Gegensatz zu „das Schöne" und „dieSchönheit" sind jedoch bei den Farben die Ausdrücke „das Grün" und „die Grünheit" n i c h t synonym. Denn während „das Schöne" im Sinne von „Schönheit" etwas bezeichnet, was selbst nicht schön ist, meint „das Grün" im Gegensatz zu „Grünheit" die Farbe, die selbst sehr wohl grün ist. All dies ist nun für die Deutung der entsprechenden Ausdrücke bei Piaton im Auge zu behalten. Da er beispielsweise an jener Stelle im „Lysis" λευκότης mit τό λευκόν (das Weiß) synonym gebraucht13, so bezeichnet 12
Gosling, S. 116. P r a u s s , Platon
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Vgl. Lys. 217 D4. D5 + D7 + D8. 6
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dieses sogenannte Abstraktum im Gegensatz zum Deutschen ebenfalls etwas, das selbst weiß ist. Doch auch für andere Eigenschaften kann er statt des substantivierten Neutrums das entsprechende Abstraktum setzen14. Steht nun aber das Weiß (τό λευκόν, λευκότη«;) als Modell für Eigenschaften, beispielsweise für τό καλόν, so kann dieses im Deutschen weder durch „das Schöne" noch durch „die Schönheit" angemessen wiedergegeben werden. Da kein Einzelding gemeint ist, scheidet die eine Bedeutung von „das Schöne" bereits aus. Doch auch die andere, in der „das Schöne" mit „Schönheit" synonym gebraucht wird, kommt nicht in Frage. Denn analog zu τό λευκόν meint τό καλόν im Gegensatz zu „das Schöne" etwas, was selbst schön ist. Der einzig angemessene Ausdruck zur Wiedergabe von τό καλόν als Bezeichnung für eine Eigenschaft ist „das Schön" im Sinne von „das Weiß" oder „das Grün". Daß solch ein καλόν selbst schön ist, übergeht diese endungslose Wiedergabe so wenig, daß vielmehr allererst sie dies eigentlich zum Ausdruck bringt. Denn das „Schön" im Sinne des „Grün" bezeichnet gerade das, was selbst schön ist. Und wie der Rasen, die Tanne, der Türkis oder die Palette des Malers sehr verschiedene Grün aufweisen, so treten beispielsweise auch an Menschen, Pferden oder Kleidern sehr verschiedene Schön in Erscheinung (τά πολλά καλά). Anderseits schwebt diese Wiedergabe nicht in der Gefahr, Piaton eine Substanz-Attribut-Auffassung der Eigenschaften zu unterstellen, die er offenbar nicht vertritt. Denn auch wir betrachten als selbstverständlich, daß das Grün grün ist, ohne deshalb an so etwas wie eine Substanz mit einem Attribut zu denken. Die Farben stellen eben den Sonderfall isolierter oder isolierbarer Qualitäten dar, den Piaton, wie es scheint, für die Qualitäten überhaupt verallgemeinert15. Nimmt man bei Piaton die Modell-Funktion 14
15
Vgl. ζ. B. Staat 523 E 6 + 524 Al—10, Phd. 102 D8 + E l + C4 + E2 + E6. Dazu Hackforth (2), S. 153: „.Tallness itself' and ,the tallness in us' are both tall". Die Ausdrucksweise, die hier zur angemessenen Bezeichnung der Dynameis, wie Piaton sie sich denkt, vorgeschlagen wird, nämlich „das Schön" im Sinne von „das Grün", bewahrt vor der Gefahr jenes „complete misunderstanding", vor dem in eindrucksvollen Worten Peck (4), S. 162f. gewarnt hat: „Plato, whether he uses adjectival or substantival formations (as he does indiscriminately) when speaking of particulars (e. g. „the likeness in us", „the many large things"), does not regard the ,F' of which he is speaking as a .property' or as .adjectival' or .predicative' : such terminology and the outlook it expresses belong to another attitude of thought. Plato regards the ,F' . . . as .substantival' . . . We may note in passing that just as Plato uses adjectival or substantival formations indiscriminately of particulars, so too he does of Forms . . . We must, then, be quite clear about this: Plato does not make the distinction between .substantival' F and .predicative' (or .adjectival") F ; and therefore we are
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der Farben ernst, so läßt sich seine Auffassung der Dynamis, die eine ,Dynamis' hat, auch ohne den Rückgriff auf eine .mythische Auffassung' verstehen, nach der etwa das Grün ,grünt' oder die Gerechtigkeit .gerechtet'. Wenn auch somit das Farbmodell keine Substanz-Attribut-Auffassung der Dynameis einschließt, so müssen sie doch anderseits gerade im Anschluß an dieses Modell in einem andern Sinne des Wortes als Substanzen begriffen werden. Einen solchen auf Piatons Dynameis zutreffenden SubstanzBegriff verwendet, neben dem alltäglichen Sprachgebrauch, beispielsweise auch die Chemie. Dem Studenten, der das Studium dieser Wissenschaft beginnt, stellt man als Anfangsübung die Aufgabe, in einer sogenannten qualitativen Analyse einer gegebenen Verbindung bestimmter chemischer Elemente zu ermitteln, welche .Substanzen' diese Verbindung enthält. Bei dieser Verwendung von .Substanz' ist aber nicht an so etwas wie eine Einheit für eine Menge von Attributen gedacht. .Substanz' bedeutet hier vielmehr soviel wie .Stoff', doch ebenfalls nicht im Sinne des Stoff-Prinzips in der Philosophie, sondern etwa so, wie wenn wir eine Farbe .Farbstoff' nennen oder wie die Chemie selbst etwa von Wasserstoff oder Sauerstoff spricht. Natrium ist eine .Substanz' wie das Grün .Stoff' ist, nämlich als ein Quantum Qualität. Wenn man Chemikalien als .Substanzen' oder Farben als .Farbstoffe' bezeichnet, so denkt man an Qualitätsquanten, ohne daß dabei das Stofflich-Quantitative dieser Qualitäten schon in philosophischem Sinne reflektiert oder auch nur problematisch wäre. Und dabei gilt Natrium als natriumhaft genau wie das Grün grün ist und wie nach Piaton die Dynameis überhaupt je eine bestimmte .Dynamis' haben. Nur unter dieser Auffassung wird verständlich, wie Piaton an jener Stelle im „Lysis" das Verhältnis der Dynameis zum Einzelding sieht. Er geht von dem Grundsatz aus, daß einige Dinge selbst so sind wie das, was ihnen anhaftet (δτι ενια μέν, οίον άν í¡¡ τό παρόν, τοιαΰτά έστι καί αύτά), einige dagegen nicht (Ινια δε ου)14. Diesen Grundsatz erläutert er folgendermaßen : Wenn man ein Ding mit einer Farbe bestreicht, so haftet (ττάρεστιν) zwar an ihm die Farbe, beispielsweise das Weiß. Dennoch ist dieses Ding nicht weiß, sondern scheint (φαίνεσθαι) nur so17. Weiß wird es erst, wenn
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not entitled to represent any such distinction in our symbolic notation." — Damit bekommt man in der Forschung allmählich Einblick in das, was man tut, wenn man bei Piaton, wo er das Phänomen der Prädikation noch gar nicht entdeckt hat, von so etwas wie .Selbstprädikation' redet. Zu Letzterem vgl. die Aufsätze von Vlastos zum Tritos Anthropos und die treffende Kritik dazu von Sellars, „that only the Plato of Aristotle's (and Vlastos') imagination thinks of F-ness as an Aristotelian substance", (Sellars, S. 429), — und das gilt für Ideen so gut wie für Dynameis. Lys. 217 C3—4. " Lys. 217 D3.
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das Weiß ganz in das Ding eindringt. Piaton nennt als Beispiel das blonde Haar. Nicht wenn es mit Weiß bestrichen wird, sondern erst, wenn das Weiß es im Alter ganz und gar durchdringt, wird es so wie das Weiß, nämlich weiß18. Und Piaton verallgemeinert : So wie das ihnen Anhaftende sind die Dinge nur, wenn es ihnen κατά τι να τρόπον παρή, das heißt: wenn es sie ganz durchdrungen hat 19 . Dieses Beispiel scheint zunächst wenig bemerkenswert. Auch wir unterscheiden zwischen echter Haarfarbe und gefärbtem Haar. Allerdings teilen wir nicht die Strenge jenes platonischen Verbots: auch schwarz g e f ä r b t e s Haar bezeichnen wir als schwarz20. Denn warum soll ein Ding nicht zwei verschiedene Farben besitzen, beispielsweise das gefärbte Haar nicht äußerlich schwarz, darunter aber blond sein ? Für eine Substanz-AttributAuffassung spielt das Außen oder Innen der Attribute keine Rolle, solange sie nur zu derselben Substanz zählen. Doch jenes Verbot verliert den Anschein der Strenge und wird verständlich, sobald man aufhört, die Dinge als Substanzen mit Attributen zu betrachten, und sie stattdessen, wie Piaton vermutlich selbst, als bloße Aggregate, und das heißt nunmehr: als Aggregate von Dynameis auffaßt. Denn für das Ding als Aggregat spielt offenbar das Außen oder Innen einer Dynamis sehr wohl eine Rolle. Das blonde, aber schwarzgefärbte Haar müßte nach Piatons Ausführungen als Aggregat von Dynameis wie folgt dargestellt werden: „Das Haar" wäre zusammenfassender Ausdruck für eine Anzahl nicht näher bezeichneter Dynameis, also beispielsweise für b, c, d. Wählt man nun für die Dynamis des Blond den Buchstaben e, so muß das blonde Haar, das mit Blond ganz durchmischt ist, mit b, e1, c, e 2 , d, e 3 wiedergegeben werden21. Vom eingemischten Blond ist das äußerlich anhaftende Schwarz ( = f ) so abzuheben, daß sich schließlich für das schwarzgefärbte blonde Haar ergibt : f^ f 2 , f 3 , b, e1( c, e2, d, e3. Unter dieser Auffassung aber kann man durchaus sagen, daß das Haar blond und nicht etwa schwarz ist. Schwarz wird es erst, wenn das f an die Stelle des e tritt, also im Falle b, fj, c, f 2 , d, f 3 . An diesem Modell orientiert nun Piaton auch seine Ausführungen über das Gute und Schlechte des Körpers, das heißt: über Krankheit und 18 19 20
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Lys. 217 D 6 — E l . Lys. 217 El—4. Um Mißverständnissen vorzubeugen, setze ich für das platonische Beispiel des .weißgefärbten' Haars im folgenden das schwarzgefärbte, da man heute Haar nicht weiß färbt, sondern bleicht. Aus Gründen der Anschaulichkeit wird davon abgesehen, daß diese Mischung wohl noch feiner zu denken ist, etwa so, daß b, c, d ihrerseits auch noch je in b^ b¡¡ usw., cx, c 2 usw., di, d 2 usw. aufgeteilt werden und erst so als Elemente in die Mischung eingehen.
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Gesundheit22. Wie bei der Farbe unterscheidet er scharf zwischen dem nur äußerlich anhaftenden Schlechten (Krankheit), das den Körper selbst noch nicht (ούπω, μήπω) 23 schlecht (krank) macht, und anderseits dem Schlechten, das so in den Körper eindringt, daß er krank wird24. Dabei versteht Piaton unter einem äußerlich anhaftenden Schlechten keineswegs so etwas wie eine Hautkrankheit, die man allenfalls noch als etwas nur Äußerliches betrachten könnte, das den Körper selbst unangetastet läßt. Gut und Schlecht, beziehungsweise Krankheit und Gesundheit, werden vielmehr wie die Farben als etwas Stoffliches gedacht, das dem Körper einerseits nur anhaften, anderseits aber auch in ihn eindringen kann. Und wie bei äußerlich anhaftendem Weiß nicht das Ding, sondern nur das Weiß selbst weiß ist, so bleibt auch bei äußerlich anhaftendem Schlecht oder Krank vorerst nur dieses selbst schlecht beziehungsweise krank. Dieses Beispiel läßt ermessen, in welchem Ausmaß das Farbmodell die platonische Auffassung der Dynameis beherrscht. Dadurch wird klar, warum Piaton erst relativ spät, nämlich im „Timaios", zur Annahme von so etwas wie einem allgemeinen Stoffprinzip gelangt. Solange er die Dynamis selbst stofflich und die Dinge als Aggregate oder Mischungen stofflicher Dynameis denkt, besteht für ihn gar kein Grund, zur Erklärung der Dinge ein allgemeines Stoffprinzip anzunehmen. Daß Piaton in der Tat die Dinge als solche Aggregate stofflicher Dynameis faßt, wird nun an einem Grundsatz deutlich, den er hier im „Lysis" wiederholt ausspricht, und der den heutigen Leser in Erstaunen setzen muß. Oben wurde ausgeführt, daß nach Piaton schwarzgefärbtes blondes Haar nicht schwarz ist, sondern blond, und erst schwarz wird, wenn das Schwarz an die Stelle des Blond tritt. Ist dies bis zu einem gewissen Grade verständlich, so bleibt daran doch eines unklar. Piaton geht hier von einem Ding aus (Haar), dem von vornherein eine Farbe (Blond) zukommt. Dies könnte zu der Meinung verleiten, daß dieses Ding trotz Schwarzfärbung deshalb nicht schwarz ist, weil es bereits eine Farbe hat. Daß dies nicht gemeint ist, stellt Piaton durch das Beispiel des guten oder schlechten beziehungsweise kranken oder gesunden Körpers klar. Sein Grundsatz lautet: Der Körper ist als Körper weder gut noch schlecht25, das heißt aber: weder gesund noch krank 26 . Dieser Grundsatz, der den heutigen Leser zunächst vor ein Rätsel stellt, kann nur im Rahmen der platonischen Dynamis-Auffassung verstanden werden. Der Körper ist nicht, wie wir 22 2
Vgl. Lys. 217 B1 + 218 E5—6 + 217 D—E. » Lys. 217 E6, E6. 24 Lys. 217 D6—El + E4—6. 25 Lys. 217 B2—3, B4—5, E4. 2 · Lys. 218 Εδ—219 Α2.
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heute sagen würden, entweder krank oder gesund; wenn ein kranker Körper von seiner Krankheit geheilt wird, so ist er damit nach Piaton noch nicht gesund. Krank und Gesund werden vielmehr analog zu Blond oder Schwarz so stofflich und selbständig gedacht, daß es nicht genügt, wenn das Krank aus dem Körper austritt. Damit er gesund wird, muß vielmehr noch stoffliches Gesund in ihn einfließen. Das Haar, bei dem an die Stelle des Blond das Schwarz tritt, wurde im vorigen durch b, i v c, f 2 , d, f 3 dargestellt. Dasselbe Schema läßt sich nun zur Veranschaulichung des kranken Körpers verwenden, indem man für den Körper b, c, d und für das Krank f setzt. Die auf diese Weise dargestellte Einmischung soll nun nach Piaton die Bedingung dafür sein, daß das Haar schwarz beziehungsweise der Körper krank wird. Jener Grundsatz macht dies jedoch höchst problematisch. Denn wenn der Körper als Körper weder krank noch gesund ist, — warum sollte er es dann durch jene Einmischung werden ? Auch bei nächster Nähe des f zu b, c, d muß nach jenem Grundsatz das f dem b, c, d prinzipiell äußerlich bleiben. Dazu stimmt, daß krank oder schwarz das Krank beziehungsweise das Schwarz selbst ist. Wenn aber sogar Eigenschaften wie Krankheit und Gesundheit unter die am Farbmodell entwickelte Dynamis-Auffassung fallen, so ist gar nicht abzusehen, welche Eigenschaften davon noch ausgenommen sein sollten. In diesem Sinne ist nun auch jener Grundsatz zu verstehen. Der Körper ist als Körper weder krank noch gesund noch sonst irgend etwas außer eben Körper. Und das heißt : als Aggregat von Dynameis b, c, d ist er nichts anderes als genau das zusammengenommen, was diese Dynameis je schon sind. „Haar" oder „Körper" sind zusammenfassende Ausdrücke für Aggregate bestimmter Dynameis b, c, d. Kommt nun aber zu diesen Dynameis b, c, d ( = Körper) eine weitere Dynamis f ( = Krank) hinzu, so kann dieses neue Aggregat strenggenommen gar nicht mehr „Körper" heißen, sondern bedarf einer neuen Bezeichnung, beispielsweise durch „Krank-Körper". Die Ausführungen im „Lysis" laufen mithin genau auf jene Forderung Piatons hinaus, die zu Beginn dieses Abschnittes erläutert wurde: Durch eine Bestimmungsänderung wird ein Ding zu einem andern Ding, das neu benannt werden muß. Krank ist also eigentlich nicht der Körper, sondern allenfalls der Krank-Körper, genau besehen aber nur das Krank des Krank-Körpers selbst. Wenn Piaton trotzdem den Körper krank nennt 27 , so macht er dem Sprachgebrauch ein Zugeständnis, das von seinem Grundsatz her gesehen eine Inkonsequenz darstellt. Doch der „Lysis" enthält nicht Piatons letztes Wort zu diesem Problem: die entsprechende Konsequenz spricht er deutlich im „Phaidon" aus. 27
Z. B. Lys. 217 E4—6.
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§ 11. Sprache und philosophische Reflexion Die vorgeführten Beispiele der Gesundheit und Krankheit verdeutlichen, daß Piaton seine Auffassung der Dynameis am Vorbild der Farben orientiert. Zugleich geben sie eine erste Vorstellung von der weitreichenden Geltung, die Piaton dem Farbmodell einräumt. Den tatsächlichen Umfang dieser Geltung, die so weit reicht, daß man nahezu von Allgemeingültigkeit sprechen kann, ermißt man freilich erst an Beispielen wie Größe und Kleinheit, die Piaton im „Phaidon" 1 ebenfalls wie Farben behandelt. Cornford bemerkt treffend: „In the whole argument no distinction is drawn between qualities and relations. Tallness is treated as if it were a quality like whiteness, inherent in the tall person . . ," a Simmias, welcher größer ist als Sokrates, aber kleiner als Phaidon, besitzt nach Piaton beides: sowohl das Klein wie das Groß 3 . Dieser Feststellung, mit der Piaton seine Ausführungen über das Groß und Klein einleitet, schließt er unmittelbar einen Satz an, dessen Deutung, soweit ich sehe, bis heute ein Problem darstellt: Der Satz besagt, daß το τον Σιμμίαν υπερέχει ν Σωκράτους οΰχ ώς τοις ρήμασι λέγεται ούτω και τό αληθές εχειν... ού γάρ που πεφυκέναι Σιμμίαν ΰπερέχειν τούτω, τω Σιμμίαν εϊναι, αλλά τω μεγέθει ô τυγχάνει έχων4. Die eigentliche Schwierigkeit dieses Satzes liegt, so scheint es, in seiner zweiten Hälfte. Sie wird im allgemeinen so übersetzt, als wolle Piaton hier zwischen notwendigen (πεφυκέναι) und zufälligen (τυγχάνειν) Eigenschaften unterscheiden 5 . Dagegen hat offenbar als erster Hackforth Einspruch erhoben, und zwar mit dem zutreffenden Argument, daß eine solche Unterscheidung Piatons „would . . . be irrelevant both to his immediate purpose and to the whole final argument for immortality, of which this section forms a part"®. Doch stellt dies keineswegs das einzige, ja nicht einmal das schwierigste Problem des Satzes dar. Gleichviel ob seine zweite Hälfte jene Unterschei1
Phd. 102 ff. Cornford (4), S. 78. — Ebenso Hackforth (2), S. 69, Anm. 3: „. . . tallness and shortness are treated not as relations between two persons, but as properties . . .". — Und wie das Weiß selbst weiß, so ist nach Piaton auch die einem Ding einwohnende Größe oder Kleinheit selbst groß bzw. klein (ζ. B. Phd. 102 E5, vgl. dazu auch oben § 10, Anm. 14). Sie werden daher im folgenden zu den Dynameis gezählt und den Farben analog durch „das Groß" und „das Klein" wiedergegeben. 3 Phd. 102 B4—6. 1 Phd. 102 B8—C2. s Vgl. ζ. B. Bluck (1), S. 119: „. . . that it is not an essential attribute of Simmias that he should surpass Socrates . . . but rather that he does so simply by reason of the tallness that he happens to possess . . .". • Hackforth (2), S. 155.
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dung von notwendigen und zufälligen Eigenschaften meint oder nicht, das eigentlich Schwierige liegt in diesem Satz als ganzem. Er beginnt mit der Behauptung, daß die Aussage „Simmias ist größer als Sokrates" 7 ihrem Wortlaut nach (cos τοις ^ήμασι λέγεται) nicht das Wahre (où . . . τό άληθές) sagt; daß das, was sie aussagt, sich in Wahrheit nicht so (ούχ . . . ούτω) verhält, wie sie es sagt. Und er endet mit einer Aussage, die Piaton gleichsam als Korrektur an die Stelle jener ersten, nicht wahren Aussage setzt (άλλά)8. Sie lautet auf die kürzeste Form gebracht: „Durch seine Größe ist Simmias größer als Sokrates". Zur Deutung der Behauptung où τό αληθές bieten sich zwei Möglichkeiten an. Man unterscheidet heute neben wahren und falschen Aussagen solche, die weder wahr noch falsch, sondern sinnlos sind. Doch darf als sicher gelten, daß Piaton diese scharfe semantische Unterscheidung noch nicht trifft. Aber selbst wenn er sie kennt und mit ού τό αληθές eine sinnlose Aussage meint, ist das hier vorliegende Problem nicht gelöst. Mit der Aussage „Durch seine Größe ist Simmias größer als Sokrates" will Piaton offensichtlich die wahre anstatt der nicht wahren ersten Aussage geben. Ist jedoch die erste Aussage „Simmias ist größer als Sokrates" eine sinnlose Aussage, so stellt die Aussage „Durch seine Größe ist Simmias größer als Sokrates" ebenfalls eine sinnlose Aussage dar und nicht etwa eine wahre. Doch ist, wie bemerkt, ziemlich sicher, daß er mit où τό αληθές keine sinnlose, sondern eine falsche Aussage meint. Aber auch so bleibt das Problem bestehen. Ist jene erste Aussage falsch, so ist es auch die zweite. Denn es läßt sich gar nicht absehen, wie die bloße Ergänzung τω μεγέθει, die man im allgemeinen mit „durch (seine) Größe" wiedergibt9, jene falsche in eine wahre Aussage umwandeln sollte. Die falsche erste Aussage bleibt in der zweiten voll erhalten. Man könnte hier geneigt sein, das genannte Problem von vornherein als bloße Ungenauigkeit der Formulierung abzutun, die Piaton nur unterläuft und mithin bedeutungslos ist. Dies verbietet jedoch die Tatsache, daß Piaton selbst hier größten Wert auf Genauigkeit legt. Ist man aber anderseits bereit, jenen Satz als ganzen so wörtlich zu nehmen, wie Piaton selbst seinen ersten Teil (ώς τοις φήμασι λέγεται), so liegt erneut nahe, ihm einen Denkfehler zum Vorwurf zu machen. Doch da sich im vorigen schon einmal als zweckmäßig erwiesen hat, mit diesem vorschnellen Schritt zurückzuhalten, sei auch hier zunächst angenommen, daß kein Fehler vorliegt. Wenn somit jene zweite Aussage das Wahre zum Falschen jener ersten 7 8 9
Οπερέχειν ist hier zweifellos synonym zu μείζω είναι in Phd. 102 B4. Vgl. eine ähnliche Formulierung mit demselben Sinn in Lys. 220 Α. Vgl. z. B. Bluck (1), S. 119: ,,. . . by reason of the tallness . . .*'; oder Hackforth (2), S. 154: „. . . because of the tallness which is in him . . ."
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darstellt, so muß ihre Wahrheit von der Bedeutung des Ausdrucks τ ω μεγέθει abhängen, da er genau das ist, was die zweite von der ersten unterscheidet. Läßt sich nun bei Piaton eine mit der vorliegenden vergleichbare Verwendung des Dativs nachweisen, deren Bedeutung jenen zweiten Satz wahr und zugleich den ersten falsch macht, dann darf das genannte Problem als gelöst betrachtet werden. An jener Stelle im „Protagoras", wo Piaton von den „Dynameis" der Aretai spricht, geht er unter anderen Beispielen auch vom Gegensatzpaar der σωφροσύνη und άφροσύνη aus10. Wenn Menschen auf bestimmte Weise (ορθώς, ώφελίμως) handeln (πράττει v), so sind sie besonnen, und zwar auf Grund von Besonnenheit. Letzteres bringt Piaton auf die knappe Formel: σωφροσύνη σωφρονουσιν11. Damit liegt hier ein Gebrauch des Dativs vor, der dem an jener „Phaidon"-Stelle entspricht. Wie Menschen durch Besonnenheit besonnen sind und handeln, so ist Simmias durch seine Größe größer als Sokrates. Dasselbe formuliert nun Piaton auch für die αφροσύνη, greift dafür aber zu einer Passiv-Umschreibung und sagt: τά μέν άφρόυως πραττόμενα άφροσύνη πράττεται, τα δέ σωφρόνως σωφροσύνη12. Schließlich verallgemeinert er dies und verändert dabei die Formulierung noch einmal, indem er sagt: ει τι δή ωσαύτως πράττεται, υπό του αύτου πράττεται, καί εϊ τι έναντίως, ΰπό τοϋ έναντίου13. Daß dies keinen Ausnahmefall darstellt, zeigt eine Stelle im „Hippias Maior". Dort sagt Piaton ebenfalls zunächst, daß jemand etwas durch eine Dynamis (δυνάμει) vollbringt, und ersetzt hernach den Dativ durch ΰπό mit dem Genetiv14. Dieser Unterschied der Formulierung bereitet zunächst erhebliche Verständnisschwierigkeiten. Und die Versuchung ist groß, ihn durch eine Wiedergabe einzuebnen, die das υπό mit dem Genetiv bedeutungsmäßig dem Dativ annähert. Dies könnte im Deutschen etwa mit Hilfe von „durch" geschehen: „Menschen sind durch Besonnenheit (σωφροσύνη) besonnen"; und: „Durch die Besonnenheit (ΰπό σωφροσύνης) wird etwas vollbracht". Doch die Bedeutung von υπό mit dem Genetiv ist nicht die des Dativs, υπό mit dem Genetiv bezeichnet in der unpersönlichen PassivKonstruktion ΰπό σωφροσύνης πράττεται das handelnde Subjekt, von dem etwas vollbracht wird. Überführt man sie ins Aktiv, so ergibt sich nicht etwa . . . σωφροσύνη πράττει, sondern ή σωφροσύνη πράττει. Die Verschiedenheit jener Formulierungen betrifft eine Unterschiedlichkeit des Subjekts. Während nach den Formulierungen mit dem Dativ eindeutig die 10
Vgl. Prot. 332 A4 + B l . Prot. 332 B l . 12 Prot. 332 B4—6. " Prot. 332 Cl—2. Vgl. D4, D7, E l , E3, E4. 11 Vgl. Hi. Ma. 296 B8—Cl + 297 A2—B7. 11
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Menschen besonnen sind oder handeln, ist es in den Formulierungen mit ύττό ebenso eindeutig die Besonnenheit selbst. Mit dem Wechsel jener Formulierungen setzt Piaton an Stelle des einzelnen Menschen die σωφροσύνη selbst als Subjekt des σωφρονεϊν oder σωφρόνωζ ττράττειν an. Dies wird besonders an jener Stelle im „Hippias Maior" deutlich, wo er ein solches Subjekt mehrfach als das αίτιον des Handelns kennzeichnet15. Der Aussagewert jener Formulierungen wie auch ihr Verhältnis zueinander läßt sich allerdings nur beurteilen, wenn man sie im Zusammenhang mit dem Kontext betrachtet. Zunächst fällt auf, daß Piaton die Formulierung mit ΰπό, nachdem er sie eingeführt hat, bis zum Ende des eingeschlagenen Gedankengangs16 streng beibehält. Die Formulierung mit dem Dativ tritt kein einziges Mal mehr auf 17 . Von daher ist ganz unwahrscheinlich, daß die Formulierung durch ΰπό Platon etwa nur als eine unter anderen gilt, so daß er sie einmal setzen, bei nächster Gelegenheit aber wieder durch eine andere ersetzen könnte. Weitaus wahrscheinlicher ist, daß sie in seinen Augen am genauesten das formuliert, was er eigentlich meint. Betrachtet man überdies den Text, der zu jener Formulierung hinleitet, so wird diese Vermutung zur Gewißheit. Auf die Einführung des ΰπό arbeitet Piaton so zielbewußt hin, daß diese Formulierung, wenn sie schließlich erreicht und fortan beibehalten wird, nahezu terminologischen Charakter gewinnt. Piaton beginnt seinen Gedankengang mit Wendungen, die man zum normalen, unphilosophischen Sprachgebrauch rechnen muß : Menschen sind besonnen (σωφρονοΰσιν)18. — Doch sogleich mit dem nächsten Schritt entfernt er sich davon: im Ausdruck σωφροσύνη σωφρονοϋσιν19 spricht erklärend oder folgernd schon der Philosoph. Zugleich tritt erstmals die σωφροσύνη mit ins Spiel : zu den Menschen ein zweites relativ Selbständiges, das ihnen die Subjekt-Funktion bald abnehmen soll. — Auf dieses Ziel hin folgt sogleich ein weiterer und überaus interessanter Schritt: Piaton überführt das bislang ausschließlich verwendete Aktiv ins Passiv (σωφροσύνη πράττεται) 20 . Die im vorigen Schritt neueingeführte σωφροσύνη behauptet damit ihre Stellung, indes im unpersönlichen Passiv der bisher handelnde Mensch schon aus den Augen verloren, dafür aber bereits der erste Teil der endgültigen Formulierung gewonnen ist. Von einem handelnden Subjekt wird in diesem Ubergangs-Stadium so wenig greifbar, daß die schwe15
Vgl. Hi. Ma. 296 E9, 297 A2—B6. " Prot. 333 B6. 17 Dasselbe ist an jener Stelle im „Hippias Maior" zu beobachten, vgl. 296 A8— 297 B8. 18 Vgl. Prot. 332 A7 + B2. 18 Prot. 332 A8—Bl. 20 Vgl. Prot. 332 B4—6.
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bende Passiv-Umschreibung nach diesbezüglicher Klärung geradezu verlangt. Und eine solche Klärung bleibt Piaton in der endgültigen Formulierung (ύπό σωφροσύνης πράττεται) 21 auch keineswegs schuldig. Nun aber setzt er nicht mehr wie am Anfang den Menschen, sondern die σωφροσύνη als Subjekt an. Doch wäre es verfehlt, dieses Vorgehen etwa als eine Art .unlautere Taschenspielerei' Piatons zu werten. Ein derartiger Vorwurf wäre nur dann angebracht, wenn irgendeine Instanz oder gar Piaton selbst schon verbindlich entschieden hätte, daß ein Mensch und nicht etwa die Besonnenheit besonnen ist. Eine solche Entscheidung liegt aber nicht vor. Wohl legt der normale Sprachgebrauch, von dem Piaton ausgeht, eine entsprechende Ansicht nahe. Doch ist er für Piaton so wenig verbindlich, daß er diese Ansicht offenbar als Vorurteil betrachtet. Denn jenes Vorgehen stellt nichts anderes dar als einen ebenso energisch wie geschickt vorgetragenen Versuch Piatons, sich von diesem Vorurteil zu befreien. Er ist offenbar ganz anderer Ansicht als der Sprachgebrauch und setzt diese seine Ansicht mit Nachdruck gegen ihn durch. Bereits mit Hilfe des Dativs (σωφροσύνη σωφρονοΟσιν), der schon philosophisch erklärt, entfernt er sich von ihm. Im Gleis des normalen Sprachgebrauchs ist dieser Dativ für Piaton die willkommene Weiche, die ihm, richtig gestellt, den Wechsel auf ein anderes Gleis ermöglicht. Und wie es im Wesen der Weiche liegt, im alten Gleis bereits das neue zu bilden, so unterliegt auch keinem Zweifel, daß Piaton, wenn er σωφροσύνη σωφρονοΟσιν sagt, bereits das imo σωφροσύνης meint, das den Dativ schließlich ersetzt. Faßt man nun auch an jener „Phaidon"-Stelle den Dativ in der Bedeutung, in der er hier im „Protagoras" durch ύττό mit dem Genetiv ersetzbar ist, so löst sich das genannte Problem. Denn in dieser Bedeutung macht er in der Tat die zweite Aussage wahr und zugleich die erste falsch. Groß oder größer zu sein, ist dann nicht Natur des Simmias (ού ττεφυκέναι), sondern die Natur seiner Größe (δ τυγχάνει έχων). Ebenso ist klein oder kleiner nicht Simmias, sondern seine Kleinheit. Und nicht Simmias ist größer als Sokrates oder kleiner als Phaidon; sondern die Größe des Simmias ist größer als die Kleinheit des Sokrates, und die Kleinheit des Simmias ist kleiner als die Größe Phaidons 22 . Damit erweist sich auch, daß jener Einwand von Hackforth zurecht besteht. Piaton meint nicht, daß Simmias eine notwendige Eigenschaft (ττεφυκέναι) besitzt, beispielsweise Mensch zu sein, und daneben die zu21 22
Vgl. Prot. 332 Cl—2 + D7. Dies steht in vollem Einklang mit den Ausführungen, die Piaton jenem problematischen Satz anschließt, vgl. Phd. 102 C2—D2.
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fällige (τυγχάνειν), groß oder auch klein zu sein. So aristotelisch denkt Piaton hier längst noch nicht. Piaton will vielmehr sagen, daß nicht Simmias groß und klein, sondern daß seine Größe groß beziehungsweise seine Kleinheit klein ist. Und anders als eine Unterscheidung notwendiger und zufälliger Eigenschaften hat diese Aussage für die Unsterblichkeits-Argumentation, die sie einleitet, sehr wohl eine Bedeutung. Denn wäre tatsächlich Simmias groß und klein, so läge damit der Präzedenz-Fall vor für das, was Piaton zum Beweis der Unsterblichkeit der Seele gerade zurückweisen will : nämlich daß ein und dasselbe durch Gegensätzliches bestimmt sein kann. Dies gilt es noch genauer zu fassen. Piaton leugnet keineswegs, daß Simmias „groß" und „klein" oder „größer" und „kleiner" g e n a n n t wird. Im Gegenteil: davon geht er gerade aus (