Platon - Anfang, Mitte und Ziel der Philosophie 9783495813478, 9783495488737


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Table of contents :
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Inhalt
PROLOG
Anfang und Wendepunkt
Platon interpretieren
Noch einmal: Der esoterisch-exoterische Platon
Der äußere Bauplan
Anfang, Mitte und Ziel
Zur Notation:
ERSTES KAPITEL: PLATON UND SEIN SOKRATES
I. Platons Leben
Grundzüge
Platonische Komplexitäten
II. Akademie
III. Durch viele Formen: Platons Mythen
IV. Philosophie und Politik: Der ortlose Ort der Sokratesgestalt – oder ›Kriton‹ und ›Apologie‹
Polis und Philosophie – Das Sokratesproblem
Die ›Apologie‹ im Licht des ›Kriton‹
Sokrates und die Polis-Sittlichkeit: ›Menexenos‹ und ›Minos‹
ZWEITES KAPITEL: EROS UND TOD: DAS SOKRATES-EVANGELIUM (›SYMPOSION‹ – ›PHAIDON‹ – ›PHAIDROS‹)
I. ›Symposion‹ – oder: Das philosophische Geheimnis des Eros
Diotima – Die weiblich-fremde Mitte der Philosophie
Wahrheit und Lüge: Alkibiades’ Satyrspiel
Eros als Zwischenwesen
Ziemlich wahre Reden über den Eros: Verläufe und Gesprächsfäden im ›Symposion‹
II. ›Phaidon‹ – oder: Der Tod als Daseinsmacht
Leib und Seele – oder: Schwanengesang und Unsterblichkeit
Beweisformen und Argumente
Natur und zweitbeste Seefahrt
III. ›Phaidros‹ – oder: Eros und Logos. Eine Methodenlehre
Palinodie und Logos
Eros und Tod: Der große Mythos im ›Phaidros‹
Poetische Dialogkunst, wahres Drama und die Frage der Einheit des ›Phaidros‹
Mimemata: Die Schwäche der Schrift
IV. Zurück zum ›Phaidon‹: Das bleibend Wahre
Dialektik und Unsterblichkeit der Seele
Das dritte Argument
DRITTES KAPITEL: WAS ETWAS IST. DIE APORETISCHEN FRÜHEN SOKRATESDIALOGE
Laches – oder: Die Tapferkeit
Charmides – oder: Die Besonnenheit
Euthyphron – oder: Der Gottesdienst
Alkibiades: Tyrannos Philosophos?
›Hippias maior‹ – oder: Das Schöne
Lysis – oder: Die Freundschaft
VIERTES KAPITEL: IM STRUDEL DER SOPHISTEN – ›GORGIAS‹ UND ›PROTAGORAS‹
I. Antidotum: Platon und die Sophistik
II. Die Einheit der Tugend: ›Menon‹ und ›Protagoras‹
Anschauung des Schönen und Lehrbarkeit des Guten
Protagoras oder: Die Unwissenheit des Sophisten
III. Scham und Natur: ›Gorgias‹
Scham: Zur Aporie von Gerechtigkeit und Natur
Wer der Rhetor ist
Gerechtigkeit und Besonnenheit. Zum Kern der Argumentation
Der Schlussmythos des ›Gorgias‹
FÜNFTES KAPITEL: POLIS, SEELE UND DIE HÖCHSTE IDEE – DAS ›ALLUVIONSGEBILDE‹ DER ›POLITEIA‹ UND DIE ›NOMOI‹
I. Jenseits der Verwechselbarkeit: Die wahre Tragödie des Gerechten
Atopisches Dasein
Der Mythos des Pamphyliers Er
II. Thrasymachos – oder: Das Erbe der Aporetik in der ›Politeia‹
Was Gerechtigkeit ist – Aporetische Annäherung
Der »gerechte Hirte«
III. Gerechtigkeit ohne allen Anschein. Der Ankerpunkt der ›Politeia‹
Glaukons und Adeimantos’ Zweifel
Natur und Paideia
Musenkunst und Affekte
Bewegungsharmonien
Anfang und Ziel der Paideia: Der Gott
Fiktion und die Idee: ›Politeia X‹
IV. Die Struktur der Gerechtigkeit oder Große und Kleine Schrift
Polis und Seele
V. »Sprösslinge der höchsten Idee«: Die drei Gleichnisse der ›Politeia‹ und der Philosophenkönigssatz
Wissen um die höchste Idee
Epistrophé: Das Höhlengleichnis und seine Selbstauslegung
Das Bild der inneren Politeia und das wesentliche Wissen: Momente der »Philosophenherrschaft«
VI. ›Nomoi‹ – Ein Ausblick
Der Gott oder der Menschen einer: Die Stiftung der Gesetze und die nomologische Paideia
Das bleibend Gute – oder: Werden und Vergehen
Nomos und Geschichte
Sieben Axiome von Herrschaft
Herrschafts- und Gesetzesform
Prooimion: Einstimmung auf das Gesetz
Gewebe: Gesetzesstrukturen
Die Gesetze und der Verlauf des menschlichen Lebens
Fleisch und Stein: Der Mensch als Bürger
Schuld und Strafe
Der Asebiefrevel
Göttliche Sanktionen und Euthynenamt
SECHSTES KAPITEL: FORM UND GRENZE DER DIALEKTIK
I. ›Parmenides‹: Das »mühevolle Spiel«
Das ›mühevolle Spiel‹. Zum ersten Teil des platonischen ›Parmenides‹
Phänomen und Widerspruch
II. Der ›Sophistes‹: Wahrheit und der Logos vom Guten – oder: Sein und Nichts
Vom Sein des Nichtseienden: Verstrickungen
Kategoriale Hinsichten. Zwei Beweisgänge
Sein als unterscheidende Form
III. Aporie und Philosophie: ›Theätet‹
Was Erkenntnis ist: Vorfrage und Kern
Zwischen Sein und Werden
Die warnende Protreptik: Im Vorhof der Philosophie
IV. Der wahre Staatsmann: ›Politikos‹
Politike techné oder: Nomos und Denken
Ausblick ins Freie: ›Physiké areté‹
V. ›Kratylos‹ – Sprache, Sache und Idee
Sprachkonvention: Hermogenes
Die Natur der Dinge in den Worten: Kratylos’ These
Versuchte Modifizierungen und die Unrettbarkeit der Kratylos-These
Idee und Wort: Die Auflösung des Problems?
Zwei Folgeprobleme
Kratylos-Wirkungen
SIEBTES KAPITEL: KOSMOS UND LEBENDIGKEIT – ›TIMAIOS‹ UND ›PHILEBOS‹
I. Urbild, Abbild und Notwendigkeit. Von der Wahrscheinlichkeit eines Logos über die Weltgenese
Vorläufiges: Genesis und Prinzip
Geometrie und Ontologie
Der ›andere Anfang‹: Grund und Abgrund der Chora
Weltentstehung aus dem Geist der Stereometrie
Bewegung – Werden und Vergehen
Notwendigkeit und Idee
Natur und Mensch: Mischungen aus Vernunft und Notwendigkeit
Platonische ›Anthropologie‹
Der politische Traktat im ›Timaios‹
II. Der platonische Text und zwei philosophiehistorische Fußnoten zum ›Timaios‹
Schellings Interpretation (1794) als ein Schlüssel
Die aristotelische ›Physik‹ als anderer Schlüssel
III. Der ›Philebos‹ als Praktik gelingenden Lebens
Mischung – vordialektisch
Wiederaufnahme der Dialektik – in zweierlei Gestalt
Gutes Leben in der Endlichkeit: Vom Wesen der Mischung
Praktik als Lebens- und Denkform
ACHTES KAPITEL: WIRKUNGSGESCHICHTEN – EINE SKIZZE
EPILOG
Einige Axiome platonischen Denkens
Die Gegenwärtigkeit Platons
Literatur
Quellen
Forschung und Interpretationsliteratur
Personenregister
Sachregister
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Platon - Anfang, Mitte und Ziel der Philosophie
 9783495813478, 9783495488737

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Harald Seubert

Platon – Anfang, Mitte und Ziel der Philosophie

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495813478

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B

Harald Seubert Platon – Anfang, Mitte und Ziel der Philosophie

VERLAG KARL ALBER

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https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

Harald Seubert

Platon – Anfang, Mitte und Ziel der Philosophie

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

Harald Seubert Platon – Beginning, Middle and Aim of Philosophy Plato’s work reveals questions in the network of different dialogues that have a determining influence on European philosophy up until today: the differentiation of knowledge and opinion, the problem of a truth independent of situation and the conjunction of notion and seeming reality. Not least, Plato establishes dialectics as a basic procedure for the separation and relation of concepts. This line of thought stands in multiple complex correlations of life: The typology of the philosopher as the most just man in town with the example of Socrates, the analysis of sophistry, mythology and art. Plato attempts to counter the delusions with true rhetoric and politics. With reference to Karl Popper, is it tendentially ›totalitarian‹ or can it be newly asserted as free concern about the soul? The monograph is designed as a comprehensive representation of Platonic Philosophy. In detail it spans from the early aporetic dialogues of Socrates to the late dialectic dialogues, to the cosmogony of ›Timaios‹ and the philosophy of nature of ›Philebos‹. It is equally a basic overview, as well as a differentiated explication of the core problems of Platonic Thinking in its contexts. It proceeds from Schleiermacher’s dictum, that the exoteric of dialogues renders the esoteric of Plato’s depth grammar. In this light, deliberations on ›Plato’s unwritten doctrine‹ are also taken onboard.

The author: Harald Seubert, born in Nuremberg in 1967, has been teaching as Professor and Head of Department of Philosophy and Religious Studies at the STH Basel since 2012. Chairman of the Martin Heidegger Society. Latest publication at Alber: Ästhetik – Die Frage nach dem Schönen (2015) (English: Asthetics – The Question of Beauty)

https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

Harald Seubert Platon – Anfang, Mitte und Ziel der Philosophie Platons Werk legt im Netz der verschiedenen Dialoge Fragen frei, die für die europäische Philosophie bis heute maßgeblichen Charakter haben: die Unterscheidung von Wissen und Meinung, das Problem einer situationsinvarianten Wahrheit und die Verknüpfung von Idee und erscheinender Wirklichkeit. Nicht zuletzt begründete Platon die Dialektik als Grundverfahren der Trennung und Beziehung von Begriffen. Diese Denkbewegung steht in vielfachen komplexen Lebenszusammenhängen: der Typik des Philosophen als des gerechtesten Mannes in der Stadt mit dem Lebensbeispiel des Sokrates, der Auseinandersetzung mit der Sophistik, mit Mythologie und Kunst. Den Täuschungen versucht Platon eine wahre Rhetorik und Politik entgegenzusetzen. Ist sie, mit Karl Popper, tendenziell »totalitär« oder lässt sie sich als freie Sorge um die Seele neu zur Geltung bringen? Die Monographie ist als Gesamtdarstellung platonischer Philosophie angelegt. Im Einzelnen spannt sie den Bogen von den frühen aporetischen Sokratesdialogen bis zu den dialektischen Spätdialogen, der Kosmogonie des ›Timaios‹ und der Naturphilosophie des ›Philebos‹. Sie ist gleichermaßen als grundlegende Übersicht wie auch als differenzierte Explikation von Kernproblemen platonischen Denkens in seinen Kontexten zu lesen. Sie geht dabei von dem Diktum Schleiermachers aus, dass das Exoterische der Dialoge das Esoterische einer Tiefengrammatik Platons erschließt. In diesem Licht werden auch die Überlegungen zu »Platons ungeschriebener Lehre« aufgenommen.

Der Autor: Harald Seubert, geboren 1967 in Nürnberg, seit September 2012 Professor und Fachbereichsleiter für Philosophie und Religionswissenschaft an der Staatsunabhängigen Theologischen Hochschule Basel. Seit 2016 Vorsitzender der Martin-Heidegger-Gesellschaft. Zuletzt bei Alber erschienen: Ästhetik – Die Frage nach dem Schönen (2015).

https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2017 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-48873-7 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81347-8

https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

Inhalt

PROLOG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anfang und Wendepunkt . . . . . . . . . . . Platon interpretieren . . . . . . . . . . . . . Noch einmal: Der esoterisch-exoterische Platon Der äußere Bauplan . . . . . . . . . . . . . . Anfang, Mitte und Ziel . . . . . . . . . . . .

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13 13 16 27 33 37

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43

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64 64 74

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79

ZWEITES KAPITEL: EROS UND TOD: DAS SOKRATES-EVANGELIUM (›SYMPOSION‹ – ›PHAIDON‹ – ›PHAIDROS‹) . . . . . . . .

82

ERSTES KAPITEL: PLATON UND SEIN SOKRATES

. Platons Leben . . . . . . . . Grundzüge . . . . . . . . . Platonische Komplexitäten . Akademie . . . . . . . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. I. . . . II. . III. Durch viele Formen: Platons Mythen .

. . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

IV. Philosophie und Politik: Der ortlose Ort der Sokratesgestalt – oder ›Kriton‹ und ›Apologie‹ . . . . . . . . Polis und Philosophie – Das Sokratesproblem . . . . Die ›Apologie‹ im Licht des ›Kriton‹ . . . . . . . . . Sokrates und die Polis-Sittlichkeit: ›Menexenos‹ und ›Minos‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

I.

›Symposion‹ – oder: Das philosophische Geheimnis des Eros . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diotima – Die weiblich-fremde Mitte der Philosophie . Wahrheit und Lüge: Alkibiades’ Satyrspiel . . . . . . Eros als Zwischenwesen . . . . . . . . . . . . . . . .

43 43 52 55 59

. 98 . 98 . 103 . 109 7

https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

Inhalt

Ziemlich wahre Reden über den Eros: Verläufe und Gesprächsfäden im ›Symposion‹ . . . . . . . . . . II.

›Phaidon‹ – oder: Der Tod als Daseinsmacht . . . . . . . Leib und Seele – oder: Schwanengesang und Unsterblichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beweisformen und Argumente . . . . . . . . . . . . . Natur und zweitbeste Seefahrt . . . . . . . . . . . . .

III. ›Phaidros‹ – oder: Eros und Logos. Eine Methodenlehre Palinodie und Logos . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eros und Tod: Der große Mythos im ›Phaidros‹ . . . . Poetische Dialogkunst, wahres Drama und die Frage der Einheit des ›Phaidros‹ . . . . . . . . . . . . . . . Mimemata: Die Schwäche der Schrift . . . . . . . . .

111 120 121 125 128

. 131 . 131 . 134

. . IV. Zurück zum ›Phaidon‹ : Das bleibend Wahre . . . . . . . Dialektik und Unsterblichkeit der Seele . . . . . . . . . Das dritte Argument . . . . . . . . . . . . . . . . . .

139 142 144 144 148

DRITTES KAPITEL: WAS ETWAS IST. DIE APORETISCHEN FRÜHEN SOKRATESDIALOGE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Laches – oder: Die Tapferkeit . . . . . . . . . . . . . . Charmides – oder: Die Besonnenheit . . . . . . . . . . Euthyphron – oder: Der Gottesdienst . . . . . . . . . . Alkibiades: Tyrannos Philosophos? . . . . . . . . . . . ›Hippias maior‹ – oder: Das Schöne . . . . . . . . . . . Lysis – oder: Die Freundschaft . . . . . . . . . . . . . .

150 151 155 159 162 164 165

VIERTES KAPITEL: IM STRUDEL DER SOPHISTEN – ›GORGIAS‹ UND ›PROTAGORAS‹ . . . . . . . . . . . . . .

167

. . . . . . . . . II. Die Einheit der Tugend: ›Menon‹ und ›Protagoras‹ . . . Anschauung des Schönen und Lehrbarkeit des Guten . Protagoras oder: Die Unwissenheit des Sophisten . . . III. Scham und Natur: ›Gorgias‹ . . . . . . . . . . . . . . Scham: Zur Aporie von Gerechtigkeit und Natur . . . Wer der Rhetor ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I.

Antidotum: Platon und die Sophistik

8 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

. . . . . . .

169 177 177 180 184 184 192

Inhalt

Gerechtigkeit und Besonnenheit. Zum Kern der Argumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Schlussmythos des ›Gorgias‹ . . . . . . . . . . . .

197 205

FÜNFTES KAPITEL: POLIS, SEELE UND DIE HÖCHSTE IDEE – DAS ›ALLUVIONSGEBILDE‹ DER ›POLITEIA‹ UND DIE ›NOMOI‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

208

I.

II.

Jenseits der Verwechselbarkeit: Die wahre Tragödie des Gerechten . . . . . . . . . . . . Atopisches Dasein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Mythos des Pamphyliers Er . . . . . . . . . . . . .

224 224 227

Thrasymachos – oder: Das Erbe der Aporetik in der ›Politeia‹ . . . . . . . . . . Was Gerechtigkeit ist – Aporetische Annäherung . . . . Der »gerechte Hirte« . . . . . . . . . . . . . . . . . .

231 231 234

III. Gerechtigkeit ohne allen Anschein. Der Ankerpunkt der ›Politeia‹ . . . . Glaukons und Adeimantos’ Zweifel . Natur und Paideia . . . . . . . . . . Musenkunst und Affekte . . . . . . Bewegungsharmonien . . . . . . . . Anfang und Ziel der Paideia: Der Gott Fiktion und die Idee: ›Politeia X‹ . . .

. . . . . . .

250 250 257 261 271 274 289

IV. Die Struktur der Gerechtigkeit oder Große und Kleine Schrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Polis und Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

295 295

V.

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»Sprösslinge der höchsten Idee«: Die drei Gleichnisse der ›Politeia‹ und der Philosophenkönigssatz . . . . . . . . . Wissen um die höchste Idee . . . . . . . . . . . . . . . Epistrophé: Das Höhlengleichnis und seine Selbstauslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Bild der inneren Politeia und das wesentliche Wissen: Momente der »Philosophenherrschaft« . . . . . . .

VI. ›Nomoi‹ – Ein Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Gott oder der Menschen einer: Die Stiftung der Gesetze und die nomologische Paideia . . . . . . . Das bleibend Gute – oder: Werden und Vergehen . . . .

314 314 320 322 328 328 333 9

https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

Inhalt

Nomos und Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . Sieben Axiome von Herrschaft . . . . . . . . . . . Herrschafts- und Gesetzesform . . . . . . . . . . . Prooimion: Einstimmung auf das Gesetz . . . . . . Gewebe: Gesetzesstrukturen . . . . . . . . . . . . . Die Gesetze und der Verlauf des menschlichen Lebens Fleisch und Stein: Der Mensch als Bürger . . . . . . Schuld und Strafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Asebiefrevel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Göttliche Sanktionen und Euthynenamt . . . . . . .

. . . . . . . . . .

347 348 350 354 357 361 369 373 376 384

SECHSTES KAPITEL: FORM UND GRENZE DER DIALEKTIK . . . . . . . . . . . .

388

I.

II.

. . . . . . . . . .

›Parmenides‹ : Das »mühevolle Spiel« . . . . . . . . . . Das ›mühevolle Spiel‹. Zum ersten Teil des platonischen ›Parmenides‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Phänomen und Widerspruch . . . . . . . . . . . . . . Der ›Sophistes‹ : Wahrheit und der Logos vom Guten – oder: Sein und Nichts . . . . . . . . . . . . . . . . . Vom Sein des Nicht-Seienden: Verstrickungen . . . . . Kategoriale Hinsichten. Zwei Beweisgänge . . . . . . Sein als unterscheidende Form . . . . . . . . . . . . .

429 429 437 448

. . . . . . .

. . . .

496 501 502 505

IV. Der wahre Staatsmann: ›Politikos‹ . . . . . . . . . . . Politiké techné oder: Nomos und Denken . . . . . . . Ausblick ins Freie: ›Physiké areté‹ . . . . . . . . . . . ›Kratylos‹ – Sprache, Sache und Idee . . . . . . . . . Sprachkonvention: Hermogenes . . . . . . . . . . . Die Natur der Dinge in den Worten: Kratylos’ These Versuchte Modifizierungen und die Unrettbarkeit der Kratylos-These . . . . . . . . . . . . . . . . . Idee und Wort: Die Auflösung des Problems? . . . . Zwei Folgeprobleme . . . . . . . . . . . . . . . . . Kratylos-Wirkungen . . . . . . . . . . . . . . . .

10 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

399 425

. . . . . . . . . . . . . .

III. Aporie und Philosophie: ›Theätet‹ . . . . . . . . . . . Was Erkenntnis ist: Vorfrage und Kern . . . . . . . . Zwischen Sein und Werden . . . . . . . . . . . . . . Die warnende Protreptik: Im Vorhof der Philosophie .

V.

399

451 451 459 465 468 468 485 489 489 492

Inhalt

SIEBTES KAPITEL: KOSMOS UND LEBENDIGKEIT – ›TIMAIOS‹ UND ›PHILEBOS‹ I.

II.

Urbild, Abbild und Notwendigkeit. Von der Wahrscheinlichkeit eines Logos über die Weltgenese . . Vorläufiges: Genesis und Prinzip . . . . . . . . . . . . Geometrie und Ontologie . . . . . . . . . . . . . . . . Der ›andere Anfang‹ : Grund und Abgrund der Chora . . Weltentstehung aus dem Geist der Stereometrie . . . . . Bewegung – Werden und Vergehen . . . . . . . . . . . Notwendigkeit und Idee . . . . . . . . . . . . . . . . . Natur und Mensch: Mischungen aus Vernunft und Notwendigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Platonische ›Anthropologie‹ . . . . . . . . . . . . . . . Der politische Traktat im ›Timaios‹ . . . . . . . . . . .

507 514 514 521 526 535 541 542 546 558 564

Der platonische Text und zwei philosophiehistorische Fußnoten zum ›Timaios‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . Schellings Interpretation (1794) als ein Schlüssel . . . . Die aristotelische ›Physik‹ als anderer Schlüssel . . . . .

571 571 581

III. Der ›Philebos‹ als Praktik gelingenden Lebens . . . . . . Mischung – vordialektisch . . . . . . . . . . . . . . . . Wiederaufnahme der Dialektik – in zweierlei Gestalt . . Gutes Leben in der Endlichkeit: Vom Wesen der Mischung Praktik als Lebens- und Denkform . . . . . . . . . . .

590 591 598 612 622

ACHTES KAPITEL: WIRKUNGSGESCHICHTEN – EINE SKIZZE . . . . . . . . .

624

EPILOG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einige Axiome platonischen Denkens . . . . . . . . . . Die Gegenwärtigkeit Platons . . . . . . . . . . . . . .

643 643 657

Literatur

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 660

Personenregister

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 667

Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

675

11 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

PROLOG

Anfang und Wendepunkt Es gibt Dikta, deren Wahrheitsgehalt sich auch durch Wiederholung bis zum Überdruss nicht verbraucht. Von dieser Art ist der Satz von Alfred North Whitehead, wonach alle Philosophie des Abendlandes aus »Fußnoten zu Platon« bestehe. 1 In der Sache ist und bleibt daran viel Wahres. Das philosophische Denken Platons, der erste europäische umfassende Entwurf dessen, was Philosophie sein kann, zeigt in seiner Komplexität, aber zugleich in den Unentschiedenheiten und Schwebelagen, in die es versetzt, Positionen an, die erst später und von anderen Philosophen explizit eingenommen und ausgearbeitet wurden. Es zeigt mitunter auch schon deren Einseitigkeiten und Scheitern. Eine ähnliche Konstellation ergibt sich vielleicht nur noch, auf den schmaleren Umkreis der Moderne bezogen, in der Philosophie Hegels. »Heiliger Platon, wie sehr hat man an dir gesündigt«, so bemerkte Hölderlin in der Zeit der großen Wiederentdeckung platonischen Denkens: in Frühidealismus und früher Romantik um 1800, jener Epoche, in der aus dem gemeinsamen Impuls von Friedrich Schlegel und Friedrich Schleiermacher eine veritable deutschsprachige Übersetzung und Zweitschrift des platonischen Dialogwerks hervorging, Denk-Werk und literarische Manifestation, nicht umsonst etwa gleichzeitig mit einer Übersetzung Shakespeares ins Deutsche. 2 Die Wirkungen reichen weiter als die Intentionen der Autoren es wollen: So notierte Nietzsche, der seinen ›Zarathustra‹ als Gegen-PlaA. N. Whitehead, Prozess und Realität. Frankfurt/Main 1987, S. 91. Siehe auch das Spiel mit diesem Titel bei W. Beierwaltes, Fußnoten zu Plato. Frankfurt/Main 2011, S. VII und S. 3, bezeichnenderweise ohne Whitehead seinerseits zu zitieren. 2 Solche Topoi liegen nahe, auch weil Schleiermacher und die Brüder Schlegel und Ludwig Tieck an der Shakespeare-Übersetzung mitwirkten. Beide Übersetzungen gewannen höchste Bedeutung für die Zielkultur und erreichten in ihr je spezifische Klassizität. 1

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PROLOG

ton konzipierte, dass die Persönlichkeit Platons schlechterdings unwiderleglich sei. Was ist das Spezifikum der Gestalt platonischer Philosophie, so wie sie vielstimmig und als umfassender, unterschwellig verbundener Gesamtentwurf in den Dialogen vorliegt? Sie bildet ein Denkdrama ab, die Verfertigung der Einsicht im Zwiegespräch des Sokrates mit seinen Gesprächspartnern. Damit unterscheidet sich dieser Anfang von dem später philosophisch Üblichen: der diskursiv traktierenden Darstellung propositionalen Wissens. 3 Dies hat immer wieder zu der Überlegung geführt, ob nicht in den Dialogen nur gleichsam protreptische Werbeschriften vorlägen, während das esoterische Arkanum im mündlichen Gespräch mit Platons Vertrauten erörtert worden sei. Platon bekundet mehrfach seine Auffassung von der ›Schwäche der Schrift‹, die im Wesentlichen, phänomenologisch unmittelbar einsichtig, darin besteht, dass ein verschriftlichter Text über seine Auslegung nicht selbst orientieren und bestimmen kann. Verstehen ist immer ›Anders-Verstehen‹. Daher erkennt man nach Platon einen kundigen Menschen nicht zuerst an seinen Schriften (Grammata), sondern daran, wie er sie jeweils in einer veränderten Situation zum Sprechen zu bringen weiß. 4 Paradox gesagt: Ein die Relativität und Vergänglichkeit einzelner Situationen übergreifendes Wissen zeigt sich daran, dass es von verschiedenen, wechselnden Situationen ausgehend entfaltet wurde. Man muss im Hintergrund auch berücksichtigen, worauf insbesondere Michael Erler hingewiesen hat, dass Platon mit der Einsicht in die Vorläufigkeit der Schrift nicht alleine ist. 5 Vgl. Schleiermacher, Über die Philosophie Platons, hgg. und eingeleitet von P. M. Steiner, mit Beiträgen von A. Arndt und J. Jantzen. Hamburg 1996. 4 Dies ist der Topos, der im zweiten Teil des ›Phaidros‹-Dialogs und auch im VII. Brief verhandelt und häufig als ›Schriftkritik‹ wiedergegeben wird. Dies wird dem platonischen Problem, wie die Erzeugung des Denkens überhaupt mitteilbar sein soll, aber nicht gerecht. Vgl. D. Thiel, Platons Hypomnemata. Die Genese des Platonismus aus dem Gedächtnis der Schrift. Freiburg, München 1993, insbesondere S. 51 ff. und S. 84 ff. 5 M. Erler, Der Sinn der Aporien in den Dialogen Platons. Übungsstücke zur Anleitung im philosophischen Denken. Berlin, New York 1987; siehe auch ders., Vom Werden zum Sein. Über den Umgang mit Gehörtem in Platons Dialogen, in: E. Jain, S. Grätzel (Hg.), Sein und Werden im Lichte Platons. Festschrift für Karl Albert. Freiburg, München 2001, S. 123 ff., und im Blick auf Isokrates ders., Hilfe und Hintersinn. Iskorates’ Panathenaikos und die Schriftkritik in Platons Phaidros, in: L. Rossetti (Hg.), Understanding the Phaedrus. St. Augustin 1992, S. 122 ff. 3

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Isokrates hat im Zusammenhang mit seiner Lehrtätigkeit auf dasselbe Dilemma der Schrift hingewiesen, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der ungeheuren Verschriftlichungswelle, die Athen im 4. und 5. Jahrhundert erfasste. Unmittelbar fällt ins Auge, dass Platon in der Tat einen Wendepunkt der frühen europäischen Denkgeschichte bezeichnet. Viele ihrer Linien laufen bei ihm zusammen: Er sieht das Epos von Homer und Hesiod und die griechische Tragödie noch als unmittelbares Gegenüber und als Kontrahenten zum eigenen philosophischen Drama. Für Aristoteles sind sie Traditionsbestände, aus denen die Philosophie ihre Beispiele schöpft. Das Denkdrama erweist sich bei Platon noch als Erbe der Sprachkunst, als »wahre« Dichtung, vor allem als wahre Tragödie. Zugleich konterkariert Platon die Sophistik, diese erste Moderne- und Aufklärungsbewegung: Avantgarde und Krisensymptom der attischen Ordnung. Er kann und will sie aber nicht ignorieren; und keineswegs will er ein altes Gefüge restituieren, so als hätte es Neuerung und Einbruch nicht gegeben. Tradition und unmittelbare Zeitgenossenschaft sind in seinem Denken wie geronnen. Und nicht nur dies, auch das Göttliche (to theion), der Grenzbegriff, den Platon meist in Neutrumsform gebraucht, geht aus der Kritik und Umbildung, gewissermaßen der Konjektur der alten Götterlehren in Kultus und Epos, erst hervor. Zudem sind es die großen Bruchstücke frühgriechischen Denkens, die bei Platon gewissermaßen in Gedanken erfasst, festgehalten und einer philosophischen Argumentation zugeführt sind. Der dialektische, also aus Widerstrebendem geeinte Logos des Heraklit, in dem Heraklit, der ›Dunkle‹ (skoteinos), das Feuer und den Blitz sah, hinter und in den einander widerstreitenden Formen gelebten Lebens, geht in die platonische Dialektik ein. Die »gegenwendige Fügung«, ›palintonos harmonia‹ bzw. ›palintropos harmonia‹, wird im dialektischen Grundverfahren Platons auf die Frage hin aufgeklärt, welche Begriffe sich miteinander verbinden können und welche nicht. Aber auch die gegenläufige Konzeption des Einen, in dem bei Parmenides Denken und Sein konvergieren, geht in Platons Denken ein. Er spricht vom »Vater Parmenides« und meint, dass er gleichsam unwiderleglich sei. 6 Der agonale Grundzug griechischer Lebens- und 6

Platon, Theaitetos in der Kontrastierung der Lehre der Herakliteer und der Parmen-

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Kulturform, den Jacob Burckhardt nachdrücklich beschworen hat, wird im Sokrates-Dialog in einen Wahrheitsagon umgeschmolzen. Während der sophistische Logos aber zur Konfrontation neigte, zum Triumph des Überlegenen und zur Demütigung des Unterlegenen, zielt die platonisch-sokratische Dialektik auf eine Prüfung der Seelen in Freundschaft. Auch der starke Akzent auf Blick und Sinnlichkeit geht sublimiert in Platons Denkbewegung ein: Die Idee ist die wahre, von keiner Trübung erfüllte geistige Sichtweise. Die Zuwendung zu ihr hat daher auch erlösende und errettende Bedeutung. Nietzsche sprach in diesem Sinn vom Christentum als einem »Platonismus für das Volk«. 7

Platon interpretieren Zwei charakteristische Passagen zu Platons Verständnis über Schrift und Verschriftlichung des Denkens seien eigens benannt. Im ›Phaidros‹ (276d–277a) wird hervorgehoben, dass die Schrift ein Gärtchen sei, des Spiels wegen angelegt (paideia/paidia). Dagegen müsse die Sache in dialogischer, einander wechselseitig Rechenschaft gebender Rede und Gegenrede entfaltet werden. 8 Doch bei näherem Augenschein ist diese ›Schriftkritik‹ eher eine Denkbewegung und Artikulation des Zweifels daran, ob sich die philosophische Erkenntnis lehren lässt (vgl. VII. Brief 341a–342a). Es fällt unmittelbar auf, dass dabei, fundamentaler als die Verschriftlichungsfrage, die Mitteilbarkeit eines Denkens, das Gedanken im anderen erzeugen und Evidenz herstellen soll, in Frage gestellt wird. Die Differenz von Schrift und mündlicher Mitteilung verblasst demgegenüber erkennbar. Dennoch bricht eben an diesem Punkt eine der zentralen Differenzen der Platon-Forschung bis heute auf. Die »systematische« Interpretation (Krämer, Reale, Gaiser) extrahiert aus nachplatonischen Testimonien Spuren der »ungeschriebenen Lehre« und meint von dort her den ideer Theaitetos 179 e 2 ff. Vgl. dazu auch J. Hardy, Platons Theorie des Wissens im Theätet. Göttingen 2001. 7 KSA 5, 12, Vorrede Jenseits von Gut und Böse. 8 Vgl. dazu H. Cherniss, Ancient Forms of Philosophic Discourse, in: ders., Selected Papers, hg. L. Tarán. Leiden 1977, S. 14 ff. und R. Blondell, The Play of Character in Plato’s Dialogues. Cambridge 2002. Vgl. auch Th. A. Szlezák, Gespräche unter Ungleichen. Zur Struktur und Zielsetzung der platonischen Dialoge, in: G. Gabriel und Chr. Schildknecht (Hg.), Literarische Formen der Philosophie. Stuttgart 1990, S. 40 ff.

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Zusammenhang des Dialogwerks in einem im Dialogwerk selbst nicht ausgesagten Horizont verankern zu müssen. Den Einsichten jener ›esoterischen‹ Deutung soll und kann sich auch dieses Buch nicht entziehen. Es folgt aber im Hauptakzent eher einer hermeneutischen Lesart, wie sie auf einer großen Linie von Schleiermacher bis Gadamer oder, mit analytischer Verfeinerung, Wolfgang Wieland bestimmend war und der zufolge in dem Geflecht der untergründigen Rhizomatik der Dialoge eine Schicht des Unsagbaren (arrheton) verborgen ist. Sehr hellsichtig und an diesem Punkt ganz mit Schleiermacher konvergierend, hat dies Hegel angesprochen. Die vordergründige Unterscheidung zwischen ›esoterisch‹ und ›exoterisch‹ sehe aus, »als sei der Philosoph im Besitz seiner Gedanken wie der äußerlichen Dinge. Die Gedanken sind aber ganz etwas anderes. Die philosophische Idee besetzt umgekehrt den Menschen. Wenn Philosophen sich über philosophische Gegenstände explizieren, so müssen sie sich nach ihren Ideen richten; sie können sie nicht in der Tasche behalten. Spricht man auch mit einigen äußerlich, so ist die Idee immer darin enthalten, wenn die Sache nur Inhalt hat. Zur Mitteilung, Übergabe einer äußerlichen Sache gehört nicht viel.«

Hegel fügt im selben Atemzug hinzu, die Idee aber sei immer etwas Esoterisches. 9 Zugespitzt bedeutet dies, dass sich das Esoterische gerade nur im Exoterischen, der Mitteilung im Sokrates-Gespräch, erkennen lasse. Deshalb ist das Esoterische das eigentlich Spekulative, das sich aber an der Oberfläche der Gesprächstextur zeigt. 10 Man mag hier an ein schönes Diktum von Hofmannsthal denken, wonach man die Tiefsinnigkeit verbergen müsse. Nirgends könne das besser und tunlicher geschehen als an der Oberfläche. 11 Der Kern platonischen Denkens ist, so wieder Hegel, ein Spekulatives, das geschrieben und gedruckt ist. 12 Für das Verhältnis des Esoterischen zum Exoterischen ist besonders aufschlussreich, dass es nach dem Wortlaut des Höhengleichnisses ein und dieselben GegenHegel, Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie, Theorie-Werkausgabe Band 19, S. 21. 10 Ibid., S. 22 ff. 11 Hugo von Hofmannsthal, Buch der Freunde, Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden, Band 10, Reden und Aufsätze III, Bibliographie, Fischer, Frankfurt 1986, S. 268. Ähnliches auch bei Burckhardt über die Griechen, bei Wittgenstein in einem grundsätzlichen Sinn. 12 Vgl. auch Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, zweiter Band, Jubiläumsausgabe (Hg. H. Glockner). Band XVIII, S. 238. 9

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stände oder Sachverhalte sind, die einmal im flackernd verschatteten Anschein der Meinung gesehen werden und dann in der Überhelle des Lichtes der Idee. 13 Und nicht nur dies: Auch die handelnden Personen sehen sich gegenseitig – und einander selbst: einmal im Licht und einmal im schattenhaften Geflacker. Aus dem Zusammenleben, der bürgerschaftlichen Gemeinschaft (Synousia) und dem gemeinsamen Philosophieren, Symphilosophia, geht nach der Auffassung des platonischen Sokrates erst die Klarheit in der Sache hervor, zu der sich auch der aus historischem Abstand rekonstruierende Philosoph bereitfinden sollte. 14 Die Relation von geschriebener und ungeschriebener, esoterischer und exoterischer Dimension platonischen Philosophierens kann man daher noch einmal umfassender auf das Strukturproblem dieses Denkens beziehen, wonach es sich in Sätzen dokumentiert, niemals sich aber in der propositionalen Satzwahrheit erschöpft. Platons Dialoge ziehen in jenes Denken hinein. Sie setzen an kontingenten Einsatzstellen an, wie den Kopfschmerzen des jungen Mannes Charmides, deren Diskussion auf die Erörterung seiner mutmaßlichen Besonnenheit führt; im ›Laches‹ bei der Frage, worin und wie junge Menschen auszubilden sind, woraus die Frage nach dem Ort der Tapferkeit (andreia) im Gefüge der Tugend hervorgeht. Schleiermacher hat jene Sogkraft der platonischen Symphilosophie meisterlich charakterisiert: »dass das Platonische Dialogwerk nicht bei einem festen Punkt anhebend nach einer Richtung fortschreitet, sondern bei der Bestimmung jedes einzelnen von einer skeptischen Aufstellung anhebend durch vermittelnde Punkte jedes Mal die Prinzipien und das Einzelne zugleich darstellt und wie durch einen elektrischen Schlag vereinigt.« 15

Auch wenn man in den Fragen der relativen Chronologie platonischer Dialoge heute mit guten Gründen deutlich von Schleiermacher abweichen wird, 16 hat er doch im Licht der zitierten Einsicht sehr zu Ibid. Zum Status der Ideen vgl. W. Wieland, Platon und die Formen des Wissens. Göttingen 1982, S. 105 ff. und S. 125 ff. 14 Vgl. dazu jetzt M. Schwartz, Der philosophische bios bei Platon. Zur Einheit von philosophischem und gutem Leben. Freiburg, München 2013. Siehe auch J. Annas, Platonic Ethics, old and new. Ithaka, London 1999. 15 Schleiermacher, Sämtliche Werke III/1, S. 336 f. Dazu auch Seubert, Polis und Nomos. Untersuchungen zu Platons Rechtslehre. Berlin 2005, S. 16. 16 Zu den zu korrigierenden Momenten gehört, dass Schleiermacher den ›Parmenides‹ den Frühdialogen zuwies. Dazu W. Dilthey, Das Leben Schleiermachers. 2. Band, 13

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Recht grundsätzlich eine ausschließlich entwicklungsgeschichtliche Lesart Platons von Grund auf infrage gestellt. Das Dialogwerk sei Auswicklung, Fortbildung eines Keimentwurfs, sodass die Idee des Ganzen schon als im Anfang grundgelegt vorgestellt werden müsse. Schon in den frühen Dialogen sei das Ganze zu ahnen. Ganz in diesem Sinn hat Jacob Klein, einer der klarsten, tiefsten und subtilsten Platoninterpreten des 20. Jahrhunderts, angemerkt: »This also confers on the dialogues the quality of completeness as against their unfinished (aporetic) character in terms of the verbal argument«. 17 Wie verhält es sich dann mit der »ungeschriebenen Lehre«? Zu Recht wurde festgehalten, etwa von Wolfgang Wieland 18 und Günther Patzig, 19 dass ihre Offenlegung oft eher für den Interpreten als für Platon selbst aufschlussreich sei. Dies beträfe dann nach Whitehead vielmehr die Fußnoten als den Text. Beide Platonforscher weisen auch darauf hin, dass die »ungeschriebene Lehre«, wie sie von der Tübinger und Mailänder Platoninterpretation angegeben werde, anders als die in den Dialogen zu verfolgende Gedankenbewegung, von einer mitunter bizarren Unzulänglichkeit in Begründung und Theorieform sei. Die Dichte des von Platon gewobenen Problemnetzes ist bemerkenswert genug: Die Suche nach dem eigentlich Wahren und Wirklichen, die Sokrates mit der Frage, was etwas ist (ti estin) aufwirft, greift bereits auf den Punkt aus, der mit der höchsten Idee, der ›Idea tou agathou‹, theoretisch zu beschreiben ist. Platons Dialoge sind in jedem Fall und in einem sehr exponierten Sinn Medium der Erzeugung des Gedankens. In der Flüssigkeit von Rede und Gegenrede wird die Begrenztheit der Schrift in die Mündlichkeit hinein aufgelöst, freilich wieder im Medium der Schrift dokumentiert. Dies zeigt sich ganz elementar daran, dass im Gesprächsaus dem Nachlass hgg. von M. Redeker (Dilthey, Ges. Schriften XIV). Göttingen 1985, S. 49 ff. 17 J. Klein, A commentary on Plato’s Meno. Chapell Hill 1965. Dazu W. Wieland, Platon und die Formen des Wissens. Göttingen 1982, S. 68 ff. 18 Wieland, Platon und die Formen des Wissens, a. a. O., S. 83 ff., siehe auch ders., Einführung, in: Picht, Platons Dialoge ›Nomoi‹ und ›Symposion‹. Stuttgart 1990, S. VII ff. 19 G. Patzig, Platons Ideenlehre, kritisch betrachtet, in: Antike und Abendland 16 (1971), S. 113 ff.

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gestus szenisch, mimisch oder gestisch Instrumentierungen des wörtlich Gesagten hinzugefügt werden. 20 Es zeigt sich auch, wenn signalisiert wird, dass ein richtiger Satz, von einer falschen Person oder zu einem falschen Zeitpunkt gesagt, falsch werden kann. Indirekt kann aber, etwa durch Sprachen des Leibes, die Wahrheit wiederhergestellt werden. Erröten oder Scham einer Person über ihre eigenen Behauptungen sind im platonischen ›Gorgias‹ besonders sprechende Indizien dafür – wir werden darauf zurückkommen. Und ein verworfener, in einem Dialogzusammenhang in die Aporie führender Satz kann umgekehrt in einem anderen Kontext Potential aus sich entbinden. Er kann zu einem Schlüssel wahrer Erkenntnis werden, wenn sich der Kontext geändert hat. Unabdingbar ist die Selbstbezeugung des Wissens. Nichts soll zugegeben werden, was der Andere im Dialog nicht aus freien Stücken eingestehen kann. Dies ist eine elenchtische Grundregel, die auch beständig befolgt bzw. von Sokrates angemahnt wird. 21 Die eindrücklichste Bestätigung des Gewichts jener Bezeugung findet sich in der Maxime, dass nicht nur die Tauglichkeit der Untersuchung geprüft werden soll, sondern auch die Seele dessen, der untersucht. Stets ist die Sach-Untersuchung zugleich eine eminente Betätigung der ›entos praxis‹, des inneren Handelns der Seelen und ihrer Prüfung. Die Seele kann sich demnach an das Eine, mit sich Identische (to auto), nur annähern und ihm ähnlich werden, wenn sie nach ihm fragt. Deshalb besteht auch die Gefahr, dass sie sich, wenn sie mit entzweiten, nicht-harmonischen Phänomenen, dem Anderen (thateron) und dem Werden und Vergehen umgeht, sich an sie verliert. Sie ist bei dem, was sie untersucht, und ihm wird sie sich zugleich nachbilden. Im Einzelnen lassen sich zwei Weisen des Gesprächs unterscheiden. Allerdings sollte man, anders als Wolfgang Wieland, nicht so Vgl. D. Clay, Platonic Questions. Dialogues with the Silent Philosopher. Pennsylvania 2000, siehe auch Th. Ebert, Platon als philosophischer Dramaturg: Bemerkungen zu Personal und Szenerie der Politeia, in: H. Linneweber-Lammerskitten und G. Mohr (Hg.), Interpretation und Argument. Gerhard Seel zum 60. Geburtstag. Würzburg 2002, S. 59 ff. 21 Dazu u. a. P. Stemmer, Platons Dialektik. Die frühen und mittleren Dialoge. Berlin, New York 1992, S. 49 ff. und N. Blößner, Dialogform und Argument. Studien zu Platons ›Politeia‹. Mainz 1997 (Abhandlungen der geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse, Jg. 1997, Nr. 1). 20

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sehr von zwei Gesprächstypen sprechen, sondern von idealtypischen Formen, zwischen denen vielfältige Übergänge möglich sind (vgl. Menon 75c f.): 22 Einerseits ist der »antagonistische« Dialog zu nennen, der der griechischen Tendenz zum Agon entgegengekommen sein dürfte, andererseits der »synergistische« Dialog, der die Einsicht im Zusammenspiel mit dem Mitunterredner erzeugt. Oftmals werden scheinbar und nach eigener Meinung »Wissende« auf diese Weise ihres Nicht-Wissens überführt. Zugleich aber befragt der symphilosophierende Sokrates in all dem sich selbst. Es geht nicht um Besserwissen, sondern um einen gemeinsamen Zuwachs an Erkenntnis. Dabei zeigt sich auch: Philosophie hat immer eirenische, befriedende Kraft. Dies wird in den Sokratesdialogen immer wieder erfahren: Selbst eine Gestalt wie der spätere Tyrann Alkibiades, ein Betrunkener und Verwirrter unter den jungen Mitunterrednern, gibt davon geradezu schlagend Zeugnis. 23 Auch in Dialogen, in denen Sokrates nicht agiert und nur fragend oder schweigend auftritt, stellt sich diese Wirkung ein. Für Platon ist Sokrates auch deshalb der einzige gerechte Mann: Und eine gerechte Polis wäre eine solche, in der ein solcher Mann unangefochten philosophierend leben könnte. Er wäre dann gleichsam ihr eigentlicher Regent. Es kann ein hübscher Zufall sein, dass zeitlich parallel zu den platonischen Dialogen in der bildenden Kunst die Skenographie entsteht. Wenn man so will, ist dies der erste Ansatz einer Hintergrundmalerei, wodurch Tiefe angezeigt wird. Auch Platon gibt seinen Szenerien Hintergrund und Tiefe. Doch gegenläufig zu der Skenographie geht es ihm gerade nicht um eine Illusionierung, so sehr seine Dialoge durch sparsamste Regieanweisungen 24 Personen ins Licht rücken. Es geht ihm vielmehr um die Aufdeckung der wahren Struktur der Probleme und der Personen (Seelen), die sie untersuchen. Maieutische Kunst, Hebammenkunst (nach der Mutter des Sokrates Phainarete, der Hebamme (maia), deren ›techné‹ er sein Verfahren nach Dazu Wieland, Platon und die Formen des Wissens, a. a. O., S. 70 ff. Vgl. Platon, Symposion 212c 1 ff. 24 So etwa Ebert in dem Aufsatz FN 20. Von Forschern wie ihm werden eher Inszenierungsmetaphern angewendet, von anderen wie Blößner oder Heitsch werden die Dialoge als ›Übungen‹ gesehen. Eine umfassendere Sicht entwickelt Benardete in seinen Studien, wenn er den inneren Handlungsraum durchleuchtet. Vgl. etwa ders., Plato’s ›Laws‹. The Discovery of Being. Chicago 2000 und ders., The Tragedy and Comedy of Life. Plato’s ›Philebos‹. Chicago 1993. 22 23

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eigenem Zeugnis verdankt), war Sokrates’ genuines Verfahren. Es ist aufs Engste mit der Aporetik in den Dialogen verknüpft. Sie lehren nicht einen Wissensbestand. Vielmehr ziehen sie so in die Fragebewegung hinein, dass der aporetische Punkt des Nicht-Wissens erreicht wird. Erst an diesem Engpass stellt sich eine Einsicht ein, die aus dem Denkenden selbst geboren wird. Wenn man das innere Netz, also das Rhizom, der platonischen Dialoge, berücksichtigt, so ist es hilfreich, neben der ›relativen‹ die ›fiktive‹ Chronologie zur Kenntnis zu nehmen, 25 also deren Verortung in Sokrates’ Leben, so wie es sich aus den platonischen Dialogen darstellt. Dies kann nur ein Gliederungsschema neben anderen sein; und es ist selbstverständlich nicht haltbar, wie Munk, der frühe Entdecker dieser Chronologie, wollte, fiktive und reale Chronologie zu parallelisieren – ebenso wie es nicht haltbar ist, das System Dialektik, Ethik, Physik in eine Chronologie einzufügen, wofür Schleiermacher votierte. 26 Zu fragen ist: Wie folgen die Gespräche aufeinander und was lässt sich daran erkennen? Der Tod des Sokrates ist dabei der Dreh- und Angelpunkt der literarisch fingierten Chronologien. Für Platon war er der Tod des »Gerechtesten seiner Zeit« (VII. Brief), der ihn selbst von Politik und Kunst sich abwenden und zur inneren Handlung des Philosophierens kommen ließ. Sokrates’ Tod war daher in mehrfacher Hinsicht ein dramatischer Einschnitt: Er ließ Platon an der Rechtsgemeinschaft der Polis zweifeln und machte ihm zugleich die Eigenmacht der Philosophie deutlich. Diese innere Chronologie kann trefflich so bedacht werden, dass die Sachprobleme platonischer Philosophie aus dem Inneren der Dialoge kenntlich gemacht werden, und dies nicht in einem entwicklungsgeschichtlichen Auflegungsverfah-

E. Munk, Die natürliche Ordnung der platonischen Schriften. Berlin 1857. So, darin durchaus ähnlich wie bei Hegel, die Struktur der Einführungen und Kommentare, die Schleiermacher schreibt: Über die Philosophie Platons, a. a. O. Teilweise gehen die Auszüge auch auf die Vorlesungen Schleiermachers zur ›Geschichte der Philosophie‹ (zwischen 1819 und 1823) zurück. Es ist bemerkenswert, dass die ›systematische‹ Gliederung des Platon-Handbuchs einem ähnlich anachronistischen Raster folgt, und unter IV. eine philosophische Disziplinenfolge von ›Logik und Methodologie‹ bis ›Theorie der Geschichte‹ auflistet (S. 101 ff.), worauf dann noch ›Zentrale Stichwörter zu Platon‹ (S. 253 ff.) folgen. Ein wirklicher Aufweis dieses Procedere bleibt aus.

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ren, sondern gemäß der Maxime, die Platon selbst in seinem ›Phaidon‹ dem Sokrates in den Mund legt: »Und indem ich jedes Mal den Gedanken zum Grunde lege, den ich für den stärksten halte: so setze ich, was mir scheint, mit diesem zusammenzustimmen, als wahr, es mag nun von Ursachen die Rede sein oder von was nur sonst, was aber nicht, das als nicht wahr« (100a3–7).

Diese hypothetische Methodenregel zeigt zumindest drei Aspekte: 1. In dem Fragenetzwerk, das in jedem einzelnen Dialog zutage tritt, ist es lohnend – und eigentlich unabdingbar – jeweils nach dem stärksten Gedanken zu suchen, der der Untersuchung zugrunde liegt, und ihn gleichsam ins Relief zu treiben. 2. Sodann sind andere Gedanken, von denen Gebrauch gemacht wird, auf diesen Fokus zu beziehen. 3. Schließlich ist es eine lohnende Aufgabe, in jedem Dialog nach Gedanken zu suchen, mit deren Hilfe Gedanken zum selben Thema in anderen Dialogen gestützt oder kritisiert, vor allem aber Untersuchungen, die einmal aporetisch endeten, doch zu einem Ziel geführt werden können. Solche Maximen hat Gadamer, der nirgends eigenständiger war als in seiner Platondeutung, einmal sehr schön bildhaft beschrieben. 27 Eine jede Deutung müsse versuchen, Platon zu Ende zu lesen. Eine Ergänzung der verschriftlichten Untersuchungen ist dabei unerlässlich. Denn »Platon lesen, heißt sehen lernen […]. Die mühevolle Rechenschaftsabgabe, zu der Sokrates nötigt, die ständig misslingt und im Nicht-Wissen endet, greift selbst dann über sich hinaus, wenn sie im schrittweise besonnenen Unterscheiden zu etwas führt, was man mit Aristoteles eine Definition (einen Chorismos) nennen kann. Jedes Gespräch kann sich immer in einem anderen Gespräch fortsetzen oder sollte sich fortsetzen. Der Abbruch ist wie ein Ausblick. Auch das platonische Dialogwerk weist immer wieder Bruchstücke, Abbrüche, Übergänge auf.« 28

Vor diesen Hintergründen ist die Platon-Forschung, wie sie sich heute darstellt, im Sinn einer ersten Orientierung in ihren hauptsächlichen Strömungen zu charakterisieren. Schleiermacher hat die neuere Beschäftigung mit Platon durch seine Einleitungen zu den H.-G. Gadamer, Plato als Porträtist, in: Gadamer, Plato im Dialog. Gesammelte Werke Band 7. Griechische Philosophie III. Tübingen 1991, S. 228 ff. 28 Ibid., S. 255. 27

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einzelnen Dialogen und erst recht durch seine Übersetzung auf ein verändertes Fundament gestellt. 29 Er sah für Platon ausdrücklich die hermeneutische Maxime, einen Verfasser besser zu verstehen als er sich selbst verstanden hat, als ungeeignet an. 30 Ihn dann aber im Gegenzug aus der eigenen Mitte zu verstehen, bedeutet, wie Schleiermacher in deutlicher Unterscheidung zu seinem Freund Schlegel notiert, nicht nur das Philosophieren in seiner unendlichen Annäherung an die Wahrheit zu behaften, sondern auch die Sachdiskussion am platonischen Text und mit ihm weiterzuführen. Deshalb versuchte Schleiermachers Übersetzung sich dem Urtext möglichst weitgehend anzunähern. Friedrich August Wolf trieb damit seinen Spott: Der griechische Urtext sei dann alles in allem verständlicher als Schleiermachers Zweitschrift. 31 Man muss bei aller Bewunderung für eine solche Übersetzung sagen, dass sie gewissermaßen interpretiert, dazwischenspricht, aber eigentlich darauf ausgerichtet ist, sich überflüssig zu machen. Dies kommt nicht von ungefähr: Die Übersetzung sollte und wollte nämlich Paradigma hermeneutischer Interpretationsformen sein. Jene verschiedenen tektonischen Platten der gegenwärtigen Platonforschung indes interessieren nicht nur im Blick auf ihre Ergebnisse, sondern auch auf die Methoden, denen sie in der außerordentlich komplexen und in der Philosophiegeschichte singulären Problemlage platonischer Philosophie nachzukommen suchen. Die sogenannte Tübinger und Mailänder Schule der Platonforschung (Hans Joachim Krämer, 32 Konrad Gaiser, 33 Giovanni Reale) 34 hat sich Dazu J. Jantzen, Schleiermachers Platon-Übersetzung und seine Anmerkungen dazu, in: P. M. Steiner (Hg.), Friedrich Schleiermacher. Über die Philosophie Platons, a. a. O., S. XLV–LVIII. 30 Dies ist ein deutlicher Differenzpunkt zu Gadamer. Ders., Schleiermacher als Platoniker (1969), in: ders., Gesammelte Werke Band 4, S. 374 ff. 31 Vgl. dazu M. Fuhrmann, Friedrich August Wolf. Zur 200. Wiederkehr seines Geburtstages am 15. Februar 1959, in: DVjs 33 (1959), S. 187 ff. 32 Vgl. insbes. H. J. Krämer, Arete bei Platon und Aristoteles. Zum Wesen und zur Geschichte der platonischen Ontologie. Heidelberg 1959, sowie die Gesamtdarstellung ders., Plato and the Foundations of Metaphysics. New York 1990. Sie ist nie in deutscher Sprache erschienen. 33 K. Gaiser, Platons ungeschriebene Lehre. Studien zur systematischen und geschichtlichen Begründung der Wissenschaften in der Platonischen Schule. Stuttgart 31998. 34 G. Reale, Zu einer neuen Interpretation Platons. Paderborn 1993. Reales Werk ist unstrittig die umfassende und souveräne Gesamtdarstellung platonischer Philosophie aus der Sicht der esoterischen Platoninterpretation. 29

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primär der »Ungeschriebenen Lehre« zugewandt und versucht, aus den Testimonien die »eigentliche« Prinzipienlehre zu extrahieren, die sich in einer immer nur annähernden und andeutenden Weise in den Dialogen manifestiert. Zum zweiten zeigt sich auf einer davon zu unterscheidenden Linie die Neigung einer Rückführung der Denkbewegung auf Problembestände und Vorgehensweisen bzw. Architekturen systematischer Philosophie. Dies geschieht heute teilweise mit sublimem philologischem Rüstzeug (Göttinger Ausgabe). Im Umkreis von Ernst Heitsch und anderen sind präzise Kommentierungen des platonischen Werkes geleistet worden. 35 Eine analytisch-semantisch perspektivierte, auf die Argumentationsprüfung zielende Lesart, die gleichwohl hermeneutisch bezogen ist, zeigen mit großer Wirkung die Arbeiten von Wolfgang Wieland, insbesondere seine Monographie ›Platon und die Formen des Wissens‹. 36 Es ist deutlich, dass alle systematischen Deutungsweisen dort, wo sie nicht mit Behutsamkeit und philosophischem ebenso wie philologischem Methodenbewusstsein geübt werden, dazu tendieren, das Medium, in dem die platonische Gedankenerzeugung überhaupt erst möglich ist, auszublenden. Damit würde die Bedeutung des Dialogischen verkannt. Dennoch sind teilweise grandios konsequente Interpretationen auf diese Weise entstanden. Der Meister einer solchen Verfahrensweise im angelsächsischen Sprachraum war Gregory Vlastos. 37 Neben systematisch metaphysischen, argumentationsanalytischen und hermeneutischen Interpretationen, die nur selten überhaupt in eine wechselseitige, fruchtbare Auseinandersetzung ein-

Vgl. die mittlerweile weit gediehene Göttinger Platon-Ausgabe. Sie operiert unstrittig mit Übersetzungen, die an Genauigkeit jene von Schleiermacher übertreffen. Die Kommentare operieren historisch-philologisch. Sie machen sich teilweise das Methodeninstrumentarium der analytischen Philosophie zu eigen. Sie halten dabei eine gewisse Äquidistanz sowohl zu einer hermeneutischen Lesart im Sinn der Linie Schleiermachers und Gadamers als auch zu der ›esoterischen Interpretation‹. Teilweise wird allerdings weniger argumentativ als vielmehr durch Ausschluss andersartiger Interpretationsansätze eine Positionierung bezogen. Dies ist überall, vor allem aber in der Platon-Forschung, schwierig. Vgl. zum Problem den etwas schematischen Abriss: Grundmodelle der Platon-Interpretation, in: Platon-Handbuch, a. a. O., S. 26 ff. 36 Wieland, Platon und die Formen des Wissens, a. a. O. 37 Vgl. u. a. Vlastos, Studies in Greek Philosophy. Vol I–II. Princeton 1995. 35

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traten, ist eine eigene Kunst, Platon zu lesen, eine philologisch kundige und differenziert an den einzelnen Dialogen operierende Methodologie gewonnen worden. 38 Sie beruft sich zuweilen, und vor allem im Blick auf das politisch-philosophische Grundproblem Platons, auf Leo Strauss. 39 Die platonischen Dialoge sind im Sinn seiner zentralen These einer Deutung für die Vielen und einer anderen Lesart für Wenige zugänglich. Das prekäre Verhältnis zwischen dem Philosophen und der Politik ist dabei für Strauss der Schlüssel. Eine entscheidende Rolle spielt die Entzifferung der sokratischen Lebensweise: Der Philosoph lebt a-topisch, vielleicht sogar ou-topisch in der Polis. 40 Er muss seine philosophische Beschäftigung ihr gegenüber ausweisen und sie zeigt im Umgang mit der Philosophie ihr Ethos und ihre Güte. Strauss profiliert nicht nur die esoterisch-exoterische Doppelperspektive in den platonischen Dialogen, er bezieht sie auch auf die anderen Sokrates-Zeugnisse: Die Warnung gegenüber Sokrates in Aristophanes’ ›Wolken‹, der Philosoph werde, wenn er sich vor der Polis nicht legitimieren, nicht den Nutzen seines fragenden Philosophierens zeigen könne, nicht einmal zu verhindern wissen, dass sein Haus in Brand gesteckt werde, zeigt ihn als Ärgernis in der Stadt, dem viele ein Ende setzen möchten (Aristophanes’ ›Wolken‹, Vs. 522 ff.). Es ist noch ein die Prinzipien der Natur und den Kosmos ergründender Sokrates, den Aristophanes zur Darstellung bringt: zentrale Anwürfe aus der Anklage, die in der ›Apologie‹ bezeugt sind, träfen auf ihn durchaus zu. Seine Zuwendung ausschließlich zu der menschlichen Weisheit, wie sie die platonischen Dialoge spiegeln, könnte eine Reaktion auf das Faktum sein, dass der Philosoph ein besonderer

Vgl. Th. A. Szlezák, Platon lesen. Stuttgart/Bad Cannstatt 1993. Selbstverständlich sind auch Leo Strauss und seine Schule in einer dezidierten Weise am Lesen, als am Geist, wie er sich im Buchstaben dokumentiert, orientiert. Die starke Akzentuierung auf dem politisch-philosophischen Topos setzt aber wieder andere Akzentuierungen. 39 L. Strauss, Studies in Platonic Political Philosophy. With an Introduction by Thomas L. Pangle. Chicago/London 1983, siehe auch H. Meier, Carl Schmitt, Leo Strauss und »Der Begriff des Politischen«. Zu einem Dialog unter Abwesenden. Mit dem Aufsatz von Leo Strauss über den »Begriff des Politischen« und drei unveröffentlichten Briefen an Carl Schmitt aus den Jahren 1932/1933. Stuttgart 1988. Neuausgabe Stuttgart, Weimar 1998. 40 Jedenfalls hat er in der Polis keinen Ort. Dieses Moment, dass der ›wahre Staatsmann‹, der Typus Sokrates, vergebens in sein Eigentum kommt, ist ein entscheidendes Motiv der Sokrateslegende Platons. 38

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Bürger ist, in gewisser Weise aber auch ein Fremder in der Polis. 41 Dies sind Fragen, von denen im Anschluss an Leo Strauss auch einige andere Interpreten in jüngerer Zeit geleitet wurden, namentlich Seth Benardete. 42 Platons Werk wurde mit der Sokratesgestalt im Zentrum Maßstab dessen, was Philosophie und Philosophieren ist – in seiner begrifflichen Tiefenstruktur ebenso wie in seiner agonalen Nähe und seiner Abgrenzung von Mythos und Tragödie.

Noch einmal: Der esoterisch-exoterische Platon Wenn man diese Deutungslinien noch einmal idealtypisch kondensiert, so zeigt sich, dass sich die Platon-Interpretation, bei vielen Zwischentönen, in zwei große Grundtendenzen auffächert: Die eine sucht hinter den Dialogen nach einer durchgängigen philosophischen Systematik Platons. Dies taten letztlich bereits die antiken Neuplatoniker. Im 20. Jahrhundert hat die Tübinger (Gaiser, Krämer) und die Mailänder (Reale) Schule der Platoninterpretation diese Linie fortgesetzt und nach einer »esoterischen« Interpretation gefahndet. Die Dialoge, so heißt es in einer Extremform dieser These, hätten nur protreptischen Charakter. Sie würden also für die Philosophie gewinnen oder vor ihr warnen wollen. Damit wären sie in ihrer Funktion den nicht erhaltenen Dialogen des Aristoteles vergleichbar. Die andere Deutungsschule beruft sich auf die vergleichsweise spärlichen Testimonien dieser »ungeschriebenen Lehre« und auch auf ihren vergleichsweise übersichtlichen und, am Rang der in den Dialogen entwickelten Fragestellung gemessen, dürftigen philosophischen Ertrag. Dies rechtfertigt schon eine Erneuerung der hermeneutischen Lesart. Demgegenüber seien in der verschlüsselten Kunst der Dialoge andeutungsweise und verborgen ganze Welten enthalten. Man müsse sie nur behutsam zutage fördern. In der Struktur und dem Beziehungsreichtum erst erschließe sich auch die Lehre. 43 MeisVgl. dazu ›Kriton‹ und ›Apologie‹. Siehe auch L. Strauss, The City and Man. Chicago 1964. 42 Besonders eindrücklich: Benardete, Socrates’ Second Sailing. On Plato’s Republic. Chicago 1989. 43 Dazu L. Strauss, Studies in Platonic Political Philosophy, a. a. O., siehe auch bereits ders., On a New Interpretation of Plato’s Political Philosophy, in: Social Research 13 (1946), S. 326 ff. 41

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ter dieses Close Readings war im 20. Jahrhundert vor allem Leo Strauss mit seiner Schule, vor allem mit Seth Benardete, der Strauss in der Kunst der ›lectio difficilior‹ teilweise noch übertraf, aber kaum je mehr als einen einzelnen Dialog unter seine Pinzette brachte. 44 Von beiden Deutungsrichtungen kann man sehr viel lernen. Allerdings scheint gegenüber ihren Einseitigkeiten nach wie vor Schleiermachers Diktum beherzigenswert zu sein, dass bei Platon das Esoterische das Exoterische ist und umgekehrt. 45 In den offensichtlichen Mitteilungen der Dialoge seien tiefreichende Hinweise und Ausdeutungen verborgen. Doch erst das Geflecht und die textuellen Interferenzen zwischen den Dialogen ergäben ein Ganzes, das man, ähnlich wie das Ganze einer Religion oder eines Kunstwerks, nicht umfassen, wohl aber ahnen könne. Auch hierauf sollte man allerdings ein platonisches Augenmerk richten: »hinreichend« (hikanon) ist eine Beweisführung erst, wenn sie Einzelnes und Allgemeines miteinander verbinden kann. Kontinuitäten und Differenzen müssen gleichermaßen sichtbar werden. So ergibt sich, in freier Variation eines Goethe-Diktums, eine geprägte Form, die lebend sich entwickelt. Die Problemlage und die Divergenz der Interpreten sind keineswegs zufällig: Platonische Dialoge folgen noch nicht der Architektonik der späteren philosophischen Disziplinen. Diese systematisch tektonische Struktur wird erst mit Aristoteles die bis heute verbindliche Gestalt gewinnen, die man als Theoretische, Praktische und Poietische Philosophie vor dem Hintergrund der Logik und Rhetorik fassen kann. Bei Platon hingegen greifen metaphysische Grundfragen und die Frage, wie man leben soll, öffentlich und persönlich, unmittelbar ineinander, Übung und Erkenntnis bilden einen Komplex. Platon hat indessen zugleich eine der faszinierendsten Denkformen begründet und entwickelt, die philosophisches Denken über Hegel und Marx hinaus in Atem halten wird: die Dialektik. Er hat sie aus inszenierten Dialogen entfaltet. Damit steht und fällt die komplexe Darstellungsweise seines Dialogwerks. Platonisches Denken ist zugleich dieses hoch komplexe Gefüge aus Dialogen, die in der großen Mehrzahl um die Sokratesgestalt Vgl. als besonders eindrückliches Zeugnis ders., On Plato’s ›Symposium‹. München 1991. 45 Dazu auch die methodischen Vorbemerkungen in meiner Habilitationsschrift: H. Seubert, Polis und Nomos. Untersuchungen zu Platons Rechtslehre. Berlin 2005, S. 11 ff. Zu der Positionierung der Unterscheidung des ›Esoterischen‹ vom ›Exoterischen‹ siehe W. Wieland, Platon und die Formen des Wissens, a. a. O., S. 13–95. 44

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kreisen und sie überhaupt erst als Typus des Philosophen inthronisieren. Die frühen Dialoge gewinnen dabei aus einem alltäglichen Anlass die Frage nach dem Wesen einzelner Tugenden und der Orientierung des menschlichen Lebens. Die meisten dieser Frühdialoge enden zunächst aporetisch. Dieselben Fragen nach Besonnenheit oder Tapferkeit werden aber später wieder aufgenommen und vor allem in der ›Politeia‹ erst an ihren richtigen Ort versetzt, zusammengestimmt und miteinander verknüpft. Nietzsche nannte die ›Politeia‹ deshalb ein ›Alluvionsgebilde‹, also gleichsam das Riff, an dem die verschiedenen Denkschichten angelagert und zu einem Gebäude gefügt sind. 46 Faszinierend am platonischen Denken ist, dass bei ihm Argument und poetisch bildliche Rede, Logos und ein neuer, philosophischer Mythos, Dialog und Dialektik in einer Weise ineinander verwoben sind, die in der europäischen Philosophie keine Entsprechung hat. Der Anfang ist mithin zugleich Höhe- und Endpunkt dieser dialogischen Denk- und Darstellungsstruktur. Die These von der »ungeschriebenen Lehre« krankt vor allem daran, dass sie den epochalen Rang dieser Dialoge zu wenig erkennt. Sie sind keineswegs nur Propädeutika, zur Warnung bzw. zur Werbung für die Philosophie bestimmt, so wie die Protreptik anderer Philosophenschulen. Man kann den Rangunterschied unschwer einsehen, wenn man die platonischen Gebilde mit den wenigen überlieferten Dialogfragmenten des Aristoteles vergleicht, die tatsächlich nur diesen protreptischen Charakter haben. Die indirekte Mitteilungsform bringt es aber auch mit sich, dass Platons Denken in seiner Interpretation bis heute strittig ist, und dies nicht an einzelnen Punkten, sondern buchstäblich im Ganzen. Er hat den Dialog als Form und Medium zum frühen Höhepunkt getrieben. In keinem der späteren Lehrgespräche wurde dieser Rang wieder erreicht. 47 Lehrgespräche aus späterer Zeit, wie man sie in virtuoser Form etwa bei Cicero findet, sind Mitteilungsweise und didaktische Einkleidung. Sie sind aber eben nicht selbst Denkbewegungen, die an das Medium des Gesprächs gebunden sind. So wäre es auch nicht plausibel anzunehmen, dass Platons Dialoge eben zufällig Nietzsche, Einführung in das Studium der platonischen Dialoge. WS 1871/72, nach ders. Werke, Musarion-Ausgabe, Band 4, S. 370 f. 47 Dazu V. Hösle, Der philosophische Dialog. Eine Poetik und Hermeneutik. München 2006, insbesondere S. 249 ff., S. 353 ff. und S. 369 ff. Hösles Untersuchungsansatz ist eher systematisch, sodass die singuläre Bedeutung Platons in der Geschichte des Dialoges nur angedeutet wird. 46

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erhalten geblieben sind, so wie es wenig plausibel ist zu meinen, der Hauptbestandteil des Dialogwerks von Aristoteles sei zufällig verloren gegangen. Diese Dialoge erweisen sich, auch wenn man mögliche Vorurteile aufgrund ihrer Klassizität nicht ausschließen kann, als Netz von einer so filigranen Binnen- und Gesamtstruktur, in der künstlerische und philosophische Konzeption sich berühren, Argument und Affekt einander wechselseitig erhellen, dass man sie kaum in den Bereich des Vorläufigen verschieben kann. 48 Demgegenüber sind die Ergebnisse der ›esoterischen Platoninterpretation‹ von viel zu grobem Zuschnitt. Ihr Grundgedanke konzentriert sich auf die Zweiheit der Prinzipien: Eins und unbestimmte Zweiheit. Über das dialektische Grundverfahren enthalten sie aber keinerlei Aussagen. Die Systematizität des platonischen Denkens liegt vielmehr im filigranen Geflecht zwischen den unmittelbaren Gesprächs- und Problemfäden. Die Entzifferung erfordert, mit Nietzsche gesprochen, eine Musikalität des Denkens und Lesens – und sie steht in einer unleugbaren Alterität zu den unterschiedlichen Erwartungen an philosophische Systematik seit Aristoteles und der Scholastik. Man wird die Suche nach dem systematischen Subtext nicht einfach preisgeben dürfen, sollte sie aber im Sinn des schleiermacherhegelschen Paradoxons verstehen, dass das Esoterische das Exoterische der Dialoge ist. Die hermeneutische Platoninterpretation von Hans-Georg Gadamer oder Wolfgang Wieland ist eben dieser Anregung gefolgt. Sie liegt auch diesem Buch zugrunde. 49 Damit ist die Tektonik einer solchen Darstellung noch keineswegs festgelegt. Die esoterische Platoninterpretation und andere systematische Rekonstruktionsansätze erweisen sich dann eher als mehr oder minder klärende Abbreviaturen des Denkens, das in den Dialogen am umfassendsten hervortritt. Die Fußnoten zum Text Platons werden am Ende zumindest kurz gestreift. Arbogast Schmitt stellte vor einigen Jahren die These auf, dass die Kontinuität zum platonischen Denkparadigma in der Moderne grundsätzlich gerissen sei. Augenfällig ist, dass man, so beständig Platon in der europäischen philosophischen Überlieferung

Vgl. Gaiser, Protreptik und Paränese bei Platon. Stuttgart 1959. Vgl. vor allem den Band Gadamer, Plato im Dialog. Griechische Philosophie III. Gesammelte Werke Band 7. Tübingen 1991. Auch dieser Band kann nicht kompensieren, dass Gadamer seine Platon-Monographie nicht verfasst hat, doch er kommt ihr immerhin nahe.

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von mehr als 2000 Jahren präsent war, aus seinem Dialogwerk doch höchst unterschiedliche, ja entgegengesetzte Folgerungen hat ziehen können. 50 Dieses Denken schien zu komplex, um es einigermaßen im Ganzen in Übersicht bringen zu können: Einmal überwog die Zuwendung zu den Mythen, dann zu den Logoi, einmal zur Gottes- und Prinzipienlehre, dann zu Eros, Alchemie und Mystagogie. Heute stehen indes, wie gezeigt wurde, eher ästhetisch-diskursive Deutungen neben argumentationsanalytischen Herauslösungen isolierter Probleme. Nicht zu reden ist dabei von Fehldeutungen, die sich in dem matten, blutleeren Topos der »platonischen Liebe« niederschlagen und in den, zumal von protestantischen Theologen, nach wie vor reflexartig geäußerten Abwehrbewegungen gegenüber jedem »Platonismus«. Auch die schematische Entgegensetzung eines hebräischen, von der jüdischen Bibel ausgehenden und eines platonischen Denkmusters hat hier ihren Ansatz. Wie viele subkutane Berührungen in der Differenz liegen, kann hier nicht entwickelt werden. Immerhin sind einige Hinweise zu skizzieren. 51 Verschiedene Fluchtbewegungen zu einem »Ursprung« oder »Anfang«, der nicht durch die Epistemologie der abendländischen Metaphysik getrübt sein sollte, bestimmten die philosophische Tektonik des 20. Jahrhunderts wesentlich mit. Sie nahmen allerdings in der Regel nicht in erster Linie auf Platon Bezug und setzten sich dem Spannungsfeld seines Denkens nicht, jedenfalls nicht explizit, aus. Nietzsche und Heidegger suchten bei den Vorsokratikern einen Ursprung der Philosophie, sei’s aus dem Geist der Musik im tragischen Zeitalter, sei’s beim anfänglichen Sich-Aussagen der »Aletheia« als der Unverborgenheit. Der späte Foucault und manche, die ihm epigonal folgten, suchten eine umfassende Philosophie der Lebenskunst und Sorge um sich und fanden sie eben nicht bei Platon, sondern bei den Stoikern oder Epikureern. Platons Denken kann – und nichts anderes meint das Diktum von Whitehead im Kern auch – als die erste abendländische und umfassende Kartographie des Verhältnisses von präzise gedachtem Begriff einerseits und Realität andrerseits verstanden werden. Allerdings ist die spätere Philosophie methodisch und in der DarstellungsDazu M. Baltes, Die Weltentstehung des platonischen Timaios nach den antiken Interpreten. Leiden 1976. 51 Diesem Fragezusammenhang werde ich mich in meinen nächsten größeren Arbeitsprojekten zuwenden. 50

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form eher Aristoteles gefolgt als seinem Lehrer. Der anekdotenhafte Ausspruch, den ich einmal von Günther Patzig hörte, Platon sei der Größte, Aristoteles aber der Beste in der Liga der Philosophen gewesen, zeigt das an. Auch dieser Sachverhalt wird wieder an unterschiedlichsten Symptomen erkennbar: Innere Systematizität und die Untersuchung von Einzelproblemen, beides konstitutive Elemente gereifter philosophischer Konzeptionen, sind im Kern auch bereits bei Platon zu finden. Doch sein Dialogwerk ist durch beide Verfahrensweisen nicht zu erschöpfen, und schon gar nicht ist es mit ihnen identisch. Es ist aber auch nicht eine primär aus Überlieferungsgründen fragmentiert und dunkel bleibende Sammlung von Urworten, wie man sie bei den Vorsokratikern finden kann. Solche Leertexte faszinieren schon dadurch, dass man in sie vieles eintragen kann. Indes auch diese Elemente findet man bei Platon noch. Doch man stößt letztlich, wenn man von den Briefen und in ihrer Authentizität umstrittenen anderen Zeugnissen absieht, 52 auf keine thetischen, direkten Selbstaussagen über die Intentionen des Philosophen, man stößt gar nicht auf ihn. Aus der indirekten Mitteilung, aus der Dynamik der Dialoge und oftmals aus Spuren, die zunächst nur dünn angedeutet sind und später aufgenommen werden, muss man sich diesen Zusammenhang allmählich erschließen. Platondeutung ist deshalb selbst ein Faszinosum. Sie ist eine Verbindung von Archäologie und Selbstdenken, mit vielen Zwischenschritten. Die Philosophie ist in der Ausbildung tektonisch fest abgezirkelter Gebiete und Untersuchungsmethoden seit Aristoteles erkennbar einen anderen Weg gegangen als Platon ihn wählte. Auch die Radikalität, mit der Platon Meinung und Schein, in der Folge des Lehrgedichts von Parmenides, zurückwies, nahm Aristoteles erkennbar zurück. Platon wurde also, anders gesagt, zum Inbegriff und Typos philosophischer Denkform, doch nicht unbedingt zu deren Vorbild. So wurde der Ahnherr auch zu dem großen Unbekannten, auf den man immer wieder zurückgreifen konnte und der immer wieder den Thesaurus des Denkens erneuerte. Die großen, spekulativen Spitzen der Philosophie folgen zumindest im Anspruch Platon: In der Wirkungsgeschichte wird dies insbesondere im Neuplatonismus, in der spekulativen Philosophie des Nicolaus Cusanus und in der nachDeshalb kann D. Clay Platon, den derart maßgeblichen und prägenden Denker, als den »silent philosopher« bezeichnen. Vgl. D. Clay, Platonic Questions. Dialogues with the Silent Philosopher. Pennsylvania 2000.

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kantischen Philosophie des deutschen Idealismus sichtbar. Auch ein Nietzsche sah verwundert, dass sein Zarathustra, der doch als eine Gegengestalt zu allem Platonischen konzipiert war, mehr platonisiere, als er selbst es geplant und angenommen habe. Gleichwohl bleibt auch die These von Arbogast Schmitt bedenkenswert und man kann für sie manche Indizien finden. Demnach brach ›die Moderne‹ letztlich die Brücken ab. Ein adäquates Verständnis Platons sei ihr gar nicht mehr möglich gewesen. 53 Dann hätten die verschiedenen Fußnoten nur noch bedingt mit dem Text zu tun. Sie glossierten ihn aus der Not heraus, ihn gar nicht mehr authentisch lesen zu können. Hatte doch selbst Aristoteles damit bereits seine Schwierigkeiten. In den auf einige Knotenpunkte verdichteten Überlegungen zur Wirkung Platons werde ich am Ende auch solchen Asymmetrien Rechnung tragen. Nur andeutungsweise kann aber von der Gegenwart her gefragt werden, welche spekulativen Denkformen, vor allem aus dem asiatischen Einzugsbereich von Hinduismus und Buddhismus, eine Resonanz auf Platon geben können. Seine spätantike Wirkung umfasst ohnedies jüdische, christliche und islamische Kultur. Dies wird für das Fortleben Platons, diesseits und jenseits der Platonismen, von Bedeutung sein. Die Philosophie spricht im 21. Jahrhundert nicht mehr eine Sprache. Sie ist ein west-östliches und nord-südliches Gesamtgefüge. 54 Es könnte heute in Zeiten, in denen auch die Philosophie nicht mehr eine Stimme spricht, ratsam sein, sich den Gedankenbahnen ihres abendländischen Begründers wieder stärker anzunähern: Denn weder gerät man in Orientierung an ihm in die Nähe von raunenden Urszenen, noch kann man sich in scholastischen, dogmatischen Versteinerungen welcher Art auch immer verfangen.

Der äußere Bauplan Damit kann eine knappe Übersicht über die Aufeinanderfolge der Kapitel gegeben werden: Das erste Kapitel thematisiert zunächst Umstände platonischer Philosophie, Platons Vita und ihre KomplexioA. Schmitt, Die Moderne und Platon. Stuttgart 2003. Dies habe ich anfänglich zu exponieren versucht in H. Seubert, Weltphilosophie. Ein Entwurf. Baden-Baden 2016.

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nen. Die Institution der Akademie wird in ihrer Herleitung und Ablösung von der Sokratesgestalt skizziert. Als durchgängiges Gefüge werden dann Platons Mythen aufgewiesen: Sie sagen das in Begriff und Idee Unsagbare aus, das Arrheton. Doch wie kommt das Denken zur Darstellung? Die Sokratesgestalt bietet das Inzitament, den Anfang platonischer Fragebewegung, und sie verweist zugleich in die Mitte der Frage nach dem Wesen der Bestheit. Jenen Texten, in denen der Typus des Sokrates besonders profiliert wird (vor allem ›Apologie‹ und ›Kriton‹), wird deshalb besonders nachgegangen. Das zweite Kapitel widmet sich unter dem anachronistischen Titel des »Sokrates-Evangeliums« den beiden Daseinsmächten von Eros und Tod, denen gegenüber das Inzitament der Idee exponiert wird und eine sublime Aufstiegsbewegung beschreibt. Zeit, das Wechselspiel Werden und Vergehen, wird dabei getilgt und in die Einheit der Idee begründet. Dem ›Symposion‹ – als Verfugung von Eros und Philosophie – wird der Dialog über die Unsterblichkeit der Seele und ihren ideativen Charakter, der ›Phaidon‹ mit seiner nur bis zu Plausibilitäten führenden Argumentation, an die Seite gerückt. Der ›Phaidros‹ ist gleichermaßen als Eros-Dialog, aber auch als platonische Methodenlehre von Gedankenerzeugung und Schrift zu verstehen. Von den Rändern ausgehend, nähert sich dieses Kapitel einer Durchsicht auf die hinter den Propositionen liegende Stimmung platonischen Denkens: Vom eidetischen Zentrum her werden die Felder berührt, denen das Denken sich verdankt (Eros) und die es gefährden (Tod), die aber durch das Denken zu größtmöglicher Sinnklarheit zu bringen sind. Die Anfangsfrage, »Was etwas ist«, und die Suche nach einer situationsinvarianten Begriffsbestimmung der Tugend bestimmen die frühen platonischen Dialoge, denen das dritte Kapitel gewidmet ist. Jene Frühdialoge enden in der Regel aporetisch. Aus sehr konkreten Lebenssituationen und Gesten führen sie in die grundlegende Problematik, wie man leben soll. Die Aporetik entzündet sich an Widersprüchen zwischen den Tugenden, vor allem zwischen Tapferkeit und Besonnenheit. Wenn das Schema der bleibenden Wahrheit nicht gewonnen werden könnte, so bekämen die sophistischen ›dissoi logoi‹ Recht. Mit den Sophisten und der Auseinandersetzung des platonischen Sokrates mit ihnen befasst sich das vierte Kapitel. Sichtbar wird damit auch, dass die sokratische Unterredung eine Befriedung der agonalen, aber logosfeindlichen Stimmung bewirkt. Nicht nur die 34 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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Argumentation, auch die Dramatik, die interlineare Freilegung des Ungesagten bis in Mimik und Gestik hinein, muss berücksichtigt werden, um die epochale Auseinandersetzung zwischen einem radikalisierten Relativismus ewigen Fließens und der Mitte der situationsinvarianten Idee aufzuweisen. Das fünfte Kapitel wendet sich dann der ›Politeia‹ als jenem »Alluvionsgebilde« zu, als das sie Nietzsche bezeichnete, in dem die Linien der frühen Dialoge zusammengeführt und zur Bestimmung der Gerechtigkeit und der Idee des Guten geleitet werden. Man bewegt sich damit gleichsam auf den Gipfel der Betrachtung zu, den die drei Gleichnisse und der Philosophenkönigssatz auch buchtechnisch bezeichnen. Aufstieg zur höchsten Idee und der Rückstieg in die Politie werden dabei in ihrem Wechselverhältnis zur Ansicht gebracht. Der Aufriss der ›Nomoi‹, der Frage nach dem »möglichen Besten«, muss indes der ›Politeia‹ an die Seite gestellt werden. In der Frage, wie die innere Handlung (entos praxis) der Gerechtigkeit und die Idee des Guten sich zu einer begründeten »wahren Meinung« verhalten, kondensiert sich das politisch-philosophische Sokrates-Problem und nötigt zu Revisionen gängiger Bilder des platonischen Idealismus. Das sechste Kapitel zeigt dann, wie die Begründungsstrukturen der platonischen Dialektik die mit dem ›Phaidon‹ gewonnene Ideenkonzeption selbst verflüssigen. Dies ist vielleicht verwunderlich, hatte Hegel doch der antiken Philosophie die Fixierung der Kategorien zugewiesen. Erst die Neuzeit verwickle diese Kategorien wieder und bringe sie in Fluss. Bei Platon zeigt sich, dass dieses Schema zu einfach ist, um ihn zu treffen. Ausgehend von dem bis heute im Ganzen rätselhaften Vexierspiel des ›Parmenides‹, werden die Verflechtungen der großen Gattungen im ›Sophistes‹ dargelegt. Damit nähert sich die Erörterung dem operativen Zentrum des dialektischen Grundverfahrens, das mit hermeneutischen und analytisch-logischen Mitteln freizulegen ist. Auch der Aporetik und dem Nicht-Wissen im ›Theaitetos‹ im Zusammenhang mit der maieutischen Explikation des ›Wissens‹ wird dabei nachgegangen. Schließlich ist die dialektische Frage nach dem ›wahren Staatsmann‹ im ›Politikos‹ zu rekonstruieren. Übergreifend wird nach dem Erkenntnisziel der Dialektik und der Möglichkeit gefragt, aus dem Netz der einzelnen Dialoge eine durchgehende platonische Kategorienlehre zu explizieren. Hier ist daher auch der privilegierte Ort, um mit der These von der »esoterischen« Lehre Platons in ein Zwiegespräch zu kommen. Das Verhältnis von Sprache und Idee im ›Kratylos‹ erlaubt nicht 35 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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nur, die Konstitution der Idee zu erfassen. Es ermöglicht auch einen sprachlich orientierten Gegenblick auf sie: in Konfigurationen, in denen die epochalen Differenzen von Kant einerseits, Herder und Humboldt andrerseits, aber auch die Untiefen eines ›linguistic turn‹ der Philosophie der Moderne vorgeprägt sind. Zu fragen ist mithin, ob und inwieweit sprachliches Verstehen die Idee kontextualisiert oder in ihr aufgehoben ist. Das siebte Kapitel rekonstruiert davon ausgehend die platonische Frage nach dem Kosmos als Urbild der Polis im ›Timaios‹ und nach einem guten Leben für endliche Wesen im ›Philebos‹ ; einem Leben, das aus Natur und Vernunft gemischt sein müsse. Von der Ideenlehre und Dialektik wird hier zwar teilweise ›exzentrisch‹ Gebrauch gemacht: Sie werden im ›Philebos‹ in den »großen Gattungen« vorausgesetzt. Und der ›Timaios‹ ist im Ganzen als Beispiel für jene philosophische Rhetorik zu verstehen, die die Einsicht in die Idee voraussetzt. Die Logik der Mischung hat weiche Ränder; sie lässt sich rein dialektisch nicht erfassen. Sie führt aber zur Exposition des vollkommenen Kunstwerks, des Kosmos, der zugleich Voraussetzung der Ordnung der guten Polis ist. Von der Mitte der Idee nähert sich der Dialog damit dem tieferliegenden Anfang der Chora. Da es sich hier um eine zentrale Frage der Lebensbedeutung der Philosophie handelt, kommen an dieser Stelle zwei Fortschreibungen oder Fußnoten etwas ausführlicher zur Sprache: Der Timaios-Kommentar des jungen Schelling und der Ansatzpunkt der aristotelischen ›Physik‹. Beim gemischten guten Leben findet ebenso wie bei einer dem Tod überlegenen Idee das platonische Denken einen wesentlichen Zielpunkt. Im achten Kapitel werden jeweils knapp Transformationen und Anknüpfungen aus der Wirkungsgeschichte des platonischen Grundtextes europäischer Philosophie resümiert. Hier kann es nicht um eine umfassende Doxographie gehen. Gesucht wird nach dem platonischen, zuweilen, wie bei Nietzsche auch, dem anti-platonischen Angelpunkt. Oftmals zielt er in die Mitte der jeweiligen philosophischen Konstellationen. Der Titel soll sich im Durchgang durch das Ganze bewahrheiten: Anfang, Mitte und Ziel der Philosophie sind in den verschiedenen tektonischen Platten des platonischen Werkes unterschiedlich akzentuiert. Doch niemals ist nur eine Seite präsent. Das Thematischwer36 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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den der drei Grundmodi und ihr Ineinandergreifen bilden daher den impliziten Subtext und inneren Bauplan der folgenden Kapitel.

Anfang, Mitte und Ziel Der platonische Anfang ist kein Uranfang. Er ist artikuliert, abständig und hat komplexe historische und systematische Voraussetzungen. Auch Platon setzt Prätexte voraus: die Vorsokratik und die Sophistik, vor allem aber den Lebensraum der griechischen Polis, auch in Abstoßung und Kritik. Bei ihm realisiert sich der Anfang, stimmungshaft, gleichsam in einem doppelten Sinn: im Sinn des Augenaufschlags freien Denkens und Handelns und der systematischen Frage nach dem Anfang, den es festzumachen gilt, wenn das Wesen des Seienden bestimmt werden soll. Eben dies ist der Sinn der Idee des Guten als höchster Idee. Dieser Anfang ist nicht ein ältestes Altes, das immer Konstrukt bliebe, sondern der eidetische Ursprung. Der Mitte kommt schon in der Architektur platonischer Dialoge oftmals eine maßgebliche, strukturell unübersehbare Bedeutung zu. Die höchste Idee etwa steht in der ›Politeia‹ exakt im buchtechnischen Zentrum des griechischen Textes. Doch die Mitte eines Denkens verweist auch darauf, dass sich der Anfang durchhält und in den Einzelfragen, der Disziplinierung der Begründungsarbeit sowie in den Engpässen des Elenchos erkennbar bleibt. Aber die Mitte hat eine noch tiefere Bedeutung: Es geht um das Zentrum, das in den aporetischen Befragungen der Frühdialoge zuerst umkreist, in der ›Politeia‹ gewonnen und in den Spätdialogen, sowohl dialektisch als auch im Licht von Mischungsverhältnissen, dann wieder in Frage gestellt und so weitergehend geklärt wird. In Rede steht die Position eines situationsinvarianten Wahren, das die Form der höchsten Idee, der ›Idea tou agathou‹, und einer Transzendenz annimmt, aus der in Erkenntnis und Sein der Welt alles hervorgeht, die aber doch selbst »Jenseits des Seienden« (epekeina tes ousias) ist (Politeia 504a5 ff.). Bei Platon stellt sich die eigentümliche Wirkung ein, dass dieses schlechthinnige Prinzip gerade nicht mehr Gegenstand von Begründungen und propositionalen Aussagen werden kann. Damit wird eine fundamentale Spannung ausgetragen, die Spannung zwischen einem endlichen, sterblichen, negativitätssignierten Denken und seiner Möglichkeit, in den nicht-sterblichen Grund einzudringen. Doch kann und darf es dies nicht, wie der ernüchternde Sokrates lehrt, in jähem Auf37 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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schwung und in wahnähnlichen Zuständen tun. Dies bliebe den Dichtern und den Inspirierten vorbehalten. Philosophisch und damit rational möglich ist es nur in der zähen Befragung, in einer Schrittfolge, in der der jeweilige stärkste Gedanke als Wahrheitskriterium erkannt wird, sodass die anderen Logoi an ihm gemessen werden; und möglich ist es, indem nicht das Eine dem Anderen jäh kontrastiert wird, sondern, wie es im ›Philebos‹ heißt, die Intervalle zwischen dem Einen und dem Anderen möglichst vollständig bestimmt werden. Daran erkennt man im Sinn des ›Philebos‹ den »guten Dialektiker«, denjenigen, der die ›orthe philosophia‹ gewinnen kann, die auch für die äußeren Ordnungskonzeptionen in der Polis und der natürlichen Welt von entscheidender Bedeutung ist. Das Ziel und Ende der Philosophie richtet sich auf ihren höchsten Punkt und zugleich ihre Lebensbedeutsamkeit. Dieser Fragekomplex ist keineswegs als Applikation einer gewonnenen Theorie in eine Praxis misszuverstehen. Das Ziel ist insofern ebenso wie die Mitte im Anfang bereits eingeschlossen, was sich ganz elementar darin zeigt, dass die frühen Sokratesdialoge, aber auch spätere Dialoge bei Lebensfragen ihren Ausgang nehmen. Erst am Ende, über den Umweg eines »apex theoriae«, kommt dieser Anfang auf sich selbst zurück: An der Frage nach Daseinsmächten wie Eros und Tod, nach Ordnungsformen wie der Gerechtigkeit oder nach der Weise, wie man ein richtiges Leben führen soll, zeigt sich das Zentrum der Weisheit. Nicht selten muss dabei die Mitte der Philosophie ex-zentrisch verstanden und in Mythos oder andeutende Rede verlassen werden. Anfang, Mitte und Ziel kann man nicht schematisch, aber in interlinearer Rekonstruktion in Dialogen aus allen Phasen und Komplexitätsgraden platonischen Denkens auffinden. Damit verbindet sich die im ›Epilog‹ noch einmal weitergehend zu beschreibende Erwartung, dass diese Strukturverfassung jeder eminenten Philosophie eingeschrieben sein sollte und ihr die Struktur geben müsste. Eine solche je zu entwickelnde systematische Philosophie muss nicht zu einem Platonismus, welcher Art immer, werden, ein vestigium Platonis wird sie aber nicht verkennen lassen. * Schließlich zur Signatur dieses Buches: Ich realisiere damit einen lange gehegten Plan. Meine Habilitationsschrift, 2003 an der Martin Luther-Universität Halle-Wittenberg angenommen, galt ›Platons 38 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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Rechtslehre‹. 55 Obwohl der Blick implizit auf den ›ganzen Platon‹ gerichtet war und die Frage nach dem Recht und Gesetz durch das Dialogwerk verfolgt wurde, musste einiges ausgeklammert bleiben; namentlich die dialektischen Spätdialoge, ›Parmenides‹ und ›Sophistes‹, aber auch die Dialoge, die die Mischung des Werdenden und Vergehenden zur Darstellung bringen, vor allem der ›Philebos‹ – und jener Dialog, der die ungebrochenste Wirkungsgeschichte enthält, der platonische ›Timaios‹. Ich kann sie hier eingehender thematisieren. Das Buch verfolgt indes keineswegs nur einen historischen oder doxographischen Zweck. Es unternimmt auch keine Aktualisierung, die es verantwortlich und sinnvoll nicht geben kann, da sich das frühe 21. Jahrhundert und Platons Zeit grundlegend voneinander unterscheiden. Philosophische Gedanken berühren sich aber diesseits von Aktualitäten oder sie divergieren. Die platonische Denk- und Argumentationsbewegung soll aber mitvollzogen und in ihrer systematischen Bedeutung transparent gemacht werden. Entwickelt wird indes der dialektisch-dialogische und zugleich systematische Anspruch Platons und der Einsatzpunkt des europäischen Beitrags zu einer Weltphilosophie, die Nüchternheit und spekulativen Gedankenflug miteinander verbindet – im Zwischenfeld von Weisheit und Epistemologie. Damit führt Platon auf die grundlegenden Problemata und den Ansatzpunkt philosophischen Denkens selbst. Dies ist die bleibende und tiefliegende Berechtigung des eingangs zitierten whitehead’schen Diktums. Vorbereitungen für dieses Buch waren Vorlesungen zu Platon, die ich seit 2003 an verschiedenen Orten meiner akademischen Lehrtätigkeit, in Halle/Saale, München und Basel gehalten habe. Die Notwendigkeit dieser Arbeit schien mir gleich nach meiner halleschen Habilitation gegeben zu sein. Dennoch sind mehr als zehn Jahre vergangen und einige andere größere Monographien zuvor entstanden, ehe ich diesen Faden wieder aufnehmen konnte. Auch für die Sache des Philosophierens sind mir der platonische Leitfaden und damit auch diese Monographie besonders wichtig. Viele Gespräche in Zustimmung und Kritik haben die Genese des Manuskriptes flankiert. Einzelne Personen möchte ich hier nicht nennen. Zu dicht ist das Rhizom und leicht könnte man jemanden Vgl. Seubert, Polis und Nomos. Untersuchungen zu Platons Rechtslehre. Berlin 2005.

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vergessen, der oder die nicht vergessen werden dürfen. Besonders dankbar schaue ich nach wie vor auf drei inspirierende Platon-Deutungen, die ich im Lauf meines Studiums in Vorlesungen hören konnte, zurück: jene von Werner Beierwaltes (* 1931), jene von Stephan Otto (1931–2010) und jene von Manfred Riedel (1936–2009). Eine besonders dichte Form von zugleich sokratisch bohrendem und platonisch spekulativem Denken war von Rudolph Berlinger (1907– 1997) zu lernen und exemplarisch zu erfahren. Bei der konzentrierten Manuskriptarbeit in den Jahren 2015/16 ging es mir darum, ein Buch zu formen, das dem Kenner Platons etwas sagt, aber auch den tiefer Interessierten zugänglich ist, die sich erstmals mit der platonischen Philosophie auseinandersetzen. Zur Darstellungsweise noch ein Hinweis: Die Hauptkapitel werden durch eine kursivierte, mitunter etwas ausführlichere Überblicksdarstellung eingeleitet. Sie dient der Orientierung, in deren Horizont man sich dann Einzeluntersuchungen und -aspekten zuwenden, ohne die Übersicht zu verlieren. Länge und Ausführlichkeit dieser kursivierten Übersichten variieren deutlich, je nachdem, was mir in der Sache sinnvoll und nötig zu sein schien. Die Zusammenhänge und Verflechtungen, auch die Problemlagen, werden aber im nicht-kursivierten Text entwickelt. Auf allzu viel Forschungsballast habe ich verzichtet. Erkennbar sind die Konturen der Forschungsliteratur aber durchaus; vor allem der Arbeiten, die mich besonders geprägt haben. Manche Freunde sagten mir, ein solches Buch gebe es doch sicher schon in hundertfacher Ausführung. Ich glaube, bei aller Demut, dass dies nicht der Fall ist. Nürnberg, Basel, München im Sommer 2017

Zur Notation: Ich zitiere die platonischen Dialoge unmittelbar nach Nennung bzw. Zitation in Klammern im Text gemäß dem Üblichen, also mit der Stephanuszahl und dem nachfolgenden Buchstaben. Um die Lesbarkeit nicht unnötig zu erschweren, wird die Zeilenzählung innerhalb der jeweiligen Nummer in der Regel nicht angeführt. Dies geschieht nur dort, wo einzelnen Worten oder Ausdrücken besonderes Gewicht zukommt. 40 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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Zitiert wird im Folgenden, soweit nicht anders vermerkt, die Schleiermacher’sche Übersetzung, aufgrund ihrer Abbildung der Satzstrukturen Platons, ihrer Dynamik und Musikalität, nicht zuletzt auch wegen ihrer Klassizität in der deutschsprachigen Philosophie. Terminologische, semantische oder syntaktische Unklarheiten sind fallweise vermerkt worden. Angleichungen an die moderne Rechtschreibung wurden vorgenommen, wobei in der Zeichensetzung und Groß- und Kleinschreibung Abweichungen von den heutigen Regeln beibehalten wurden.

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ERSTES KAPITEL: PLATON UND SEIN SOKRATES

Zunächst werden einige Grundlinien von Platons Leben erinnert. In der antiken Biographik ist das, was faktisch greifbar ist, durch Verklärung oder Polemik überlagert und in jedem Fall inszeniert. Dies gilt auch für die Rekonstruktion der platonischen Akademie. Von besonderer Bedeutung sind indes jene ›Komplexitäten‹, die den Anfangs- und Wendepunktcharakter des platonischen Lebens besonders eindrücklich Profil gewinnen lassen: das Verhältnis zur Sophistik, zu Mythos, Epos und Tragödie; die Avanciertheit des platonischen Denkens, seine relative Modernität im Verhältnis zur Sophistik, der ›Avantgarde modernen Lebens‹, die sich aber nicht den Destruktionen und Krisen des Ungeordneten, wie er es sah, verschrieb. Da für platonische Philosophie die Grenze des dialektisch-begrifflich Erfassbaren und das eigentlich Unsagbare (arrheton) von entscheidender Bedeutung sind, gilt ein eigener Abschnitt Platons Verhältnis zum Mythos und den platonischen Mythen. Sie sind Darstellung der Idee und damit das eminente Beispiel der gereinigten Dichtung, wie sie in Politeia II und III exponiert wird. Die Sokratesgestalt schließlich ist für Platons Ansatz von Wahrheit und Gerechtigkeit schlechterdings paradigmatisch. Deshalb mündet dieses Kapitel in die Rekonstruktion von ›Kriton‹ und ›Apologie‹, in denen der platonische Sokrates seine Lebensform und damit die der Philosophie im Verhältnis zur Polis artikulierte – in einem wirklichen ›Neubeginn der Weltgeschichte‹ (Christian Meier).

I.

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Grundzüge Platon ist 28 Jahre alt, als im Jahr 399 Sokrates »in demokratischer Abstimmung« zum Tode verurteilt wird. Nach dem Sieg in den Per43 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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serkriegen ist Athen zum machtvollen Stadtstaat geworden, nach innen und außen. Ein vielfaches Bündnissystem ist etabliert. Prägend für die Genese des jungen Philosophen ist das perikleische, das klassische Athen. Das Parthenon mit der Artemis des Phidias symbolisiert die politische Macht und die kulturelle Größe der Stadt. Eine offensichtliche Glanzzeit, deren Hervorbringungen man sich bis heute nicht entziehen kann. Aus Gold und Elfenbein wird die Stadtgöttin gebildet. Perikles versammelt einen einflussreichen Freundeskreis aus Geist und Macht um sich: Herodot, Sophokles und Apasia, die einflussreiche Frau des Perikles. Die Rhetorik als Staatskunst des Überredens und Überzeugens blüht. 1 Sokrates, der Platons Leben eine völlig neue Wendung geben sollte, war nicht ohne Kontakt zu jener offiziellen Welt. Apasia gab ihm nach einem apokryphen Zeugnis im ›Menexenos‹ gar Redeunterricht und die Jeunesse dorée wollte von ihm lernen. Deshalb verwundert es nicht, dass der Sokrates des Xenophon 2 primär Inbegriff des guten Bürgers ist: der ›kalos k’agathos aner‹. Ein »historischer Sokrates« aber ist ähnlich schwierig zu fassen wie der »historische Jesus«. Sokrates setzt die Liebe zum Wissen als um seiner selbst willen, ohne alle politische Funktionalisierung ein. 3 Damit wurde er für Platon, den jungen Mann aus erstrangigem Haus, zum gerechtesten Menschen seiner Zeit. Damit wurde er aber auch zum Ärgernis. Durch die Sophisten und die Aufklärungsbewegung innerhalb der Stadtstaaten war so etwas wie eine antike Modernität sichtbar geworden. Die Zäsur war offensichtlich: Hegel hat bemerkt, die Zeit sei nicht mehr danach gewesen, dass der Philosoph, so wie Platon es

Vgl. zu Platons Leben in Angabe der verschiedenen Quellen M. Erler, Philosophie der Antike 2.2. Platon, a. a. O., S. 35 ff. 2 Zur Xenophon-Überlieferung vgl. W. E. Higgins, Xenophon the Athenian. The Problem of the Individual and the Society of the Polis. Albany 1977. Chr. Mueller-Goldingen, Xenophon. Philosophie und Geschichte. Darmstadt 2007, sowie Chr. Tuplin (Hg.), Xenophon and his World. Papers from a conference held in Liverpool in July 1999 (= Historia Einzelschriften, Band 172). Stuttgart 2004. 3 So ist es jedenfalls in der platonischen Sokrates-Legende grundgelegt. Vgl. G. Figal, Sokrates. München 2006, siehe auch K. Döring, Der Sokrates des Aischnes von Sphettos und die Frage nach dem historischen Sokrates, in: Hermes 112 (1984), S. 16 ff. und ders., Sokrates, die Sokratiker und die von ihnen begründeten Traditionen, in: H. Flashar (Hg.), Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie der Antike. Band 2. 1. Basel 1998, S. 139–364, mit genauen Quellenstudien. 1

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im philosophischen Logos ist, unmittelbar Gesetzgeber werde. 4 Dazu wäre ein verbindliches Ethos erforderlich, das im klassischen Griechenland bereits zerfallen war und sich nicht wieder herstellen ließ. Die überlieferte Athener Sittlichkeit ist gewiss eine »Conditio sine qua non« der platonischen Philosophie. Doch noch wesentlicher dürfte es sein, dass sie nicht mehr unmittelbar intakt war. Durch Sophistik und Rhetorik war die Tradition über sich selbst aufgeklärt und zugleich in ihrer unmittelbaren Geltung erodiert. Platon wusste, dass das Überlebte nicht restituierbar war. Es musste in eine andere, gedanklich-begriffliche Signatur übersetzt werden. Platons Leben kann man knapp resümieren, wenn auch nicht gar so knapp, wie es Heidegger mit Aristoteles tat: »Er wurde geboren, arbeitete und starb«. Die Quellen legen das Geburtsdatum Platons zwischen dem Juni 428 und dem Juni 427 nahe, dem Jahr der 108. Olympiade. Als Todesjahr firmiert das Jahr der 88. Olympiade, also 348– 347. Je nachdem wie man die Monate ansetzt, war er bei seinem Tod zwischen 81 und 84 Jahre alt. Durch Vater und Mutter soll er Sprössling einer sehr guten Familie gewesen sein, die sich bis auf den mythischen König Kodros zurückführte (Diog. Laert. III, 1). Die Familie der Mutter war wohl mit der Familie Solons, des paradigmatischen Gesetzgebers Athens, verwandt, doch den Rang eines Staatsmanns hat Platon dem Solon nicht zugebilligt. 5 Im Sinn der antiken Biographik sind die meisten Überlieferungen aus Kindheit und Jugend eher ins mythische Zwielicht zu verweisen, so auch die Mutmaßung, Platon habe ursprünglich wie sein Großvater Aristokles geheißen, sei wegen seiner breiten Stirn (platys) dann umbenannt worden. 6 Wahrscheinlicher ist die andere Überlieferung, dass schon der junge Platon mit philosophischen Schriften in Berührung gekommen sei und sich in die Philosophie versenkt habe. Als Zwanzigjähriger soll er sich Sokrates angeschlossen haben. Der habe in der Nacht vor der ersten Begegnung geträumt, dass ihm ein herrlicher Schwan zufliege. Einen eigenen autobiographischen Bezug enthält immerhin der VII. Brief. Er spricht von Platons zweimaligen politischen AktivitäVgl. G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie II. TheorieWerkausgabe Band 19, S. 11 ff. 5 Vgl. aber die Hochachtung gegenüber Solon in Kritias 112a–b; zu den leicht changierenden Positionen gegenüber der solonischen Isonomie vgl. Chr. Horn u. a. (Hg.), Platon-Handbuch, a. a. O., S. 41 ff. 6 Vgl. Platon-Handbuch, a. a. O., S. 1, siehe auch Erler, Platon, a. a. O., S. 35 ff. 4

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ten, erstmals um das Jahr 404, nach der Niederlage Athens im Peloponnesischen Krieg. Das erste Mal sah er sich der Willkürherrschaft der Dreißig ausgesetzt, die unter Beteiligung seiner Verwandten wütete, das zweite Mal widerte ihn die demokratische Unordnung und Sittenlosigkeit an (VII. Brief, 325b5–c5). Dies führte Platon zu einer grundlegenden Einsicht: Unter ungeklärten Voraussetzungen könne sich die Polis nicht regenerieren. Erforderlich dazu sei, eine ›orthe philosophia‹ zu finden. Nur dann werde das Elend und die Korrumpierung ein Ende haben. Der Philosophenkönigssatz und die Insistenz darauf, den Anfang festzumachen, haben also biographische Wurzeln. Der etwa 40-jährige Platon unternahm dann seine erste sizilische Expedition (VII. Brief, 324a5–6; 326b5–6). Es kam offensichtlich zu Begegnungen mit den im Umkreis von Tarent wirkenden Pythagoreern. Zu Archytas entwickelte sich eine lebenslange Freundschaft. Eine erste Begegnung mit dem Tyrannen Dionysios I. ist in dieser Zeit möglich, aber nicht bezeugt. Eine eigene Tradition berichtet, Platon sei auf der Rückreise, aufgrund von Intrigen des Dionysios, auf einem Sklavenmarkt feilgeboten und von einem Mann in Kyrene freigekauft worden. Ebenso bleiben Berichte im Halbdunkel der Mutmaßung, wonach Platon nach Nordwestafrika und Ägypten weiterreiste. Die Frage, ob Platon in Asien war, gar die spätantike Mutmaßung, er sei dem Propheten Jeremia begegnet und von ihm im Gesetz unterwiesen worden 7 – eine Konstellation, die für das Verhältnis von Athen und Jerusalem eminente Folgen hätte –, lassen sich nicht aufklären. Das mythische Odium liegt in ihrer Natur. Doch in jedem Fall begründen sie eine Faszinationsgeschichte. Seine Akademie soll Platon nach der Rückkehr um das Jahr 387 begründet haben (Diog. Laert. III, 7). Die Erneuerung Athens durch die Fundierung der wahren Philosophie hatte hier ihren Ort. Zugleich war eine Philosophenpolis innerhalb und gegen die öffentliche attische Polis errichtet worden. Der Lebensschock Platons, dass Sokrates, den er als den einzig gerechten Mann und den einzig wahren Staatsmann seiner Zeit begriff, von demokratischen Institutionen und nach den Gesetzen Athens zum Tode verurteilt wurde, machte den Weg einer Damit würde der Jaspers’sche Begriff der Achsenzeit eine ungleich tiefere Dimension gewinnen. Leo Strauss erwog diese These wiederholt. Vgl. u.a ders., On Abravanel’s Philosophical Tendency and Political Teaching (1937), in: Strauss, Gesammelte Schriften Band 2. Philosophie und Gesetz. Frühe Schriften, unter Mitwirkung von Wiebke Meier hg. von Heinrich Meier. Stuttgart, Weimar 1997, S. 195 ff., insbes. S. 207 ff.

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Gegengründung unausweichlich. Die Akademie wurde zur philosophischen Lebensgemeinschaft, zur inneren Polis. Im Jahr 367 kommt es zur zweiten sizilischen Expedition Platons. Nach dem Tod von Dionysios I. hat sein Sohn Dionysios II. den Thron inne, ein junger Tyrann, der als solcher nach dem Wortlaut der ›Nomoi‹ am ehesten zur Umkehr zur möglichen besten Herrschaft zu bewegen sein soll. Die Reise schlug indes fehl. Platon wurde in die Streitereien und Intrigen am Hof hineingezogen (VII. Brief, 327b– 330b). 362 kommt es zu einem letzten Versuch: Dionysios II. hielt sich selbst mittlerweile für einen bedeutenden Philosophen. Diese Fehleinschätzung wirkte sich eher noch desaströser aus als die Ignoranz. Zu einer ernsthaften Beschäftigung mit Platons Denken und mit der Philosophie war er aber noch weniger bereit als in der Zeit seiner Unkenntnis. Platon setzte sich dafür ein, dass Dionysios Dion, der die Verbindung nach Sizilien geknüpft hatte, 8 aus der Verbannung zurückholen sollte. Dion erklärte Dionysios den Krieg. Platon unterstützte diese Aktion nicht, die Dion zwar kurzzeitig an die Macht brachte, längerfristig aber zu seinem Untergang und seiner Ermordung führte. Auch dieses Rendezvous mit der Macht endete im Desaster. In der äußeren Geschichte Athens wird Platons Lebenszeit durch den Peloponnesischen Krieg (431–404) einerseits, andrerseits durch den allmählichen Aufstieg Makedoniens unter Philipp II. flankiert. Die Zeit war nicht zuletzt durch den Antagonismus zwischen Sparta auf der einen und einer Koalition zwischen Theben und Athen auf der anderen Seite bestimmt, der später Argos und Korinth beitraten. 9 Auch der sozialgeschichtliche Hintergrund ist kurz anzuleuchten: Seinerzeit lebten in Athen wohl um die 60.000 Bürger, 25.000 Metöken und 25.000 privat gehaltene Sklaven. Insgesamt hatte die Polis also eine beträchtliche Größe von ca. 155.000 Einwohnern. Es ist zugleich die große Epoche der attischen Klassik, eine Blütezeit in Baukunst, Dichtung und Musik, in der die großen Werke von Phidias im Vgl. dazu Platon-Handbuch, a. a. O., S. 2 ff., siehe auch K. Trampedach, Platon, die Akademie und die zeitgenössische Politik. Stuttgart 1994. Zu den sizilischen Verwerfungen vgl. auch Berve, Dion. Wiesbaden 1957 und ders., Dion: Der Versuch der Verwirklichung platonischen Staatsgedankens, in: Historische Zeitschrift 184 (1957), S. 1 ff. 9 Siehe zu diesen Hintergründen neben Trampedach auch: P. Scholz, Der Philosoph und die Politik. Die Ausbildung der philosophischen Lebensform und die Entwicklung des Verhältnisses von Philosophie und Politik im 4. und 3. Jh. v. Chr. Stuttgart 1998. 8

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Rahmen des Bauprogramms des Perikles entstehen. Durch den Peloponnesischen Krieg und die Niederlage waren vielfache Rückschläge zu verzeichnen, dennoch ging die Umgestaltung Athens, die bis heute sein antikes Erscheinungsbild vom Parthenon über die Propyläen, den Niketempel und das Erechtheion prägt, weiter. 10 Die Situation im Inneren war instabil und von vielen Brüchen durchzogen. Immer wieder kam daher die Frage auf, die noch Aristoteles beschäftigen wird, ob man denn noch von einer Polis sprechen könne oder ob es nicht vielmehr zwei seien, bedingt durch Aufstand (stasis) und Spaltung. Die Metöken, die primär als Handwerker, aber auch als Landwirte und Händler tätig waren, konnten unter Umständen einen erheblichen Wohlstand gewinnen. Die wohlhabenden Vollbürger indes, die in den Sokratesdialogen auftreten und mit denen Platon persönlichen Umgang hatte, konnten sich ganz dem politischen Geschehen widmen. Platon deutet jedoch ihnen gegenüber an, dass die Zuwendung zur Philosophie der Wendung zur Polis eindeutig vorzuziehen sei. Die Arbeit im Haus (oikos) wurde von Sklaven besorgt; ein Umstand, den weder Platon noch andere bedeutende griechische Denker in Frage stellten. Wenn man einzelne Elemente der Sozialstruktur des zeitgenössischen Athen, aber auch anderer Poleis an Platons politischem Denken insbesondere in der ›Politeia‹ misst, so wird der atopische Charakter zahlreicher Bestimmungen der ›Politeia‹ deutlich: Frauen wurden im Haus erzogen, sie hatten im öffentlichen Raum keine Partizipationsrechte. Platon betonte indessen im V. Buch der ›Politeia‹, dass die Paideia und die öffentliche Rolle für beide Geschlechter gleichermaßen gelten sollten. Lediglich hinsichtlich der physischen Kräfte seien Zugeständnisse zu machen. Was die Erziehung (paideia) betrifft, die für die platonische Seelenlehre und damit auch für den Polisbegriff eine zentrale Rolle spielt, so kann man in der idealtypischen Form, in der die damalige Jeunesse dorée erzogen wurde, durchaus Analogien zu dem PaideiaProgramm Platons erkennen. Die Jugendlichen erhielten Musik- und

Vgl. zu den realhistorischen Hintergründen: Platon-Handbuch, a. a. O., S. 10 ff. Siehe dazu auch M. Stahl, Gesellschaft und Staat bei den Griechen. Band II. Klassische Zeit. Paderborn 2003. Siehe auch A. W. Gomme, The Population of Athens in the Fifth and Fourth Centuries B.C. Oxford 1933. Für das Kolorit: J. Travlos, Bildlexikon zur Topographie des antiken Athen. Tübingen 1971.

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Sportunterricht. Ihre Lektüre war, sobald sie lesen konnten, an der Dichtkunst orientiert. »Sobald die Kinder lesen und schreiben gelernt haben und zu erwarten ist, dass sie das Geschriebene verstehen […], legen die Lehrer ihnen auf ihren Bänken Werke der großen Dichter zum Lesen vor und zwingen sie, daraus auswendig zu lernen. In diesen Werken sind viele Zurechtweisungen enthalten, aber auch viele Loberhebungen und Verherrlichungen vortrefflicher Männer der alten Zeit, damit sie der Knabe eifrig nachahmt und danach strebt, genauso zu werden« (Protagoras 325e–326a). 11

Dies ist eine an Exempla orientierte Pädagogik, die also keineswegs erst bei den Römern im Sinn ihres Traditionalismus und der Orientierung an der mos maiorum aufkam. Platon wird demgegenüber eine an der Bestheit orientierte Paideia entwickeln. Deshalb kann er auch festhalten, dass philosophische Texte wie seine ›Nomoi‹ als wahre Dichtkunst den Jugendlichen als erste Lektüre präsentiert werden sollten. Diese neue Paideia-Konzeption wird mit einer Katharsis der alten Mythen und Kritik an den Dichtungen verbunden sein, die bei Homer und Hesiod mit diesem Mythos verschränkt sind. Die antike Platon-Biographik kennt vielfältige, mitunter mythologisch grell bunte Quellen: So gibt es neben den hagiographischen Motiven wie der außergewöhnlichen Begabung des jungen Platon, dem Geistflug des jungen und des reifen Mannes 12 und dem Schwanensinnbild auch Überlieferungen, die Platon ganz und gar nicht wohlwollen. In diesem Zusammenhang wird von einer weniger edlen Geburt auf der Insel Ägina berichtet (Diog. Laert. III, 3), die nicht mit der offiziellen Herkunftslegende übereinstimmt. Über seine Position im Kreis der Sokrates-Schüler erfährt man von Hegesandros (2. Jhd. v. Chr.) eher Negatives. 13 Platon soll nach dem Tod des Sokrates mit zu großer Arroganz aufgetreten sein. Die Trauer und Niedergeschlagenheit der anderen Sokratesfreunde habe er nicht gelten lassen und ihnen gesagt, er selbst könne die Schule leiten, wobei es einen Schulverbund im engeren Sinn zur Zeit von Sokrates’ Tod noch nicht gab. Apollodor, der auch im ›Phaidon‹ auftritt (Phaidon 59b und 117d) habe erwidert: »Lieber hätte ich von Sokrates den Giftbecher genomVgl. zur Ikonographie: C. Reinsberg, Ehe, Hetärentum und Knabenliebe im antiken Griechenland. München 1989. 12 Vgl. dazu die Sammlung A. S. Riginos, Platonica. The Anecdotes Concerning the Life and Writings of Plato. Leiden 1976. 13 Angeführt nach Platon-Handbuch, a. a. O., S. 15. 11

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men als von dir einen Zutrunk.« Wie dem auch sei, gänzliches Misstrauen verdienen die antiken Zeugnisse nicht. Besonders nahe an einer authentischen Überlieferung ist Neanthes aus Kyzikos, der immerhin noch Personen befragte, die Platon unmittelbar kannten: 14 Dies ergibt eine Bezeugungsnähe, wie sie beispielsweise bei einer religionsgeschichtlichen Gestalt ersten Ranges wie Mohammed nicht gegeben ist. Die Todesberichte zeigen wenig hagiographische Züge. Eher ist in ihnen eine entzaubernde Tendenz zu erkennen. Eine häufig genannte Todesursache ist die Läusesucht, anderen Zeugnissen zufolge soll Platon bei einer Hochzeit gestorben sein, oder aus Scham, weil er eine Frage nicht habe beantworten können. 15 Dieses Motiv wird indes auch in Bezug auf Homer überliefert. Im Schreiben oder im Schlaf oder im Fieber Musik hörend, die heilsame Wirkungen hätte haben sollen, aber einen falschen Rhythmus annahm, sei er gestorben: So wollen es weitere Varianten. 16 Es ist auffällig, dass man aus ihnen jeweils eine Unstimmigkeit zwischen Leben und Denken ablesen kann: Die Schriftkritik macht einen schreibenden Platon nicht zum idealtypischen Philosophen, den Schlaf soll er sonst gemieden und sich sogar einen Wecker, eine Art Wasseruhr, konstruiert haben – die Heilsamkeit des Rhythmus spielt in Platons Paideia-Lehre eine entscheidende Rolle. Ein exemplarisches und vorbildhaftes Sterben jedenfalls, wie das des Sokrates, wurde seinem größten Schüler nicht zugeschrieben. Es gibt gewiss bis in die Ikonographie hinein idealisierende Platon-Bilder. Doch sie sind brüchiger als die Sokrates-Bilder. Platon ist nicht ein Typos. Der Philosoph tritt vielmehr ganz hinter sein Dialogwerk zurück, er wird gleichsam unsichtbar. Was von den Vielen über ihn berichtet wird, neigt demgegenüber zur Verzerrung: So jedenfalls könnte man diese Zeugnisse verstehen. Neanthes soll Platon in seiner Schrift ›Über berühmte Männer‹ (Peri endoxon andron) ausführlich porträtiert haben. Vgl. im Blick auf Platons sich in unterschiedlichen Versionen verlierendes Lebensende auch Philodem, Acad hist. Col 2, 38–5, 21. Vgl. Düring, Sokrates, die Sokratiker und die von ihnen begründeten Traditionen, a. a. O., pass. Siehe auch W. Burkert, Platon in Nahaufnahme. Ein Buch aus Herculaneum. Stuttgart, Leipzig 1993. 15 Eine gute Übersicht über die verschiedenen Variationen bei Erler, a. a. O., S. 56 ff. Zur Quellenkritik auch W. Burkert, Neanthes von Kyzikos über Platon, in: Museum Helveticum 57 (2000), S. 76 ff. und L. Brisson, Diogène Laerce. Vies et doctrines des philosophes illustres. Livre III. Structure et contenu, in: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt III 36.5 (1992), S. 3619–3760. 16 Erler ibid. 14

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Dass ein Residuum von Legende geblieben ist, ist nicht zu übersehen: Antike Quellen berichten auch, Platon sei am Tag des Apoll geboren worden und gestorben. 17 Die Gottheit des Einen, das das Viele auf seinen einen Grund führt, wäre dann in besonderem Maß über seinem Leben wirksam gewesen. So berichtet auch Diogenes Laertius (Diog. Laert. III, 45) von einer sehr spezifischen, in Apoll begründeten Genealogie: »Phoibos zeugte den Sterblichen Asklepios und Platon. Diesen, damit er die Seele, jenen, damit er den Leib rette.« 18 Die von Platon vielfach aufgerufene Analogie zwischen Medizin und Philosophie kommt damit in einer starken Analogie zu ihrem Recht. Dass sich der Philosoph nicht auf die Politik einlassen solle, wird in einem anderen Testimonium festgeschrieben. Das am meisten genannte Lebensalter Platons, 81, wird darin in einem mathematischen Spiel als Selbstmultiplikation der Zahl der Musen, also der Neunzahl, verstanden. Die 9 selbst ist als Potenz von 3 zu verstehen. 3 sei die erste eigentliche Zahl deshalb, weil sie Anfang, Mitte und Ende (Ziel) in sich habe, 19 und die 81 sei daher die Potenz der Potenz: »dynamodynamis«. Darauf folgt aber eine zweite, eher narrative Beschreibung: »Man kann aber auch aus dem, was nach seinem Leben geschah, sein göttliches Wesen erkennen. Jedenfalls ging eine Frau fort, um das Orakel zu befragen, ob man sein Standbild unter die Standbilder der Götter einreihen solle. Der Gott tat daraufhin dies kund: ›Wenn du Platon, den Lehrer von göttergleichem Ruhm, ehrst, handelst du gut, und es wird dir dies mit der edlen Gunst der Glückseligen vergolten werden, unter die jener Mann zu zählen ist.‹« 20

Anfang, Mitte und Ziel werden damit schon im Zahlenspiel aufgerufen. Die Göttlichkeit Platons – immer wieder ist sie evoziert worden. Etwa von Hölderlin, der die Spannung von Gedanke und Dichtungsenthusiasmus bei Platon suchte – und zugleich gegen dogmatische Platoniker festhielt, man habe sehr gegen ihn gesündigt.

So die Biographie eines Anonymus der ›Prolegomena zu Platons Philosophie‹, 6. Jh. nach Christus, zitiert nach Platon-Handbuch, a. a. O., S. 16. 18 Zur Diognes Laertius-Kritik wieder Brisson, a. a. O. Ebenso J. Mejer, Diogenes Laertius and the transmission of Greek philosophy, in: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt II 36.5 (1992), S. 3556–3602. 19 Eine Trias, auf die auch der Titel des vorliegenden Buches anspielt. 20 Platon-Handbuch ibid. 17

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Platonische Komplexitäten Platons großes Dialogwerk und die Testimonien, die seine esoterische Lehre dokumentieren, bilden eine komplexe Ganzheit, einen im Einzelnen kaum zu überschauenden Zusammenhang, der die Summe aus der attischen Sittlichkeit, ihrem Ethos und ihrer Kunst und Kultur zieht und zugleich ungeheure Begründungsleistungen erbringt, auf die spätere Philosophenschulen, im Sinne des Whitehead-Diktums in Zustimmung und Gegnerschaft, Bezug nehmen können. Es scheint nicht sinnvoll, die verschiedenen Fäden dieser Komplexion an dieser Stelle analytisch zu trennen und im Einzelnen zu bezeichnen. Dies wird viel sinnvoller dort geschehen, wo solche Zusammenhänge an einem Dialog oder einem Problem benannt werden können. Lediglich ein exemplarischer Vorblick scheint möglich und sinnvoll. Allzu offensichtlich ist, dass die griechische Religionsgeschichte, namentlich die Mysterien und ihr Ausgriff auf eine unbekannte Gottheit, neben Sophistik und Rhetorik bei Platon präsent ist. Auch die Tragödie, das ›palaion drama‹, das erstmals in Platons Lebenszeit nach den alten Texten wiederholt aufgeführt wurde, 21 ist in seinen Einsichten in die Unerlöstheit und schuldlose Schuld gegenwärtig. Das Geflecht der platonische Dialoge versteht sich als Denkdrama: als wahre Tragödie. Wie sonst nur die christliche Erlösungserwartung antwortet Platon damit auf die menschliche Abgründigkeit, die die Tragödie aufgewiesen hatte. Und nicht zuletzt artikuliert Platons Sokrates die Forderung, dass ein und derselbe Dichter Tragödien und Komödien schreiben können sollte: im ›Symposion‹ gibt er, wie wir sehen werden, davon ein Beispiel, ein seltenes, denn allzu oft ist dieser Versuch nicht nachgeahmt worden. 22 Schon gar nicht mit Erfolg. Das Epos, Homer und Hesiod, ist hingegen eher zitatweise gegenwärtig, als Gegenbild der Dichter-Lügen, denen die wahre PhiVgl. pars pro toto aus der sehr reichen Literatur W. Schadewaldt, Die griechische Tragödie. Tübinger Vorlesungen Band 4. Frankfurt/Main 31996 und Chr. Meier, Die politische Kunst der griechischen Tragödie. München 1988. Ferner A. von Schirnding, Maske und Mythos. Die Welt der griechischen Tragödie. München 1991. Siehe auch die hervorragende Darstellung bei H. Ottmann, Geschichte des politischen Denkens. Band 1/1. Die Griechen. Von Homer bis Sokrates. Stuttgart 2001, zur Tragödie S. 280 ff. 22 Vgl. dazu den älteren Aufsatz H. Kuhn, The True Tragedy. On the Relationship between Greek Tragedy and Plato, in: Harvard Studies in Classical Philology 52 (1941/42), S. 1 ff. Siehe auch R. A. Patterson, The Platonic Art of Comedy and Tragedy, in: Philosophy and Literature 6 (1982), S. 76 ff. 21

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Platons Leben

losophie zu antworten hat. Den Homer und die Seinen, unter Aufbietung hoher Achtungsbezeigungen, aus der Polis zu vertreiben, ist Voraussetzung dafür, die wahre Dichtkunst zu etablieren. Diese Dichterkritik ist aber, wie die Nachwelt nicht müde wird zu zeigen, auch ein barbarischer und tendenziell totalitärer Akt; und es ist einer der einleuchtendsten Einwände gegen die Ideal-Polis, dass in ihr die nicht-philosophischen Musen schweigen müssen. Bei Platon ist »das Göttliche« bzw. »der Gott« immer wieder im philosophischen Argumentationsgang präsent. Der platonische Logos votiert zwar nachhaltig für die apollinische Einheit und Nüchternheit. Doch die Lust am Erkennen entfaltet sich geradezu als Jubel und Lust an der Erkenntnis und wird wiederholt mit der dionysischen Grundstimmung gleichgesetzt. Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, 23 namentlich die Spannung zwischen Parmenides’ Einem und Heraklits palintropos harmonia, der Fügung der Gegensätze, aber auch die unzureichenden Ansätze, aus der verborgenen Natur (physis) und einzelnen ihrer Elemente eine Aitiologie des Seienden im Ganzen zu gewinnen, scheint neben den pythagoreischen Lehrreden im ›Timaios‹ oder im ›Phaidon‹ fast überall wieder auf. Es hat nicht nur doxographische Bedeutung, wie später bei Aristoteles, der die Meinungen der Früheren referiert und sich mit ihrer Sachgerechtigkeit auseinandersetzt. Bis in die Bildreden der sokratischen Ironie sind diese Bezüge gegenwärtig. Ganz zu schweigen von den größeren und kleineren Figuren, die in Platons Dialogwerk eingehen: den tatsächlichen und vermeintlichen Meistern und Wissenden der Zeit, Damon, dem Musikmeister, oder Phidias und den Staatsmännern, die der platonische Sokrates freilich nicht anerkennt. Wichtig für den Hintergrund der Dialoge sind die vielen Gesprächspartner des Sokrates, die keineswegs leere Hüllen sind, sondern meist lebendige Gestalten, sympathisch und weniger sympathisch, in ihren menschlich-allzumenschlichen Verhaltensweisen klar fassbar und mehr oder minder fixierbar in einer Prosopographie mit historischen Anhaltspunkten. 24 Den jungen Charmides, einen

So bekanntlich der treffende Titel von Nietzsches früher Schrift: KSA 1, S. 801– 872. 24 Vgl. über die Porträtkunst und die Realitätsverwandlung sehr instruktiv: Erler, Platon, a. a. O., S. 60–99. Diese Detailanalysen zur platonischen Schreibkunst sind hier nicht zu wiederholen. Vgl. M. Frede, Plato’s Arguments and the Dialogue Form, 23

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philosophisch eher mäßigen Kopf, aber einen Besonnenen, der nach der Legende diese Besonnenheit bis in den Tod ausstrahlte, wird man ebenso wenig vergessen wie den rechthaberischen, in Konventionen befangenen Theologen Euthyphron oder den träumend nach der Wahrheit ausgreifenden Theätet, der optisch Sokrates so sehr ähnelt, dass der eine mit dem anderen verwechselt werden könnte. Auftauchen und Wiederkehr dieser Personen in den verschiedenen Dialogen können den Status von angedeuteten Argumenten haben. Sie geben zugleich Couleur, Stimmung, und sie haben Leitmotivcharakter, erlauben ein Wiedererkennen. 25 Wenn eine Person in verschiedenen Dialogen ihren Auftritt hat, sollte man auch auf den philosophischen Skopus besonderes Augenmerk richten, der sich damit verbindet: Keineswegs aber signalisiert eine Person immer Identisches. Ihr Auftritt in verschiedenen Dialogen kann Kontinuität, Wechsel, sogar eine vollkommene Revision einer Position und Frage bedeuten. Eine Topologie dieser Personen, eine Art Atlas zu den platonischen Dialogen, bleibt ein Desiderat. Diese Personen haben ein Eigenleben, sie weisen dabei unterschiedliche Nähe und Ferne zu historisch fassbaren Gestalten auf. Ein Euthydemos ist nicht greifbar, ein Protagoras oder Gorgias durchaus, wenn auch nicht zuletzt durch das Bild in Platons Dialogen, das immer komplexer und mehrschichtiger ist als das in anderen Zeugnissen, und meist auch als das in den nicht über Platon überlieferten Zeugnissen ihrer Schriften. Ein Alkibiades ist eine historisch überaus wirksame Person, ein Tyrann mit fragwürdigem Odium. Platon versetzt sie alle indes in andere Kontexte und Situationen. Er bringt Personen wie den Alkibiades in das Umfeld des Sokrates, und dadurch kommen sie zur Kenntlichkeit. Bezeichnenderweise entwickelt gerade der Alkibiades im ›Symposion‹ eines der überzeugendsten Sokratesporträts. Sie alle werden verfremdet und sind damit in: J. Klagge, N. Smith (Hg.), Methods of Interpreting Plato and his Dialogues. Oxford 1992, S. 201 ff. 25 Diesen von Richard Wagner und Thomas Mann geprägten Begriff suchte mir mein unvergesslicher Lehrer Manfred Riedel während der Arbeit an meiner Habilitationsschrift auszureden. Zunächst mit Erfolg. Dies sei eben eine Kategorie der Ästhetik der Moderne. Wenn ich, wie es hier erforderlich scheint, die Schreibart Platons pointieren möchte, komme ich dennoch auf diesen Topos zurück. Vgl. auch in eine ähnliche Richtung gehend V. Hösle, Wie interpretiert man philosophische Dialoge?, in: ders., Platon interpretieren. Paderborn, München, Wien, Zürich 2004, S. 55 ff. Siehe auch ders., Der philosophische Dialog. Eine Poetik und Hermeneutik. München 2006.

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Akademie

Symbola und zugleich sie selbst. Sie sind es und sind es nicht: eine bestrickende Vieldimensionalität, die es sonst in der philosophischen Weltliteratur nicht gibt. Platons Fähigkeit, dieser Porträtkunst mit wenigen Strichen zu genügen, wird bei jedem Close Reading Bewunderung auslösen. Platon zu lesen verlangt deshalb, wie Nietzsche in anderem Zusammenhang meinte, 26 eine gewisse Musikalität, eine langsame Lektüre, die zugleich Hören ist. Der epistemischen Argumentationsanalyse ist damit keineswegs ihre Bedeutung abgesprochen, doch sie erschöpft die Komplexität der platonischen Textur bei weitem nicht. Es ist nicht bedeutungslos, in welches Textmilieu sich Argumente einzeichnen. Platon hat indirekt, in den Worten seines Sokrates, eine Legende gestiftet. Es ist die Legende von dem einzig Gerechten in der Stadt, der keineswegs nur ein vorbildlicher Bürger ist. Als solcher ging Sokrates über Xenophon in das nicht-philosophische Gedächtnis Athens ein. Bei Platon wird er aber vielmehr zum »göttlichen Mann«, der den Ideenfunken auf die Erde holt, zu dem, der in größter Nähe zu den Daseinsmächten Eros und Tod sein Denken stiftet. 27 Mit dem Elenchos, den Dialogen des Mannes Sokrates auf den Straßen Athens, wie man ihn bei Xenophon oder hoch ironisch in Aristophanes’ ›Wolken‹ greifen kann, hat dies vordergründig nur wenig zu tun. Auch die Distanz zu Platons eigenen aporetischen Frühdialogen ist bemerkenswert. Vergleiche zu dem theologischen Verhältnis zwischen dem »historischen Jesus« und dem »kerygmatischen Christus« sind deshalb immer wieder angestellt worden. Die Kontinuität des eigenen platonischen Denkens zu dem verklärten Sokrates-Bild ist offensichtlich. Dieser Sokrates ist das Zielbild der exemplarischen Wahrheit und Weisheit.

II.

Akademie

Die Akademie war die genuine institutionelle Lebensform platonischen Philosophierens. Platon fand und begründete diesen Bios, während Sokrates’ Gespräche im öffentlichen Raum der Stadt Athen Vgl. z. B. Nietzsche, Vorrede zur Genealogie der Moral, KSA 5, S. 255 ff. So bildet sich die platonische Philosophie insbesondere im Gegenüber zu Eros und Tod aus. Dazu weiter unten. Siehe dazu auch die meisterliche Studie, in der Art der Leo Strauss-Schule, von S. Benardete, The Tragedy and Comedy of Life. Plato’s ›Philebos. Chicago 1993.

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stattgefunden hatten. Nicht zuletzt durch die Wandlungen im Umgang miteinander veränderte sich auch das Philosophieren selbst. Bei Sokrates war es das Gespräch auf der Agora und auf anderen Plätzen und Straßen gewesen, zumeist mit jüngeren Männern in seinem Umkreis. In der Akademie verliert sich das Zufällige, Spontane und wird zur Unterweisung. Die Akademie wurde auf dem Gelände außerhalb Athens angelegt, das schon lange zuvor nach dem Heros Hekademos (oder Akademos) benannt gewesen war. 28 Platon hatte das Grundstück aus eigenen Geldmitteln wohl im Jahre 387 erworben. Die Gründung war offenbar eine bewusste Gegengründung zur Rhetorikschule des Isokrates. 29 Rechtlich war sie ein ›Thiasos‹, 30 ein Verbund um einen kultischen Ort. Das Hieratische blieb bestimmend. Platon ließ auf dem Gelände auch ein Museion, ein Musenheiligtum, errichten. Dort wurden regelmäßig Musenopfer dargebracht. Kunst, Religion und Philosophie stehen also in einem lebendigen, nicht nur metaphorischen Zusammenhang. Der landschaftliche Reiz dürfte durch die Nähe zum Fluss Kephisos noch verstärkt worden sein. Es ist anzunehmen, dass sich die Herkunft aus dem Kult auch im konkreten Umgang und in der Lehrmethode spiegelte. Die Akademie war Ort einer rationalen Initiation. Dem sokratischen Vorbild folgte die platonische Akademie, da auch in ihr kostenlos gelehrt wurde, sehr im Unterschied zu den Rhetorikschulen. Die Schüler mussten allerdings ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten, weshalb bevorzugt Söhne aus den Elitefamilien in die Akademie kamen. Diese Kreise waren freilich auch Sokrates’ bevorzugte Gesprächspartner gewesen. Platon scheint zur Unterhaltung der Akademie einen beträchtlichen Teil seines ererbten Vermögens aufgewendet zu haben: 31 In diesem pekuniären Zugang wurde die Umkehr der sophistischen Methode

Vgl. dazu Erler, Platon, a. a. O., S. 338 ff. Siehe auch K. Döring, Platons Garten, sein Haus, das Museion und die Stätten der Lehrtätigkeit Platons, in: F. Alese u. a. (Hg.), Anthropine sophia. Studi di filologia e storiografia filosofica in memoria di Gabriele Giannantoni. Neapel 2008. 29 Wesentliche Informationen dazu neben den genannten großen Werken von Erler und Döring, a. a. O. bei M. Schwartz, Der philosophische bios bei Platon. Zur Einheit von philosophischem und gutem Leben. Freiburg/Br., München 2013, S. 33 ff. 30 Dazu Diog. Laert. IV, 2; Vgl. auch M. Baltes, Plato’s School, the Academy, in: A. Hüffmeier (Hg.), Dianoemata. Kleine Schriften zu Platon und zum Platonismus. Stuttgart 1999, S. 249 ff. Siehe auch P. Scholz, Der Philosoph und die Politik, a. a. O., S. 48 ff. 31 Ibid. 28

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offensichtlich. Die Sophisten hatten nämlich ganz im Gegensatz dazu mit ihrer Unterweisungsmethode Vermögen verdient. 32 Die Unterweisungen, Gespräche und Lehrvorträge fanden in den Räumen des Gymnasiums, aber auch im Garten statt. Nicht zuletzt diente für vermutlich besonders intensive Unterweisungen das nur ein Zimmer umfassende Wohnhaus Platons. In diesem engen Rahmen kam es zu einem regelmäßigen Austausch, zum gemeinsamen Leben, der philosophischen Synousia. In der Zeit, in der Polemon als Schulhaupt wirkte (314/13–270/69), ist eine eigene Exedra, eine Art Vorlesungshaus auf dem Gelände, bezeugt. Ob sie schon zu Platons Zeit existierte, ist unklar. Ebenso ist nicht bezeugt, ob das Bildnis Platons, das sein persischer Verehrer Mithradates aufstellen ließ, schon zu Lebzeiten Platons oder erst nach seinem Tod in der Akademie zu finden war. Die Synousia, das philosophisch freundschaftliche Verhältnis, verstand sich nicht von selbst. Es bildete die Grundlage der philosophischen Polis. So kannte die Freundschaft feine Abstufungen und Hierarchien. Zum Freund (philos) Platons musste man erst werden. Offensichtlich war dies den fortgeschrittenen Hörern (akroates) bzw. Lernenden (mathetes) vorbehalten, die dann in den Rang von Gefährten (hetairoi) und Freunden (philoi) aufrückten. Die Absonderung gegenüber den anderen Polisbürgern war sprichwörtlich, teilweise auch die Arroganz der Angehörigen der Akademie. Dennoch scheinen Verbindlichkeit und Bindung an den Lehrer geringer gewesen zu sein als bei den Pythagoreern. Einen Kult des Lehrers gab es nicht. Markant treten die Differenzen zu den Stadtbürgern immer wieder hervor. Die Mitglieder der platonischen Akademie galten als hochmütig und distanziert. Einer von ihnen, Pontikos, wurde mit dem Namen ›Pompikos‹, der Pompöse, betitelt. Die innere Philosophenstadt gab sich faktisch also als die bessere Polis aus, sie war weniger normative Nebengründung als Gegengründung. Der esoterische Charakter der Akademie schlägt auch in der Quellenüberlieferung durch: Bis heute wissen wir kaum, was konkret gelehrt und besprochen wurde, wenn man vom Zeugnis des großen platonischen Lehrvortrags ›T’Agathou‹ absieht, der ein Licht auf die Über die vermutlich wochenlange, während der Niederschrift seiner Dialoge anhaltende völlige Kontemplation und den Rückzug Platons die Darlegungen bei H. Niehues-Pröbsting, Die antike Philosophie. Schrift, Schule, Lebensform. Frankfurt/Main 2004.

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esoterische Prinzipienlehre wirft. 33 Die Anekdote um diesen Lehrvortrag zeigt das Überraschende und Düpierende der platonischen Philosophie exemplarisch an, das zumindest dort zutage trat, wo sie einmal stadtöffentlich wurde. Angeblich hatte sich das Auditorium zunächst mit Hörern gefüllt, die sich Aufklärung über die großen Lebensfragen erhofften. Als Platon aber tatsächlich eine mathematische Prinzipienlehre über die Eins und die unbestimmte Zweiheit vortrug, habe sich das Auditorium rasch geleert. Die redensartliche Nutzlosigkeit und Weltfremdheit der Philosophie schien damit erwiesen. Der Ruf der Schule verbreitete sich in der Stadt und weit über sie hinaus, auch wenn sie nicht in gleichem Maß Stein des Anstoßes und Tarantel war wie der eine Mann Sokrates. Hörer kamen aus dem gesamten Einzugsbereich der damaligen griechischen Welt. Sie wählten sich bewusst die philosophische Lebensform. Man wird daher kaum annehmen dürfen, dass Platon auf die Ausbildung künftiger Politiker zielte. 34 Nicht zu bestreiten ist allerdings, dass es schon zu Platons Lebzeiten vielfache ironische Kommentare über die Akademie gab. Mit dem Inbegriff philosophischer Weisheit gleichgesetzt wurde sie jedenfalls von den Zeitgenossen nicht. Die historische Forschung ist sich weitgehend einig, dass der Bildungs- und Prüfungsgang, der in der ›Politeia‹ skizziert wird, in der Akademie nicht genau so praktiziert wurde. Er stellt einen Idealtypus dar. Die im VII. Brief dargelegten Ziele dürften der Realität deutlich näher kommen. Die propädeutische Bedeutung von Mathematik und Astronomie spielte indes auch in der tatsächlichen Lehre der Akademie eine Rolle. Besonders klar und zugleich abbreviativ hat Platon die Stufen des philosophischen Erkenntnisprozesses im VII. Brief niedergelegt. Man wird daher nicht ganz fehlgehen, wenn man den VII. Brief als eine Art Programmschrift erfasst. Platon hat damit die Aussage verbunden, dass sich diese Erkenntnis nicht angemessen verschriftlichen lasse, dass sie letztlich aber auch in mündlicher Lehre nicht angemessen zu dokumentieren sei (341d–e). EntDazu Krämer, Arete bei Platon und Aristoteles pass., siehe auch G. Reale, Zu einer neuen Interpretation Platons, a. a. O., S. 255 ff. 34 M. Schwartz, a. a. O., S. 41, siehe auch Scholz, a. a. O., S. 36 ff. Die Missverständnisse und Böswilligkeiten sind vielfach Spiegel der atopischen Macht und Wirklichkeit der Philosophie. So soll der »Homererklärer« Herakleitos bemerkt haben, Platons Dialoge seien nichts anderes als »Liebesaffären mit halb erwachsenen Jünglingen«. Vgl. Dörrie, Der Platonismus in der Antike. Band 2, a. a. O., S. 45. 33

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scheidend sei, dass der Seelenfunke entzündet werde. Als die Schüler, auf die er am meisten hoffe, begreift Platon diejenigen, die von selbst auf die philosophischen Erkenntnisse kämen und sie gleichsam aus sich gebären würden. Die Schrittfolge, der die Erkenntnis folgt, führt vom Namen über die Begriffsdefinition zum körperlich darstellbaren Bild (342b). Erst zuletzt richtet sie sich auf die »Erkenntnis selbst«. Platon spricht freilich in erster Linie von diesem Höhepunkt der Betrachtung. Die Erkenntnis zielt auf das ›atomon eidos‹, die Gewinnung einer selbst nicht mehr weiter aufteilbaren Definition, in der das gesuchte Wesen ausgesagt werden kann. Erst wenn diese Vorübungen durchlaufen sind, kann die Idee als Urbild und vollständige Realität erfasst werden. Als die große Abbiegung und Konzentrationsstörung, die jederzeit droht, charakterisiert Platon die Vermischung von Vorstellungen und sinnlichen Wahrnehmungen mit dem Denken. Daran und am Affekt droht der philosophische Bildungsweg immer wieder zu scheitern. Gefährlich sind nicht-philosophische Naturen wie der Tyrann Dionysios aber nicht einmal in erster Linie, wenn sie die Philosophie missachten, sondern in noch stärkerem Umfang, wenn sie sich als große Philosophen gebärden. 35 Und dies werden sie unfehlbar tun, wenn sie sich mit der Philosophie einlassen. Dies musste Platon mit dem jüngeren Dionysios erfahren. War er doch, wie sich während Platons zweiter und dritter Sizilienexpedition zeigte, weiterer Unterweisung ganz und gar unzugänglich.

III. Durch viele Formen: Platons Mythen Wir sahen bereits: Die platonischen Dialoge weisen eine komplexe Textur auf, wie sie sonst in der Philosophiegeschichte kaum vorkommt. Sie enthalten ein weites Spektrum von analysierbaren Argumenten über die Gestik und die Symbolkraft von Personen in ihrer Interaktion. 36 Sie entwickeln eine Ironie, die über schlicht uneigent-

Dazu wieder Berve, Dion, a. a. O. Vgl. im Einzelnen die Beiträge in dem Sammelband M. Janke und Chr. Schäfer (Hg.), Platon als Mythologe. Neue Interpretationen zu den Mythen in Platons Dialogen. Darmstadt 2002; siehe auch J. Pieper, Über die platonischen Mythen, in: ders., Darstellungen und Interpretationen: Platon. Werke in acht Bänden, Band 1. Hgg. von B. Wald. Hamburg 2002, S. 332 ff.

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liche Rede hinausweist und ein ›ist‹ mit dem ›ist nicht‹ verbindet, 37 vergleichbar dem Sinn, in dem Paul Ricœur die »metaphorische Prädikation« verstanden hat. 38 All dies lässt sich erst angemessen vor Ort aufklären, im inneren Zusammenhang der Dialoge. Daneben kennt Platon auch ›Gleichnisse‹, die verbildlichen, was sich der Begriffssprache entzieht. Sonnen-, Höhlen- und Liniengleichnis in der ›Politeia‹ (VI. Buch, 508a4 ff., 509c1 ff. und 514a21 ff.) sind hier besonders einschlägig, bringen sie doch die höchste Idee zur Darstellung, die sich im begrifflich propositionalen Sinn nicht oder zumindest nicht zureichend fassen lässt. Eine herausgehobene Bedeutung haben aber die platonischen Mythen. Sie begegnen an verschiedenen Stellen im Dialogwerk. Sie sind im Sinn der Dichtungs- und Mythenkritik von Politeia III und Politeia X keineswegs Reprisen auf die überlieferte Mythologie in Religion und Dichtung. Vielmehr unterziehen sie diese jener Reinigung (katharsis), die im zweiten und dritten Buch der ›Politeia‹ gefordert wird. Sie werden dort bemüht, wo die argumentative Rede nicht hinreicht und die Seele im Ganzen bewegt werden soll. 39 Auch dies ist an jenen Passagen am besten begreiflich zu machen, an denen die Mythen ins platonische Dialogwerk eingefügt sind. Dennoch soll hier eine knappe Kartographie skizziert werden, die den Zusammenhang und das Zusammenspiel der Mythen verdeutlichen soll. Die Bewegung des Philosophierens soll, anders als in den meisten spätantiken Philosophenschulen und bereits bei Aristoteles, nicht nur für ein dauerhaft glückseliges irdisches Leben hinreichen. Sie soll auch nicht nur dazu befähigen, sterben zu lernen; obgleich dies namentlich im ›Phaidon‹ eine wichtige Rolle spielt. Die Seelen sollen vielmehr auch für weitere Inkarnationen Form gewinnen. Ihr Ethos soll fest gefügt werden, mit einer Heilsbedeutung, die über ein Leben hinausreicht. In diesem Sinn sind die Gerichtsmythen im ›Gorgias‹ und in der ›Politeia‹ von besonderer Bedeutung. 40 Entscheidend ist, P. Ricoeur, Die lebendige Metapher. München 1986, insbes. S. 350 ff. Gerade in dieser Negierung einer propostionalen Aussage liegt aber die Dimension einer metaphorischen Prädikation. 39 Dies ist das ›Arrheton‹, die Unsagbarkeit der höchsten Idee und der tiefsten Einsicht. Vgl. dazu auch R. Ferber, Platos Idee des Guten. St. Augustin 21989, sowie Gadamer, Die Idee des Guten zwischen Platon und Aristoteles, in: ders., Gesammelte Werke Band 7. Tübingen 1991, S. 128 ff. 40 Vgl. auch J. Moss, What is Imitative Poetry and Why ist It Bad, in: G. R. F. Ferrari (Hg.), The Cambridge Companion to Plato’s Republic. Cambridge 2007, S. 415 ff. 37 38

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dass nach dem Tod des Menschen ein Gericht in Aussicht gestellt wird, das nicht den Anschein, sondern das wahre Wesen des Menschen wägt. Dies wird in dem Sinnbild verdeutlicht, dass auch Könige und Heroen nackt vor ihrem Richter stehen müssen (vgl. Gorgias 524b–c). Die Seele soll so, wie sie in Wahrheit ist, entdeckt und beurteilt werden. Die Schlussparänese des ›Gorgias‹ sieht dies zusammen: »aber lass uns diese Rede gebrauchen, welche uns jetzt klar geworden ist, welche uns anzeigt, dass dies die beste Lebensweise sei, in Übung der Gerechtigkeit und jeder anderen Tugend leben und sterben. Dieser also wollen wir folgen, und auch Andere dazu aufrufen« (527e).

Während es im Schlussmythos des ›Gorgias‹ um eine Festlegung des Urteils ohne Ansehen der Person und damit um eine mythisch-reale Bekräftigung des durchgehend erwogenen Grundsatzes geht, dass Unrechtleiden im Zweifel immer besser sei als Unrecht zu tun, holt der Schlussmythos der ›Politeia‹ weiter aus. Er erzählt von dem Pamphylier Er, der schon auf dem Scheiterhaufen lag und aus dem Totenreich zurückkehrte. Dort sah er die Geschehenszusammenhänge zwischen zwei Einkörperungen: das Versetztwerden der Seele an den überhimmlischen Ort, den Trank aus dem Fluss Ameles, der nach dem Maß erinnern und vergessen lässt, und schließlich die Wahl einer Lebensform für die künftige Inkarnation. Jene Bioi werden wie Grundrisse von Häusern beschrieben, mit Oberflächen- und Tiefenstruktur. Auslosung, also Schicksal, und Freiheit der Wahl halten sich bei den Beteiligten die Waage. Wer dem oberflächlichen Anschein folgt, wird voraussichtlich die Lebensformen von Plutokraten und Tyrannen wählen, die vordergründig Vorzüge versprechen, untergründig aber in größtem Ausmaß Schrecken und Schmerz bergen. Nur wer seine Seele im Guten festgemacht hat, kann eine klug abwägende Wahl treffen. Er ist der in Wahrheit glückliche, eudaimonische Mensch. So wird auch deutlich, dass zwischen der wahren an und für sich seienden Gerechtigkeit, die in der Idee des Guten gründet, und der richtig verstandenen Eudaimonie keine Differenz bestehen bleibt. Glaukon und Adeimantos hatten diese Trennung zunächst im zweiten Buch der ›Politeia‹ (558b1 ff.) eingefordert. Glück und Gerechtigkeit sollten voneinander getrennt werden, Anschein und Wesen einer strikten Sonderung unterliegen. Sokrates hatte dem entsprochen. Wie in einer Einklammerung (Epoché) hatte die Trennung zwischen dem Wesen der Gerechtigkeit und des Guten und der ihr entsprechenden Glückseligkeit den Argumentationsgang 61 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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der ›Politeia‹ begleitet. Erst in der eschatologischen Perspektive am Ende wird diese Epoché zurückgenommen. Im Schlussmythos des ›Phaidon‹ wird die eschatologische Dimension mythischer Rede ein weiteres Mal variiert. Er entwickelt die Topographie der wahren Erde, die jenseits der erscheinenden, vordergründigen Erde ihre komplexe Tektonik mit Landmassen und Stromsystemen entfaltet (108c1 ff.). Die Seelen werden je nach ihrer Güte, also der Einprägung des Guten in die Seelenstruktur, dem Mythos zufolge in Über- oder Unterwelt angesiedelt. Man kann davon ausgehen, dass die berichteten letzten Worte des Sokrates vor seinem Tod, die Befreiung und Gelassenheit und nicht zuletzt das Sterben als eine freie Handlung (115b1 ff.), nicht allein und nicht einmal hauptsächlich durch die Argumente und Reflexionen des ›Phaidon‹ getragen werden, sondern durch den Schlussmythos. In der ›Politeia‹ und mehr noch in den ›Nomoi‹ finden sich allerdings auch Mythen, die eher didaktischen Charakter haben und die Wahrheit der Gesetzgeber in einer der Bürgerschaft zugänglichen Gestalt artikulieren. Besonders prominent ist hier der Metallmythos der ›Politeia‹, der den gemeinsamen Ursprung der Bürger aus einem Geschlecht unterstreicht und damit wie in einer Vorgabe für die ›orthe doxa‹ die verbindende Gemeinsamkeit hervorhebt. Die Vorreden zum gesamten Gesetzeswerk und ebenso zu einzelnen Gesetzen in den ›Nomoi‹ haben diesen Charakter. 41 Man könnte von Erweiterungen der Argumentation sprechen, die aber noch nicht die philosophisch geklärte Rhetorik oder Dichtkunst anwenden, sondern einen stark funktional-zweckhaften Grundzug erkennen lassen. Eine weitere prominente mythische Darstellung gilt dem Eros: Einschlägig sind hier vor allem das platonische ›Symposion‹ und der Mythos des Komödiendichters Aristophanes von der ursprünglich hermaphroditischen Verfassung des Kugelmenschen, der entzweit wird und den seither die Sehnsucht nach Rückkehr zur ursprünglichen Einheit bestimmt (191d5). Die Eros-Rede des Sokrates, die er der Frau und Fremden, der Priesterin aus Mantinea, verdankt (204c– d), die also selbst ein Sprechen in fremder Stimme ist, ist selbst kein Mythos. Eher verhält sie sich zum Aristophanes-Mythos wie eine Interpretation und Weiterführung: Dass das Gute im Schönen sich manifestiert, dem Schönen damit aber auch den Maßstab vorgibt – Vgl. dazu Seubert, Polis und Nomos, a. a. O., S. 547 ff., im besonderen Blick auf die Form des Gesetzeswerkes.

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und dass die Lust, die nach Nietzsches durchaus platonischer Aussage Ewigkeit will, »tiefe, tiefe Ewigkeit«, zeigt, dass diese Rückkehr keineswegs ein Regress ist, sondern ein möglicher, indes stets vom Abstieg gefährdeter Aufstieg (anhodos). Der Eros ist, dem Tod vergleichbar, eine Daseinsmacht, über die sich in Propositionen und Kategorien eine annähernde, unter Umständen größtmögliche Sinnklarheit gewinnen lässt, die aber mit dem schellingschen Diktum »unvordenklich« bleibt, im letzten opak, unerschöpflich. Dies zeigt der geklärte Mythos an, in dem sich die philosophisch geklärte Kunstform zeigt. Das ›Arrheton‹, das Unsagbare, kann im Mythos zwar nicht gedacht werden – dies ist überhaupt nicht seine Sphäre. Es kann aber zur Darstellung kommen. 42 Auch die Geschichte, das Verhältnis der menschlichen und der göttlichen Ordnung zueinander, wird bei Platon in einem Mythos dargestellt: Er exponiert im ›Politikos‹ die beiden einander ablösenden Weltperioden (268d5 ff.) – die eine Weltperiode, die nach dem Umlauf der Selbigkeit und Harmonie, also des ›tauton‹, und die andere, die nach dem Umlauf der Andersheit, des ›thateron‹, geschieht. Im ersten Umlauf leben die Götter unmittelbar unter den Menschen und erlassen ihnen die Gesetze, über die sie auch wachen. Im anderen Umlauf, der der Fremdbewegung und dem Gesetz von Druck und Stoß folgt, sei die Welt sich selbst überlassen. In dieser Welt kann nur die Bindung an die Idee des Guten weitergehende Zerstörungen und Erschütterungen verhindern. Auch wenn die Idee selbst göttlich ist, gibt es letztlich nur zweitbeste Seefahrten, in denen der angezielte Zustand niemals aus den unmittelbaren Regularien der Natur hervorgeht. In seiner strukturellen Einpassung in den Dialog und seiner lehrhaften Form, auch in seiner stärkeren Orientierung an den gängigen Überlieferungen, ist der Mythos des ›Protagoras‹-Dialogs dem ›Politikos‹-Mythos vielleicht am verwandtesten. Es ist ein KulturentsteDas Verhältnis von Denken und Darstellung hat, viel zu wenig beachtet, Stephan Otto neu und hermeneutisch und systematisch maßgeblich formuliert: S. Otto, Die Wiederholung und die Bilder. Zur Philosophie des Erinnerungsbewußtseins. Hamburg 2007, insbes. S. 257 ff. Siehe im Blick auf die Platondeutung auch: Chr. Pietsch, Mythos als konkretisierter Logos. Platons Verwendung des Mythos am Beispiel von Nomoi X 903b–905d, in: Janka, Schäfer (Hg.), Platon als Mythologe, a. a. O., S. 99 ff. Vgl. auch R. Marten, Sind Ideen dem Denken zugänglich? Die dialektische Methode, ihre methodologische Bestimmung und das Problem ihrer Bewährung, in: ders., Platons Theorie der Idee. Freiburg/Br., München 1975, S. 15 ff.

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hungsmythos, der auch zwei Epochen voneinander unterscheidet. Die im Hintergrund leitende Frage ist, ob politische Tugend lehrbar sei. Gegen diese Vermutung spricht, dass gerade die führenden Politiker Athens ihre eigenen Kinder offensichtlich nicht in der richtigen Weise erziehen können (319b ff). Das ›idion ergon‹ des Protagoras und sein Anspruch, durch seine Lehre die Politik und öffentliche Verwaltung »besser« zu machen, scheinen sich also nicht einlösen zu lassen. Der Mythos berichtet nun, dass der Mensch, durch Raub an den Göttern, wie ihn bekanntlich Prometheus verübte, alle möglichen Fähigkeiten und Fertigkeiten gewinnen kann, nicht aber die bürgerliche Tugend. Sie sei in den Anfängen bei Zeus, der höchsten Gottheit, angesiedelt (321d), zu der der frevelhafte Prometheus zu diesem Zeitpunkt schon keinen Zugang mehr gehabt habe. Die Menschen verfügten zwar über die unterschiedlichsten Fertigkeiten (technai), doch sie seien nicht in der Lage gewesen, zu einem gemeinsamen Leben zu finden. Über die Einrichtung der Kulte und die Verehrung der Götter hatten sie hingegen sehr wohl Einigkeit erreicht (322a). Dennoch kommt es zu einer Kompensation. Die bürgerliche Kunst bleibt nicht unerreichbar. Sie wird von Hermes auf rechtmäßigem Weg aus der Götter- in die Menschenwelt übermittelt (322c), beruhend auf Recht und Scham (322c), die beide, auch in der Auseinandersetzung mit den Sophisten, eng miteinander verbunden sind. Die politische Kunst ist dabei als »verbindende Kunst« charakterisiert. Es reiche nicht aus, wenn es dafür einzelne Fachkenner gäbe. Sie muss durch die gesamte Polis hindurchgehen und in der Seele jedes ihrer Bewohner fest eingebildet sein.

IV. Philosophie und Politik: Der ortlose Ort der Sokratesgestalt – oder ›Kriton‹ und ›Apologie‹ Polis und Philosophie – Das Sokratesproblem Sokrates und die attische Polis: Dies ist, man weiß es, alles andere als ein harmonisches, konfliktfreies Verhältnis. Es ist vielmehr zum zeitübergreifenden Sinnbild des Verhältnisses von Philosophie und Politik geworden. Während Xenophon, eine der wichtigsten nicht-platonischen Quellen, Sokrates als ›kalos k’agathos aner‹, als eine Art idealen Bürger, der dem Gentleman-Ideal gerecht wird, beschrieben 64 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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und überliefert hat, treibt Platon diese Spannungen ins Relief. 43 Dies geht so weit, dass er Sokrates als den einzigen wahren Staatsmann benennt, den das antike Athen gehabt hätte. An seiner Lehre und Biographie bricht die Krise der attischen Polis auf, denn gerade ihn habe man nicht ertragen, sondern zu Unrecht zum Tod verurteilt. Sokrates aber sei ein rechtlicher Mann geblieben. Er habe dieses Urteil angenommen. In der Folge von Leo Strauss kann man sagen, dass mit dem platonischen Sokrates das philosophisch-politische Grundproblem aufbricht. 44 Leo Strauss hat diese These mit Nachdruck vertreten. Der Philosoph ist aber, wie Platons Sokrates betont, keineswegs in einem geringeren, sondern in einem viel stärkeren Sinn Bürger als die meisten anderen. Sein ganzes Leben ist eine Dokimasia, eine Überprüfung der Gültigkeit und Stimmigkeit der Gesetze. In der bürgerlichen Gesellschaft Athens war die Dokimasia, die Gesetzesüberprüfung, ein formalisierter Rechtsakt, der mit dem Eintreten in das Erwachsenenalter erfolgte und rasch abgeschlossen war. Wer keinen Bios hat und auch keinen leben kann, ist nach Sokrates ein Tausendkünstler, der anderen auch nichts zu lehren weiß. Der ›Bios Sokratou‹ bewährt sich indes und bezeugt sich im Tod. Die Polis und das öffentliche Handeln in ihren Zusammenhängen bilden tatsächlich das Feld, vor dem sich die Philosophie ihrerseits ausweisen muss. In diesem übertragenen Sinn kann gesagt werden, dass das gesamte Philosophieren des Sokrates und damit auch die Lehre seines Schülers Platon ›Politische Philosophie‹ ist, wobei damit keineswegs ein bruchloser Zusammenhang, sondern zumindest ebenso ein Spannungsverhältnis gemeint ist. Die Spannung wird freilich niemals zur Feindschaft oder zur Gleichgültigkeit. Polis und Philosophie benötigen einander. Sokrates hat den Athenern sehr deutlich gemacht, dass er wie eine Tarantel, eine Stechfliege im Pelz der Stadt sei, die sie davor bewahre, träge und faul zu werden. An anderer Stelle verglich er sich mit dem Zitterrochen, dessen elektrische Schläge das Gegenüber in einen Lähmungszustand versetzen. Das scheinbare Wissen, eine verbrämte Unwissenheit, die sich als Wissen ausgibt Dazu besonders profiliert Strauss, The City and Man, a. a. O., und Chr. Jermann, Philosophie und Politik. Untersuchungen zur Struktur und Problematik des platonischen Idealismus. Stuttgart Bad Cannstatt 1986. Auch Benardete, Socrates’ Second Sailing. On Plato’s Republic. Chicago 1989. 44 Dazu L. Strauss, On Plato’s ›Apology of Socrates‹ and ›Crito‹, in: ders., Studies in Platonic Political Philosophy, S. 38 ff. Siehe auch: R. Kraut, Socrates and the State. Princeton 1984. 43

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und, wie Sokrates’ Befragungen zeigen, in der Polis vorherrscht, wird durch die Befragungskunst in eine Aporetik, ein Nicht-ein-noch-ausWissen getrieben. Nicht die guten, letztlich vernunftrechtlich und göttlich sanktionierten Gesetze der Stadt, wohl aber ihre verfehlte Anwendung werden also kritisiert. Umgekehrt lebt aber auch der Philosoph von guten Gesetzen. Wenn er in der Stadt bleibt und, auch bei Gefahr an Leib und Leben, eine schlechte Handhabung der Gesetze in Kauf nimmt, so halten ihn dabei die Gesetze selbst. 45 Der Philosophenkönigssatz, genau in der Mitte der ›Politeia‹, dem zufolge die Philosophen herrschen oder aber die Könige eine philosophische Natur haben sollten, ist also im Sokratesproblem schon vorgeprägt. Platon wird in der ›Politeia‹ immer wieder zeigen, dass es dabei gerade nicht um eine bloße Utopie geht. Die Akademie gab, wir deuteten es an, dieser Lebensform einen Ort und eine Adresse. Die Platonische Akademie war eine institutionelle Manifestation des Lebens aus der Wahrheit, philosophische Polis in der realen Polis Athen. Sie konnte das Trauma der Verurteilung des »gerechtesten Mannes« nicht ungeschehen machen, 46 doch sie etablierte sein Vermächtnis in der Form einer Koexistenz. Dass Platon indes, von Dion dazu gedrängt, drei Mal in Syrakus den Versuch machte, den Tyrannen Dionysios zu einem Philosophenherrscher umzuprägen, zeigt, wie wesentlich ihm diese Verbindung von Philosophie und Polis war. 47 Erst in den späten ›Nomoi‹ findet sich dazu eine Aussage, die in der ›Politeia‹ gänzlich fehlt, dass es nämlich besonders gute Chancen gebe, einen jungen Tyrannen mit guten Anlagen zum Philosophenkönig zu machen. Dann wäre die Tyrannis nicht länger die letzte und destruktivste der Herrschaftsformen. In der ›Apologie‹ und im Dialog ›Kriton‹ hat Platon dieses Verhältnis ausgelotet. Die ›Apologie‹ ist dabei, entgegen dem Titel, geradezu das Gegenteil einer Verteidigungsrede. Sokrates verzichtet programmatisch vor seinen künftigen Richtern auf alle Elemente der Apologetik und vor allem darauf, sich selbst in ein besonderes Licht zu rücken, und auch darauf, auf das Elend zu verweisen, das sein Tod über seine Familie bringen würde. Ohne auf solche Scheinwirkungen Siehe dazu Kraut, a. a. O., S. 88 ff., vgl. ferner Vlastos, Socrates on Political Obedience and Disobedience, in: ders., Studies in Greek Philosophy, Vol. II, a. a. O., S. 30 ff. 46 Hier setzt sich das sokratische Paradox in einem untilgbaren platonischen Paradox fort. Dazu Vlastos, The Paradox of Socrates, in: ders., Studies in Greek Philosophy, S. 3 ff. 47 Vgl. weiter oben zu Platons Leben mit den Reprisen aus dem VII. Brief. 45

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zu setzen, zeigt er sich als der, der er ist. Damit bleibt er der Kontinuität seines philosophischen Ethos treu. Diese Kontinuität und damit die Zielsetzung, keineswegs seine philosophische Prägung zu verraten, ist in ›Apologie‹ und ›Kriton‹ ein durchgehendes Motiv. Er könnte, wenn er seinen vermögenden jungen Freunden folgen würde, »in Thessalien schmausen«. Doch damit gäbe er seine Lebensform preis, und letztlich würde auf diese Weise auch die Glaubwürdigkeit seiner Philosophie Lügen gestraft. Mit dem politisch-philosophischen Problem ist das politisch-religiöse eng verknüpft. Dies zeigt sich schon an den Anklagepunkten, die Sokrates entgegengehalten werden: Es ist einerseits der Frevel der Asebie, der fehlenden Achtung vor den Göttern, andrerseits der Vorwurf, die Jugend zu verderben. Die Vorhaltungen beruhen, auch das macht die ›Apologie‹ überdeutlich, auf unklaren, weitgehend verzerrten Meinungen über das, was Sokrates lehrt. Er gilt den Anklägern als nichts anderes als ein Sophist. 48 Sokrates’ Eingeständnis, nicht wissend zu sein und der Quelle dieses Nichtwissens nachzugehen, indem er die befragt, die zu wissen meinen, könnte allerdings von dem Scheinwissen und den beliebigen Ratschlägen der Sophisten gar nicht weiter entfernt sein. Sokrates selbst führt seine Befragung der Vielen auf den Spruch des delphischen Orakels zurück, den ein Freund eingeholt habe und wonach Sokrates der Weiseste unter allen Menschen sei. Der Wahrheit dieser Aussage geht Sokrates in seiner Befragungskunst nach. Sie steht unter der Prämisse des Wissens um sein eigenes Nichtwissen. Er möchte nun erfahren, inwiefern das Orakel Treffendes sagt. Die Annahme, dass es ihn und sich selbst täuschen könne, schließt er von vorneherein aus. Ein Orakelwort täusche, lüge und irre nicht. Wer dies behaupte, erkenne die göttliche Stimme nicht an. Deshalb fragt er die Politiker, die Dichter und schließlich die Handwerker, die Idiotes und Banausoi, nach ihrem begründeten Wissen. Nur die letzteren haben überhaupt ein Wissen über eine bestimmte Tätigkeit und Befähigung (ein ›idion ergon‹), das sich allerdings auf den engen Bereich ihres Handwerks begrenzt. Sie wissen, wie man Tische macht oder Ton formt. Immerhin haben sie ein ›idion ergon‹. Wenn sie aber beginnen, über Politik und erste und letzte Dinge zu räsonieren, zeigen sie sich genauso nicht-wissend. Auch die Dichter, deren manisch Dazu H. Maier, Sokrates. Sein Werk und seine geschichtliche Stellung. Tübingen 1913 (Neudruck Aalen 1964), S. 50 ff.

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wahnsinnige und zugleich göttliche Natur im Dialog ›Ionos‹ im Einzelnen behandelt wird, sind nicht in der Lage, sich über die schönen Worte und Empfindungen, die sie erwecken, Rechenschaft abzulegen. 49 Nicht nur die Quelle von Sokrates’ Wissen wird auf diese Weise angegeben, sondern auch der Ursprung des Hasses, der sich gegen ihn richtet und den Prozess auslöst. Es wird sehr deutlich illustriert, dass die Zerstörung des Anscheins, etwas zu wissen, Aggressionen und sogar den Wunsch wachruft, sich dieser störenden Stimme endgültig zu entledigen (Ion 23b ff.). Dass er eine gottesdienstliche Handlung vollzieht, indem er eine Art Umkehr von der Bedürfnisbefriedigung auf die bleibenden, dauerhaften Orientierungen verlangt, betont Sokrates in großer Souveränität. Er werde »dem Gotte« (Apologie 29d) in jedem Fall mehr gehorchen als den Anklägern. Keine Drohung, auch gerade nicht die Drohung mit der Todesstrafe, kann ihn davon abbringen. Denn wer den Tod fürchtet, von dem er doch nichts wissen kann (29b), bleibt in seinem Irrtum befangen. Menschen, die so dächten, werde er »prüfen und ausforschen«. Damit ist aber schon besiegelt, dass Sokrates keineswegs aus Furcht vor dem Tod von seinen Behauptungen und seiner Wahrheit zurückweichen wird. Seine Methode ist eine Lebensweise, von der er mit großer Konsequenz Gebrauch macht. Die Treue zu dieser Wahrheit wird durch nichts außer Kraft gesetzt. Deshalb wendet Sokrates den Elenchos auch konsequent in seiner Verteidigungsrede an und zieht die Ankläger Melitos und Anytos mit vor das Forum der Philosophie. Sie, die sein Leben und seine Denkweise zerstören wollen, werden selbst ihrer Inkompetenz in Fragen der göttlichen und der menschlichen Dinge überführt. Neben dem Gott (ho theos) bzw. dem Göttlichen (to theion) sind zwei weitere Instanzen maßgeblich: das Daimonion des Sokrates, (31c–d), das immer nur warnend und abhaltend spricht. Wenn es nichts zu warnen hat, schweigt es. Daneben steht, überpersönlich und bindend, das Recht (dikaion). Sokrates besteht darauf, dass er seinen bürgerlichen Pflichten gerecht geworden sei, im Heer und zum Schutz der Sicherheit der Polis (32c1 ff.). Ein entscheidender Zug des sokratischen Selbstverständnisses als Bürger einer bestimmten Spezies, als Philosophenbürger gleichsam, liegt eben darin, »nieVgl. E. Pöhlmann, Enthusiasmus und Mimesis. Zum platonischen Ion, in: Gymnasium 83 (1976), S. 191 ff.

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mals etwas gegen das Recht« zu tun (3a): Damit ist eine Linie gezogen, der Platon selbst bis in seinen Spätdialog ›Nomoi‹ folgen wird. Er zeigt: Richter, die sich nicht ihrerseits ausschließlich an das Recht halten, verfehlen ihre Aufgabe. Sie werden zu Denunzianten. Der Geldstrafe oder der Auswanderung erteilt er eine klare Absage. Ginge es nur rechtens zu, dann müsste ein Mann wie er im Prytaneion öffentlich gespeist und geehrt werden: mit einer der höchsten Ehren für einen Menschen, der sich um die Stadt verdient machte. Da den Athenern dieses Rechtsempfinden fernliegt, muss er in der Kontinuität seines Lebensgesetzes bleiben und den Tod wählen. Es schließen sich die Worte an, die Sokrates nach der Verurteilung an seine Ankläger und Verurteiler richtet. Er sei unterlegen, betont er, aus Unvermögen; freilich nicht, weil es ihm an Worten fehle, sondern an Schamlosigkeit (38d). Damit gewinnt eine Rhetorik Konturen, die sich von der gängigen Affektenrhetorik vor Gericht und in der politischen Rede aufs deutlichste unterscheidet. Es ist eine philosophische, von Wahrheit gesättigte Rhetorik. Sie richtet sich nicht auf die Erweckung einer ungezügelten Furcht und eines maßlosen, affektiven Mitleidens, sondern auf die Kontinuität seiner Vernünftigkeit. Die »Methodenlehre« dieser philosophischen Rhetorik werden wir dann im platonischen ›Phaidros‹ kennenlernen. Rechtsgesetz, der philosophische Gottesdienst und das Gewissen: diese Trias sichert eine innere und äußerliche Stabilität, die auch angesichts des unzeitigen und ungerechten Todes Bestand hat. Nur vermutungsweise könne man doch, so sagt Sokrates, wenn man über sein eigenes Nichtwissen in diesen Fragen unterrichtet ist, überhaupt der Auffassung sein, dass der Tod ein Schrecken sei. In diesem schwach konjekturalen Sinn tendiert die ›Apologie‹ in die entgegengesetzte Richtung, ohne dass er doch vorgibt, die menschliche Unwissenheit über den Zustand nach dem Tod auflösen zu können. Die Aussicht, dass die Bürger zum Leben gingen, er aber zum Tode, und dass offen bleibe, wer das bessere Teil erwählt habe, ist das legendär gewordene Fazit des Sokrates. Er erwägt zwei Charakterzüge, die der Tod annehmen könne. Er könne Schlaf sein oder die Auswanderung an einen anderen Ort. Wenn er nur Schlaf wäre, so wäre dieser Zustand immerhin nicht beklagenswert. Wäre der Tod aber der Ausgang in jene andere Welt, so sei die Frage, was dem Auswandernden in jener Welt bevorstehe, offen. Entscheidend ist dabei aber nicht so sehr die mythologische, fast kindliche Vorstellung, dass die besseren und bedeutsameren Personen in der jenseitigen Welt zu finden sind, son69 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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dern dass weder ein Übel noch das Glück den gerechten Mann erschüttern könnten. Noch näher an den Todeszeitpunkt, die Hinrichtung mit dem Schierlingsbecher und die sokratische Form zu leben und zu sterben in ihrer letzten Zuspitzung führt der platonische Kriton-Dialog. Wenn man, wie es Wolfgang Wieland im Anschluss an Forschungen des 19. Jahrhunderts tat, 50 die »fiktive Chronologie« der Sokratesdialoge annimmt, 51 also in der Interpretation auf ihr chronotopisches Verhältnis zu Sokrates’ Leben verweist, so datiert der ›Kriton‹ noch nach dem ›Phaidon‹. Das Schiff aus Delos kehrt zurück. Die Festtage, die solche Rechtsakte ausschlossen, sind zu Ende. Ähnlich wie der ›Phaidon‹, ist auch der ›Kriton‹ vom Jammer und der Trauer der Freunde des Sokrates angesichts der drohenden baldigen Vollstreckung des Todesurteils durchstimmt. Um diesem Schicksal zu entgehen, konkretisieren sie die Fluchtplanungen. Vor allem der junge Kriton legt die Flucht nahe. Die Dramatik wird dadurch gesteigert, dass nicht mehr viel Zeit bleibt, wenn eine Flucht gelingen soll. Sokrates müsste eben jetzt fliehen (46a). Sokrates antwortet auf dieses Drängen mit einer sehr nüchternen, in kleiner Münze ausgegebenen Bekräftigung seiner philosophischen Haltung. Im ›Kriton‹ beschreibt er noch einmal, was seinen Elenchos auszeichnete. Der Dialog ist geradezu, wie vor allem in der Zwiesprache mit den Gesetzen deutlich wird, eine Metareflexion auf die eigene sokratische Gesprächskunst. Deshalb kann er gerade nicht, wie andere frühe Sokratesdialoge, einen offenen Ausgang haben und aporetisch enden. Vielmehr hält Sokrates fest, dass er der Überredungskunst des Kriton nicht nachgeben werde (46b). Dies bedeutet auch, dass der Kraft des stärkeren Argumentes und des besten Satzes zu folgen ist. Diese Befragungsmethode wird nicht nur vor Gericht, sondern erst recht angesichts des bevorstehenden Todes angewandt. Wenn sie nicht in dieser extremen Situation standhalten würde, wäre sie gar nichts wert. Sie ergibt zunächst, dass nicht jeder Meinung (doxa) zu folgen ist (47b–d), sondern nur der Meinung des Sachkundigen. Dies aber bekräftigt nochmals die Grundaussagen des Sokrates, dass die Meinung letztlich nicht relevant sei und dass sie auch nicht ernstlich schaden könne. Dies könnte sie nur, wenn denn erwiesen wäre, W. Wieland, Platon und die Formen des Wissens, a. a. O., S. 83 ff. So ibid. Vgl. dazu auch die von Wieland wieder fruchtbar gemachte Studie von E. Munk, Die natürliche Ordnung der platonischen Schriften. Berlin 1857.

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dass der Tod schrecklich sei. Doch auch und gerade der Tod steht unter der Ägide des Wissens um das Nichtwissen. Dies wird im ›Kriton‹ in einer spezifischen Dramaturgie entfaltet: Zunächst unterzieht Sokrates den Kriton einer kurzen elenchtischen Befragung, wie sie typisch für ihn ist. Sie ergibt einen sokratischen Grundsatz mit Hypothesencharakter, dem Kriton zustimmen muss: dass nicht das Leben am höchsten zu schätzen ist, sondern nur das gute Leben (48d). Dieses sei mit dem schönen (kalos) und gerechten (dikaios) Leben identisch. Vor diesem Hintergrund spitzt sich der Elenchos auf die Frage zu, ob eine Flucht gerecht wäre oder ob sie unter die Kategorie vorsätzlichen Unrechts fallen würde, womit die Frage nach der Gerechtigkeit, die zentrale Frage der ›Politeia‹, erstmals alludiert ist. Letzteres ist nach Sokrates der Fall. Sie wäre eine Vergeltung des aus der Verurteilung hervorgehenden Unrechts, das zudem auf Sokrates und die Überzeugungskraft seiner Argumentation zurückfiele. Dies wird noch einmal spezifiziert: »Sagen wir, man müsse auf gar keine Weise vorsätzlich unrecht tun? Oder auf einige zwar, nur auf andre nicht?« (49a). Kriton muss die Ausnahmslosigkeit zugeben. Sokrates aber verlangt ihm in kleinsten Schritten ab, jene Position sich zu eigen zu machen, sodass tatsächlich keine argumentative Fluchtmöglichkeit mehr bleibt. Dann aber tritt (49e–50a) ein Subjektwechsel in dem Dialog ein, der einiges an Aufmerksamkeit verlangt. Sokrates führt das Gespräch nicht mehr als eine Auseinandersetzung mit Kriton. Nun sind es die Gesetze Athens, die den Sokrates in eine elenchtische Auseinandersetzung verstricken. Damit ist auch auf den philosophischen Charakter der Gesetze hingewiesen. Die Übereinstimmung von Philosophie und Gesetz ist noch einmal unterstrichen. 52 Die Gesetze fragen den Sokrates, ob er Beschwerden gegen sie und die Stadt vorzubringen habe. Auf diesem Weg werden verschiedene Gesetzesarten und damit Gesetzgebungsbereiche verhandelt: die Ehegesetze genauso wie die Gesetze über physische und geistige Erziehung (paideia) (50d–e). Es sind im Wesentlichen diese Bereiche, die Platon in der ›Politeia‹ und in den ›Nomoi‹ in zwei unterschiedlichen Ausrichtungen philosophischer Gesetzgebung seinerseits abhandeln wird. Bemerkenswert ist der Nachdruck, mit dem die Gesetze ihre Dazu nachdrücklich R. Kraut, Socrates and the State, a. a. O., S. 43 ff., ebenso wie L. Strauss, On Plato’s ›Apology of Socrates‹ and ›Crito‹, a. a. O., sowie Seubert, Polis und Nomos, a. a. O., S. 170 ff.

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Bedeutung für Sokrates formulieren. Prinzipiell, wird man annehmen dürfen, bezieht sich dieser Anspruch in ähnlicher Weise auf alle Bürger. In besonderem Maße gilt er jedoch für den Mann, der sein ganzes Leben der Gesetzesprüfung (dokimasia) gewidmet hat. Und damit wird in exponierter Weise die Angewiesenheit des Philosophen auf die Rechtsordnung belegt: »Kannst du zuerst wohl leugnen, dass du nicht unser warst als Abkömmling und Knecht, du und deine Vorfahren?« (50e), fragen ihn die Gesetze. Sokrates könne auch nicht leugnen, dass seine Weisheit von den Gesetzen ausgehe. Nicht Sokrates spricht also hier, sondern die Gesetze. Innerhalb dieser Fiktion wendet er sich auch an Kriton: »Was sollen wir hierauf sagen, O Kriton? Daß es wahr ist, was die Gesetze sagen, oder nicht?« (51e). Kriton muss auch dies eingestehen: Wenn diese Wohltat der Gesetze zutrifft und zugleich wahr ist, dass er so eng in ihnen verwurzelt ist, wenn sie überdies durch eine tiefe Gesetzesaneignung und -prüfung bestätigt ist, so bedeutete die Flucht einen gravierenden Akt der Verletzung dieses Vertrauens. Emigration wäre ein Akt der Missbilligung und fehlenden Wertschätzung gegenüber den Gesetzen. Dies wird John Locke, ohne Berufung auf Platon, später weiter auffächern und die Nutzung der gesetzlich geregelten Bereiche öffentlichen Lebens als Zustimmung zu diesen Gesetzen beurteilen. 53 Der andere Weg, also die Gesetze seines Gemeinwesens sich nicht zu eigen zu machen, würde verlangen, dass man die Stadt verlässt oder zumindest in einer konsequenten inneren Emigration lebt. »Wir verkünden dennoch, indem wir Freiheit gestatten jedem Athener, der es nur will, dass, wenn jemand Bürger geworden ist und den Zustand der Stadt und uns, die Gesetze, kennengelernt hat und wir ihm dann nicht gefallen, er das Seinige nehmen und fortgehen dürfe, wohin er nur will« (51d). Äußerlich sehen die Gesetze in ihrem Elenchos die besondere Art, in der Sokrates ihnen verpflichtet ist, darin manifestiert, dass er niemals aus der Stadt Athen weggegangen ist, auch nicht um Schauspielen oder Kulten in anderen Poleis beizuwohnen. Die Gesetze deuten dies – im Blick auf seine innerliche Handlung – so, dass seine Sorge dieser Stadt und ihren Menschen gegolten habe und dass er M. P. Zuckert, Launching liberalism. On Lockean political philosophy. University Press of Kansas, Lawrence, Kansas 2002, im Sinn von staatlicher Gehorsamsverpflichtung in Fragen des Eigentums aufgenommen von O. Höffe, Kritik der Freiheit. Das Grundproblem der Moderne. München 2015, vor allem S. 233 ff. und S. 255 ff.

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die spezifische Art seines Bürgerseins nur im Rahmen dieser Stadt und im Spielraum ihrer Gesetze ausführen konnte. Deshalb würde Sokrates seine Verträge (synthekas) (52e) mit den Gesetzen Athens aufkündigen, wenn er nun in der Bedrängnis der Verurteilung flüchten würde. »Du aber hast weder Lakedaimon vorgezogen noch Krete, die du doch immer rühmst als wohlgeordnete Staaten, noch irgendeinen andern von den hellenischen Staaten oder von den unhellenischen« (53a). Schließlich nehmen die Gesetze sogar die Rolle der inneren Stimme des Sokrates, des sokratischen Daimonion, an. Die Bedeutung der Nomokratie als eigentlich gerechte Herrschaft und ihre enge Verbindung zur philosophischen Fragebewegung wird damit deutlich. Ein in Thessalien schmausender Sokrates würde in einem seiner inneren Stimme und den Gesetzen Athens untreu. Er würde auch sich selbst untreu und damit würde er sogar die ungerechtfertigte Anklage indirekt ins Recht setzen. »Denn wer der Gesetze Verderber ist, muss wohl gar sehr dafür gehalten werden, auch der jüngeren und noch unvernünftigen Menschen Verderber zu sein« (53c). Da der Ursprung der Gesetze zugleich göttlich ist, würde eine Missachtung der Gesetze vermutlich sogar den Tatbestand des Frevels gegen die Götter erfüllen und damit in einem weiteren Punkt der Anklage Recht geben. Ihre Rede besiegeln die Gesetze mit einem eschatologischen Ausblick auf die »Brüder«, die Gesetze der Unterwelt, die dieser Verurteilung zustimmen und sie in die Ewigkeit hinein verlängern würden (54d). Es ist bemerkenswert, dass diesem Text, anders als im ›Phaidon‹, kein Trost angesichts des Todes eingeschrieben ist. Die knappe Formel verweist aber auf die Mythen, die in verschiedenen Dialogen den Abschluss des Argumentationszusammenhangs besiegeln und jene unterweltlichen Gesetze unmittelbar zur Sprache bringen. Das einzig stabile Moment, das angesichts des Elenchos bleibt, ist die Überzeugung des Sokrates, dass den gerechten Gesetzen der Stadt zu folgen ist, auch wenn sie von unwürdigen Vertretern angewendet werden. An dieser Haltung gegenüber den Gesetzen wird er erkennbar. Kriton kann darauf nichts mehr erwidern. Er sieht sich widerlegt. Die Folge kann nur sein, dass Sokrates den Weg zum Tod geht. Entgegen der wohlfeilen Aufspaltungen in ›Theorie‹ und ›Praxis‹, die gerade auf Philosophie und Philosophieren immer wieder projiziert wurden, zeigt sich an der sokratischen Lebensform, dem 73 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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›Bios Sokratou‹, die Untrennbarkeit des einen vom anderen, und damit auch die Untrennbarkeit theoretischer und praktischer Philosophie bzw. Vernunft. 54 Bei Platon sind sie noch ungeschieden. Erst Aristoteles nimmt die Trennung vor.

Die ›Apologie‹ im Licht des ›Kriton‹ Vor dem Hintergrund der elenchtische Fragebewegungen im KritonDialog erschließt sich erst die Bedeutung der ›Apologie‹. Der zweifache Anklagepunkt gegen Sokrates, er mache sich des Asebiefrevels schuldig, des Frevels gegen die Götter, und er verführe die Jugend, mag eine gewisse Berechtigung gehabt haben, wenn man Aristophanes’ ›Frösche‹ heranzieht. 55 Diese Komödie könnte, wie etwa von Leo Strauss vermutet wurde, die Denk- und Lehrweise des jüngeren Sokrates darstellen. Dabei warnt ein Freund den Philosophen, er könne sich selbst nicht vor der mächtigsten Gegeninstitution schützen, auf die sein Philosophieren aber essentiell angewiesen sei, nämlich vor der Polis. Man werde ihm sein Dach über dem Kopf anzünden. Wenn man die implizite Kritik betrachtet, wird deutlich, dass sie in der Tat die Formierung platonischen/sokratischen Philosophierens künftig kennzeichnet: 1. Sokrates fehlt es dieser Vorhaltung zufolge an Selbsteinsicht, der Einsicht in die Bedingtheiten seiner eigenen Handlungen. Darauf aber sollte seine spätere philosophische Fertigkeit gerade beruhen. Unbedenklich sind nur Situationen, in denen das Daimonion nicht zu ihm spricht. 2. Ihm wird von den Inhabern der Polisautorität ein Unvermögen unterstellt, die philosophische Lebensform und ihre Forschungsweise ihrerseits zu begründen. Die etwa in dem in vielen Zügen sehr verdienstvollen Platon-Handbuch vorgenommene Aufsplitterung in ›Zentrale Themen und Problemfelder der Schriften Platons‹ (IV) und darauf folgend ›Zentrale Stichwörter zu Platon‹ (V) deutet schon in der Unentschiedenheit der Struktur die Problematik einer solchen Überformung an. Demgegenüber geht es mir darum, gerade die Überlappungen und Interrelationen zwischen den verschiedenen Feldern zu zeigen. Daraus können jeweils Einsichten hervorgehen, die später in den Bereichen der theoretischen oder der praktischen Philosophie verankert sein werden. 55 Siehe L. Strauss, Socrates and Aristophanes. New York, London 1966. 54

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3.

Sokrates wird vorgeworfen, dass er, obwohl er die Wesensfrage aufwirft, nicht die Fähigkeit zum Schutz seiner Lebensform habe. Er sei nicht in der Lage, seine eigenen Angelegenheiten gegenüber der Bürgerschaft zu vertreten. Was diesen letzten Punkt angeht, erinnere man sich, dass in Antizipationen, die die platonische Dialogkunst erlaubt, auch Sokrates’ Gesprächspartner wiederholt darauf verweisen, dass er nicht in der Lage sein würde, sich vor dem Gerichtshof der angestammten attischen Polis zu verteidigen. 56 Schließlich mahnt Aristophanes auch zu einer besseren Kenntnis der menschlichen Natur, die für die philosophische Psychagogik unerlässlich sein dürfte.

In einer gewissen Weise, durchaus zwiespältig, setzt Sokrates die Unterscheidung zwischen der freundlichen und der philosophiefeindlichen Haltung auch in seiner ›Apologie‹ ein: Es macht eine bezeichnende Differenz aus, ob er vor den ihm befreundeten oder den ihm feindlich gestimmten Richtern spricht. 57 Sokrates’ ›Apologie‹ ist im strengen Sinn überhaupt keine Verteidigungsrede. Er verteidigt sich bekanntlich nicht. Er stellt seinen Weg zur Einsicht (20d1 ff.) nur dar. In diesem Zusammenhang erkennt Sokrates schon in der ›Apologie‹ die Begründung eines Hasses, einer nicht zu schlichtenden Gegnerschaft der Stadtbürgerschaft zu seiner Haltung in der Stadt. In prominenten Textpassagen wie dem Schiffs- und dem Höhlengleichnis 58 wird Platon diese exzentrische Haltung, die den Bürgern ein Ärgernis ist, zur Darstellung bringen. Nimmt man die Aristophanes-Zeugnisse und die ›Apologie‹ zusammen, wie es Leo Strauss angeraten hat, 59 so zeigt sich, dass die Anklage gegen Sokrates einen Angriff führt, der einerseits nicht zutrifft, andererseits aber die möglichen Gefährdungen seiner in der Polis atopischen Lebensform durchaus zutreffend bezeichnet. Sokrates wendet sich gegen seine Ankläger, die bislang nicht öffentlich aufgetreten seien, sodass eine offene Zwiesprache und eine Prüfung ihres Wissens nicht möglich waren.

Dazu wieder L. Strauss, Socrates and Aristophanes, a. a. O. Vgl. C. D. C. Reeve, Socrates in the Apology. Indianapolis 1989, insbes. S. 88 ff. Siehe auch Vlastos, Socrates. Ironist and moral philosopher. Cambridge 1991. 58 Zur Deutung Benardete, Socrates’ Second Sailing. On Plato’s Republic. Chicago 1989. 59 Strauss, Socrates and Aristophanes, a. a. O., S. 45 ff. 56 57

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Melitos, der Wortführer der jüngeren Gruppe der Ankläger, erweist sich als ein Verleumder, der zugleich ebenso wenig wie irgendein anderer die grundsätzliche Zustimmung des Sokrates zu den attischen Gesetzen in Zweifel ziehen kann. Er wird von Sokrates wie ein Freund in einen Elenchos gezogen. 60 Daher wird man auch vor dieser Redesituation mit Recht die Frage aufwerfen können, inwiefern die sokratische Apologie eine Verteidigungsrede im herkömmlichen Sinn ist. Die standardisierten Verteidigungen hatten im Athen des 5. Jahrhunderts bestimmte Gattungsmerkmale: Bezogen waren sie zuerst auf die Quaestio facti. Es ging also darum, einen Sachverhalt oder eine Tat festzustellen – und darin suchten sie Entlastendes oder Empfehlendes vorzubringen. Sokrates hingegen kümmert sich um einen ganzen Wahrheitszusammenhang, das Grundverhältnis zwischen dem Philosophen und der Polis. Er möchte nichts anderes, als der Wahrheit gemäß zu sagen, was ist: die wahren Umstände zu erkennen zu geben. Den Melitos aber zieht er in seine Rede- und Gedankenbewegung, die sich deutlich von der Abwehr der feindlichen Ankläger unterscheidet. 61 Zum einen ist der Vorwurf, Sokrates habe die Jugend verdorben, zentrales Thema (24d–25a). Gegenüber Melitos bedient sich Sokrates durchaus der elenchtischen Methodik und damit einer nüchtern philosophischen Befragung des Inhalts der Vorhaltung. Schlechtermachen setzt ein Bessermachen voraus. Melitos gibt zu bedenken, es seien die Gesetze, die die Jugend besser machten (24d). Diese Antwort ist als propositionale Aussage nicht falsch, sie ist aber ungenügend. Zudem wird sie, was aufgrund der impliziten Dramaturgie sofort einleuchtet, auch wenn es nicht thematisiert wird, von einem Falschen ausgesagt, der nämlich den Gesetzesbegriff nur als positiv rechtlichen Begriff gebraucht und sogar gegen den Geist der Gesetze handelt. Zum anderen stößt die Untersuchung auf das Problem vor (25d), ob Sokrates vorsätzlich gefehlt habe oder nicht. Niemand tut frei-

Dazu Th. Meyer, Platons Apologie. Stuttgart 1962, insbes. S. 41 ff., siehe auch Reeve, Socrates in the Apology, S. 43 ff. 61 Man kann daran erinnern, dass sich die Blickwendung zur philosophischen Befragung selbst nicht philosophisch begründen, sondern nur ansinnen und mitvollziehen lässt. Dies zeigen die platonischen Dialoge eindrücklich. Vgl. H. Blumenberg, Der Prozess der theoretischen Neugierde. Frankfurt/Main 1973, S. 28, siehe auch W. Schrader, Propädeutik der Philosophie. ›Vorhof‹ dieser Wissenschaft. I. Teil, in: Perspektiven der Philosophie 18 (1992), S. 141 ff. 60

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willig Unrecht, ist ein Grundsatz des Sokrates in den frühen und mittleren Dialogen. 62 Damit verbunden und für den Argumentationsgang der ›Apologie‹ ungleich wichtiger ist die grenzbegriffliche Untersuchung des Göttlichen. Sokrates hatte in seinem Bericht über sein eigenes Verhalten gegenüber dem Spruch des delphischen Orakels bereits zu verstehen gegeben, dass seine philosophische Befragung letztlich dem Gott verpflichtet sei. Gemäß dem Anspruch des Gottes habe er versucht, Wissen von Nicht-Wissen zu unterscheiden und damit zu jener Weisheit zu gelangen, die in der Lage sein soll, von Affekten (pathemata) zu reinigen (29a). Daher (29d) rückt Sokrates sein eigenes Daimonion in die unmittelbare Nachbarschaft des Göttlichen. Dieses Daimonion zu hören und zu erkennen, fordert einen inneren Umgang mit sich selbst. Es gibt die eigensten inneren Pflichten als Kern der bürgerschaftlichen Pflichten zu erkennen, womit auf die Gerechtigkeitsbestimmung der ›Politeia‹ vorausgedeutet wird. Proleptisch kann man diese Lesart ergänzen. Dort wird es heißen, Gerechtigkeit bedeute, »das Seine tun«, ›ta heautou prattein‹. Die Ähnlichkeit, aber gerade nicht Identität der großen und kleinen Zeichenschrift, die Unterscheidung der Gerechtigkeit in der Polis von der Gerechtigkeit in der Seele, entfaltet das problematische Verhältnis des Philosophen zur Polis, das in der ›Apologie‹ debattiert wird. Sokrates’ Daimonion spricht in der Regel nur negativ. Es rät nur ab. Positive Empfehlungen unterbreitet es nicht. Es transzendiert dabei durchaus das bürgerschaftlich Gebotene. Die politische Engagiertheit des Philosophen kann es nicht anempfehlen noch gar gebieten. Diese immer in Spannung begriffene Bezogenheit auf die Polis liegt in der Logik der elenchtischen Fragekunst selbst. Sokrates verweist auch darauf gegenüber den Anklägern: Der Philosoph zählt nicht die Stimmen, er wägt ihr argumentatives Gewicht. Die Verteidigung der eigenen Stadt und des in den Gesetzen niedergelegten Guten ist auch den Richtern auferlegt. Sokrates macht vor Gericht die Bekanntschaft mit dem Wesen der Strafe. Strafe ist immer, auch wo sie rechtens vollzogen wird, eine unschöne Handlung. Deshalb ist sie in der Tat zu verabscheuen, ihre relative Rechtfertigung hat sie allerdings darin, dass sie den guten Ausgangszustand wiederherstellt. In einer gerechten ›Apologie‹ Dazu grundlegend M. Erler, Der Sinn der Aporien in den Dialogen Platons. Berlin, New York 1987.

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müsste es im Extrem dahin kommen, dass der einsichtige Verbrecher für seine eigene Verurteilung und Bestrafung votiert, wenn diese gerecht ist. 63 Dies weicht natürlich von den gängigen Verhaltensweisen vor Gericht ab. Sokrates aber kommt dieser Haltung zumindest nahe: Er verzichtet auf jede Aufführung eines theatralischen Aktes, der für ihn einnehmen und Mitleid erregen könnte. Deshalb bringt er auch seine klagende und verzweifelte Familie nicht vor die Richter. Dass Sokrates in der ›Apologie‹ offenzulegen versucht, was für ihn charakteristisch ist, dass er gleichsam den Typos seines Lebens und Denkens exponiert, ist nicht zu verkennen. Gleichwohl bleiben Differenzen, die in der Sache liegen, namentlich in dem Spannungsverhältnis des Philosophen gegenüber der Polis. Er glaube an die Götter wie jeder Bürger, gesteht Sokrates einerseits ein. Andererseits aber legt das Daimonion ein spezifisches Verhältnis zum Göttlichen nahe. Daraus konnten seine Gegner durchaus Gründe gewinnen, in der ›Philosophia Sokratou‹ eine eigene Lebensweise und die Begründung einer Stadt in der Stadt zu sehen, die die allgemeinen bürgerschaftlichen Grundsätze in Frage stellen könnte. Sokrates selbst jedoch weist die Insinuierung einer solchen Gegengründung entschieden zurück. Er bestätigt damit, dass das Esoterische das Exoterische ist, und betont, er habe niemandem eine verborgene Lehre mitgeteilt. Mit der Verurteilung in einer Abstimmung mit knappem Ausgang – »was, wenn der Elenchos noch längere Zeit hätte in Anspruch nehmen können?«, fragt Sokrates in der Rede nach dem Urteilsspruch – ist indessen das Verfahren noch nicht beendet. 64 Anschließend wird die Festsetzung eines Strafmaßes verhandelt. Sokrates wird nach der Gerichtspraxis dazu genötigt, sich zu diesen Fragen auch selbst zu äußern. Wenn er über seine Behandlung zu befinden hätte, könnte er nur eine Auszeichnung erwägen, die Speisung im Prytaneion, eine Ehrenbezeugung, die ihm für die Befragung der Polisbürger zukomme. Zu den Vorbestimmungen der Gerechtigkeit im ›Gorgias‹ vgl. Seubert, Polis und Nomos, a. a. O., S. 235 ff., sowie P. Stemmer, Unrecht Tun ist schlechter als Unrecht Leiden. Zur Begründung moralischen Handelns im platonischen Gorgias, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 39 (1985), S. 501 ff. 64 Siehe dazu auch Szlezák, Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie, a. a. O., S. 238, sowie O. Gigon, Sokrates. Sein Bild in Dichtung und Geschichte. Bern, München 1979, S. 7 ff. und S. 69 ff. 63

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Geldstrafen scheinen von Sokrates nur fiktiv erwogen zu werden. Sie widersprächen dem Anspruch, in Festigkeit und Kontinuität als der sich zu erweisen, der er im bisherigen Leben gewesen ist. Zwei Schlussreden besiegeln dieses Zeugnis, und sie folgen ihrerseits noch einmal einer Unterscheidung: Die eine wendet sich an die verurteilenden, die andere an die freisprechenden Richter (39c). Die Richter, die ihn freisprachen, nennt Sokrates in der Unterredung Freunde. Er verweist mithin auf die symphilosophische Freundschaftsbeziehung; daher erwägt er mit ihnen gemeinsam, was der Tod sei und wer den besseren Teil erwählt habe, derjenige, der am Leben bleibe, oder derjenige, der in den Tod gehe. Diesen »Freunden« gegenüber können die Folgen des Handelns symphilosophisch befragt werden.

Sokrates und die Polis-Sittlichkeit: ›Menexenos‹ und ›Minos‹ Es versteht sich, dass der platonische Sokrates nicht mit dem ›kalos k’agathos aner‹, also dem vorbildlichen Gentleman und Stadtbürger des Xenophon gleichgesetzt werden kann. Die eigentümliche Weise, in der Sokrates auf die Gesetze der Stadt Athen bezogen ist, haben aber dennoch nicht nur einen exterritorialen Zuschnitt. Sie betonen nicht nur die Spannung, sondern auch den Zusammenhang von Philosophie und Bürgerlichkeit. Dies wird insbesondere in seiner Lobrede, dem Enkomion, auf die Polis-Sittlichkeit deutlich: dem ›Menexenos‹. Lange Zeit gab es in der philologisch-philosophischen Forschung an der Authentizität dieses Textes Zweifel. Denn singulär und gegen seine eigentliche Wissensform erweist sich Sokrates hier als öffentlicher Redner. Er preist die jungen Gefallenen Athens, nimmt aber Elemente aus der ›Apologie‹ und sogar der späteren Konzeption einer philosophischen Redekunst vorweg. 65 Denn es soll gerade nicht mit Mitteln des Pathos und der Affekte gesprochen werden. Vielmehr geht es darum, die Stabilität des Ruhms der Polis aufzuweisen, wobei auf das mythologische Motiv der Gleichheit der Geburt (isogoia) und das rechtlich-rationale Motiv der Rechtsgleichheit (isonomia) verwiesen wird (238b–c). 66 Der gute Wille des Volkes wird dabei ausdrücklich

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Vgl. Szlezák, Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie, a. a. O., S. 113 Vgl. auch Friedländer, Platon, Band II, S. 231 ff.

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positiv hervorgehoben. Diese Verfassung werde von »manchen« Demokratie genannt. Doch was sie im Kern sei, sei damit nicht begriffen. Diese Aussagen kontrastieren ganz offensichtlich mit der strikten Verurteilung der attischen Demokratie in der ›Politeia‹. Eher schon sind sie mit einzelnen Aussagen der ›Nomoi‹ zu verbinden, die keineswegs ein Verdikt fällen. Entscheidend aber ist eine Polisfreundschaft, die sich auch in der Fürsorge (epimeleia) für die verwaisten Familien zeige (249c). Dadurch kann die Gesetzeserkenntnis zu einer wirklichen Weisheit vertieft werden. Denn »wenn sie von Gerechtigkeit und den übrigen Tugenden getrennt ist, zeigt sie sich nur als Verschlagenheit (panourgia), nicht als Weisheit« (247a). Eine wahrheitsfinite Definition muss in einer solchen längeren Lobrede nicht vorkommen. Was das Gesetz ist, wird aber im ›Minos‹-Dialog näher thematisiert. Dieser wohl frühe Dialog wirft im Blick auf den kretischen göttlichen Urgesetzgeber die Frage auf, was Recht und Gesetz sind. In den ›Nomoi‹ wird der kretische Leitfaden der Frage nach dem Recht noch einmal aufgenommen. Die spezifische Gesetzestreue des Sokrates hat indes – und hier bestätigen sich die Aussagen aus dem ›Kriton‹ – nichts mit Konventionalismus oder Traditionalismus gemeinsam. 67 Im selben Zusammenhang tritt die Differenz zwischen einem universalen Gesetzesbegriff und den partikulären Rechtsbegriffen mit in den Blick. So fragt der ungenannte »Freund« im Dialog: »Nach was für einem Gesetz fragst du?« (313a), und Sokrates sekundiert ihm. Ist das Gesetz dann, wie der erste Definitionsversuch nahelegt, tatsächlich nur eine thetische Festsetzung? Dies käme den sophistischen Vorstellungen nahe. Der Nomos wäre dann, auch im etymologischen Sinn, das, was festgesetzt worden ist (nomizomena) (313b). Ein zweiter Definitionsversuch geht nicht wesentlich darüber hinaus, wenn das Gesetz als Ensemble von »Beschlüssen und Verordnungen« (domata tauta kai psephismata) benannt wird (314b). Sokrates betont dann aber die unveränderliche Gültigkeit der Gesetze, die offensichtlich gar keiner weiteren Beweisführung bedarf. Ein Gesetz »entdeckt« vielmehr, was ist. Es ist also Relation zu diesem vorfindlichen Ethos, eine Findung, aber keineswegs eine Erfindung. Gerade in der Musik, Bemerkenswert ist, dass bereits im ›Minos‹ der Zusammenhang mit der kretischen Gesetzgebung und damit der minoische Konnex sichtbar wird. Vgl. dazu G. Camassa, Aux origines de la codification écrite des lois en Grèce, in: M. Detienne (Hg.), Les savoirs de l’écriture en Grèce ancienne. Lille 1988, S. 130 ff. Vgl. auch S. Benardete, The Discovering of Being. Chicago 2000.

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in der die Tonfolgen einem bestimmten, oft über Jahrhunderte festliegenden Gesetz, einem Grundnomos folgen, lässt sich die Dauerhaftigkeit von Gesetzen konstatieren. In diesem Zusammenhang wird auch die Verbindung der Gesetze mit einer göttlichen Urstiftung und mit der ›Soteria‹, der Rettung aus Chaos und Aufständen, verbunden. Minos habe, so heißt es, für seine Mitbürger als Gesetz festgelegt, was er selbst im Sinn seines Umgangs mit Zeus für schön erkannte (320a6). Der Gesetzgeber beherrscht demnach die gesamte königliche Kunst, sein Bruder Rhadamanthys hingegen nur einen Teil von ihr, das Richteramt (320b8). Damit ist eine Rang- und Bedeutungsdifferenz festgehalten: Das eigentlich schöne und gute Gesetz ist von einem Gesetzgeber gestiftet, das in Rechtsprechungen sichtbar werdende Recht ist demgegenüber sekundär. Es ist Anwendung, die, wie zumal die Rechtsakte gegen Sokrates zeigten, auch korrumpiert werden kann. Der ›Minos‹ endet mit einer besonders drastischen Defizitanzeige, wie sie auch im ›Hippias maior‹ aufzufinden war. Die Kenntnis des Gesetzgebers, was gerecht und ungerecht sei und woran sich das eine wie das andere hefte, habe man nicht auffinden können. »Aber zur Schande gereicht es gewiss unser beider Seelen, dass sie offenbar werden, von sich selbst nicht zu wissen, worauf ihr Wohl und Wehe beruht, vom Leib aber und den übrigen Dingen es untersucht zu haben« (321d). Hier ist der Prospekt auf eine Klärung geöffnet, die erst in der ›Politeia‹ und ihrem Verständnis der »inneren Handlung« (entos praxis) (441c4 ff.) aufgelöst werden kann. Im ›Minos‹ sind Andeutungen skizziert, die recht weitreichende Folgen haben, aber nicht ausgeführt werden. Das Gesetz weist auf die Ordnung des Seins insgesamt hin. Es ist also nicht nur juridisch-forensischer, sondern zugleich ontischer Natur.

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ZWEITES KAPITEL: EROS UND TOD: DAS SOKRATES-EVANGELIUM (›SYMPOSION‹ – ›PHAIDON‹ – ›PHAIDROS‹)

Die beiden großen Daseinsmächte Eros und Tod sind für Platon noch das unmittelbare Gegenüber seines Denkens. Bei Aristoteles werden die Sphären von Dichtung und Religion nur Illustrationen und Beispiele sein, denen sich die philosophische Argumentation nähert. Diesem fundamentalen Unterschied gilt es Rechnung zu tragen. In zwei Dialogen oder eher Redefolgen, dem ›Symposion‹ und dem ›Phaidon‹, wird diese Dimension eingehend und thematisch explizit ausgelotet. Platon komponiert hier umfassende Reden, die Sokrates in den frühen Dialogen und den Auseinandersetzungen mit den Sophisten eher als Blendwerk beargwöhnt hatte: Würden sich doch die allzu souveränen und großen Reden einer detaillierten Rechenschaft entziehen. In Sokrates’ Diotima-Rede im platonischen ›Symposion‹ wird die Wesensnatur des Eros als dämonisch, also zweideutig, charakterisiert. Er ist das Kind von Poros, dem Reichtum, genauer: der Findigkeit verschiedenster Wege, und Penia, der Armut und Ausweglosigkeit. Daher ist Eros ein Zwischenwesen. Dieser Charakterzug ist auch der Philosophie eigen. Denn, wie Sokrates sagt, die Vollkommenen, die Götter, philosophieren nicht. Ebenso wenig gehe Philosophie aber aus reiner Unverständigkeit hervor. Wer sich über das Wesen des Eros unterrichtet habe, der kenne mithin auch das Wesen der Philosophie. Beiden sei die Suche nach Unsterblichkeit eigen. Der antiplatonische Platoniker Friedrich Nietzsche hat gerade diesen Grundzug kongenial erkannt, wenn er beschwor, dass alle Lust Ewigkeit wolle, nämlich »tiefe, tiefe Ewigkeit«. Bemerkenswert ist aber, dass Sokrates dieses Wesen des Eros nicht aus dessen Eigenmacht gewinnt, sondern es von der Fremden aus Mantinea, der Priesterin Diotima, vernimmt. Damit nimmt die Urstiftung des philosophischen Denkens eine weibliche Stimme an. Auch die Auffassung, bei Platon bleibe der Logos statisch auf sich selbst bezogen, sollte von hier aus korrigiert werden. 1. Die dieser Daseinsmacht eigene Suche nach Unsterblichkeit 82 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

EROS UND TOD

rührt daher, dass der Eros sich als fragil erweist und doch dauerhaft sein soll. Im Aufstiegsweg der Diotima-Rede wird gezeigt, wie sich das eroshafte Grundverhältnis zunächst an der sinnlichen Gestalt entzündet, in der das Schöne und Liebenswerte unmittelbar sinnlich ein- und aufleuchtet, also in der ›plötzlich‹ erscheinenden Schönheit. Zuerst wird sie an einem einzelnen schönen Leib sichtbar, dann, nachdem die physische Schönheit als vergänglich wahrgenommen wurde, an der inneren Form der Seele bis hin zu dem höchsten Grund des Schönen in der einen und höchsten Idee, der Idee des Guten. Ihre Zeugung vollendet den Stufenweg des Schönen (212c4), der sonst jederzeit abbrechen kann. Die Stufenfolge hängt aber an einer inneren Dynamik: Sie geht davon aus, etwas um seiner selbst willen zu lieben. Dies wird den Eros, auch durch die christliche Kontrapunktik und die Ablösung des Eros durch Agape hindurch, zu einem der zentralen Begriffe des abendländischen Denkens formen. Mit dieser dämonischen Natur des Eros verbindet sich eine doppelte Anspielung. Sie richtet sich einerseits auf das Daimonion des Sokrates, die warnende und mahnende Stimme, die ihm nur einmal, am Ende seines Lebens, eine positive Weisung gibt, nämlich: »Sokrates, treibe Musik!« Dieses Daimonion bleibt in einer Zweideutigkeit, aus der sich auch die Liebe zur Weisheit niemals lösen kann. Andrerseits aber zielt die Diotima-Rede auf die innere Struktur der Zweiheit von Mangel und Reichtum: Sie ist auch für die Bewegung des philosophischen Denkens von entscheidender Bedeutung. Es bleibt in der philosophischen Denkbewegung ein grundlegender Mangel an Gewissheit. Wäre es anders, würde man sich nicht auf die Suche nach der Wahrheit und dem einen festen Punkt einlassen. Man könnte sich einem religiösen oder weltanschaulichen Trost überantworten, der gemessen an der Philosophie aber doch nur Meinung ist. Ebenso muss eine Grundlust, ein gewisser Übermut leitend sein, damit die philosophische Fragebewegung überhaupt in Gang kommt. Philosophie ist eben nicht Weisheit. Sie bleibt unabgeschlossene Suche nach ihr. Damit kann sie sich allererst kritisch den vermeintlichen Weisheiten annähern. Es wird nützlich sein, zunächst eine Übersicht über den Gang des ›Symposion‹ zu gewinnen: Alle der Diotima-Rede vorausgehenden Eros-Reden enthalten zwar, wie schon Friedrich August Wolf wusste, Teilwahrheiten. Doch sie legen den Eros auf Eindeutigkeit fest. Phaidros benennt ihn als Vater des Logos, er leitet den Rahmen ein. Der Arzt Eryximachos versucht diese Eindeutigkeit festzuhalten, 83 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

EROS UND TOD

indem er zwei Arten des Eros unterscheidet, einen hohen und einen niederen, und ihre universale, durchdringende Wirkung hervorhebt. Darin verberge sich ein innerer Widerspruch. Der universale Eros sei gerade gespalten. Eros in seiner zweifachen Gestalt sei überall in der Natur wirksam. Harmonie oder Disharmonie seien danach bemessen, ob der sittliche, gute Eros oder der irreführende, unsittliche wirksam ist. Dies ist nach Eryximachos auch der Maßstab, nach dem Gesundheit oder Krankheit zu unterscheiden sind. In einem Grundoptimismus des Arztes meint Eryximachos, der maßvolle, göttliche Eros nehme den stärkeren Part ein. Er stifte Frieden durch die natürliche Welt hindurch, »so dass wir sowohl miteinander umgehn können und befreundet sein als auch mit den herrlicheren als wir, den Göttern« (188d). Danach spricht der Komödiendichter Aristophanes. Er grenzt sich von den Reden des Phaidros und des Eryximachos eindeutig ab. Beide hätten sie nicht groß genug von Eros gesprochen. Würde man den Eros in seinem göttlichen Wesen erkennen, so müsse man ihm Altäre errichten. In einer Vertauschung der Positionen, die eine weitere Anspielung auf jene im Eros liegende Zweiheit ist, verweist Aristophanes auf den Mythos des ursprünglich hermaphroditischen Menschen, der aufgrund der durchgehenden Überfülle, in der er lebte, zur Hybris neigte und deshalb von den Göttern getrennt wurde. Die beiden einander zugehörenden Teile seien nach außen gewendet worden, am Rücken wurden die einstigen Kugelmenschen miteinander verbunden und zugleich definitiv und ohne Möglichkeit, zueinander zu finden, voneinander getrennt. Da die Menschen in jener separierten, auf das Teil eines Ganzen zerspaltenen Form nicht überleben konnten und einer tiefen Trauer verfielen, hätten sich die Götter ihrer erbarmt und sie losgemacht, sodass jedes sein Gegenstück finden könne. Gelingen könne diese Verschmelzung freilich nur für kurze Zeit. Die Verschmelzung bleibe temporär, der Mensch ein von seinem Komplement geschiedenes Wesen. Der Eros aber sei Führer in die Ahnung der Ureinheit (191d1 ff.). Seine doppelte Natur wird damit zu einer großen Ursprungserzählung umfiguriert. Er sei nicht anfangslos. Entstanden sei er aus dem Verlust der Einheit, aufgrund der Trennung des sphärischen Einheitsmenschen. Man mag darin auch eine Nähe zu Sündenfall und Vertreibung aus dem Paradies erkennen. Eros erweist sich als Artikulation einer Sehnsucht nach der Verschmelzung des Einen aus der Zweiheit. Aristophanes spricht es deutlich aus: »durch Nahesein und Verschmelzen mit dem Gelieb84 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

EROS UND TOD

ten aus Zweien Einer zu werden« (192e) sei die Grunddefinition von Liebe. Und noch deutlicher bestimmt er es in einem Bild: Solche Entzweit-Geeinten, wie man im Sinn der Deutung des Ginkgo-Baums bei Goethe sagen könnte, würden dem Schmiedegott Hephaistos, wenn er ihnen anböte, sie sichtbar zusammenzuschmieden, begeistert antworten, genau so solle es sein. Sie würden also gerne ihre zweigespaltene, einzelne Individualität ineinander aufgehen lassen. Diese Neigung ist auch der Philosophie nahe, die aus der unbestimmten Zweiheit in die Einheit der höchsten Idee zurücktendiert. Erst von ihr her empfängt sie ihre Einheit. Beachtenswert sind die Signale am Rand, die in der Beschreibung der Dialogsituation die Rede wie Regieanweisungen flankieren. Agathon kann erst später sprechen als vorgesehen, weil er unter einem Schluckauf leidet, der erst behoben ist, nachdem er kräftig niesen konnte. Aristophanes, ein offensichtlich sprichwörtlich schöner Mann zum Zeitpunkt dieser Rede, wundert sich, »wie doch das Wohlgeordnete des Leibes solches Geräusch und solchen Kitzel begehren mag« (189a). Der arrivierte Komödiendichter fragt sich, ob er, wenn er der göttlichen und zur Einheitsrückkehr rufenden Kraft des Eros gemäß handle, nicht etwas gewollt Lächerliches hervorbringe. Dies würde ja seiner Muse entsprechen und wäre daher kein Unglück. Die Gefahr sei vielmehr, dass er etwas unbewusst Lächerliches erzeuge. Damit ist unterschwellig eine Differenz von Leib und Seele, von performativer Elementarneigung und Höhe des Eros angedeutet. Eben darauf spielt Sokrates mit seinem beginnenden Elenchos an, wenn er Aristophanes die Frage stellt, vor welchen Hörern er für seinen Logos Scham empfinden würde. Der Tragödiendichter Agathon hingegen rühmt in einem Lobpreis die Wohltaten des Eros, seine Schönheit, seine uneingeschränkte Gutheit. Die Zweiheit scheint hier keine Rolle zu spielen. Sie kommt Agathon gar nicht in den Blick. Eros ist für ihn ein Gott, der alle Anziehungskräfte in Gang hält und glückliche Fügungen zuwege bringt. Eros wird sogar mit der höchsten göttlichen Macht gleichgesetzt, die gegensätzliche Eigenschaften vereint: äußerste Zartheit, Sanftheit und Entschiedenheit (195e). Er stifte Wohltaten unter Göttern und Menschen. Apollon werde im Licht des Mythos wie ein Schüler des Eros angesehen. Diesem werde freiwillig gedient, er sei »der beste Lenker, Helfer, Berater und Retter, aller Götter und Menschen Zier« (199e). Sokrates formuliert seine eigene Eros-Rede erst nach einigem 85 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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Zögern und Vorbehalt. Dies kommt auch in anderen Dialogen im Zusammenhang seiner Äußerungen immer wieder vor und verdient besondere Aufmerksamkeit. Sokrates leitet seine Rede durch eine Kritik an der Rhetorik der vorausgehenden Reden ein. Er zollt ihnen ein Scheinlob für die Schönheit ihrer Epitheta, die bei aller Erlesenheit aber nur sagten, wie Eros erscheine, nicht wie er seinem Wesen nach sei. Angesichts der stringenten Scheidung von Schein und dem, was in Wahrheit ist, kommt dieser Trennungslinie großes Gewicht zu. Sokrates schreckt davor zurück, selbst eine Lobrede auf Eros zu halten: »Die Zunge also hat versprochen, die Seele aber nicht« (190a). Dann aber präzisiert er: »Denn ich halte nun keine Lobrede nach dieser Weise; ich könnte es auch nicht. Indessen die Wahrheit, wenn ihr wollt, die will ich euch wohl sagen nach meiner Art, nicht wie eure Reden waren, damit ich kein Gelächter bereite« (199a–b). Nicht in der Weise der anderen Reden und ihrer Erzeugung von Schein und Glanz, sondern nach der Wahrheit wolle er sprechen. Und dann zieht er den Agathon tatsächlich in ein elenchtisches Gespräch hinein. Nicht die Scham (aischyne) ist dabei, wie in dem angedeuteten Präludium, das durchgehend leitende Motiv. Sie wird aber in den Dialogen, die der Auseinandersetzung mit der Sophistik gewidmet sind, vor allem im ›Gorgias‹, an zentraler Stelle mit thematisiert. Erst indem das dämonische Wesen des Eros in Sokrates’ von Diotima entliehener Rede freigelegt ist, kann auch deutlich ausgesagt werden, dass er ein Zwischenwesen, ein Wesen im Zwischenraum (metaxy) ist. Er ist Inbegriff eines Seins des »Weder – noch«, das nicht auf die eine noch auf die andere Seite der Eigenschaftsskala, der Fülle oder des Mangels, des Besitzens oder Nicht-besitzens, tendiert. Zugleich ist er Wesen eines »Sowohl – als auch«, das an einigen jener Eigenschaften Anteil hat. Von seiner Mutter Penia her, der Armut, sei der Eros weder gut noch schön, von seinem Vater her, dem listenreichen Poros, sei er »ein gewaltiger Jäger« und Spieler. Die Analogie zur Philosophie (204a) wird ausdrücklich gezogen. Auch die Philosophie bleibt ein Zwischenwesen. Wenn sie in der Fülle der Einsichten und Erkenntnisse wäre, bräuchte es keine philosophische Fragebewegung mehr. Auch völlige Unwissenheit kann ausgeschlossen werden. Sie ist zur philosophischen Verständigung nicht in der Lage. Durch diese Analogie werden Philosophie und Eros als ortlos und nicht-festgelegt charakterisiert. Sie bewegt sich damit in der Spannung von Sterblichkeit und Unsterblichkeit: unsterbliche Ge86 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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danken sterblicher Menschen, die wissen müssen, dass sie nicht Gott sind. Das Satyrspiel folgt dann in einer Parodierung des mit der Philosophie erreichten Maßes an Sinnklarheit. Solche Parodien haben den Weg des Sokrates und den Weg der Philosophie auch von außen und in der Wahrnehmung der Polisöffentlichkeit begleitet. Man denke nur an ›Die Wolken‹, Aristophanes’ Sokrates-Komödie. In Alkibiades’ berauschtem Auftritt zeigt sich vordergründig unmittelbar ein komischer, Lächerlichkeit erzeugender Effekt, der aber nachhaltig das Lachen gefrieren lässt. Alkibiades, der spätere Tyrann, gibt sich als erotischer Verehrer des Sokrates zu verstehen. Auch wenn der ungezügelte Eintritt von Alkibiades, des gealterten Liebhabers, nur peinlich genannt werden kann, erkennt doch gerade er wie kaum ein anderer Wesenszüge des Sokrates und entwirft eines der triftigsten Sokrates-Porträts. Manche dieser Wesenszüge trugen dem Sokrates die Verurteilung ein. Neben der Schrittfolge des philosophischen Eros wird aber gerade in dieser Rede das Porträt des wahren und wirklichen Philosophen entworfen, dessen Möglichkeit oder gar wirkliche Existenz in der Stadt Athen wiederholt geleugnet worden ist. Platon nennt deshalb Sokrates den einzigen Staatsmann, den Athen je gehabt habe und zugleich den »göttlichen Mann«. Er erweist sich als tapfer im Krieg und als unabhängig. So wie er am Morgen, auch nach der Symposions-Nacht, in größter Klarheit und Nüchternheit erwacht, so hält er der Kälte und den Angriffen stand. Und so wie berichtet wird, dass er sich immer wieder in der Ekstase des Denkens befinde, sodass er plötzlich stehen bleibt und weder einen Schritt nach vorne noch zurückgeht, so ignoriert er auch die Gefahr. Sodann ist es Alkibiades, der das berühmte Sinnbild von der Silenfigur auf Sokrates anwendet. Deren Inneres ist von Gold und reiner Lauterkeit. Man muss sich dies wie die Mitte in einem aufgefächerten Rahmen von Matrioschkas denken. Nicht nur die sokratische Gestalt, pyknisch und für sich genommen wenig anziehend, birgt diesen goldenen Kern. Auch die sokratischen Reden sind so verfasst. Sie sind keineswegs erhebend und in vornehmem Ton gehalten. Vielmehr handeln sie von Alltäglichkeiten, zerschneiden die großen Thesen in kleine Münzen und Beispiele aus der Alltagswelt. Im Inneren, so will Alkibiades sagen, enthalten jene Logoi aber kostbare und tiefe Einsichten, die weit über die Alltäglichkeit der gewählten Beispiele hinaustragen. Schließlich wird Sokrates als der sublimierte Liebhaber dar87 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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gestellt, der durch seine Frage- und Redekunst die jungen Leute in seinen Bann zieht: Eben dies macht verständlich, dass er als Verführer der Jugend verurteilt werden konnte. Nicht uninteressant ist das Marsyas-Bild. Es verweist auf den Flötenspieler, dessen Werke und Melodienfolgen so vollkommen gewesen sein sollen, dass sie auch durch schlechte Aufführungen nicht zu zerstören waren. Es ist kein Zufall, dass die große Rede über den Eros dem Sokrates von Diotima mitgeteilt wurde. Fremde ist sie im doppelten Sinn, als Priesterin aus Mantinea und als Frau. Sie löst dem Sokrates gleichsam über die kurzen Redewechsel hinaus die Zunge. Damit könnte sie ein Beispiel jener »wahren Redekunst« geben, auf die der platonische Sokrates an verschiedenen Stellen seiner Dialoge abzielt. 2. Den Status solcher Reden zeigt also erst der ›Phaidros‹ exemplarisch an. Thematisch markiert er hingegen die Schnittstelle zwischen der Frage nach Eros und Tod, der durch den Bezug zu Schriftlichkeit besonders umkreist wird. Seiner Bedeutungsstruktur nach kann man den Dialog aber als eine implizite Methodenlehre einer »wahren Rhetorik« verstehen. Auf seiner offensichtlichen Oberflächenansicht ist er ein weiterer Dialog über den Eros. In seinem zweiten Teil erst wird jene »wahre Rhetorik« umrissen, die noch über die Philosophie hinausgeht und die Beherrschung der dialektischen Kunstfertigkeit voraussetzt. Eine solche Redekunst hat offensichtlich nichts mit der gängigen täuschenden Rhetorik zu tun und auch nichts mit einem instrumentellen Gebrauch der Rede, den auch die philosophischen Gesetzgeber in der ›Politeia‹ einsetzen, um eine »richtige Meinung« zu befestigen, die nicht auf Wissen gegründet sein kann. Die wahre Rhetorik erfordert vielmehr Kenntnis der philosophischen Dialektik, die zur Durchdringung der Wahrheit führen soll. Vor allem müssen diejenigen, die sie beherrschen, Kenntnis über die Natur des Ganzen und der Seele haben (268d–e). Diese Rhetorik verrichtet also nicht ein beliebiges Werk. Ihr ›idion ergon‹ ist das Ganze. Dabei geht sie durchwegs bewusst und gleichsam sehend vor. Die Kraft dieser Form von Rede ist die Seelenleitung. Gängige politische Rhetorik ist deshalb keine Vorübung dazu. Sie führt in die diametral entgegengesetzte Richtung, denn sie befasst sich mit der Erzeugung von Schein. Die wahre Rhetorik dagegen richtet sich, gemäß der Fragetechnik in der sokratischen Elenchtik, auf das ›ti estin‹. Sie möchte wissen, wann etwas wirklich und in Wahrheit ist. Man kann aus dieser Rechtfertigung und zugleich Kriteriologie 88 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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der philosophischen Redekunst die Vermutung gewinnen, dass Lehrreden, die die Form des elenchtischen Dialogs verlassen, ob sie nun unter Teilnahme der Sokratesgestalt stattfinden oder nicht, Manifestationen einer solchen philosophischen Rhetorik seien. Dies dürfte dann nicht nur für die Eros-Rede der Priesterin von Mantinea gelten, sondern auch für einen solchen Monolithen im platonischen Werk wie den ›Timaios‹. In der Auslegungsgeschichte findet allerdings diese andere, aus der Erkenntnis der Wahrheit erst hervorgehende Rhetorik selten die Beachtung, die sie verdienen würde. Jedenfalls steht sie eindeutig im Schatten der sogenannten Schriftkritik, die bis in die gadamersche Hermeneutik und die derridasche Dekonstruktion hinein vielfache Fußnoten evoziert hat. Legitimiert ist die Schrift demnach als eine Folge von Erinnerungszeichen (Mimemata) an den wissenden und prüfenden Erkenntnisvollzug. Schriftzeichen werden mit der Malerei verglichen. Sie täuschen Lebendigkeit vor, können sie aber nicht darstellen, da sie letztlich starres Bild bleiben. »Du könntest glauben, sie sprächen, als verstünden sie etwas, fragst du sie aber lernbegierig über das Gesagte, so enthalten sie doch nur ein und dasselbe stets« (275d). Außerdem kursieren und schweifen die verschriftlichten Reden ins Unbestimmte, während doch der mündliche Dialog einen Adressaten oder eine Adressatin hat, und sogar, wie es im ›Charmides‹ heißt, direkt in deren Antlitz zielt. Schrift sei demgegenüber ein künstliches ›L’art pour l’art‹, ein Adonisgärtchen, das man pflegen kann, das aber mit der umgebenden Welt nichts zu tun hat. In der Schrift, lässt Platon seinen Sokrates gegenüber Phaidros sagen, beruhe vieles auf bloßer Meinung, »ohne tiefere Untersuchung und Belehrung«; zusammengefügt seien die Schriften des Überredens und nicht der Erkenntnis wegen. Allerdings geht es dabei nicht allein um die Schrift. Auch eine rhetorische Mitteilungsmethode, die sich auf große Redebögen kapriziert und nicht die kleinere Münze des prüfbaren Arguments gibt, unterliegt demselben Grundmangel. Damit sind offensichtlich Charakterzüge der sokratischen Denk- und Wissensform ins Relief getrieben, die Platon für exemplarisch hält und die er sich deshalb selbst zu eigen macht. Ungleich stärker als das ›Symposion‹ bringt der ›Phaidros‹ die erotische Interessiertheit mit zum Ausdruck. Die Rhetorikkritik, die im Umkreis der ›Politeia‹ auch eine Kritik an der öffentlichen Manipulation durch die Doxa ist, zeigt sich in einem hoch differenzierten Spiel mit den Konventionen von Liebhaber (Erastes) und Geliebtem (Eromenos). 89 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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Der Dialog führt zunächst in dieses hochkomplexe und konventionalisierte Gefüge ein. Bei aller Konvention ist aber eine leidenschaftliche innere Beteiligung offensichtlich nicht ausgeschlossen. Phaidros verliest zunächst die erste Eros-Rede (237a8) des Lysias, einen kühl abständigen Diskurs über den Vorzug des Umworbenen, selbst nicht verliebt zu sein. Vorzuziehen sei es auch, einen kühlen, nicht verliebten Verehrer zu haben. Phaidros ist ganz offensichtlich in diesen Lysias verliebt. Dessen niedergeschriebener Rede die Stimme zu verleihen, scheint die einzige Möglichkeit der Annäherung zu sein. Die Vorzüge der Rede, die Phaidros mit Begeisterung aus der Schrift vorliest, werden von Sokrates ironisch pariert (234d–f). Sokrates hält daraufhin, wieder in dem bekannten Widerstreben, eine erste, sehr vorläufige Eros-Rede. Sie charakterisiert Verliebtheit als eine Begierde (epithymia) (237d) und gibt dann eine trivialisierte Seelenlehre wieder, wonach in der Seele zwei Kräfte neben- und gegeneinanderstehen, die angeborene Begierde nach Lust und ein erlerntes sittliches Streben, das sich auf das Beste ausrichtet. Dieses Vulgärverständnis platonischer Enthaltsamkeit führt zu einigen Schlussfolgerungen, die zu einer Schmähung des Eros tendieren: Der Liebhaber werde gerade nicht besser an Leib und Seele; er werde vielmehr treulos und aufsässig, und auch seine Wirkungen auf den Jüngeren sind keinesfalls förderlich. Sie halten ihn vielmehr im Bann des eigenen Egoismus. Bis dahin wird das Gespräch von ironischen Signalen einer Distanzierung von dem erotischen und rhetorischen Enthusiasmus durchzogen. Phaidros bemerkt sehr genau, dass Sokrates sich hier zu längeren Reden aufschwingt, als er es sonst tut. Und der gibt zurück, dass er tatsächlich vom Enthusiasmus ergriffen sei (242c–d). Dies würde noch viel gravierender ausfallen, wenn er den Eros und einen Geliebten nicht tadeln, sondern tatsächlich rühmen würde. Sokrates hält daraufhin in dem bekannten Gestus des Widerstrebens eine Gegenrede, die er geradezu kultisch auflädt. Unter der Voraussetzung der theologischen Götterlehre, wonach Eros ein Gott und Sohn der Aphrodite ist und alle Wirkungen, die von ihm ausgehen, selbst göttlich sind, kann keine der beiden vorausgehenden Reden, also weder die Rede des Lysias noch die erste Eros-Rede des Sokrates, die Wahrheit treffen. Der Eros darf, so hält Sokrates dem Phaidros entgegen, nicht geschmäht werden. Der stimmt zwar zu. Doch er kennt den Eros offenbar nicht, denn die gesamte Lysias-Rede verstieß gegen diese Warnung. 90 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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Die zweite Sokratesrede ist deshalb zunächst ein Lob auf Manie, Enthusiasmus und Wahnsinn, wie sie dem Eros anhaften. Die Größe des Eros manifestiert sich nicht zuletzt in diesen Zügen. Es soll bewiesen werden (245b), dass die Götter Wahn und Ekstase als Wohltat verleihen. Liebe erscheint hier nicht mehr einfach als »Begierde«, sondern als Begeisterung (249d), weil sie sich an das zwischen zwei Inkarnationen gesehene überweltliche, kosmische und göttliche Schöne zurückerinnert und sich in die himmlische Urheimat zurückwendet. Verdeutlicht wird dies an der berühmten mythischen Gleichnisrede von der Seele als Pferdegespann. Bedingt und gefährdet ist dieses Gespann, weil die Pferde, die es ziehen sollen, nicht beide gut sind, so wie es bei göttlichen Pferden der Fall wäre. Vielmehr zieht eines der Pferde in die richtige und gute, das andere in die entgegengesetzte Richtung. Damit ist die Ambivalenz zwischen Aufstieg und Abfall thematisiert, die im ›Symposion‹ in der Zwienatur des Eros angezeigt worden war. Die »sühnende«, also die Bedeutung des Eros wiederherstellende Rede des Sokrates bedient sich also keineswegs der Ironie. Sie legt die Zusammenhänge so offen, wie sie in Wahrheit sind. Aufgenommen wird auch der Mythos des Gerichts. Welche leibliche Inkarnation eine Seele nach dem jeweiligen sphärischen Umlauf erhalten wird, ist nach dem Adrasteia-Gesetz keineswegs klar (248c). Enthusiasmus und Fiederung der Seelen sind aber durchaus als Positiva und Steigerungen des Lebens ausgezeichnet. Dagegen gibt es auch die stumpfen Seelen, die nichts sehen und die darum auch nicht aufsteigen können. In kondensierter Form zeigt sich hier der Zusammenhang von Eros und Wahrheit. Und damit wird über die mythologische Gestalt hinaus die Erfassung des Einen, Wahren aus der Vielheit der Wahrnehmungen als Grundbedingung für den Aufstieg der Seelen benannt (249c). Jene höchste Wahrheit zeigt sich allerdings gestalthaft, plötzlich (exaiphnes) als Schönheit. Hier hat die berühmte Bestimmung von der Flucht des Wahren in das Schöne ihren Ort. Schönheit ist im Sinn des ›Phaidros‹ in sich selbst Erscheinung und Idee. »Denn der Gerechtigkeit, Besonnenheit und was sonst den Seelen köstlich ist, hiesige Abbilder haben keinen Glanz, sondern nur mit trüben Werkzeugen können auch nur Wenige von ihnen mit Mühe jenen Bildern sich nahend des Abgebildeten Geschlecht erkennen« (250b2). Davon ist die Schönheit zu unterscheiden, sie ist das Leuchtendste (ekphanestaton) und damit zugleich das Liebenswürdigste (erasmiotaton) 91 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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(250d). Es ist das goethesche »So wahr, so seiend«, das darauf vielleicht über die Jahrhunderte am überzeugendsten antwortet und auf die auch die Phänomenologen am Letztpunkt der Evidenz immer wieder zielten: Die Dimension des Seins selbst zeigt sich in der Erscheinung. Deshalb beschwört die Rede des Sokrates die Anziehungskraft der Schönheit, die das Gefieder aus der Seele heraustreibt und diese in eine Dynamik der Transzendenz treibt. Die abbildhafte, in den konkreten Liebesverhältnissen sich zeigende Dimension ist nach Platons Aussage jederzeit gefährdet. Aus diesem Grund kommt der Psychagogik, der Seelenführerschaft eine so große Bedeutung zu. Plastisch wird gezeigt, wie das nur begehrende Pferd seine Zähne zeigt und nur dann, wenn es dem Psychagogen, dem ›Ich‹, gelingt, wieder in die Harmonie des Gespanns zurückgeführt werden kann. Im Spätdialog ›Nomoi‹ wird Platon vom Rausch als einer eigenen Form der Enthusiasmuserzeugung sprechen. Und er wird vorschreiben, dass so wie man die Tapferkeit im Krieg austestet, man auch die Gesinntheit der Seele in der Ekstase erproben müsse; ganz im Unterschied zu der modernen Psychoanalyse, die das Ich zwischen Über-Ich und Es in eine bedrängte Zwischenlage bringt, sodass diagnostiziert werden muss, dass jenes Ich nicht Herr im eigenen Hause sei, kommt ihm gerade durch seine fragile Zwischenstellung die herausragende Position des Lenkers der Pferde zu. Es ist keineswegs eine Arabeske, dass Platon eingesteht, diese Worte über den Eros hätten »etwas dichterisch« ausgeführt werden müssen. Jedenfalls findet diese Aussage dann ihren Widerhall darin, dass auch die Philosophie unter die Ägide der Musen gestellt wird, und zwar der beiden höchsten von ihnen: »Kalliope und ihrer nächstfolgenden Schwester Urania« (259d). 3. Es ist der nahende Tod des Sokrates, der diese eindrücklichen Zeugnisse seines philosophischen Ethos hervorbringt. Die Szene vom sterbenden Sokrates gehört zu den markantesten Erinnerungszeichen der europäischen Kultur. Mit seinem Klage und Schmerz überwindenden Sterben wurde er zur vielfach nachgeahmten Ikone der Philosophie. Unzählige Male ist das Motiv in Malerei und bildender Kunst dargestellt worden. Die Dramatik der Szenerie ist deutlich: In der inneren Chronologie im Verhältnis zu Sokrates’ Leben folgt der ›Phaidon‹ auf den ›Kriton‹ : Der Elenchos der Gesetze hatte die Möglichkeit zur Flucht endgültig abgeschnitten. Das Schiff ist aus Delos

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zurück. Die Hinrichtung durch den Schierlingsbecher kann vollstreckt werden. Die Rahmenerzählung des Dialogs insgesamt malt die Umstände in kraftvollem Kolorit aus: Phaidon berichtet dem Echekrates von den letzten Stunden des Sokrates und seinen späten Gesprächen mit ihm. Figuren, die aus verschiedenen Sokratesdialogen vertraut sind, begegnen wieder. Nur Platon, der selten genug im platonischen Dialogwerk namentlich erwähnt wird, sei krank gewesen. Auch Kriton, der zuletzt versucht hatte, auf Sokrates einzureden, begegnet wieder, gefestigt angesichts des Unabänderlichen: »Als wir nun hineintraten, fanden wir den Sokrates eben entfesselt, und Xanthippe, du kennst sie doch, sein Söhnchen auf dem Arm haltend, saß neben ihm. Als uns Xanthippe nun sah, wehklagte sie und redete allerlei dergleichen wie Frauen pflegen […]. Da wendete sich Sokrates zum Kriton und sprach: O Kriton, lass doch jemand diese nach Hause führen« (60a). Berichtet wird auch der einmalige positive Ratschlag des Daimonion, das zu Sokrates im Gefängnis sagte: »O Sokrates, mach und treibe Musik« (60e). Sokrates folgt dieser Weisung, auch wenn er ihren Sinn zunächst nicht einsieht. Denn die Philosophie sei doch, meint er, die schönste Musik. Er spielt einige harmlose Stücke auf der Flöte, apollinisch geordnete, nicht dionysisch wegflutende Kunst. Denn, wie in der Versenkung in die Binnenstruktur des Dialoges deutlich werden wird: Die dionysische Urmacht manifestiert sich in der Philosophie. Diese Szenerie sollte man im Blick behalten, wenn man die argumentative Seite im ›Phaidon‹ bedenkt. Er entwickelt hier die Grundform seiner Ideenlehre vor der Frage, ob die Seele nach dem Tod fortlebt und ob sie unsterblich genannt werden kann. Dies wäre der Trost angesichts des Todes, den auch Sokrates’ Hörer als dunklen Orkus und vernichtende Unterwelt verstehen. Daher muss die in ›Kriton‹ und ›Apologie‹ nur als Vermutung geäußerte Auffassung erhärtet werden, dass der Tod aller Wahrscheinlichkeit nichts Übles bringe. Im ›Phaidon‹ ist die These des Sokrates, dass der Philosoph auf den Tod hinlebe, der eigentliche Ansatzpunkt der Ideenlehre. Sokrates positioniert zunächst mit dem Wortspiel von ›Soma‹ und ›Sema‹ diese Unterscheidung sehr klar. Die Philosophie sorgt sich ausdrücklich um die Seele. Die Trennung der Seele aus der Gefangenschaft des Leibes ist daher der Punkt, an dem ihre Sorge sich erfüllt. Weshalb sollte also der Philosoph den Tod fürchten? Umso gewichtiger werden 93 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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Einsprüche wie jener des Kebes, ob denn die Seele wirklich unsterblich sei, ja ob sie überhaupt den Leib überdaure. Wäre sie es nicht, wäre die Philosophie nur für eine diesseitige Lebensführung tragfähig. Für dieses begrenzte Ziel wäre sie, könnte man konjizieren, vielleicht eine zu große Anstrengung. Der rationale Gottesdienst des Sokrates, als den er seine Befragungskunst verstanden hatte, könnte dann aber auf einer Täuschung beruhen. Und der Abschied wäre unwiderruflich; ein Gedanke, der die untröstlichen Klagen der Freunde besonders bestimmt. Sokrates widerlegt Kebes’ Argument zunächst in einer naturphilosophischen Überlegung, die auf den Zyklus von Leben und Tod und die physisologische Entstehung der Dinge aus ihrem jeweiligen Gegenteil Bezug nimmt. Doch offensichtlich bleibt der Verweis auf die Natur und ihre empirischen Beschreibungen unzureichend. Damit greift Sokrates auf die spätere Aushilfe bei einer »zweitbesten Seefahrt« (deuteros plous) zurück, die zur Ideenlehre führt. Er wählt in diesem Zusammenhang ein Zusatzargument aus der sehr voraussetzungsreichen Anamnesis-Lehre, die im Ansatz im ›Menon‹ und systematisch-flächig im ›Theaitetos‹ entwickelt ist. Wiedererinnerung an zeitlose, nicht erfahrene Wahrheit setzt Unsterblichkeit voraus. Offensichtlich hat ein solcher Beweis aber gerade nicht den Charakter des ›hikanon‹, des schlechterdings ›Genügenden‹. Er erklärt ein X mit einem noch weniger fassbaren U, und es stellt sich die weitergehende Frage, ob Unsterblichkeit auch bereits das Fortbestehen der Seele nach dem Tod voraussetzen würde. Die Zäsur gegenüber den ionischen Naturphilosophen, die einzelne Elemente als Ursprung und Ziel (arché) bezeichneten, sieht Sokrates bekanntlich im Nous des Anaxagoras. Der Geist selbst wird dabei als Ursache des Seienden erkannt. Damit werde erstmals ein Ursprung und Grund des Seienden im Ganzen genannt, der nicht Teil dieses Seienden ist. Der Geist wird erstmals zum Prinzip erklärt. Doch der Nous des Anaxagoras bleibe selbst folgenlos. Anaxagoras könne nicht zeigen, wie aus ihm das Seiende hervorgeht und damit wird der Nous-Begriff selbst wieder renaturalisiert. Deshalb muss der Weg über die Idee und die »zweitbeste Seefahrt« gewählt werden. Der zweite Beweisversuch ist auch eher als Vorgriff denn als eine Beweisführung zu verstehen, die hinreichend ist (hikanon). Platon lässt seinen Sokrates festhalten, dass die Seele dem Unvergänglichen näher ist als der Leib. Dies wird einerseits an der Sterblichkeit des Leibes abgelesen. Der kategoriale Maßstab für das, was unver94 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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gänglich ist, fehlt aber. Diese Klärung könnte offensichtlich nur durch die protologische Form der Ideenlehre gewonnen werden, die bis auf weiteres noch aussteht. Deshalb ist es auch in der Sache berechtigt, wenn Simmias eine »gründlichere Behandlung der Unsterblichkeitsfrage« erbittet. Simmias versteht die Seele, durchaus in der Folge von Sokrates Soma-Sema-Trennung, als eine Harmonie des Leibes, die ihn als Spannung – etwa im Sinn der ›palintonos harmonia‹ des Heraklit – vor dem Tod des Leibes oder zumindest mit ihm gemeinsam verlässt. Der Gegeneinwand des Kebes bleibt auf der Ebene kontingenter Beispiele: Die Seele überdaure allenfalls einige Körper. Er möchte zwar die sokratische Behauptung stärken, doch tatsächlich muss auch er einräumen, dass die Unsterblichkeit noch keineswegs erwiesen ist. Es geht, wie sich an dieser Stelle des Dialogs besonders prominent zeigt, offensichtlich um viel mehr als darum, dass ein Beweisziel zu scheitern droht. Es geht auch existentiell um die Trostlosigkeit und Überwältigung durch den Schmerz, die unvermeidbar wären, wenn es dabei bliebe. Zugleich wird aber sichtbar, dass sich das Philosophieren angesichts der Urerfahrung des Todes auf einem sehr fragilen Terrain bewegt. Dies trägt noch Sokrates’ Resümee: dass niemand zu sagen vermöge, dass sich die Dinge genauso verhielten, dass es so oder so ähnlich sei, das müsse hingegen jedem verständigen Mann einleuchten. Nicht die Einzelauseinandersetzung mit den Einwänden, sondern erst die Entwicklung der Ideenlehre führt zu einer relativen Beruhigung der Zweifel. Sokrates setzt sie als ›deuteros plous‹ an, als zweitbeste Seefahrt, die nicht den Wind zu Hilfe nehmen kann. Wenn es so wäre, würden sich die Gründe für die Unsterblichkeit der Seele unmittelbar der Natur ablesen lassen. Bei der »zweitbesten Seefahrt« bedarf es der Ruderbewegung. Damit löst sich die begründende Ideenphilosophie aus der frühen Bestimmung von Arche und Aitia nach einzelnen Elementen. Erst Anaxagoras habe mit seinem Nous-Begriff einen anderen Maßstab gewonnen. Das Kernargument besagt nun, dass die Ideen dauerhaft sind und das eigentliche Wesen einer Sache ausmachen. Gegensätzliche Ideen können gemäß der angesetzten Widerspruchslosigkeit der Idee nicht gleichzeitig auftreten. Die Idee des Lebens schließt deshalb den Tod aus. Auch Eigenschaften, die den Ideen zukommen, können nicht am Gegenteil aufgewiesen werden. Der Satz vom ausgeschlossenen Dritten wird damit als integraler Bestandteil der Ideenlehre fixiert. Wenn es Hegel als charakteristischen Wesenszug der Ausbildung 95 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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abendländischer Metaphysik begriff, dass sie die Begriffe ›fest‹ mache, während die moderne Spekulation sie wieder verflüssigen müsse, so kann die Einsetzung der Dialektik im ›Phaidon‹ geradezu als Paradigma des ersten Falles gelten. Zweifel bleiben freilich zurück. Dass der philosophische Trost die Gesprächspartner des Sokrates befriedigt habe, wird man kaum sagen können. Dass es sich genauso verhalte, wie gezeigt werden sollte, könne man nicht behaupten, räumt der sterbende Sokrates ein. Nur Wahrscheinlichkeit, nicht Beweiskraft wird erreicht. Deshalb erweist sich das Gespräch, erst recht angesichts der realen Bedrohung durch den bevorstehenden Tod des Sokrates, als nicht abgeschlossen. Der Mythos über das Schicksal der Seele nach dem Tod setzt die Fermata, die argumentativ nur im Sinn einer Wahrscheinlichkeit gewonnen werden kann. Der Mythos und die Handlung, also die Philosophenlegende vom sterbenden Sokrates, die die tiefe Gelassenheit angesichts des Todes bezeugt, bewirken eine Beruhigung, die zunächst ausgeblieben war. Kein Göttertrost und wohl auch nicht die argumentative Schlüssigkeit lösen dies aus, sondern das Standhalten der besseren Gründe angesichts des Todes. Wenn Aristoteles lehren wird (Eth. Nic. I, 9), dass man keinen Menschen vor dessen Tod glücklich nennen solle, weil man nicht wisse, was dieser Tod bringe, ist dies ein Kommentar zu dem Grundtext vom sterbenden Sokrates. Manche Vertreter späterer Philosophenschulen haben ebenfalls solche Kommentare in ihrem eigenen Leben und Sterben formuliert. Sokrates weiß: Wenn er dem Tod nicht standhielte, so wäre dies ein letztes Dementi der eigenen Lebensform. Dass die Beweisstruktur an ihr Ende kommt, wird einerseits durch die Handlung des Sterbens des Sokrates signalisiert, andrerseits durch den abschließenden Mythos. Er entwickelt zunächst eine Beschreibung der Erde, die keineswegs geographisch hinreichend zu vermessen und zu beschreiben ist. Dieser chthonische Mythos, der selten in seiner ganzen Differenziertheit beachtet wird, kann durchaus in Korrespondenz mit dem Höhlengleichnis gesehen werden. Es sei eine Täuschung zu meinen, dass die Menschen auf der wahren Erde lebten. Tatsächlich lebten sie in Höhlungen, die die Erde umgeben. Die wahre Erde liege nämlich »rein in dem reinen Himmel, an welchem auch die Sterne sind« (109b). Die Täuschung über den tatsächlichen Ort sei genauso gravierend, wie wenn einer, der am Grund des Meeres lebe, meinte, über den Meeren zu leben. Die wahre

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Erde, die sich im Ätherlicht zeigt, habe eine Klarheit und Reinheit, die allenfalls als Abglanz auf dieser Erde sichtbar sei. In dieser reinen Landschaft entscheidet sich das Schicksal der Seelen nach dem Tod. Damit korrespondiert der Phaidon-Mythos freilich dem Gerichtsmythos vom Pamphylier Er am Ende der ›Politeia‹. Wie dieser zeigt er, dass die Haltung der Seele in diesem Leben auch über ihr Schicksal angesichts des Todes entscheidet. In jenen Gerichtsszenerien ist von der »nackten Seele« die Rede. Kein Prunk und kein weltlicher Rang kann sie vor ihrer Beurteilung bewahren. Man erkennt hier, was Platon mit dem von allen Schlacken der Anthropomorphie gereinigten Grundcharakter der Seele in der ›Politeia‹ meint. Die mythische Geographie zeigt weiter, dass die homerischen Unterweltströme unter der Erde hindurchfließen (112a1). Das Gericht über die Seelen nach deren Tod manifestiert sich geographisch. Eine erste Personengruppe, die schwere, unvergebbare Schuld begangen hat, vor allem Heiligtumsfrevel und Morde, werde in den Tartaros geworfen, aus dem sie niemals wieder hinausgelange. Auch andere, Frevler gegenüber ihren Eltern und Mörder aus Affekt, kommen in den Tartaros, sie werden weiter in das Flusssystem gespült und müssen diejenigen, denen sie das Unrecht angetan haben, um Verzeihung bitten. Erst wenn sie ihnen erwiesen wird, werden sie entlassen und auf die wahre Erde versetzt. Nur die Personen, die ihren Schmuck gleichsam verinnerlicht haben, nämlich die Tugenden »Besonnenheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Wahrheit«, können einigermaßen gewiss die Unterweltsreise antreten. Mythos und eigenes vorbildliches Sterben machen die »Hoffnung« auf die Unsterblichkeit der Seele gewisser. Dennoch wird niemals vollständige Klarheit erreicht. Sokrates erklärt vielmehr die Annahme von der Unsterblichkeit der Seele für ein schönes Wagnis (114d), das man eingehen müsse. Diese Bestimmung korrespondiert mit der Aussage in der ›Politeia‹, dass die ›höchste Idee‹, die Idee des Guten, die allen anderen Aussagen den prinzipienhaften Grund geben soll, ihrerseits eine Hoffnung sei.

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I.

›Symposion‹ – oder: Das philosophische Geheimnis des Eros

Diotima – Die weiblich-fremde Mitte der Philosophie Beides, was Philosophie ist und was das Wesen der Sokratischen Lebensform (Bios Sokratou) ist, wird im ›Symposion‹ gezeigt, dem kunstvollen Gespräch über Tiefe und Untiefe des Eros, in dem verschiedenartige Logoi aufeinander treffen, wobei im Gravitationszentrum des Dialoges die Diotima-Rede des Sokrates und das silenische und satyrhafte Schauspiel des Alkibiades stehen (222d f.). ›Symposion‹ und ›Phaidon‹ sind völlig andere Texte als die aporetischen Frühdialoge. Dennoch sollen sie zunächst zur Sprache kommen. Sie geben eine Art Tonus und Grundstimmung vor, die bis zum Ende das Denken Platons bestimmen. Als Höhe- und Endpunkt der Reden über den Eros im ›Symposion‹ hat man die Sokrates-Rede verstanden. Sobald Sokrates das Wort ergreift, wird der Übergang in eine andere Tonart vollzogen. Nicht mehr die rhetorische Lobrede (Enkomion) ist damit bestimmend, sondern das philosophische Zwiegespräch. Wenn er in einem vorbereitenden elenchtischen Logos die Lobrede des Agathon zurückweist, wonach der Eros schön und gut sei (200c ff.), so bedeutet dies nichts weniger als eine Neuorientierung des Blickpunktes auch in inhaltlicher Sicht. Sokrates zielt darauf ab, dass das höchste Lob, sei es über den Eros, sei es über irgendeinen anderen Gegenstand, in nichts anderem bestehen könne als darin, die Wahrheit über ihn zu sagen (198d). Vom Wesen und Geheimnis des Eros weiß Sokrates allerdings nicht aus sich heraus. Als er das Widerlegungsgespräch abbricht und die Rede von Diotima, der Priesterin aus Mantinea, erinnert (20d), die mit ihm über den Eros sprach, hat er sich zugleich daran zu erinnern, dass er damals die Auffassung des Agathon geteilt habe. Wie Gerhard Krüger in seiner klassisch gewordenen Studie nachdrücklich gezeigt hat, 1 ist Diotima beides: Seherin und Denkerin. Sie weist den Sokrates in einen Bereich ein, der sein eigenstes Interesse betrifft, die geheimen Antriebe und die Macht der Philosophie. Dabei bleibt sie für Sokrates immer die Fremde und Andere (201e). Ihrem Wissen gegenG. Krüger, Einsicht und Leidenschaft. Das Wesen des platonischen Denkens. Frankfurt/Main 61992, hier S. 140 ff.

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›Symposion‹ – oder: Das philosophische Geheimnis des Eros

über bleibt er umgekehrt in der Lage des Hörenden und Empfangenden. Dies ist umso gravierender, als Sokrates an früherer Stelle im Dialog sagt, er wisse nichts anderes als die Dinge des Eros (177d). Eros und Philosophie sind also aufs engste miteinander verknüpft. Sie bilden ein gemeinsames Gewebe. Das Eigenste teilt sich aber in fremder Stimme mit, und nur durch den Mund der Diotima kann Sokrates zu seinem eigenen inneren Wissen kommen. Dabei gibt sie zu erkennen, als sie die Stufen des Eros wie die Wege einer mystagogischen Einweihung bis auf den höchsten Punkt entfaltet, dass es sehr fraglich sei, ob Sokrates in den Fragen des Eros je zur Vollkommenheit gelangen könne. Auch er könne zwar in die erotischen Mysterien eingeweiht werden. Doch ob er zur höchsten Schau (ta télea kaì epoptikà) gelange, wisse sie nicht. Diotima gibt dem Sokrates weiter zu verstehen, dass der Eros nicht gut und schön ist, so wie er dies annehme und wie es auch Auffassung der bisherigen Redner des ›Symposion‹ gewesen sei (201e). Als sie ihm erklärt, der Eros sei nicht gut, unternimmt er, wie ein ungelenker Gesprächspartner es tun muss, den entgegengesetzten Denkversuch: sei er dann also böse und hässlich? Eine solche Aussage über diese Grundmacht wäre doch unschicklich, unsinnig und frevelhaft; noch mehr als die vorläufige Gegenrede im ›Phaidros‹ es war. Diotima verweist deshalb darauf, dass der Eros etwas Mittleres (metaxy) sei – ganz so wie die Meinung etwas Mittleres ist zwischen Wissen und Nicht-Wissen (202b). Die Analogie hat keineswegs nur heuristischen Sinn. In ihr bereitet sich ein entscheidender inhaltlicher Übergang vor, der für die wahrheitsgemäße Rede über den Eros von struktureller Bedeutung sein wird. Indes gilt es zuerst zu sehen, dass die Zwischenstellung des Eros keinesfalls ein wohlgeordnetes Mittleres genannt werden kann. Er findet, wenn überhaupt, die Mitte aus den Extremen. Erstes Kennzeichen des Eros ist seine Bedürftigkeit. Er bedarf des Schönen und Guten, denn er hat beides nicht (202d). Damit verbunden ist seine Zwischenstellung, als Ortlosigkeit gekennzeichnet, ähnlich jenem atopischen Grundzug, wie ihn später Alkibiades an Sokrates aufweisen wird (215a). Atopisch suchend ist der Eros, da er weder Gott noch Mensch ist. Er ist vielmehr Mittler (Hermeneut) (215e) zwischen beiden Sphären, was die von Gerhard Krüger hervorgehobene, dem griechischen Weltverständnis provozierend fremde Implikation einer Menschenwelt, die von den Göttern abgetrennt ist, voraussetzt. 2 Zwischen den Göttern 2

Krüger, a. a. O., S. 143 und S. 148 f. Vgl. auch R. Rehn, Der entzauberte Eros: Sym-

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und den Menschen gibt es, in den Worten der Priesterin, keinen Austausch. Doch nur eine Welt aus Göttern und Menschen wäre ganz und gerundet. Damit deutet sich aber näherhin an, wie derjenige, der weder Gott noch Mensch ist, zur Mitte und damit zum Vermittler werden kann und wie er ein »großer Daimon« ist. Man kann nicht nur den Verweis auf das sokratische Daimonion heraushören. Etymologisch hängen auch Daimon und ›Eudaimonia‹ offensichtlich eng zusammen: die Bezeichnung für jene höchste Glückseligkeit und jenen vollkommenen Zustand, den die Götter immer und unauslöschlich besitzen und den der Mensch verloren hat. Der Dämon findet aber diese Vollkommenheit nicht. Er sucht den vollkommenen Zustand, er weiß um ihn. Doch er ist selbst ungesättigt und hat die eudaimonische Perspektive nicht erreicht. Insofern ist er, nach der Lehre der Diotima, der Zeit und der Sterblichkeit in anderer Weise und sogar noch dramatischer ausgesetzt als die Sterblichen. Dies unterscheidet ihn sehr deutlich von den unsterblichen Göttern. Auch temporal realisiert sich diese Zerrissenheit: Die Zeit wirkt am Daimon, in noch plötzlicheren und jäheren Umschwüngen als am Menschen. Er blüht im Augenblick auf, stirbt im Augenblick wieder und kann in Abständen auch wieder in das Leben zurückkehren (203e). Zudem ist er weder reich noch arm; er erwirbt zwar viel, doch kann er es nicht halten (204a). Alles dies sind Momente des Mythos von der Herkunft des Eros als Kind von Reichtum, von Vielerfahrenheit (poros) und Mangel (penia), die sein Wesen besser zu verstehen lehren, indem sie zugleich seine Herkunft thematisieren. Die Genese gibt das Wesens-was zu erkennen, eine Einsicht, die Sokrates auch in der Kosmogonie des ›Timaios‹ weiter verfolgen wird. Beide Elemente gehen in den Eros ein. Das Wesen des Vaters vor allem als Übermut und Spiellust. Vom Vater rührt jedoch auch die Vielfalt seiner Eigenschaften: Ist er doch Jäger, Fallensteller, Blender, Zauberer und Sophist (203e). Der Mangel dagegen, die Negation, ist sein Stachel und seine eigentliche Triebkraft. Die Zwischenstellung (das metaxy) des Eros ist zugleich Voraussetzung für seine philosophische Natur. Der Gott und der ganz und posion, in: Th. Kobusch und B. Mojsisch (Hg.), Platon. Seine Dialoge in der Sicht neuer Forschungen, a. a. O., S. 81 ff. und S. Matuschek, Die Macht des Gastmahls. Schlegels Gespräch über die Poesie und Platons Symposion, in: ders., (Hg.), Wo das philosophische Gespräch ganz in Dichtung übergeht. Platons Symposion und seine Wirkung in der Renaissance, Romantik und Moderne. Heidelberg 2002, S. 81 ff. Szlezák, Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie, a. a. O., S. 255 ff.

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›Symposion‹ – oder: Das philosophische Geheimnis des Eros

gar Weise würden nicht philosophieren. Die Philosophierenden sind weder die Weisen noch die ganz Unverständigen, denen sich solche Fragen gar nicht stellen. Es sind die Mittleren, die reiche Begabung und Ahnung der Fülle mit dem Mangel ihres endlichen Lebens verbinden. Bei ihnen verknüpfen sich Endlichkeit und Ewigkeit. Ausgehend von dieser Exposition beschreibt die Diotima-Rede einen kunstvollen Bogen und entwickelt das Wesen des Guten und die Hinsicht auf den Eros wechselseitig aus dem jeweils anderen. Eros möchte am Schönen und am Guten teilhaben. Im Schönen kommen das Gute und seine höchste Idee zur sinnlichen Darstellung. Wenn das sinnliche Schöne isoliert bleibt, so lässt es die Sehnsucht ungestillt weiterschweifen. Erst in der Verbindung mit dem Guten führt es in den Zustand einer dauerhaften, ewigen Eudaimonie (204e– 205a), den göttlichen Zustand, der keiner weiteren Anstrengung bedarf, auch nicht der Philosophie. Sokrates spricht deshalb seiner Lehrmeisterin gegenüber davon, dass erst das Fragen, das auf das Gute trifft, vollendet ist. Das Gute und das Schöne sind indes aufs engste miteinander verbunden. Das Gute wird eben deshalb als Zeugung und Geburt im Schönen bestimmt (206c). Die Poiesis, die Herstellung des Schönen, bildet eine Analogie zu diesem Vorgang. Ihr Rätselcharakter lässt sich an Musik und Dichtung ablesen. Die Erzeugung in einem Lebensakt geht jedoch weit darüber hinaus. 3 Sie ist Unsterblichkeit (athanasía) in der Sterblichkeit, Ewigkeit in der Zeit. Denn der Eros, der im Zeugungsgeschehen an sein Ende kommt, hat die bloße Schönheit schon transzendiert. Er ist ganz bei der höchsten Idee. In diesem Sinn widerspricht Diotima der Rede des Komödiendichters Aristophanes, die im Dialog vorausging und der zufolge der Eros seine verloren gegangene andere Hälfte suche (205c). Weder die Hälfte noch das Ganze kann sein Ziel sein. Er findet dieses Ziel in einem Schritt über sich hinaus in seinen Grund, in dem man das Gute ahnen kann. Nur in ihm kann er zur Ruhe kommen. Beide, Hälfte und Ganzes, ja alle Zielvorgaben, außer dem Guten, müssten den, der sie anstrebt, unerfüllt lassen und zu anderen Zielen weitertreiben. Die physische Zeugung führt allerdings nicht zu diesem Punkt. Sie vermag es nicht, überzeitlich zu werden und sich von der destruierenVgl. dazu auch G. Picht, Platons Dialoge ›Nomoi‹ und ›Symposion‹, a. a. O., S. 309 ff. und S. 380 ff.

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den Macht des Vergehens zu lösen. Zwar gilt auch für die physische Zeugung schon, dass sie die einzige Teilhabe an der göttlichen Dauer der Zeit ist, derer die Sterblichen fähig sind. Sie ist aber selbst zersplittert. Denn nicht dieselben können sich durch die Vergänglichkeit hindurchretten, sondern nur Neue (neoi), die Gezeugten, können sich zur überdauernden Generationenfolge aneinanderreihen (208a). In der Zeit als dem sich »abzählbar wandelnde[n], ewige[n] Abbild der in Einem bleibenden Ewigkeit« (Timaios 37d–f), von der die Sterblichen mit allem Seienden zusammen umfasst sind (periéchesthai) (vgl. auch Aristoteles Physik Delta 12, 221a28), 4 vergeht alles, so lehrt Diotima. Die Zeit ist eine ungeheure, unheimliche und zerstörende Macht. Der Eros ist eine Gegenkraft gegen ihre Vernichtung. Nietzsche wird es über die Kluft von zwei Jahrtausenden sagen: »Alle Lust will Ewigkeit, will tiefe, tiefe Ewigkeit«. Auch den Eros und die mit ihm zusammengedachte Fürsorge für die kommenden Generationen beschreibt Diotima als einen »ungeheuren Zustand« (207a), der Menschen dazu bringt, Qual und Tod auf sich zu nehmen. Hier zeigt sich bereits in der physischen Natur des Menschen eine Tendenz zu Transzendierung und Unsterblichkeit, die vor allem in der Überlegungskraft (logismos) (207b) liegt. 5 Wenig später erläutert Diotima dem Sokrates, dass es bei manchen, den Edlen und Seltenen, eine Zeugungskraft der Seele gibt, die jene im Leib weit übertrifft (209a). Gegen eine menschlich naheliegende Erwartung zeigt sich die Macht der Sterblichkeit gerade im Wissen (208a) und in der Polis. Auch alles Wissen ist nach Diotima dem Vergehen unterworfen. Und dies nicht nur, weil die Erkennenden selbst sterblich sind, sondern weil sie vergessen – ein bei Platon vielfach begegnendes Beispiel. Vergessen bedeutet das unwiederbringliche Entschwinden einer Erkenntnis. Jedes Nachdenken ist demgegenüber eine Erinnerungsübung. Es handelt von Identitäten und Übereinstimmungen. Doch Gleichheit ist immer Illusion. Alles Nachsinnen, die Übung des Denkens, richtet sich vielmehr auf eine vergangene und entschwundene Erkenntnis. Dies ist die Voraussetzung für das Wissen, die ›Noesis‹ des Philosophen, die im platonischen Sinn zeitlich bestimmtem WerSiehe zur Temporalstruktur des ›Symposion‹ : Rehn, Symposion, a. a. O., insbes. S. 87 f. Vgl. auch M. Fleischer, Hermeneutische Anthropologie. Platon-Aristoteles. Berlin, New York 1976. 5 An dieser Stelle wird im ›Symposion‹ auf den Mythos von Alkestis und Admet verwiesen, einen Opfermythos, der Alkestis in die Unterwelt verbannt. Der König Admet ist zugleich eng mit Apoll und damit der Schönheit verbunden. 4

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den und Vergehen nicht mehr unterworfen ist. Wissen, so heißt es im ›Phaidros‹, besteht darin, dass man die Wissenschaft (episteme), die man von einer Sache erworben hat, besitzt und nicht verloren hat (Phaidros 75d). Hier deutet sich indirekt erstmals die Analogie von Seele und Polis an. Denn der Diotima-Rede zufolge muss die Dauer und Sachlichkeit des Gedankens der Zeit ebenso abgerungen werden wie die Beständigkeit der Stadt. 6 Deshalb ist von der solonischen Zeugung der Gesetze als der bei weitem höchsten Besonnenheit (phronesis) die Rede (209a f.). Man wird diese Stelle auch parallel zu dem Wort im VII. Brief lesen können, dem zufolge die Polis in höchstem Maß das Nachdenken verlangt.

Wahrheit und Lüge: Alkibiades’ Satyrspiel Auf die Diotima-Rede antwortet jenes Satyrspiel, das weiter oben in seiner dramaturgischen Funktion bereits skizziert wurde: Alkibiades’ Lobrede auf Sokrates. Seine irisierende Wirkung, diese wirre Mixtur aus Verstehen und Nicht-Verstehen, wird dramaturgisch dadurch unterstrichen, dass Alkibiades in der Gesprächsfolge auf die DiotimaRede antwortet, die er aber selbst nicht gehört hat. Alkibiades hält seine Lobrede nach der komischen, teilweise auch unfreiwillig komischen Art; und er hält sie auf Sokrates, nicht auf den Gott Eros (214d). Schon dies ist eine sprechende Verwechslung. Es kann aber auch anzeigen, dass der Philosoph ein göttlicher Mann und irdischer Vertreter des Eros ist. Paradoxerweise erweist sich Alkibiades in allem Nicht-Verstehen 7 zugleich als genuiner Schüler des Sokrates, und ihm gelingt eines der besten Porträts des Bios Sokratou. Das geschieht zunächst unfreiwillig parodistisch. Denn auch er verpflichtet sich, wie sonst nur Sokrates, allein auf die Wahrheit (214e) und fordert deshalb Sokrates auf, ihn jederzeit zu unterbrechen, wenn er die Unwahrheit spreche. Umkehrung durch enge Imitation bleibt ein durchgehendes Motiv. An den Schlüsselstellen seiner Rede richtet sich Alkibiades unmittelbar an Sokrates mit der Frage, ob er, AlkibiaVgl. auch Benardete, Platos’ Symposium (mit Essays von S. Benardete und A. Bloom). Chicago 2001. Picht, Platons Dialoge, a. a. O., S. 395 ff. gibt zu Recht auch Hinweise auf sakralrechtliche und die auf die Stadtgründung bezogenen Aspekte im ›Symposion‹. 7 Dazu S. Benardete, Sokrates und Platon. Die Dialektik des Eros, in: H. Meier und G. Neumann (Hg.), Über die Liebe. Ein Symposion. München 2001, S. 169 ff. 6

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des, mit dem, was er sage, lüge. Umgekehrt gewinnt eine tiefere Wahrheit aus der Täuschung heraus ihre Konturen. Die geschilderte Situation seines Auftretens grenzt allerdings ans Groteske: Alkibiades spricht als ein abgewiesener Liebender wider Willen. Sokrates ist sein begehrtes Gegenüber. Dabei ist er sich bewusst, dass er sich aus dessen Sogkraft nicht lösen könnte, auch wenn er es wollte. Die konventionell codierten Rollen von Liebendem und Geliebtem, Eromenos und Erastes, sind vertauscht. Der jüngere, wenn auch nicht mehr junge Alkibiades (er dürfte über dreißig sein) umwirbt den Älteren, eben Sokrates. Auch sein Widerwille, sich seinen Neigungen gegenüber Sokrates hinzugeben, hat einen Subtext. Er versagt sich letztlich der Philosophie, weil sie für ihn gegen die Neigung zu Macht und Politik steht, der Alkibiades später als Tyrann folgen wird – grenzenlos und im Sinn der Habgier (pleonexia). Denken ist demnach nur eine Phase der Paideia, die jungen Menschen zusteht, der aber niemand sein Leben widmen darf. Dies wäre nach sophistischer Lehre »lächerlich« (Gorgias 485a1 ff.). Alkibiades weiß auch aus anderen Gründen selbst am besten, dass es vorzuziehen wäre, das Geliebte, den Denker Sokrates, zu meiden, anstatt sein Ohrenzeuge zu sein (xynoi demauto) (216a–b). Denn die sokratische Philosophie zeugt zuallererst gegen ihre eigenen Schüler: »Denn er nötiget mich einzugestehen, dass mir selbst noch gar vieles mangelt und ich doch, mich vernachlässigend, der Athener Angelegenheiten besorge« (216a). Die Entrücktheit des betrunkenen Schülers legt seinen rettungslos verliebten Zustand offen. Sie zeigt aber auch, wie weit er vom Maß der Liebe zur Idee aus der Diotima-Rede entfernt ist. Die Gewalt des Eros, die sich hier manifestiert und die alle Schranken der Scham durchbricht, hat bei Alkibiades nichts mehr mit der Liebe zur Weisheit zu tun. Sie ist ungefiltertes Begehren. Man denke nur an die phänomenologische Evidenz der folgenden Stelle: »Also laufe ich ihm davon und fliehe, und wenn ich ihn wiedersehe, schäme ich mich wegen des Eingestandenen und wollte oft lieber sehen er lebte gar nicht; geschähe es aber etwa, so weiß ich gewiss, dass mir das noch bei weitem schmerzlicher sein würde, so dass ich gar nicht weiß wie ich es halten soll mit dem Menschen« (216b f.) Aus diesem manischen, nicht bei sich selbst seienden Zustand heraus gelingt es Alkibiades aber gleichwohl, wesentliche Züge des Sokrates zu erfassen und eines der schärfsten Sokrates-Porträts zu umreißen. Auch auf dem Weg der Alkibiades-Rede wird daher, bei aller Differenz der Per104 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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spektive, komplementär zu der Diotima-Rede die Ortlosigkeit des Philosophen deutlich: Die sokratische Atopie zeigt sich dem Alkibiades darin, dass Sokrates durch seine Rede eine dionysische Macht ausübt, die nicht der Ordnung des Apoll, sondern der satyrhaft dionysischen Kunst des Marsyas gemäß ist (215c). Als eine Art von Satyr ist Sokrates ›hybrites‹ (215b), sowohl schamlos als auch übermütig, wie nicht erst Alkibiades, sondern wie auch schon ein Vorredner, der Tragödiendichter Agathon, wusste (175e). Er ist es, wie erst Alkibiades zeigen kann, da er allein auf die höchste Klarheit des Denkens und der Tugend den Blick richtet. So verbindet sich bei ihm Gegensätzliches: Er liebt also mit grenzenloser Leidenschaft die begriffliche Grenze und Ordnung. Eine dionysische Motivation treibt zu der apollinischen Übung der Philosophie. Mit dieser ins höchste gesteigerten Doppelnatur ist tatsächlich ein Wesenszug des Sokrates getroffen. Der Eros ist nicht im letzten sublimierbar. Wenn Alkibiades über die Wirkung von Sokrates’ Rede sagt: »Wir geraten außer uns und werden in Besitz genommen« (215d), dann ist damit auf den Enthusiasmus, als die hohe Gestimmtheit einer Entrückung aus den uns für gewöhnlich bestimmenden Lebensvollzügen verwiesen, auf eine Einwohnung des Göttlichen im Menschen, wie sie fast bis in den Wortlaut hinein genauso der frühe Dialog ›Ion‹ in dichtungskritischer Absicht als den heiligen und nicht mehr menschlichen Grundklang dichterischer Rede benennt (vgl. Ion 533d1 ff.). Dieser Zustand war tatsächlich nur in den dionysischen Kulten üblich, nicht in den apollinischen Riten. 8 Die tiefe Wahrheit, die sich in diesen Worten über den Denker Sokrates, über seinen Eros und damit über das Wesen der Philosophie bezeugt, wird noch eindrücklicher, wenn man auf einen Passus aufmerksam wird, in dem die korybantische Grundstimmung als Manie und Verzückung angesichts der Vernunft des Logos erwiesen wird. Am Ende des ›Kriton‹ heißt es: »Sei überzeugt, mein teurer Freund Kriton, dass dies es ist, was ich zu hören glaube, so wie die korybantisch Verzückten die Flöten zu hören glauben. Auch in mir dröhnt der Widerhall dieser Argumente (logoi) und macht, dass ich nichts anderes hören kann. Sei gewiss: du wirst vergeblich sprechen, wenn du etwas sagst, was diesem, das jetzt in mir erscheint, zuwiderVgl. dazu F. Lasserre, ›Erotikoi logoi‹, in: Museum Helveticum 1 (1944), S. 169 ff., siehe auch P. W. Ludwig, Eros and Polis. Desire and Community in Greek Political Theory. Cambridge 2002.

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läuft. Trotzdem, wenn du meinst, du könntest etwas vorbringen, so rede. K: Nein Sokrates, ich habe nichts zu sagen. S.: So lass es, Kriton, und entsprechend wollen wir handeln, da uns der Gott auf diesem Wege führt.« (Kriton 54 d). 9

Der philosophische Logos ist also keineswegs eine gemilderte Form des Eros, eine erlahmte ›platonische Liebe‹. Er versetzt jene, die ihn hören, in einen Zustand, dessen sie sich nicht anders erwehren können als durch Flucht oder wenigstens durch den Wunsch, fliehen zu dürfen. Dieses enthusiastische Versetztsein ist in vielfachen Nuancen im ›Symposion‹ ausgesprochen: Alkibiades’ Rede ist durchsetzt vom Zeugnis seines Leidens (paschein) an Sokrates’ bestrickenden Reden (vgl. Symposion 215d–216c u. ö.). Weiter wird der fingierte Erzähler des ›Symposion‹, 10 Apollodoros, mit dem Beinamen ›ho manikós‹, der Besessene, eingeführt. Damit wird die Grundstimmung der Begeisterung, die ›manía‹, zur Kennzeichnung eines Sokrates-Schülers. Vermutlich ließen sich solche Belege und Indizien noch weiter vermehren. In eminentem Sinne aber ist die Entrückung des Philosophen an der Sokratesgestalt selbst zu studieren. Es sind zunächst unauffällige Merkmale, die jene manische Natur signalisieren. So wird in den erzählenden Hinführungen des ›Symposion‹ unter der Hand und ganz unauffällig berichtet, wie Sokrates hinter seinem Begleiter zurückbleibt und im Vorhof eines Nachbarhauses wie entrückt stehenbleibt. Vordergründig erschließt sich diese Episode nicht (175a). Sie kehrt aber leitmotivisch wieder: in einer Reminiszenz der Alkibiades-Rede an die Schlacht von Potidaia. »Es war ihm etwas eingefallen und er stand nachsinnend darüber von des Morgens an auf Einer Stelle, und da es ihm nicht von statten ging, ließ er nicht nach, sondern blieb immer forschend stehen« (220c). Dem Anschein erschließt sich Sokrates nicht. Dies macht die Alkibiades-Rede in einer ihrer berühmtesten Passagen deutlich, dem Vergleich des Sokrates mit dem Silen-Bild. Der äußerlich lächerliche Vgl. Krüger, Einsicht und Leidenschaft, a. a. O., S. 102 ff. Siehe auch die weitergespannte Perspektive bei M. Nussbaum, The Fragility of Goodness. Luck and Ethics in Greek Tragedy and Philosophy. Cambridge 1986. Im Hintergrund siehe auch die materialreiche, doch in der Kontrastierung von Eros und Agape, griechischem und neutestamentlichen Denkansatz etwa groblinige Studie von A. Nygren, Eros und Agape. Berlin 21954. 10 Vgl. zu diesen Fragen die Studien von Benardete. Siehe auch G. Vlastos, The Individual as Object of Love in Plato, in: Ders., Platonic Studies. Princeton 21981, S. 3 ff. 9

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Anschein der Physiognomie verrät nichts von dem reichen Inneren voller Besonnenheit (sophrosyné), das sich nur erschließt, wenn man ihn aufklappt, ganz genau so, wie der Silen im Inneren vor Gold- und Diamantenglanz erstrahlt (216d). Das Innere ist Geheimnis und es ist kostbar. Nur einmal hat Alkibiades nach eigenem Zeugnis in dieses Innere geblickt (216e). Es ist jedoch auch vordergründig zugänglich für jeden, der die Reden des Sokrates hört (221c1 ff.). Diese Reden, gemeint sind vermutlich die frühen Sokratesdialoge, haben selbst eine Silen-Natur an sich. »Wie der Stil, so der Mensch«, wird ein französisches Proverb später sagen. Auch diese Eigenart entgeht Alkibiades nicht. Der Sokrates-Stil enthüllt sich im Verbergen. Die Reden handeln explizit und auf den äußeren Anschein von äußerlichen Dingen, von Lasteseln, Schustern und Gerbern (221e), doch im Inneren sind sie gottähnlich. Dies ist die eigentliche Ironie des Sokrates (216d f.). Für Alkibiades manifestiert sich dieser Zug darin, dass sich der Wissende vor den in der Höhle der Doxa Gefangenen als nichtwissend stellt, dass der Ehrbare vorgibt, ehrlos zu sein, um der Poliswelt ihre Mängel vor Augen zu führen. In der Fluchtlinie dieses Gedankengangs kommt wiederum die Frage nach dem Eros auf. »Denn ihr seht doch, dass Sokrates verliebt ist in die Schönen und immer um sie her und außer sich über sie« (217d). In seinem Inneren achte er freilich den Eros nicht, wie Alkibiades es selbst in seiner vergeblichen Werbung um Sokrates erfahren habe. Wir sahen es: Die Rolle von Werbendem und Umworbenem ist zwischen Alkibiades und Sokrates gegenüber den konventionellen Festlegungen vertauscht. Sokrates’ Desinteresse wird von dem Abgewiesenen, dem alternden Erastes, der aber aufgrund der Altersdifferenz eher und schicklicher in der Rolle des Eromenos wäre, als Ursache einer tiefen Kränkung benannt (210c). Bei aller Verletzung gesteht Alkibiades jedoch zugleich ein, dass die Wesensnatur (physis) und die Besonnenheit (sophrosyné) des Sokrates ihn noch immer erfreuten. Damit wird die Silennatur auf die Marsyas-Natur zurückgespielt: Dieser zweite sokratische Wesenszug übt Gewalt über ihn, Alkibiades, aus »wie nie Einer in eines Andern [sc. Gewalt] gewesen ist« (219e). Was dem Alkibiades eine Verstellung des Sokrates zu sein scheint, offenbart sich als seine innerste Triebfeder und als wahrer Eros, so wie ihn Diotima dargelegt hatte. Für Sokrates ist die Frage nach dem Eros von der Frage nach dem Guten nicht zu trennen. Er ist 107 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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tatsächlich verliebt in die jungen Männer, mit denen er philosophischen Umgang hat (216d). Er ist in Wahrheit erschüttert und ergriffen von ihnen. Doch sein Eros transzendiert die sinnliche Befriedigung und kann sie sich dadurch auch versagen. 11 Die Unterscheidung in das Äußere und das Innere des Silens erweist sich damit als vorläufig. Letzten Endes ist es hinfällig: Das wahre Innere ist bei dem Philosophen zugleich das eigentlich Äußere. Die ›Eironeia‹ ist nicht das, was sie Alkibiades zu sein scheint: Sie gehört nicht der Verstellung, sie gehört der Wahrheit (aletheia) an. Diese Einsicht ist aber selbst wieder dialektisch. Alkibiades nämlich kann dies nicht erkennen, da er selbst in der Täuschung befangen bleibt. Das Wesen des Sokrates deutet sich in nüchterner, genauer Betrachtung zwar an. Indes enthüllt es sich erst unvermittelt und atopisch. Es hat keinen Ort in der Welt, ebenso wenig wie der Philosoph, der den Blick auf dieses Wesen richtet. Diese Wahrheit, die im Schiffsgleichnis der ›Politeia‹ besonders eindrücklich ausgesprochen sein wird und die die Sokrates-Legende insgesamt durchzieht (Politeia 488a–489b), 12 sagt Alkibiades auf seine Weise aus. Einer Initiation bedarf es nicht, um Sokrates zu verstehen, wohl aber einer Besonnenheit, an der es Alkibiades fehlen lässt. Gibt er sich doch als Weisheitsliebenden aus, ohne es zu sein, oder überhaupt sein zu können. In seinem Liebeswerben wendet er sich mit den Worten an Sokrates: »Denn mir ist ja nichts wichtiger, als dass ich so trefflich werde als nur möglich, und hierzu, glaube ich, kann niemand mir mehr förderlich sein als du« (218d). Tatsächlich spricht hier einer, in dessen Seele mehrere Stimmen im Streit liegen. Es spricht der angehende Rhetor und Politiker, der latente Tyrann, dem Philosophie nur ›paideia‹ im Sinne einer vorübergehenden Übung ist. Es spricht zugleich jener junge Alkibiades, der von dem Philosophen angezogen und fasziniert ist, da er ihm, der Marsyasgestalt, gefallen möchte. Und es spricht einer, der den Eros als Tauschgeschäft betreibt. Er meint, dass sich Schönheit gegen Schönheit austauschen lasse (218e), die des gefälligen Leibes gegen jene der Vernunft. So etwa funktionierte das Tauschgeschäft der angewandten Homoerotik. Deshalb be-

Vgl. Picht, Platons Dialoge, a. a. O., S. 522 ff. Siehe dazu auch J. M. Moravčsik, Reason and Eros in the Ascent-Passage of the Symposium, in: J. P. Anton (Hg.), Essays in Ancient Greek Philosophy. Albany 1972, S. 285 ff. 12 Vgl. weiter oben, Zum Sokrates-»Evangelium«. Dazu auch F. C. C. Sheffield, Plato’s Symposium. The Ethics of Desire. Oxford 2006. 11

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schwört er den Sokrates, dass er sehend in Gemeinschaft mit ihm treten solle. Aus Alkibiades spricht hier jene Grundhaltung dem Philosophen gegenüber, die auch der Tragödiendichter Agathon an den Tag legt, wenn er bittet, Sokrates möge sich neben ihn legen, damit auch er seinen Teil von der Weisheit bekomme (175d). Alkibiades kann in seiner Lobrede auf Sokrates viele von dessen wesentlichen Eigenschaften der Wahrheit gemäß beschreiben, er umreißt die sokratische Lebensweise treffsicher und dringt bis zur Tugend des Sokrates vor (vgl. 219e–f). Gleichwohl bleibt er immer in jenem Zustand der Täuschung und Selbsttäuschung befangen, bei dem ihn Sokrates’ Worte behaften. Der Alkibiades im platonischen Dialog weiß das auch, wenn er von Sokrates sagt: »Denn er nötiget mich einzugestehen, daß mir selbst noch gar vieles mangelt und ich doch, mich vernachlässigend, der Athener Angelegenheiten besorge« (216a). Freilich: Es ist die geliebte und zugleich gemiedene Gestalt des Sokrates, die ihn daran erinnert, nicht die eigene Einsicht. Warum dies so ist, erfahren wir nicht aus der Rede des Alkibiades. Hinweise darauf gibt aber die Diotima-Rede.

Eros als Zwischenwesen So viel Alkibiades auch von Sokrates weiß, er weiß es gleichsam in einer un-, ja antiphilosophischen Weise. Alkibiades ist von vornherein und mit einer gewissen anti-philosophischen Gewaltsamkeit bei den Geheimnissen des Sokrates. Er lässt sich aber nicht zu ihm hinführen. Diesen Stufenweg exponiert Diotima und sie nimmt Sokrates, als ihren Schüler, dabei mit. Er solle versuchen, ihr nachzukommen, soweit ihm dies möglich sei, bemerkt die Fremde aus Mantinea (211d). Dann folgt, ganz aus dem Mythos heraus, der eroshafte Aufriss des Weges zur Philosophie. Die Schrittfolge des Eros beginnt mit dem Gefallen am einzelnen schönen Leib, samt Schauder und Gefährdung, wie sie sich in jeder leidenschaftlichen Liebe zeigen, die immer wieder abstürzen und zum animalischen Begehren degradieren kann (Phaidros 250–251). Die physische Liebe, so sehr sie von der Nähe der einen geliebten Person bestrickt ist, kann nicht umhin, die Schönheit auch in anderen Schönen aufzufinden und zu lieben. Die Desillusionierung bedingt einen weiteren Schritt. Der Liebende steigt höher hinauf, wenn er »von der gewaltigen Heftigkeit für Einen [nachlässt], indem er dies[e] [einzelne leibliche Schönheit] 109 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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für klein und geringfügig« zu halten lernt (Symposion 210b). Der Vergleich der vielen schönen Leiber enthüllt eine leiblich sich manifestierende, in vielen Exemplaren begegnende, sich aber nicht erschöpfende Idee der Schönheit. Und wie aus Notwendigkeit entwickelt sich ein Fortgang von der Idee des schönen Leibes zur Präferenz der seelischen Schönheit (219b f.). Sie ist dauerhafter als die leibliche Schönheit. Während der Leib erlöschen kann, kann die Seele durch schöne Logoi befruchtet werden (210a), die sich aber an der dauernden Seele in höherem Maße entzünden werden als an der vergehenden Leiblichkeit. Jener Eros, der seinen Aufstiegsweg nimmt, wird, wie Gerhard Krügers klassische Interpretation treffend gezeigt hat, 13 auf allen seinen Stufen nur verstehbar, wenn er als eine Macht des Freiwerdens zu Selbsttätigkeit und Vernünftigkeit gedeutet werden kann. 14 Der alte religiöse Mythos, der ihn als Diener der Aphrodite personifizierte, genügt nicht. Der Aufstieg beschreibt eine Stufung hin zu Dauer und Ewigkeit, zum Bleibenden in Werden und Vergehen. Das von Goethe erkannte offenbare Geheimnis von der »Dauer im Wechsel« nimmt also ein platonisches Moment auf. So wird die Seele von dem inneren Bild des Schönen zu den schönen Handlungsweisen (epitedeúmata) und den Gesetzen in der Polis fortgezogen (210c und 211c) und gewinnt darin doch immer mehr Freiheit. Von den Handlungen geht die Stufenfolge weiter zu den ›mathemata‹, den Kenntnissen, die nach dem Wesen des Seienden fragen. Diese theoretische Erkenntnis stellt die Diotima-Rede deutlich über das praktische Wissen. Sie begründet dies damit, dass erst die Schau das Wesen anzeigt. Sie führt aufs offene Meer (to poly pélagos) (210d), also auf das Ganze hin und ist einzelnen funktionalen Kenntnissen überlegen. Die Schau gibt dem Handlungswissen Grund. Sie setzt es nicht außer Kraft. Der freie Reichtum der Mathemata führt dann zu einem letzten Lehrstück, dem Schönen selbst, das göttlich (theion) und einzig (monoeidès) sei (211e). Darin kann man schon die Konturen der Idee des Guten erkennen. Sie wird in der ›Politeia‹ als das höchste und größte Lehrstück bezeichnet werden. Erst an diesem letzten Punkt findet der Eros, worauf er von vorneherein zielte: kein Scheinbild (eidolon), sondern das Wahre. Und Krüger, Einsicht und Leidenschaft, a. a. O., S. 279 ff. Ibid. Dazu auch Sheffield, S. 125 ff. und Vlastos, The Individual as Object of Love, a. a. O.

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hier kehrt die Verbindung des Schönen und des Guten auf höchster Stufe wieder. Das Schöne enthüllt sich hier erst als Gutes, als die wahre und wirkliche ›areté‹ (Tugend) in einer konkreten, sinnlichen Gestalt, ein Zusammenhang, der für die Struktur der ›Politeia‹ wesentlich sein wird. Am Ende der Diotima-Rede steht aber kein Loblied auf das Gute. Dieses bedarf in seiner Selbstevidenz des Lobs nicht. Vielmehr erweist sich die Rede insgesamt als Lob des ortlosen Dämons Eros, der auf die höchste Idee hinführt. Alles, was zu ihm gehört, sagt Diotima, solle geehrt werden, und er verdiene in all seinen vielfachen Gestalten, auch in denen der physischen Lust, kultivierende Pflege, da doch »die menschliche Natur [nicht leicht] einen besseren Helfer finden könnte als den Eros« (212b). Er ist auch noch maßgeblich, wenn sie jenes Schöne schauen will, das an keiner Gestalt mehr haftet, bzw. wenn sie die Wahrheit selbst zu berühren sucht (tou alethous ephatpiomen) (212a). 15 Vom Ende der Diotima-Rede her erweisen sich der Weg des Eros und der Weg der Philosophie als ein und derselbe. Es zeigte sich auch, dass Sokrates seinem Wesen nach atopisch ist, nicht zu verorten, weder im Sinn der Orientierung der Polisbürger noch sich selbst gegenüber. Doch er ist deshalb kein Luftwurzler. Er orientiert sich gerade auf das eigentlich Bleibende und Dauernde, die Idee. Dieser a-topische Zusammenhang lässt sich aber letztlich nur performativ und in Übergängen denken: Er wird nur dann verstehbar, wenn man sich auf den Weg des Eros begibt. Dann, nicht in einer fiktiven augenblicklichen Simultaneität, gewinnt der Grund des Ewigen als Dauer in der Zeit Gestalt und kann gedeutet werden. Zugleich wird deutlich, dass die Philosophie ihr Recht nicht aus sich selbst schöpft, sondern sich der Natur des Eros verdankt.

Ziemlich wahre Reden über den Eros: Verläufe und Gesprächsfäden im ›Symposion‹ Der angedeutete Zusammenhang von Philosophie und dem Zwischenwesen des Eros spiegelt sich auch im Verlauf des ›Symposion‹ Vgl. dazu auch K. Sier, Die Rede der Diotima. Untersuchungen zum platonischen Symposion. Stuttgart, Leipig 1997, ferner R. Thiel, Irrtum und Wahrheitsfindung. Zur Argumentationsstruktur von Platons Symposion, in: S. Matuschek (Hg.), Wo das philosophische Gespräch ganz in Dichtung übergeht, a. a. O., S. 5 ff.

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wiederholt. Agathons Mahl ist ein Dionysos-Fest. Es datiert am Tage vor den großen Dionysien (173a). Es durchbricht aber die Gattungskonventionen und ist gerade nicht rauschhaftes Gelage. Dieser Zug bricht bei der Ankunft von Alkibiades als Verkehrung der Ordnung nur kurz auf. Vielmehr ist das ›Symposion‹ ein von der rauschhaften Ekstase befreites Zusammensein im Reden (176e). 16 Am Ende des ›Symposions‹ wird deutlich, dass Sokrates’ Forderung, ein und derselbe Dichter müsse Komödien und Tragödien verfassen können, nur durch den Philosophen eingelöst werden kann. Tragöde und Komödiant zugleich kann nur der sein, der in der doppelten Stimmung von Leidenschaft und Einsicht, von Pathos, Ekstasis und Besonnenheit lebt und der sich, so wie Sokrates am Ende des Dialoges (223b1 f.), gleichermaßen als trunken und nüchtern erweist. Man muss sich also nochmals klarmachen: Die Diotima-Rede und ihr Satyrspiel stehen nicht für sich. Sie stehen im Gefüge der anderen Eros-Reden, die, wie erstmals Friedrich August Wolf erkannte, 17 nicht einfach unwahr sind, sondern Teile der Eros-Wahrheit artikulieren. Vor allem erfahren wir hier, in unterschiedlichen Annäherungen, die jeweils eine Seite des Eros ans Licht bringen, um andere Seiten aus dem Blick zu verlieren, dass die Frage nach dem Eros auch die Frage nach der menschlichen Natur ist. Deshalb ist es lohnend, sich abbreviativ den Zusammenhang und die Aufeinanderfolge der Reden auf ihre Mitte hin zu vergegenwärtigen: Den Anfang macht Phaidros als »Vater des Logos«, wie leicht ironisch angemerkt wird (177d). Auf ihn geht der Vorschlag zurück, den Eros zum Thema des Dialogs zu machen. Phaidros betont in einer lehrhaften Rede, 18 die Größe des Eros und seine Zugehörigkeit zu den ältesten Gottheiten (178b) aufweisen zu können. Schon damit bringt

Dies zeigen Krüger, a. a. O. und Benardete, a. a. O. jeweil sehr gut. Vgl. F. A. Wolf, Platonis dialogorum delectus pars I. Euthyphro etc 1812 (weitere Bände sind nicht erschienen). Es ist nicht ohne Reiz zu sehen, dass der Verfasser der ›Prolegomena ad Homerum‹ seine differenzierende Kunst zuerst an Platon erprobte. Dazu meine kleine Studie: Die vielfache Wahrheit des Eros. F. A. Wolfs Verständnis des ›Symposion‹ als Schlüssel hermeneutischer Platon-Auslegung, in: H. Seubert, Spekulation und Subjektivität. Studien zur Philosophie des deutschen Idealismus. Hamburg 2003, S. 78 ff. 18 Als solcher firmiert er, weil er der Gastgeber des sublimierten ›Symposions‹ ist. 16 17

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er einen neuen Mythos 19 gegen jenen der konventionellen religiösen Überlieferung in Stellung, dem zufolge Eros der Sohn der Aphrodite war. Eros verweist in die Anfänge des Seienden, wie Phaidros mit der Dichtung Hesiods und mit Parmenides weiß (178b). Er sei eine Erdgottheit und er sei aus dem Chaos hervorgegangen (Hesiod, Theogonie 116 f.), dem Klaffenden (chaino), das Hesiod zufolge als leerer Raum vorhanden gewesen sein musste, 20 damit überhaupt Seiendes in seiner Unterschiedenheit, zuerst Himmel und Erde, werden konnte. Eros ist für den Phaidros, der im ›Symposion‹ spricht, der Urheber des Werdens, das aus der Differenz von Erde und Himmel die Natur (physis) hervorgehen lässt. 21 Er ist zudem, wie der zweite mythologische Teil der Rede zeigt, auch Führer bei unterschiedlichen Handlungen, nimmt also eine hegemonische Funktion ein (178c). Aus dem Chaos hervorgegangen und zu Unterscheidung und Ordnung führend, lehre der Eros Harmonie und Einheit im Unterschiedenen, Scham »vor dem Schändlichen und das Bestreben nach dem Schönen« (178d). Diese Scham setzt Phaidros mit der Tugend (areté) gleich. Die Vorläufigkeit dieser Rede zeigt sich an einem Moment, das in anderen Dialogen, so auch in der ›Politeia‹, als falsche Meinung namhaft gemacht und korrigiert werden wird: Die Tugend wird hier auf eine einzelne Tugend, die Tapferkeit, reduziert. Was Tugend ist, bleibt für Phaidros dunkel, er kann danach nicht einmal sachgemäß fragen. Er hält nur fest, der Liebhaber würde sich vor nichts mehr schämen, als davor, seinem Liebling gegenüber feige zu erscheinen. Eros gilt dabei als Gott. Niemand könne so niedrig sein, heißt es, dass er nicht vom Gotte Eros ergriffen (entheon) und zur Tugend geführt werde (179a). Georg Picht hat sehr richtig gesehen, dass die Formulierung ›entheos pros aretén‹ bereits im Kern die Bestimmung des Philosophen enthält, die in Diotima- und Alkibiades-Rede entfaltet werden wird. 22 Die zweite Rede, jene des Sophisten Pausanias, füllt den Rahmen Vgl. dazu G. W. Most, Platons Exoterische Mythen, in: Janka, Schäfer (Hg.), Platon als Mythologe. Neue Interpretationen zu den Mythen in Platons Dialogen. Darmstadt 2007, S. 7 ff. 20 Dazu Hesiod, Theogonie, S. 116 ff. Materialien auch bei Picht, Platons Dialoge, a. a. O., S. 497 ff., ders., Kunst und Mythos. Stuttgart 21987, S. 531 ff. 21 Vgl. dazu auch Aischylos, Danaiden, Fragment 44. 22 G. Picht, Platons Dialoge, a. a. O., S. 522 ff. Siehe auch ders., Der Begriff der Natur und seine Geschichte, a. a. O., S. 167 ff. und S. 315 ff. 19

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nicht aus, der ihr gesetzt wurde. Denn nun müsste der innere Zusammenhang von Tugend (areté) und Natur thematisiert werden. ›Areté‹ ist bekanntlich der Superlativ von ›agathos‹ (gut), und treffend mit »Bestheit« zu übersetzen. Pausanias argumentiert aber anders. Auch er möchte Bestheit und Eros zusammen denken. Er führt damit nicht nur das Thema weiter, das Phaidros angeschlagen hat. Doch er erweist sich darin ganz als Sophist, dass er nicht mehr auf die Natur des Eros blickt, sondern nur auf jeweils geltende Setzungen (theseis), verdanken sie sich nun sittlicher Überlieferung oder einem ausdrücklichen Nomos. Sie möchte er untersuchen in der Erwartung, damit zu einem sachgerechten Erosbegriff zu gelangen. Dieser konventionalistische Zugriff wird bereits deutlich, wenn er in seiner Interpretation mythologischen Materials zwei Gestalten des Eros, eine ältere und eine jüngere, durch Beimischungen verdorben, unterscheidet (181d–e) und Eros als eine Handlung begreift, die wie alle Handlungen weder schön noch hässlich sei: »Denn schön und recht gemacht wird es schön; unrecht aber wird es schlecht« (181a). Nun ist, buchstäblich genommen, dieser Satz auch Teil der platonischen Philosophie (vgl. Menon 88c). 23 Doch seinem Sinn nach ist er es nicht. Denn Pausanias dringt nicht bis in die Sphäre der Klugheit vor, in deren Licht die Unterscheidung getroffen werden müsste. Deshalb liegt eine besondere Spitze darin, dass seine Argumentation wider Willen zu verstehen gibt, dass auch Sätze für sich genommen weder wahr noch falsch sind. Dies werden sie erst im philosophischen Gespräch und in der Bezeugung des Wahren, die dem Sophisten fernliegen muss. Pausanias statuiert, dass Handlungen durch die Art ihres Vollzuges gut oder schlecht seien (vgl. 180e–181a). Dennoch spricht er davon, dass es sich nur schicke, Knaben zu lieben, deren Seelenanlage bereits erkennbar sei (181d), und im Blick auf die Knaben selbst spricht er davon, dass ihre Hingebung dann gut sei, wenn sie sich einem der Liebe Würdigen zuwende (183e). Doch bleiben die in ihrer propositionalen Aussage durchaus richtigen Sätze im Munde des Sittenlehrers Pausanias leer. Die von ihm getroffene Unterscheidung zweier Arten des Eros richtet sich im besten Sinn auf einen Widerspruch in der attischen Sittlichkeit, wonach der Liebesdienst zwar als eine Form von Sklaverei galt, jedoch als eine Form, die aus freien Stücken geschieht und den ÄlteÜber solche strukturellen Einbeziehungen vgl. E. R. Dodds, Die Griechen und das Irrationale. Darmstadt 1970.

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ren nötigt, sich des Jüngeren würdig zu zeigen, wenn er um ihn wirbt (184c). Gerhard Krüger hat Pausanias’ Rede als »sophistische Soziologie« bezeichnet. 24 Sie kommt über das positiv- bzw. gewohnheitsrechtlich Gegebene nicht hinaus. Normativität erschöpft sich für den Pausanias im Herkommen von einzelnen Satzungen. Sie destruiert den Begriff einer Wesensnatur nicht. Sie verkennt ihn und denkt ihm nicht einmal ansatzweise nach. Pausanias bleibt in der Konvention gefangen, weil er nicht nach der Wahrheit fragt. Er hängt dem allgemein geteilten kultischen Mythos von Eros als dem Sohn von zwei Aphroditen an, wozu der unverbindliche Gemeinspruch gehört, dass man »allen Götter[n]« (180e) Verehrung schuldig sei. Was erst Platons letzter Dialog, die ›Nomoi‹, lehren wird, ist hier schon im Vorgriff sichtbar: Wer nur um das gesetzte positive Recht weiß, weiß auch um dieses Gesetz nicht. Wie weit, bei allen seinen richtigen Sätzen, Pausanias von der Frage »Was ist das Gute?« und wie weit er vom Eros und von der Philosophie entfernt ist, zeigt seine Rede immer wieder durch ihre Vagheiten: so wenn sie von irgendeiner Einsicht (katà sophían tinà) (184c) spricht oder von einem anderen Teil der Tugend (allo hotioun méros aretes). Wenn es sich hier nicht um lange Reden handeln würde, sondern um einen elenchtischen Dialog, so würde Sokrates diese Ungenauigkeiten aufbrechen und korrigieren. Dies ist aber nicht der Fall. Die Leser können ergänzen. Die darauffolgende Rede des Arztes Eryximachos fragt zwar nach der Natur des Eros und damit nach Natur überhaupt. Sie tut es aber nicht im Sinn der kosmogonischen Frage des Phaidros, also nicht im Blick auf einen spekulativ umfassenden Begriff der Natur, sondern in einem empirischen Blick auf die natürliche Welt. Für Eryximachos ist der Eros unweigerlich das überwältigende Phänomen, das »nicht allein über die Seelen der Menschen waltet in Beziehung auf die Schönen«, sondern alles andere Sein mitbestimmt (186a). So schreitet der Arzt auf der Suche nach dem Eros die Welt Schritt für Schritt ab. Er findet die inneren Gesetze des Eros in der Musik, er findet sie im Klima wieder, und sie führen ihn bis zu einer letzten Eudaimonie, der Freundschaft der Menschen nicht nur untereinander, sondern auch mit den Göttern (188d f.). Damit ist erstmals der Horizont umKrüger, Einsicht und Leidenschaft, a. a. O., S. 123. Über die verbindenden, verflechtenden Relationen des Eros vgl. auch Picht, Platons Dialoge, a. a. O., S. 527 ff.

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grenzt, den die Diotima-Rede dann durchdringen wird, und es werden gerade in dieser Rede naturphilosophische Ansichten auf Gedanken frei, die die platonische Philosophie erst in späten Dialogen explizieren wird. 25 Die Vordergrundansicht, die den Arzt in seinen Möglichkeiten und in seiner Begrenztheit charakterisiert, macht allerdings kaum mit einer »unumgängliche[n] Zwischenstufe zwischen dem Eros der griechischen Mythologie und Spekulation und dem platonischen Eros« vertraut, 26 sondern mit einer physiologisch bestimmten medizinischen Auffassung. Dies zeigt sich, wenn die Mantik als Paradigma der Götterfreundschaft verstanden wird, und es wird offenkundig an der Art, in der von der Sternkunde die Rede ist (188b). In Übereinstimmung mit Pausanias unterscheidet auch der Arzt zwischen zwei Arten des Eros, einem geordneten und einem frevelhaft übermütigen (188a). Die Begriffswahl gibt schon zu verstehen, dass es hier nicht mehr um die Unterscheidung am Leitfaden abstrahierender Moralbegriffe (moralisch ›gut‹ bzw. ›schlecht‹) geht. Der geordnete Eros erweist sich vielmehr in einem Sinn, der für alle Belange der Natur zutrifft, als ›Harmonie‹, Zusammenstimmung und Eintracht (187a). Der Arzt begreift diese Harmonie im Licht der Maximen seines Berufes. Sie ist nicht einfach vorhanden. Es gilt sie vielmehr erst herzustellen, nämlich aus der Entgegensetzung. Denn der Arzt »muss das feindseligste im Leibe einander zu befreunden wissen, dass es sich liebe« (186d). Die Gesundheit ist gerade nicht der Ausgangspunkt, sondern Krankheit, Leiden und gestörte Beziehungen. Noch im ›Timaios‹ wird diese Stiftung der Gesundheit eindrücklich gezeigt. Der gute Arzt bringt es in dieser Wiederherstellung und Umstimmung zu größtmöglicher Vollendung. Dabei ahnt Eryximachos etwas von der Kosmogonie. Immerhin setzt er sich mit Heraklits Wort auseinander, doch er muss es missverstehen und verfehlen: »Wir verstehen nicht, wie Auseinanderstrebendes mit sich selbst zusammenstrebt; widerstrebig gespannte Fügung wie die des Bogens und der Leier« (DK B 151). 27 Diese Aussage des Logos-Philosophen Heraklit wird vom Arzt als »große Unvernunft« (esti de pollè alogía) (187a) begriffen, Dies ließe sich maßgeblich für die Verbindungs- und Mischungsverhältnisse im ›Philebos‹ und auch für den dritten Teil des ›Timaios‹ zeigen. 26 Vgl. dazu auch Fleischer, Hermeneutische Anthropologie, a. a. O., S. 35 ff. 27 Dazu die Interpretation von Benardete, The Bow and the Lyre. A Platonic Reading of the Odyssee. London 1997, wo die heraklitische Gegenstrebigkeit, die palintonos harmonia, in ihrer homerischen Urstiftung sichtbar gemacht wird. 25

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und, wie es Rätselworten angemessen sei, einer vereindeutigenden Interpretation unterzogen. »Vielleicht aber wollte er dieses sagen, daß sie [die Harmonie] aus dem vorher entzweiten höheren und tieferen hernach aber einig gewordenen durch die Tonkunst entstanden sei« (187a1 f.). Der Unterschied zwischen der Deutung des Arztes und dem Heraklit-Satz ist ebenso feiner wie grundsätzlicher Natur: Das Heraklit-Wort spricht von einer Harmonie dessen, was sich auseinanderbewegt, mit sich selbst, wohingegen es für den Arzt darum geht, Gegensätze in einen Ausgleich und in mögliche Neutralisierung zu bringen. Als Gegensätze können sie schlechterdings nicht eins werden, wäre dies doch so, als könnte die Krankheit als Krankheit Gesundheit werden, eine widersinnig hybride Vorstellung, die allenfalls einer aus der Ordnung geratenen erotischen Verwechslung zugetraut werden könne. Einen Hinweis darauf, worauf sich die philosophische Orientierung wird richten müssen, gibt Eryximachos unter der Hand. Damit legt er eine Linie frei, die jenseits seines Horizontes verläuft. Er hält den Grundsatz fest: »Das Ungleiche begehrt und strebt nach dem Ungleichen« (186b). Damit spricht er eine Wahrheit und Wirklichkeit aus, die über seine abgrenzende HeraklitInterpretation hinausweist. Er geht allerdings in seinem Verständnis nicht so weit einzusehen, dass »zwischen Ungleichem die Beziehung des Eros bestehen kann«, und schon gar nicht behauptet er: »Die Differenz ist die Voraussetzung für jene Identität, die im Eros erstrebt wird«. 28 Vielmehr wird lediglich der gesunde Eros vom kranken unterschieden. Sobald dann der Komödiendichter Aristophanes das Wort ergreift, nimmt die Argumentation auch poetologische Züge an. Die von den vorausgehenden Reden unterschiedene Redeart zeigt sich darin, dass Aristophanes als erster von allen, die bisher gesprochen haben, den Eros als eine affektive Urmacht begreift. Er weiß als Komödiendichter um die Lächerlichkeit, die in menschlicher Verliebtheit liegen kann. Sie ist aber die Verkleidung einer tieferen menschlichen Sehnsucht nach Heilung und Ganzheit. Aristophanes’ Mythos weist, in einer Verkehrung der Charakteristika von Tragödie und Komödie, darauf hin, dass Eros die Zerrissenheit des gegenwärtigen Weltalters heilen kann. Er führt in eine Einheit zurück (189a1 ff.). Der Eros ist insofern selbst wie ein Arzt, der einen Urzustand zu erinnern vermag und 28

Dies ist die Deutungstendenz bei Picht, Platons Dialoge, a. a. O., S. 527.

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dessen Verlust kompensieren kann (189d). Eros ist also in anderer Weise Arzt als Eryximachos. Er verfügt über keine Technik, um das Feindliche sich am Ende doch befreundet zu machen. Auch das ›Zusammenwerfen‹ (symballein), das Pausanias als Charakteristikum des Eros erkannt hatte, klärt diese Eros-Rede weiter: Jeder Mensch ist nämlich Symbolon, Bruchstück, von einem ganzen Menschen, »da wir ja zerschnitten, wie die Schollen, aus einem zwei geworden sind« (191d). Angespielt wird auf die ›Tessera hospitalis‹, die entzwei gerissenen Gegenstände, an denen man sich wiedererkennen konnte. Es ist nicht ohne subtilen Sinn in der Struktur des Textes, dass Aristophanes nach dem Arzt zum Reden kommt. Sein Blick auf die vergangene, nämlich die geeinte Natur des Menschen durchbricht die Vorstellung, dass es kranke Menschen neben gesunden gebe. Er zeigt vielmehr, dass »die menschliche Natur selbst […] leidend, krank und gestört« sei. 29 Sie ist nämlich halbiert. Nach dem tragischen Mythos, den der Komödiendichter Aristophanes erzählt, im Sinn der späteren platonischen Aussage, dass es darauf ankomme, dass ein und derselbe Dichter Tragödien und Komödien schreiben könne, haben die Menschen ihre adelige Herkunft verloren: Der Mythos deutet an, dass sie Sprösslinge (ekgona) der Gestirne gewesen waren (190a). Verloren ist im Sinne des Mythos des Aristophanes nicht nur die Einheit, die in der sphärischen Gestalt lag, sondern auch die Gliederung der menschlichen Natur (anthropínen physin) (189d) in drei Geschlechter. Das männliche Geschlecht sei Ausgeburt der Sonne gewesen, das weibliche Ausgeburt der umdunkelten Erde, das dritte, hermaphroditische, Ausgeburt des Mondes, »der ja selbst an beiden Teil hat« (190b). In der Zeit der Kugelmenschen führte diese Vollkommenheit zur Hybris, da die Liebenden, ohne einander je überdrüssig zu werden, in einem dauerhaft euphorischen Zustand waren. Umso schockierender ist ihre Lage nach ihrer Trennung. Sie »umfassten sich mit den Armen und schlangen sich in einander, und über dem Begehren zusammen zu wachsen, starben sie aus Hunger und sonstiger Fahrlässigkeit, weil sie nichts getrennt voneinander tun wollten« (191b). Nur der Eros kann diese Sehnsucht heilen. Frei von lächerlichen Zügen ist aber die sexuelle Verhaltensweise nicht, die nach ihrer Begnadigung eine fragile Vereinigung auf Zeit ermöglicht. Zeus begnadigte Bruchteile und setzte ihnen die Geschlechtsorgane nach vorne, sodass sie nicht länger wie die Zikaden (191c) in die Erde zeugen mussten. Doch 29

Krüger, Einsicht und Leidenschaft, a. a. O., S. 123.

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die Lust hält nur für begrenzte Zeit an. Dann werden sie einander und der Liebe müde. 30 Sokrates’ Diotima-Rede wird die Lust, die ewige Dauer will, in einer sublimierten Zeugung finden, die über sich hinausweist, auf den philosophischen Eros. Die heilende Kraft des Eros zu erkennen, heißt, in der Komödie den tragischen Grund aufzufinden. Gerhard Krüger nannte die Rede des Aristophanes zu Recht eine »tragische Komödie«. Umgekehrt sei die Rede des Agathon eine »komische Tragödie«. 31 Die vielgerühmte Virtuosität und der Prunk der tragischen Kunst, die sich auch beim historischen Agathon gefunden haben dürften, ergeben vordergründig einen glanzvollen Lobpreis des Eros und seiner Wohltaten. Bei näherem Blick entpuppen sie sich tatsächlich als komisch: Die Rede des tragischen Dichters wiegt zu leicht, da sie den Eros als Spieler (196c) und als Wohltäter sieht. Er zeigt aber nicht, über welchen Abgründen dieses Spiel sich entfaltet. Deshalb erinnert diese Rede an den Sophisten Gorgias (198c). Sokrates kann sie zwar knapp loben. Doch das verdichtet philosophische Lob, kohärent und einstimmig die Wahrheit gesagt zu haben (198d), muss er ihr versagen. Deshalb wird der Eros nicht so gerühmt, wie es ihm zukäme (199a). Wenn man die Aufeinanderfolge der Eros-Reden betrachtet, wird deutlich, dass sie einander alle gegenseitig modifizieren. Sie weisen Verbindungen auf. Man sieht auf den ersten Blick, dass der Logos des Phaidros den Rahmen setzt. Die Reden des Pausanias und des Arztes Eryximachos folgen. Aristophanes betrachtet sie als einen Komplex und markiert ihnen gegenüber seinen Neuanfang (189c). Damit bilden die Logoi der beiden Dichter das Ende des Redekreises, ehe Sokrates mit der fremden Stimme der Diotima ansetzt. Doch auch zwischen diesen großen Grenzlinien lassen sich bei näherer Betrachtung Homoerotische Verhaltensweisen werden von der Anziehung von Mann und Frau nicht wesentlich unterschieden. Auf die ekstatische Erotik werden diese Verhältnisse in der neueren Forschung meist bezogen. Hinzu kommen Gender-Lesarten, die vielleicht einen dekonstruierenden Blick nahelegen, aber es doch nicht erlauben, das Spannungsverhältnis der Geschlechterrelation phänomenal zu fassen. F. Buffière, Eros adolescent. La pédérastie dans la Grèce antique. Paris 1980, sowie J. N. Davidson, Kurtisanen und Meeresfrüchte. Die verzehrenden Leidenschaften im klassischen Athen. Berlin 1999. 31 Krüger, a. a. O., S. 128 f., siehe auch ibid., S. 172 ff. 30

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Korrespondenzen erkennen: Die Reden des Arztes und des Aristophanes sind gleichermaßen auf die Frage nach der Natur (physis) des Eros gerichtet, und sie verbinden diese Frage mit jener nach der Bestheit (areté). Damit greifen sie auf den Skopus zurück, den Phaidros zu Beginn angegeben hatte. Dagegen bewegt sich die Rede von Agathon in der Nähe des Konventionalismus des Sophisten Pausanias. Am tiefsten gräbt der Komödiendichter Aristophanes in seiner mythischen Verständigung über das zerrissene und auf Heilung und Einheit zielende Wesen des Menschen. Keiner der Redner, auch nicht später Alkibiades, befindet sich zugleich im Zustand von Rausch und Nüchternheit, wie er den Sokrates kennzeichnet. Diese Doppelnatur ist ausschließlich charakteristisch für die Diotima-Rede. Auch der Aufbau und die Textur des ›Symposion‹ sind zweideutig. Das ›Symposion‹ versucht in seiner Figurenzeichnung gleichermaßen höchstmögliche Authentizität, die Berufung auf den Augenschein, mit Verfremdungswirkungen zu verbinden. Solche Signale gibt Platon häufig in den kunstvollen Rahmenerzählungen. Apollodor, der Erzähler, berichtet über den Symposion-Dialog (174a1 ff.), von dem er aber nicht durch den Augenschein weiß, sondern von Aristodemos (173b). Damit ist der Dialog zugleich in eine äußerliche Chronologie eingefügt. Denn das Gastmahl bei Agathon soll im Jahr 416 stattgefunden haben, ein Jahr vor dem großen Niedergang des Glanzes von Athen im Peloponnesischen Krieg. Die tägliche Vertrautheit zwischen Sokrates und dem Erzähler Apollodor datiert aber gut fünfzehn Jahre später, in die letzte Lebenszeit des Sokrates. Von Belang sind solche kompositorischen Züge, da sie strukturell eine Atmosphäre entwickeln, die zwischen Nähe und Distanz changiert.

II.

›Phaidon‹ – oder: Der Tod als Daseinsmacht

Die andere Daseinsmacht, der Tod, wird im ›Phaidon‹ ausgelotet – einem der bekanntesten Dialoge Platons, der nichts Geringeres als die Unsterblichkeit der Seele zum Thema hat und der dies angesichts der prekären Situation des unmittelbar bevorstehenden Sterbens des Sokrates dokumentiert.

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›Phaidon‹ – oder: Der Tod als Daseinsmacht

Leib und Seele – oder: Schwanengesang und Unsterblichkeit Der ›Phaidon‹ bekräftigt, was Alkibiades im Blick auf Sokrates im ›Symposion‹ bemerkte: dass die Philosophie selbst noch den vorpropositionalen Rang einer kultischen Macht besitzt und in eine von dem Gott begeisterte, enthusiastische Grundstimmung versetzt. Auch in diesem Dialog wird eine indirekte Tugendlehre entwickelt, die sich aber nicht mehr auf die Frage richtet, wie man leben, sondern wie man sterben soll. Philosophie wird als Einübung in den Tod vor Augen geführt. Dieses Grundthema kulminiert in der Aussage, dass die Tugenden Besonnenheit (sophrosyne) Gerechtigkeit (dikaiosyne), Tapferkeit (andreia) und Vernunft (phronesis), nach denen auch in der ›Politeia‹ gefahndet werden wird, Reinigungen seien (69c). Sie reinigen von Affekten und der Besetzung der Seele. Der kultische Zusammenhang wird dadurch verdichtet, dass dies mit den Reinigungsriten der Seele auf dem Weg in die Unterwelt verknüpft wird. Die Seele kann sich, angesichts der Ablenkungen durch den Leib, nie in ihrer Reinheit zeigen. Deshalb ist das Sterben eine Verwesentlichung, und Philosophie ist, wie Sokrates seinen Schülern in seinen letzten Lebenstagen mitteilt, Einübung ins Sterben (59d1 ff.). Nicht Verlust und Vergänglichkeit, sondern diese Essentialisierung ist zentral. Der philosophierende Mensch flieht den Tod nicht – schon weil er nicht weiß, ob dieser wirklich schrecklich sein wird. Auf jene Unwissenheit hatte bereits die ›Apologie‹ hingewiesen. Er strebt buchstäblich nach dieser Essentialisierung (64a). Durch die Ausrichtung der vom Eros geleiteten Philosophie auf den Tod wird der Richtungssinn deutlich, den der philosophische Eros nimmt und von dem das ›Symposion‹ noch nicht spricht, eben der Richtung auf ein Standhalten angesichts des Todes und seiner Furchtbarkeit. 32 Umgang mit ihm und Orientierung der Seele auf ihn ist die Praxis des Philosophen, die sich in Sokrates’ Sterben besiegelt, wenn es als Gesundung erscheint (118a). Dies besiegeln Sokrates’ letzte Worte: »O Kriton, wir sind dem Asklepios einen Hahn schuldig, entrichtet ihm den, und versäumt es ja nicht« (118a). In Rede steht hier nicht weniger als der Aufweis des Glücks, das Gerade im ›Phaidon‹ zeigt sich der von Pierre Hadot herausgearbeitete Grundzug antiker Philosophie, Übung zu sein, auch bei Platon. Siehe P. Hadot, Philosophie als Lebensform. Antike und moderne Exerzitien der Weisheit. Frankfurt/Main 2002, zu Platon insbesondere S. 13 ff. und S. 136 ff.

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das Sterben für den Denkenden, oder insgesamt die vom Logos bestimmte Seele bedeutet, wenn plausibel gemacht werden kann, dass die Seele unsterblich ist. Auch im ›Phaidon‹ wird wieder betont, dass die Philosophie ihr Recht nicht aus sich selbst heraus hat. Alles, worüber er spricht, weiß Sokrates, wie er sagt, »ex akoes« (61d), was nicht nur »vom Hörensagen« heißen muss, sondern auch auf die mündliche Überlieferung, etwa in einem Mythos, verweisen kann. Damit ist dieselbe Linie weiterverfolgt, die sich im Diotima-Gespräch ergab. 33 Die Erwägungen über die Unsterblichkeit der Seele setzen sich in der Szenerie des ›Phaidon‹ bis in die letzte Lebensstunde des Sokrates hinein fort. Sie können, wie Sokrates andeutet, an kein sachliches, teleologisches Ende geführt werden (107a1 ff.). Es kann nur eine immer weitergehende Annäherung an diese Daseinsmacht geben, durch immer bessere, klarere und subtilere Begründungen, wie Sokrates seinen Schülern Simmias und Kebes sagt (91c1 ff.). Trost werden sie finden, wenn sie sich tiefer in die Gründe für die Unsterblichkeit der Seele versenken. Doch alle Prüfungen werden am Ende nicht in das sicher geglaubte Scheinwissen einer Meinung (Doxa) überführt werden können, sondern in eine Zustimmung zu den Gründen und einer Annahme der Sterblichkeit, wo doch Unsterblichkeit nicht beweisbar ist (107b). Die Ruhe des Sokrates angesichts des nahen Todes ist zugleich die Ruhe dessen, der das bleibende, eine Gute denkt (107b): Auch wenn nicht von der ›Idee des Guten‹ die Rede ist, deutet sich doch damit eine Verbindung zur höchsten Idee in der ›Politeia‹ an. Hier muss man sich noch einmal im Einzelnen die Struktur des ›Phaidon‹ verdeutlichen: Zwischen die Argumentationen ist ein doppeltes Zwischenspiel eingeschaltet, dessen bildhaft-metaphorische Stücke diese Grundstimmung verdeutlichen (84c–91d). Sokrates lehrt darin, dass die Schwäne in ihrer letzten Stunde nicht aus Jammer und Traurigkeit sängen. Die Menschen lügen den Schwänen und anderen Vögeln an, dies geschehe aus Furcht vor ihrem eigenen Tod. Die Vögel aber seien, sagt Sokrates, Wahrsagende (mantikoi). »Und da sie das Gute in der Unterwelt voraus erkennen, so singen sie und sind fröhlich an jenem Tage, ausgezeichnet und mehr als sonst vorher« (85b). Vgl. hierzu auch G. Reale, Die Begründung der abendländischen Metaphysik: Phaidon und Menon, in: Kobusch, Mojsisch (Hg.), Platon, a. a. O., S. 64 ff.

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›Phaidon‹ – oder: Der Tod als Daseinsmacht

Dieses Wort, der Ursprungstopos vom Schwanengesang, steht in engem Zusammenhang mit dem Bericht von dem wiederkehrenden Traum, den Sokrates im Gefängnis gehabt haben soll: »O Sokrates mach und treibe Musik!« (60e). Ein Wort, das zu verstehen Sokrates schwerfiel und das er zunächst auf die Philosophie bezog, da sie doch die schönste und größte Musik sei (61a). Er habe dann aber im Umgang mit diesem Wort gelernt, es auf die »gemeine Musik« zu beziehen, und kleine Fabeln und Proömien auf den Gott Apoll gedichtet. Philosophie indes ist, wie wir aus dem ›Symposion‹ wissen, jene nüchterne Bacchantenkunst, die im Zeichen des Dionysos, nicht des Apoll steht. Die kleinen Lieder und Fabeln, die Sokrates vor seinem Ende gedichtet haben soll, weil sein Daimonion dies durch Schweigen guthieß, gehören indes im bescheidenen Rahmen der apollinischen Kunst an. Die ›dionysische‹ Philosophie verbindet sich also mit der ›apollinischen‹ Kunst, einer Kunst, die Platon in den einschlägigen Abschnitten über die Bildung in der ›Politeia‹ zuließ. Einen letztgültigen Beweis für die Unsterblichkeit der Seele bleibt der ›Phaidon‹ schuldig. Auch Jammern und Trauer können nicht wirklich widerlegt werden. Sokrates bemerkt nach der Erzählung des Schlussmythos: »Dass sich dies nun alles gerade so verhalte, wie ich es auseinandergesetzt, das ziemt wohl einem vernünftigen Mann nicht zu behaupten; dass es jedoch, sei es nun diese oder eine ähnliche Bewandtnis haben muss mit unseren Seelen und ihren Wohnungen, wenn doch die Seele offenbar etwas unsterbliches ist, dies dünkt mich zieme sich gar wohl, und lohne auch es darauf zu wagen, dass man glaube, es verhalte sich so« (114d).

Vor diesem Hintergrund sind die Fabeln, die Sokrates gedichtet haben soll, eine bemerkenswerte Ergänzung. Sie widmen sich einem Gegensatzproblem besonderer Art. So sollen sie von einer Freundschaft zwischen Lust und Schmerz (hedoné und lype) gehandelt haben. Zu ihr könne es eigentlich nie kommen, weshalb der Gott beide, die doch kriegerisch zueinanderstehen müssen, an ihren Enden zusammengeknüpft habe (paragénetai) (60c), sodass die eine der anderen mit Notwendigkeit folgt: ein Bild, das aus der tragischen Rede des Komödiendichters Aristophanes bekannt ist. Das Sterben bleibt auch im Sinn des ›Phaidon‹ unverfügbar, schrecklich und die begründete Todessehnsucht darf, wie Sokrates im Rück123 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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griff auf die alten orphischen Mysterien als göttliches Gesetz bemerkt, nicht zum Freitod führen. Denn es ist Teil der Wesensnatur des Menschen, »wie in einer Festung« eingeschlossen zu sein (62b), seinem Leib, von dem er sich nicht selbst lösen darf. Dem Leben standzuhalten, bis der Tod eintritt, ist daher geboten. Beiden Seiten der Differenz gewachsen zu sein, der unverfügbaren Sterblichkeit und den reinen göttlichen Ideen, sei das Gesetz des Menschseins. 34 Gerade der Philosoph erkennt an, dass er der Herde des Gottes angehört. Doch er versucht zugleich, in dieser Notwendigkeit und Bedingtheit nach allem Vermögen sich als frei zu erweisen. Ein zweites großes Bild ist in die Zwischenspiele zur Argumentation eingefugt: Es ist Sokrates’ Hinweis, dass zum Zeichen der Trauer die Haare des Phaidon geschoren würden, falls der Logos über die Unsterblichkeit der Seele stürbe (89c). Diese Trauer über das Ende und drohende letztliche Ersterben des Logos erweist sich als viel gravierender als jene angesichts des Todes von Sokrates. Es gehört zu der Tiefengrammatik des ›Phaidon‹, dass er den Bruch zwischen der Meinung (doxa) der Hörer und dem Wissen des Sokrates nicht mehr eigens betonen muss. Es zählt nurmehr, dass Simmias und Kebes, anders als Sokrates selbst, das Glück in Tod und Sterben nicht sehen können. Deshalb bleibt bis zum Ende die Dissonanz: Die Hoffnung auf die Unsterblichkeit der Seele ist ein Versuch und ein Wagnis, nicht mehr und nicht weniger. Sokrates bezeichnet dies zugleich als eine zweitbeste Reise. Wenn man schon nicht mit Gewissheit herausfinden könne, wie es mit einem Ding in Wahrheit stehe, so bleibe nur, »die beste und unwiderleglichste der menschlichen Meinungen darüber [zu] nehmen, und darauf wie auf einem Brette [zu] versuchen durch das Leben zu schwimmen, wenn einer nicht sicherer und gefahrloser kann auf einem festeren Fahrzeug oder einer göttlichen Rede reisen« (85c).

Vgl. dazu H. M. Baumgartner, Ist der Mensch absolut vergänglich? Die Bedeutung von Platons Argumenten im Dialog ›Phaidon‹. Bonn 1998; siehe auch Th. Ebert, Platon: Phaidon. Übersetzung und Kommentar. Göttingen 2004. Zu der systematischen Problematik. R. Berlinger, Das Nichts und der Tod. Dettelbach 1996.

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Beweisformen und Argumente Wie steht es vor diesem Hintergrund mit den Beweisen für die Unsterblichkeit der Seele? Der erste Beweisgang soll ein Zweifaches erbringen. Er soll zeigen, »dass die Seele noch ist nach dem Tode des Menschen und noch irgend Kraft und Einsicht hat« (70b). Das erste Teilziel dieses Beweisgangs wird im Blick auf das Entstehen von Seiendem aus dem Gegenteil aufgewiesen, das als ein zweifaches Werden (geneseis dyoin) (71c) zu verstehen ist. »So wie wenn etwas größer wird, muss es doch notwendig aus irgend vorher kleiner gewesenem hernach größer werden?« (70e). So entstehe der Tod aus dem Leben. Doch muss dieser Vorgang nach zwei Richtungen verlaufen, weil sonst im Sinn der Naturphilosophie des Anaxagoras ein Urzustand eintreten würde, in dem alle Dinge zugleich und »ungeschieden« wären. 35 Würde die Genese vom Wachen zum Schlaf nicht wechselseitig verlaufen, so schliefe irgendwann alles. Ebenso verhält es sich im Blick auf die Genese vom Leben zum Tod. Es kann also nicht nur das Tote aus dem Lebenden hervorgehen, es muss sich auch umgekehrt verhalten (71d f.). Der Beweisgang setzt offensichtlich das naturphilosophische Axiom voraus, dass es einen Rückgang des Seienden in das Nichts oder auch in ein Einzelheiten annihilierendes Allchaos weder geben könne noch dürfe. Schließlich führt der Beweisgang zu der Einsicht: »Es gibt in der Tat ein Wiederaufleben und ein Werden der Lebenden aus den Toten, und ein Sein der Seelen der Gestorbenen, und zwar für die Guten ein Bessersein, für die Schlechten aber ein Schlechteres« (72d f.). Das Verhältnis zwischen Gutem und Schlechtem bleibt dabei noch unerwogen. Doch mit dem Hinweis, dass der Charakter der Seelen gewahrt bleibt, ist schon auf die Wiedererinnerungslehre hingewiesen. Sie führt zu dem Nachweis, dass die Seele nach dem Tod ihre Kraft und Einsicht behalten muss (70b). Die Anamnesislehre kommt im Gespräch wie von selbst auf. Auf den zitierten letzten Satz hin erinnern sich Simmias und Kebes gleichsam assoziativ an sie (72e). Sie bestätigen damit performativ den Charakter der Anamnesis. Für die Anamnesis gibt es keinen stärVgl. B. Strobel, ›Dieses‹ und ›So etwas‹. Zur ontologischen Klassifikation platonischer Formen. Göttingen 2007 und M. Frede, Being and Becoming in Plato, in: Oxford Studies in Ancient Philosophy. Supplementary Volume 1988, S. 37 ff.

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keren Beleg als die Hebammenkunst, die Maieutik des Sokrates. Sie lehrt nicht, sie hebt nur das aus den Seelen hervor, was schon vorgeburtlich in ihnen liegt. Kebes erinnert sich an sie als an den »schönsten Beweis«, dass nämlich »wenn die Menschen gefragt werden und einer sie nur recht zu fragen versteht, sie alles selbst sagen wie es ist«. In strengerem Sinn ist dies natürlich kein Beweis, sondern allenfalls ein Hinweis auf die unvordenkliche Quelle der Wiedererinnerungslehre: die sokratische Maieutik. Der Anamnesis-Gedanke stellt, wenn man von seinen nachweisbaren orphischen Wurzeln absieht, 36 die Vertiefung dar, in die Platon die sokratische Maieutik hineinführt. Jeder Versuch, die Wahrheit aus der Seele eines Gesprächspartners hervorzuholen, muss, wenn er denn gelingen soll, darauf abzielen, dass die Wahrheit wie ein Erbteil in die Seele eingegangen ist, sonst könnte sie auch nicht aus ihr hervorgehen. Doch diese Quelle kann nur deshalb mit einem Beweis gleichgesetzt werden, da in Wahrheit etwas anderes in der Erinnerung mitschwingt oder im Vordergrund steht: dies zeigt das denkwürdige, im ›Menon‹ mitgeteilte Lehrgespräch des Sokrates mit einem der Mathematik unkundigen Sklaven, den er durch Fragen dazu befähigt, die Lösung eines schwierigen mathematischen Problems selbständig zu finden. Auch in jenem Zusammenhang war die Anamnesis-Lehre mit einer Verständigung über die Unsterblichkeit der Seele verbunden gewesen: »Wenn die Wahrheit der Dinge schon immer in der Seele ist, ist sie unsterblich« (Menon 86b). (1) Ausgehend von diesem Argument entwickelt der ›Phaidon‹-Dialog nur einen ersten Aufweis für die Wiedererinnerungslehre. Das Argument besagt in seinem Grundriss: Etwas, das sich zeigt, erinnert an anderes als es selbst. Nicht nur erinnert das Bild an den, den es zeigt, sondern auch ein Gebrauchsding wie eine Leier kann an den Knaben erinnern, der mit ihm umging (73d). In einem solchen Erinnerungsvorgang können auch Allgemeinbegriffe evoziert werden, denn die Anamnesis erlaubt uns allererst, verschiedenes Seiendes zu vergleichen (74b–c). Hier sind Grundlinien einer Einsicht skizziert, die Husserl als Retention und Protention im Zeitfluss beschreiben sollte. 37 Aber woran lassen sich Ähnlichkeit und Gleichheit erkenW. Burkert, Weisheit und Wissenschaft. Studien zu Pythagoras, Philolaos und Platon. Nürnberg 1962. 37 Vgl. dazu K. Held, Lebendige Gegenwart. Die Frage nach der Seinsweise des transzendentalen Ich bei Edmund Husserl, entwickelt am Leitfaden der Zeitproblematik, 36

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nen? Ähnlichkeit und Gleichheit stellen sich nicht mit den betrachteten Dingen oder Eigenschaften mit ein. Sie sind nur aus ihrer Idee zu gewinnen, denn es fehlt viel, dass gleiche Dinge »das Gleiche selbst« wären (74d). Um diese Differenz wissen wir aber nur, da uns der ideehafte Begriff des Gleichen selbst erinnerlich ist. Denken ist also in einem primären Sinn Erinnern; Erinnern freilich eines Vergessenen, das in einem mythischen Sinnbild als Vergessenheit charakterisiert wird, in die die wissenden Seelen eintauchen, sobald sie sich wieder inkarnieren. Nun wird als Echo dieses Wissens verstehbar, dass der Philosoph darauf gerichtet sein muss, über den Leib hinaus auf die wahren Urbilder der Dinge zu sehen und sie zugleich im Modus so zu sehen, wie sie in Wahrheit sind. Nur wenn sie sich ihm eingeprägt haben, kann er anamnetisch die Wahrheit wieder aus der Seele wachrufen. Erinnernd holen wir das aus unserem Inneren, was immer schon darin verborgen war, was aber einem ständigen, lebensbegleitenden Vergessen unterworfen ist (Symposion 207a). Hier wird bereits der Gedanke der Ähnlichkeit ins Spiel gebracht, der dann für den zweiten Beweis bestimmend sein wird: »Wenn das etwas ist, was wir immer im Munde führen, das Schöne und Gute und jegliches Wesen dieser Art, und wir hierauf alles was uns durch die Sinne kommt beziehen, als auf ein vorher gehabtes was wir als das unsrige wieder auffinden und diese Dinge damit vergleichen: so muss notwendig, eben so wie dieses ist, so auch unsere Seele sein, auch ehe wir noch geboren worden sind« (Phaidon 76e).

Obgleich es nicht explizit zur Sprache kommt, ist das Vergessen doch in diesem Argumentationsgang als dunkle Gegenfolie stets präsent. Vergessen geschieht nicht aus Torheit, sondern weil der Gedanke der Unsterblichkeit der Seele gegen die abgründige Furcht des Menschen nur durch tägliche Beschwörung zu stabilisieren ist (Phaidon 77e). Diese Furcht hat zum Inhalt, dass die zusammengesetzte Seele mit dem Tod auseinanderstiebt und verendet. (2) So betrachtet, ist der zweite Beweis für die Unsterblichkeit der Seele eine vertiefende Wiederholung des ersten. Er nimmt aber eine Phaenomenologica Band 23, Den Haag 1966. Man muss der These von Olaf Gigon nicht folgen, dass die wesentlichen Ausprägungen der neuzeitlichen Philosophie in der Philosophie der Antike bereits vorgeprägt seien. Doch an diesem Punkt ist eine übergreifende Affinität zu erkennen.

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andere Richtung: Erkennbar ist dies Unsterbliche durch die implizit mitgedachte Wahrheit, dass nur Verwandtes Verwandtes erkennen kann. Die Seele könnte das Lebendige nicht erkennen, wenn sie nicht ähnlicher Art wäre: also auch ihrerseits unveränderlich und nicht zusammengesetzt (80a). 38

Natur und zweitbeste Seefahrt Der zweite Teil des Dialoges ist von Gadamer zutreffend als »scharf akzentuierte[r] Höhepunkt des Gesprächs« begriffen worden. 39 Obgleich im argumentativen Sinn bereits wesentliche Optionen genannt sind und dieser zweite Teil eher eine Wiederholungsstruktur beschreibt, sieht sich Sokrates genötigt, den Untersuchungsgang noch einmal von neuem zu beginnen. Der Neueinsatz geschieht im Licht der Ideenlehre. Die Einwände von Simmias und Kebes sind für Sokrates Anlass zu einer weitergehenden Besinnung auf das Wesen philosophischen Denkens, nämlich darauf, »im Allgemeinen vom Entstehen und Vergehen die Ursache [zu] behandeln« (95e). Eine ähnliche Wirkung werden Glaukons und Adeimantos’ Zweifel an einem nur auf die Doxa gerichteten Zugriff auf die Gerechtigkeit in der ›Politeia‹ auslösen. Auf diese Weise ist, wie Giovanni Reale einmal treffend bemerkt hat, 40 die Fluchtlinie für den Gedanken einer weltschaffenden Intelligenz eröffnet und für jenes ›Zwischen‹ von Werden und Sein, das bis in den ›Timaios‹ und ›Phaidon‹ hinein eine maßgebliche Rolle bei Platon spielen wird. Was besagen die Einwände der jungen Gesprächspartner, dass sie Anlass einer so tiefreichenden Einführung in die Philosophie werden können? Simmias gebraucht das Bild der Harmonie der Lyra. Ist nicht, so fragt er, die Seele eine Harmonie am Körper, so wie die musische Harmonie eine Harmonie an der Leier ist? Auch für jene Harmonie gilt, was von Sokrates im Blick auf die Erkenntnisform der Vgl. zur Stelle auch den Kommentar von Ebert. Siehe auch R. E. Allen, Participation and Predication in Plato’s Middle Dialogues, in: Phil. Review 69 (1960), S. 147 ff. 39 Dazu Gadamer, Plato. Texte zu Ideenlehre. Frankfurt/Main 1978, S. 79. Siehe auch ders., Platos ungeschriebene Dialektik, in: ders., Griechische Philosophie Band II, a. a. O., S. 129 ff., sowie Die Unsterblichkeitsbeweise in Platos ›Phaidon‹, in: Griechische Philosophie Band II, S. 187 ff. 40 G. Reale, Zu einer neuen Interpretation Platons. Eine Auslegung der Metaphysik der großen Dialoge im Lichte der ›ungeschriebenen Lehre‹. Paderborn 1993, S. 135 ff. 38

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Seele gezeigt wurde: Sie ist unsichtbar. Das physisch existente Instrument ist erforderlich, damit die Harmonie überhaupt sinnlich manifest werden kann. Deshalb ist zu erwarten, dass sie zugrunde geht, sobald das Instrument nicht mehr existiert. Sie kann auch schon vor dem Instrument ersterben, wenn die Zusammensetzung der Teile, zum Beispiel altersbedingt, erschlafft (86b). Kebes’ Einwand ist etwas subtiler: Er orientiert sich zunächst am Stoffwechsel und verbindet dieses Beispiel mit einem Gedanken, dessen Verwandtschaft mit dem Entropiebegriff moderner Naturwissenschaft immer wieder bemerkt wurde. Jede Seele verbrauche während einer Lebenszeit mehrere Male ihren Leib und wirke ihn sich neu, so wie ein Weber viele Gewänder verfertige. Über der Arbeit an der letzten leiblichen Hülle sterbe sie dann (87d f.). Mit dem Ende des Lebens werde also die Hülle überdauern, während die Seele schon gestorben ist (87e). Diese Hülle könne aber nur auf kurze Zeit weiterexistieren. Da die Seele sie beherrscht und ihr Form gibt, muss sie ohne die Seele irgendwann zerfallen. Dass die Seele nicht sterblich sei, sei also durch die Trennung von Seele und Leib keineswegs bewiesen. Auch wenn man von mehreren Inkarnationen der Seele ausgehe, bleibe die Unsterblichkeit der Seele ungeklärt (88a ff). Es könnte noch immer sein, dass die Seele zunehmend an Kraft verliere und am Ende sterbe. Der Einwand wirkt labyrinthisch, er ist durchaus sachlich differenziert, und seine bohrende Umständlichkeit, die zwei Mal als für Kebes charakteristisch angegeben wird (63a und 77a), nötigt Sokrates erst zu dem neuen Anlauf, der zur Exposition der Ideenlehre führen wird. Beide Einwände sind durchaus verschieden an Gewicht und doch werden sie, von zwei Thebanern stammend, von Sokrates mit dem thebanischen König Kadmos und seiner Gattin Harmonia verglichen, ein Wortspiel, das ihre Verwandtschaft zu verstehen gibt (95a). Diese Ähnlichkeit rührt einerseits daher, dass beide Formen des Zweifels schon je für sich eine Erschütterung der Zuhörer bewirken. Diese Harmonie der Gegeneinwände bewirkt aber, wie Schleiermacher übersetzt, umgekehrt ein »Verstimmtsein« (88c). Die Festigung durch die sokratischen Logoi droht in der Zweifelsbewegung zugrunde zu gehen. Diese Erschütterung ist offensichtlich nicht nur diskursiver Natur. Sie setzt Sokrates’ Hörer vielmehr erneut und schutzlos der existentiellen Todesfurcht und der Trauer angesichts seines bevorstehenden Todes aus. Sokrates warnt in dieser vom Verstummen bedrohten Lage vor einer Mislogía, einer Logos-Feindschaft (89b). Die 129 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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Unterredner sollten sich nicht von der Todesfurcht in Bann ziehen lassen. Der Trost hat, auch wenn er nicht zur Dichte des Beweises führt, in sich selbst einen Wert. Er bringt in die Stunden vor dem Tod Licht: »Wenn es aber für die Toten nichts mehr gibt, werde ich doch wenigstens diese Zeit noch vor dem Tode den Anwesenden weniger unangenehm sein durch Klagen; dieser mein Irrtum aber dauert nicht mit uns, denn das wäre ein Übel, sondern wird in kurzem untergehen« (91b). Doch nicht nur in ihrer Wirkung sind die Einwände von Kebes und Simmias miteinander verwandt. Auch in der grundlegenden Voraussetzung, die sie treffen und die Sokrates mit dem Verweis darauf, dass die Seele nicht aus Teilen zusammengesetzt sei (71a), außer Kraft zu setzen versuchte, kommen sie überein: Sie argumentieren beide in der Weise des Merismos, des Teil-Ganzes- oder Teil-Teil-Verhältnisses. Mithin ist ihr Blickfokus auf das Vergehen und Entstehen von körperhaften und sinnfälligen Dingen gerichtet. Damit können sie das Wesen der Seele nicht treffen. Erst wenn man sich dies systematisch klarmacht, wird deutlich, dass die Ideenlehre einen veränderten Blickpunkt ins Spiel bringt. Die »zweitbeste Ausfahrt« bewirkt eine Blickwendung, die in Anspruch genommen werden kann und muss, aber nicht zu beweisen ist. Auf Simmias’ Einwand reagiert Sokrates, indem er die Teil-Teilund Teil-Ganzes-Verständigung in ihrer Ungemäßheit für das Sein der Seele aufweist. Er tut dies nicht noch einmal im direkten Sinn, sondern indem er auf dreierlei hinweist: (1) Simmias kann nicht einerseits für die Sterblichkeit der Seele sprechen und andererseits dem Anamnesis-Denken beistimmen. Hier ergibt sich offensichtlich ein Widerspruch. (2) Versteht man die Seele als Zusammenklang (harmonía), so lassen sich nicht gute von schlechten Seelen unterscheiden. Die ›areté‹ wäre allen gleich. Denn es kann nicht davon die Rede sein, dass eine Seele mehr oder weniger Seele ist als die andere, und damit könnte sie, im Sinne des von Simmias gebrauchten Begriffes, auch nicht mehr oder weniger Gestimmtheit sein. Eben diese Annahme wäre aber erforderlich, um Tugend und Schlechtigkeit zu unterscheiden. Hier ergibt sich eine unzureichende Bestimmung. (3) Schließlich wäre eine Stimmung, die auf schon Seiendem basiert, nicht in der Lage zur Herrschaft über ihr Instrument, den 130 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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Leib (94b1 ff.). Sie könnte ihm nur folgen. Dies ergäbe wieder eine Unterbestimmung.

III. ›Phaidros‹ – oder: Eros und Logos. Eine Methodenlehre Palinodie und Logos Wenn man die Frage nach dem Schönen und der Attraktionskraft des Eros vor dem Hintergrund der Unabweisbarkeit der Todeserfahrung und der Unbeweisbarkeit der Unsterblichkeit vertieft auffassen will, scheint es sinnvoll, vom ›Phaidros‹ auszugehen, obgleich es eine Tendenz neuerer Forschung gibt, ihn als einen sehr späten Dialog zu begreifen. Im ›Phaidros‹ werden zunächst Logoi über den Eros aneinander gereiht. Phaidros verliest die Eros-Rede des Lysias, in den er verliebt ist. Es ist paradoxerweise eine Rede über den Vorteil des Lebens im Zustand der Nicht-Verliebtheit. Der Autor der Rede zeigt sich als ein kalter und schöner Geliebter, der dadurch die Neigungen des Begehrenden nur weiter steigert. Fürs erste können wir nur in den weiten Raum dieser Logoi eintreten. Sokrates bemängelt diese niedergeschriebene Rede. Sie sei geradezu Frevel am Eros. Man kommt überein, er solle eine bessere halten. Liebe als schädlich für Seele, Körper und Besitz des Geliebten, als eine Art von Begierde; diese Aussagen der Lysias-Rede werden dem Eros nicht gerecht. Eine Reinigung beider Logoi ist geboten, und Sokrates gibt sie mit einer dritten Rede. Darin versteht er Eros als eine Form göttlicher Mania (ähnlich wie im ›Ion‹, dem Dialog über das dichterische Ingenium und seinen Enthusiasmus). Eros ist irdische Wiedererinnerung an die Idee des Schönen, die in der vorgeburtlichen Existenz die Seele geschaut hat. Vor diesem Hintergrund kommt es zu den in der Platonforschung besonders viel erörterten Überlegungen über den Rang der Schrift und ihr Verhältnis zur Idee. Irreführend werden sie als »Schriftkritik« kodifiziert. 41 Sokrates gesteht Diese eingeschliffene Redeweise trifft nur sehr bedingt auf das zu, was der Gedanke des VII. Briefs ergibt. Vgl. dazu auch weiter oben. Siehe zu Recht W. Kühn, Welche Kritik an welchen Schriften? Der Schluss von Platons Phaidros nichtesoterisch interpretiert, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 52 (1998), S. 23 ff. Siehe auch die Übersicht W. Kullmann, Hintergründe und Motive der platonischen Schriftkritik in: W. Kullmann und M. Reichel (Hg.), Der Übergang von der Mündlichkeit zur Literatur bei den Griechen. Tübingen 1990, S. 317 ff. und: ders., Platons Schriftkritik, in:

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aber zu, dass die Schrift als Erinnerungsinstrument, das vergangene Denkbewegung wieder zu vergegenwärtigen vermag, Bedeutung und Berechtigung hat. Ein näherer Blick auf die Eros- und die Schriftfrage im ›Phaidros‹ kann zeigen, dass er gleichsam Metatheorie zu dem Zusammenklang von Eros und Tod ist. Die Begegnung zwischen Sokrates und Phaidros spielt sich außerhalb der Stadt ab, in einem Platanengarten. Wie ein Fremder bewege sich Sokrates in deren Mauern, heißt es im Bericht (230b–c), nicht wie ein einheimischer Mann. Denn dem delphischen Spruch des ›Gnothi seauton‹ sei er noch nicht nachgekommen. Im selben Zusammenhang gibt er zu verstehen, dass er nur von den Menschen, nicht aber von Bäumen und Sträuchern lerne. Dennoch rühmt er sie (230b), wie eine Landschaft, die er niemals vorher gesehen hat. Es zeichnet sich also eine orthafte Ortlosigkeit ab, ein Innerhalb- und Außerhalbsein gleichermaßen. 42 Sehr aufschlussreich ist nun Sokrates’ Einwand (241d–e) gegen die Lysias-Rede. Er beschwört den Wahn (mania) und er verweist auf sein Daimonion, das ihn auch diesmal gewarnt habe (242c). Der Eros darf nicht einfach beschimpft oder verachtet werden. Seine göttlichdaimonische Natur ist vielmehr mit Scham und Scheu zu verehren. Zwar ist der Liebende ein Wahnsinniger, ein maniakos, das steht außer Zweifel. Es gebe aber einen heiligen Wahnsinn: Theia moira. Göttliche Gunst und zugleich göttliches Geschick bedeute es, in diesem Zustand zu sein. Der Liebende sei dann ein Geheiligter und zugleich ein Gezeichneter. Dies zeigt sich im Blick auf die Mantik, die Heilung von Krankheiten, und in der Dichtkunst. Das Lob des Eros, das Sokrates sodann exponiert, verklammert sich mit der Meditation des Fortlebens der Seele im Sinne des ›Phaidon‹. Dies kulminiert im Gleichnis vom Seelenwagen (245c–246d). Es ist das Wesen der Seele, das einem ›Gespann‹ gleicht. In ihrer Einkörperung verliert sie ihre göttliche, harmonische Vollkommenheit. Offensichtlich ist auch der ›Phaidros‹ ein Erosdialog. Eros in sei-

Hermes 119 (1991), S. 1 ff. Siehe zur Forschungslage Platon-Handbuch, a. a. O., S. 376 ff. mit einer detaillierten Literaturübersicht. 42 Dies signalisiert die paradoxe Rede von ›orthafter Ortlosigkeit‹, die auch in den Übersetzungs- und Intermediums-Konzeptionen der interkulturellen Philosophie eine besondere Rolle spielt.

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ner Göttlichkeit und seiner Gefährdung ist in ihm sogar noch offener präsent als im ›Symposion‹. Sokrates selbst tritt in einen Dichterwettstreit ein. Eigentlich ist sein Part aber die Palinodie, (243a) die Rücknahme der Eros-Rede des Lysias. Die Gegenstimme ist notwendig, da in den vorausgehenden Logoi die Göttlichkeit des Eros geschmäht wurde. Aus Scham und Furcht vor Eros (243d) ist es mithin unerlässlich, eine trinkbare Rede (potímo logo) dem Gesagten nachzuschicken. Die Rede des jungen Lysias, die Phaidros dem Sokrates vorgelesen hatte (235a1 ff.), bewirkt in doppeltem Sinn eine Brechung des Erosthemas. Phaidros ist in den Verfasser, Lysias, verliebt. Lysias’ Rede schmäht aber den Eros. Sie wendet sich an einen fingierten geliebten Knaben und führt ihm vor Augen, dass es ungleich angenehmer sei, von einem Nicht-Verliebten umworben zu werden als von einem Verliebten, der außer sich sei und in seiner Reizbarkeit, anders als der im Inneren unbeteiligte Kenner, Schwierigkeiten bereite. Die Unwahrheit der Lysias-Rede deutet sich schon durch diesen Bruch an. Lysias plädiert für die kalte Raffinesse, für körperliche Lust ohne das gefährdende Hingerissensein. Das Lysianische Plädoyer, von dem er sich hinreißen lässt, ist also umgekehrt Ausdruck des Unglücks von Phaidros, darf er doch nicht hoffen, von Lysias in der Tiefe erhört zu werden. Nur in der Performanz von dessen Rede, im Vorlesen, kommt er dem Geliebten näher. Zwischen Phaidros, der sich die Lysias-Rede zu eigen macht, und dieser selbst besteht also eine klare Differenz (227c). Bereits die erste Gegenrede, mit der Sokrates sich auf den LysiasLogos einlässt, gibt dem Eros das Seine und sein Recht zurück. Sie ›entsühnt‹ ihn gleichsam. Sokrates tadelt zwar den hingerissenen Erotiker. Doch er lobt nicht umgekehrt den kalten, raffinierten Liebhaber: »Ich sage also nur mit einem Worte, dass weshalb wir den einen geschmäht haben, davon dem Andern das entgegenstehende Gute beiwohne. Was bedarf es einer langen Rede?« Seine erste Rede bleibt damit auf dem Boden der richtigen Meinung (orthe doxa). Er verdeutlicht, dass Eros eine Form der Begierde (epithymía) sei und wie alle Begierde Teil der »vielnamigen Hybris« (238a). Jede Begierde gehöre als solche dem auf das hedonistische Glück zielenden Trieb in der menschlichen Seele an, während dagegen der andere Antrieb auf das Beste (ariston) gerichtet sei (237d). Wenn Sokrates am Ende der ersten Rede zu Phaidros bemerkt, dass ihn selbst etwas Göttliches (theion) ergriffen habe (238c), so ist dies bereits ein Hinweis auf die 133 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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wirkliche Gegenwart des Eros, jene Mania, die dem wahrhaften philosophischen Gedanken eigen ist. Dieser sprengt die ›orthe doxa‹. Die Legitimation des erotischen Ausnahmezustandes wird damit einer göttlichen Instanz überantwortet. Schon auf dem Gang zur Platane, unter der das Gespräch stattfinden wird, von Phaidros auf die Glaubwürdigkeit eines Mythos angesprochen, macht Sokrates dies deutlich (230a). Der Gedanke zieht sich vielfältig durch den Dialog: Er wird durch die Gebete und durch Besonderheiten in der Argumentation unterstrichen. Die Unsterblichkeit der Seele wird nicht, wie im ›Phaidon‹, argumentativ bewiesen. Aus der Gewissheit der Freundschaft mit den Göttern (246d) scheint vielmehr die innere Entsprechung von Seele und Leben bewahrheitet und dadurch illustriert, dass der Anfang aller Bewegung, das selbst bewegte Vermögen, als Leben kat’exochen erscheint, das nicht sterben kann. Hier könnte man eine erste Keimzelle des auch für die Aristotelische ›Metaphysik‹ so zentralen Gedankens von einer ersten Bewegung entnehmen, die Selbstbewegung ist. 43

Eros und Tod: Der große Mythos im ›Phaidros‹ Von dieser philosophischen Grundstimmung ist der folgende große Eros-Mythos getragen. Er realisiert sie in der Kraft des ›agein ano‹, des ›Nach oben Führens‹. Der von Sokrates berichtete Mythos geht von der Unsterblichkeit der Seele aus. Sie steht im ›Phaidros‹, anders als im ›Phaidon‹, gar nicht infrage, eben weil die Seele aus sich heraus eigentliches Leben und Selbstbewegung ist (245b1 f.). Auch die menschliche Begrenztheit wird dabei reflektiert. Denn wie es um die Seele eigentlich bestellt sei, dies wüssten nur die Götter (246a). Der Gesichtskreis des Mythos führt auf den ungeheuren Umzug der Götter über den himmlischen Kosmos mit Zeus als einem Gott bis zum überhimmlischen Ort (hyperouranios topos) (247c). Dort gewahrt die göttliche Seele das wahre Sein, während die anderen Seelen es und mit ihm Gerechtigkeit, Besonnenheit und Wissen (dikaiosyne, sophrosyne und episteme) nur fallweise sehen können (247e). Dieser göttliche Seelenumlauf führt auf das Adrastiegesetz, eine InkarnaAristoteles, Metaphysik XII. Die aristotelische ›Theologie‹ ist allerdings, wie wir sehen werden, im X. Buch der ›Nomoi‹ in besonderem Maß vorgeprägt.

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tion, die mit jener im Mythos des Er am Ende der ›Politeia‹ in einem inneren Korrespondenzverhältnis steht. 44 Anders als es in der ›Politeia‹ der Fall sein wird, ist hier nicht die Notwendigkeit, sondern die göttliche Gerechtigkeit bestimmend, die mit dem innersten Wesen der ›areté‹ eng verknüpft ist. Beide stehen außerdem in Verbindung mit der Kraft des Eros. Je nach seinem Vermögen folgt jede Seele dem Umlauf. Dies wird ihr auch zugestanden, denn Missgunst ist im Sinn der Reinigung des wahren Mythos aus dem göttlichen Chorus verbannt (247a). Doch das Vermögen, die höchste Idee und damit die Wahrheit zu schauen, ist sehr unterschiedlich verteilt. Über diese Verteilung im Einzelnen hat die Gottheit zu befinden. Die Grenze zwischen göttlicher und menschlicher Erkenntnis ist scharf gezogen: »Doch dieses verhalte sich wie es Gott gefällt« (246d). Der Mythos gruppiert sich um das Bild von den beiden pferdegestaltigen (hippomórpho) Seelenpartien und dem Nous als der eigentlich menschlichen Gestalt der Seele (253d). Der charakteristische Wesenszug des einen Pferdes ist Schlechtigkeit: blindes, nicht in sich ruhendes Begehren zeichnet es aus. Dabei wird die Bildhaftigkeit ungewöhnlich drastisch und fast grell ausgemalt. Es sei »senkrückig, plump, schlecht gebaut, hartmäulig, kurzhalsig« (253e), vor allem aber ist es Worten nicht zugänglich; das Wesen des anderen dagegen ist vortrefflich. Es ist edel, fähig zu Scham und Besonnenheit und dazu, auf Worte zu hören. Während es dem Wagenlenker gehorcht, ist das andere bissig und widerspenstig. Je nachdem, wie es gelingt, das erste niederzuhalten und zu demütigen – denn zu befreundetem Einschwingen in den Gleichklang des Gespanns ist es nicht fähig –, kommt die Seele in einen harmonischen Zustand und ist dadurch zum Aufstiegt fähig. Verlust des Gefieders und die Einkörperung in Erdengestalt sind der Seele beschieden, die dieses Gleichmaß nicht findet. Sie stürzt deshalb in jedem Fall zurück zur Erde. Die Adrastieordnungen werden dabei recht genau angezeigt, sodass der Dialog auch eine Art von Gerichtsrede ist, die die Anatomie der Tyrannis und des Tyrannen bis in die Tiefen hinein auslotet (258d f.). Mithin ergibt sich eine Entsprechung zu der Lehre von den absteigenden Herrschaftsformen, vor allem in ›Politeia‹ IX. Vgl. zum Mythos des Er: G. Droz, Les mythes platoniciens. Paris 1992 und S. Halliwell, The Life-and-Death Journey of the Soul: Interpreting the Myth of Er, in: G. R. F. Ferrari (Hg.), The Cambridge Companion to Plato’s Republic. Cambridge 2007, S. 445 ff.

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Der Ausgang des Gerichts wird in mehrfacher Hinsicht differenziert. Die Seelen derjenigen, die philosophieren oder zumindest sich »nicht unphilosophisch« der Liebe widmen (248e), kehren gleich in den göttlichen Zustand der Befiederung zurück, die Seelen der anderen erst, nachdem sie in einem weiteren irdischen Leben Stetigkeit bewiesen haben. Die Seelen, die sich auch dazu nicht als tauglich erweisen, kommen dagegen vor ein Gericht (249a). Sie werden geschieden in jene, die in die unterirdischen Zuchtörter (dikaiotéria) verbannt werden, und jene, die an einem Himmelsort ihre zweite Zeugung erwarten, in Verlängerung der Lebensform (bios), die ihnen während ihrer Lebenszeit eigen war (249a). Der Aufstieg der Seelen aber wird vom Eros geleitet. Sokrates zitiert mit einem Homeriden-Wort: »Sterblichen nun heißt dieser [Eros] der Gott der geflügelten Liebe: Göttern der Flügler, dieweil er mit Macht das Gefieder heraustreibt« (252b). In einer kühnen Sinnbildlichkeit wird der erotische Reiz, das ekstatische Drängen über die eigenen Leibgrenzen hinaus bis hin zum Schmerz als Wiedererwachen der seelischen Flügel exponiert (250a). Hier ergibt sich an bezeichnender Stelle ein Gleichklang zum ›Symposion‹. Der Eros weckt die Erinnerung an die höchste Einsicht. Ein enges Verhältnis zwischen Eros und Philosophie kann dabei angenommen werden: Die Erinnerung an die höchste Idee, die sich dauerhaft nur Zeus als dem höchsten Gott erschließt, ist während der irdischen Einkörperungen verblasst. Dieses eigentliche Wesen ist »farblos, gestaltlos, stofflos« und zugleich »wahrhaft seiend« (247c). Die Konzentration auf das Eine überforderte den Menschen. Anders der Eros. Auch er konzentriert auf das Göttliche. Er ist daher, wie es heißt, immer von einem Gott geführt. »Weil sie genötiget sind angestrengt auf den Gott zu schauen, und indem sie ihn in der Erinnerung auffassen, nehmen sie begeistert von ihm Sitten und Bestrebungen an, soweit einem Menschen von einem Gotte etwas zu überkommen möglich ist« (253a). Der Eros ist als Erinnerung der höchsten Idee auf die Schönheit bezogen. Damit eröffnet sich durch Erinnerung und Enthusiasmus der Weg zur Rückkehr in die Sphäre des Guten selbst. Schönheit erweist sich, mit großen Wirkungen auf den Zusammenhang von Schönheitslehre und Metaphysik, 45 als unmittelbare Erscheinung

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Dem bin ich in meinem Buch H. Seubert, Ästhetik – Die Frage nach dem Schönen.

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›Phaidros‹ – oder: Eros und Logos. Eine Methodenlehre

der Idee, die plötzlich und jäh (exaiphnes) aufgeht. 46 Damit verweist der Eros, weil er sich auf das Schöne orientiert, unmittelbar auf die eigentliche philosophische Lebensform. Die Diotima-Rede des ›Symposion‹ hatte dargelegt, dass der Weg der Philosophie selbst zuinnerst vom Eros bewegt ist, dessen Ziel die Wahrheit sei. Die Sokrates-Rede im ›Phaidros‹ zeigt mithin an, dass im Eros das Göttliche unmittelbar gegenwärtig ist. Nicht zu vergessen ist dabei, dass der Erosmythos des Sokrates von jener Stimmung ausgeht, die die Lysias-Rede getadelt hatte und der Phaidros verfallen war: der Mania. Eros ist auch Wahnsinn und Entrücktheit. Sokrates rettet die Manie – ein weiteres Indiz für die dionysische Dimension seines Denkens. Sie müsse nicht notwendigerweise in Hybris münden. Die Unterscheidung in eine göttliche und eine menschliche Art von Wahnsinn allerdings wird in dem Zusammenhang, der den Mythos vorbereitet, noch nicht festgehalten. Sie wird erst später, im Zusammenhang des Nachdenkens über wahren und falschen Logos, nachgeholt (265a). Dabei wird deutlich, dass die Grenzlinie nur ein Konstrukt ist, das von weichen, fließenden Übergängen in Frage gestellt wird. Deshalb kann Sokrates die Schlussfolgerung ziehen, dass jede Äußerung von Manie ein tierhaftes und ein göttliches Antlitz trägt. Wahnsinn ist ein enthusiastisches, göttliches Vermögen, das aber ins Animalische abstürzen kann: Auch darin zeigt sich wieder die dämonische Dimension (244d). Deutlich wird auch, dass die Stimmung, die Lysias’ Empfehlung zur kalten Raffinesse gelenkt hatte, durch die nachdenkende Palinodie nicht außer Kraft gesetzt werden kann. Lysias traf etwas Richtiges, als er die Gefährlichkeit des Eros zeigte. Das Sinnbild vom Pferdegespann gibt zu verstehen, dass gerade in der äußersten Anspannung im Eros sichtbar wird, welche Seele gut geartet ist: »Indem sie nun weiter zurückgehn, benetzt das eine [sc. das gute Pferd] vor Scham und Bewunderung die ganze Seele mit Schweiß, das andere aber, ist nur erst der Schmerz vom Gebiss und dem Falle vorüber, hat sich kaum erholt, so bricht es zornig in Schmähungen aus, vielfach beide den Führer und den Spanngenossen beschimpfend« (254c). Freiburg, München 2015 nachgegangen. S. 57–97 widmet sich dabei vor allem Platon und der erscheinenden Idee. 46 Vgl. dazu W. Beierwaltes, Exaiphnes oder: Die Paradoxie des Augenblicks, in: Philosophisches Jahrbuch 74 (1966/67), S. 271 ff.

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Es bedeutet also einen langen und verschlungenen Weg, bis »des Liebhabers Seele dem Liebling verschämt und schüchtern nachgeht« (254e). Doch erst in diesem Zustand vollendet sich der wahre und göttliche Charakter des Eros. Sokrates wiederholt auch hier noch einmal, dass aller endliche Eros nach der Erfahrung seine Zeit hat und vergeht. Die Liebenden gehen auseinander (256d). Doch durch ihre Liebe haben sie einander die größten Pfänder gegeben (pisteis tas megístas) (ibid.) und nicht nur einander. Diese Pfänder sind in kosmischer Dimension dem Leben eines jeden von ihnen eingeprägt, weit über diesen physischen Umlauf hinaus. Das göttliche Pfand bleibt insofern für sie unverlierbar. »Am Ende aber gehen sie unbefiedert zwar, doch schon mit dem Triebe (hormé) sich zu befiedern aus dem Körper« (256d). Aus einer endlichen Liebe, die aber ihr Glück und ihre Erfüllung hatte, könne auch Freundschaft entstehen. Das Grundverhältnis des Wohlwollens muss nicht mit dem Ende der Verliebtheit vergehen. Indem er dies verdeutlicht, nimmt auch Sokrates die Perspektive ein, die die Rede des jungen Lysias am Anfang gekennzeichnet hatte: den Blick des Ratgebers für einen jungen Geliebten. Lysias, dem jungen verwöhnten Eromenos, kam diese altkluge Position wohl kaum zu. Sokrates führt dagegen diesem fingierten jungen Mann vor Augen, dass auch er wirkliche Seelenfreundschaft gewinnen wird, wohin die kalte körperliche Liebe, die Lysias favorisierte, nie führen könne. Auch der Geliebte eines leidenschaftlichen Liebhabers könne erfahren, wie aus einer vorgängigen Triebhaftigkeit die Kraft der Liebe entstehen kann. Am Anfang steht häufig ein narzisstischer Affekt. Doch der kann gereinigt werden: »Er liebt also, wen aber weiß er nicht, ja überhaupt nicht was ihm begegnet weiß er oder kann es sagen, sondern wie einer, der sich von einem Andern Augenschmerzen geholt, hat er keine Ursache anzugeben; denn dass er wie in einem Spiegel in dem Liebenden sich selbst beschaut, weiß er nicht. Und wenn nun jener gegenwärtig ist, so hat auch er gleichwie jener Befreiung von den Schmerzen, ist er aber abwesend, so schmachtet auch er wie nach ihm geschmachtet wird, mit der Liebe Schattenbilde, der Gegenliebe, behaftet« (255d).

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Poetische Dialogkunst, wahres Drama und die Frage der Einheit des ›Phaidros‹ Die Passagen, die als zweiter Teil des ›Phaidros‹ ausgewiesen und wahrgenommen werden, erscheinen zunächst wie eine poetologische Metareflexion dieser Eros-Reden. Unterschieden wird der wahre vom falschen Eros. Die starke Differenz der Teile ist immer wieder als Forschungsproblem aufgeworfen worden. 47 Meist wurde dabei der harte Bruch zwischen erstem und zweitem Teil überbetont. Schon bei Eduard Norden fällt diese Tendenz besonders stark aus, 48 was wenig verwunderlich ist, ist sein Gesichtspunkt doch der der Komposition eines Literaturwerks, der im platonischen ›Phaidros‹ im Namen der mündlich mitgeteilten Gedankenbewegung geradezu programmatisch durchbrochen wird. Es kann also durchaus fruchtbar sein, den Zusammenhang vorauszusetzen: Erst vom zweiten Teil aus wird erkennbar, dass es im ersten Teil des ›Phaidros‹ immer schon um den Zusammenhang des Eros mit dem Logos ging. Dies könnte aber leicht übersehen werden. Im Verhältnis zwischen Lysias’ Wort, einer von Sappho und Anakreon geliehenen fremden Rede in Sokrates’ erster Eros-Rede und dessen eigenem großen Mythos geht es, wie zu Recht bemerkt worden ist, darum, dass der Blick zugleich geweitet und konzentriert wird: vom vertrauten Phänomen der Widerspenstigkeit des Liebhabers zu deren tiefer liegenden Ursachen. 49 Damit ist auch zu bedenken, dass die Frage nach dem Eros und die Frage nach der Seele in engem Zusammenhang stehen. Das Schöne, Darstellung des Undarstellbaren einen Guten und Wahren, wird Vgl. den Kommentar von Heitsch, a. a. O., der dies sehr gut in eine Übersicht bringt und, eben im Unterschied zu Szlezák, Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie, a. a. O., Zweifel an der Einheit des Dialogs aufkommen lässt. 48 E. Norden, Die antike Kunstprosa Band 1. Leipzig 1898. Norden misst an einem klassizistischen Anspruch, der kaum geeignet ist, der Denkbewegung der platonischen Dialoge nachzugehen. 49 Vgl. Szlezák, Mündliche Dialektik und schriftliches ›Spiel‹, a. a. O., S. 115 ff. Siehe auch dazu Th. A. Szlezák, Mündliche Dialektik und schriftliches ›Spiel‹ : Phaidros, in: Kobusch, Mojsisch (Hg.), Platon, a. a. O., S. 115 ff. Zu Recht sehr kritisch gegen die vor allem von E. Heitsch beförderte Deutungstendenz, die Einheit im Gedankengang des Dialogs zu bestreiten. Dazu Heitsch, Wege zu Platon. Beiträge zum Verständnis seines Argumentierens. Göttingen 1992, S. 9 ff. und S. 117 ff., sowie ders., Phaidros 277 a6–b4. Gedankenführung und Thematik im ›Phaidros‹, in: Hermes 120 (1992), S. 169 ff. 47

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unter Bedingungen von Endlichkeit und Sterblichkeit erst im eminenten Widerstreit mit dem Schlechten zum erfahrbaren Ethos, in einem Widerstreit, der nicht in vernunfthafter Selbstbeschränktheit der Vernunft ausgetragen wird, sondern im Aufstieg der Seele zum Einen. Die indirekte Anthropologie, die Sokrates in seiner ersten Eros-Rede exponiert, zeigt dies negativ: Denn Hybris und Streben nach dem Besten (237d) müssen kontrastiert werden. Wahrheit (aletheia) und das Gute, das sich im Schönen (kalon) zeigt, werden im ›Phaidros‹ in engem Zusammenhang gesehen. 50 Dieser Zusammenhang ist dem Zusammenhang von Eros und Logos, der im ›Symposion‹ behandelt wird, der Struktur nach ähnlich. Denn das Schöne ist Darstellung des überseienden, stofflosen Wahren. Als Spezifikum dieser Darstellung ist zu erkennen, dass sie zur Erscheinung bringt, was sich aller Erscheinung entzieht. Dadurch wird der Eros im Logos auf Wahrheit und das Gute, seinen Grund, durchsichtig. Es geht im Fall des Eros um das an ihm selbst Gute und im Falle des Logos um ein Sprechen, das dem an ihm selbst Wahren gemäß ist. Auf diese Weise sind erster und zweiter Dialogteil in einen Zusammenhang gebracht. Er lässt sich auch so formulieren: Die Erosbewegung im ersten Teil ist nicht zufällig Veranlassung dafür, dass im zweiten Teil die Frage nach dem wahren Logos aufkommt. Ein Doppeltes fordert nach der sokratischen Lehre der wahre Logos: In ihm sind Zusammenflechtung (synagogé) und Unterscheidung (dihairesis), die beiden dialektischen Grundoperationen, ihrerseits zu verbinden. Es geht darum, »das überall Zerstreute anschauend zusammenzufassen in eine Gestalt«, und derart seinen Ursprung aus dem Einen, aus dem Guten und an ihm selbst Wahren kenntlich zu machen (265d) und dieses Eine wieder zu zergliedern, sodass keines seiner Bestandteile herausbricht, sondern es wie die Glieder zum Leib sich differenziert (265d f.). Gemäß diesem Verfahren bezieht sich der Logos auf das Wahre in seiner vielfachen Gestalt, nicht auf den Schein. Eine Rhetorik, die dies leisten soll, setzt das philosophische Wissen und die Kenntnis der Ideen voraus. Sie bedarf deshalb der Dialektik. Das aber heißt: Sie setzt die schwierigste und erst zuallerletzt zu erreichende philosophische Disziplin voraus und geht noch über sie hinaus. Sokrates weist darauf hin, dass die beiden Grundbewegungen der Dialektik die Essenz bilden, die von den Eros-Reden bleiben wer50

G. Picht, Platons Dialoge, a. a. O., S. 267.

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de. Alles andere sei nur wie im Spiel gesagt worden (pepaisthai). Dies bedeutet nicht, dass die Eros-Rede zurückgenommen würde. Ganz im Gegenteil wird indirekt noch einmal auf sie verwiesen. Denkt man an das ›Symposion‹, so ist es die eroshafte Grundstimmung der Philosophie, die zugleich Tragödien und Komödien zu schreiben erlaubt. Ernst und Spiel sind also nicht nur, wie die Vertreter der »ungeschriebenen Lehre Platons« überbetont haben, 51 voneinander unterschieden, sodass das Spiel eine Abwertung erfahren müsste. Ohne das besondere Beispiel des Eros wäre vermutlich auch diese Wesensbestimmung philosophischer Dialektik nicht gewonnen worden. Sind doch, wie man aus dem ›Symposion‹ weiß, Eros und Philosophie ebenso eng aufeinander bezogen wie Spiel und Ernst. Dementsprechend eng ist das Verhältnis zwischen geschriebenem und gesprochenem Wort. Gerade dadurch, dass Platon im ›Phaidros‹ jedweden Logos, wenn er denn gut und in Wahrheit gesprochen oder geschrieben ist, als philosophisch begreift, wird dieses Argument bekräftigt. Denn der ›Phaidros‹ verpflichtet den Redner nicht nur auf eine »technische Dialektik«, wie Ernst Heitsch meinte. 52 Er weist vielmehr auf die philosophische Dialektik im vollen Sinn hin und damit auf jene Lebensweise, die »stets in die vollkommenen Geheimnisse eingeweiht und als einzige wahrhaft vollkommen wird« (249c). Deshalb soll der Name des ›Philosophos‹ auch für den guten Rhetor und Gesetzgeber gelten dürfen. Das ist aber nur derjenige, der zuerst auf dem Weg der Dialektik die Wahrheit über die Dinge erkannt hat. Denn einen eigentlich Weisen könne man ihn nicht nennen, wie übrigens auch den Philosophen nicht. Dieser Name soll der höchsten Gottheit vorbehalten bleiben (278d). Von diesem höchsten Punkt her zeigt sich klarer, wie Ernst und Spiel aufeinander bezogen sind. Denn es ist nicht zufällig, dass die Frage des wahren Logos im Licht einer Wesensschau des Eros reflektiert wird: Kann sich doch die Dialektik nicht nur im strengen Denken der letzten Frage nach ›aletheia‹ und ›agathon‹, sondern auch im wirklichen Verstehen einer eminenten Daseinsmacht einstellen. Ungewollt kommen diejenigen in den Sog der Dialektik, die dem Zugzusammenhang des Eros folgen. Die Aussage, dass ›dihairesis‹ und ›synagogé‹ jene MethodenSiehe auch die moderate Position bei Szlezák, Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie, a. a. O., S. 19 ff. passim. Vgl. auch H. Krämer, Platons Ungeschriebene Lehre, in: Th. Kobusch und B. Mojsisch (Hg.), Platon, a. a. O., S. 249 ff. 52 Heitsch, Wege zu Platon. Beiträge zum Verständnis seines Argumentierens. Göttingen 1992. 51

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schritte seien, die vom Mythos des Eros bleiben, bedeutet dann, dass die Dialektik die immanente höchste Einlösung des Eros ist. Sie hat die Kraft des ›agein ano‹, der Zusammenstimmung. Es ist nicht zuletzt dieser ungewollte Zug in der Denkbewegung des ›Phaidon‹, der das philosophische Wissen von einer verfügbaren ›techné‹ unterscheidet.

Mimemata: Die Schwäche der Schrift Im ›Phaidros‹ münden diese Erwägungen in eines der am meisten diskutierten Momente platonischen Denkens: die Reflexion über Bedeutung und Grenze der Schrift. Obwohl diese Passagen gemeinhin als »Schriftkritik« bezeichnet werden, trifft diese Bezeichnung doch nur bedingt zu. Die Schrift, so sagt es Sokrates, ist nicht die eigentlich philosophische Mitteilungsart. Der altägyptische Mythos von Theuth gibt zu verstehen, dass die Schriftzeichen (grammata) lediglich Gedächtnisstütze (hypomnematon) sein könnten, allerdings mit der ihnen wesenseigenen Ambivalenz, dass sie das Vergessen begünstigen würden (274e ff). Denn was einmal niedergeschrieben sei, müsse man nicht mehr im Gedächtnis erinnern. »Dieses Schlimme hat doch die Schrift, Phaidros, und ist darin ganz eigentlich der Malerei ähnlich; denn auch diese stellt ihre Ausgeburten hin als lebend, wenn man sie aber etwas fragt, so schweigen sie gar ehrwürdig still. Ebenso auch die Schriften. Du könntest glauben sie sprächen als verstünden sie etwas, fragst du sie aber lernbegierig über das Gesagte, so enthalten sie doch nur ein und dasselbe stets« (275d).

Schrift ist Abbild eines mündlichen Vorgangs, in dem sich seinerseits die Zwiesprache der Seele mit sich selbst über das, was sie untersucht, 53 ausbildet und niederschlägt. Der verschriftlichte Text bleibt aber im Unterschied zum ausgesprochenen Wort statisch. Dies war im ersten Dialogteil explizit an Lysias’ Text gezeigt worden, den Phaidros vorgelesen hatte. Die beiden folgenden Logoi des Sokrates vollzogen dann die Bewegung aus der Schrift heraus. Der erste hatte deren tote Schemata beibehalten: Er war nämlich geliehene Rede und orientierte sich an Sappho und Anakreon. Doch die Vorbilder gerieten während des Redens in 53

Siehe dazu W. Wieland, Platon und die Formen des Wissens, a. a. O., S. 224 ff.

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Vergessenheit und je mehr Sokrates in eine göttliche Grundstimmung, einen manischen Enthusiasmus versetzt worden war (241e), je mehr ihm also die Göttlichkeit des Eros vor Augen gestanden hatte, desto mehr sah er sich gedrängt, den schriftlichen Logos fragmentarisch abbrechen zu lassen. Im großen Eros-Mythos wurde die Schriftlichkeit dann ganz hinfällig. Günter Figal hat zu Recht darauf hingewiesen, 54 dass es angesichts des Eros die Sprache verschlage. Auch die Betätigungen des Logos kommen an ihre Grenzen. Das übermächtige Phänomen finde nicht leicht einen ihm angemessenen Ausdruck, es sei denn die entliehene Form fremder Reden. Dies verbindet es am ehesten mit einer eminenten religiösen Erfahrung, dem Tremendum und Fascinans. 55 Dass an der verschriftlichten Rede die dynamische Komplexität der lebendigen Sache zur Sprache kommt, ist aber erst möglich, insofern der Denkakt verstanden wird. Und eben das setzt den Weg aus dem Adonis-Gärtchen in den zugehörigen, vertrauten Boden (speiras eis to prosekon agapoe) voraus, in den die Saat gesenkt werden soll (276b), aus der Erstarrung (Verengung) und Zerstreuung zugleich, als die Platon die Schrift versteht, ins mündliche sich-Unterreden. Es kann dem Geschriebenen zu Hilfe kommen und den Gedanken, der in die Schriftzeichen gebannt ist, erneuern. Der Urheber einer Rede könne dann unter Umständen »redend selbst sein Geschriebenes nur als etwas schlechtes darstellen« (278c). Indem es so in seiner Vorläufigkeit und in seinem Spielcharakter namhaft gemacht ist, kann die Schrift Teil des philosophischen Verständigungszusammenhanges werden und eine Dignität gewinnen, die ihr von sich aus nicht zukäme. Dies ist immer dann der Fall, wenn die eigentliche Wahrheit der Sache in Rede steht. Sprache ist dann, als im eminenten Sinn gesprochene Sprache und als Denken, nicht mehr Mimesis von etwas Anderem. Man kann hier auch auf den von Antonia Soulez zu Recht betonten Sachverhalt hinweisen, dass Platon in dem zu unserer Problematik parallelen ›Kratylos‹ vom »Wesen der Phoné« spricht (Kratylos 423e). 56 Dies ist deshalb überraschend, da der G. Figal, Das Untier und die Liebe. Sieben Platonische Essays. Stuttgart 1991, S. 128 ff. 55 Mit diesen Begriffen hat bekanntlich R. Otto das ›Heilige‹ umschrieben. Vgl. ders., Das Heilige: Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen. Breslau 1917, Nachdruck München 2004. 56 A. Soulez, Das Wesen der phoné. Die Relevanz eines phonetischen Symbolismus für eine Bedeutungslehre: Kratylos, in: Kobusch, Mojsisch (Hg.), Platon, a. a. O., 54

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platonischen Ideenlehre gemäß vom Wesen nur im Zusammenhang entstofflichter Ideen die Rede sein kann, die Stimme aber offenkundig nicht auf eine Idee zurückzuführen ist. Dennoch ist diese Redeweise keineswegs kontingent. Sie deutet an, dass den einzelnen physisch anklingenden Lauten, die nichts symbolisieren, in denen vielmehr alles, was geschieht, allein durch Bewegung geschieht, sehr wohl ein ›Wesen‹ zukommt. Damit sind wir auf den Leib als ein Instrument der Sprache hingewiesen, durch den allein die Seele »kundgibt, was immer sie kundgibt« (Krat. 400b–c). Nur indem sie so weitgehend auf den Naturgrund der Laute zurückgeführt ist, kann die Sprache den Gedanken in Bewegung bringen. Soulez hat zu Recht betont, dass damit einer Richtigkeit das Wort geredet werde, die keinerlei semantische Kriterien zu ihrer Stützung in Anspruch nehmen kann noch muss 57 (vgl. zum ›Kratylos‹ weiter unten, Sechstes Kapitel, V).

IV. Zurück zum ›Phaidon‹ : Das bleibend Wahre Dialektik und Unsterblichkeit der Seele Die ersten Umrisse der platonischen Dialektik gewinnen vor dem Hintergrund der Frage nach Tod und Eros Gestalt. Erst angesichts der situationsinvariant wahren Idee kann die Seele beruhigt werden. Der dialektische Weg soll nicht nur die Einwände des Simmias und des Kebes, sondern auch die tiefe Verunsicherung über die philosophische Lebensart, die von ihnen ausgegangen war, außer Kraft setzen können. Der dialektische Weg wird dabei von Sokrates als die »zweitbeste Seefahrt« eingeführt. Sie macht, einem homerischen Bild (Homer, Odyssee 1453) entsprechend, das Rudern erforderlich und sie wird nötig, wenn Wind ausbleibt. Die beste Seefahrt wäre möglich, wenn ein Windhauch zu Hilfe käme. Sokrates suchte diesen Wind der besten Seefahrt dem eigenen Zeugnis nach in seiner Jugend bei den ionischen Naturphilosophen. Doch er fand ihn nicht. Dieser Ausweg ist erforderlich, da die Naturlehre zwar letzte S. 131 ff. Vgl. auch dies., Grammaire philosophique chez Platon. Paris 1991. Ferner D. Thiel, Hypomnemata. Die Genese des Platonismus aus dem Gedächtnis der Schrift. Freiburg/Br., München 1993. 57 Dies die Problematik bei Soulez, a. a. O.

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Elemente angeben kann, doch die arché letztlich verborgen bleibt. Dieser Mangel stellt sich notwendig ein, wenn man, wie die frühen Ionier, in den Naturelementen die Ursache sucht. Sokrates berichtet weiter, dass ihm der Nous des Anaxagoras als Ursache aller Dinge (panton aitios) aus dieser Fixierung auf einzelne Welturstoffe hinauszuführen schien. Im Nous hört Sokrates mit, dass die Ursache die Notwendigkeit einer Sache (ananké) (97e) angebe und das, was für sie das Beste sei. Eben dies meinte der Anaxagoras aber wohl nicht. Denn Sokrates bemerkt den Mangel, dass Anaxagoras die Verursachungskraft des Nous nicht zeigen konnte. Der Nous ist ihm der erste Anstoß des ersten Wirbels, durch den die Welt entsteht. 58 Er führt zwar das Geistprinzip ein, doch bleibt es vage. Die Erwartung des jungen Sokrates, die Physis des je Seienden und der Kosmos (die Ordnung) der Dinge müssten von einem geistigen Grund her zu verstehen sein, musste also enttäuscht werden; umso mehr, als Sokrates offensichtlich auch Handeln und Erwägen der menschlichen Seele von diesem Grund her verstehen wollte. Deshalb wählt er, um anzuzeigen, dass Anaxagoras »mit der Vernunft gar nichts anfängt« (98c), das Beispiel seines eigenen psycho-physischen Aufenthaltes im Gefängnis. Im Sinne des Nous von Anaxagoras ließe sich die physische, raum-zeitliche Präsenz des Sokrates auf einen Zusammenhang von Knochen und Sehnen zurückführen. Doch von seinem Handeln kann dann gar nicht die Rede sein. »Dass ich aber deshalb täte, was ich tue, und es insofern mit Vernunft täte, nicht wegen der Wahl des Besten, das wäre doch gar eine große und breite Untauglichkeit der Rede, wenn sie nicht im Stande wäre zu unterscheiden, dass bei einem jeden Dinge etwas anderes ist, die Ursache, und etwas anderes jenes, ohne welches die Ursache nicht Ursache sein könnte« (99b).

Sokrates’ Blick richtet sich demgegenüber auf die Idee als Urbild des Seienden. Alles, was ihr zugehört, hat sein spezifisches Wesen aus der Teilhabe (methexis) an ihr (101a ff). Damit ist bereits das Verhältnis des Wesens zu dem, was ihm anhängt, berührt; ein Gedanke, der im dritten Unsterblichkeitsbeweis im ›Phaidon‹ eine große Rolle spielt. 59 Sokrates verweist zugleich auf die an sichtbaren Gestalten sich zeiVgl. Th. Buchheim, Die Vorsokratiker, a. a. O., S. 205 ff. Vgl. Ch. H. Kahn, The Greek Verb ›to be‹ and the Concept of Being, in: Foundations of Language 2 (1966), S. 245 ff., siehe auch ders., The Verb ›Be‹ in Ancient Greek. Dordrecht 1973 und schließlich im Rückblick: A Return to the Theory of the Verb be and the Concept of Being, in: Ancient Philosophy 24 (2004), S. 381 ff.

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genden Grundverhältnisse, Zahlen, Vergleichsverhältnissen (›größer‹ – ›kleiner‹). Wer in solchen eidetischen Verhältnissen denkt, unterscheidet sich von den ›Antilogikoi‹, den Streitkünstlern (101e), die vorgeben, dass eine beste Seefahrt möglich sei und mit ihr spielen wie der Jongleur mit verschiedenen Bällen. Das Denken des Philosophen ist anders verfasst als die Akrobatik solcher Sophisten. Er geht von der Hypothese der Idee aus, denkt also zuerst im Sinne der Verbindung (synagogé) das Eine im Vielen, und entwickelt seine Konsequenzen, die Abhängigkeit der Wirklichkeit von der Teilhabe an der Idee. Dies ist, so Gadamer, der Maßstab für die »Sachangemessenheit von Rede und Argumentation.« 60 Sie kann aber nicht an der Erfahrung gemessen werden, wie dies im Hypothesenbegriff der modernen Naturwissenschaft der Fall ist. Sie ist nur selbst im hypothetischen Vorgriff auf höhere Voraussetzungen hin zu exponieren, bis zu dem Punkt der Aufhebung (anhairesis) aller Voraussetzung. »Wenn sich aber einer an die Voraussetzung (hypotheseos) selbst hielte, würdest du den nicht gehen lassen und nicht eher antworten, bis du, was von ihr abgeleitet wird, betrachtet hättest, ob es mit einander stimmt oder nicht stimmt? und solltest du dann von jener selbst Rechenschaft geben (didonai logon), würdest du sie nicht auf die gleiche Weise geben, nämlich eine andere Voraussetzung wieder voraussetzend, welche dir eben von den höherliegenden die beste dünkte, bis du auf etwas befriedigendes kämest, nicht aber untereinander mischend« (101d).

Die zweitbeste Fahrt kann also tatsächlich nicht mit der »Entdeckung der Ideen« enden. Sie muss vielmehr »zur Entdeckung der höchsten Prinzipien [fortgehen], von denen die Ideen abhängen«. 61 Damit ist schon auf das Programm der dialektischen Spätdialoge Platons vorausverwiesen, obwohl deren Dialektikkonzept im Einzelnen sich noch gar nicht abzeichnet. Es hat deshalb seinen guten Sinn, dass Sokrates erklärt, er habe auf der Suche nach dem Grund niemandes Schüler werden können (99c), wie sehr er es auch gewollt habe. Und es ist gleichfalls nicht von ungefähr, wenn er am Ende des dritten Beweises für die Unsterblichkeit der Seele, der ganz aus unserer dialektischen Exposition heraus geführt wird, Simmias und Kebes rät, die Voraussetzungen des Beweises weiter zu erwägen. Beide tun im Sinn des Sokrates gut daVgl. Gadamer, in: ders., Plato: Texte zur Ideenlehre, a. a. O., S. 76. Ibid. Vgl. auch ders., Dialektik und Sophistik im siebten Platonischen Brief, in: ders., Griechische Philosophie Band II, a. a. O., S. 90 ff.

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ran, angesichts der Tragweite des Gesagten »bei mir [sich] selbst noch einen Unglauben zu behalten über das Gesagte« (107b). Nur wird dieses Fragen dem, der die Hypothese fest in den Blick genommen hat, nicht mehr quälende Verunsicherung bedeuten. Auch er muss aber wissen, dass er nicht in einer vom Wind begünstigten besten Seefahrt auf den Grund der Dinge kommen kann, sondern immer nur im mühsamen »Ruderschlag der Dialektiker« (Cicero, Tusc. IV, 5). »Und wenn ihr sie [die Hypotheseis] euch befriedigend auseinandergesetzt habt, dann, denke ich, werdet ihr auch der Rede folgen, soweit nur irgendein Mensch sie verfolgen kann« (107b). Hier ist die Verfugung zwischen dem Wesen der Dialektik und dem Lebensethos des Philosophierenden exponiert: Es liegt im Wesen der philosophischen Dialektik, dass sie nicht zu letzten Antworten führt, die einander dann gegenseitig befehden müssten, wie die Antworten der Antilogikoi. Sie bleibt in einer unendlichen Fragebewegung. Insofern bleibt sie in der Schwebe und fixiert sich nicht zu Meinungen. Sie hat dabei freilich einen festen Grund gewonnen: die Einwohnung der Idee im Seienden. Dabei wird in der Skizze der Ideenlehre im ›Phaidon‹ ein für den Nachweis der Unsterblichkeit der Seele grundlegender Gedanke exponiert, nämlich, dass Ideen ihren Gegensatz und auch Eigenschaften, die auf die Seite jenes Gegensatzes tendieren, ausschließen. Das Beispiel, die Kleinheit und die Größe, kann indirekt als weiterer Hinweis auf die Verurteilung des Sokrates durch die attische Bürgerschaft verstanden werden. Der Größe bleibt, so erfahren wir, nur zweierlei: Entweder sie flieht vor dem Kleinen, wird also niemals dort angetroffen, wo dieses ist, oder aber sie geht angesichts seiner physischen Übermacht unter (102c). Niemals aber wird sie bleiben »und die Kleinheit aufnehmend, etwas anderes sein [wollen] als sie war« (102e). Dass diese Gedanken eine Veränderung der Perspektive erfordern, wird dadurch verdeutlicht, dass Phaidon und Echekrates an der entscheidenden Übergangsstelle der Argumentation, an der auf die Ausschließung einander entgegengesetzter Ideen verwiesen wird, einander gegenseitig fragen: »Aber was war es nur, was danach gesagt wurde?« (102a), und es wird weiter durch den Einwand eines nicht namentlich Genannten unterstrichen (103a), der in Erinnerung an den ersten Unsterblichkeitsbeweis meint, nun werde das Gegenteil zu jener Rede gesagt, in der doch davon die Rede war, dass die einzelnen seienden Dinge jeweils aus ihrem Gegensatz entstehen (103b). 147 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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Das dritte Argument Der Gedanke der Methexis des Seienden an der Idee generiert erst den dritten Unsterblichkeitsbeweis. Das Argument besagt im Kurzen: Die Seele bringt immer Leben mit sich (105c). Im Sinn der Unsterblichkeitsevokation im ›Phaidros‹ (Phaidros 245d ff) ist sie aufgrund ihres Von-sich-selbst-her-bewegt-Seins aus der Idee des Lebens zu verstehen. Dies ist nicht eigentlich zu beweisen. Die Synopse von Natur (physis) und Leben (zoé) ist auch Konvention. Sie ist tief in der griechischen Wahrnehmungs- und Sprachwelt verankert. Platon verfolgt in der Weltseele im ›Timaios‹ und im X. Buch der ›Nomoi‹ diesen Gedanken bis zur Evokation des selbstbewegten Göttlichen: mit größter Wirkung auf Aristoteles’ Gottesbegriff. Doch soweit muss man gar nicht gehen. In der Binnenstruktur vertieft sich der Unsterblichkeitnachweis, wie gesagt, aufgrund des Gedankens, dass nicht nur die einzig bestimmenden, sondern auch die notwendig einwohnenden Wesenseigenschaften das Gegenteil ihrer selbst ausschließen (105b): Auch wenn wir Leben als von der Seele notwendig mitbegleitet verstehen, ist es unablöslich von ihr. Damit ist nahegelegt, dass sie unsterblich (athanaton) ist (106a f.). Auch mit diesem Gedanken hat der platonische ›Text‹, im Sinn der Whiteheadschen Anspielung, wichtige ›Fußnoten‹ in der philosophischen Tradition hervorgebracht: nämlich die Unterscheidung und Bezogenheit von Substanz und Akzidenz vor dem Grundsatz vom ausgeschlossenen Dritten. Im Unsterblichkeitsproblem verbirgt sich freilich wiederum eine zweifache mögliche Annahme: einerseits das »Todlos-sein« der Seele (athanaton), andrerseits ihr »Unvergänglich-sein« (anólethron). Das eine ist nicht mit dem anderen zu verwechseln. Denn damit sind zwei Arten von Veränderung angesprochen: die Ortsveränderung, der der Tod als Weggang in den Hades entspricht, und der Untergang, der eine Vernichtung einschließt (vgl. 102d f.). 62 Obwohl beides voneinander unterschieden wird, hängt es doch zusammen. Es bedarf, wie die zweifelnden und zuweilen am Todesproblem verzweifelnden Hörer des Sokrates zugestehen, keines eigenen Weges, um zu zeigen, dass die Seele »außerdem, dass sie unsterblich ist, auch unvergänglich« ist (106c). »Gott wenigstens, sprach Sokrates, und die Idee des Vgl. Baumgartner, a. a. O., S. 25 ff. Siehe auch G. Striker, Peras und Apeiron. Das Problem der Formen in Platons Philebos. Göttingen 1970.

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Zurück zum ›Phaidon‹: Das bleibend Wahre

Lebens selbst wird wohl, wenn überhaupt etwas unsterblich ist, von jedem eingestanden werden, dass es niemals untergehe« (106d). Was aber unsterblich, nämlich von sich her lebendig ist, wie die Seele, in dem ist der Gott gegenwärtig und für das ist wahr, was für ihn wahr ist. Gadamer hat zutreffend bemerkt, dass diese später vielfach wiederholte Aussage im Dialog »gar nicht als problematisch empfunden, sondern als eine Selbstverständlichkeit in Anspruch genommen« werde. 63 Unsterblichkeit wird damit gerade nicht bewiesen: Ein Beweis wäre unmöglich und er wäre unnötig. Dass die Idee der Seele das Leben sei, bleibt uneingeholte Voraussetzung. Dieser Satz bezieht deshalb seine Überzeugungskraft nicht primär aus formaler Richtigkeit, seine singuläre Dignität rührt vielmehr von einem tiefen inneren Phänomenzusammenhang: Es ist überzeugend, dass die Hypothese, die hier gesetzt wird, im Unterschied zu anderen, wie Größe oder Teilhabe an Zahlenverhältnissen, schlechterdings nicht nicht sein kann. Mehr als dieser Überzeugtheitscharakter kann aber auch nicht beansprucht werden. Gegenüber den beiden anderen Beweisen für die Unsterblichkeit der Seele ist der dritte weniger durch argumentative Zweifel zu erschüttern. Erst er ist nicht mehr auf wechselnd relative Zusammenhänge bezogen, nicht auf einen biologischen Kreislauf und nicht auf proportionale Nähe oder Ferne von Materie und Seele. Alles dies kann dem Widerstreit der Sinnenwelt obliegen und nur an den Leib appellieren, der der reinen Erkenntnis der Seele hinderlich ist (65a ff.). Der dritte Beweis unterliegt demgegenüber nicht mehr den wechselnden Umständen und dem Vergessen in der Zeit: Er überdauert, sofern man sich philosophierend der lebendigen Dynamik der Seelen anvertraut, die miteinander im Zwiegespräch sind. Deshalb ist er, ähnlich wie die Eros-Rede des ›Symposion‹, der Daseinsmacht des Todes gewachsen, auch wenn kein demonstrativischer Beweis erbracht werden kann.

Gadamer, Texte zur Ideenlehre, a. a. O., S. 79. Vgl. mit weiterführenden Hinweisen: M. Mignucci, Plato’s Third Man Arguments in the ›Parmenides‹, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 72 (1990), S. 143 ff.

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DRITTES KAPITEL: WAS ETWAS IST. DIE APORETISCHEN FRÜHEN SOKRATESDIALOGE

Die platonische Grundmelodie ist damit angeschlagen. Die platonische Fragekunst zahlt aber mit viel kleineren Münzen. Sie manifestiert sich zunächst in einer Reihe von Dialogen, die meist aporetisch enden und konzentrisch um Sokrates orientiert sind. Von Laborbedingungen, unter denen auch die Philosophie ihre Fragen und Argumente heute bevorzugt entwickelt, oft künstlich und etwas hermetisch, findet man bei Platon, vor allem in seinen frühen Sokratesdialogen, nichts. Vielmehr werden alle, die sie lesen, ausgehend von Alltagssituationen und deren Unklarheit in erste und letzte Problemstellungen hineingezogen. Ein Vater, der einen alten General um Rat fragt, was er seine Söhne lernen lassen will, wird zum Auslöser der Frage nach der Einheit der Tugend, wo doch zwei Tugenden, Tapferkeit und Besonnenheit, in unterschiedliche Richtungen verweisen. Wie kann das sein und wie ist es dann um die Einheit der Tugend bestellt? Der Umgang eines jungen Mannes, Charmides, mit seinen eigenen Kopfschmerzen wird Anlass zur Klärung der Frage, was Besonnenheit (sophrosyne) ist; die problematische Umgangsweise eines jungen Mannes, Euthyphron, der sich zugleich auf Gottesdienst und Kult zu verstehen scheint, mit seinem eigenen Vater flankiert die Untersuchung der Frage, was das Fromme und was der Gottesdienst sei. Man sollte dabei nicht übersehen, dass es in den Frühdialogen immer um beides geht, um die Prüfung der Gründe und Argumente und der Personen, die sie vorbringen. Denn wenn eine falsche Person ein im propositionalen Sinne richtiges Argument äußert, bleibt es dennoch in der Sache verfehlt. Ein solcher Mensch kann das, worum es in dem Argument geht, gerade nicht bezeugen, und so entsteht eine Divergenz zwischen propositionaler Aussage und persönlichem Standard. Die Frühdialoge führen in der Regel nicht zu einer Lösung. Sie münden vielmehr in Aporien, ein Nicht-ein-noch-aus-Wissen, das in 150 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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der Gesprächsführung des ›Theaitetos‹ aber gerade als Voraussetzung für den Durchbruch in die Wahrheit gilt. Mitunter verabreden die Gesprächspartner mit Sokrates, am nächsten Tag wieder zusammenzukommen und das Gespräch fortzusetzen. Wenn man sie von ihrem Ende her und auf ein Resultat hin zu deuten versucht, bleibt dies unbefriedigend. Dennoch werden Gesprächsfäden gelegt, die in der ›Politeia‹ wiederaufgenommen, modifiziert, auch in einen anderen Kontext versetzt, zu zentralen Pfeilern des platonischen Argumentationsgangs werden. Auch wenn das Ganze jener Dialoge nicht zum Ziel führt, erfahren einzelne Überlegungen auf diese Weise doch eine rettende Kritik. Von diesem Punkt ausgehend ist das Geflecht der frühen Sokratesdialoge in den Blick zu nehmen. Gegenüber den ›Dissoi logoi‹ der Sophisten, die jede eindeutige Wahrheit bestreiten, geht es im Kontext dieser Dialoge um die Freilegung eines Wesens-Was der untersuchten Dinge, vor allem der Tugenden. Die frühen Sokratesdialoge sind Definitionsdialoge. Gerade darin unterscheiden sie sich deutlich von der Antilektik der Sophisten. Sie folgen gerade keiner bloßen Konvention und suchen nicht nur, eine Nominaldefinition zu gewinnen. Die ›Was ist x?‹-Frage versteht sich vielmehr als Aufweis des Wesensbegriffs (logos tes ousias) des Gefragten. Dabei wird die Voraussetzung festgehalten, dass die situationsinvariante Bestimmung des Wesens, unabhängig von einzelnen Deutungsperspektiven, Bestand hat. Der ›Laches‹-Dialog macht die Schwierigkeiten bei der Gewinnung eines solchen situationsinvarianten Wissens besonders deutlich, weil es in ihm um die innere Spannung zwischen den Formen der Bestheit, eben den Tugenden, geht. Diese mögliche Aufspaltung des Tugendwissens wird Platon bis in seine Spätdialoge hinein in Atem halten. Einzelne ausgewählte Beispiele können den Ansatz der frühen Sokratesdialoge verdeutlichen.

Laches – oder: Die Tapferkeit Im ›Laches‹ geht es um die Frage, ob man junge Menschen lehren solle, in Rüstung zu fechten. Dahinter verbirgt sich das detailliertere Problem, in welchem Maß und bis zu welchen Spezifikationen Wehrübungen Teil der Paideia werden sollen. Doch auch die grundlegende andere Frage stellt sich, wie die beiden divergenten Grundtugenden, 151 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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Besonnenheit und Tapferkeit, in einen Ausgleich zu bringen sind. Bemerkenswert ist es, dass die beiden Sachkenner in ihrem eigensten Bereich unterschiedliche Auffassungen verfolgen. Nikias befürwortet die These, Laches widerspricht. In der Analyse wird ein exemplarischer Fall der Vorurteilskritik vor Augen geführt. In die jeweiligen Urteile gehen andere Auffassungen ein, die den Blick auf die zur Verhandlung stehende Sache verstellen. In späterer Terminologie könnte man vor diesem Hintergrund eine ideologiekritische Perspektive angezeigt sehen. Sokrates jedenfalls fordert dazu auf, einen in der Behandlung der Seele (psyches therapeían) (185e) Kundigen mit heranzuziehen. 1 In allen Frühdialogen entscheidet sich zuerst, ob die von Sokrates in die Unterredung gezogenen Personen sich seiner Befragung widersetzen und bei ihrer Pragmatikern oftmals eigenen Logosfeindschaft und -verachtung bleiben oder ob sie sich der Befragung öffnen, auch wenn sie ihnen nutzlos scheint und auch auf die Gefahr hin, vielleicht ihr eigenes Nicht-Wissen eingestehen zu müssen. Laches ist jedenfalls kein Feind des Logos. Er erklärt sich ausdrücklich und umfassend bereit, sich prüfen zu lassen (189b). Die Frage verschiebt sich im Verlauf des Gesprächs damit ins Grundsätzliche. Sie geht über die konkreten Fertigkeiten ebenso hinaus wie über die Paideia im engeren Sinn. Wenn danach gefragt wird, wie den Seelen der Söhne die Tugend nahegebracht werden soll, so ist vorauszusetzen, »dass wir wissen, was Tugend ist« (190b). Doch soll nicht die Tugend insgesamt und im Ganzen befragt werden; die Frage wird spezifiziert und auf die Tapferkeit (andreia) konkretisiert (190e). Es ist die Tugend, die bei den militärischen Übungen und im politischen Ideal Spartas zentral ist. Laches’ erste Definition fasst Tapferkeit als »Standfestigkeit vor dem Feind« auf (190e). Darin erkennt Sokrates einen kennzeichnenden Mangel. Denn die Definition identifiziere einen zugegeben bedeutenden Einzelfall, eben das Verhalten des Fußvolkes, mit der Tapferkeit insgesamt. Die Tugend müsse sich aber auch bei anderen, ja sogar entgegengesetzten taktisch-strategischen Verhaltensweisen einstellen können. Gesucht ist also nach der Tapferkeit in ihrer situationsinvarianten Bestimmung, als Idee und Schema (vgl. 192a), die

Vgl. W. Wieland, Das sokratische Erbe: Laches, in: Kobusch und Mojsisch (Hg.), Platon, a. a. O., S. 5 ff.

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sich dann in allen möglichen Verhaltensweisen, die als ›tapfer‹ gelten, durchhalten müsste. Hier setzt Laches vorgeblich tiefer und grundsätzlicher an und definiert in seinem zweiten Versuch Tapferkeit als »Beharrlichkeit der Seele« (192c). Sokrates’ Kritik zielt daraufhin in die entgegengesetzte Richtung und zeigt damit die Schwierigkeit in der richtigen Wahl des Untersuchungsfeldes. Während nämlich die Definition im ersten Fall zu eng angelegt war, ist sie jetzt zu weit angelegt. Es ließe sich auch der Fall einer verfehlten Beharrlichkeit, eines Insistierens gerade im Schlechten denken (192c–d). Die sehr detaillierten Gegenbeispiele, die Sokrates nennt, legen vor allem eines offen: dass nur die verständige Beharrlichkeit den Namen der Tapferkeit verdient (192d). Auch dem stimmt Laches zu. Wenn Laches’ zweite These zuträfe, gäbe es eine Tapferkeit, die gerade nicht vortrefflich wäre, sondern schlecht. Dies würde bereits die Vorverständigung, wonach Tapferkeit eine Tugend ist, konterkarieren. 2 Der Dialog erweckt in seiner Vordergrundansicht den Anschein eines Wettstreits. Er korrespondiert damit der agonalen Ausrichtung der Sophistik und Rhetorik und der griechischen Kultur des 5. Jahrhunderts insgesamt. Zugleich hebt er sich von dieser Folie ab. Laches sieht sich jedenfalls nicht mehr in der Lage, das Gefecht weiterzuführen. Er muss aufgeben (194b). Er tut dies allerdings nicht im Hass auf den Logos, wie manche andere Gesprächspartner des Sokrates, namentlich die Sophisten, sondern mit einer Einsicht in den Grund des Scheiterns: »Aber es hat mich ordentlich ein Eifer ergriffen über das Gesagte und ich bin ganz unwillig, wie ich, was ich in Gedanken habe, so gar nicht imstande bin zu sagen« (194a). Ist dies vielleicht das Grundproblem der elenchtischen Befragung: dass die Sachverhalte klar sind, solange man nicht versucht, sie sich selbst und anderen klar und deutlich zu machen, und dass sie, sobald man dies versucht, diffundieren? Augustinus wird in seiner Frage nach dem Wesen der Zeit denselben Einwand wiederholen. 3 Vgl. dazu Wieland, a. a. O.; siehe auch C. H. Kahn, Plato’s Methodology in the Laches, in: Revue internationale de Philosophie 40 (1986), S. 7 ff. 3 Augustinus, Confessiones Buch XI. Augustinus’ Feststellung ist bekanntlich, dass man, wenn man nicht gefragt wird, was Zeit ist, es wie selbstverständlich zu sagen wisse, dass dieses Wissen aber vergehe, sobald man danach gefragt wird. Dazu K. Flasch, Was ist Zeit? Augustinus von Hippo. Das XI. Buch der Confessiones. Historisch-philosophische Studie. Text – Übersetzung – Kommentar. Frankfurt am Main 2004. 2

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Der Stab der Rede geht an Nikias über. Der gewinnt seine Definition nur unter mehrfachen Einhilfen von Sokrates, 4 und zwischen Laches und ihm entwickelt sich eine polemische, streckenweise nun doch geradezu feindselige Konstellation. Tapferkeit erweist sich in seiner Bestimmung als »Erkenntnis (episteme) des Gefährlichen und des Unbedenklichen« (196d). Die Präzisierungen, die Sokrates vorbringt, ohne sich aus der »Redegemeinschaft« zu lösen, scheinen in sich sinnvoll zu sein. Deshalb akzeptiert Nikias sie. Doch sie führen im Gesprächszusammenhang eindeutig weiter in die Aporie hinein. Zunächst: Die Erkenntnis um Furcht oder Unbedenklichkeit kann sich nicht auf vergangene oder gegenwärtige Übel richten, sondern nur auf künftige (198b). Dies ist jedenfalls der Fall, wenn es um ein Handlungs- und Beratungswissen geht, das dazu beitragen soll, künftige Fehler zu vermeiden. Zugleich hält Sokrates aber dem Nikias entgegen, dass die Kriegskunst ebenso wie jede andere Technik einheitlich sein müsse und nicht in einen künftigen und einen gegenwärtigen Kenntnisbestand zerfallen dürfe. Dies bedeute aber im Rückschluss, dass die Tapferkeit auf alle Übel und Güter bezogen wäre, und dies würde weiter heißen, so Sokrates in einer scheinbaren Präzisierung, die sich aber faktisch als Fehlschluss erweist, dass sie nicht nur ein Teil der Tugend wäre, sondern die ganze Tugend (199d). Es bedürfe also dann weder der Frömmigkeit noch der Besonnenheit oder Gerechtigkeit – jener anderen Tugenden also, die in anderen Frühdialogen untersucht und in der ›Politeia‹ zusammengeführt werden. 5 Da ein begriffsscharfer Umriss dessen, was Tapferkeit ist, fehlt, ist im Dialogverlauf noch nicht einmal sicher, ob Tapferkeit überhaupt eine Tugend ist. Damit ergibt sich jener taumelnde und in jeder Hinsicht ungewisse Zustand des Nicht-ein-noch-aus-Wissens, der die

Dazu die genannten Studien von Wieland und Kahn. Siehe auch H. Erbse, Über Platons Methode in den sogenannten Jugenddialogen, in: Hermes 96 (1968), S. 21 ff.; ferner M. Erler, Der Sinn der Aporien in den Dialogen Platons. Übungsstücke zur Anleitung im philosophischen Denken. Berlin, New York 1987. 5 Es geht dabei nicht um eine nur definitorische Kunstfertigkeit. Dies wird in Sokrates’ ironischem Verweis deutlich, dass Nikias sich auf die Unterscheidungskunst Damons beziehen könne, die eine reine Kunst der Wortunterscheidungen ist. Zu der Struktur dieser Unterscheidungen vgl. W. Detel, Zur Argumentationsstruktur im ersten Hauptteil von Platons Aretedialogen, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 55 (1973), S. 1 ff.; sowie ders., Die Kritik an den Definitionen im zweiten Hauptteil der platonischen Aretedialoge, in: Kant-Studien 65 (1974), S. 122 ff. 4

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pragmatischen vorphilosophischen Überlegungen ad absurdum führt und lähmt. Eine solche Aporetik ist für die Frühdialoge charakteristisch. Exemplarisch schließen sie daher häufig mit dem Entschluss, man müsse weitere Beratung und Gespräche suchen, um vielleicht die nötige Sinnklarheit zu gewinnen. Die Argumente scheinen ›herumzugehen‹ – nichts, weder Anfang, Mitte noch Ziel ist fest. Es ist unschwer möglich, im Sinn einer immanenten Hermeneutik die Aporetiken wenigstens zu einem Teil aufzulösen; erleichtert wird dies noch durch die Aussichten, die Platons spätere Dialoge eröffnen. Im ›Laches‹ könnte dies folgendermaßen aussehen: Zwischen der technischen Kenntnis des Feldherrn und dem praktischen Wissen um das Schreckliche und Nicht-Schreckliche besteht eine Differenz. Das Scheitern von Laches und Nikias im Elenchos zeigt dies an. Außerdem wären das Teil-Ganzes-Verhältnis und die Gattungs-ArtBestimmung der Tugend als Zwischenschritte zwischen der hypertrophen Auffassung, Tapferkeit sei die ganze Tugend, und der negierenden Gegenkonzeption, sie sei überhaupt keine Tugend, geltend zu machen. Diese Zwischenschritte, die im Sinn des ›Philebos‹ erst den wahren Dialektiker ausmachen, 6 werden, aus welchen Gründen auch immer, in den Frühdialogen nicht einbezogen. Der kundige Leser muss diese Schritte ergänzen. Daher bieten, wie Ernst Heitsch gezeigt hat, 7 die Frühdialoge tatsächlich auch eine Matrix besseren Argumentierens, als es in ihrem Immanenzzusammenhang vorgelegt wird. Die Scham (aischyne) indes, zu keinem Ergebnis gelangt zu sein, teilt Sokrates mit seinen Hörern. Die Abgründe, die im Unauffälligen, vermeintlich wie von selbst Gewussten aufbrechen, markieren den Punkt, an dem sich philosophische Befragung entzündet.

Charmides – oder: Die Besonnenheit Im ›Charmides‹-Dialog bildet die Tapferkeit eine Hintergrundannahme. Doch ins thematische Zentrum rückt der gegenläufige Richtungssinn der Tugend, die Besonnenheit. Besonnenheit und Tapferkeit können, wie Platon immer wieder zeigt, auch in Spannungen und

Vgl. weiter unten. Siehe dazu auch J. C. B. Gosling, Metaphysik oder Methodologie?: Philebos, in: Kobusch und Mojsisch (Hg.), Platon, a. a. O., S. 213 ff. 7 E. Heitsch, Wege zu Platon. Göttingen 1992. 6

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sogar in Widerstreit treten. Die Szenerie: Sokrates kommt von der Schlacht von Potidaia zurück, und es wird berichtet, wie er vor der feindlichen Phalanx stehen blieb und nicht zurückwich. Doch nicht um Sokrates geht es in erster Linie. Rasch tritt der junge Mann Charmides in den Blickfokus, der seinen Kopfschmerz erträgt und dem deshalb Besonnenheit (sophrosyne) zugesprochen wird. Der junge Mann aus bestem Haus, der Solon unter seinen Ahnen hat, streitet diese Eigenschaft nicht ab und lässt sich auf die Überprüfung durch Sokrates ein. Dies empfiehlt sich schon deshalb, weil er sonst andere, etwa den Kritias, 8 Lügen strafen würde. Irritierend wäre offensichtlich auch, wenn er sich selbst diese Eigenschaft absprechen würde. Wieder also begegnet keine Spur von ›Redefeindschaft‹ – sondern die Bereitschaft, sich auf das Spiel des Sokrates einzulassen, auch wenn die Ergebnisse unabsehbar sind und eine Desillusionierung erwartet werden kann. Charmides setzt den Regeln des Elenchos gemäß mit einer ersten versuchsweisen Probedefinition ein: Besonnenheit sei »eine gewisse Bedächtigkeit« (159b–c). Dieser Versuch, ein ›idion ergon‹ der Tapferkeit zu gewinnen, schlägt jedoch fehl. Wenn Besonnenheit »etwas Schönes«, nämlich integraler Teil der Tugend sein soll, so ist in Erwägung zu ziehen, ob die Bedächtigkeit diesen Zug des Vortrefflichen und Schönen hat. Der zweite Definitionsversuch besagt, Besonnenheit sei Scham (160d). Diese Definition scheitert daran, dass Scham in manchen Fällen gut genannt werden kann und insofern auch gut macht, dass ihr aber das Gut- und Schönsein keineswegs intrinsisch eigen ist. 9 Die Identifikation schlägt also an dem indifferenten Hell-Dunkel-Charakter der Scham fehl. Dies entwertet, wie aus späteren Dialogen, namentlich dem ›Gorgias‹, deutlich werden wird, den Rang der Scham keineswegs. Sie wird vielmehr als eine Art leibliches Zeichen des Wahrheitsbezugs hoch gewichtet. Als dritten Definitionsversuch führt derselbe Kriton, der Sokrates später zur Flucht überreden will, eine Formulierung ein, die als grundlegende Definition der Gerechtigkeit in der ›Politeia‹ von größter Bedeutung sein wird: Besonnenheit sei, das Seine zu tun (ta heZu Argumentation und Inszenierung vgl. Szlezák, Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie, a. a. O., S. 127 ff. 9 Vgl. E. Heitsch und F. von Kutschera, Zu Platons ›Charmides‹. Mainz 2000, ferner R. Robinson, Plato’s Earlier Dialectic. Oxford 21953. 8

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autou prattein). Charmides versteht diese Bestimmung nicht und sieht vor allem ihre lächerlichen Züge. In diesem Sinn bemerkt er, dass es dann vermutlich besonnen wäre, wenn der Schriftmeister nur seinen eigenen Namen schreiben oder der Weber nur sein eigenes Kleid weben würde (161e, 162a). Aus dem dialoginternen Zusammenhang ist nicht zu ahnen, dass mit dieser Formulierung die valide Definition der Tugend erstmals berührt ist, die in der ›Politeia‹ entfaltet werden wird. Rückblickend kann man aber verstehen, dass auch so tiefreichende Einsichten nicht der Lächerlichkeit entgehen, jedenfalls dann nicht, wenn sie nicht wirklich ausgelotet werden. Ist nicht halbverstandene Philosophie im Sinn der Anekdote von der thrakischen Magd leicht lächerlich? Kritias verteidigt dann seine Definition und präzisiert sie weiter, und auch Charmides bleibt nicht bei seinen Einwänden, sondern gerät in ein immer tieferes Nachdenken. Damit wird offensichtlich eine andere Verhaltensweise als im ›Laches‹ vorgeführt. Nicht der Agon, sondern die Selbstprüfung. In dieser Präzisierung werden auch tiefreichende Unterscheidungen erstmals genannt, ohne dass sie schon ausgeschöpft und fruchtbar gemacht werden könnten. Dies gilt namentlich für die Unterscheidung zwischen herstellen (poiein) und tun (prattein) (163a ff). Auch Schlechtes könne hergestellt werden, zu einem Werk müsse jedoch ein der Sache innerer Wert kommen. Nur was so verfasst sei, könne als »schön« bezeichnet werden. Ihm wohnt dann gleichsam ein Gut inne. Ungeachtet ihrer gewichtigen Implikationen trägt am fraglichen Punkt auch diese Definition nicht. Die strittige Frage ist, ob es eine Besonnenheit geben könne, die nicht weiß, dass sie besonnen ist, bzw. in der der Handelnde kein Wissen um sich selbst hat (164c–d). Die vierte Definition zieht deshalb wiederum einen außerordentlich schwergewichtigen Satz heran, der überdies für Sokrates’ Fragekunst im Ganzen leitend ist, eben das delphische »Erkenne dich selbst!« (165 a). Seine Bedeutung wird präzisiert. Er dürfe nicht als Ratschlag des Gottes an die Eintretenden missverstanden werden. Der Satz sei vielmehr ein Gruß des Gottes. In diesem Sinn bedeutet es: »Erkenne, dass du kein Gott bist!« Besonnenheit ist dann aber nicht eine Erkenntnis, die sich auf Gegenstände oder Sachverhalte richtet. Sie ist gleichsam reflexiv die »Erkenntnis der anderen Erkenntnisse« und Erkenntnis ihrer selbst (166c). Sie wäre die eine Erkenntnis, »die von nichts Anderem als von sich selbst und den übri-

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gen Erkenntnissen die Erkenntnis ist und dieselbe auch zugleich von der Unkenntnis« (167c). 10 Dieser Reflexions- und zugleich Grundlegungscharakter der Besonnenheit scheint weit auszugreifen und zu einer platonischen Theorie des Wissens zu führen. Nur en passant sei hier bemerkt, dass damit Bestimmungen des Wissens um das Wissen, die metatheoretische Einsicht, wie sie erstmals seit Aristoteles den Geist (nous) bestimmen, erstmals umrissen werden. 11 Angesichts dessen überrascht es, wie eindeutig diese Bestimmung im ›Charmides‹-Dialog zurückgewiesen wird. Dass es eine »Erkenntnis der Erkenntnis« gebe, wird zunächst hypothetisch zwar eingeräumt. Dies würde aber bedeuten, dass derjenige, der über sie verfügen würde, im Besitz der vollkommenen Selbsterkenntnis sein müsste (169a). Hier wären weitere Spezifizierungen erforderlich. Denn dafür wäre vielleicht das eigenartige Selbstwissen des Sokrates ausreichend, der letztlich nur um sein eigenes Nichtwissen weiß. Gravierender scheint der Einwand gegen die Leerheit jenes reflexiven Wissens des Wissens zu sein. Im Sinn der genannten Bestimmung wird zunächst angenommen, dass es nichts von den konkreten Erkenntnisinhalten weiß (170a1 ff.). Doch, »wenn jemand nicht auch noch das Gesunde und das Gerechte dazu kennt, sondern nur die Erkenntnis selbst kennt«, so wäre seine Fähigkeit nichts nütze. Sie hätte gerade kein ›idion ergon‹. Eine solche reine Selbsterkenntnis hätte dem Sachkenner oder dem an der Sache Interessierten nichts mitzuteilen – ein Einwand, der sich später gegen verschiedene Spielarten der Transzendentalphilosophie richten konnte. Auch die gegenläufige Annahme, dass die Erkenntnis der Erkenntnis inhaltlich auf bestimmte Einzelerkenntnisse bezogen werden müsse, führt aber nicht weiter. Denn dann liefe die Erkenntnis der Erkenntnis ins Leere. Nicht sie machte nämlich gesund, sondern nach wie vor die Medizin. Wieder ist, trotz gewichtiger Zwischenergebnisse, die allesamt Vgl. mit Parallelbelegen aus dem Menon 94b1; Theätet 171a3 Kutschera und Heitsch, Zu Platons ›Charmides‹, a. a. O., S. 19 ff. 11 Vgl. dazu die gründliche Diskussion bei K. Oehler, Die Lehre vom noetischen und dianoetischen Denkens bei Platon und Aristoteles. Ein Beitrag zur Erforschung der Geschichte des Bewusstseinsproblems in der Antike. Hamburg 1985; siehe im Blick auf die Reflexionsstruktur von Wissen auch B. Zehnpfennig, Reflexion und Metareflexion bei Platon und Fichte. Ein Strukturvergleich des Platonischen ›Charmides‹ und Fichtes ›Bestimmung des Menschen‹. Freiburg/München 1987 (= Symposion Band 82). 10

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verworfen werden, das Ergebnis überaus ernüchternd. Die Wahrheit habe man nicht finden können. Der Leser wird sich die Frage stellen, ob der ›Charmides‹-Dialog nicht viel mehr leistet, als Sokrates’ Urteil am Ende nahelegt. Es sei »Gewalt zu brauchen«, dem Vormund zu gehorchen, um weiterzukommen: Mit diesen Redebildern werden in der Schlusssequenz in einer hoch ironischen Rhetorik Signale in die Richtung gesetzt, dass das klärende Gespräch weitergeführt werden muss. Der Dialogverlauf gerade des ›Charmides‹-Dialogs ist jedoch gerade nicht autoritär hierarchisch, sondern symphilosophisch, an harmonischem Zusammenwirken der Gesprächspartner orientiert. Schon in dieser befriedenden Macht der Philosophie kommt ihm Überzeugungscharakter zu. Die beteiligten Personen, nicht zuletzt der junge Charmides, geben dabei eine höhere Dialogfähigkeit zu erkennen, als sie etwa im ›Laches‹ sich erweist, sodass mitunter gar nicht mehr zu entscheiden ist, was auf Sokrates und was auf die anderen zurückgeht. Kommt also nicht doch gerade jene Besonnenheit zur Darstellung, deren wahrheitsfinites Kriterium nicht aufgefunden werden kann? Dafür spricht ein wundervolles Bild, das Erkenntnis und Liebe gleichermaßen bezeichnet: dass nämlich jedes Zwiegespräch am Ende ein Selbstgespräch sei, und dass man, um sich selbst besser zu erkennen, des Blickes der Anderen bedürfe. Im Augapfel des Gesprächspartners sehe man in der schönsten und genauesten Weise das eigene Auge gespiegelt, allerdings seitenverkehrt, sodass die Fremderkenntnis doch wieder in Selbsterkenntnis übersetzt werden muss. 12 Auch die Frage nach der Besonnenheit wird ihre Auflösung erst in der ›Politeia‹ finden. Dabei wird auch deutlich, dass nach einzelnen Tugenden nur im Zusammenhang der Tugend insgesamt gefragt werden kann. Dass Gespräche wie der ›Euthyphron‹ die Voraussetzung dafür bilden, dass so überhaupt gefragt werden kann, dürfte ihren impliziten philosophischen Nutzen ausmachen.

Euthyphron – oder: Der Gottesdienst Der ›Euthyphron‹-Dialog, die Unterscheidung dessen, was »fromm« und jenem, was »unfromm« ist, spielt sich in einem anderen, dramatischeren Umfeld ab. Er gehört schon in den Zusammenhang von 12

Siehe auch Szlezák, Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie, a. a. O., S. 127 ff.

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Sokrates’ Verurteilung vor Gericht. Sokrates begegnet dem jungen Mantiker und nach seiner Selbsteinschätzung in Religionsfragen hochversierten Euthyphron auf den Stufen des Gerichtsgebäudes. Die Stunde dieser Konfrontation ist denkwürdig. Denn vor Gericht hat er selbst, Sokrates, gerade die Anklageschrift überreicht bekommen, die den Weg zu seiner Verurteilung eröffnet. Er weiß, dass offen ist, wie dieses Verfahren ausgehen wird: »Wenn sie aber Ernst machen wollen, so kann wohl Niemand leicht wissen, wie die Sache ablaufen wird, außer Ihr, Wahrsager« (3e). Euthyphron führt seinerseits eine Anklage gegen seinen eigenen Vater, weil der einen Knecht, der einen anderen Knecht totgeschlagen hatte, in einer Art häuslicher Selbstjustiz dem Hungertod überantwortete. Euthyphron sieht ein, dass seine eigene Handlungsweise, allein der Akt der Anklage gegen den eigenen Vater, leicht als ruchlos erscheinen kann. Doch »schlecht wissen sie [sc. die Menschen], wie das Göttliche sich verhält, was Frommes und Ruchloses betrifft« (4e). Er beansprucht aber offensichtlich selbst ein priesterliches Arkanwissen über die Fragen der Schicklichkeit, das indes weit von jeder moralischen Intuition entfernt ist. Jenes Wissen um Frömmigkeit und Sakralität wird nun von Sokrates in die elenchtische Prüfung hineingezogen. Die erste Definition ist offensichtlich von der Situation des Euthyphron diktiert und zeigt seine Unfähigkeit, von dieser situativen Bindung abzusehen. Im Blick auf seine eigene Rechtshandlung gibt er an, fromm (hosion) sei es, »den Übeltäter zu verfolgen« (6a). Auf diese affekthafte Sicht der Dinge kommt er mehrfach zurück und legt damit eine anthropomorphe Sicht auf die Götter offen, die letztlich in einen Bereich zielt, in dem der Mensch kein Wissen hat. Eine zweite Definition, zu der ihn Sokrates auffordert, löst sich aus der affekthaften Situation. Sie besagt, fromm sei das, was den Göttern lieb sei (7a). Eben hier stößt der Dialog in den neuralgischen Kern der anthropomorphen Sicht auf die Götter vor. Denn wenn die Götter im Streit liegen, wie die populären Mythologien es berichten, dann sind zwischen ihnen wohl auch ihre Vorlieben und die Art, wie sie von Menschen verehrt werden möchten, strittig. Deshalb schiebt Euthyphron zur Rettung dieser Definition eine Verallgemeinerungsformel nach. Fromm sei das, was allen Göttern lieb sei. Eben jene Definition stellt Sokrates aber in Frage. »Weil wir doch zugeben, das fromme werde deshalb geliebt, weil es fromm ist, nicht aber, weil es geliebt wird, sei es fromm« (10e). Euthyphron bemerkt wohl, dass die 160 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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Worte und Argumente bei einer varianten und anthropomorphen Götterlehre selbst ihre Stabilität verlieren. Sie gehen herum und bleiben nicht fest. 13 Euthyphron kommt aus dieser Aporetik zu einer dritten Definition, die erstmals das Fromme in Verbindung mit einem ethischen Grundbegriff bringt, nämlich mit der Gerechtigkeit. »Alles Fromme sei auch gerecht« (11e). Sokrates gibt zu bedenken, dass ›gerecht‹ gegenüber ›fromm‹ der umfassendere Begriff sei. Mithin wird festgelegt, man könne das Fromme am ehesten als jenen Teil der Gerechtigkeit erkennen, der die Behandlung der Götter betrifft (12e). Diese Definition wird bezeichnenderweise nicht in Zweifel gezogen. Die Frage verschiebt sich aber auf einen anderen Punkt, der gleichfalls das angemaßte Arkanwissen betrifft, nämlich die Frage, was mit »Behandlung« (therapeia) der Götter gemeint ist (13a). Näher versteht Euthyphron diese Behandlung als einen Dienst. Doch hier bleiben weitere Fragen: Ist es denn schlüssig, die Götter in Abhängigkeit zu einem Dienst zu sehen, den die sterblichen Menschen an ihnen tun? Wiederum zeigt sich die charakteristische Konstellation: Euthyphron sieht sich am Ende des Dialogs auf den Anfang zurückgeworfen. Die Deutungsmöglichkeiten dieser Aporetik sind vielfältig: Vordergründig könnte sich die Folgerung eines philosophische Agnostizismus, eines gänzlichen Nichtwissens über die göttlichen Dinge, nahelegen. 14 Ein solcher Agnostizismus könnte aber auch nur ein erster Schritt und Anfang einer philosophischen Theologie sein, die sich von dem Scheinwissen über den Dienst an den Göttern löst. In jedem Fall steht das Nichtwissen unter dem Vorzeichen des Grußes des delphischen Gottes und gibt damit einen indirekten Hinweis auf den spezifischen philosophischen Gottesdienst des Sokrates. In der Schlusssequenz beruft er sich noch einmal auf die Anklage des Melitos und darauf, dass er gehofft habe, von Euthyphron über die wahre Therapeia unterrichtet zu werden, um den Vorhaltungen zu entgehen.

Sokrates wird als Abkömmling des Dädalos-Geschlechts bezeichnet. Darauf verweist auch die Anspielung auf die Gestalten, die Dädalus, der legendäre Bildhauer und Erbauer des Labyrinths, geformt habe. Sowohl in Erler, Platon, als auch im Platon-Handbuch fehlen markante Eintragungen zu Dädalus. 14 Siehe Erler, Der Sinn der Aporien, a. a. O., S. 130 ff.; siehe auch M. Enders, Platons ›Theologie‹ : Der Gott, die Götter und das Gute, in: Perspektiven der Philosophie 25 (1999), S. 131 ff., insbesondere S. 143 f. 13

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Alkibiades: Tyrannos Philosophos? Unter den frühen Dialogen nimmt der ›Alkibiades‹ eine besondere Stellung ein. Alkibiades ist als späterer Tyrann in die Geschichte Athens eingegangen. Auch im ›Symposion‹ lernten wir ihn kennen, als maßlosen Liebhaber des Sokrates, der für einen Erastes zu alt ist und die Logik des Verhältnisses von Eromenos und Erastes umkehrt. Gleichwohl ist er es, der das treffende Bild von der Silenennatur und der ineinander geschachtelten Marsyas-Gestalt prägt, das zu einer Sokrates-Inkunabel werden sollte und der damit bei aller Verkehrtheit seiner Haltung doch das Wesen des Sokrates erstaunlich genau trifft. 15 Hervorgehoben ist der ›Alkibiades‹-Dialog auch dadurch, dass er nichts geringeres als die Frage nach der Gerechtigkeit behandelt, die im Zentrum der ›Politeia‹ exponiert werden wird. Im ›Alkibiades‹-Dialog selbst verweist Alkibiades ungeschützter als die Sophisten es zumeist tun, auf die Widerspruch zwischen dem, was nützlich und jenem, was gerecht ist. Er zeigt sich dann verwirrt und bestürzt über die eigene Unwissenheit, die zugleich die Unwissenheit der Sophisten und Redekünstler ist (116e2). Sokrates hatte ihm nämlich dargelegt, dass das Gerechte, Gute und Nützliche identisch sei. Hier wird in späteren Dialogen weitere Klärung erforderlich sein. Doch bis in die mittelalterliche Transzendentalienlehre hinein wird zumindest ein enges Wechselverhältnis zwischen jenen Grundkategorien, den Transzendentalien, angenommen werden. Sokrates rät dem jungen Alkibiades: »Also Bester, gehorche nur mir und dem Spruche in Delphi und erkenne dich selbst« (124b). Alkibiades kommt von diesem Punkt auf die Bestimmung, Gerechtigkeit erfordere, dass Eintracht (homonoia) in den Stadtstaaten herrsche (127c). Diese setze aber Freundschaft voraus. Zugleich deutet sich an, dass jede Freundschaftsäußerung in der Freundschaft mit sich selbst gründe. Deshalb wird bereits im ›Alkibiades‹-Dialog die Grundform der Gerechtigkeit exponiert, die in der ›Politeia‹ als Schlüssel zur Tugendlehre eingeführt werden wird und unter anderem bereits im ›Charmides‹ alludiert worden war: ›ta heautou prattein‹, das Seine tun (129d). Diese Selbstvervollkommnung fordert, die eigene Seele zu erkennen. Selbstkenntnis ist die Sorge um das Eigene der Seele, so macht Vgl. dazu die Alkibiades-Rede und den Auftritt des späteren Tyrannen in Symposion 212c4–222a7. Siehe auch S. Benardete, On Plato’s Symposium. Chicago 2001.

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Sokrates in der Fragebewegung weiter deutlich. Es ist nicht die Sorge um einen nur äußerlichen Besitz. »Soll dir nun erst noch deutlicher bewiesen werden, dass die Seele der Mensch ist« (130c). Zwei Grundverhältnisse werden damit gereinigt und in die Form gebracht, die ihnen eigentlich zukommt: die Politik und der Eros. Wenn Alkibiades zum Staatsmann werden wolle, so müsse er sich zunächst um diese Selbstvervollkommnung kümmern. Sie setzt ein Selbstverhältnis voraus, das sich nun in die folgende Formel einfügt: stärker zu werden als man selbst ist. Im Zusammenhang damit wird eine sehr prägnante und tiefgehende Beschreibung des philosophischen Grundverhältnisses geprägt: »Es wird also ganz recht sein so festzustellen, dass wir, ich und du, zueinander reden, der Sprache uns bedienend mit der Seele zu der Seele« (130a). Das Seelengespräch selbst gründet in einer Unterredung ohne Worte (aneu logo). Da er mit ihm in dieses Gespräch eintritt, erweist sich Sokrates als der wahre Liebhaber des Alkibiades. Durch diese Form des Logos sind also auch die verwirrten persönlichen Verhältnisse wieder ins Lot gebracht. Er fördert ihn, einzig durch den Logos. Am Ende des Dialogs wird das hohe Risiko verdeutlicht, das in diesem Zwiegespräch gründet. Alkibiades verpflichtet sich darauf, in der Zukunft der Gerechtigkeit zu folgen. Sokrates hält ihm entgegen: »Ich wollte, dass du es auch vollendetest. Aber ich zittere, nicht, als ob ich deiner Natur misstraute, sondern nur, wenn ich die Stärke der Stadt erwäge, ob sie nicht dich und mich überwältigen wird« (155e). Im Rückblick auf das Leben des Alkibiades 16 scheint freilich dieses Resultat widerlegt zu sein. Es wird deutlich, dass dies nicht erreicht werden konnte, was sich in der Sphäre der Politik zeigt: Die Gewalt der Polismacht überwältigt Alkibiades, entgegen besserem Wissen. Der Maxime der Selbstvervollkommnung folgte er nicht, die äußere Macht dominierte ihn und führte ihn zur tyrannischen Lebensform. Auch im Blick auf die erotische Verfasstheit des Menschen wird das Wechselverhältnis von Eromenos und Erastes außer Kraft gesetzt, wie sich in seiner Rede im ›Symposion‹ zeigt. Die Seelenpflege, die er von der Philosophie zu erwarten gehabt hätte, weist in eine andere Richtung. Sokrates bringt dies in das Sinnbild von der Liebe der Kraniche. Derjenige, der den Jüngeren flügge J. Hatzfeld: Alcibiade. Étude sur l’histoire d’Athènes à la fin du Ve siècle. Paris 1951; H. Heftner, Alkibiades. Staatsmann und Feldherr. Darmstadt 2011; D. Kagan, The Peloponnesian War. New York u. a. 2003.

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macht, wird am Ende von ihm selbst getragen und gepflegt. Auch so würden die Position des Jüngeren und des Älteren, des Werbenden und des Umworbenen vertauscht werden; allerdings würde dies dann gemäß der Ordnung geschehen.

›Hippias maior‹ – oder: Das Schöne Im größeren Hippias-Dialog wird die Frage nach der Wesenheit des Schönen aufgeworfen. Damit präfiguriert dieser Text die Frage nach dem Schönen im ›Symposion‹ oder den Topos von der Flucht des Guten in das Schöne im ›Philebos‹ (Philebos 64e). Der erste Versuch des Hippias, eine Definition zu finden und das Schöne gleichsam einzufangen, führt zu der Bestimmung, das Schöne sei das am schönsten Scheinende (Hippias maior 289c). Beispielhaft setzt er das Schöne mit dem Gold gleich. Der Scheincharakter allein kann offensichtlich nicht zu einer verlässlichen und stabilen Definition führen. Deshalb wird korrigierend hinzugefügt, das Schöne sei das »Passende« (prepon). Doch wie eng fasst man die Passgenauigkeit? Auf der Beispielsebene kommt man vom Gold zu dem viel banaleren Fall von unterschiedlichen Holzsorten, die zu verschiedenen Gerichten in besonderer Weise passen würden. Nicht auf jedem Holz ist alles gleichermaßen zuzubereiten. Sokrates setzt hier seine vordergründigere Ironie an. Hippias selbst sei zu schön und edel gekleidet, als dass er sich mit solchen niedrigen Belangen zufriedengeben könne. Hinzugefügt wird deshalb, das Schöne müsse Allgemeinheitscharakter haben. Es müsse das sein, was für alle (pasi) und immer (aei) schön sei (292e). Hier ist der Blick auf eine situationsinvariante Idee des Schönen eröffnet. Sokrates befestigt diese Definition mit dem Hinweis, dies sei ein Schönes, »das niemals irgendwo irgendjemandem hässlich erscheinen kann« (291d). Auch hier kommt das Problematon der Schicklichkeit wieder ins Spiel: muss sie nicht gleichsam als eine innere Qualität vorliegen, wenn etwas als schön erscheinen soll. Die Brauchbarkeit und damit die Verbindung zum Gutsein leiten sodann den zweiten Definitionsversuch an. Das Schöne sei das Brauchbare (ophelion). »Schön sind doch, sagen wir, nicht die Augen, die uns so ansehen, als ob sie nicht sehen könnten, sondern die, welche es können und brauchbar sind zu sehen« (295c). Brauchbarkeit spezifiziert die Kategorie des Passenden. Sie verweist zugleich implizit auf den Zusammenhang des Guten und des Schönen. Denn als das 164 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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Schöne wird das »Brauchbare und Vermögende, um Gutes zu verrichten« (296d) bezeichnet. Obwohl damit bereits wie in einer Vorgestalt Strukturen der Idee des Guten aufscheinen, erfordert die Gleichsetzung einen Zwischenschritt. Wenn das Ursacheverhältnis festgehalten wird, kann das Gute nicht schön und das Schöne nicht gut sein, so wenig wie der Sohn der Vater oder der Vater der Sohn sein kann, weil der eine eben der Spross des anderen ist (297b). Auch das Gespräch im ›Hippias‹ findet zu keiner Lösung. Es führt in eine Art Kreisgang. Phänomen und Allgemeinbegriff treten immer wieder auseinander. So kann nicht einmal ein gemeinsames Schönes für Hören und Sehen konstatiert werden. Aristoteles hat deshalb den ›Hippias maior‹ als Beispiel für die Sachaporie verwendet, die begegnet, wenn ein gemeinsames Eidos (to koinon) hinter den Definienda nicht aufscheint (300a). Im dritten Definitionsversuch wird der Bereich der Sinnlichkeit erkennbar überschritten. Die Rede ist von »schönen Handlungen und Gesetzen«, die nicht sinnlich perzepierbar sind. Immerhin deutet Sokrates in seiner Präzisierung an, dass »vielleicht« auch die Gesetze wahrnehmbar seien. Im Horizont dieser Bemerkungen steht der Verweis auf das Daimonion des Sokrates. Es ergänzt gleichsam die fragmenthaften, nur Schnipsel und Bruchstücke bietenden Aussagen des Dialoges, die kritisch moniert werden. Zumindest indirekt kann geklärt werden, was schön ist. Unschön jedenfalls ist ein »Scheinwissen«, das sich als Wissen geriert und es doch nicht ist.

Lysis – oder: Die Freundschaft Auch der ›Lysis‹-Dialog behandelt eine zentrale Tugend, die Freundschaft. Seine Ausgangsthese besagt, dass Freundschaft ohne Liebe (philia) nicht zu denken ist. Auch in der Freundschaft liegt deshalb ein Moment des Eros. Der unauffällige Dialog macht ein Phänomen deutlich, das als Bedingung für den philosophischen Dialog durchgehend wichtig ist. Dieses Motiv, das sich an der homoerotischen Eromenos-ErastesKonstellation entzündet, wird auch andere, spätere Dialoge mitbestimmen, namentlich den ›Phaidros‹. Damit ergibt sich eine durchaus prekäre Gesprächssituation. In Frage steht, ob aus der involvierten Situation Klärung in der sachlichen Unterredung gewonnen werden kann; ob Liebe also eher blind oder eher sehend macht. Dann 165 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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wird im Einzelnen erörtert, wer überhaupt zum Freund werden kann: ob der Liebende des Geliebten oder der Geliebte des Liebenden Freund ist. Damit steht auch zur Erwägung, wie sich die Konvention des Eromenos-Erastes-Zusammenhangs zu einer authentischen Freundschaft, vor allem aber zu jenem Eros verhält, den Sokrates im ›Symposion‹ beschwört. In der emotional aufgeladenen und der Tendenz nach manischen Situation der Liebe hat Freundschaft wesentlich die Aufgabe, durch wechselweises Sich-Unterreden einen Ausgleich zu schaffen. An Sokrates und Alkibiades im Alkibiades-Dialog wird beispielswiese exemplifiziert, wie dieser Anspruch scheitern kann. Zwei Definitionsversuche zum Wesens-Was der Philia werden angestellt: Zum einen, befreundet sei einander Gleiches; zum anderen, nur einander Entgegengesetztes könne befreundet sein. Beide mit Ausschließlichkeitsanspruch ergehenden Definitionen sind aus Erfahrungsbeispielen zu widerlegen. Dann folgt die immanente Qualifizierung einer Indifferenz: Das ›weder Gute noch Schlechte‹ sei dem Guten befreundet. Doch auch sie ist nicht hinreichend. Die wirkliche Freundschaft müsse, wird gesagt, auf ein intrinsisch Gutes, das »um seiner selbst willen« (hou heneka) geliebt wird, gerichtet sein. Allerdings stellt sich dabei die Frage, ob das nur Gute überhaupt Empfindungen wie Freundschaft in sich wachrufen kann.

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VIERTES KAPITEL: IM STRUDEL DER SOPHISTEN – ›GORGIAS‹ UND ›PROTAGORAS‹

1. Die Auseinandersetzung Platons mit den Sophisten spielt sich nicht nur auf propositionaler und argumentativer Ebene ab. Wichtiger noch als diese argumentativen Linien scheinen die gestischen Signale in den Dialogen zu sein. Im ›Gorgias‹ wird Platon die Schamröte der Sophisten als Argument und Beleg dafür verstehen, dass man eben nicht alles behaupten könne. In dem Frühdialog ›Euthydemos‹, der Beispiele der aggressiven Antilektik der Sophisten vor Augen führt, gibt Sokrates die Unterredung auf: Er scheint damit an einen dramatischen Begründungsengpass gelangt zu sein, an dem es ihm selbst so scheint, als sei die Sophistik Philosophie. Sokrates kann dem nur mit einem ironischen Selbstwiderspruch entgegnen: Er rühmt die Schönheit der Sophistik, wo doch Schönheit gerade grundsätzlich verspottet wurde. Im ›Protagoras‹ findet die Unterredung mit den Sophisten vor der Frage nach der Lehrbarkeit der Tugend ihre Differenzierung und Spezifizierung: Von Interesse ist zunächst der Methodenexkurs im ›Protagoras‹Dialog (334c–335a), wo sich nicht nur die Differenz zwischen langer Prachtrede und kleinstufiger Befragung zeigt, sondern auch die zumindest ebenso grundlegende Fundamentaldifferenz zwischen Regelhaftigkeit und Regellosigkeit. Im Unterschied zu der Konstellation im ›Euthydemos‹ deutet sich nunmehr ein pazifierendes, ausgleichendes, ja konsensuales Dialogende an. Ins Auge fällt der Kunstgriff im ›Protagoras‹, dass die Gesprächspartner am Ende genötigt sind, das Gegenteil ihrer Ausgangsbehauptung zu behaupten. Dies könnte wie die Wirkung eines antilektischen Verfahrens erscheinen. Tatsächlich wird diese Umkehrung jedoch zum Instrument der Wahrheitsfindung Der Faden des ›Protagoras‹-Dialogs muss offensichtlich so wiederaufgenommen werden, dass gefragt wird, was denn Lehrbarkeit be167 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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deute. Dies geschieht im ›Menon‹. »Kannst du mir wohl sagen, Sokrates, ob die Tugend gelehrt werden kann?« (70a) – eben dies ist die Ausgangsfrage des Menon, die aber das Problem der Lehrbarkeit der Tugend keinesfalls isoliert behandelt, sondern es auf die Einheit der Tugend bezieht. Es muss »mit Recht« diese Einheit angenommen werden können, während Menon nur einen ganzen Schwarm von einzelnen Tugenden aufwirft und damit von der geforderten Definition in Beispielsfälle abschweift. Aus den Widerlegungen wird die grundsätzliche Einsicht gewonnen, dass in spezifischer Weise schon gewusst sein müsse, was gesucht/befragt wird: anders lasse sich danach gar nicht fragen. Die Einheit des Wissens beruht tatsächlich darauf, dass einzig aufgrund von Anamnesis, wiedererkennend, alles, was ist, erkannt werden kann. In diesen Zusammenhang wird die Befragung des jungen Dieners eingefügt, der ohne jedes Vorwissen aus seiner Seele den pythagoreischen Lehrsatz hervorbringt. Sokrates weist Menon mehrfach darauf hin, dass er diesen nichts lehre, sondern alles nur frage (totuon ouden didásko, alle eroto panta). Exponiert wird also der den Sophisten fremde philosophisch Eros, eine Fragekunst, die den Logos in der Seele des Gesprächspartners zu ›erzeugen‹ sucht. Gegenüber dem jungen Sklaven besteht Sokrates, ganz im Sinn dieser Fragekunst, darauf, dass dieser nur das zugibt, was er wirklich einsehen kann. Dabei entsteht zunächst nicht ein Wissen, so wird in Übereinstimmung zwischen Sokrates und Menon festgehalten, sondern die Meinung, etwas zu wissen. Entscheidend ist es, dass die Befragung bis zu dem Punkt getrieben wird, an dem der Befragte einräumen muss: »Aber beim Zeus, ich weiß es nicht!« Das Nicht-ein-noch-aus-Wissen ist gleichsam der Wendepunkt in dem Dialog. Der Fortgang der Unterredung zeigt in Selbstunterscheidung zur Sophistik an, wie die Fragekunst des Zitterrochens Sokrates beschaffen ist und dass sie ihrem Wesen nach dem anderen nicht schade, sondern ihn zu fördern suche. Hervorgebracht oder, im maieutischen Sinnbild, »geboren« werden ›aletheis doxai‹, die nicht in diesem Leben erworben sind. Im Beispiel ist es offensichtlich, dass Menons Diener niemals Geometrie und Mathematik erlernt hatte. Von der Erkenntnisart dieser Disziplinen weiß der nichtwissende Befragte in seinem bewussten Leben nichts; sie können aber durch nachdrückliche Befragungen aus ihm »geboren« werden. Der Engpass des Nichtwissens ist offensichtlich 168 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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der Punkt, an dem die selbstverständliche Erzeugung eines Meinens, man wisse, erst in ein Wissen überführt werden kann. Am Ende des ›Menon‹ wird noch eine andere Variante der Protagoras-Frage entfaltet: Durch göttliches Schicksal (theia moira) wohnte die Tugend inne, daher sei sie nicht lehrbar. Das Grundverhältnis zwischen der wahren Meinung und der theia moira wird selbst nicht freigelegt. Die Fragebewegung im ›Menon‹ bleibt im hypothetischen Bereich. 2. Eben hier setzt der ›Gorgias‹ an: Er verbindet die Frage, wie man leben soll, mit der Untersuchung des Werkes (idion ergon) von Rhetoren und Sophisten. Hat Tugend, hat Gerechtigkeit überhaupt eine Wesensnatur oder ist alles Konvention? Dies sind Fragen, die sich nicht zuletzt am Faktum der Scham entscheiden. Er entwickelt vor diesem Hintergrund exemplarisch die Unterscheidung zwischen dem Angenehmen und dem Nützlichen und vertieft die Frage, wer der Rhetor und Sophist sei, auf die tiefergehende Frage, wie man leben solle. Nur wenn Redner und Sophist darüber Kenntnisse hätten, könnten sie zum menschlichen Leben etwas beitragen. Geprüft und als verbindlicher Leitfaden exponiert wird dabei der Satz, dass Unrecht leiden im Zweifel immer besser sei als Unrecht zu tun.

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Es wird sinnvoll sein, sich zunächst über die soziale Institution der Sophistik, dieser großen Gegenbewegung zu Platon, eine umrisshafte Vorstellung zu bilden: »Lehrer Griechenlands« nannte Hegel die Sophisten 1. Meisterliche und vexierende Beherrschung der griechischen Sprache ist ihr Instrument, sodass zwischen der Rhetorik und der Sophistik kaum unterschieden werden kann. Sie sind Meister des Lebens und wenden sich anders als die Eleaten nicht der ontologischen Frage, sondern unmittelbar der Paideia zu. Sie vermitteln öffentlich und privat anwendbare Kenntnisse über die Lebenskunst. So lehren die Sophisten, wie man sich Richter gewogen macht und wie man in der Volksversammlung überzeugend wirkt. 2 Das schriftliche Corpus Hegel, Theorie-Werkausgabe Band 14, S. 9. Vgl. zur Sophistik die anschauliche Darstellung bei Ottmann, Geschichte des politischen Denkens. Band I/1, S. 212 ff., siehe auch B. H. F. Taureck, Die Sophisten zur

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sophistischer Aussagen, das überliefert ist, ist vergleichsweise schmal und konzentriert sich eher auf ontologisch naturphilosophische Lehrschriften. Zu nennen wären Gorgias: ›Über das Nichtseiende und die Natur‹ ; Antiphon: ›Über die Wahrheit‹. 3 Von Protagoras sind nur zwei Sätze überliefert, obwohl gerade sein Denken immer wieder und geradezu paradigmatisch behandelt wird. Einerseits wird ihm der Satz: »Über die Götter kann ich nichts wissen, weder dass sie seiend, noch dass sie nicht sind« (DK 80 B4) zugeschrieben; andererseits der Homo mensura-Satz: »Aller Dinge Maß ist der Mensch, der Seienden, dass sie sind, der nicht seienden, dass sie nicht sind« (DK 80, B 1). Im ›Theätet‹, aber auch in Aristoteles’ Metaphysik III spielt dieser Satz eine entscheidende Rolle. Das Phänomen der Täuschung wird wesentlich vor diesem Hintergrund aufgeklärt. Der Sophist wird im Brennspiegel platonischer Dialoge der schlechte Andere zum Philosophen, und im platonischen Dialog ›Sophistes‹ wird (231b) umgekehrt die Philosophie als die ›genei gennaia sophistike‹, die »echte und wahrhaft adelige Sophistik« gedeutet. Diese schlechte Gegenbildlichkeit ist es nicht, die seit Aristoteles als Charakteristikum der Sophistik verstanden wird. Sophistik ist vielmehr Verwechslung des Denkens mit bloßer Sinneswahrnehmung: Sie stellt auf dieser notwendig täuschenden Basis immer eine Frage zu viel und kann aus strukturellen Gründen nicht zu Gewissheit und Wissen führen. Deshalb sagt der Sophist, jedenfalls insofern man ihn mit einem situationsinvarianten Wahrheitsanspruch prüft, mit Worten nichts. 4 Im platonischen ›Gorgias‹ wird von den Sophisten eine regelrechte Täuschungs- und Nichtseinslehre, eine ›Meontologie‹ entwickelt, die freilich nicht haltbar ist. Offensichtlich ist sie Gegenrede zu der Behauptung des Einen Seins, das allein sei, bei Parmenides. Gorgias sieht seine These im Grundsätzlichen zurückgewiesen. Einführung, Hamburg 1995, sowie H. Patzer, Die Entstehung der wissenschaftlichen Politik bei den Griechen. Wiesbaden 1966 und G. B. Kerfred und H. Flashar, Die Sophistik, in: H. Flashar (Hg.), Grundriss der Geschichte der Philosophie. Band 2/1, Basel 1998, S. 1–138. 3 H. Diels und W. Kranz, Die Fragmente der Vorsokratiker Bd. I–III, Berlin 61952 ff., sowie W. Untersteiner, I Sofisti testimonianze e frammenti, 4 Bde. Florenz 1962–67, sowie Th. Buchheim (Hg.), Gorgias von Leontinoi, Hamburg 1989. 4 Dazu auch Voegelin, Order and History. Bd. 2, The World of Polis. Lousiana 1957, und G. Vlastos, Protagoras, in: C. J. Classen (Hg.), Sophistik. Darmstadt 1976 (= Wege der Forschung 187), S. 271 ff. Im Blick auf den immanenten Anspruch der Sophistik Th. Buchheim, Die Sophistik als Avantgarde normalen Lebens. Hamburg 1986.

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Nach und nach wird seine Verteidigung aber immer schwächer. Wenn etwas ist, dann ist es unerkennbar; wenn es erkennbar wäre, dann ist es nicht mitteilbar. Es ergibt sich eine Rückzugsstruktur, die auch der modernen Psychoanalyse zugänglich ist. Freud hat eine ähnliche Struktur nämlich als Grundmuster des Witzes charakterisiert. 5 Er gibt dafür ein prägnantes Beispiel: »A hat von B einen kupfernen Kessel entlehnt und wird nach der Rückgabe von B verklagt, weil der Kessel nun ein großes Loch zeigt, das ihn gänzlich unbrauchbar macht. Er verteidigt sich so: Erstens habe ich von B überhaupt keinen Kessel entlehnt; zweitens hatte der Kessel bereits ein Loch, als ich ihn von B übernahm; drittens habe ich den Kessel ganz zurückgegeben«. 6

Wahrheit und Erkenntnis und auch einen Wesensbegriff des Guten lassen die Sophisten nicht gelten. Nützlichkeitsgesichtspunkte und damit auch ein Agon, dem es um Überlegenheit geht, dominieren deshalb in ihren Aussagen. Man hat im Einzelnen nur fragmentarische Kenntnisse von ihrer Lehre. Doch viel spricht dafür, eine erste Generation im Umkreis des Perikles anzusiedeln, die der Isonomie und Demokratie sich verpflichtet sah: Protagoras von Abdera (490– 421) war einer ihrer Exponenten. 7 Die zweite Generation dagegen, darunter Kritias, tendierte zur Tyrannis. Sie begegnen im Umkreis der »Herrschaft der Dreißig«, die einen Anschluss Athens an Sparta planten und nach dem Zeugnis des Philostratos aus Athen eine »den Schafen überlassene Wüste« machen wollten. Charakteristisch für die platonisch-sokratische Widerlegung der Sophistik ist es auch, dass in den sophistischen Wortverdrehungen »gut« und »schlecht« zu funktionalen Begriffen werden, die dem Nutzen der Stadt untergeordnet sind. Dies kontrastiert mit der platonischen Rede von dem unbedingt und schlechterdings Nützlichen. Scham und Tugend werden damit der ›techné‹ des Redners unterstellt. Er muss einen schönen Schein seines Bildes erzeugen. Auch die Sophistik zielt auf Übereinstimmung (homonoia). 8 Diese ÜberFreud, Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten (1905), in GW VI (1940), S. 65 f. 6 Ibid. 7 Zu Protagoras: Gregory Vlastos, Protagoras, in: C. J. Classen (Hg.), Sophistik, a. a. O., S. 271 ff. Siehe auch K.-M. Dietz, Protagoras von Abdera. Untersuchungen zu seinem Denken. Bonn 1976. 8 Siehe dazu die genannten Darstellungen bei Voegelin und Ottmann, a. a. O. 5

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einstimmung ist jedoch ein Konsens unter der Maßgabe des Nützlichen. Die Sophistik hegt eine weitreichende Vorstellung von der Möglichkeit, Gegebenheiten zu modifizieren. Sie kann deshalb tatsächlich treffend als »Avantgarde modernen Lebens« bezeichnet werden. 9 Freiheit des Einwirkens und Manipulation mischen sich dabei miteinander, ebenso übrigens wie die Sophisten einerseits als die Lehrer der öffentlichen Polis firmieren, andrerseits deren traditionelle und religiöse Erwartungen massiv unterwandern. Die Unterscheidung von thesei und physei, des nur Gesetzten und des Naturwüchsigen bzw. Naturgemäßen, durchzieht die platonischen, der Auseinandersetzung mit der Sophistik gewidmeten Dialoge. Unter »thetische Satzungen« werden von den Sophisten alle positiv geltenden Gesetze und die Tugenden summiert. Eine naturgegebene, nämlich eine sittliche Wesensnatur, findet keine Anerkenntnis. Es ist also nicht verwunderlich, dass Sokrates’ Streit mit der Sophistik auch auf den Naturbegriff konzentriert ist. Für die Sophistik ist die Physis nackte, faktische Natur, der man allerdings schlechterdings nicht entgehen kann. Es wird sich zeigen, dass der platonische Sokrates gegenüber den Sophisten den Begriff der Natur anders verstehen muss, nämlich als eine Wesensnatur. Dabei machen sich in der Sophistik freilich schon Tendenzen einer verschiedene Poleis übergreifenden Universalität bemerkbar, die auf einen solchen Wesensbegriff hinweisen. In Antiphons Fragment B 44 heißt es: »Gerechtigkeit besteht darin, die gesetzlichen Vorschriften des Staates, in dem man Bürger ist, nicht zu übertreten.« Maßstab sind dabei aber das Zuträgliche und der Anschein. Ein übergreifendes Rechtsgesetz, das binden könnte, wird gerade nicht anerkannt. Dennoch tritt Hippias vergleichsweise entschieden für eine Gleichheit aller Menschen ein. 10 Nach dem Zeugnis des Isokrates beruht die Sophistik auf zwei Prinzipien, die untereinander sich auszustreichen scheinen. Gerade im Widerspruch zwischen ihnen besteht aber die Pointe: ›ouk estin antilegein‹, »Es gibt kein Widersprechen«. Und: ›Logoi antikemeinoi peri pantos‹, »Es gelten widersprechende Aussagen über dasselbe« Th. Buchheim, Die Sophistik als Avantgarde, a. a. O., siehe auch M. Dreher, Sophistik und Polisentwicklung. Frankfurt/Main, Bern 1983, sowie R. Dahrendorf, Lob des Thrasymachos, in: ders., Pfade aus Utopia. München 31974, S. 293 ff. 10 Vgl. Ottmann, S. 218 und E. Altheim, Staat und Individuum bei Antiphon dem Sophisten, in: Klio 20 (1926), S. 257 ff. Übergreifend auch K. F. Hoffmann, Das Recht im Denken der Sophistik. Stuttgart-Leipzig 1997. 9

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(Isokrates 10, 1). 11 Dies bedeutet, dass jeder Logos sich selbst bestätigt und unterschiedliche, aber auch gegenläufige Aussagen neben und gegeneinander bestehen können. Auch dieselbe Person kann solche Aussagen treffen. Derselbe Sophist muss für und gegen einen Krieg gleichermaßen überzeugend sprechen können. Wenn indessen einmal ein Widerstreit offen ausbricht, dann entscheidet die Stärke. Pikant ist, dass der Elenchos, die »widerlegende Rede«, auch in der Antilektik der Sophisten einen festen Ort hat. Dort hat er aber die Aufgabe zu ›entlarven‹, dem anderen in einem Agon die Maske vom Gesicht zu ziehen. Er soll gerade nicht zur Selbstbesinnung beitragen, sondern Scham erzeugen. Die im platonischen Dialogwerk abgebildete Auseinandersetzung des Sokrates mit der Sophistik konzentriert sich an einzelnen Knotenpunkten: Einerseits führt sie auf die Frage der Lehrbarkeit der Tugend, die aufs engste mit ihrer Einheit und damit ihrem Ideen-Charakter zu tun hat. Andrerseits auf die »ernsteste Frage«, wie man leben soll (Gorgias), die untrennbar mit der Frage nach dem Status der Gerechtigkeit (Thrasymachos-Dialog, Politeia I) verbunden ist. Man muss nur in Thukydides’ Geschichtswerk lesen, um einen Eindruck von der Wirksamkeit dieser Logoi im öffentlichen Leben Griechenlands zu gewinnen. Thukydides meint, lediglich die Gewalttätigen wären ihnen gewachsen. 12 Eine Rettung der Philosophie mit genuin philosophischen Mitteln gegenüber den Sophisten wäre dann so gut wie aussichtslos. Jedwede Sanftmut und alles Zurückhaltendsein werden sie wegwischen, weiß Thukydides. 13 Ein exemplarisches Zeugnis, in dem die Linien besonders unverstellt ans Licht treten, ist der wohl vergleichsweise früh zu datierende Dialog ›Euthydemos‹. Dabei zeigt sich die sophistische Kunst als eine Kunst des Paradoxons, die in Widersprüche hineintreibt. Ihnen ist kaum zu entgehen. Das Probestück wird an einem jungen Mann vollzogen, Kleinias (vgl. paradigmatisch 275d ff.). Er soll mit den Waffen der Wort- und Argumentationskunst buchstäblich zunichte gemacht werden. Was er auch antwortet, er wird zuschanden gemacht werden. Vgl. Buchheim, Die Sophistik als Avantgarde, a. a. O., S. 34 ff. Dieser Grundzug ist in einigen der platonischen Testimonien auch als »Reden über alles« und als »gewaltig reden« gekennzeichnet worden. Vgl. Gorg. 451d und e; sowie Menon 95c. 12 Vgl. Thukydides 2, 40 1 und 2, 40, 2; siehe auch 3, 37–49. Dazu Buchheim, a. a. O., S. 90 ff. 13 Vor allem die Belege 3, 37–49. 11

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Sokrates führt demgegenüber als den Maßstab das eigentliche ›hou heneka‹ ein, die in sich selbst liegende Zweckhaftigkeit. Er findet sie in der Suche nach den Gütern, die Glück bringen. Sie sind es erst eigentlich, die sich als gut ausweisen. Weisheit und Erkenntnis werden hier genannt, durchaus im Sinn des sophistischen Anspruchs, das gute Leben lehren zu können. Doch diese Begriffe werden in sophistischer Lesart umgeprägt, sodass sich ihre gängigen Konturen kaum mehr wiedererkennen lassen. Wie auch an anderen Stellen der Frühdialoge meint hier ›sophia‹ die Technik des guten Lebens. Nicht weniger bemerkenswert ist, dass in diesem Zusammenhang für Glück weder ›eudaimonia‹ noch ›hedoné‹ genannt wird, sondern ›eutyché‹, also das ›gute Glück‹, das sich zumindest auf Zeit festhalten lässt. An dieser Stelle kehrt die sophistische Überredungskunst zu dem Grundsatz zurück, dass es kein ›antilegein‹, kein Widersprechen geben könne. Wo keine Wahrheit angenommen wird, kann auch keine Unwahrheit sein. Diese zugespitzte These ist nicht zufällig gewählt. Die Sophisten flechten in ihre Argumente sublime Drohungen eines nahen Untergangs des Sokrates ein. Wie auch immer es sich mit den historischen Evidenzen für solche Aussagen verhalten mag, Sokrates ist lästig, weil er an der Wahrheit und einem umfassenden Wissen festhält. Dionysodoros bekräftigt den sophistischen Grundsatz mit dem Hinweis, dass Nicht-Seiendes zu sagen, und damit zu lügen, nicht möglich sei. Denn von dem reinen Nichts, das nicht noch ein Gedanke, also eine Form von ›Etwas‹ wäre, lässt sich bekanntlich gar nicht sprechen. Die griechische Sprache kennt als semantisches Merkmal die Unterscheidung zweier Formen von Verneinung: ›ouk‹ als das »nihil negativum« und als Index dessen, was nicht einmal gedacht werden kann – und ›mé‹, die relative Verneinung. 14 Auch Platon weiß, dass vom »reinen Nichts« nicht gesprochen werden kann. Doch Platon und die Sophisten haben ein unterschiedliches Verständnis von Sein und Nichts. Wenn es daher zu einem Widersprechen (antilegein) kommt, so kann das im sophistischen Verständnis nur bedeuten, dass die vermeintlich sich widersprechenden Parteien jeweils ›über etwas anderes‹ redeten, womit freilich ein tieferliegendes Problem aufgewiesen ist. Kann unter sophistischer Voraussetzung überhaupt eine gemeinsame Sache, ein Koinon, getroffen werden, das standhält? Sokrates würde dies bestreiten. Vgl. zu den platonischen Klärungen dieses Sachverhaltes: P. Woodruff, Plato’s Early Theory of Knowledge, in: S. Everson (Hg.), Epistemology. Cambridge 1990, S. 60 ff.

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Antidotum: Platon und die Sophistik

Sokrates weist einen Widerspruch auf, der nicht nur in der Sache liegt, sondern auch die sophistische Lebensform angreift: »Und hier kommt nun, sprach ich, meine beschwerliche Frage. Denn wenn wir gar nicht fehlen, weder im Handeln noch im Reden noch im Denken, wenn sich dies so verhält: so sagt doch, beim Zeus, ihr, als wessen Lehrer seid ihr denn hierher gekommen?« (287a) 15

Der ›Euthydemos‹ ist in diesem Zusammenhang als sophistisches Kunststück deshalb so aufschlussreich, weil er tatsächlich idealtypisch den Widerstreit zwischen Sokrates und den Sophisten abbildet. Dabei zeigt sich, dass Sokrates aus strukturellen Gründen ihnen unterlegen sein muss. Dies wird zunächst in der Aufsuchung der wirklich nützlichen (ophelion) Kunst deutlich, wobei der Maßstab der Nützlichkeit die Bewirkung des Glückes ist. Dabei zeichnet sich als Horizont der Begrenztheit der Fertigkeit (techné) ab, wonach die jeweiligen Künste Werke hervorbringen, die für sich genommen, weder gut noch böse sind. Sie sind Adiaphora und erst im Gebrauch haben sie ihren ›nervus probandi‹. 16 Wie steht es aber mit der »königlichen Kunst«? Sie ist Kunst der Künste, insofern sie, wie hier schon bemerkt wird, alle anderen Verfertigungen erst zuweist und verschiedenen Personengruppen aufgibt. Indes kehrt eben hier ein Strukturproblem wieder, das auch in anderen Frühdialogen begegnet: Einerseits lässt sich das ›idion ergon‹ der königlichen Kunst nicht angeben. Im ›Politikos‹ wird die Pointe darin bestehen, dass die Kunst, die selbst allen anderen Künsten ihren Ort zuweist, selbst über gar keine Kunstfertigkeit verfügt. Zum anderen ist sie zwar Tausendkünstlerei, sie umfasst aber nicht die verschiedenen Künste und Wissenschaften, also könnte es auch sein, dass sie zu gar nichts nütze ist. Am Ende der Zwiesprache zeigt sich Sokrates in einem Dilemma: »Deshalb auch, Kriton, weil ich in diese Verlegenheit geraten war, ging ich durch alle Töne, und bat die Fremdlinge und flehte sie an wie die Dioskuren, uns zu retten, mich

Siehe ferner M.-Th. Liske, Was bedeutet ›Lehrbarkeit der Tugend‹ in Platons Menon?, in: Archiv für Begriffsgeschichte 32 (1989), S. 76 ff. 16 Demgegenüber wird in Politeia X 591a ff. erklärt, dass der sachgemäß Gebrauchende die Autorität zur Beurteilung von Werken und Herstellungsgegenständen habe. Dies ist die bekannte techné-Analogie und die Frage nach dem ›idion ergon‹ einer jeweiligen Verrichtung. Platons Sokrates zeigt, dass die Sophistik über kein solches ›idion ergon‹ verfüge. 15

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und den jungen Menschen aus dieser Brandung unseres Gesprächs« (293a). Damit ist die genuine Untersuchung des Sokrates ans Ende gekommen. Er selbst wird dann im weiteren Verlauf des Dialoges, vor allem in dessen letztem Drittel, in den Strudel der sophistischen Befragungen hineingezogen. Sie geht zunächst von der sophistischen Aussage aus: »Wer etwas weiß, weiß alles«, zu der noch die Invarianzaussage hinzukommt: »Er weiß alles immer«. Damit wird auf Sokrates’ Nicht-Wissen rekurriert, und in der Tat erschrickt er vor dieser Aussage. Sie beruht auf einem bestimmten Umgang mit der Kopula ›ist‹, die keine Unterscheidung einzuführen erlaubt: Wer etwas weiß, weiß alles, weil er sonst zugleich als Wissender und Nichtwissender sich zeigen würde, was offensichtlich ein Widerspruch wäre (296a ff.). Der sprunghafte Umschlag von A zu B, die vordergründige Identifikation, die mit rhetorischer Virtuosität suggeriert wird, erweist sich also als entscheidende Technik der Sophisten. Platons eigene Zurückweisung widersprechender dialektischer Sätze, die Grundlegung des Satzes vom ausgeschlossenen Dritten und das bis in den späten ›Philebos‹ sich zeigende Bestehen darauf, dass nicht auf der einen Seite das Eine, auf der anderen das Andere jäh einander zu kontrastieren, sondern die einzelnen Übergänge zwischen ihnen anzuzeigen sind, ist formgesetzliche Antwort der platonischen Dialektik auf die sophistische Antilektik. Auch in der Grundstimmung soll sie unverwechselbar sein, nämlich zu Freundschaft und Förderung führen, nicht zur gewaltsamen Niederschlagung von Logoi und Personen. Die Differenz gegenüber der voreiligen Konstatierung von Widersprüchen kann durch ›hinsichtliche‹ Unterscheidung (pros ti) zur Geltung gebracht werden. Im ›Sophistes‹ werden unterschiedliche Bedeutungssinne der Seinsprädikation unterschieden. In der Auseinandersetzung mit Ktesippos (298d) im ›Euthydemos‹ fehlen all diese Differenzierungen. Deshalb wird die Gegenfolie des univoken Seinsbegriffs am folgenden Argumentationsmuster deutlich: »Der Hund ist dein und auch Vater, also ist der Hund dein Vater.« Oder im Gespräch mit Sokrates: »Wenn du einen Ochsen bei dir führst, bis du ein Ochse« (301a).

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Die Einheit der Tugend: ›Menon‹ und ›Protagoras‹

II.

Die Einheit der Tugend: ›Menon‹ und ›Protagoras‹

Anschauung des Schönen und Lehrbarkeit des Guten Wir sahen: In den aporetischen frühen Tugenddialogen Platons werden einzelne Tugenden untersucht und es wird versucht, ihr Wesen anzugeben. Dies führt zu verschiedenen Definitionsversuchen, die erwogen und gegebenenfalls verworfen werden. Ihr Scheitern fixiert auf Aporien, die mitunter mit dem Epitheton des »Schändlichen« und dem Affekt der Scham gleichgesetzt werden. Scham und Schande gewinnen im ›Gorgias‹-Dialog eine entscheidende, geradezu leitmotivische Bedeutung. Vorbereitet wird dies durch zwei Dialoge, die, in der Sache ineinandergreifend, die Frage nach der Einheit der Tugend zum Thema machen. Dies geschieht zunächst im ›Menon‹. Ausgegangen wird von dem Problem, dass es zunächst eines Allgemeinbegriffs der Tugend bedürfte, um überhaupt von einer einzelnen Tugend wissen zu können. Dieses Wissen aber ist wiederum für das Sophistik-Problem, ob und wie Tugend lehrbar sei, von entscheidender Bedeutung. Die Frage spezifiziert sich dahin, wie mit Recht dieses »Viele insgesamt mit einem Namen« zu nennen sei (74d). Menon setzt zunächst einen ersten Definitionsversuch an, wonach Tugend, als höchste Form des Tauglichseins, bedeute, über Menschen zu herrschen. Offensichtlich kann diese Bestimmung nicht genügen. Sie führt zur Frage nach der Rechtmäßigkeit oder Unrechtmäßigkeit einer Herrschaft zurück. Damit verbindet sich auch ein Problem, das für die ›Politeia‹ von zentraler Bedeutung bleiben wird: Ob Gerechtigkeit nämlich nur eine Tugend oder Inbegriff der Tugend sei (73e). Es geht hier offensichtlich noch nicht um einen Gattungs- oder Artbegriff, sondern um die Einprägung des Schemas der einen Tugend in den einzelnen Tugenden, nach der sich bemessen muss, ob sie überhaupt Tugenden sind. Dies wird im Vergleich zu geometrischen Formen erläutert. Es würde unzureichend sein, wenn man eine Gestalt durch eine andere erläutern würde (75b). Aus der Verwirrung kann man offensichtlich nur herauszufinden hoffen, wenn man die Einheit der Tugend in den Blick nimmt: »Also meine auch du nicht, mein Bester, so lange noch die ganze Tugend, was sie ist, gesucht wird, wenn du ihre Teile in die Antwort hineinbringst, sie dadurch irgend jemandem deutlich machen zu können« (76d6 ff.). 177 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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Offensichtlich gerät der Definitionsversuch Menons in einen Zirkel. Zwar wird wieder eine Analogie zum Schönen gezogen. Doch das Definiens »dem Schönen nachstreben« (epithymounta ton kalon) (77b) bewirkt keine Aufklärung, sofern sich damit kein Wissen über das, was das Gute und Schöne ist, verbindet. Eine neue Stufe erreicht das Gespräch, als Menon den Sokrates mit einem Zitterrochen vergleicht. Der Elenchos lähme, er versetze in eine Art Schockstarre. Menon begreift Sokrates dabei durchaus zutreffend als einen Mann, der selbst in Verwirrung sei und damit auch andere in Verwirrung versetze (79e–80a). Sokrates bestätigt diese Aporetik seines Denkens und Forschens ausdrücklich. Wisse er doch in keiner Weise, was die Tugend ist. Damit wird der Sokrates-Topos von dem vortrefflichen Protreptiker und dem miserablen Lehrer der Tugend aufgegriffen. Dann greift Sokrates zur Bezeichnung seiner maieutischen Lehrweise, der Hebammenkunst, eine der berühmtesten Analogien des Dialogwerks auf, den Bericht von der Wiedererinnerung in der Seele. Sie wird an dem jungen Sklavenknaben verdeutlicht, der ohne Vorwissen allein durch Befragung auf den Lehrsatz des Pythagoras kommt (82a7). Wie überzeugend das Beispiel ist, kann man fragen. Denn dieser Knabe gibt im Wesentlichen, wie in einer Karikatur der Gesprächspartner in den frühen Sokratesdialogen, nur kurze Signale der Zustimmung: »Ja«, »So meine ich« und ähnliches. Nicht die Wirksamkeit der Anamnesis ist der eigentlich springende Punkt, sondern der Nullpunkt der Aporetik, des Nicht-ein-noch-aus-Wissens. Sokrates kann deshalb Menon gegenüber festhalten, die Lähmung durch den Zitterrochen habe dem jungen Mann ja keineswegs geschadet. Er wird vielmehr dadurch gefördert (84b). Doch es ist das Moment des Nichtwissens, das erst auslöst, dass der junge Sklave die Wahrheit herauszufinden sucht und nicht länger zu wissen meint, obwohl er doch unwissend ist. In Verwirrung zu geraten, ist daher auch der Ausgangspunkt einer Sehnsucht nach Wissen (84c). Auffällig ist, dass nach der Aporie der Sklave nicht mehr nur Floskeln der Zustimmung anführt, sondern die Sachverhalte selbst untersucht und damit erst ein eigenständiges Wissen erzeugt. 17

Vgl. dazu T. H. Irwin, Plato’s Moral Theory: The Early and Middle Dialogues. Oxford 1977 und ders., Plato’s Ethics. Oxford 1995, sowie J. Annas, Virtue as the Use of Other Goods, in: Apeiron 1993, S. 53 ff.

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Doch so eindrücklich dieser Schritt von der Aporetik ins selbst erzeugte Wissen auch ist, die Analogien aus der Mathematik lösen das Problem nicht. Die Frage nach der Tugend hat einen härteren Widerstand zu gewärtigen. Die Frage nach der Lehrbarkeit der Tugend im ›Menon‹ entfaltet sich deshalb über die Klärung der Wissensform, die der Tugend eigen sein müsste, wenn denn Tugend überhaupt ein Wissen wäre. In diesem Zusammenhang verschieben sich die Begriffe: Zunächst wird ›episteme‹ durch ›phronesis‹ ersetzt (88b–e). An einer Stelle ist auch von ›sophrosyne‹ die Rede (88b 6). Der wie in einem Kataklysmus abfallende Schluss des Dialoges zeigt vor allem, dass die sophistische Destruktion das Wissen um Tugend von innen heraus aushöhlt. Dass Tugend ein Wissen ist, ist zunächst lediglich eine Behauptung. Beweisbar ist es nicht (89c). Wenn sie lehrbar wäre, müsste es aber Lehrer geben, die in dieser Lehre ihr ›idion ergon‹ sehen. Im Gespräch mit Anytos erweist sich, dass es solche Lehrer in der Polisrealität nicht gibt. Die Sophisten sind es nicht, auch die Bürger und Politiker vermögen es nicht zu sein (92d). Deshalb kann es ausreichen, die richtige Meinung (orthe doxa) einem Leben nach der Tugend zugrunde zu legen (96d). Sie wird als ›theia moira‹, von den Göttern geschickt, charakterisiert. Dies ist gleichsam die objektive Seite von Sokrates’ Befragungskunst Das Wesen der Tugend kann auf diese Weise gerade nicht geklärt werden. Ein rein aporetisches Ende nimmt der ›Menon‹ gleichwohl nicht. Ein in Wahrheit göttlicher Mann wäre ein Staatsmann, »der auch vermöchte, einen Anderen zum Staatsmann zu machen«, so wird resümiert. Es wäre ein Mensch, der sich von den nur scheinbaren Staatsmännern so unterscheide, wie ein wirkliches Seiendes sich von den Schatten unterscheidet: Hier ist also in Grundzügen bereits die Struktur des Höhlengleichnisses vorgeprägt. 18

Zum Menon vgl. auch: Ernst Heitsch, Platons hypothetisches Verfahren im ›Menon‹, in: Hermes 105 (1977), S. 257 ff., sowie Th. Ebert, Meinung und Wissen in der Philosophie Platons. Untersuchungen zum ›Charmides‹, ›Menon‹ und ›Staat‹. Berlin, New York 1974, S. 200 ff.

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Protagoras oder: Die Unwissenheit des Sophisten Der besondere Kunstgriff im ›Protagoras‹ besteht darin, dass am Ende jeder der beiden Protagonisten behaupten muss, was er eigentlich zu bestreiten suchte. Protagoras kommt deshalb am Ende zu der Aussage, Tugend sei gar nicht lehrbar. Sokrates zu der umgekehrten, auch von ihm nicht intendierten These, sie sei eben doch lehrbar. Diese Verkehrung, die als »lächerlich« charakterisiert wird, scheint notwendig zu sein, um die aus dem ›Menon‹ vertraute Frage, »wie es sich wohl eigentlich verhält mit der Tugend« (Protagoras 360e8), aufzuklären. Protagoras vertritt an keiner Stelle explizit die These von der Lehrbarkeit der Tugend. Wohl aber bemerkt er, dass »die Leute sagten«, es verhalte sich so. Die Behauptung bleibt also im Bereich der Doxa. Der Kulturentstehungsmythos, der im ersten Teil des Dialoges seinen Ort hat, illustriert die Struktur dieses Problems. Nach der »geringen Weisheit« des Epimetheus angelegt, war der Mensch den nicht-vernünftigen Lebewesen (aloga zoa) an Naturausstattung unterlegen (322a). Prometheus kompensierte diesen Mangel, indem er den Menschen das Feuer brachte. Die beiden Errungenschaften, technische Fertigkeiten und das Feuer, sind nach dem Mythos auf göttliche Ursprünge zurückzuführen: Die ›technai‹ auf Athene, das Feuer auf Hephaistos. Zu den Menschen gelangen sie durch den prometheischen Raub. Doch die Fähigkeit, ein gemeinsames, geteiltes bürgerliches Leben zu führen, die ›politike sophia‹, ist den Menschen nicht von Natur aus mitgegeben. Sie verehrten zwar die Götter, doch zur Vereinigung untereinander fehle ihnen jede Anlage. 19 Der Mythos spricht davon, dass der Götterbote Hermes aufgrund der Gnade des Zeus Einheit und friedliches Zusammenleben verleiht (322c), gegründet auf Recht und Scham. Entscheidend ist dabei das Verbindende: Diese Fähigkeiten sind nicht auf bestimmte Menschengruppen zu begrenzen. Sie müssen die gesamte Polis durchdringen und sie müssen individuiert sein. So ist dieser Gemeinsinn auch eine Gabe und nicht Ergebnis eines Raubes. Zeus sanktioEine ›Unschuld‹ des anfänglichen Naturzustandes kennt der Kulturentstehungsmythos bekanntlich nicht. Vgl. G. Picht, Platons Dialoge ›Nomoi‹ und ›Symposion‹, a. a. O., S. 123 ff., siehe auch K. Reinhardt, Platons Mythen, in: ders., Vermächtnis der Antike. Gesammelte Essays zur Philosophie und Geschichtsschreibung. Göttingen 2 1989, S. 233 ff. 19

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niert dies in einem göttlichen Gesetz, wonach man den, »der Scham und Recht sich anzueignen unfähig ist, töte, wie einen bösen Schaden des Staates« (322d). Die mythische Rede gibt die »Meinung der Vielen« wieder. Sie beruht auf der Minimalanforderung des Anscheins von Recht, von der sich dann Glaukon und Adeimantos in der ›Politeia‹ absetzen: »Jeder müsse wenigstens behaupten, er sei gerecht, möge er es sein oder nicht, oder er wäre verrückt, wenn er sich die Gerechtigkeit nicht zuschriebe« (323b). Im Sinn dieser doxahaften allgemeinen Behauptung wird allgemein die Lehrbarkeit der Tugend angenommen. Tugend ist dabei die politische Tugend, die reale und faktisch existierende Stadtstaaten voraussetzt (323c–d). Sokrates’ Hinweis, dass es in Athen keine Lehrer der Tugend gegeben habe, entkräftet Protagoras mit dem Hinweis, dass Sokrates so nur urteilen konnte, weil es niemanden gebe, der nicht zumindest in irgendeiner Weise an der Konvention der ›politike areté‹ teilhabe. Ganz anders wäre es, wenn Sokrates mit einem der Wilden konfrontiert wäre, »wie sie uns im vorigen Jahr der Dichter Pherekrates beim Bacchosfest aufgestellt hat« (327d). Das politische Gesetzesverständnis beruht auf der Meinung, »Tugend sei zu erwerben« (324a). Dies wird gerade in Referenz auf die Strafe gezeigt. Sie habe abschreckende und prophylaktische Wirkung, dass nicht auf ein ander Mal »wieder derselbe noch einer, der diesen bestraft gesehen hat, dasselbe Unrecht begehe« (324b). Deshalb werde man vernunftlose Handlungen oder Handlungen, die rein im Affekt geschehen, auch nicht bestrafen. In den ›Nomoi‹ wird der Gedanke hinzugefügt, dass die Strafe immer unschön ist (Nomoi 853a). Sie verdirbt damit auch die Tektonik der Gesetze, die nicht ein reines Kunstwerk sein können, weil sie Strafbestimmungen enthalten. Protagoras entfaltet seinen Gedanken in einer langen Rede. Dabei vertritt er einen ausgeprägten Konventionalismus. Er zeigt, dass eine politische Ordnung unter positiven Gesetzen erst zum menschlichen Zusammenleben disponiert. Nur an einem einzigen Punkt, der auch aus dem ›Menon‹ bekannt ist, befragt Sokrates diese Rede: der Frage nach der Einheit der Tugend. Protagoras bestreitet diese Einheit nicht von Grund auf. Man könne wohl zu Recht die verschiedenen Einzeltugenden unter einem Namen zusammenfassen und damit eine Gesamttugend annehmen. Doch es sind nach Protagoras getrennte Einzelteile, Membra disiecta. Man kann hier durchaus eine indirekte 181 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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Anspielung auf den Homo mensura-Satz des Protagoras heraushören. Dies zeigt sich vor allem daran, dass auch der Protagoras des Dialogs Gegensätze nach kennzeichender sophistischer Manier für miteinander vereinbar erklärt, ohne dass sie einer weiteren Vermittlung bedürften. Sokrates möchte ihm aber diese Fluchtwege nicht zugestehen: »Ich begehre gar nicht, dass ein solches ›Wenn du willst‹ und ›Wie du meinst‹ untersucht werde, sondern Ich und Du« (331c 4 ff.) 20 Die membra disiecta-Vorstellung des Protagoras wird durch die Analogie der verschiedenen Tugenden mit den Teilen eines Gesichts verdeutlicht. Jeder der Teile sei sowohl dem Ganzen – was das ist, muss freilich offen bleiben – und den anderen Teilen ähnlich und zugleich unähnlich. Sokrates setzt einen eidetischen Begriff des Ganzen dagegen: das Ganze (holon) eines Stoffes wie des Goldes, das alle Einzelzüge durchdringt. Dies ist offensichtlich der Gedanke der Methexis, der Sokrates zugleich zur Frage nach dem Ursprung der Tugend führt. Sie entspringe »aus der Gutartigkeit und Wohlgenährtheit der Seele« (351b). Diese Bestimmung wird gerade im Blick auf die Tugend der Seele getroffen, die am partikularsten ist: die Tapferkeit. Bereits sie verweist, so die pointierte Anlage im ›Protagoras‹, auf die gesamte Seelentugend, und eben dadurch ist sie von verwechselbaren, ähnlichen Gestalten zu unterscheiden, wie der Dreistigkeit (tharsos), die nur aus dem Thymos, dem zornartigen Teil hervorgeht. Der Protagoras ist in der Form und in seinem Gehalt ein mehrsträngiger Dialog: So enthält er ziemlich genau in seiner Mitte eine Methodenreflexion über die Länge der Redebeiträge (334c). Die kurzen, schmucklosen Reden im sokratischen Elenchos haben den großen Vorzug, dass nichts behauptet bzw. zugegeben werden muss, dem sich nicht wirklich zustimmen lässt. Sodann enthält der Dialog auch eine konkrete Dichtungskritik: über ein Gedicht des Simonides, das die Tugend rühmt, aber im Sinne von Protagoras dabei einen Widerspruch begeht. Dieser Umweg über die Dichtung erweist sich als Exkurs und Intermezzo, und es ist dann gerade Sokrates, der vorschlägt, dass man die Gedichte besser beiseite lassen sollte (347a). Unterschwellig wird in dieser Klärung auch der Unterschied von ›sein‹ und ›werden‹, wie im Vorgriff auf die späten dialektischen Dialoge, schon aufgenommen. Vgl. Krämer, Arete bei Platon und Aristoteles, a. a. O., S. 87 ff. und S. 119 ff.; siehe auch Th. A. Szlezák, Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie, a. a. O., S. 160 ff.

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Der eigentliche Probierstein ist aber die Frage nach Lust und Unlust. Damit werden Schein und Wirklichkeit der Tugend in ihrer Verschränkung sichtbar gemacht. Es wird also der Weg eines »gemischten Lebens« gewählt, der in der ›Politeia‹ durch die Einlassung von Glaukon und Adeimantos einer Ausklammerung unterzogen werden wird. Die Untersuchung zeigt, dass durchaus auch vom Glück ein Weg zur ganzen Tugend gegangen werden kann, da Lust (hedone) und damit jede Form der Glückseligkeit sich vom umfassenden Zweck des Guten (agathon) her verstehen lässt. Im Dialog war die Aussage getroffen worden, niemand tue »freiwillig Böses« (345c). Sie wird jetzt dahin präzisiert, dass sich Lust und damit jede Form von Glück nur angemessen von der umfassenden Zweckhaftigkeit (hou heneka) des Guten her verstehen lassen. Daher könne man auch nicht sagen, ein Mensch tue Böses, weil er vom Bestreben nach Lust überwältigt werde. »Denn die Sache hat nun einen anderen Namen bekommen und statt Lust heißt sie Gutes« (355c). Doch in einem hedonistischen Kalkül und Abwägungen relativer Formen der Lust kann eine Orientierung nicht gewonnen werden (353c). Am Ende kommt das Gespräch im ›Protagoras‹-Dialog also doch deutlich über die bloße Verkehrung der Standpunkte der sich Unterredenden hinaus: Der Blick richtet sich auf das einschränkungslose Gute als Ziel aller Handlungen und Maximen; profiliert wird damit zugleich Weisheit (sophia) als Erkenntnis des Guten als des in allen Handlungen wesentlich mit Beabsichtigten. Zu einer wahrheitsfiniten Klärung kommt es nicht. Es wird nur konstatiert: »Was für eine Kunst und Erkenntnis dies nun sein wird, wollen wir hernach sehen, dass es aber eine Erkenntnis ist, soviel ist jetzt hinreichend zu dem Beweis, den ich und Protagoras zu führen haben über das, wonach ihr uns gefragt habt« (357b). Damit sind einige der Fäden im Protagoras-Dialog wieder aufgenommen. Auch das Bild vom Titanen-Brüderpaar Prometheus und Epimetheus kehrt wieder. Die Frage nach der Tugend müsse »prometheisch« sein, heißt es, vorausdenkend, nicht einem Hinterfragen folgend (361d3). Den Vorgriff, die Prolepsis, auf die höchste Idee wird man hier mitklingen hören. Hinterherfragend war dagegen nach Sokrates’ Beurteilung am Dialogende der Zusammenhang von Einheit der Tugend und dem Recht in der Polis behandelt worden. Doch das epimetheische Moment ging in das prometheische über, sobald nach einer Messkunst 183 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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von Lust und Unlust gefragt wurde. Deutlich wurde dabei auch, dass die Meinung die Lebens- und Rechtszusammenhänge der Stadt nicht begründen kann.

III. Scham und Natur: ›Gorgias‹ Scham: Zur Aporie von Gerechtigkeit und Natur Der ›Gorgias‹ ist jener Dialog, in dem es letztlich um das Ganze der sophistischen Lebensform geht: »Wer bist du?« ist die Ausgangsfrage, die an Gorgias gerichtet wird. Kennzeichnend ist dabei, dass Sokrates sich zu Gorgias auf den Weg macht. Er möchte ihn befragen, gewissermaßen stellen: nicht zufällig in der Zwiesprache, sondern indem er die Begegnung herbeiführt. Die Einheit des ›Gorgias‹-Dialogs wird indessen nicht nur und vielleicht nicht einmal primär argumentativ hergestellt, sondern durch das Motiv der Scham: Die Redewechsel sind darin begründet, dass nach Auffassung der beistehenden Sophisten jeweils einer dem Sokrates zu viel zugestanden habe. Gorgias, um mit ihm zu beginnen, versucht sich allein als Lehrer des Lebens, nicht des guten Lebens (euzen), auszuweisen. Dies entspricht seinem Portrait im ›Menon‹ : »S.: Oder wie, diese Sophisten, die sich allein dafür ausgeben, dünken dich diese Lehrer der Tugend zu sein? M: Eben das, o Sokrates, liebe ich so vorzüglich am Gorgias, dass du ihn gewiss nie dergleichen versprechen hörst: vielmehr lacht er auch über die Andern, wenn er es sie versprechen hört. Nur im Reden meint er, Andere stark machen zu können« (Menon 95b–c). Dabei wird festgehalten, dass es die größten und bedeutendsten Dinge sind, auf die in den Reden Bezug genommen wird. Sie werden zunächst mit den politischen Belangen identifiziert. Doch kann es, Gorgias zufolge (433a 8 f.), in der Rhetorik nur darum gehen, Glauben und Meinung (pistis und doxa) zu erzeugen über das Gerechte und Ungerechte, nicht aber Wissen. Insofern ist zu allererst die Rhetorik Erbin der Lügenkünste des alten Epos und, wenngleich weniger evident, der dramatischen Kunst. 21 Vgl. die Deutungen des Motivs der Scham, die zwischen rhetorischen, dramaturgischen und sachlich-propositionalen Strukturen changieren: W. H. Race, Shame in Plato’s Gorgias, in: Classical Journal 74 (1978/79), S. 197 ff., R. McKim, Shame and

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Scham und Natur: ›Gorgias‹

Gorgias gibt allerdings eines aus Scham zu: dass der Redekünstler an allem nur aufgrund des Scheins sein Interesse nehme, nicht aber an Recht und Unrecht. Zugleich aber vertritt jeder Sophist eine Lebensform, einen ›Bios‹. Damit wird der Widerspruch offensichtlich: Er kann sich dann nämlich nicht wie ein Technit gegenüber den Folgen dessen, was er die Seinen gelehrt hat, exkulpieren und es geschehen lassen. Hier ist vielmehr eine umfassende ethische Identität im Spiel. Sophisten nehmen dies als Schwäche, weil sie es als Schande auffassen, widerlegt worden zu sein. Die Scham zieht Schande nach sich. Sokrates formuliert, dass die Scham Schändliches ans Licht bringe. In der Redenfolge wird Gorgias von Polos abgelöst, der die Grenze der Scham und Schande weiter verschiebt. Er gibt sich dezidiert als Rhetoriker zu erkennen. Die Rhetorik firmiert dabei als Erzeugung von Lust und letztlich als schmeichlerische Fertigkeit, die aber nichts bessert: Damit werden die strikten Grundlinien der Analyse des ›Idion ergon‹, der Bezogenheit der tatsächlichen oder vermeintlichen Fertigkeit auf ein Werk, verlassen und es wird behauptet, dass es Künste gibt, die nicht Seiendes, sondern lediglich einen Anschein ›besorgen‹. Sokrates verbindet in der Polos-Rede indes, unter der Maßgabe, dass es eine sophistisch rhetorische Lebensform gibt, zwei Probleme miteinander: zum einen den Nachweis der genuinen Schwäche der Sophistik und der Tyrannis, da sie beide nur Schein, nicht aber ein in Wahrheit Gutes besorgen. Zum anderen wird die grundlegende Unterscheidung zwischen Unrechtleiden und Unrechttun zum Maßstab erhoben. Der Sophist Polos geht davon aus, dass Unrecht zu leiden ›hässlicher‹ sei als Unrecht zu tun. Sokrates kehrt dieses machtorientierte Verständnis um. Es spitzt sich dabei auf die Legitimation von Strafe zu. Man müsse bedacht sein, sich einer Strafe selbst auszusetzen, da sie die Schädigungen und Korrumpierungen wiederherstellt. Im Kallikles-Gespräch, dem dritten Teil des ›Gorgias‹, werden dann erst Kosmos und Taxis als Bestimmungen der Ordnung nicht nur in ihrer konstitutiven Bedeutung für die Polis-Welt, sondern

Truth in Plato’s Gorgias, in: Ch. L. Griswold (Hg.), Platonic Writings, Platonic Readings. New York, London 1988; ferner H. Niehues-Pröbsting, Überredung zur Einsicht. Der Zusammenhang von Philosophie und Rhetorik, bei Platon und in der Phänomenologie. Frankfurt/Main 1987.

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auch für die natürliche Welt im Ganzen bestimmt. Kosmos und Taxis sind nicht nur normative, es sind zugleich ontologische Begriffe. Der Aufriss der platonischen Auseinandersetzung mit der Sophistik ist damit noch nicht zu Ende geführt: Philosophisch geht es darum, die Möglichkeit von Täuschung zu erklären. Es wird auch hier der dem Erkenntnisproblem gewidmete ›Theaitetos‹-Dialog sein, der dieser Spur nachgeht und der einen Definitionsbegriff von Wissen (episteme) gewinnen muss, um einen Begriff der Täuschung (des pseudesthai) zu finden. Gerade am Ende des ›Theaitetos‹ erweist es sich aber als höchst fraglich, ob es eine solche Erkenntnis überhaupt geben kann oder ob nicht die Überlegungen bei der ›alethes doxa‹, die aber nicht wirklich zur Rechenschaft fähig ist, stehen bleiben müssen. Im Spätdialog ›Sophistes‹, der mit dem ›Politikos‹ und dem ›Parmenides‹ die Grundlinien des ungeschrieben bleibenden Dialogs ›Philosophos‹ bildet, wird am Ende ein dihairetischer Begriff der Sophisten gewonnen, der in unserem Zusammenhang aufschlussreich ist (268c). Die Scham ist das Grundmotiv, das die jüngere Forschung am ›Gorgias‹-Dialog besonders betont hat. 22 Der Vorwurf, der Scham über die eigenen Behauptungen verfallen zu sein, wird leitmotivisch jeweils von einem Gesprächspartner zum nächsten übergeleitet. Mit dem, auch gegen den eigenen Willen, physisch durch Erröten oder sich aufstellende Haare gezeigten Schamempfinden scheitert der jeweilige sophistische Versuch, zu zeigen, dass es keine Wesensnatur der Gerechtigkeit gebe und dass Tugend nur willkürliche Setzung sei. Polos schaltet sich ins Gespräch ein, nachdem Gorgias zugegeben hat, dass auch die Redekunst in ihrem Wesen mit Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit zu tun habe (460e). Er führt, verbunden mit dem Vorwurf, Sokrates rede als Sophist, der den anderen nur zu einem Zugeständnis an die billig geteilten Auffassungen der Vielen bewegen wolle, die Ausgangsthese des Gorgias in ihrer ganzen Radikalität weiter: dass die Technik des Redners nicht an bestimmte Inhalte gebunden sein müsse und lediglich Kunst des Überredens sei (451d ff. und 462b). Vgl. dazu Th. Kobusch, Wie man leben soll: Gorgias, in: Kobusch, Mojsisch (Hg.), Platon, a. a. O., S. 47 ff. Siehe auch K.-H. Ilting, Bedürfnis und Norm. Platons Begründung der Ethik, in: ders., Grundfragen der praktischen Philosophie, hg. von P. Becchi und H. Hoppe. Frankfurt/Main 1994.

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Gerade darin liege ihre Macht. Macht aber ist, wie Gorgias auch zu verstehen gegeben hatte (462e), neben der Freiheit das wesentlichste menschliche Gut. Gerade in dem zweiten Teilgespräch, der Zwiesprache mit Polos, wird deutlich, dass der ›Gorgias‹-Dialog nur vordergründig von der als Untersuchungsskopus angegebenen Frage, was der Rhetor ist, bestimmt wird. Im Inneren geht es um etwas anderes: um die Frage, wie man leben soll, sodass das Leben glücklich ist. Deshalb kann Polos gegen Sokrates das Beispiel eines Tyrannen wie des Archelaos ins Feld führen, der die Macht hat, alles zu tun, was er will, und deshalb auch glücklich genannt werden kann. Der Satz, der im ›Gorgias‹ zentral zur Erörterung steht, ob Unrecht zu leiden besser ist als Unrecht zu tun, verbindet beide Fragen miteinander: die Frage nach dem Wesen der Rhetorik und die Frage nach dem je guten Leben (471d ff.). Wie Theo Kobusch mit Recht gezeigt hat, 23 verknüpft Sokrates im ersten Schritt der Auseinandersetzung mit Polos (467a1 ff.) zwei Untersuchungsfelder miteinander: die Frage nach dem Handeln und jene nach der Macht. Auch dies liegt im Sinn der Vorgaben seiner Gegner. Zugleich aber kann Sokrates sie an diesem Leitfaden ihres Nichtwissens überführen. Denn Tyrann und Rhetor, deren Glück sich darin zeigt, tun zu können, was sie wollen, sind gemäß der höchsten Lebensbestimmungen des Gorgias bei Licht besehen weder frei noch mächtig. Denn sie haben keine Erkenntnis dessen, was zu tun eigentlich gut ist, sei es nur für sie und zur Erlangung bestimmter Zwecke, sei es überhaupt. Unterschieden wird dabei im Sinn einer Zweck-Mitte-Relation zwischen dem eigentlich Guten, das gewollt wird, und jenen Handlungen (pragmata), die getan werden müssen, damit das intendierte Gute verwirklicht werden kann. Solche Handlungen können, gesteht Sokrates zu, sowohl Adiaphora sein, also weder gut noch schlecht, als auch ausdrücklich schlecht (468a f.). Doch muss man wissen, zu welchem Zweck man sie tut (468b). Weiß man um diesen Unterschied von Mittel und Zweck nicht, so ist man seiner eigenen Handlungen nicht eigentlich mächtig. Dann wird man Unrecht tun, weil man das Gute nicht kennt, nicht aber, weil man das Unrecht ausdrücklich wählen würde (474b f.). Diese Aussage des Sokrates wird später mit dem Verweis auf die »eisernen und stählernen Gründe« besiegelt (509a), in denen niedergelegt ist, dass Unrechttun immer schlechter sei als Th. Kobusch, a. a. O., S. 57 ff., siehe auch C. H. Kahn, Drama and Dialectic in Plato’s Gorgias. Oxford Studies in Ancient Philosophy I (1983), S. 75 ff.

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Unrecht zu leiden. Da diese Gründe keiner weiteren Begründung bedürfen, ja da es sogar ein Zeichen von Unerzogenheit wäre, solche Gründe einzufordern, scheint es eigentlich unmöglich zu sein, dass jemand willentlich dem Unrechttun den Vorzug gibt (474b). Wenn Sokrates in einem zweiten Gesprächsgang den schändlichen (aischron) Charakter des Unrechttuns daran namhaft macht, dass es »hässlich« sei, so bedeutet dies nicht, dass ein enger Konnex zwischen ästhetischer und moralischer Erwägung hergestellt werden sollte. Vielmehr soll durch diese Analogie darauf verwiesen werden, dass sich die Schädlichkeit und Schändlichkeit moralisch schlechter Handlungen in der Hässlichkeit zeigt. Die Tabuierungen brechende Handlung zerstört Harmonie und Gleichmaß. In diesem Licht ist es deshalb zu verstehen, dass der Übeltäter, der einer Strafe zugeführt wird, glücklicher zu nennen ist als der, dem dies nicht widerfährt. Denn die Strafe stellt jene Ordnung und Harmonie wieder her, die durch die Untat zerstört worden sind (476 ff.). Dem antwortet das Eingeständnis des Polos, der den sokratischen Grundsatz, Unrechtleiden sei besser als Unrechttun, als wahr eingesteht, um sich, diesmal von Kallikles, den Vorwurf gefallen lassen zu müssen, er habe dies ohne Not, doch aus Scham zugegeben (482c f.). Auf den engen etymologischen Zusammenhang von sich Schämen (aischynthenai) und Schande (aischyne) wird hier beziehungsreich angespielt. Kallikles, der nun den Polos ablöst, versteht diesen Konnex im Sinn eines sophistischen Standardargumentes so, dass Sokrates durch Setzung (thesei) Scham erzeugen wolle und durch Gesetze die ungezügelte Freiheit der Natur, in der Angenehmes und Gutes miteinander identisch seien, zwanghaft zu bannen suche (494c1 ff.). Derart in anderen Scham zu erregen, sei aber selbst in hohem Maße schändlich, ein Vorwurf, den im Jahrtausendeecho Nietzsche wiederholen wird. 24 Ein mitdenkender Hörer und Leser wird diese Aussage gegen Kallikles verstehen: Die immer wieder aufbrechenden und inkriminierten Schamäußerungen der sophistisch rhetorischen Gesprächspartner des Sokrates wird er spätestens mit dem KalliklesVorwurf als eine Art von Selbstentlarvung interpretieren. Sie sind auf das Schändliche in ihren eigenen Gedanken gestoßen und wehren es deshalb beim Gesprächspartner umso vehementer ab. Auch Kallikles nämlich bleibt von Regungen der Scham nicht Vgl. Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, in: KSA 5, vor allem S. 265 ff. und S. 299 ff.

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frei. Er beginnt zwar mit einer vollends amoralischen Position: die ethische Lehre vom Guten und Gerechten sei reine Setzung und wider die »ursprüngliche und echte Natur«, die ausschließlich im Begehren besteht (482c ff.). Der Natur gemäß wäre nicht die sophrosyne, die Sokrates unermüdlich anmahnt, sondern dies, alle Begierden zuzulassen, ja noch zu steigern und auszuleben. »Allein dies, meine ich, sind eben die Meisten nicht im Stande, weshalb sie gerade solche Menschen tadeln aus Scham (aischron), ihr eigenes Unvermögen verbergen, und sagen, die Ungebundenheit sei etwas Schändliches, um, wie ich auch vorher schon sagte, die von Natur besseren Menschen einzuzwängen; und weil sie selbst ihren Lüsten keine Befriedigung zu verschaffen vermögen, so loben sie die Besonnenheit und die Gerechtigkeit ihrer eigenen Unmännlichkeit (anandrían) wegen« (492a). Auch wenn man nicht die Einzelheiten des Argumentationsgangs verfolgt, wird die Position des Kallikles in doppelter Weise widerlegt. Einerseits müsste er einräumen, dass, sofern es gesetzliche Festlegungen (nomoi) gibt, die von den vielen Schwachen stammen, sich diese doch der Natur nach als stärker erwiesen haben als die wenigen Starken. Deshalb wären sie, auch wenn man nur die Begehrensnatur annimmt, vorzuziehen (1). In einem zweiten Schritt muss Kallikles allein aufgrund von argumentativen und phänomenalen Evidenzen einräumen, dass es bessere und schlechtere Arten von Lust gibt. Das Angenehme und das Gute sind nicht einerlei (2). Dies kann einerseits der Blick auf das Verhältnis der Gegensätze von gut bzw. böse und angenehm bzw. unangenehm zeigen: Zwar muss Kallikles sehr gegen seinen Willen eingestehen, dass einem Menschen zwar zur gleichen Zeit Lust und Unlust einwohnen könne (497a), dass er aber nicht gleichzeitig gut und schlecht sein kann. Damit deutet sich ein Unterschied an, der darauf verweist, dass von ›gut‹ und ›schlecht‹ eben nicht, zumindest nicht ausschließlich im gleichen relativen Sinn die Rede sein kann wie von anderen Eigenschaften. Weiter ist allein im Blick auf Phänomene zu zeigen, dass sowohl dem Guten wie dem Schlechten Lust und Unlust einwohnen könne (498a ff.) (3). Wenn sich Kallikles auch in Einzelüberlegungen durch Vernunftgründe leiten lässt, so schreckt er doch, je näher das Eingeständnis der Unhaltbarkeit seiner wahrheitsindifferenten Auffassungen rückt, vor diesem Schritt zurück (499c). Dies führt auf der performativen Gesprächsebene dazu, dass er die freundschaftliche Gemeinschaft, auf der das Zwiegespräch beruht, durch Täuschungsmanöver 189 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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»missbraucht«. Dies ist deshalb von so großer Bedeutung, da durch diese letztlich hilflosen rhetorischen Manöver deutlich wird, dass Kallikles sich weigert, sich der philosophischen Therapie zu unterziehen. Sie würde, wie Sokrates ihm zeigt, nicht nur zu wahrheitsfähigen Propositionen führen, sondern dazu, dass die Ordnung seiner Seele durch Zügelung wiederhergestellt wird. Gewiss geht es ihm, der zuletzt den Scham-Vorwurf erhoben hat, auch darum, selbst möglichst lange kein Eingeständnis eigener Schändlichkeit zu machen. Dies ist gleichsam die agonale Ebene des Dialogs. In einem unauffälligen Hinweis zeigt sich aber, dass er dies gar nicht vermeiden kann und gleichsam affektiv auf einen natürlichen ethischen Maßstab bezogen ist. Als Sokrates Kallikles’ Auffassung, dass die ungezügelte Lust glücklich und mithin angenehm und damit gut genannt werden dürfe (494d f.), an dem Beispiel illustriert, dass dann auch das Leben des Knabenschänders glückselig genannt werden müsste (494e), appelliert ausgerechnet er an das Schamempfinden von Sokrates. Damit ist an ihm selbst der Zusammenhang von ›Scham‹ und ›Schändlichkeit‹ und damit die Wesensnatur der Scham drastischer deutlich geworden als bei seinen Vorrednern, und es hat sich erstmals, dank Kallikles’ Selbstdemaskierung, gezeigt, dass Scham in einem natürlichen Empfinden wurzelt. Mehr noch: von seiner affektiven Reaktion ausgehend, die ihn dazu nötigte, den Sokrates zur Scham zu mahnen, ist der Verweisungszusammenhang von ›Scham‹ und ›schändlich‹ gar nicht mehr anders zu verstehen denn als Hinweis auf einen letzten, nämlich in der äußeren Natur – der Affekte – angelegten Verweisungszusammenhang auf die Sphäre des Guten und der Gerechtigkeit. Indirekt zeigt sich im ›Gorgias‹, wie eng der logoshafte Aufweis, der Blick auf Phänomenzusammenhänge, und das leitmotivische Spiel mit dem sprachlichen Zusammenhang der Scham und des Schändlichen verflochten sind, um wie im Vorblick auf die ›Politeia‹, vor allem ihr IX. Buch, anzuzeigen, was ein gutes Leben sein kann. Einstellen kann sich ein solches Leben nur als Zustand des Befreundetseins mit der eigenen Seele, die zwischen dem nur scheinbar Guten und dem in Wahrheit Guten zu unterscheiden lehrt. Insofern ist Theo Kobusch gegen McKim zuzustimmen, 25 wenn er im ›GorKobusch, a. a. O.; siehe McKim, Shame and Truth in Plato’s Gorgias, in: Ch. L. Griswold (Hg.), Platonic Writings, Platonic Readings. New York, London 1988, S. 34 ff.

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gias‹ keinen Bruch zwischen der gleichsam affektiven und der argumentativen ›Beweisführung‹ anerkennen will. Dies wird ganz offensichtlich, wenn Sokrates dem Kallikles am Ende zu verstehen gibt, dass die Eingeständnisse von Gorgias und Polos, die ihm aus Scham geschehen zu sein scheinen, wahr seien: »Und was Polos dir schien aus Scham zugegeben zu haben, das war also wahr (alethé), dass nämlich das Unrechttun um wieviel schändlicher, um so viel auch übler wäre als das Unrechtleiden – und dass, wer ein rechter Redner werden soll, notwendig gerecht und des Rechts kundig sein müsse, was wiederum Gorgias nach Polos’ Rede aus Scham soll eingeräumt haben« (508b–c). Der behandelte Argumentationszusammenhang führt noch einen Schritt weiter. Denn schon mit der eigentlich leitenden Frage, wie man je sein Leben leben soll, wird die Suche nach der richtigen Vernunft ausdrücklich thematisiert. Die Exposition des Logos führt auf das Ausgangsproblem, der Frage nach dem in seinen Konturen verschwimmenden Wesen des Rhetors zurück. Damit wird das Problem der ›wahren Rhetorik‹ berührt, die Platon im ›Phaidros‹ im Einzelnen explizieren sollte. Wie in einer ersten Annäherung und noch ganz im Negativen der Grenzziehung verbleibend, exponiert also auch der ›Gorgias‹, was dann die Spätdialoge, insbesondere der ›Sophistes‹, weiterführen werden: Das Wesen des Philosophen wird eingekreist, indem ausdrücklich nach Gestalten, mit denen er verwechselt zu werden droht, wie Rhetor oder Sophist, gefragt wird. Umso sinnfälliger ist es, dass Kallikles an dieser Stelle und sobald er einsieht, dass seine diffuse Redeweise zur Verteidigung seiner Auffassung nichts austrägt, ins Schweigen verfällt (505c). Dadurch gibt er am deutlichsten zu verstehen, dass er in der Alogie gefangen ist; und es wird durch sein Beispiel negativ auch deutlich, was das Gebot des Logos wäre. Durch sein Schweigen liefert er eine Folie für den Logos. Diese Fragedimension wird schließlich auch auf dem Wege des eschatologischen Mythos angenähert, der den ›Gorgias‹ abschließt. Obwohl Platons Mythen ein eigenes Kapitel gewidmet ist, kann dieser Faden hier noch einmal aufgenommen werden: Der Mythos berichtet vom philosophischen Richteramt und der angemessenen Strafzumessung. Im Seelengericht gebe es kein Verfahren mit vielen Zeugen, die den Richter doch nur verwirren. Stattdessen soll der göttliche Richter 191 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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»mit der Seele selbst die Seele des Gestorbenen« prüfen und wägen. Das Totengericht nimmt sich dann wie ein ins Eschatologische gewendetes sokratisches Gespräch aus. Nackt und frei von allem Pomp steht die Seele zur Prüfung an. Von hier her erklärt sich, wie das Gute, das die Philosophie aufweist, für den Menschen zur Hilfe werden kann. Zur Strafvermeidung und dazu, dass er kein Unrecht leiden muss, wird sie ihm nicht verhelfen.

Wer der Rhetor ist Von Gorgias löst sich der Gesprächsgang des nach ihm benannten Dialogs weitgehend ab. Deshalb scheint es sinnvoll, auf die Titel gebende Gestalt zurückzukommen. »Hostis estin«: wer Gorgias sei, so soll nach Sokrates’ Wunsch Chairephon den berühmten Redner fragen (447c). Nicht nur nach seiner Kunstfertigkeit und danach, ob er überhaupt eine hat, wird also gefragt, sondern nach seiner Lebensform und Lebenspraxis. Dass dessen Tätigkeit über den Menschen Aufschluss gibt, wird von Sokrates zunächst in einer ganz vorläufigen Form angedeutet: »Wie wenn er nun einer wäre, der Schuhe verfertigte, er dir dann gewiss antworten würde, er wäre ein Lederarbeiter« (447d). Später, als die Frage nach der Lebensform explizit aufkommt (500c), zeigt sich, dass darin mehr liegt. An der Lebensform bezeugt sich letztlich die Wahrheit oder Unwahrheit der argumentativ eingenommenen Positionen. Weil sie, ohne darum zu wissen, diesen Ernst erspüren, sind die jugendlichen Begleiter des bekannten Rhetors in Verlegenheit. Entweder verstehen sie gar nicht, so wie Chairephon, oder sie drängen nach einem überstürzten Lob des Glanzes und Pomps von Gorgias. Doch die Frage, wer er ist und wie er lebt, entzieht sich aller Apologetik (vgl. 449a). 26 Die Parallele zwischen ›techné‹ und Praxis, und damit der Grundhaltung eines Menschen, verdichtet sich, sobald Sokrates die erste Kennzeichnung der Kunst des Rhetors als »Überredung in der Seele des Hörenden« wiedergibt (453a). Gorgias, die glänzende Figur der Rhetorik seiner Zeit, Vgl. hier insbesondere die Überlegungen zur dramatischen Gestalt des ›Gorgias‹ : H. Gundert, Dialog und Dialektik. Zur Struktur des platonischen Dialogs. Amsterdam 1971, S. 38 ff., siehe auch C. H. Kahn, Drama and Dialectic in Plato’s ›Gorgias‹, in: Oxford Studies in Ancient Philosophy 1 (1983), S. 75 ff. Man vergleiche damit die Destruktion der Gattung der ›Apologie‹ in Sokrates’ Verteidigungsrede dadurch, dass er zeigt, wer er ist.

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hatte sich auf eine Außenansicht begrenzt und nur davon gesprochen, dass der Rhetor die Menge zu überreden und damit ihr Vertrauen besser zu erwerben wisse als der Sachkenner (452e). Indirekt ist, wie Ada Neschke-Hentschke treffend bemerkt, 27 auf diese Weise schon in den Blick genommen, dass die Redekunst in den politischen Bereich gehört und, anders als bloße äußerliche Verfahren der Machtausübung, für ihn sogar formierend ist. Sokrates lenkt diese Bestimmung nun auf die innerseelische Dynamik an den Einzelnen, die der öffentlichen Überredung vorausgehen muss. Man könnte darin bereits eine vorausgreifende Anspielung auf die Polis-Seelen-Analogie in der ›Politeia‹ erkennen. Die Bestimmung bedarf aber einer weiteren Spezifizierung, denn auch andere ›technai‹, die Mathematik etwa, überreden. Gorgias gibt die nähere Definition aus seiner Sicht mit Verweis auf den Ort und die Hinsicht der Rhetorik: die Kunst des Rhetors richte sich auf das, »was gerecht ist und ungerecht« (454b). Damit ist das leitende Thema des Dialoges, die Frage nach der Gerechtigkeit, genannt. Sie wird im Zentrum bleiben, bis Polos sie beiseiteschiebt. Doch diese Näherbestimmung ist zugleich trügerisch. Denn sie fordert die Unterscheidung zwischen ›mathesis‹ (Erkenntnis) und ›pistis‹ (Glauben), zwischen ›episteme‹ als wirklichem Wissen und ›doxa‹ (Meinung) heraus. Diese Fragen sind von neuralgischer Bedeutung. Denn Gorgias hatte sich gerühmt, dass der Rhetor als nur zum Schein Wissender das Vertrauen der Vielen mehr verdiene als der wahrhaft Kundige (u. a. 452e und 456b), und er musste insofern eingestehen, dass der Kunstgriff der Rhetorik, ihre List (mechané) darin liege, dass er zu wissen scheine. Er muss mehr zu wissen scheinen als diejenigen, die wirkliches Wissen haben (459b). Nachdem Sokrates dem Gorgias erklärte, dass dann die Rhetorik nur den Schein von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit aufweise, nicht aber deren Wesen, erscheint seine Anmaßung, das Wissen über das Gerechte und Ungerechte lehren zu können, widerlegt zu sein. Zum einen wird dadurch der Blick auf die Frage nach dem Wissen um das Gerechte gerichtet. Sie wird im ›Gorgias‹-Dialog selbst nicht beantwortet. Gleichwohl wird sie immer wieder umkreist. A. Neschke-Hentschke, Politik und Philosophie bei Platon und Aristoteles. Die Stellung der ›NOMOI‹ im Platonischen Gesamtwerk und die politische Theorie des Aristoteles. Frankfurt/Main 1971, S. 399 ff.

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Zum anderen ist von hier her zu zeigen, wie gerade die Rhetorik eine Macht über die Seelen der Hörenden ausübt (453a). Dies wider Willen betont zu haben, bleibt die richtige Einsicht in Gorgias’ Einlassung. Dabei sucht der berühmte Rhetor aber den Ernst und das Gewicht der Frage, wer er sei, abzuwiegeln, wenn er in einer Rede, auf die Sokrates Bezug nimmt, in Zweifel zieht, dass dem Lehrer Schuld zukomme, wenn der Schüler die Redekunst ungerecht (adikos) gebrauche (460d). Sprechend ist allein schon der Vergleich, den Gorgias selbst wählt: er vergleicht die Redner mit Fecht- und Turnmeistern. Auch sie sind offensichtlich nicht dafür haftbar zu machen, welchen Gebrauch oder Missbrauch die Schüler von ihrem Wissen machen. Neben diesem am Phänomen haftenden Widerspruch ist ein zweiter von eher prinzipieller Natur namhaft zu machen: Wenn die Redekunst ihr Ziel in der Erzeugung wahrer Einsichten hätte, wäre zwischen richtigem und unrechtem Gebrauch klar zu unterscheiden. An dieser Stelle kommt vor der leitenden Frage der Gerechtigkeit das sophistisch rhetorische Selbstverständnis in die Aporie. Der junge Polos, der Gorgias als Gesprächspartner des Sokrates ablöst, bemerkt dies sehr genau. Allerdings antizipiert er in seiner versuchten Rettung das, was als Grundzug der Rhetorik namhaft gemacht werden wird: die Neigung zur Schmeichelei (kolakía). Denn er hält die Widersprüche, in die sich Gorgias ganz offensichtlich verstrickt, nicht für unvermeidbar und rettet damit schmeichelnd den Rang des Gorgias als Meister der Reden. Die Verlockung, die von den Fragen des Sokrates ausgegangen sei, sei zu suggestiv gewesen: »Denn wer meinst du wohl würde leugnen wollen, dass er selbst nicht des Gerechten kundig sei, und es auch Andere lehren könne? Aber auf dergleichen die Rede hinzuführen ist sehr ungesittet« (461c). Damit werde dem Rhetor nämlich die Kenntnis der Gerechtigkeit abgestritten. Das Leitthema wird später wiederaufgenommen (463c), wenn Sokrates die Rhetorik als Schattenbild (eidolon) eines Teils der Politik, nämlich der Pflege des Rechts, und damit als teilhaftig nicht am Guten, sondern nur am angenehm Schmeichlerischen ausweist. Polos aber zeigt auf der performativen Ebene viel vom Wesen des Redners. Er nimmt zunächst (466a–467c) aus eigenen Stücken die Position des Antwortenden ein. Dabei erweist sich, dass er ihr nicht gewachsen ist. Dann verliert er sich in Lobreden auf die Rhetorik. Am Ende (474c–481b) findet er sich in der Position des Antwortenden wieder. Dieser unstete Wechsel bekundet nur Sokrates’ Wort (471d), dass Polos der langen Reden mächtig sei, nicht aber des ›dialegesthai‹. 194 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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Wiederholt wird darauf hingewiesen (vgl. 472c), dass Polos einen äußerlichen Schein-Elenchos führt, der kaum etwas mit der maieutischen Frage nach der Seele gemeinsam hat. 28 Dieser dramaturgischen Exposition einer Selbst-Entdeckung wider Willen entspricht es, dass die zentrale Frage nach der Gerechtigkeit, die Polos aus dem Gespräch verbannen wollte, tatsächlich den Gesprächsgang in immer größerem Maße bestimmt. Sokrates gibt seine Auffassung der Rhetorik mit den Worten: »Schmeichelei nun nenne ich das, und behaupte, es sei etwas schlechtes, o Polos, denn zu dir sage ich dies, weil es das Angenehme zu treffen sucht ohne das Beste. Eine Kunst aber leugne ich, dass es sei; sondern nur eine Übung (empeiria), weil sie keine Einsicht hat von dem, was sie anwendet, was es wohl seiner Natur nach ist, und also den Grund (aitia) von einem jeden nicht anzugeben weiß« (464e–465a). Die später in systematischem Betracht entwickelte Grundunterscheidung zwischen Fertigkeit (techné) und Erfahrung (empeiria) ist hier antizipiert (503d ff.). Systematisch werden beide sich erst im Licht der Besonnenheit (sophrosyne) unterscheiden lassen. Von der Besonnenheit aber ist zunächst noch keine Rede. Wohl aber ist zentral von Bestheit die Rede, dem Guten als dem eigentlichen Zweck, um den es der Sache nach in Handlungen und im Willen geht. Dies ist bereits im Polos-Gespräch Anlass genug für eine bemerkenswerte Vertiefung der Bestimmung der Gerechtigkeit. Sie führt in den Kern der Unterscheidung zwischen ›wahrer‹ und ›falscher Politik‹. Es geht zugleich um die Achtung und das Ansehen der Rhetorik. Doch wird sie überhaupt geachtet? Sokrates bestreitet dies (466b). Gemäß der vordergründigen Selbsteinschätzung des Gorgias (vgl. 452e) überführt Polos die Frage nach der Achtung in jene nach der Macht und gemäß seiner einstigen Übersetzung dieses Gedankens auf das »Vermögen einer Überredung in der Seele des Hörenden« (vgl. 453a) knüpft Sokrates den Gedanken der Macht an die eigentliche ›Herrschaft‹, die wissende Bindung des Willens an die Bestheit. Dies meint: in Wahrheit mächtig ist nur wer seiner selbst mächtig ist. Und das heißt nichts anderes als: wer zu bewirken sucht, was er wahrhaft will. Implizit ist damit zwischen ›Gewalt‹ und ›Macht‹ unterschieden.

Vgl. neben den genannten Arbeiten von Kobusch und McKim auch P. Stemmer, Unrecht Tun ist schlechter als Unrecht Leiden. Zur Begründung moralischen Handelns im platonischen ›Gorgias‹, in: ZPhF 39 (1985), S. 501 ff.

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Sokrates differenziert hier, anders als dann im Kallikles-Gespräch, dem dritten Teil des ›Gorgias‹, neben Schlechtem und Gutem noch ein Mittleres, das weder-noch ist. Dieses unbestimmte Zwischen (metaxy) bestimmt sich deshalb nach der einen oder der anderen Seite. Entweder ein Mittleres wird um seiner selbst willen getan, dann bedeutet es den Abfall von der Bestheit hin zum Schlechten, oder es wird um des Schlechten willen getan: dann ist ohnedies klar, wohin die Handlung führt. Nur wenn das Mittlere um des Guten willen getan oder auch nur gewollt wird, vermehrt es die Gerechtigkeit und damit notwendigerweise die Macht (dynamis), sich selbst und der Polis gegenüber (468e). Das größte Übel ist das Unrechttun, nicht das Unrechtleiden. So positioniert sich Sokrates zu dem Leitsatz am Beginn. Die Aussage steht im Zusammenhang einer Erörterung über die Berechtigung zu töten. Wer töten könnte, wen ihm beliebt, wer also über die Maskierungskunst gebieten würde, wie sie im Gleichnis vom Ring des Gyges benannt wird, der wäre nicht zu beneiden. Er führte vielmehr eine elende Existenz (469a). Denn: Beides ist ein Unglück: Unrecht zu leiden und Unrecht zu tun (470a). Doch Unrecht zu tun ist das Unglück, das schwerer wiegt (469c). Ein zweifacher Leitgedanke der guten Politik findet hier Eingang. Einerseits bedeutet sowohl Unrechttun wie Unrechtleiden einen Verlust der Glückseligkeit (Eudaimonía), die Sokrates bereits in der Vorläufigkeit des Polos-Gesprächs als ›rechtschaffen‹ und ›gut sein‹ auffasst (470e). Andrerseits ist jene Lehre von der Gerechtigkeit, die Sokrates vertritt, vom Gerechten als ihrem Zeugen abhängig (472b), während die von Polos in rhetorischer Manier heranzitierten Meinungen nur als Viele und ohne Selbstbezeugung sprechen. Wie er an anderer Stelle erklärt, versteht sich Sokrates nicht auf das Stimmenzählen, also die demokratischen Verfahrensweisen der attischen Polis (474a), wohl aber auf das Wägen dessen, was gerecht ist. Dies setzt einen veränderten Gesichtspunkt voraus. Die Sichtweise des Sokrates ist, wie gleich zu zeigen sein wird, zwar den Gesprächspartnern ansinnbar, sie bleibt aber ein Ärgernis, ein Skandalon. Dies wird offenkundig bei der Frage der Strafe. Im sokratischen Sinn ist jener Ungerechte, der seiner Strafe im Sinne ausgleichender Gerechtigkeit zugeführt wird, deshalb weniger elend als der, der straffrei ausgeht, da die Strafe wie eine Therapie zu verstehen ist. Sie führt ihn wieder dem Guten zu (480c und 481a). 196 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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Sokrates kommt damit auf die Tugend der Tapferkeit zurück. Dieser Tapferkeit gemäß »dem Schneiden und Brennen« des Richters wie dem des Arztes Stand zu halten, ist Tapferkeit vor dem richtig verstandenen Freund. Und genau dies fordert auch Sokrates’ Argumentation dem ab, der sie hört. Gegenüber der weder guten noch schlechten und erst recht gegenüber der schlechten Politik nehmen sich seine Erwägungen absonderlich aus: nämlich a-topisch. Nicht aus Zufall charakterisiert Polos mit genau diesem Prädikat Sokrates’ Rede, obwohl er der Argumentationsführung nichts entgegenzusetzen weiß (480e). Anders dann Kallikles, als er sich aus der vermeintlich übertriebenen Schamhaftigkeit des Polos zu lösen sucht. 29 Er versteht Sokrates’ Rede als Beschreibung einer ›verkehrten Welt‹ – und er versteht sie damit sehr gut. Doch er wendet sich polemisch gegen diese Sicht. »Sokrates, du scheinst blenden zu wollen« (482c). Nur zu offensichtlich ist aber, dass die Blenderei selbst scheinhaft ist und sich als Schein des Scheins damit auch selbst zerstören muss. Sie ist damit Anzeige eines Unwissenden, dass er nun auf die Wahrheit gestoßen sei. Dieser Wahrheit kommt Kallikles an anderer Stelle nicht minder nahe, in seiner Empörung über Sokrates’ atopischen Weltort, der das Erschrecken allzu deutlich anzumerken ist: »Denn wenn du es ernstlich meinst, und das wahr ist was du sagst, so wäre ja wohl das menschliche Leben unter uns ganz verkehrt, und wir täten in allen Dingen das gerade Gegenteil, wie es scheint, von dem was wir sollten?« (481c).

Gerechtigkeit und Besonnenheit. Zum Kern der Argumentation Kallikles bringt die Gegenkonzeption zur sokratischen Gerechtigkeit in einer Rhetorik der Gewalt am unverstelltesten zum Ausdruck. Dies entspricht dem Leitfaden des Thrasymachos-Gesprächs (Politeia I), da auch Kallikles eröffnet, dass Natur und Gesetz, Physis und Nomos, einander größtenteils entgegenstehen (482e). Beides wirft er von hier her dem Sokrates vor: argumentative Künstlichkeit und Konfusion (483a), wenn er vom Gesetz so spreche, als wäre es natürlich. Das Gesetz sei aber, ganz im Sinne des Gedankens von ›PoliC. N. Johnson, Socrates’ Encounter with Polus in Plato’s Gorgias, in: Phoenix 43 (1989), S. 196 ff., sowie K. McTighe, Socrates on Desire for the Good and the Involuntariness of Wrongdoing: Gorgias 466a–468e, in: Phronesis 29 (1984), S. 193 ff.

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teia‹ I, als Satzung der schwächeren Naturen zu verstehen. Sie verwendeten es in Bezug auf ihre eigene Natur und ihren eigenen Nutzen (483c). Im Sinn dieser rigiden Trennung greift Kallikles auch den leitenden Satz auf, ob Unrechttun oder Unrechtleiden besser seien, und interpretiert ihn gemäß seinem Rechtsbegriff um. Unrechtleiden scheint vom Gesetz her verwerflicher als Unrechttun, von Natur aus ist es umgekehrt (483a). Die Begründung ist durch die Begrifflichkeit, die sie verwendet, von besonderem Interesse. Es kommt nämlich ein Begriff des Schönen mit zum Tragen, der von Kallikles mit dem Angenehmen (hedy) gleichgesetzt wird und den er in der Lebensform der ›akolasía‹, des schrankenlosen Auslebens von Begehren und Glück realisiert sieht. Diese Schönheit konzediert Kallikles einer naturwüchsigen Gerechtigkeit, dem »Recht der Natur« (to tes physeos díkaion). Mit dem Zitat eines Pindar-Verses beschwört er sogar das immer währende Gesetz, das der Sterblichen König sei und nach der Natur rechtfertige (484b). So sehr in Kallikles’ Rede sich der ›bios apolaustikòs‹, eine allein auf das Genießen gerichtete Lebensform, äußert, so sehr die Begriffe ›dikaion‹ und ›nomos‹ durch den Kontext eine Umwertung bis zur Unkenntlichkeit und bis in ihr Gegenteil erfahren, 30 so erkennbar die naturalistische Reduktion ist, so kann man doch hinter dem Pindar-Zitat, dem Begriff des Schönen und des göttlichen Nomos die Ahnung eines göttlichen Gesetzes vermuten, die sich nicht im gesetzten Nomos einholen lässt. Davon kann und will Kallikles freilich nichts wissen. Als ihm Sokrates mit Verweis auf die behauptete Trennung von Natur und Gesetz zu verstehen gibt (482b), dass auch er selbst Gesetz und Natur nicht so getrennt behandeln könne, schneidet er die Argumentation ab, mit der Bemerkung, dies sei eine Jagd nur nach Worten (489b), wie sie dem Älteren nicht zukommt. Dagegen setzt er die Realitäten der starken Natur, die sich ungehindert Bahn bricht und »alle Schriften und Gaukeleien und Besprechungen« (484a), zuletzt die Schranken der Scham zertritt. Die beste Lebensform sei also die des unbegrenzten Mehrhabens (Pleonexia) (491e). »Üppigkeit und Ungebundenheit und Freigebigkeit, wenn sie nur Rückhalt haben, sind eben Tugend und Glückseligkeit« (492c). Treffend kann bemerkt werden, dass hier die Lust (hedone) als Gegenprinzip einer sittlichen Tugend und als Inbegriff des naturwüchsigen Tugendbegriffs in eins verstanden werde. 30

Krämer, Arete bei Platon und Aristoteles, a. a. O., S. 62 ff.

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Man sollte aufmerksam zur Kenntnis nehmen, dass Kallikles seine emphatische Zusammenschau gibt, als er bereits der Brüchigkeit seiner Auffassung von Sokrates überführt ist. Im Gesprächsgang ist sein Entwurf einer besten Lebensform, unstrittig einer der dramaturgischen Gipfelpunkte des Dialogs, gleichsam die vorletzte Rückzugsposition. Die letzte wird sein, dass er nur zum Schein Sokrates zugehört und recht gegeben habe, da dieser sich freue wie ein Kind (499c). Denn Sokrates hatte ihn zuvor einer verschiedentlich in seinen Aussagen sich äußernden Undeutlichkeit überführt. Diese Unklarheiten kreisten vor allem um das Verständnis von Gerechtigkeit als Gleichheit (isotes). Sie war für Kallikles deutliches Indiz des aus Schwäche stammenden Begriffs des Gerechten. Da Kallikles seinem Ansatz nach nicht zwischen ›würdiger‹, ›besser‹ und ›stärker‹ unterscheiden kann (488d), muss er einräumen, dass das von den Vielen gesetzte auch das beste und würdigste ist, und er muss zugleich einräumen, dass dies von Natur her so sei. Denn wie könnte er anders als bejahend auf Sokrates’ Frage antworten: »Sind nun nicht die Vielen von Natur stärker als der Eine, da sie ja auch die Gesetze geben für den Einen, wie du auch selbst vorher sagtest?« (ibid.). Um unterscheiden zu können, bedarf es des Maßstabs der Besonnenheit (sophrosyné) (492c ff., 507a–c). Kallikles hatte in seiner Rede vom Naturgesetz betont, »dass der Bessere und Einsichtsvollere herrsche, und mehr habe als die Schlechteren«. Sokrates geht in seiner Erwiderung dem Pleonexia-Begriff nach und zeigt, wie vage und ungreifbar er bleibt. Woran denn solle der Bessere mehr haben: an Kleidung, an Nahrung? Kallikles verwirft diese Einrede als niedrig: geht es ihm doch, in der Sprache der Mysterien, 31 einzig und allein um die »höheren Einweihungen« (491b). Nicht nur die Ungerichtetheit der Pleonexia wird in diesem Licht von Sokrates’ Gegenfrage aufgewiesen. Zweierlei wird so deutlich: Das Mehrhabenwollen kann keine politische Zielsetzung sein. Hat es doch gar keine konkrete Sinnrichtung. Zum anderen werden durch die Sophisten alle Tugenden, Einsicht, Tapferkeit, Wohlberatenheit nur Instrumente der Kratik, des Machtgewinns und -erhalts. 32

Vgl. über die esoterische Dimension der Mysterienerfahrung Chr. Schefer, Platons unsagbare Erfahrung. Ein anderer Zugang zu Platon. Basel 2001. 32 Vgl. auch die ältere Arbeit A. Menzel, Kallikles. Eine Studie zur Geschichte der 31

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IM STRUDEL DER SOPHISTEN

An Sokrates’ eigener Widerlegung ist nicht so sehr der Neueinsatz entscheidend. Er ist nur allzu offensichtlich. Sokrates zielt damit auf eine umfassende Widerlegung der Sophistik, deren einzelne Argumentationsschritte zu unterscheiden sind. Der erste geht von der aus einem Dichterwort aufgenommenen Euripides-Frage aus, ob nicht unser Leben nur ein Tod ist, der Tod aber das eigentliche Leben: die affekthafte Vollzugsweise der Seele und der Leib wären mithin eigentlich als Grab des Menschen zu verstehen. Damit ist nicht nur die Soma-Sema-Entsprechung aus dem ›Gorgias‹ aufgenommen. Es ist zugleich ein dichterisch mythischer Ausblick auf die große Schluss-Erzählung des ›Gorgias‹ gegeben, und Kallikles kann, auch gegen seinen Willen, nicht anders, als der Bannkraft dieser Worte zu folgen. Eher trotzig widersetzt er sich im Weiteren der Evidenz des Bildes. Die Bildkraft verstärkt sich, wenn die begehrende Seele mit einem lecken Fass verglichen wird (492c). Da der begehrenden Seele der Rückhalt entzogen ist, greift das Sinnbild des Euripides, wonach niemand dem Zwang des Begehrens entrinnen kann. Kallikles erwidert, indem er die Analogie zurückweist und eben dadurch wider Willen die Bedenkenlosigkeit, die in seiner Lebensform liegt, bekräftigt. Die Pleonexia, diese zu unbegrenztem Wucher führende Habgier, sei nicht, wie Sokrates es will, dem Zustand zu vergleichen, dass einer seine Fässer gefüllt hat und nichts hineinleitet. Die Lust besteht nicht in der Fülle, sondern im ständigen neuen Zufluss. Andernfalls wäre das Dasein eher der Existenz eines Steins zu vergleichen (494b). Dass die Fülle des Einfließens auch bedeutet, dass vieles ausfließt, bestreitet Kallikles nicht. Wucher und Verschwendung sind einander eng benachbart, und die Verdrängung ist Voraussetzung dafür, dass er seine Lebensform aufrechterhalten kann. Ein zweiter Gesprächszusammenhang nimmt in einer ganz und gar inexplizit bleibenden Weise die platonische Dialektik vorweg, wie sie auf dem Wege vom ›Parmenides‹ zum ›Sophistes‹ entfaltet werden wird. Auch in diesem Betracht kann sich Karl Reinhardts methodische Maxime bestätigen, dass es vielversprechender sein dürfte, den frühen Platon im Licht des späten zu erörtern als umgekehrt. 33 Lehre vom Rechte des Stärkeren, in: Zeitschrift für öffentliches Recht 3 (1922/23), S. 1 ff. 33 K. Reinhardt, Platons Mythen, in: ders., Vermächtnis der Antike. Gesammelte

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Scham und Natur: ›Gorgias‹

Es geht im ›Gorgias‹ nämlich um die Unterscheidung von Teilhabe des Seienden an der Idee und der Identität von Begriffen. Kallikles ist zunächst geneigt, das Angenehme und das Gute für identisch zu halten. Das Durchsprechen vollzieht sich nach mehreren Richtungen. Zunächst wird gezeigt, dass Angenehmes und Gutes nicht miteinander eins sein könnten, weil Lust und Unlust sehr wohl im zeitlichen Nebeneinander auftreten könnten, Gutes und Böses aber auch in zeitlicher Folge einander ausschlössen (497d). Von dieser Zeitstruktur her deutet sich an, dass Böses und Gutes in einem anderen Verhältnis zueinander stehen als die relativen und einander überlagernden Zustände der Lust. Die zweite Teilargumentation kreist um die Frage der ›Parousia‹, der Erscheinung von ›agathon‹ und ›kalon‹ in einem Menschen (497d). Nun wird ausgesagt, dass, bezogen auf Lust und Unlust, von einer derartigen Parusie nicht gesprochen werden kann. Eben darin wird der grundsätzliche Unterschied zwischen Angenehmem und Gutem nach einer anderen Hinsicht erkennbar. Kallikles verstrickt sich in die denkbar größte Konfusion, indem er zunächst auf die offensichtlich absurde Folgerung verfällt, diejenigen, die Lust empfänden, seien gut, diejenigen, die Schmerzen hätten, böse (498e). Dies ist der Punkt, an dem Kallikles endgültig in die Logosfeindschaft und in die Selbstentlarvung als Täuscher verfällt (499b). Diese Alogie ist nur das unfreiwillige Eingeständnis einer Unfähigkeit, die Sachverhalte so zu durchdenken, wie sie in Wahrheit sind. Hieran kann nun der dritte Argumentationsschritt anschließen: die Unterscheidung besserer und schlechterer Lust. Es hat den Anschein, als würde die Lebensform des Kallikles auf diese Weise noch gerechtfertigt werden können. Deshalb ist es auch nicht eigentlich eine analogische Übertragung, wenn zunächst von guten bzw. weniger guten Formen der Lust in Bezug auf den Leib und dann auf die Seele gesprochen wird. Das Problem verschiebt sich so in Richtung auf die Verselbständigung der ersteren auf Kosten der letzteren. Andernfalls könnte man sie als indifferent im Blick auf ›gut‹ und ›böse‹ begreifen. So sehr der Gesichtspunkt des Guten in diesem Teil der Argumentation eine Rolle spielt, so sehr konzentriert sich Sokrates auf die Essays zur Philosophie und Geschichtsschreibung, hgg. von C. Becker. Göttingen 21989, S. 219 ff. Das Diktum ist primär auf Platons Mythen bezogen. Es könnte aber auch darüber hinaus zur Geltung gebracht werden.

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IM STRUDEL DER SOPHISTEN

Verrichtungen, die zu den jeweiligen Arten von Lust gehören. Das Leitmotiv der Fertigkeit, das den Gorgias wiederholt durchzog bis zum Erweis der Rhetorik als einer Schein-Kunst, wird wieder aufgenommen. Die Verrichtungen nämlich, die allein auf die Lust gehen, vom Guten und Bösen aber nichts wissen, werden als bloße ›empeiría‹ (Erfahrung bzw. aus ihr erworbene Geschicklichkeit) bezeichnet. Für eine ›techné‹ dagegen ist es entscheidend, »dass sie die Natur dessen erforscht […], was sie besorgt, und den Grund dessen was sie tut, von jedem einzelnen Rechenschaft geben kann« (501a). Die Empirie vermag sich eine solche Rechenschaft nicht zu geben. Allerdings verdeutlicht die Unterscheidung von guten und schlechten Formen des Begehrens, dass auch im Bereich der Gerechtigkeit der Begriff der Eudaimonie nicht außer Kraft gesetzt ist. Er erfährt freilich eine Neuinterpretation, die sich auch durch die Durchsicht auf das Totenreich in dem euripideischen Fässergleichnis und später im Schlussmythos des ›Gorgias‹ bewährt. Sokrates bemerkt, dass es »für jeden Menschen, der nur ein wenig Vernunft hat, nichts ernsthafteres geben kann [als die Frage], auf welche Weise er leben soll« (500c). Im Blick auf die Lebensform gibt es kein Drittes zwischen der sokratischen und der kallikleischen Lebensform. Von dieser Klärung ist es nur noch ein Schritt zur Einschreibung der Grundstruktur von Taxis und Kosmos, Ordnung und Wohlgefügtheit, in den Gedankengang (503dff). Sie begründet im Nachhinein die Kapitulation des Kallikles (»ich weiß nicht mehr, was ich sagen soll« (503d)), hält sich aber ansonsten im Kontinuum des akzentuierten Argumentationsstrangs. Die ›techné‹ ist eine Vorform von Ordnung. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass der, der sachkundig ist, nicht aufs Geratewohl auf einen Gegenstandsbereich zugreift. Der geläufige Techniker hat vielmehr eine ›gewisse Gestalt‹ (eidos ti) vor Augen: der Maler nicht anders wie der Baumeister oder Schiffbauer (503e). Von diesem Entwurf her lässt er ein Werk als Ganzes entstehen, sodass sich die verschiedenen Teile zueinander fügen (504a). Jedes derartige Ganze ist durch Ordnung (›taxis‹ und ›kosmos‹) bestimmt. 34 An dieser Stelle können nun Besonnenheit (sophrosyne) und Gerechtigkeit (dikaiosyne) in ihrer untrennbaren Verschränkung hervortreten. Sie sind Vgl. dazu Krämer, Arete, a. a. O., S. 57 ff. Siehe auch Benardete, The Tragedy and Comedy of Life, S. 105 ff., S. 130 ff., S. 235 ff.

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Scham und Natur: ›Gorgias‹

»Bildungsvorschriften« der Seele, aufgrund deren allererst ihre Vortrefflichkeit (areté) gebildet werden kann (506d). In Recht und Gesetz konkretisieren sich Gerechtigkeit und Besonnenheit. Dies wird auf die Tugendlehre erweitert: Jede Tugend (arete) verdankt sich zweifachen Ordnung von Taxis und Kosmos (503e). Man kann die TaxisKosmos-Lehre mit Krämer ›ontologisch‹ nennen, insofern sie im Unterschied zu der von Kallikles entworfenen Lebensform erlaubt, ohne Verwirrungen von den Bewandtnissen und den Grundtugenden des Seienden der Sache gemäß zu reden. Und man kann zugleich festhalten, dass der Ordnungszusammenhang auf die Welt als ein Ganzes (holon) ausgedehnt wird. Er umfasst »Himmel und Erde, Götter und Menschen« (508a) und macht deren Gemeinschaft (koinonía), getragen von Gerechtigkeit und Besonnenheit, als die Wurzeln wahrer Glückseligkeit namhaft. In diesem gleichen Zusammenhang, der von einer kosmischen Dimension und der Beachtung des göttlichen Gesetzes geprägt ist, steht auch die Herleitung der anderen Tugenden aus Gerechtigkeit und Besonnenheit. So muss auch die Tapferkeit (andreia) notwendigerweise in diesen Zusammenhang eingefügt gedacht werden. Denn Beständigkeit, Dauern-können ist der Tugend insgesamt eigentümlich. Es manifestiert sich dann besonders in der Tapferkeit. Der Satz, dass Unrechtleiden besser sei als Unrechttun, der, wie es am Ende des ›Gorgias‹ heißt, einzig und allein beständig geblieben ist, fordert den Zusammenhang der Tugenden (527b). Das Gute, dieser eigentliche Zweck (499e), erscheint an letzter Stelle, gleichsam als Zielbegriff. Als gut ist der zu begreifen, der durch die Fertigkeiten seines Handelns die Gesamtheit der Tugend in sich zur Verwirklichung bringt. Im ›Gorgias‹ geht es nicht in erster Linie um die Fragen der gerechten Verfassung für einen Stadtstaat. Nicht der Vergleich der Polis mit anderen Arten der Gemeinschaft ist leitend, sondern die innere Politie, ohne die die äußere eine Anmaßung bleiben müsste. Es wird also, um eine Verhältnisbestimmung zur ›Politeia‹ zu skizzieren, nur die kleine Schrift entwickelt, ohne die große. Neben der Gemeinschaft (koinonía) ist deshalb die Freundschaft, nicht zuletzt die Freundschaft mit sich selbst, der Ort, an dem die Gerechtigkeit zur Bewährung kommt. Allerdings wird die Taxis-Kosmos-Lehre im Sinn einer Unterscheidung expliziert. Der wahre Rhetor, auf den im Rückgriff auf den ersten Teil des Dialogs, die Gorgias-Rede und das Polos-Gespräch, wieder das Augenmerk gerichtet ist, wird darauf bedacht sein, 203 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

IM STRUDEL DER SOPHISTEN

zu unterscheiden und Gerechtigkeit und Besonnenheit in die Seele der Menschen einzuprägen, »die Untugend aber abzuziehen« versuchen (504e). Er ist also in einem Baumeister und Arzt. Als Arzt ist er aber Scheidekünstler, um des Bestandes der Polis willen. Bleibt die Frage nach dem Wissen um das Gerechte. Sie wird im ›Gorgias‹ wiederholt angespielt, zuerst wieder in Gorgias’ anspruchsvoller Behauptung, das Gerechte lehren zu können. Was dieses Wissen aber sei, eben diese Frage bleibt offen, auch wenn der Dialog ganz offensichtlich über die nur negativen Befragungsergebnisse der frühen Tugenddialoge hinausgeht. Sokrates tritt selbst in einen Agon mit den Sophisten ein. Wenn Sokrates dem Kallikles zugibt, Prüfstein für sein Meinen (486e) zu sein, sodass dieses sich als Wahrheit und gegründetes Wissen (487a) erweist, ist dies bei aller Ironie durchaus ernst gemeint. Kampfgespräch ist dieser Dialog gerade auch im Sinn eines Kampfes des Philosophen mit sich selbst, und dies bleibt bis zur Selbstunterscheidung von Philosoph und Sophist ein maßgebliches Motiv. Dies darf aber keinesfalls zu dem Schluss Anlass geben, das »Nicht-Wissen [sc. des Sokrates] besteh[e] hier in der Unsicherheit, wie die Lebensfrage zu entscheiden sei«. 35 Eine wohl erwogene Meinung über das Verhältnis von Unrechttun und Unrechtleiden wird von Sokrates von vorneherein festgehalten. Sie bleibt während des ganzen Dialogs stabil. Jedoch: Wie am Widerstand von außen der philosophische Gesichtspunkt Wissen wird und nicht länger Meinung neben anderen Meinungen ist, wird in einem durchaus dynamischen Gesprächszusammenhang untersucht. Die Sophisten erweisen sich auf einer Vordergrundansicht in diesem Agon argumentativ, aber vor allem, was ihre Lebensform betrifft, als unterlegen. Sokrates’ Wissen kann zwar argumentativ eindeutig und unwiderleglich dargestellt werden. Doch eben hier setzt die Problemlage erst ein. Denn gleichwohl vermag es den Widerstand der Mislogia nicht zu brechen. Erst die Bezeugung durch die philosophische Lebensform vermag dies. Immer wieder ›erschrecken‹ die Sophisten über die ortlose Position des Sokrates. Die genau durchkomponierten Tonarten, die Stimmführung, im ›Gorgias‹ verdeutlichen den Stimmungswechsel. Es kommt in diesem Gespräch zu heftigen Auseinandersetzungen, die auch affektiv zu le35

So zu Recht Hentschke, a. a. O., S. 39.

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Scham und Natur: ›Gorgias‹

sen sind. Die jungen stürmischen Gesprächspartner reagieren auf Sokrates’ Einlassungen erzürnt. Sie bemerken sehr wohl, dass die Ausgangsfrage ›Hostis estín‹ (447d) nicht nur auf Gorgias zielt, sondern sie mitbetrifft, wenn sie sich nur auf das Gespräch einlassen. Diesem agonalen Charakter gemäß weist Sokrates zumal den Polos teils ungewöhnlich scharf zurecht (471e und 474d). Doch sowohl am Ende des Polos- wie des Kallikles-Gesprächs kommt es zu einer Beruhigung und Klärung des Gesprächs, zu einer Übereinstimmung des Sokrates mit seinen jungen Widersachern, auch wenn diese noch weit davon entfernt sind, seine Denkweise übernommen zu haben, ja sie auch nur im letzten mitvollziehen zu können. Der Dialog beschreibt insgesamt die Transformation von der Logosfeindschaft in die Übereinstimmung mit dem Logos.

Der Schlussmythos des ›Gorgias‹ Am Ende des ›Gorgias‹ wird, ähnlich wie am Ende der Apologie, des ›Kriton‹ und der ›Politeia‹, der Blick auf das Totenreich hin geöffnet. 36 Karl Reinhardt hat sehr treffend den Grundton jenes Mythos charakterisiert: »was erst Zusammenfassung scheint, ist wesentlich Durchseelung, in das Fragespiel des Dialektikers mischt sich, kaum mehr verhalten, die Mahn- und Sühnerede des Propheten: vom Wesen der Gerechtigkeit als einer Fügung, Ordnung, Harmonie, als ›Kosmos‹ in der Seele.« 37 Damit durchdringen einander, sehr im Unterschied zu früheren Mythen, etwa den ›Protagoras‹, die durchlaufene Argumentation und der Mythos. Am Beginn des Mythos steht die für Platon kennzeichnende Einsicht, dass es unter dem Maßstab, dass ein guter Staatsmann die Polis bessere, noch keinen solchen Staatsmann gegeben habe. Es geht also um die »alethes politike«, die wahre Staatskunst (521e), und Sokrates gibt seinem Gesprächspartner Kallikles zu verstehen, dass er sich in ihr zu üben versuche, »mit einigen andern wenigen Athenern, damit ich nicht sage ganz allein«. Im Kraftfeld des Mythos wird auch die Kritik an den attischen Verhältnissen und der Dominanz der Rhetorik deutlich gemacht. Sokrates gibt sich Dazu K. Reinhardt, Platons Mythen, Bonn 1927, S. 52. Siehe auch die neueren mythenhermeneutischen Ansätze in Janka/Schäfer (Hg.), Platon als Mythologe. Darmstadt 2002. 37 Reinhardt, a. a. O. S. 47 36

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auch der Illusion darüber hin, dass es nur wahrscheinlich sei, dass er verurteilt werden würde. Der Schlussmythos antwortet darauf. Er antwortet aber auch auf Kallikles’ Einwand, dass es doch schlecht um einen Menschen stehen müsse, der sich angesichts der Anfeindungen, die er als wahrer Staatsmann erfährt, nicht schützen könnte. Bezeichnenderweise entgegnet ihm Sokrates mit dem Gedanken der Einbindung des Menschen in den größeren Kosmos, der die Götter mit umgreift (507e). Die kosmologische Gleichheit, die ›isótes geometriké‹, die gleichermaßen unter Göttern und unter Menschen in Kraft ist, ist die eigentliche Gegenmacht zur ›pleonexía‹, dem Mehrhabenwollen, das ohne Richtung ist und mithin auch ohne Form. Angedeutet wird damit auch ein Zusammenhang zwischen der isótes und der Gerechtigkeit. 38 Sokrates erklärt dem Kallikles, dass es einem Menschen an nichts fehlen könne, wenn er nur sich dazu verholfen habe, »nichts Unrechtes jemals gegen Menschen oder Götter zu reden und zu tun« (521d). Der Mythos geht von dieser kosmischen Gerechtigkeit aus. Er unterscheidet eine alte, sinnlos gewordene Weise des Gerichtes von einer neuen: nach dem herkömmlichen Nomos werden die Menschen lebend gerichtet (523c). Zeugen finden sich ein, die die Richter verwirren; die physische Erscheinung und Selbstdarstellung verdecken und verbergen, was die Seele in Wahrheit ist (523d). Und nicht zuletzt wissen die zu Richtenden ihren Tod vorweg – und werden ihre Lebensbahnen bzw. das Bild, das sie davon geben, diesem Vorwissen gemäß einrichten. Alles dies soll, dem Gebot des Zeus gemäß, geändert werden. Die Entblößung von allem Schein bedeutet zugleich eine Enthüllung dessen, was in Wahrheit ist. »Wenn sie tot sind nämlich, soll man sie richten. Und auch der Richter soll entblößt sein, ein Toter, um mit der bloßen Seele die bloße Seele eines jeden anzuschauen, plötzlich (exaiphnes) wenn jeder gestorben ist, entblößt von allen Verwandtschaften« (523e). Nicht Menschen richten über Menschen, sondern Götter. Zeus setzt seine beiden Söhne, sobald sie gestorben sind, zu Richtern ein. Minos und Rhadamanthys setzt er über die aus Asia stammenden Seelen, Aiakos über die Europäer (524a). Wie weit

Krämer, Arete bei Platon und Aristoteles, a. a. O. S. 70. Zur Rechtsgleichheit, insbesondere einer Isonomie nach solonischer Vorgabe siehe: Ottmann, Geschichte des politischen Denkens 1.1, S. 92 ff., siehe auch E. Ruschenbusch, Solonos ›Nomoi‹ : Die Fragmente des Solonischen Gesetzeswerks mit einer Text- und Überlieferungsgeschichte. Wiesbaden 1966, Neudruck 1983 (= Historia Band 9).

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Scham und Natur: ›Gorgias‹

die Spezifizierung reicht, wird auch deutlich durch den Zustand, den der Mythos jeweils für Leib und Seele nach dem Tod extrapoliert. Der Tod selbst nämlich wird verstanden als »Trennung zweier Bewandtnisse (Dinge) voneinander« (524b), die je für sich bleiben, was sie waren. Nur deshalb können die Seelen in zweifachem Sinn offenbar werden: danach, was sie von Natur her sind und danach, was der Mensch aus ihnen gemacht hat (524d). Das wahre Gericht erfolgt zudem ohne Ansehen der Person. Der Richter weiß nicht, wem eine Seele zugehört, über die er Recht sprechen muss. Er wird deshalb häufig mit verwundeten, zerstörten Seelen zu tun haben, die die Seelen von Herrschern sind. Ihr Glanz und Prunk ist nun nicht mehr erkennbar (525c ff.) – dies verbindet den ›Gorgias‹-Mythos mit dem eschatologischen Schlussmythos in der ›Politeia‹. Unter der Perspektive auf das Totenreich verdichtet sich die Frage nach der Gerechtigkeit in einer Schlussparänese. Die Einsicht, dass Unrechtleiden besser ist als Unrechttun, der einzige der durchlaufenen Logoi, der Bestand gehabt habe (527b), wird zum Gegenbegriff der Schmeichelei (kolakía) (527c), zu der Kallikles den Sokrates kurz vor dem Ende des Dialogs noch einmal überreden möchte (521a–b). Im Sinn der Ordnung solle man miteinander einig sein und zwar über das wichtigste (527d). Den Sinn dieses Einigseins wird man in seinem ganzen Beziehungsreichtum bis in kosmische Dimensionen und auf den Zusammenhang von Menschen und Göttern hin verstehen dürfen. Führer (Hegemon) soll der Logos der Gerechtigkeit sein, der sich auf die Besonnenheit als die einigende Tugend und damit auch auf alle anderen Tugenden bezieht: im Leben wie im Sterben (527c und e). Die Paränese ist dabei stets unter das Band einer in den numinosen Bereich ausgreifenden Gesetzgebung gefügt, der Sokrates sich selbst und Kallikles unterstellt. Der Beziehungssinn dieses Antidotums zur Schmeichelei deutet bereits auf die Analogie von großer und kleiner Schrift in der ›Politeia‹ voraus. Er bezieht sich zuerst auf den Umgang mit sich selbst und dann der in diesem Umgang verbundenen Personen untereinander. 39

Insofern ist die Verhältnisbestimmung von »größerer« und »kleinerer Schrift«, »äußerer und innerer Handlung« in der ›Politeia‹ hier schon vorgeprägt.

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FÜNFTES KAPITEL: POLIS, SEELE UND DIE HÖCHSTE IDEE – DAS ›ALLUVIONSGEBILDE‹ DER ›POLITEIA‹ UND DIE ›NOMOI‹

1. Zu den frühen platonischen Dialogen und ihren aporetischen Untersuchungsergebnissen verhält sich die ›Politeia‹ wie eine Auflösung ihrer Aporetik und eine Einlösung ihrer Ansätze. Eben deshalb nannte Nietzsche, mit dem bereits zitierten Begriff, die ›Politeia‹ ein ›Alluvionsgebilde‹. Sie ist, diesem Bild gemäß, wie ein Riff die Verbindung verschiedener Schichten aus früheren Untersuchungen. Das Bild ist aufschlussreich, wenn man sich klarmacht, dass viele dieser Schichten in einer veränderten Gestalt in den neuen Rahmen der ›Politeia‹ einbezogen werden. Die verschiedenen Fäden, die seinerzeit angefangen und liegengelassen wurden, werden nun zusammengeführt und in einen überwölbenden Untersuchungsrahmen verbunden. Der Leitfaden ist zunächst eine Frage der menschlichen ›anthropine sophia‹, der menschlichen Weisheit, auf die sich Sokrates, auch nach dem Zeugnis der Frühdialoge, zunehmend begrenzt hat. Es geht also auch in der ›Politeia‹, wie schon im ›Gorgias‹, um die Frage, wie man leben soll. Sie klärt und entfaltet sich als Frage nach den Tugenden, als deren Inbegriff die Gerechtigkeit erwiesen wird, die vordergründig eine politische Frage zu sein scheint, jedoch politisch nicht lösbar ist. Jene Frage kann für sich alleine nicht ›fest gemacht‹ werden. Sie bedarf daher der Befestigung im Horizont des größten Lehrstücks, der Idee des Guten. Politische Philosophie, Ethik und Metaphysik, vor allem aber die Einführung der Dialektik verbinden sich zu einem zusammenhängenden Gefüge. Die dionysisch kultische Dimension, die im ›Symposion‹ und im ›Phaidon‹ angeklungen war, Philosophie als Antwort auf den Tod, da sie das bleibende Sein befestigt, und Sublimierung des Eros, der zum bleibend Wahren und Schönen aufsteigt, findet in der ›Politeia‹ die Befestigung im kontemplativen Gedanken und der Hoffnung der höchsten Idee. Und Sokrates? Er ist Rahmenerzähler des ›Politeia‹Dialogs. Die ganze ›Politeia‹ ist seine fingierte Erzählung. Dies wird nur selten explizit gemacht; an einigen Stellen immerhin spricht So208 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

POLIS, SEELE UND DIE HÖCHSTE IDEE

krates unmittelbar und unüberhörbar in der ›ich‹-Form. Er bezeugt damit den Handlungsverlauf in besonderer Weise. Auch dadurch ist die ›Politeia‹ hervorgehoben. Das Bild vom Alluvionsgebilde bestätigt sich unmittelbar im ersten Buch. Es ist wohl deutlich früher entstanden als der weitere Text und wurde dann in das Ganze einkomponiert. Deshalb stellt sich dieses sogenannte Thrasymachos-Gespräch noch einmal wie ein charakteristischer früher aporetischer Dialog über Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit dar. Er argumentiert zudem durch Aussparungen. Der alte Kephalos, in dessen Haus sich die Gesellschaft zum BendisFest versammelt, weiß zum Untersuchungsthema, was Gerechtigkeit sei, nichts philosophisch Argumentatives beizutragen (329d7). Sokrates entlastet ihn ausdrücklich: Er, der Alte, muss dies auch nicht. Für ihn erschöpft sich die Frage darin, dass Reichtum für ein gerechtes Leben hilfreich sei. Kephalos ist eine sympathische Stimme, die viele spätere utilitaristische Einwände gegen die höheren Zwecksetzungen vorwegnimmt. Sein Lebenszeugnis reicht aber offensichtlich weiter als seine Argumentationsfähigkeit und der Respekt vor diesem Leben nötigt dazu, es nicht vor das elenchtische Tribunal zu zerren. Die Frage nach dem Wesen der Gerechtigkeit wird auf diesem Weg nicht geklärt. Wohl aber werden Aussagen über die »Stärke der Ungerechtigkeit« gewonnen. Sokrates resümiert am Ende, er habe doch nichts gelernt. Denn das Gespräch habe eine seltsame Wendung genommen. Man habe zunächst zu erkennen versucht, was Gerechtigkeit sei. Dann habe sich der Gesprächsgang aber der Frage zugewendet, »ob es wohl eine Torheit ist oder Schlechtigkeit, oder eine Weisheit und Tugend«. Alles scheint offen, so als gäbe es kein Unterscheidungskriterium, so als wäre und bliebe alles im Fluss – eine Situation, die in der von sophistischen Definitionskünsten erschütterten Wahrheitsdebatte durchaus charakteristisch ist. Damit wird gefragt, was Tugend an sich ist und welchem Genus sie zugehört. Im weiteren Dialogverlauf wird sich zeigen, dass die eine Frage nicht von der anderen zu unterscheiden ist, obwohl im ›Thrasymachos‹ eine solche Unterscheidung noch versucht wurde. Den eigentlichen Mangel der bisherigen Untersuchung legen Sokrates’ Gesprächspartner Glaukon und Adeimantos im II. Buch offen: Es sei bislang nur nach den Folgen der Gerechtigkeit gefragt worden, nicht aber nach ihr selbst. Nackt und unverhüllt will man sie sehen, so wie sie an und aus sich, nicht eines anderen wegen, er209 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

POLIS, SEELE UND DIE HÖCHSTE IDEE

scheint. Dies erinnert an die Mythen vom Totengericht, wo nach Platon auch alle fingierte Pracht und äußerliche Würde nichts nutzt und der Mensch nackt vor dem Richter zu erscheinen hat. So wie die Auslassungen und nachgeholten Vorgeschichten ein unterschwelliges Motiv der ›Politeia‹ sind, so spielt auch der Wunsch des Sokrates, nicht weiter befragt zu werden, an prominenter Stelle eine Rolle. Der Philosoph hofft, sich der Aufgabe des Gesetzgebers entziehen zu können. Zwei Mal geschieht dies in der ›Politeia‹ – zu Beginn des V. Buches, als es um die konkrete Ausgestaltung der idealen Polis geht, und eben auch schon zu Anfang des II. Buches. Die Fragen der beiden als »hervorragend« charakterisierten jungen Männer insistieren. Glaukon und Adeimantos weisen darauf hin, wie die Dichter die Gerechtigkeit nur um ihrer Folgen willen loben (362d1). Damit ist bereits auf die Dichterkritik vorausgedeutet, die im X. Buch der ›Politeia‹ kulminieren wird. Doch die Dichter folgen damit nur der allgemeinen Auffassung. Erst die Philosophie ist paradox. Sie durchbricht nämlich die Meinung und zeigt die Gerechtigkeit, wie sie an sich selbst ist. Sie legt gleichsam deren intrinsischen Wert offen. Damit wird auch der Maxime von Sokrates am Ende des ersten Buches Rechnung getragen, dass zunächst die immanente Bedeutung der Gerechtigkeit, ob sie gut oder schlecht ist, und erst später ihre Zugehörigkeit zu den guten Dingen oder den Übeln expliziert werden soll. Als Ausgangs- und Abstoßungspunkt leitend ist der aus anderen platonischen Dialogen geläufige sophistische Grundsatz, Gerechtigkeit sei das dem Stärkeren Zuträgliche. Eine solche Gerechtigkeit, eine Gerechtigkeit, die um ihrer Folgen und nicht um ihrer selbst willen gesucht würde, sei gar nicht erstrebenswert, besagt die provozierende These von Glaukon und Adeimantos. Denn wenn es so wäre, so würde immer der Ungerechte, der doch gerecht zu sein scheint, den Vorrang vor dem Gerechten haben, der nicht gerecht zu sein scheint – in jener extremen Sinn- und Begriffsverwirrung, die die umgekehrte Werteordnung der Sophistik zeigt. Gerechtigkeit werde also nur dann Bestand haben, wenn sie sich als an sich selbst gut erweist und wenn ihrer Vorgabe entsprechende Handlungen um ihrer selbst willen ausgeübt werden. Von diesem Punkt entwickelt sich eine Argumentationsarchitektur mit mehreren Einschiebungen und retardierenden Momenten: Das weitreichendste Strukturprinzip ist der Vergleich zwischen der 210 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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»großen« und der »kleine« Schrift. Man kann die Gerechtigkeit dort, wo sie vor allem ihren Sitz haben muss – in der menschlichen Seele – nicht auffinden. Diese Schrift ist zu klein geschrieben, sie ist dem eigenen menschlichen Kern zu nahe. Auffinden kann man sie in der Projektion auf eine größere Schrift: die Polis, die zunächst unter genetischem Aspekt betrachtet wird. Deshalb expliziert Sokrates den idealtypischen Verlauf einer Stadtgründung, eine Art philosophischer Narration als »Modell«. Im griechischen Originaltext steht an dieser Stelle der Begriff ›paradeigma‹ : »das nebenher Gezeigte«. Damit wird allerdings zunehmend ein »Urbildcharakter« dieses nebenher Gezeigten verbunden. Gezeigt wird es neben dem untersuchten Gegenstand, der sich damit als Verbildlichung eines kategorialen Rasters entpuppt. Die Skizze der idealtypischen Genese einer Polis ist denkbar einfach angelegt. Vermieden werden die fiktiven Konstruktionen, die die Vertragstheorien der Neuzeit in Anspruch nehmen müssen, um einen Naturzustand zu konstituieren. Zur Polis kommt es schlicht, weil sie besser geeignet ist, die Bedürfnisse zu befriedigen. Eine Art idealtypischer Soziologie und Historiographie der Stadtbildung greifen ineinander. Die primitive Stadt kennt nur einen sehr geringen Differenzierungsgrad. Platon hat sie an keiner Stelle mit nostalgischem Ton belegt, so als wäre der Weg zurück zu ihr der Rückweg in einen paradiesischen Raum. Er nennt sie vielmehr »Schweinestadt«, weil es in ihr nur um die Befriedigung der elementarsten Bedürfnisse geht. Das Entwicklungsrad auf dieser Stufe aufzuhalten wäre unmöglich, es wäre auch gar nicht zu wünschen. Die Stadt wird anwachsen. Sie wird üppig und hypertroph werden – und damit werden vor allem die Bedürfnisse in ihren Mauern ansteigen. Es sind vor allem die sinnlichen Bedürfnisse und der Genuss, die hervorgehoben werden und die dabei in höherem Maße befriedigt werden müssen: Kulte, auswärtiger Handel, nicht zuletzt Theater und Tanz ziehen in die Stadt ein. Die Stadt wird zu einem offenen System. Sie nimmt Zuwanderer auf und erweitert die Außenbeziehungen. Aus dieser erhöhten sozialen Komplexität gehen Kriege hervor. Platon benötigt, um sie zu erklären, keinen PandoraMythos und keine Mythen von Hybris oder Nemesis. Er verschwendet auch keinen Gedanken daran, wie die Kriege vermieden werden könnten. Sowenig wie die Expansionen der Stadt aufzuhalten sind, so wenig ist eine solche Einhegung offensichtlich möglich. Der Verlauf der Dinge ist, idealtypisch betrachtet, nicht aufzuhalten. Mit dem 211 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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Krieg kommt auch der Bürgerkrieg auf, die Drohung der Stasis (des Aufruhrs) nach innen. Dies erfordert einen neuen Stand, die Wächter (Phylakes). Sie müssen, anders als die Menschen im ›Schweinestaat‹, gegenläufige Fähigkeiten in sich vereinen: Auf der einen Seite sollen sie Tapferkeit aufweisen (andreia), auf der anderen Sanftmut und Besonnenheit – jene zwei Tugenden, die in den frühen platonischen Sokratesdialogen in ihrem Konflikt gezeigt worden waren. Mit der elementaren Unterscheidung zwischen eigen und fremd, Freund und Feind beginnt die »philosophische Natur«: Sie muss das Eine vom Anderen trennen bzw. zeigen, wie sie sich verbinden. Auch das Eine wird erst am Anderen und ihm gegenüber zum Einen. Allerdings fügt Platon hinzu, dass sie philosophisch nur in einem rudimentären Sinn ist. Es ist die Unterscheidungsfähigkeit von Hunden, die auch imstande sind, das Eigene und das Fremde, Andere voneinander zu sondern. Jene rudimentäre Distinktion ist allerdings die Voraussetzung dafür, dass sich auch die höherstufigen Formen der Dialektik ausprägen können. Deshalb legt sich der Fokus nun auf jene Wächter (Phylakes) und ihre Natur. In ihrer Erziehung – und nicht in einem äußerlichen, gesatzten Recht muss die Verflechtung des Einen und des Anderen gelingen. Es geht dabei um nicht weniger als darum, dass Tugenden in Konflikt miteinander kommen können. Ex negativo wäre dies eine Unterstützung für die Sophisten, die auf der Destruktion des Wesens der Tugend insistieren. Der Bereich der genetisch idealtypischen Städtegründung wird damit verlassen. Dieser Faden wird auch nicht mehr aufgenommen. Mehr muss der platonische Gesetzgeber über das Wachstum und die mit ihm eng verflochtene Degeneration von Städten zunächst nicht wissen, solange er im Bereich der Idee bleibt. Er muss nicht, wie Aristoteles es tut, alle nur irgend zugänglichen Verfassungsentwürfe sammeln und mit den Realitäten in eine Verbindung bringen. Erst in den ›Nomoi‹ ist eine ergänzende Untersuchung geboten. Der Blick richtet sich nun auf die Bildung der Phylakes, die Paideia. Damit wird die Darstellungsweise normativ. Dass die Paideia auf genau zwei Säulen errichtet wird – die ›Gymnastiké‹, die jede Form von Sorge um den Leib und die ›Mousiké‹, die die Musenkunst umfasst – trägt der Zusammenstimmung zweier auseinanderstrebender Tugenden, eben von Tapferkeit und Eifer, Rechnung. Im Blick auf die Paideia öffnet sich sogleich noch ein anderer Horizont: jener der platonischen Götterlehre. Denn um nichts weniger kreisen schon 212 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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die Mythen, von denen die Seelen der Kinder und jungen Menschen bewegt werden sollen, als um das Göttliche. Es entwickelt sich so eine dicht gesponnene Kette von der Paideia über die Musik bis hin zur Theologie. Die erste gesetzesförmige Bestimmung der ›Politeia‹ gilt den benannten beiden Säulen der Paideia. Entwickelt wird eine Götterlehre, die nicht philosophisch, sondern pädagogisch-musisch begründet ist und die als Katharsis der alten Mythen firmiert. Platon gibt zu verstehen, dass es unmöglich sei, eine ganz und gar neuartige Mythologie zu entwerfen. Vor dem Hintergrund einer möglichen besseren Einsicht sollen die philosophischen Gesetzgeber nomologische Normen für Mythos und Rede von den Göttern erlassen. So ergibt sich zwar keine »Neue Mythologie«, wie in der Romantik, wohl aber eine Katharsis der alten Mythen. In der philosophisch geklärten mythischen Theologie Platons geht es nicht mehr um die Götter in ihrer verwirrenden, proteushaften Vielheit und ihren Gestaltwechseln, bei denen die Grenzen zwischen Götteridentitäten, aber auch zwischen Lüge und Wahrheit verschwimmen. Demgegenüber handelt der neue Mythos von ›dem Gott‹ bzw. ›dem Göttlichen‹ (ho theos, to theion) im Sinn eines philosophischen Monotheismus. Die narrative Mythologie wird ›den Gott‹ frei von Willkür und Verbrechen darstellen, als ›Gut‹ und »Ursache nur des Guten«. Auch sollen Tod und Unterwelt nicht, wie in den tatsächlichen Mythen der Griechen, als schrecklich und erschütternd gezeigt werden. Götter und ebenso die Heroen sollen neidlos (aphtonos), weder Jammer noch Gelächter hingegeben, dargestellt werden. Auch sollen sie nicht als unwahrhaftig oder gierig inszeniert werden. Die anthropomorphen Züge sind zu tilgen. Damit aber wird die Rede vom Göttlichen auf das Eine, auf das Gute und das Wahre orientiert – im Sinn einer gesetzgeberischen ›orthe doxa‹, für die zunächst keine weitergehende Begründung angegeben wird, als dass nur so die Seele des Menschen auf die Wahrheit gestimmt werde. Die platonische Theologie ist auf dieser Stufe in der ›Politeia‹ eine Kunstlehre von der angemessenen Darstellung des Gottes. Sie enthält sich jedweder Spekulationen um sein Wesen. Und letztlich ist der so präsentierte Gott ein »unbekannter Gott«. Er reagiert auf die Götter- und Religionskritik von Xenophanes und anderen und steht auch in enger Beziehung zum Einen im Lehrgedicht des Parmenides. Mit den offiziellen Kulten und der populären Mythologie hat diese Gottesdarstellung nichts zu tun. Man kann aber

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annehmen, dass eine solche sublimierte Gottesverehrung in den esoterischen Kulten eine Rolle spielte. Nicht nur der Inhalt der mythischen Narration, auch ihre Form wird in der philosophischen Gesetzgebung normiert. Platon unterscheidet in der Charakterisierung der Vortragsform zwischen der Diegesis, der Abstand haltenden Darstellung, einerseits und der Mimesis andrerseits. Die jungen Wächter sollen wie Rhapsoden aus dem epischen Abstand berichten. Sie sollen sich aber nicht wie Dramatiker in das Geschehen stürzen und mit ihrer Seelenverfassung nachbilden, was sie darstellen. Eine solche Mimesis wäre allenfalls als Nachahmung herausragend guter Charaktere denkbar und für den eigenen Seelenhaushalt förderlich. Da die Mimesis, anders als die berichtende und distanzierte Diegesis, die Seele dem Nachgeahmten ähnlich macht, würde eine Nachahmung von Schlechtem oder Ungeformtem der Seele ausdrücklich schaden. Nur die harmonischen Rhythmen und Melodien sind gemäß Buch III. erlaubt. Die Fünftonreihe (Pentatonik) wird bevorzugt. Der Flötenton des Aulos, der in vorsokratischer Zeit die Seele in den dionysisch-bacchantischen Taumel hineinriss, ist dagegen zu vermeiden. Die Grundnorm besagt, dass die »Wohlgesinntheit der Seele« Maßstab und Prinzip sein soll. Die zweite Säule der Paideia-Gesetzgebung, die Gymnastik, zielt ebenfalls auf eine Vorbereitung für das Polisleben. Ein eher spartanischer als attischer Grundsatz der einfachen Lebensweise leitet die Aussagen. Medizin und Rechtsgelehrsamkeit sollen ihm gemäß auf die minimalen Eingriffe begrenzt werden, die unerlässlich sind. Umgekehrt sei es aber das Indiz einer kranken Polis und verfallender Sitten, wenn beide sich übermäßig ausbreiteten. In der Medizin erinnert Platon an den legendären Asklepios. Er war ein Arzt nicht für Sklaven, sondern für Freie. Ihnen erläuterte er seine Rezepturen, sodass sie sie aufgrund der ›orthe doxa‹ befolgen können. Und er zögert den Tod nicht künstlich hinaus. Zu jenem Maß gehört auch, dass eine einseitige Ausprägung athletischer Fähigkeiten und Fertigkeiten gerade nicht dem Maß des freien Bürgers angemessen ist. Das, was Aristoteles später die ›hexis‹ (lat. ›habitus‹) nennen wird, die Ausprägung eines Charakters, ist das Ziel der Paideia. Einübung in musische und physische Fähigkeiten erscheint also bis zu dem Grad geboten, wie sie diesem Ziel dienen. Man kann sich fragen, wie überzeugend der Mann Sokrates als Zeuge dieses Grundrisses von Paideia gewesen ist. Frei von Ironie 214 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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war dieser Bezug mit Sicherheit nicht. Auf Sokrates hin wird aber die philosophische Bedeutung der Paideia explizierbar. Von der Musik hatte er sich, jedenfalls seit er sich der ›anthropine sophia‹ zuwandte, ferngehalten. Erst als er im Gefängnis auf den Tod wartet, spricht sein Daimonion, dieses eine Mal positiv, zuratend: »Sokrates, treibe Musik!« Und Sokrates bringt genau jene einfachen apollinischen Melodien zustande, die er in seiner Paideia-Konzeption empfiehlt. Wenn die Gymnastik der Tapferkeit gegenüber Freund und Feind diente, so kann Sokrates durchaus als Paradigma gelten, auch wenn seine Satyrgestalt sicher kein Idealbeispiel eines trainierten Gymnastikers ist: Dass er dem Feind standgehalten habe, ist Gegenstand einer vielfach erzählten Sokrates-Legende; zugleich aber wird berichtet, wie er auch in der Phalanx im Krieg jäh in einen ekstatischen Zustand fiel, in dem er nicht mehr wusste, wo er war. 2. Die Paideia ist deshalb so wesentlich wichtig, weil sie jene Seeleneigenschaften grundlegen soll, die die Gerechtigkeit in der Stadt befördern können. Zu Beginn des vierten Buches wird sie selbst zum Thema gemacht. Es wird deutlich, dass sie mit der Polis aufs Engste verflochten ist. Die Stadt trägt Sorge für die Paideia – und diese wiederum ist Hüterin der Stadt. Ein Gesetzeswerk kann sich nach Platon nur deshalb knapp halten und auf die wesentlichen Grundlinien begrenzen, weil es eine wirksame Bildung voraussetzen kann. Ausdrücklich wird der Vergleich zwischen dem Arzt und den Wächtern gezogen: Nur der Arzt, der das Übel bei der Wurzel fasst und es ausreißt, kann Autorität beanspruchen. Derjenige, der nur an Symptomen kuriert, hat diese Autorität nicht. Zugleich muss der Arzt seiner Klientel aus freien Bürgern begründen können, was er tut und warum er dies tut. Die Vielzahl von Gesetzen, die das Selbstverständliche regeln sollen, fördert dagegen eher die Zerstörung der Polis. Sie seien wie Regularien eines schlechten Arztes und Quacksalbers, der den Organismus, der krank ist, mit verschiedenen Medikationen hätschelt. 3. Eine bezeichnende Leerstelle, die in den ›Nomoi‹ zurückgenommen ist, zeigt sich im Sakralrecht: Die ›Politeia‹ schweigt darüber. Niemand wisse über die göttlichen Dinge Genaueres zu sagen. Damit wird ein Agnostizismus wiederaufgenommen, zu dem im Dialog ›Euthyphron‹, im Aufweis des nur scheinhaften Wissens des Euthyphron, die Grundlagen gelegt worden waren. Sokrates legt nahe, man solle sich hier auf die Weisungen Apolls beziehen (427b1), der auf dem Omphalos, dem Nabel der Welt in deren Mitte, seine Wei215 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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sungen erteile. Eindeutigkeit wird man aber gerade von Apollon nicht erwarten können, obwohl er schon seiner Namensetymologie gemäß der »Nicht-Viele« heißt. Denn er spricht gemäß seinem Orakelspruch nicht aus – und er verschweigt nicht. Er deutet nur an. Die Zurückhaltung in Fragen des Kultus und des Dienstes der Menschen an den Göttern hat gute Gründe. Seit dem ›Euthyphron‹ sind sie grundsätzlich bekannt. Der grundlegende Zweifel, den Platon nahelegt, führt zu der Frage, wie denn der Mensch als begrenztes und endliches Wesen dem Göttlichen einen Dienst soll erweisen können. Das mythologische Motiv der um die Dienstbarkeiten der Menschen neidischen Gottheiten wird hier in jedem Fall in den Hintergrund verwiesen. Erst in den ›Nomoi‹ wird diese Zurückhaltung in sakralrechtlichen Fragen zurückgenommen. Dem Schweigen über die göttlichen Dinge entspricht auch eine Zurückhaltung hinsichtlich des Menschen. Dies begegnet bei Platon immer wieder an prominenter Stelle, namentlich im ›Timaios‹. Wie wir sehen werden, wird auch diese Zurückhaltung erst in den späten ›Nomoi‹ gelockert. Zwar merkt er in der Mythenkritik an, dass auch über den Menschen falsche Redeweisen in Umlauf seien, und er wiederholt dabei die von Glaukon und Adeimantos beklagte Doxa-Interpretation: »[D]ass nämlich viele Ungerechte doch glückselig wären, und Gerechte elend, und dass Unrechttun Vorteil bringe, wenn es verborgen bleibt, die Gerechtigkeit hingegen fremdes Gut sei aber eigener Schade«. Doch vom Menschen solle man detailliert und normativ erst reden, nachdem festgestellt worden sei, wie es sich mit der Gerechtigkeit verhalte. Die Gründung des vollkommenen Staates endet damit ohne Anthropologie und ohne entfaltetes Religionsrecht. Aus der Untersuchung der Tugenden ergibt sich in der ›Politeia‹, dass die Gerechtigkeit die Grundform aller Tugenden ist. Sie beschreibt nämlich die innere Struktur der Seelen-Teile. Wörtlich steht hier ›eidé‹, nicht ›merismoi‹ : Es geht also gerade nicht um abgegrenzte ›Seelenteile‹, sondern um dynamische Betätigungen und Seinsweisen einer und derselben Seele, die sich in der inneren Struktur der Polis spiegeln. Damit verbindet sich die Strukturformel, die Platon expliziert: Jeder Stand und jeder Seelenteil soll »das Seine« tun. Diese Formel ›ta heautou prattein‹ ist mithin über die Grenzen von äußerer und innerer Handlung hinweg gültig. Auch wenn sich zeigt, dass zwischen großer und kleiner Schrift, zwischen Polis und Seele, tiefgehende Asymmetrien verlaufen, bleibt eine umfassende Ähnlichkeit zwi216 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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schen ihnen bestehen. Die hermeneutische Maxime des Sokrates umschreibt dies in einer denkwürdigen Weise: »Und vielleicht, wenn wir so beides [sc. die innere und die äußere Gerechtigkeit] gegeneinander betrachten und reiben, werden wir doch wie aus Feuersteinen die Gerechtigkeit herausblitzen machen und, wenn sie uns klar geworden ist, sie recht bei uns selbst befestigen«. Die Untersuchung der Gerechtigkeit im einzelnen Menschen führt zur Topographie der Seelenhinsichten. Sie verlangt aber eine weiter ausholende Überlegung über die Verfassung der menschlichen Seele, die von den beiden Extrempunkten her aufgenommen wird: einerseits dem reinen Vernunftvermögen, andrerseits dem Bedürfnis. Das Mittlere zwischen beiden ist der Wille, der die eine Seite auf die andere hin vermittelt. Erst durch die Seelengerechtigkeit, so zeigt die ausgereifte Bestimmung des ›ta heautou prattein‹, entsteht auch die Polisgerechtigkeit. Von ihr her ergeben sich dann die anderen Tugenden wie von selbst. Sie ist nämlich deren Einheitssinn. Das fünfte Buch der ›Politeia‹ enthält so gut wie alle der anstößigsten Passagen der platonischen ›Politeia‹ auf engstem Raum: Namentlich den »Kommunismus«, auf den die Besitzlosigkeit der Wächter zugespitzt wird, sodann die gemeinschaftliche Erziehung der Familien und der Kinder. Karl Popper diagnostizierte Platons »Protototalitarismus« vor allem in Bezug auf diese Passagen. Man sprach von dem »Glaukontischen Dekret« – in einer mehrfach irreführenden Weise, so als wäre Glaukon der eigentliche Urheber, und so, als könnten Termini der lateinischen Rechtssprache auf den platonischen Dialog übertragen werden. Urheber ist auch hier der platonische Sokrates, der in der Ich-Form in der ›Politeia‹ spricht. Unübersehbar ist in der Dialogstruktur, dass die Skizze der Lebensform der Polisbürger, die am stärksten in die Einzelheiten geht, einem Zwang geschuldet ist, der auf Sokrates ausgeübt wird. Dabei lassen die beiden Gesprächspartner nicht locker und nötigen Sokrates dazu, dass er im Einzelnen über die Lebensform der Bürger der idealen Polis Verfügungen trifft. Ob ihm dies überhaupt zukommt, ist auch im Blick auf vermutlich spätere Überlegungen des ›Politikos‹-Dialogs für ihn mehr als fraglich. Kann und darf denn ein Mensch Gesetzesregularien für andere Menschen erteilen? Sokrates hat gute Gründe, jenem neuen Wogenschwall auszuweichen. Mit eidetischer Gewissheit sind jene Bestimmungen ohnedies nicht versehen. Bislang ist nämlich zwar das ›Wesen der Gerechtigkeit‹ angezeigt, die Begründung der Gerechtigkeit aber auf die höchste Idee steht noch aus. 217 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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4. Kriterium für die Realität der Philosophenherrschaft ist auch nicht in erster Linie die Erfahrung, dass es solche Philosophen gegeben habe. Der Erfahrungsbeweis wird vielmehr ex negativo geführt. Die Polisbürger haben bislang keine Philosophen gesehen, die der Idee oder dem Namen gerecht werden würden. Sie kannten nur Meinungs- und Scheinliebende (Philodoxe) oder eben Sophisten und Rhetoren, Scheinkünstler, die mit der Wahrheit spielen, nicht aber der Idee kundige Weise. Der Beweis der Realität und zugleich der Notwendigkeit der Philosophenherrscher hängt selbst an der Idee des Guten. Sie ist der Maßstab, der auch erst die Formel der Gerechtigkeit trägt. Jene höchste Idee wird begrifflich genau in der buchtechnischen Mitte der ›Politeia‹ eingeführt. Damit werden erst jene Bestimmungen der platonischen Frühdialoge eingelöst, die hypothetisch einen ›festen Punkt‹ in Anspruch nahmen, ein ›schema tes ousias‹, um den in ihrem Wahrheits- bzw. Falschheitswert durcheinanderwirbelnden sophistischen Dikta zu entgehen. Die höchste Idee ist insofern Zielpunkt jeder einzelnen Untersuchung, die mit der Frage, was etwas ist (ti estin), begann. Die Idee des Guten wird dabei von Platon als »größtes Lehrstück« bezeichnet, als der Anfangspunkt, den es festzumachen gelte, denn sonst werde alles Weitere, das von diesem Anfang abweicht, vage und undeutlich werden. Jene höchste Idee ist, was ihren systematischen Ort angeht, Prinzip des Seienden und zugleich Prinzip des Erkennens. Sie hat also sowohl ontologisch als auch gnoseologisch einen herausragenden Status. An späterer Stelle, in der Explikation der Dialektik, wird Platon sie noch näher bestimmen als jenen Punkt, an dem die Evidenz plötzlich (exaiphnes) die Aufeinanderfolge der hypothetischen Bestimmungen ablöst. Damit ist die ›Idea tou agathou‹ auch das Kriterium, um zwischen dem bloßen Schein und dem, was in Wahrheit ist, zu unterscheiden. Allerdings ist es auffällig, dass die theoretische Begründung nicht auf das Gute selbst zielt. Platon kann nur einen Sprössling (ekgonos) jener höchsten Idee fassen: ihr Abbild, das in den drei berühmten Gleichnissen, dem Sonnen-, Linien- und Höhlengleichnis, aufgefächert wird. Und der platonische Sokrates gesteht überdies ein, dass es nur eine Hoffnung (elpis) sei, dass es sich mit der Idee des Guten so verhalte. Die drei Gleichnisse haben dabei einen unterschiedlichen Status: Das Sonnengleichnis führt in den Rang und die Würdigkeit der Idee des Guten ein. Es eröffnet auch eine Reihe von Analogien: In der Sphäre der Intelligibilität steht es in derselben Relation wie die Sonne in der Sphäre der Sinnlichkeit. Es ist das Dritte zwischen dem 218 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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Sehenden und dem, was gesehen wird. Von hier eröffnet sich daher überhaupt erst der Blick, der sehen und erkennen lässt. Das Liniengleichnis überführt diese Perspektive in eine Konstruktionsanleitung, die die Scheinbilder in der sinnlichen Welt mit der sinnlichen Realität in eine Proportionenanalogie bringt. Demgegenüber ist das Höhlengleichnis eine pointierte Narration über das Verhältnis der Doxa – und damit auch in der Höhle, die für die politische und gesellschaftliche Welt steht, zu der höchsten Idee, von der aus sich Wahrheitsverhältnisse überhaupt erst konkretisieren. Man wird nicht übersehen dürfen, dass das Höhlengleichnis von einem zweifachen Zwang bestimmt wird: Der Mensch muss mit Zwang (ex anankes) dazu genötigt werden, die Höhle zu verlassen. Das wahre Sonnen- und Ideenlicht blendet und überwältigt ihn. Es zeigt sich ihm zwar ›exaiphnes‹, plötzlich und jählings, doch muss er sich erst nach und nach an den Anblick gewöhnen, um überhaupt sehen zu können. Dann aber muss er genötigt werden, den Glanz der Wahrheit hinter sich zu lassen und in die Höhle zurückzugehen: Es ist die Aufgabe des Philosophen, sich auf das politische Betätigungsfeld einzulassen. Erst angesichts des Höhlengleichnisses wird auch die PaideiaLehre transparent. Platon dekretiert, dass nur als Umlenkung und Umwendung der Seele, als ›metanoia‹, die Paideia sinnvoll anzusetzen ist. Die philosophische Paideia kulminiert in der Dialektik, die auf die höchste Idee, die Idee des Guten, als ihren letzten Zweck abzielt. Sie erweist sich als eine rückgängige Denkform: Sie entwickelt gerade nicht von Axiomen aus, die ihrerseits nicht weiter befragt werden, Folgebestimmungen und Definitionen. Sie geht vielmehr von Hypothesen aus und gelangt bis zu dem Punkt, an dem die Hypothesenreihe abbricht und sich das eine Wahre, eben die höchste Idee, unmittelbar vor Augen zeigt. Dazu sollen die »vornehmsten Wächter«, die künftigen Philosophen, vorbereitet werden: Platon entwirft ein langes Curriculum, das mit Folgen für die Pädagogikgeschichte bis heute der Struktur von jeweils sieben Jahren folgt. Die höchste Idee wird ihnen »gezeigt«. Dies ist Indiz dafür, dass sie auch durch alle Vorbereitungen hindurch nicht unmittelbar erkannt werden kann. Es ist nicht zu viel gesagt, wenn man ihr Offenbarungscharakter zuweist. Erst den Fünfzigjährigen, die sich in der philosophischen Propädeutik und in der Realität der Polis bewährt haben, wird diese Eröffnung zuteil. Sie haben zu diesem Zeitpunkt die vorbereitenden 219 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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Wissenschaften durchlaufen: Geometrie, Arithmetik, Mathematik. Auch in Bezug auf ihre Beherrschung legt Platon ein ganz bestimmtes Kriterium fest: Sie sollen nicht im Blick auf das Zählen oder Vermessen einzelner Gegenstände angewendet werden, sondern im Sinn der Erfassung von Zahl und Bewegung. Wer durch diese Vorhöfe (Propyläen) eingetreten ist, muss sich wiederum sieben Jahre im praktischen Leben der Stadt bewähren; danach wird er in die Dialektik eingeführt. Er muss erkennen, welche Begriffe sich verbinden lassen und welche eben nicht. Auch in der Begriffsunterscheidung bewegt sich der Adept aber noch immer im hypothetischen Raum der Dialektik. Dann wird er noch einmal durch die Anforderungen des praktischen Lebens in der Polis geführt. Erst daraufhin eröffnet sich ihm die Schau der Idee des Guten. Man könnte im Licht des platonischen Dialogwerks meinen, Sokrates sei das Vorbild des idealtypischen philosophischen Lebens. Das Curriculum der ›Politeia‹ ist allerdings nur indirekt durch die Lebensform des Sokrates (Bios Sokratou) gedeckt. Platon sah seinen Lehrer als den einzigen wahren Staatsmann und Gesetzgeber der griechischen Polis an. Diesen oder einen vergleichbaren Ehrentitel hat er den legendären griechischen Staatsmännern Kleisthenes, Solon oder Perikles ausdrücklich versagt. Sie orientierten sich, seiner Auffassung nach, nicht zureichend an der festmachenden Idee. Die Verbindung zur Polis, die Sokrates in seiner lebenslangen Gesetzesprüfung (dokimasia) einnahm, wird in dem idealtypischen Bildungsweg gleichsam institutionalisiert. 5. Schon bevor es zum fünften Buch in seiner konkretisierenden Provokation kommt, hat Platon ins Auge gefasst, dass auch die Formen der Schlechtigkeit der Seele und der Stadt synkritisch gezeigt werden müssten. Der Schlüssel des Verhältnisses von Polis und Seele wird auch hier wiederum angewendet, aber nicht mehr methodisch thematisiert. Die Struktur dieser Abschnitte ist genau umgekehrt und passgenau zur positiven Einführung der Gerechtigkeit in Seele und Stadt proportioniert. Es wird gezeigt, dass die Tugenden erst durch die Seele in die Stadt gelangen und dass damit auch am Anfang eine Korrumpierung der Seele steht, sodass die Polis nach und nach in einen korrumpierten Zustand übergeht. Nach Platon beginnt der Niedergang mit dem Verlust der Bestheit, der aristokratischen Stadt. Wiederum zeigt sich jene Unaufhaltsamkeit, die Platon auch bei der idealtypischen Polisgründung von dem undifferenzierten Elementarstaat her bemerkt hatte. Die ideale Polis wird sich, selbst wenn sie einmal erreicht wurde, nicht halten lassen. Das Paradigma, das 220 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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Platon dafür anführt, ist seltsam, rätselhaft – und vielleicht auch ironisch besetzt. Es sind die Hochzeitszahlen, nach denen im Sinn des Herrschaftswissens des V. Buches die Paare ausgelost werden sollen. Im Hintergrund, im Sinn einer Eugenik und in der täuschenden Suggestion, dass sie sich selbst aus freien Stücken erwählt hätten. Bekanntlich konnte bereits Aristoteles mit diesen Hinweisen, wie mit den meisten mathematischen Verklausulierungen Platons, nichts mehr anfangen. Dies mag verschiedene Gründe gehabt haben, vielleicht auch, dass er in den Bereich der ungeschriebenen Lehre nicht eingeführt worden war. Wie auch immer man die Hochzeitszahlenberechnung gewichtet: Das Vergessen des einmal erreichten Besten ist im Sinn der Struktur der ›Politeia‹ unausweichlich. Es kann an jedem Punkt einsetzen. Sobald es aber einsetzt, gerät das gesamte komplexe Gebilde der idealen Polis ins Wanken. Die Konzeption eines unaufhaltsamen Abstiegs, einer Deszendenz, in den Büchern VIII und IX hat gegenläufige Antworten provoziert; namentlich die Konzeption einer Mischverfassung, wie sie in der römischen Republik habitualisiert wurde und zu der es schon in Platons ›Nomoi‹ Vorformen gibt. Im Sinne Platons vollzieht sie sich indessen mit einer erschreckenden Irreversibilität: Der Abstieg von der Aristokratie über die Timokratie, in der ausschließlich das Kriterium der Ehre beherrschend ist, über die Oligarchie zu ihrem schlechteren Zwilling, der Cliquenherrschaft, der Ochlokratie, hin zu einer als Vorstufe der Anarchie firmierenden Demokratie erweist sich in der Verwebung der schlechter werdenden Seele und der schlechter werdenden Polis als Skalierung eines Untergangs. Erst im platonischen Spätdialog ›Nomoi‹ räumt Platon einen möglichen Wendepunkt ein: den Umstand, dass ein gut gearteter junger Tyrann wieder für die beste Herrschaftsform gewonnen werden könne. Ebenso deutet sich in den ›Nomoi‹ die Konzeption einer Mischverfassung an. Vor dem Hintergrund von Platons eigener dreimaliger Erfahrung in Syrakus erweist sich auch diese Erwartung als wenig verlässlich. Wenn man die Lehre von den absteigenden Herrschaftsformen aus der ›Politeia‹ als Schicksal der Polis begreift, so scheint es unumkehrbar, dass die Stadt an der doppelten Schlechtigkeit von Polis und Seele scheitern muss. Im Horizont dieses Ausblicks kommt Platon auf die Frage nach dem Glück des Gerechten bzw. des Ungerechten zurück. Sie war ja zunächst außer Kraft gesetzt worden, weil Glaukon und Adeimantos 221 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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das Gerechte um seiner selbst willen – und eben nicht nach seinen Folgen – dargestellt haben wollten. Nun zeigt sich: Nach dem Weg über die Idee des Guten kann auch die Glückseligkeitsfrage wieder eingeführt werden. Das Gute erweist sich als eigentliche Manifestation der Glückseligkeit. Umgekehrt wäre der Weg nicht möglich. Das platonische ›hikanon‹, die hinreichende Bestimmung eines Begriffs, ist jedoch erst erreicht, wenn auch dem Einzelfall Rechnung getragen ist. Es muss also gezeigt werden, wie die Idee im einzelnen Phänomen präsent ist. Hier deutet sich die Frage nach dem eigentlich guten Leben an. Es muss, wie Platon dann im ›Philebos‹ begrifflich zeigen wird, ein aus Erkenntnis und Lust gemischtes Leben sein. Hiervon ausgehend kann dann im ›Philebos‹ eine Rangfolge von Gütern (agatha) entwickelt werden. Sie hängt davon ab, ob das wahre und wirkliche Gute ihnen innewohnt; in der ›Politeia‹ ist davon noch nicht die Rede. Verdeutlicht wird aber, dass der Tyrann in die Falle seiner eigenen Lebensform tappt. Das Tun des Seinen, die Grundformel der Gerechtigkeit, kontrastiert der Vieltuerei und dem Tun des Nicht-Angemessenen. Ersteres nutzt der Seele, Letzteres schadet ihr. Die Frage nach der Lebensgestaltung des verständigen Menschen entwickelt sich vor dem Horizont des tyrannischen Lebens. Wenn man die eindrücklichen biographischen Schilderungen über Hitlers letzte Tage im Bunker und die Furcht Stalins vor seiner engsten Umgebung vor die platonische Blaupause hält, könnte man in anachronistischer Weise erstaunt sein, dass Platon eine Phänomenologie auch späterer Formen der Tyrannis entfaltet. In der Lebenskunst des Verständigen deutet sich bereits, wenn auch noch nicht terminologisiert, die spätere aristotelische Lehre von der Klugheit (phronesis) und jener Mitte (mesotes) an, die zu einer dauerhaften Charakterprägung führt. Diese sind Riegel, dass das »ungetüme Tier«, wie Schleiermacher übersetzt, die untere Seelenmacht, in keinem Fall die Herrschaft gewinnt. Dass sich unmittelbar daran, in Buch X, die Lehre vom dreifachen Abstand des Seienden zur Idee anschließt, die ihrerseits die fundamentale Kritik an den täuschenden ›Dissoi Logoi‹ der Dichter motiviert, ist von großer tektonischer Bedeutung. Die Idee ist das Urbild, die hergestellten und in Gebrauch genommenen Dinge, die ›pragmata‹, stehen ihr am nächsten. Die Kunstwerke, die Platon als Scheinbilder und ›Eidola‹ aufweist, haben eine weitergehende Ferne zu ihr. Hier begegnen wieder Präferenzen des Sokrates im Gespräch mit den Menschen in der Polis: Den ansonsten wenig geachteten Handwerkern erkannte er zu, dass sie sich auf ein, freilich eng einge222 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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grenztes, ›idion ergon‹ verstehen. Anders als die Rhetoriker und Politiker, die Windeier hervorbrächten. Die Frage nach der Glückseligkeit aber bleibt letztlich eng mit der Frage nach der Gerechtigkeit verflochten. Dies zeigt sich nicht mehr argumentativ, sondern im Mythos von dem Pamphylier Er, dessen große Vision die Wahl der Lebensformen vor der Wiedereinkörperung schildert. Entscheidend ist, dass die Seele eine Gerechtigkeit gewonnen hat, die auch über den Verlauf des irdischen Lebens hinaus standhält. Nur dann wird der Bios gewählt werden können, der der Seele tatsächlich zuträglich ist. 6. Die ›Nomoi‹ werden in ihren Hauptaspekten in einem Ausblick entwickelt. Dabei liegt ein besonderer Akzent auf der Form des Gesetzes, seiner Genese aus den realen politischen Machtkonstellationen, ganz im Unterschied zu der idealtypischen Darstellungsweise in der ›Politeia‹. Das Verhältnis zwischen statutarisch gebietendem Gesetz und dem weicheren Garn der ›orthe doxa‹, das in den Prooimien entwickelt wird, wird eingehend beleuchtet – nicht zuletzt sind die ›Nomoi‹ als ›wahre Rhetorik‹ und insofern auch als Beispiel wahrer Dichtung nach der Metapoetologie des ›Phaidros‹ zu verstehen. Sie setzen die eine Idee voraus, münzen sie aber in eine konsensuale Einsicht um. Deshalb bringen sie die ›Idee des Guten‹ in der Form eines ›möglichen Besten‹ zur Darstellung, das für Aristoteles’ ›Ethik‹ und ›Politik‹ zur leitenden Kategorie werden sollte. Die Ordnungsstruktur durch Grenzen und Bestimmung der Magistrate wird als eigene Dimension politischen Denkens in den ›Nomoi‹ umrissen. Nicht zuletzt aber wird die theomorphe, auf das Gottesgesetz verweisende Perspektive freigelegt. Zu fragen ist dabei, wie sie sich zur Begründung aus der Idee des Guten als dem höchsten Betrachtungspunkt verhält – als heteronom archaischer Schritt oder als Rückgang der Denkautonomie in die ihr vorausgesetzte ›theia moira‹.

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I.

Jenseits der Verwechselbarkeit: Die wahre Tragödie des Gerechten

Atopisches Dasein Im II. Buch der ›Politeia‹ werfen Glaukon und Adeimantos ein gravierendes Problem auf: die Frage, ob der Gerechte und der Ungerechte verwechselbar seien, wenn sich der Blick nur auf den Anschein von Gerechtigkeit richte. Schein und das, was Gerechtigkeit in Wahrheit ist, werden eindrücklich getrennt. So entstehen die eindrücklichen Motive von einem Leiden des Gerechten, das Verfolgung und Tod miteinschließt. Die Frage nach der Gerechtigkeit und die Frage nach der Glückseligkeit werden durch die Einlassung von Glaukon und Adeimantos strikt voneinander gesondert. Erst im zehnten Buch der ›Politeia‹ nimmt Sokrates wieder auf das Ausgeschlossene Bezug, indem er erstmals ausdrücklich von der Glückseligkeit spricht, die aus der Gerechtigkeit folge. Es ist so, als würde eine Ausklammerung (Epoché) zurückgenommen. Glaukon hatte seinerzeit, im Zusammenhang seines Versuches, die Einwände des Thrasymachos weiterzuführen, im II. Buch zwischen solchen Gütern, die an sich selbst begehrenswert sind, solchen, die es an sich selbst und aufgrund der Folgen, die sie hervorrufen, und schließlich solchen, die es einzig durch die Folgen sind, unterschieden (357b). Während Glaukon wie in der Rolle eines Advocatus diaboli zu zeigen versucht, dass Gerechtigkeit überhaupt kein Gut sei, sondern die vertragsmäßige Übereinkunft, weder Unrecht zu tun noch zu leiden, die »in der Mitte liege zwischen dem vortrefflichsten, wenn einer Unrecht tun kann, ohne Strafe zu leiden, und dem Übelsten, wenn man Unrecht leiden muss, ohne sich rächen zu können« (359a), die also dem Interesse des Schwächeren gemäß sei, ergänzt Adeimantos, dass sich ein Schein von Gerechtigkeit durch die angenehmen Folgen empfehle, die ein scheinbar gerechtes Leben nach sich ziehe. Lediglich dieser Schein werde in der Dichtung und im öffentlichen Lob anerkannt (362d ff.), während der eigentlich Gerechte, der aber nicht gerecht zu sein scheint, leer ausgehe und ihm für gewöhnlich keine Annehmlichkeit zufalle. 1 Vgl. dazu Szlezák, Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie, a. a. O., S. 283 ff. und Stemmer, Platons Dialektik, S. 153 ff.

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Diese Trennung wird erst am Ende des X. Buches rückgängig gemacht, und erst so vollendet sich die philosophische Einsicht in das Wesen der Gerechtigkeit. Damit fällt die Unterscheidung des Glaukon und es wird die tragende Prämisse genannt, dass Gerechtigkeit mit der Ungerechtigkeit verwechselt werden könne (612a–c). Wenn Sokrates nun die Folgen mithinzunimmt, so deshalb, weil sie sich vom Wesen der Gerechtigkeit nicht trennen lassen. Sie sind intrinsisch mit ihr verbunden und erschließen sich als jenes Glück und jener Lohn (misthos) der Gerechtigkeit, der in ihr selbst liegt (612a). Um dies zu erkennen, muss der Philosoph sich allerdings wieder in die kleine Schrift der Seele versenken und er muss sie in einem Zustand zu entziffern suchen, wo sich ihr Wesen in reinster Gestalt zeigt: nach der Befreiung vom Leib (611a ff.). Diese phänomenhafte Reinheit geht offensichtlich über die begriffliche Reinheit hinaus, die zwischen An-sich-selbst-sein und Folgen der Gerechtigkeit von Glaukon und Adeimantos eingefordert worden war. 2 Erst vor dem Hintergrund der wahren Glückseligkeit wird aufgedeckt, was den Kern der Differenz in der Analogie zwischen großer und kleiner Schrift ausmacht und was die Seele im Letzten vom Gemeinwesen scheidet: Sie ist ›unsterblich‹ (608d). Glaukon ist entgangen, dass Sokrates’ Gedankenführung von Anfang an auf diese Einsicht konzentriert gewesen war. Es zeigt sich eben, dass es gar kein äußerliches Übel geben kann, das die Seele zerstören könnte. Unsinnig wäre doch offensichtlich die Behauptung, der Sterbende werde schlechter und ungerechter (610c). Dem, dessen Blick kontemplativ auf die Idee des Guten gerichtet ist, wird der Tod, auch wenn er nach menschlichen Maßstäben ungerecht zu sein scheint, nicht schlimm vorkommen, da er doch allen Übeln ein Ende bereitet. Anders sieht das der Opponent. Denn, wie auch Glaukon sofort einsieht, alle Schlechtigkeit stellt sich lebenslustig und wachsam dar: Sie ist auf ihre eigene Selbsterhaltung bedacht (610e). Wenn demgegenüber die Gerechtigkeit unter den Bedingungen des endlichen Lebens vielfach verzerrt erscheint, bis zum Monströsen, so wie der Meergott Glaukos (611e), so hält Sokrates doch fest, dass der Gerechte zuletzt nach Verfolgung und Verarmung auch irdische Anerkennung finden werde. Dies scheint Ausdruck eines unergründeten und unergründbaren Vertrauens zu sein: Die Götter würden Vgl. Szlezák, Platon und die Schriftlichkeit, a. a. O., S. 71 ff. und Kahn, Proleptic Composition in the ›Republic‹, or Why Book I was never a Seperate Dialogue, in: Classical Quarterly N.S. 43 (1993), S. 131 ff.

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den Gerechten, der ihnen doch am meisten gleiche, nicht vernachlässigen (613a). Es soll jedenfalls kein Widerspruch gegen die tatsächlichen Leiden des Gerechten sein, an die die beiden jungen Gesprächspartner im II. Buch der ›Politeia‹ eindrücklich erinnert hatten. Diese Hinweise hatten für die nachlebenden Sokratesfreunde großes Gewicht, da sie das Schicksal des Sokrates darin anklingen hörten. Sokrates war im ›Politeia‹-Dialog konsequent der Grenzsetzung von Glaukon und Adeimantos gefolgt. Er hatte den Blick nur auf das Wesen der Gerechtigkeit gerichtet und nicht einmal versucht zu zeigen, dass der Gerechte ungeachtet aller Unbilden doch glücklich sei. Es ist dieses Schweigen, das Aristoteles später in der Lehre von der Inkongruenz zwischen Verdienst und Glück aufnehmen wird (Eth. Nic. I, 10). Der Zusammenhang wird am Ende der ›Politeia‹ und vor dem Hintergrund des Mythos in einer veränderten Betrachtungsweise gewonnen. Dabei geht, wie Helmut Kuhn im Einzelnen gezeigt hat, die dialektische Sprechweise in Dichtung über. Der Mythos am Ende der ›Politeia‹ beginnt mit einem großen Lob, einem ›Enkomion‹, auf den Gerechten. Kuhn sieht deshalb am Ende des X. Buches Platon zum Dichter der wahren Tragödie und damit zum Nachfolger der attischen Tragiker werden. 3 Tatsächlich sprechen manche formalen und architektonischen Erwägungen für eine solche Auffassung. Dafür spricht auch, dass die Dichtungskritik vom Ende des zweiten und Beginn des dritten Buches in der ersten Hälfte des X. Buches wiederaufgenommen und weitergeführt wird. Im II. Buch blieb in großen Partien ungesagt, wie eine der Wahrheit und der Idee gemäße Dichtung beschaffen sein sollte. Auch wie angemessen vom Göttlichen (dem Gott) gesprochen werden könne, war seinerzeit nicht im Grundsätzlichen erwogen worden. Sokrates hatte bemerkt: »Wir – ich und du, mein lieber Adeimantos, – [sind] im Augenblick keine Dichter, sondern wir sind dabei eine Stadt zu gründen« (378e–379a). Auf beides gibt der eschatologische Mythos eine Antwort. Dieser Mythos ist, seinem Anspruch nach, eine wahre Dichtung, da er ohne jede Beschönigung von der schweren Last, die das Leben des Gerechten mit sich bringen kann, und von dem tragischen Geschick schuldlosen Schuldigwerdens, jenem »Stachel im H. Kuhn, Die wahre Tragödie. Platon als Nachfolger der Tragiker, in: K. Gaiser (Hg.), Das Platonbild. Zehn Beiträge zum Platonverständnis. Hildesheim 1970, S. 231 ff.

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Fleisch« der griechischen Tragödie, der auch das Denken »in Atem« hielt, spricht, sich aber bei der menschlichen Misere nicht aufhält, da ihr, wie Platon bemerkt, »keine allzu große Wichtigkeit« zukomme (604c). Das tragische Geschick verschuldet-unverschuldeten Leidens, der unumgänglichen Schuld im Sinne des Spruches des Anaxagoras soll also nicht in erster Linie beklagt, es soll vielmehr in aller Klarheit im Blick auf das wahre und das verfehlte Leben erhellt werden. Sprechend ist hier, dass in dem Mythos des Er das Leiden als Einübung (gymnasía) in die rechte Wahl der Lebensformen verstanden wird (vgl. 618e und 619d). Leiden ist insofern eine letzte Vertiefung der Philosophie, von der diese selbst aber nur mythisch sprechen kann. 4

Der Mythos des Pamphyliers Er Seine Erhellungskraft verdankt der tragische Mythos vom Pamphylier Er am Ende der ›Politeia‹ dem Umstand, dass er die Frage nach der Seelengerechtigkeit nicht in der kurzen Spanne endlichen Lebens, sondern im Blick auf den Zyklus der Inkarnationen und auf die tausendjährige Seelenwanderung zu vertiefen erlaubt. Damit wird auch das Ausmaß an Verantwortlichkeit zu erkennen gegeben, das einem gerechten Leben eigen ist. Freiheit und Notwendigkeit halten sich die Waage. Gerechtigkeit wird in dieser Perspektive als die Fähigkeit verstanden, eine eigene Lebensform zu wählen. Die möglichen Lebensformen werden, so erzählt der Mythos, an einer Spindel gesponnen, die im Schoße der Notwendigkeit (ananke) gedreht wird (617b). Ihre Töchter, die Moiren, die den verschiedenen Zeiten zugewiesen sind, begleiten dieses Drehen mit ihrem Gesang. Lachesis singt »das geschehene, Klotho das gegenwärtige, Atropos aber das bevorstehende. Und Klotho berührt von Zeit zu Zeit mit ihrer Rechten den äußeren Umkreis der Spindel« (617c). Aus dem Schoß der Lachesis empfängt die Seele die Lose zur Wahl der künftigen Lebensform. Denn es ist, wie die Fehler in der Wahl von Lebensformen dann zeigen, vor allem die eigene Vergangenheit, von der sich die Wählenden nicht lösen können (618a). Hinter den Seelen liegt das Gericht und eine tausendjährige Wanderung (614c ff). Doch sie haben noch keinen Anteil an der Gnade des Vergessens bekommen. Deshalb werden sie erst aus Vgl. J. Pépin, Mythe et allégorie. Paris 1972; siehe auch Kuhn, Die wahre Tragödie, a. a. O., S. 282 f.

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dem Lethefluss trinken, nachdem sie ihre Wahl getroffen haben. Die Perspektive von Schuld und Schuldlosigkeit der griechischen Tragödie kulminiert in der Wahl einer Lebensform. »Nicht euch wird der Dämon erlosen, sondern ihr werdet den Dämon wählen. Wer aber zuerst gelost hat, wähle zuerst die Lebensbahn, in welcher er dann notwendig (ex anankés) verharren wird. Die Tugend ist herrenlos, von welcher, je nachdem jeglicher sie ehrt oder geringschätzt, er auch mehr oder minder haben wird. Die Schuld ist des Wählenden; Gott ist schuldlos« (617e). Schuld bedeutet im Sinn des ›aitia‹-Begriffs zugleich ›Verursachung‹. Der Wählende verursache also selbst die Lebensform, in der er dann mit Notwendigkeit gefangen bleibt. Er beginnt frei, dann ist er gebunden. Eine Berufung oder Revision ist nicht möglich, wenn er einmal gewählt hat. Dabei wird der Mensch bezeichnenderweise nicht in einer Beziehung zur göttlichen Sphäre gesehen. Seine Tugend (areté) ist ›herrenlos‹ (adespoton), also in diesem Sinn autonom. Die Lebensformen, die zur Wahl stehen, liegen jedem, der wählt, im Grundriss vor Augen und geben eine Vielzahl von Wahlmöglichkeiten zu erkennen. Der Mythos berichtet, die Lebensarten aller Tiere seien darunter (618a) sowie Zwingherrschaften, »einige lebenslänglich, andere mitten inne zu Grunde gehend und in Armut Verweisung und Dürftigkeit sich endigend; so auch Lebensweisen wohl angesehener Männer« (618 a). Wie Sokrates, indem er den mythischen Bericht unterbricht und sich unmittelbar an seinen Schüler Glaukon wendet, sagt (618b), kommt es darauf an, sich nicht an diese Vielheit der Phänomene zu verlieren, sondern alles Augenmerk auf die eine Kenntnis zu richten, die erforderlich ist, um eine gute von einer nicht-guten Lebensweise unterscheiden zu können (618c). Eben hier aber hat sich die Fähigkeit des Gerechten zu bewähren, obgleich auch seine Urteilskraft durch die Vergangenheit gefangen ist und obgleich die großen Seelen, die der Pamphylier Er erschaute, verfehlt und nicht nach der Kenntnis wählten: Ihm bot sich ein jämmerliches und lächerliches, dabei ein wundersames (thaumasian) Schauspiel (620a). In dem weiten Spektrum, das sich hier auftut, wählen die meisten, unter denen auch Orpheus zu finden ist, »der Erfahrung ihres früheren Lebens gemäß« (620a). Das aber bedeutet, dass sie in ihrem vergangenen Leben befangen sind, einzelne Züge aus der Vielheit der zur Wahl stehenden Lebensarten isolieren, aber diese Lebensformen keineswegs im Ganzen begreifen können. Alle Schwäche der Erkenntnis kehrt also angesichts dieses nervus probandi wieder. In den meisten Fällen bekommen ex228 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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treme Lebensarten den Vorzug, versprechen sie doch Ruhm und Macht. Derjenige, auf den nach dem Los als erster die Wahl kam, sei »sogleich darauf zugegangen und habe sich die größte Zwingherrschaft erwählt; aus Torheit und Gier aber habe er gewählt ohne alles genau zu betrachten, und so sei ihm das darin enthaltene Geschick, seine eigenen Kinder zu verzehren, und anderes Unheil entgangen« (619b f.). Dabei ist nicht zu übersehen, dass dem Erfordernis eines autonomen Wahlvermögens auf Seiten des Wählenden auf der Seite des Schicksals eine, wenngleich blinde, zuteilende Gerechtigkeit entspricht: Werden doch so viel mehr Lebensformen (bioi) zur Wahl gestellt, als es Wählende gibt, sodass auch dem Letzten, der wählen kann, genügend gute und angenehme Lebensformen zur Verfügung stünden (619b). Auch er kann indes diese Lebensformen verfehlen, ebenso wie der erste, der an der Reihe ist. Die Gerechtigkeit manifestiert sich auch darin, dass keine äußere Rangordnung (taxis) der Seelen vorgegeben ist (618b), denn die Seele, die eine andere Lebensweise wählt, wird auch notwendigerweise eine andere. Nicht schon in der Losung der Reihenfolge also manifestiert sich die uneinsehbare Kraft der Moiren, sondern darin, dass niemand um die Weltecke der Vergangenheit, über die Lachesis wacht, hinaussehen kann (620d f.). Ebenso ist es schicksalshaft, dass Atropos, die Moira des Künftigen, den angesponnenen Faden unveränderlich befestigt (620e). Die Schuld (aitia) wird in dieser Befestigung sichtbar. Sie kann nicht mehr revidiert werden. Vor diesem Hintergrund versteht es sich, dass Sokrates zweimal darauf verweist, dass die Orientierung auf die Gerechtigkeit das Vermögen fordert, eine Lebensform zu prüfen und zu erkennen, was gut und was schlecht an ihr ist. Diese Lebensform muss über ein Leben hinaus Gültigkeit haben (618b, vgl. 621c). Nur der wirklich Gerechte wird sich auch von den Ritualen, Schrecknissen und Blendbildern des Hades, den schrecklichen und den verlockenden (619a), nicht beirren lassen. 5 Auf das Gericht und die Wahl der Lebensformen nach dem Gesetz der Notwendigkeit in Maßgabe der Freiheit folgt als letzte Episode der Wiedereintritt der Seele in das Leben. Er ist in dem mythischen Bericht von einer zweifachen Reinigung begleitet: dem Weg zum Fluss ›Ameles‹ (›ohne Sorge‹) durch das Feld des Vergessens, nach der Schilderung einer Landschaft von Hitze und Qualen, Zum Mythos selbst: K. Reinhardt, Platons Mythen, in: ders., Vermächtnis der Antike, a. a. O., S. 219 ff., hier S. 265 ff.

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und dem Trunk vom Lethewasser. 6 Getrunken wird nach einem inneren Maß, nach der Klugheit (phronesis) (621a). Die Phronesis erscheint hier als eine bewahrende Gottheit, die Maßlosigkeit verhindern soll. Vergessen werden müssen wohl die näheren Umstände von Gericht, tausendjähriger Seelenwanderung und Wahl, vergessen werden muss auch das vergangene Erdenleben. Alle Einzelheiten eines vergangenen Lebens fallen diesem Vergessen anheim. Die Verbindung von Freiheit und Notwendigkeit, die den Mythos bestimmt hatte, zeigt sich hier noch einmal in pointierter Weise. Nur wenn sich der Trinkende an die Phronesis hält, kann sie ihm das Maß zeigen und ihm zur Schutzgöttin werden. Dies Wort vom Maß korrespondiert seiner anderen Nennung, der Maxime vom »mittleren Leben«, das nach den Möglichkeiten zu wählen sei (619a). Der Mythos spricht nicht von »Unrecht« im Sinn des Gorgias-Satzes, dass es besser sei, Unrecht zu leiden als Unrecht zu tun. Er handelt von den Übeln und gibt damit zu verstehen, dass nicht der offen und willentlich begangene Rechtsbruch das zentrale Problem einer Verfehlung menschlichen Lebens ist, sondern die offenkundige Unmöglichkeit, mit dem endlichen menschlichen Blick die Durchmischungen von Gutem und Schlechtem zu erkennen. Dieser Gedanke führt zur Gesamtperspektive der Frage, wie man leben soll. Er schließt ein, dass das, was sich als blendendes letztes Lebensziel darbietet, eine letzte Fehlorientierung sein könnte. Helmut Kuhn sprach davon, dass der Bericht des Er eine »mythische Theodizee« sei, die sich nicht in eine Lehre zurücknehmen lasse. 7 Wenn man überhaupt von einer ›Theodizee‹ sprechen kann, so ist mitzuberücksichtigen, dass Platon deren Möglichkeit im Grunde von vornherein ausschließt. Denn nur der Gott kann als Urheber des Guten firmieren. Die Lehre scheint vielmehr im Mythos an den seltenen Stellen auf, an denen Sokrates sich an seine Dialogpartner, Siehe Kuhn, Die wahre Tragödie, a. a. O., S. 270 ff. Siehe auch Seubert, Polis und Nomos, a. a. O., S. 430 ff., zur Seelenstruktur P. M. Steiner, Psyche bei Platon. Göttingen 1992, S. 220 ff. 7 Kuhn, Die wahre Tragödie, a. a. O., S. 282 f. Es bleibt selbstverständlich das Problem, ob die Theodizee-Frage, die in einem jüdischen (Hiob) und einem christlich-philosophischen Kontext primär ausgebildet worden ist, sinnvoll auf die ›Politeia‹ und auf Platon zurückzubeziehen ist, zumal in der Götter- und Mythoslehre der Bücher II und III der ›Politeia‹ festgeschrieben wird, dass der Gott nur als Urheber des Guten, nie eines Bösen in den Blick kommen darf. Damit ist einer jeden Form von Theodizeefrage letztlich der Grund entzogen. 6

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Thrasymachos – oder: Das Erbe der Aporetik in der ›Politeia‹

die beiden Platon-Brüder Glaukon und Adeimantos, richtet und das, was in der mythischen Dichtung und in den vorausgehenden Reden des Sokrates immer schon im Blick stand, auch ausdrücklich macht: die Frage nach der Gerechtigkeit als das leitende und bestimmende außer-moralische Urphänomen aller menschlichen Lebensführung (vgl. 619b). Die letzten Worte der ›Politeia‹ sprechen deshalb von Erinnerung an diesen Logos und von der Bewahrung, die von ihm ausgehen kann. »Und diese Rede, o Glaukon, ist erhalten worden und nicht verloren gegangen, und kann auch uns erhalten, wenn wir ihr folgen« (621b f.). Doch gehen wir vom mythologischen Endpunkt zum Anfang der ›Politeia‹ zurück.

II.

Thrasymachos – oder: Das Erbe der Aporetik in der ›Politeia‹

Was Gerechtigkeit ist – Aporetische Annäherung Die durchgehende Frage der platonischen ›Politeia‹ ist die Frage nach der Gerechtigkeit. Das erste Buch bildet, wie wir sahen, der Thrasymachos-Dialog, der in größerer Nähe zu den aporetischen Frühdialogen steht. Die Ausgangssituation, Sokrates’ Weg zum Bendis-Fest und damit in den Bereich der Stadt Athen hinab, könnte man als Vorspiel zum gesamten Dialog interpretieren. 8 Indizien für eine durchgehende Redaktion, die das mit hoher Wahrscheinlichkeit zunächst isoliert publizierte erste Buch in den Gang des Dialogwerks insgesamt einfügen, gibt es manche: Der Abstieg in die Stadt etwa kann im Licht des Höhlengleichnisses als Einlösung des geforderten Rückwegs des Philosophen verstanden werden. 9 Der Thrasymachos-Dialog steht jedoch auch für sich. Er führt nicht zur Antwort auf die Frage nach dem Wesen der Gerechtigkeit. Sein Ansatz wird sogar revidiert, wenn Glaukon und Adeimantos Dazu Szlezák, Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie, a. a. O., S. 71 f., siehe auch Kahn, Proleptic Composition in the ›Republic‹, a. a. O. 9 Vgl. Strauss, Studies in Platonic Political Philosophy. With an Introduction by Th. L. Pangle. Chicago, London 1983. Man wird damit rechnen können, dass auch »gestische Symbolisierungen« (Schleiermacher) immer eine Bedeutung für den Richtungssinn der Gedankenbewegung haben können. Dazu auch Stemmer, Platons Dialektik, a. a. O. und Szlezák, Platon lesen, a. a. O., S. 1993. 8

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wissen wollen, was die Gerechtigkeit ohne allen Anschein sei. Denn Sokrates hatte im Thrasymachos-Dialog gerade mit dem Anschein der Gerechtigkeit operiert. Eindrücklich am Thrasymachos-Dialog ist, dass der alte Hausherr Kephalos von der Verpflichtung zur Argumentation befreit ist. Es ist allein schon ein Verdienst, die Zeit überdauert zu haben. Wenn auch deren Vernunftfähigkeit alles andere als befriedigend ist, die Bezeugung des gelebten Lebens ist von eigener Dignität. Im Thrasymachos-Dialog werden verschiedene Definitionsversuche als ungenügend überführt. Dabei leuchtet die spätere Zentralformel des ›ta heautou prattei‹ bereits auf: Sie wird aber anfangs falsch verstanden. Der Dichter Simonides deutet diese Bestimmung (331e1 ff.) vor dem Hintergrund des Schuldigseins, das er wiederum auf den Freund-Feind-Gegensatz bezieht. Gerecht sein heißt demnach, jedem das zu geben, was man ihm schuldet: den Freunden Gutes, den Feinden aber Schlechtes. Durch mehrere Gegenreden des Sokrates hindurch 10 kommt es zu einer grundlegenden Revision: Zu schädigen könne niemals Sache des Gerechten sein (225b 2). Dann erst tritt der Sophist Thrasymachos mit seiner Kritik an der bisherigen Untersuchung auf. Er nennt sie ein »leeres Geschwätz« (336c) und sprengt ihren Rahmen. Kennzeichnend ist, dass er den Elenchos, die Fragekunst des Sokrates, grundsätzlich in Zweifel zieht und ihr vorwirft, ein geheimes Wissen zurückzuhalten (336d– e). Solche Missverständnisse der sokratischen Ironie fanden sich offensichtlich bei Zeitgenossen des Sokrates mehrfach. Die Antilektik als Überwältigung des Gesprächspartners mit Macht und Gewalt ist wiederum kennzeichnend für diesen Auftritt. Offensichtlich ist auch die Orientierung an Strukturzusammenhängen und Ideen in keiner Weise im Sinn des Thrasymachos: »Und dass du mir nur nicht sagst, es [sc. das Gerechte] sei das pflichtmäßige noch das nützliche noch das zweckmäßige noch das vorteilhafte […], sondern deutlich und genau sage, was du davon sagst« (336c). Thrasymachos definiert Gerechtigkeit dann als das dem Stärkeren Zuträgliche (338c). Dabei verstrickt sich seine Behauptung in Irrtümer und Unklarheiten, denn er vermag nicht zwischen wohlverstandener und nur scheinbarer Zuträglichkeit zu unterscheiden. Dass die Klärung scheitern muss, überrascht nicht: Vgl. zu den Details vor allem Stemmer, Platons Dialektik, a. a. O., S. 153 ff. Siehe auch Krämer, Arete bei Platon und Aristoteles, S. 45 ff.

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Offensichtlich bedürfte es an dieser Stelle solcher Klärungen, wie sie Platon später konstitutiv in seiner Dialektik freilegt: der Differenz zwischen Anschein und Wahrheit bzw. zwischen Wissen und Meinen. Sokrates kann deshalb festhalten, Thrasymachos selbst gestehe ein, »dass die Regierenden bisweilen, was für sie selbst übel ist, anordnen und dass den Regierten gerecht sei dies zu tun« (340a3 ff.). Die sophistischen ›Dissoi logoi‹ wenden sich offensichtlich gegen sich selbst und heben die Behauptung auf. Es hilft wenig, dass Thrasymachos mit dem Hinweis auf die Unfehlbarkeit des Wissens der Herrschenden diese Rede zu retten versucht. Sokrates sucht vor allem eines offensichtlich zu machen: Dass die Sophistik keinen Maßstab hat und dass das, was sie als »königliche Kunst« ausgibt, tatsächlich nur ein auf Macht um der Macht willen bezogenes Verhältnis markiert. Weitreichende Modifizierungen, mit denen seine Behauptung letztlich fällt, muss Thrasymachos schließlich dem Sokrates einräumen: Jede Kunst, so auch die »königliche Kunst« zu regieren, bedarf eines Adressaten und eines Gegenstandes, die außerhalb derselben liegen. Nach einer langen Beispielreihe kann konstatiert werden: »Also keine Wissenschaft besorgt oder befiehlt das dem Herrschenden Zuträgliche, sondern das dem Schwächeren und von ihr selbst beherrschten« (342c–d). Obwohl die Perspektive an dieser Stelle geklärt scheint, beginnt Thrasymachos noch einmal und verstrickt sich noch einmal in die Fallstricke seiner Rede. Seine provozierende Frage, ob Sokrates eine Amme habe (343a), evoziert den alten und standardisierten Vorwurf der Weltfremdheit des Philosophen, der nicht wisse, wie sich die Dinge in Wahrheit verhalten. Er lenkt damit den Dialog von der Frage nach der Wahrheit auf die Frage nach dem Nutzen um und singt ein Loblied auf die Tyrannis. Sie zeigt gleichsam in der deutlichsten Schrift die Überlegenheit einer Kunst, der es nur um sich selbst geht. Der Tyrann sei gerade deshalb der glücklichste aller Menschen. Denn seine vermeintliche Kunst ist es, »welche den, der Unrecht getan, zum Glücklichsten macht, die aber das Unrecht erlitten haben und nicht wieder Unrecht tun wollen, zu den elendesten« (344a). Die Ungerechtigkeit sei größer und strahlender als es die Gerechtigkeit je sein kann. Sokrates führt korrigierende Überlegungen ein, die zeigen, dass keine Kunst ihren eigenen Nutzen hervorbringt.

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Der »gerechte Hirte« Als exemplarisches Beispiel wird dabei die »Hirtenkunst« hervorgehoben, eine vorläufige Analogie zur Regierungskunst, die im Spätdialog ›Politikos‹ wieder aufgenommen werden wird. Nichts anderes sei ihre Verpflichtung, »als dass sie dem, worüber sie gesetzt ist, das Beste darreiche« (363c–d). Jede Kunst hat also ihre Ausrichtung. Die phänomenologischen Philosophen des 20. Jahrhunderts werden von »Intentionalität« sprechen. Sie ist auf die nur ihr eigene Hervorbringung bezogen. An dieser Stelle fällt bereits eine Aussage, die direkt auf den Philosophenkönigssatz verweist: »Die größte Strafe aber ist, von Schlechteren regiert werden, wenn einer nicht selbst regieren will; und aus Furcht vor dieser scheinen mir die Rechtschaffenen zu regieren, wenn sie regieren« (347c). Damit ergibt sich aber ein methodisches Problem: Thrasymachos’ Abwehr kann sich offensichtlich nicht vollständig und hinreichend auf Argumente stützen. Psychologisch wird dies darin evident, dass sie in eine gänzliche und umfassende Logosfeindschaft (mislogia) umschlagen muss (348a). Sokrates wählt deshalb in seiner Gegenüberlegung (344d–348b) eine lange Rede; Thrasymachos wäre nicht bereit und wohl auch nicht in der Lage, einzugestehen, dass ihm eine Argumentation eingeleuchtet hätte, wenn man schrittweise vorgeht. Aufgeworfen wird auch das Problem, das diese langen Redeformen mit sich bringen. Man müsste, sagt Sokrates, »die Güter zählen und messen […], die wir jeder dem andern vorhalten und wir würden schon Richter bedürfen, welche zwischen uns entschieden« (348 b). Anders sei es, wenn man in der gesprächsweisen Untersuchung den anderen zum Eingeständnis zu bringen suche. Thrasymachos erwidert mit einer für die Sophistik kennzeichnenden Volte: Da die Nützlichkeit der höchste Maßstab ist, Ungerechtigkeit aber als nützlich gilt, sei die Ungerechtigkeit selbst »Tugend und Wahrheit« (349c–d). Der Ungerechte sucht in allen Dingen seinen Vorteil (349c), muss Thrasymachos zugeben. Gegenüber ihm Ähnlichen und Unähnlichen möchte er diesen Vorteil sichern. Hier dringt eine Metaebene durch, auf der sich zeigt, dass für den Ungerechten auch die grundlegenden Unterschiede von Ähnlichkeit und Unähnlichkeit verwischt werden. Die argumentativen Aussagen des Thrasymachos erweisen sich jedenfalls als nicht haltbar. Es dürfte aber unwahrscheinlich sein, dass 234 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

Thrasymachos – oder: Das Erbe der Aporetik in der ›Politeia‹

er seinen Macht- und Herrschaftswillen eingrenzt. Sokrates macht, wie im Vorverweis auf die Pathologie der tyrannischen Lebensform in ›Politeia‹ IX, deutlich, dass die »Gewalt ohne Gerechtigkeit« alles zerstören müsste. Sie bewirkte daher eine permanente Lähmung und ließe nichts zustande kommen. Dauerhaftes Glück und Förderung der eigenen, menschlichen Zielsetzungen sind von der Ungerechtigkeit nicht zu erwarten. Thrasymachos gibt dies zu; er tut es allerdings nicht aus Überzeugung, sondern mit einer ironischen Wendung. Wo ihm die Argumente fehlen, flüchtet er in den Zynismus: Sokrates sei durch das Eingeständnis zum Bendisfest »bewirtet worden« (354a); er selbst habe das, was er zugestanden habe, dem Sokrates zuliebe zugestanden. Er verweigert sich also der Bezeugung der neuen Wahrheit. Am Ende von Politeia I deutet sich dann bereits die Frage an, die im Zentrum der ›Politeia‹ stehen wird, eben die Frage nach dem Wesen der Gerechtigkeit (354c). Sokrates gesteht ein, dass er bislang »nichts gelernt« habe: »Denn solange ich nicht weiß, was das Gerechte ist, hat es gute Wege, dass ich wissen sollte, ob es eine Tugend ist oder nicht« (354c). Hier deutet sich bereits an, dass, was Tugend überhaupt ist, sich besonders an der Gerechtigkeit erkennen lassen wird, und ebenso wird verdeutlicht, dass die Gerechtigkeit einen intrinsischen Wert hat. Der Schatten der Thrasymachos-Position reicht allerdings weit. Am Beginn des zweiten Buches der ›Politeia‹ geht es primär um die Frage nach den Folgen der Gerechtigkeit. Wären, so wird gefragt, eine Gerechtigkeit, die nicht als wünschenswert sanktioniert wird, und eine Ungerechtigkeit, die nicht bestraft würde, überhaupt durchsetzbar (359c)? Oder, so kann man ergänzen, würde stillschweigend die Ungerechtigkeit gewählt? Exemplarisch zeigt sich dies in der Episode vom Ring des Gyges, der unsichtbar zu machen vermag. Würde man ihn nicht nutzen, um zu rauben, zu morden, sich ungesehen Vorteile durch Intrigen zu verschaffen? Damit zeigt sich auch, wie schwer es ist, der Auffassung der Sophisten, so begrifflich unhaltbar sie ist, ihre Überzeugungskraft zu entziehen. Gebrochen wird dieser Bann, der von einer doxahaften Gerechtigkeitskonzeption ausgeht, erst, als Glaukon und Adeimantos einfordern, Gerechtigkeit sollte allein aufgrund ihrer intrinsischen Bedeutung gewürdigt werden, nicht aufgrund ihrer Folgen. 235 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

POLIS, SEELE UND DIE HÖCHSTE IDEE

Im ersten Buch war die Frage der Gerechtigkeit geradezu als der Scheidepunkt benannt worden, an dem sich Tugend von den verfehlten Lebensweisen trennte. Lässt sich diese Trennung aber durchhalten? Die Gerechtigkeit wird dann in der größeren Schrift der Polis und der kleineren Schrift der Seele aufgesucht. Dabei ergibt sich wie von selbst, dass die vier Kardinaltugenden in der Gerechtigkeit geeint sind. Die Grundformel der Gerechtigkeit, das Seine zu tun (ta heautou prattein), ist auch in der Lage, innere Konflikte zwischen einzelnen Tugenden, vor allem zwischen Besonnenheit und Tapferkeit, über die in den platonischen Frühdialogen immer wieder gestritten worden war, auszugleichen. Die Frage nach der Gerechtigkeit wird genealogisch exponiert. In der naiven Urpolis, dem »Schweinestaat«, stellt sie sich noch gar nicht. Sie kommt erst von einem bestimmten Komplexitätsgrad an ins Spiel. Insofern setzt sie Störungen voraus, die befriedet und ausgeglichen werden müssen. Die Ausgangssituation des Thrasymachos-Gesprächs soll mit Thomas Szlezák als Prooimion für den Gang der ›Politeia‹ insgesamt interpretiert werden. Sokrates steigt zum Bendis-Fest, und damit in den Polis-Bereich und zu seinen kultischen Verrichtungen hinab (katében) (327b). Er betet, dann geht er nach Hause (oikade) (327b) und wird von Polemarchos, Adeimantos und Nikratos angetroffen, die ihn nicht mehr loslassen wollen. Sie binden den Philosophen damit an die bürgerliche Frage nach der Gerechtigkeit. Das Ausgangswort, das Sokrates zum Bleiben veranlasst, ist ›apheinai‹ (327c11). Es wird an charakteristischer Stelle wieder aufgenommen, wenn davon die Rede ist, dass der Nomothet – und sein Gesetz – den Philosophen »nicht loslässt (aphie), dass sich jeder wende, wohin er will« (520a1 f.). Die Richtung des ›nach Hause‹ ist in diesem Zusammenhang als Rückkehr des Sokrates in den ihm eigenen Bereich zu verstehen; und nicht ohne Grund wird die Wegrichtung von den anderen als »Aufstieg« wahrgenommen. Das chronologische Gefälle zwischen dem ›Thrasymachos‹-Dialog (Politeia I) und ›Politeia‹ II-X ist damit nicht außer Kraft gesetzt. Dass sie den Philosophen nicht loslassen, wird in Epitheta des Zwingens (anankázein) dargelegt. Damit ist ein Vorausverweis bis zum Höhlengleichnis eröffnet, denn dort wird expliziert, dass den Philosophen im besten Staat nicht erlaubt werde, was ihnen jetzt zugestanden wird (519d 1– 5), nämlich: im Anschluss an ihren Aufstieg (anabasis) im Licht der 236 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

Thrasymachos – oder: Das Erbe der Aporetik in der ›Politeia‹

Idee des Guten zu bleiben. Es ist eine Notwendigkeit, die sie daran hindert. Dies gilt es näher zu befragen. Im Thrasymachos-Dialog, der als deren erstes Buch in die ›Politeia‹ einkomponiert wurde, kann die Frage nach dem Wesen der Gerechtigkeit nicht beantwortet werden. Platon lässt Sokrates, mit einem Hinweis auf das Fest der Bendis, an dem der Dialog der Fiktion nach datiert ist, bemerken, dass er die gesuchte Nahrung nicht gefunden habe (354b). Die Frage nach dem Wesen der Gerechtigkeit habe er unbeantwortet lassen müssen und sei stattdessen auf die Frage übergesprungen, ob sie Schlechtigkeit und Torheit oder Weisheit und Tugend sei. Dann habe der Gesprächsgang noch einmal einen Sprung genommen und sich allein auf den Nutzen bezogen; auf die Glückseligkeit, die aus der Gerechtigkeit komme (354c). Einer Untersuchung aber, die nicht auf die Wesensbestimmung des Befragten zielt, sei die Aufklärung über jene anderen Zusammenhänge nichts nütze. Damit wird ausdrücklich Kritik an der im Thrasymachos-Gespräch explizierten ›Verschiebungsformel‹ geäußert, wonach die weitaus größere Frage (poly meizon 347e3) auf Wert oder Unwert der gerechten Lebensform bezogen ist, nicht auf die ›ti estin‹-Frage, welche sich auf das Wesen der Gerechtigkeit bezieht. Der Boden der ›ti estin‹-Frage steht von Anfang an im Gespräch mit Glaukon und Adeimantos im Blick (vgl. 368d). Es wird im Folgenden in der Verständigung über Politeia I klar werden müssen, inwiefern diese doppelte Abbiegung vom Weg der Frage nach Gerechtigkeit den Dialog gerade zum Prooimion für den Gang der ›Politeia‹ macht. Den beiden Gesprächsgängen mit Polemarchos und Thrasymachos geht der Hinweis auf den Zeit-Ort voraus, das Bendis-Fest im hochsommerlichen Athen, und die Zwiesprache mit dem alten Kephalos. Sein Lob des Alters, aus einer Zurüstung auf das Ende gesprochen, so wie es die Schlussmythen im ›Gorgias‹ und dann in der ›Politeia‹ als ein großes Gericht vor Augen bringen, ist der elenchtisch fragenden Prüfung entzogen. Denn hier kommt das gelebte Leben einer geordneten Seele zum Ausdruck, ob man die Wendung ›kai kosmio‹ aus dem cod. Stobaei nun als integralen Bestandteil des Textes (331b1) verstehen will oder nicht. Kephalos erweist sich in einer natürlichen und konventionellen Weise als gerecht. Alle maieutische Prüfung kann nur auf ein gerechtes Leben hinführen, das sich seinerseits nicht vor der philosophischen Befragung ausweisen muss. Es sind Kultus und Gottesdienst, denen die Sorge des Alten gilt (331d). Aus diesem Grund verlässt er des Ben237 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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dis-Festes wegen den philosophischen Streit-Ort. Sein leiblicher Sohn Polemarchos tritt im Gespräch für ihn ein. 11 Obgleich, vor aller Strittigkeit, Kephalos’ Lebensart vor Augen geführt wird, wie ein Bild des Gerechten, zieht das Gespräch doch unweigerlich in die Frage hinein: »Was ist Gerechtigkeit?« Die Antwort des alten Kephalos, eines Metöken, der zu einigem Wohlstand gekommen ist, lautet: »[D]ie Wahrheit zu sagen und Empfangenes wiederzugeben«. Sie reicht begrifflich nicht hin (331c). Denn Recht (diké) ist nicht ohne seinen Gegenhalt, das Unrecht (adikia), zu denken, und zu Unrecht Gefordertes muss offensichtlich nicht zurückgegeben werden. Kephalos’ Bestimmung könnte gleichwohl treffend sein, wenn auch unter einem Gesichtspunkt, der auf die göttliche Gerechtigkeit bezogen ist und nicht auf die irdische: auf eine Gerechtigkeitsform also, die frei von Unrecht ist. Polemarchos führt einen anderen Logos im Mund; dieser verweist, dem Geschäft des Sprechers gemäß, Geld zu verleihen, auf die Sphäre des positiven Rechts und des Vertrags. So wie sein Vater seine Betrachtungen ausgehend von einem Pindar-Vers anstellte (331a), nimmt auch er auf ein Dichterwort Bezug: auf Simonides’ »dass einem jeden das schuldige zu leisten gerecht ist« (351e). Hier klingt der Ursinn von Dike im Sinn des je Zugemessenen an. 12 Doch ist dann zu fragen, was denn Schuld ist. Polemarchos übersetzt auf seine Weise, wenn er der Definition eine eindeutigere Struktur gibt: »Freunden nämlich meint er, seien Freunde schuldig gutes zu tun, böses aber nichts« (332a). Es ist also der Begriff des ›proshekon‹ (332a), des jeweils Gebührenden, auf den der Begriff des Gerechten transponiert wird. Gerechtigkeit wird hier zum Relationsbegriff; sie spezifiziert sich nach Freund und Feind. Sogleich wird das Problem erkennbar, dass die Freund-Feind-Unterscheidung immer auf den Urteilen des Einzelnen und damit auf einer spezifischen Perspektive beruht. Diese kann auch durch Schein und Täuschung bestimmt sein (334b). Deshalb muss Polemarchos seine Erwägungen dahingehend modifizieren, dass Freundschaft und Feindschaft nicht nach dem Schein, sonDer Redewechsel wird insofern auch als eine Art Generationswechsel inszeniert. Vgl. dazu Szlezák, Platon und die Schriftlichkeit, a. a. O., S. 283 ff. Zum Hintergrund der konventionellen Rechts- und Gerechtigkeitsvorstellungen vgl. auch R. Hirzel, Themis, Dike und Verwandtes. Ein Beitrag zur Geschichte der Rechtsidee bei den Griechen. Leipzig 1907. 12 Dazu wieder Hirzel, a. a. O. Siehe auch M. Theunissen, Pindar: Menschenlos und Wende der Zeit. München 2000. 11

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dern nach der Gutheit oder Schädlichkeit ihrer Wirkung zu bemessen sind (335a1 f.). Ein Wissen um diese Bestimmungen ist aber offensichtlich aporetisch, da derjenige, der das Angemessene zu bemessen versucht, bereits um das Gute wissen muss. Zwar sind die Begriffsverhältnisse an dieser Stelle noch nicht geklärt, doch liegt es nahe, dass dies auch einen Vorbegriff von Gerechtigkeit erfordert. Die beiden Einwände, die Sokrates zuerst gegen Polemarchos ins Feld führt (332d4–333d; 333d–334b), sind anders orientiert: Sie ziehen die Analogie zwischen Fertigkeit (techné) und Gerechtigkeit, die sich ähnlich im ›Gorgias‹ findet und die im Widerstreit mit Thrasymachos im zweiten Hauptteil von Politeia I dazu verhelfen soll, die Bindekraft der Gerechtigkeit wiederzugewinnen. Da Polemarchos die Analogie unbefragt hinnimmt, bleibt ihr Sinn zunächst verdeckt. Alle nur zu erdenkenden Fertigkeiten haben einen spezifischen Nutzen (chresis). In dessen jeweiligem Betracht sind sie, z. B. Kriegskunst, Steuerkunst, Heilkunst, der Gerechtigkeit vorzuziehen. Der zweite Einwand greift ebenfalls auf die ›techné‹-Analogie voraus. Alle ›technai‹ lassen über eine Kenntnis und zugleich deren Gegenteil verfügen: Der geschickte Kämpfer wird ebenso gewandt Schläge austeilen wie abwehren. Gerechtigkeit, im vertraglichen Sinn des Polemarchos genommen, bedeutet dann gleichermaßen die Fertigkeit, Geld zu hüten und zu unterschlagen (334a). Gerechtigkeit ist also in dieser konstitutiven Doppeldeutigkeit als List (kleptiké) zum verhältnismäßigen Nutzen der Freunde und zum relativen Schaden der Feinde zu definieren (334b). Doch eben dies ist die Gerechtigkeit nicht, wenn sie, wie es in dem entscheidenden Abschnitt heißt, Tugend (areté) ist (335c). Damit ist nicht gesagt, dass Gerechtigkeit keine Fertigkeit sein könnte. Es ist, wie man mit A. Hentschke feststellen kann, 13 keinesfalls ein Recht, auf das hier Bezug genommen wird, sondern der Erweis einer Unmöglichkeit nach dem Maßstab des sinnvollen Logos. Und diese Unmöglichkeit betrifft, in einer noch ganz inexpliziten Vorwegnahme der späteren Lehre vom spezifischen Werk, nicht nur die Artefakte, sondern auch die Zweckhaftigkeit von Naturphänomenen (vgl.

Dazu Neschke-Hentschke, Politik und Philosophie, a. a. O., S. 92 ff. Siehe auch dies., Platonisme Politique et théorie du droit naturel. Contributions à une archéologie de la culture politique européenne. Louvain, Paris 1995.

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auch 352e). Auch das Trockene oder Feuchte kann schlechterdings nicht wider seine ›areté‹ handeln oder gar ihr Gegenteil bewirken. Doch obwohl unvermittelt die Bestimmung gewonnen ist, dass Gerechtigkeit Tugend (areté) ist, hält Sokrates am Ende fest, dass noch nicht gefunden sei, was das Gerechte ist (336a). Dies muss vom Grundcharakter des Gesprächs her auch nicht überraschen. Denn Polemarchos hatte seinem Interesse gemäß nur von einzelnen gerechten Dingen gesprochen. Thrasymachos greift tiefer. Er will aufweisen, was die Gerechtigkeit an sich selbst ist. Und er beruft sich zu diesem Ende auf kein Dichterwort. Zwei Mal ist es, wie H. J. Krämer gezeigt hat, 14 eine Aufbrechung der sokratischen Gesprächskunst, die seinen Auftritt motiviert. Zunächst (336a1 f.) verlangt er zu wissen. Er scheint also, wie am Beginn von Politeia II Glaukon, davon auszugehen, Sokrates verfüge über ein Definitionswissen, das er nur zurückhalte. Die ›ti estin‹-Frage scheint ihm eine angebbare Lehre zu fordern. Sie wird nicht auf jene Umschreibungen der ›Gerechtigkeit‹ zurückgreifen dürfen, die Sokrates gemeinhin gebraucht. Unter das Verdikt des Thrasymachos fällt die Bestimmung der Gerechtigkeit als des Pflichtmäßigen, Nützlichen, Zweckmäßigen, Vorteilhaften oder Zuträglichen (336d). Er zersprengt diese Erläuterungsversuche, da sie ihm nichtig scheinen, und er führt stattdessen übereilt die Bestimmung ein, die Gerechtigkeit sei »das dem Stärkeren Zuträgliche« (to tou kreíttonos symphéron) (338c). Dies aber nötigt zu dem Eingeständnis, dass das dem Stärkeren Zuträgliche ein der Sache nach Zuträgliches sein müsse (339b). Thrasymachos versucht seine Inanspruchnahme des Stärkeren (kreitton), die in der Sache dem ›proshekon‹ im Polemarchos-Dialog nahekommt, zu einem schwachen Zusatz zu erklären und seine Bedeutung auf eine jeweilige Praktik zu begrenzen. Doch das Labyrinth der Irrtümer verzweigt sich damit noch weiter. Denn die Stärkeren fasst Thrasymachos als die Regierenden auf, unabhängig von der Regierungsart (339c), und er gesteht ein, dass sie sich irren könnten (339d). Dann könnte, der Definition folgend, auch Unzuträgliches gerecht sein. Indem andere Gesprächspartner, Kleitophon vor allem, dem Thrasymachos dadurch beizuspringen suchen, dass sie darauf verweisen, es gehe wohl um den »Anschein der Zuträglichkeit«, und indem Polemarchos bemerkt, Vgl. Krämer, Arete bei Platon und Aristoteles, a. a. O., S. 319 ff. und ders., Die Idee des Guten. Sonnen- und Liniengleichnis, in: O. Höffe (Hg.), Platon, a. a. O., S. 179 ff.

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dass sie nicht träfen, was er sagen möchte, zeigt sich die Ungegründetheit dieser Sicht der Dinge. Neben Thrasymachos kommen hier andere Sophisten zu Wort. Sie sind, anders als Kallikles im ›Gorgias‹, nicht im Grundsätzlichen darum bemüht, die Unterscheidung von ›physis‹ und ›nomos‹ außer Kraft zu setzen. Die Argumentationslinie des Polemarchos setzt sich aber insofern fort, als auch bei ihnen der Begriff von Recht und Gesetz in einer beliebigen Satzung aufgeht. Sokrates muss es also darum gehen, die sachhaltige Bindekraft des Gerechten (dikaion) wiederzugewinnen. Deshalb überführt er den Thrasymachos des Fehlers, dass er in seinem Begriff des Stärkeren explizit die ›techné‹ und ›sophia‹, ein Ausdruck, der im früheren Griechisch und in den Frühdialogen mit ›techné‹ weitgehend identisch ist, der Regierenden in Anspruch nehmen muss, die ebensowohl getroffen wie verfehlt werden kann. Von hier aus wird in einem ersten Ansatz (341c–342e) jener Aufweis zu führen versucht, den Sokrates im Polemarchos-Dialog schuldig geblieben war. Es wird nämlich gezeigt, dass die Gerechtigkeit (dikaiosyne) eine Tugend ist (335c). Fürs erste geht es darum, dass alle ›technai‹ eine spezifische Gegenstandsbindung haben. Das ›proshekein‹ als das Zuträgliche gewinnt damit bereits eine maßgebliche Bedeutung (342b). Es bemisst sich nach dem jeweiligen Gegenstandsbereich, nicht aber nach den Bedürfnissen der Kunst selbst oder gar des Techniten. Der Arzt etwa wird sich, seiner Fertigkeit folgend, nicht zuerst um sich selbst und seinen Lohn bekümmern, sondern um die Sache der Heilkunst; ebenso wird es den Regierenden zuerst um die Regierten gehen, nicht um ihren Vorteil. Ada Hentschke hat zu Recht hier einen ersten Beitrag zu einer Struktur der Sorge bzw. des Mit-seins in Vorgestalt zu Aristoteles’ ›hou heneka‹ (um willen) herausgelesen. 15 Und es ist deutlich, dass damit die Gerechtigkeitsdefinition des Thrasymachos sich in ihr Gegenteil verkehrt (tounantíon perieistékei) (343a). Denn sie könnte offensichtlich nur Bestand haben, wenn die Gerechtigkeit ein Selbstzweck wäre. Die zweite Aufsprengung des Gesprächsganges durch Thrasymachos wird ausgehend von dieser Umwendung (parabole) erkenn-

Neschke-Hentschke, Politik und Philosophie, a. a. O., S. 92 ff. Siehe dazu auch dies., Gefühl und Verstand – Die feindlichen Brüder. Zur platonischen und aristotelischen Seelenlehre, in: SEJG31 (1980/90), S. 337; siehe auch P. Stemmer, Der Grundriss der Platonischen Ethik, in: ZPhF 42 (1988), S. 529 ff. und N. Reshotko, The Socratic Theory of Motivation, in: Apeiron 25 (1992), S. 145 ff.

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bar. »O Sokrates, hast du wohl eine Amme?«, fragt Thrasymachos, um Sokrates seiner fehlenden Weltklugheit zu überführen und seine These zuzuspitzen auf den Endzweck des Gerechten oder des Ungerechten, den unmittelbaren Nutzen, den das eine wie das andere bringt. Die Analogie zur ›techné‹ wird an dieser Stelle keineswegs preisgegeben. 16 Sie führt nun aber mit Notwendigkeit auf die Frage nach dem wahren Nutzen (ophelos) von Gerechtigkeit: ihrem Eidos. Dabei ist die Position des Thrasymachos neu zu erwägen. Sein Definitionsversuch besagt zwar eindeutig, dass sich mit der Ungerechtigkeit mehr Nutzen verbinde und eine Vermehrung des Gutes, wohingegen die Gerechtigkeit Schaden verursache (343d). Doch sein Argument ist zweischneidig. Thrasymachos redet nach Sophistenart für und gegen denselben Sachverhalt, freilich nicht nach-, sondern durcheinander. Einerseits nämlich missachtet er die Gerechtigkeit, ähnlich wie Kallikles im ›Gorgias‹, als Torheit. Andererseits aber hält er an seiner ersten These fest, dass »das dem Stärkeren Zuträgliche« das Gerechte sei (344c). Wenn die Gerechtigkeit Torheit wäre, so wäre dies offensichtlich widersinnig. Und nicht minder widersinnig ist die aus der zweiten Behauptung folgende Bestimmung, dass das »ungerechte [das] jedem selbst vorteilhafte und zuträgliche« sei (344c). Wenn man beide Teilsätze miteinander zu verbinden suchte, erwiese sich die Ungerechtigkeit als die Gerechtigkeit für alle. Die Verwirrung ist vollständig, wenn Gerechtigkeit als Ungerechtigkeit angesprochen wird. Damit wäre offensichtlich eine Verwirrung erreicht, wie sie immer wieder im Ergebnis von sophistischen antilektischen Wortwechseln auftritt. Unbedacht bleibt aber auch, dass sich doch die angewandte Ungerechtigkeit auch auf eine ›techné‹ zurückführen lassen müsste. Von all dem aber ist in Sokrates’ Erwiderung bezeichnenderweise mit keinem Wort die Rede. An früherer Stelle hatte er noch den veränderten Ton seines Logos eigens ankündigen müssen – durch ein »Genug, sprach ich, von dergleichen« (vgl. 341c). Nun ist die Mahnung, endlich zur Sache zu kommen, in Sokrates’ Einlassungen hinreichend deutlich. Thrasymachos fragt auffahrend: »Kann ich dir

Vgl. dazu Seubert, Polis und Nomos, a. a. O., S. 220 ff., siehe auch E. Heitsch, Dient die Rhetorik nur der Täuschung?, in: ders., Wege zur Platon. Göttingen 1992, S. 117 ff. Dazu U. Wolf, Die Suche nach dem guten Leben. Platons Frühdialoge. Reinbek 1996, sowie M. Kato, Techne und Philosophie bei Platon. Frankfurt/Main u. a. 1986.

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denn die Rede in deine Seele hineintragen und sie da fest machen?« (345b). Das könne er nicht, antwortet Sokrates. Denn eine gleisnerische Rede wie die des Thrasymachos verträgt keine Befestigung. Doch nichts anderes als solche ruhende Befestigung ist die Aufgabe des philosophischen Gesprächs: gleichsam in Vorgestalt der Bestimmung des auszeichnenden Wesenszuges der Idee, den Anfang festzumachen (vgl. Politeia 532d f.). Sokrates folgt diesem Grundriss, indem er in Fortsetzung dieser Passage den je eigenen Nutzen der Fertigkeiten, der außerhalb ihrer selbst liegen muss, weiter exponiert. Was die ›techné‹ sei, wird näher ausgeführt, indem zwei bislang nicht gebrauchte Begriffe ins Feld geführt werden: Möglichkeit (dynamis) und Werk (ergon). Neben das Beispiel von der Hirtenkunst rückt ein anderes, das besonders eng mit der Frage von Recht und Gerechtigkeit verknüpft ist. Das eigentümliche Werk des Regierens (gleichsam seine Zwecksetzung) ist das Wohl der Regierenden. Keine Rede allerdings kann davon sein, dass dies heißt, die Regierenden müssten sich in den Dienst der Schwächeren stellen. 17 Die Regierungskunst kann auf keine derartige Maßregel zurückgehen; darin liegt ihr Problem. Deshalb ist sie auch nicht ohne weiteres als Technik auszuweisen. Die sich daran anschließende Rücknahme der ›techné‹-Analogie hat ihre Wurzeln schon in der ›Apologie‹, wenn Sokrates dort die verschiedenen Anklagepunkte des Asebievorwurfs auf seine Weisheit bezieht. Seine Weisheit ist, wie er sagt, ausschließlich eine Weisheit und ein Bescheid-Wissen um menschliche Angelegenheiten. Bezeugt und verbürgt ist sie dem Sokrates aber durch die Freundschaft mit dem Gott Apoll (Apologie 21a). Die Rede, in die Sokrates vor den attischen Gerichtsschranken seine Ankläger verstrickt, kann nicht zeigen, weshalb das Orakel Sokrates als Weisen erkannte. Dass er das nicht sagen kann, ist ein integraler Zug seines Wissens des Nicht-Wissens. Jene Weisheit kann allenfalls verständlich gemacht werden, indem denen, die zu wissen scheinen und zu wissen meinen, Rechenschaft über ihr Wissen abverlangt wird. Seine Befragung setzt, wie wir wissen, zunächst bei den Staatsmännern und Dichtern Es geht also keineswegs um die Exposition einer einfach altruistischen Konzeption. Vgl. unter anderem: R. Kraut, Socrates and the State. Princeton N.J. 1984, sowie M. Schofield, Approaching the Republic, in: Rowe, Schofield (Hg.), The Cambridge History to Plato. Cambridge 1992, S. 464 ff.

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an, die als Wissende gelten. Doch ihr Ruf gründet sich auf Meinung. Wie der Elenchos in Sokrates’ Verteidigungsrede zeigt, geschieht dies auf unterschiedliche Weise: Die Staatsmänner scheinen zu wissen, im Sinn der Täuschung (22a); die Dichter dagegen, wobei die Dithyramben-Sänger nicht weniger gemeint sind als die Tragöden, wissen nicht, was sie tun. Es ist die göttliche Begeisterung oder eine Anlage von Natur (22b 8 ff.), denen sich ihre Wirkung verdankt. Mithin wissen sie weniger gut als die übrigen Anwesenden auf einem Gastmahl über ihre eigenen Werke zu sprechen. Allerdings ist in der ›Apologie‹ die Analogie zwischen Tugend und ›techné‹ erst grundgelegt, insofern eine dritte Gruppe, die der Handwerker, sich der Prüfung gewachsen zeigt (22c9 ff.); verfügen sie doch über ein ausweisbares Wissen in einem spezifischen Bereich, wenngleich sie den gravierenden Fehler begehen, dieses Wissen für ein Wissen überhaupt, ein Wissen über die größten Dinge (ta megista) zu halten (ibid). Damit ist verdeutlicht, dass die ›techné‹ die einzig mögliche Analogie zur Erkenntnis der Tugend eröffnet und dass sie dennoch nicht deren auf das Ganze menschlichen Lebens gehende Reichweite fassbar macht. Ausdrücklich zeigt sich dies am phänomenalen Leitfaden des »Sich-bekümmerns um etwas«, den Sokrates ausgehend von der Anklage, er sei ein Verderber der Jugend, aufnimmt. Seine eigene Bekümmerung, so sagt er, gelte dem bestmöglichen Gedeihen der Jugend (24d). Der entscheidende Punkt ist keinesfalls, dass das Sich-bekümmern dadurch über die gängige Struktur hinausweist, dass jede Fertigkeit auf ein spezifisches Werk zielt; hat die sokratische Rede vom ›idion ergon‹ doch ihren Ort ebenso im Bereich des Machens (poiesis) wie in dem der Handlung (praxis). 18 Entscheidend ist vielmehr, dass zwar der Ort des ›idion ergon‹ der ›areté‹ umrissen werden kann, dass es aber unmöglich ist, in propositionaler Satzform auszusagen, worin es besteht. Sein Ort wird mit der tradierten Umschreibung für Vollkommenheit als Gut-Schönes umschrieben (kalon k’agathon). Im Verlauf der ›Apologie‹ tritt bereits der Umriss eines Glückes – eudaimonía – hinzu, das sich auf das Ganze des menschlichen Lebens richtet. Und das Entscheidende ist, dass das ›kalon k’agathon‹ von einem Nicht-Wissen bestimmt ist, wie es nicht mehr den aus dem ›Gorgias‹ bekannten Anforderungen Vgl. auch C. Kauffmann, Ontologie und Handlung. Untersuchungen zu Platons Handlungstheorie. Freiburg, München 1993, sowie H.-U. Baumgarten, Handlungstheorie bei Platon. Platon auf dem Weg zum Willen. Stuttgart, Weimar 1998.

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einer ›techné‹ entspricht, und doch nicht in das Zwielicht der täuschenden Meinung der Dichter oder Staatsmänner zurückführen darf. »Denn es mag wohl eben keiner von uns beiden etwas tüchtiges oder sonderliches wissen [oudèn kalòn kagathòn]; allein dieser doch meint zu wissen, da er nicht weiß, ich aber wie ich eben nicht weiß, so meine ich es auch nicht« (22d). Die Präzisierung des Nicht-Wissens in der ›Apologie‹ führt dann erst recht über den Gesichtskreis der Fertigkeiten hinaus. Das NichtWissen richtet sich auf den Tod. Sokrates wendet gegen seine Ankläger ein, dass derjenige, der nicht standhält, weil er den Tod fürchtet, etwas zu wissen vorgibt, 19 was er nicht wissen kann (29d). Das NichtWissen eröffnet ein Fragen und Für-möglich-Erachten dessen, was der Meinung und der Furcht der Vielen zuwiderläuft: Dass der Tod das größte sein könnte unter allen Gütern, wiewohl die Menge ihn fürchtet, als wüsste sie gewiss, »dass er das größte Übel ist« (29b). Der Gedanke der Vollkommenheit und damit Wünschbarkeit des Todes ist nicht unmöglich, er lässt sich denken. Das Nicht-Wissen zeigt sich dabei aber als ein Standhalten im Letzten, durch das die Glückseligkeit (eudaimonía) als ein in der Sache gelegenes Gutsein in allen Lebenshinsichten und für die Dauer des gesamten Lebens verständlicher gemacht wird. Das Standhalten angesichts des Todes ist für Sokrates freilich nicht nur der Weg, um den Zusammenhang von Wissen und Nicht-Wissen aufzuhellen, es ist auch der Weg, um seine eigene Zugehörigkeit zu dem Gesetz weiter transparent zu machen. »So sage doch du Guter«, heißt es im Gespräch mit Melitos, »wer macht sie [sc. die Jugend] besser? – Die Gesetze. – Aber danach frage ich nicht, Bester, sondern welcher Mensch, der freilich diese zuvor auch kennt, die Gesetze« (24d–e). Mit diesen, aus anderem Kontext bekannten Worten und mit Melitos’ Antwort wird eine Frage extemporiert, die erst angesichts von Sokrates’ Standhalten vor dem ihm drohenden Tod eine Auslegung erfährt. Entscheidend für das Verständnis der ›techné‹-Analogie ist es, dass der Durchgang in das Nicht-Wissen nicht notwendigerweise ein Wissen voraussetzt – und sei es ein ›techné‹-Wissen –, sondern dass das philosophische NichtWissen hinreichend auf einer angenommenen und bewährten Meinung beruhen kann: »Wohin Jemand sich selbst stellt in der Meinung

Vgl. dazu sehr eindrücklich in der Spannung des unendlichen Wissensanspruchs und der Endlichkeit R. Guardini, Der Tod des Sokrates (1943). Mainz 1987, S. 55 ff.

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es sei da am besten, oder wohin einer von seinen Obern gestellt wird, da muss er wie mich dünkt jede Gefahr aushalten, und weder den Tod noch sonst irgendetwas in Anschlag bringen« (28d). Worin die Struktur der ›techné‹-Analogie im Einzelnen liegt und wo sie ihre Grenzen hat, verdeutlicht neben der ›Apologie‹ bereits der frühe Dichter-Dialog ›Ion‹, der nicht unter den aporetischen Dialogen behandelt wurde und an dieser Stelle noch einmal zur Sprache kommen soll. 20 Ion, der Rhapsode, begreift sein Tun als ›techné‹ (530c8). Die einschlägige Prüfung zeigt aber, dass es eben dies nicht ist. In einem ersten Schritt wird deutlich, dass Ions rhapsodische Kunst sich nur auf den Homer bezieht (531c). Nach seinem eigenen Bekunden ist dies deshalb der Fall, da Homer besser spreche als die anderen Dichter. Wenn er den am besten Sprechenden erkennt, dann müsste er auch die weniger gut Sprechenden erkennen. Dies verweist darauf, dass ›techné‹ als ein auf einen abgegrenzten Bereich bezogenes Wissen zu verstehen ist, das dessen Gegensätze und Abstufungen im Sinn eines mehr oder weniger gut Seins zu ordnen weiß (531e f.). Dabei wird freilich ein weiteres wesentliches Merkmal des ›techné‹Wissens erkennbar: 21 Es kann nicht implizit bleiben, sondern muss die Abgabe einer Rechenschaft (logon didonai) über das Gewusste ermöglichen. Deshalb wird im ›Ion‹ die ›techné‹ nicht primär aus der Sicht des ausübenden Rhapsoden, sondern des Dichtung beurteilenden Auslegers expliziert. Und als Ion, des Sokrates Bemerkungen aufgreifend, 22 fragt, warum er nur den Homer und keinen anderen Dichter verstehe, wird zur Verdeutlichung die Konjunktion ›techné kai episteme‹ eingefügt (532c). Sokrates antwortet, dass Ions Begabung gerade nicht auf der Verbindung zwischen beidem beruhe. Die ausgeschmückte – ironisierende – und zugleich den hohen Ton der Dichtung nachbildende sokratische Rede verdeutlicht vielmehr die göttliche Sogkraft, die vom Gott – vermittels des Dichters und des Vgl. E. Pöhlmann, Enthusiasmus und Mimesis. Zum platonischen Ion, in: Gymnasium 83 (1976), S. 191 ff. Zu der nicht vollständig rechenschaftsfähigen Imaginationskraft der Dichter vgl. E. Barmeyer, Die Musen. Ein Beitrag zur Inspirationstheorie. München 1968. 21 Vgl. zur Begründung auch Politeia X, 597a1, die Unterscheidung der dreifachen Nähe bzw. Entfernung von der Wahrheit und Wirklichkeit. 22 Vgl. A. Skiadas, Über das Wesen des Dichters im platonischen Ion, in: Symbolae Osloenses 46 (1971), S. 80 ff., siehe auch die grundsätzlichen Überlegungen H. Schlaffer, Poesie und Wissen. Die Entstehung des ästhetischen Bewußtseins und der philosophischen Erkenntnis. Frankfurt/Main 1982. 20

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Rhapsoden – bis zum Zuschauer reicht (536a) und den wissenden Logos überwältigt. Daran schließt sich dann ein zweiter Explikationsgang an. Noch einmal geht es um die Frage nach der spezifischen Fertigkeit des Ionos. Denn dieser weigert sich, seine Dichtkunst aus Inspiration oder Wahnsinn (manía) zu erklären (536c). Seine Darstellung – und Auslegung – Homerischer Dichtung würde seine Kenntnis schon zeigen. Sokrates will sie aber nicht anhören, ehe Ion weiter geantwortet hätte: Er besteht also auf dem Vorrang einer Selbstauslegung des Ganzen der gewählten Lebensform vor der Dichtungsauslegung als dem intentionalen Bereich der ›techné‹. Und hier präzisiert sich die Frage nach dem Werk des Rhapsoden. Denn obgleich er nur den Homer verstehen kann, gibt Ion doch vor, alles, was in dessen Epik zur Sprache kommt, zu verstehen, da in Homers Epen eine große Welthaltigkeit liege. Wer Homer kenne, kenne auch diese Welten, so der Kurzschuss. Diese Antwort spiegelt den Irrtum der Dichter, gegen den sie sich zu wenden versucht. Denn Ions »Alles« (539e) wird ausgesprochen, nachdem die Zwiesprache mit Sokrates ergeben hatte, dass alle einzelnen ›technai‹, die in der homerischen Dichtung abgebildet seien, von denjenigen besser beurteilt werden können, die sie selbst ausüben, als vom Rhapsoden: vom Arzt, vom Wagenlenker usw. Wenn der Umkreis der rhapsodischen Kenntnis zu eng bestimmt worden war, solange er nur auf die homerische Dichtung bezogen wurde, so wird er nun – wieder ohne Maß – zu weit gefasst. Das Maß läge, wie sich auf negativem Weg wiederholt zeigt, darin, das Ganze einer rhapsodischen ›techné‹ zu durchmessen, wenn es dieses Ganze denn gäbe und es Schritt für Schritt aufzuweisen wäre. Von dieser fundamentalen Unstimmigkeit her gibt Ion allerdings einen wichtigen Hinweis auf das Proprium des Tuns der Rhapsoden. Er bemerkt, dass der Rhapsode die gebührenden Sprechweisen verschiedener Personengruppen, einschließlich dessen, was sich für Mann und Frau zu sagen gezieme, oder für Herrschende und Beherrschte, wisse – und nachbilden könne (540b 3 ff.). Damit ist auf die Kritik an der Vieltuerei und Blendkunst des mimetischen Künstlers im X. Buch der ›Politeia‹ vorausverwiesen und auf die tausendkünstlerische Scheinhaftigkeit, die in dem Anspruch liegt, zu verschiedenen Bereichen und Zugehörigkeiten menschlichen Lebens etwas beitragen zu können. Doch ist auf diese Weise auch über den engeren Umkreis der ›techné‹ hinausgezielt, sodass gerade die skizzierten Passagen im ›Ion‹ 247 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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die Grenze der ›techné‹-Analogie indirekt, aber deutlich bezeichnen. Wenn er sich auf die je geziemende Redeweise besser versteht als die beteiligten Personen selbst, so gibt sich Ion insgeheim als einen zu erkennen, der über das für die einzelnen Seelen Tunliche zu befinden weiß. Dies trifft auf ihn nicht zu. Er verweist lediglich auf den Bereich jenseits des ›techné‹-Wissens. Es bleiben demnach zwei Möglichkeiten, um Ion sachgemäß zu bezeichnen – entweder als nicht-rechtlichen Mann, da er sich ein Wissen um das Ganze der Polis anmaßt, ohne dass es ihm zusteht, oder als einen göttlichen Mann. Dann muss er aber eingestehen, selbst in dem göttlichen Wahn, einer Manie, befangen zu sein (542a). Das Pendel neigt sich zu der zweiten Möglichkeit. Denn zu allerletzt wird der Anspruch des Ion abgewehrt, ein ›technikos‹ zu sein (542b). Wenn Ions Göttlichkeit rechtens ist, so ist damit die Vermutung angedeutet, dass Recht und Gerechtigkeit nicht nach der Maßgabe der ›techné‹ zu bestimmen sind. Friedländer hat darauf hingewiesen, dass am Ende des ›Menon‹ dieser Faden wiederaufgenommen wird, wenn die Staatsmänner neben die Dichter gerückt werden, 23 da doch beide Wahres wissen können und sogar Großes vollbringen, ohne eigentlich zu wissen, »worüber sie reden« (99d). Hier wie dort kommt die eigene Leistung aus göttlicher Schickung (theia moira). Es ist zu fragen, ob deren Macht letztlich durch eine Ideen-Kritik zu brechen ist, wie sie im X. Buch der ›Politeia‹ versucht werden wird. Damit ist es möglich, zum ›Thrasymachos‹-Dialog zurückkehren. Die Rückführung der ›areté‹ auf den unmittelbaren Nutzen, die Thrasymachos in seiner zweiten großen Einlassung vorgegeben hatte (343d), bleibt im Gesprächsgang maßgeblich. Sokrates deutet freilich an, wie sie richtig zu verstehen ist. Zu diesem Ende wird aus der Konfusion der großen Thrasymachos-Rede (343a–344c) die These hervorgehoben, dass die Ungerechtigkeit nützlicher sei als die Gerechtigkeit. Wenn zuvor (335b ff.), in der Zwiesprache mit Polemarchos und im Zusammenhang der ersten Nennung der Gerechtigkeit als einer ›areté‹, gezeigt worden war, dass, so wie im Falle jeder ›techné‹, auch die Gerechtigkeit ihrem Wesen nach nicht angewendet werden könne, um zu schaden, so wird nun auf einer begrifflich geschärften EbeVgl. M. H. Patterson, The Platonic Art of Comedy and Tragedy, in: Philosophy and Literature 6 (1982), S. 76 ff.

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ne gezeigt, dass Ungerechtigkeit nicht als Gutes und Weisheit verstanden werden kann. So deutet sie bekanntlich Thrasymachos (348d). Zu diesem Zweck schreibt er den Grundzug des Mehr-Habens (pléon echein) (349c), dem Kallikles im ›Gorgias‹ eine normative Bedeutung gibt, der Grundstruktur der ›techné‹ ein. Ist das Mehr-haben-Wollen für eine ›techné‹ bestimmend, so wird der Kundige, der hier auch als Verständiger (phronimos) (349e) erscheint, nur seinen Widerpart, den Unkundigen, übertreffen wollen. Der Unverständige aber will sich unterschiedslos anderen Unverständigen und Verständigen gegenüber in eine begünstigte Stellung versetzen. Platon setzt zur Umschreibung dieser Verhältnisse die Kategorie der Ähnlichkeit ein: Ihm Ähnlichem und Unähnlichem gegenüber begehrt der Unverständige den Vorteil, der Verständige aber begehrt dies nur dem ihm gegenüber Unähnlichen, denn den Ähnlichen versucht er ähnlich und befreundet zu bleiben. Wir können uns hier nochmals vergegenwärtigen, wie Sokrates zu diesem Ergebnis kommt. Nach all dem ist auf den aporetischen Schluss von Politeia I aus veränderter Perspektive zurück- und zugleich auf die Wiederaufnahme des Gesprächs zu Beginn von Politeia II vorauszublicken. Sokrates’ Resümee fügt sich stimmig zum Ungenügen von Glaukon (357b). Er ist mit dem bisherigen Gang des Gesprächs deshalb so unzufrieden, weil dieses nicht in der Lage ist zu erklären, was die Gerechtigkeit sei. Wie später auch Glaukons Bruder Adeimantos andeutet, seien immer nur die Folgen der Gerechtigkeit aufgewiesen worden (z. B. 367a). Ist das aber in der Sache richtig? Als Inbegriff der ›techné‹ und als ›areté‹ war die Gerechtigkeit in Politeia I gedeutet worden. Und man wird, erst recht wenn man den ›Gorgias‹-Dialog mit hinzunimmt, jene Klärungen, zu denen die Rede des Thrasymachos Anlass gibt, nicht von der Bestimmung der Gerechtigkeit als einer Bestheit, also als des um seiner selbst willen getanen Guten, lösen können. Aus diesen Gründen wird man zu Recht mit H.-J. Krämer festhalten können, dass Politeia I »die Konzeption des Hauptwerks […] in Umrissen vorweg[nehme]«, 24 auch wenn man dafür kaum auf die Krämer, Arete bei Platon und Aristoteles, a. a. O., S. 148. Siehe auch B. Effe, der Herrschaftsanspruch des Wissenden: Politikos, in: Kobusch, Mojsisch (Hg.), Platon, a. a. O., S. 208. Siehe ferner auch ders., Das Gesetz als Problem der politischen Philosophie der Griechen: Sokrates – Platon – Aristoteles, in: Gymnasium 83 (1976), S. 302 ff.

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Parallelität von Einzelargumenten wird zurückgreifen dürfen; ist die ›Politeia‹ doch – mit Nietzsche – als ›Alluvionsgebilde‹ zu begreifen, 25 in dessen späteres Stadium vergangene Begriffsbilder hineinkomponiert wurden.

III. Gerechtigkeit ohne allen Anschein. Der Ankerpunkt der ›Politeia‹ Glaukons und Adeimantos’ Zweifel Die Frage nach dem Wesen der Gerechtigkeit wurde im Thrasymachos-Gespräch »auf ein anderes Mal« (347e) verschoben. Daher nimmt der Neueinsatz von Politeia II in der Frage von Glaukon und Adeimantos das von Sokrates selbst konstatierte Ergebnis des Thrasymachos-Dialogs auf, dass er »jetzt durch das ganze Gespräch doch nichts gelernt habe« (medèn eidénai) (354c). Wenn er anmerkt, er sei nicht gut bewirtet worden (ou mentoi kalos ge eistíamai) (354b1), so weist Sokrates die Schuld nicht Thrasymachos zu, sondern sich selbst; denn er sei von der eigentlich in Frage stehenden Sache abgewichen. Glaukons Neuexposition des Untersuchungsganges schließt eben hier an. Er fragt nach der Gerechtigkeit als einem Gut, das um seiner selbst willen geliebt wird (autò hautou heneka) (357b). Deshalb macht er sich zum Verteidiger der sophistischen Gegenposition, des Gesichtspunktes eines im reduzierten Sinn von Natur her Rechten. Das ist, wie wir aus Glaukons Auftreten im I. Teil der ›Politeia‹ wissen (348a), nicht seine wirkliche Auffassung (vgl. 361c). Der Grundton ist deshalb ein anderer als im Thrasymachos-Gespräch: Die sophistische Gegenthese ist Verkleidung des Interesses an der Gerechtigkeit, die in ihrer Wahrheit erst erkannt werden kann, wenn von allem Anschein abgesehen wird. Die Rolle des ›Advocatus diaboli‹ ist also die Maske für die authentische Sorge der Sokrates-Freunde. Erst später, wenn die ideale Polis als Modell der Gerechtigkeit entworfen wird, wird das eigentliche Ziel freigelegt: der Gerechtigkeit zu helfen (boethein) (368c) und auszuforschen, was jedes von beiden ist, nämlich Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit (368c5–6). Nietzsche, Einführung in das Studium der platonischen Dialoge WS 1871/72, in: GOA XIX, S. 213.

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Zunächst setzt Glaukon sehr viel bescheidener an. Er möchte die Rede des Thrasymachos noch einmal vortragen (358c1–2) und ihr gleichsam eine konsequentere Gestalt geben. Die beste Aussicht dafür sieht er im rhetorischen Muster einer Lobrede auf die Lebensform des Ungerechten (358d 4); und dabei möchte er Sokrates in einen Wettstreit ziehen, denn er gibt vor zu erwarten, dass dieser umgekehrt die Ungerechtigkeit tadeln und die Gerechtigkeit loben werde (358d5). Darin zeigt sich insofern eine gewisse Spannung, als Sokrates den Aufweis des anscheinlosen Wesens der Gerechtigkeit mit Mitteln beabsichtigt, die scheinhaft sind. Dabei folgt er dem Plan, zu zeigen, was der gängigen Ansicht nach die Gerechtigkeit ist, dann, dass sie der Meinung nach nicht um ihrer selbst willen geübt wird. Sie erscheint als Notwendigkeit, nicht aber als Gut (358c). Und schließlich werde er darlegen, dass die Leute ihre Gründe haben, das Leben des Ungerechten dem des Gerechten vorzuziehen (358b). Ausgangspunkt in der Gegenrede ist die Frage danach, was »von Natur aus« gut ist (358e3 ff. und 359b). Das von Natur aus Gute gibt den Hintergrund ab, vor dem Gerechtigkeit bestimmt wird, die insofern nicht aus ihrem eigenen Maß bestimmt wird. In diesem Sinn ist das Unrechttun gut, das Unrechtleiden aber übel: so jedenfalls ist es Glaukon zufolge die gängige Auffassung (358e). Sie geht auf Sophistik und Rhetorik zurück, doch sie wird von Glaukon zugleich als die allgemein verbreitete Meinung behandelt (358c4). Ein mit hinreichenden Gründen vorgetragenes Lob der Gerechtigkeit habe er hingegen bislang nicht gehört (358d1–2). Gerechtigkeit bedeutet in diesem Zusammenhang in einer Eindeutigkeit des Begriffs, zu der Thrasymachos nicht vorgedrungen war, eine rechtliche Festlegung zu gegenseitigem Nutzen. Gesetz und Festlegung werden dabei ohne erkennbaren Unterschied (359a) nebeneinander genannt. Gerechtigkeit wird zu einem Begriff für gesatztes Recht, dessen genealogische Bedingungen sich genau angeben lassen. Sie ist aus der Not hervorgegangen, der Erfahrung von Unrechtleiden und Unrechttun, wobei es an Kraft fehlt, Unrecht zu tun, ohne selbst Schaden zu leiden. »Denn wer es nur ausführen könnte, und der wahrhafte Mann wäre, würde auch nicht mit Einem den Vertrag eingehn weder Unrecht zu tun noch sich tun zu lassen; er wäre ja wohl wahnsinnig« (359b2–4). Wenn damit Werden (genesis) und Wesen (ousía) der Gerechtigkeit aufgewiesen sind, sind die ersten beiden Beweisziele eingelöst: Gerechtigkeit ist dann ein vorübergehend und zu eigenem Schutz, keinesfalls aber um seiner selbst wil251 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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len eingenommener Habitus. Das Ausgangssignal (pephykenai) verweist darauf, dass hier eine Wesensbestimmung gegeben wird, die für alles lebendige Seiende gilt, eben die Natur, die mit dem Gesetz im Wesen keine Berührung hat. Glaukon hatte mit einer vorläufigen Bedeutungsunterscheidung des Guten begonnen. Dabei war als Maßstab der Grad des Begehrens bzw. des Liebens aufgewiesen (agapomen) (357c) und ein Gutes, das um seiner selbst willen geliebt wird, von einem Guten unterschieden worden, das teils seiner selbst wegen, teils wegen der Folgen, die es nach sich zieht, geliebt wird; und schließlich hatte Glaukon ein Gutes genannt, das wir nur des Lohns (misthos) wegen, der daraus entsteht (357d1–2), für gut halten. Auffällig im Hinblick auf die Spannung zu Beginn des II. Buches der ›Politeia‹ ist es, dass die Beispiele durchgehend die Lust (hedone) voraussetzen. Nach dieser Maßgabe ist es zu verstehen, dass für die erste Gruppe Wohlbefinden, für die zweite das Sehen, Vernunftgebrauch (phronein) und Gesundsein (hygiaínein) und für die letzte die Ausübung der Heilkunst und jeder andere Gelderwerb genannt werden. Die Position der Gerechtigkeit ist freilich nicht bruchlos in dem vorentworfenen Zusammenhang zu verorten. Sie beschreibt vielmehr die Mitte »zwischen dem besten« (aristou), »wenn einer Unrecht tun kann ohne Strafe zu leiden und dem übelsten, wenn man Unrecht leiden muss, ohne sich rächen zu können« (359a6 ff.). 26 Das, was in der Mitte, in dem Zwischen (metaxý) liegt, kann nicht selbst als gut bezeichnet werden (359b1). Auf den Ausgangspunkt, die Beurteilung von Unrechttun und Unrechtleiden nach Maßgabe der Natur, kommt Glaukon am Ende seiner Exposition zurück; die Natur der Gerechtigkeit wird dabei mit den Quellen ihrer Entstehung und mit der allgemeinen Rede über die Gerechtigkeit gleichgesetzt. Gesetz und Gewalt (359c6 f.) wirken hier zusammen. Sie führen den Menschen zu einer Abwendung von seiner naturgemäßen Tendenz zur Wertschätzung von Gleichheit. Die mythische Erzählung vom Ring des Gyges (359b7 ff.) setzt eben hier an. Das ihr zugrundeliegende Gedankenexperiment nimmt an, dass die gleiche Kraft (exousia) (359c1 f.) dem Gerechten und dem Ungerechten gegeben sei, nämlich das Vermögen, unentdeckt Unrecht tun zu können. Dies wird unter der Hand mit der Kraft gleichgesetzt, »wie ein Gott unter den Menschen« Vgl. dazu P. Stemmer, Der Grundriss der platonischen Ethik, in: ZPhf 42 (1988), S. 529 ff., ferner E. Angehrn, Die Ontologie des Politischen bei Platon und Aristoteles (Teil 1), in: Perspektiven der Philosophie 20 (1994), S. 83 ff.

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(360c4 f.) wirken zu können; dabei wird die Differenz zwischen Gerechtem und Ungerechtem gegenstandslos. Denn Glaukon nimmt einen bestimmten Glauben als allgemein anerkannten Gedanken an. Wo jemand unter Einschätzung einer Situation annimmt, ungerecht handeln zu können, wird er es tun – weil jeder glaubt (d1), dass ihm die Ungerechtigkeit für sich mehr nutzt als die Gerechtigkeit. Nur aus Zwang (anankazómenos) (c), nicht aus gutem Willen (agathou idía) (c), wird jemand also gerecht sein. Alles Lob der Gerechtigkeit beruht daher auf einer der Übereinkunft folgenden Verstellung. Dies bereitet die Konfrontation des Gerechten und Ungerechten vor, mittels derer der dritte Teil des Beweisganges eingeleitet wird. Der gerechte Mann, der auch unbemerkt keinerlei Unrecht tun würde, wird zur randständigen Fiktion. Wenn es ihn gäbe, würde er denen, die sein Wesen überhaupt erkennen würden (aisthanoménois) (360d), »als der allerelendeste (adthliótatos) vorkommen und als der aller unverständigste (anoetótatos)« (360d), auch wenn man ihn nach der Übereinkunft loben würde. Die Kontrastierung der Bilder des Gerechten und Ungerechten, die jeden in seiner Vollendung (téleon) betrachtet (361a) und die Urbilder gleichsam von allen Eingeständnissen reinigt »wie Statuen zur Ausstellung« (361d), 27 gewinnt Glaukon angesichts der Annahme einer Fertigkeit (techné) zu ungerechten Handlungen, wie sie in Politeia I als unmöglich abgetan wird. Die ›techné‹ der Ungerechtigkeit zeigt sich darin, dass das Ungerechtsein verborgen (lanthanéto) (361a) bleibt. Vollkommene Ungerechtigkeit – im Licht der sophistischen Nomos-Physis-Antithese betrachtet – wäre jene Ungerechtigkeit, die sich den Anschein der Gerechtigkeit zu geben weiß (361b). Nimmt man dagegen Aischylos (und Glaukons Ausgangsfrage in Politeia II) beim Wort, dass der Gerechte keinerlei Anschein von Gerechtigkeit anstrebt, so ist ihm der Schein von Gerechtigkeit zu nehmen (361c1–2). Er wird also gar nicht als ›gerecht‹ erkannt werden und als Skandalon vor der Polisöffentlichkeit erscheinen. »Ohne irgend Unrecht zu tun habe er den größten Schein der UngerechtigHier wird die Differenz zwischen dem ein für alle Mal fixierten Urbild der Polis und ihrer Fluktuanz in der Zeit und der Suche nach der Polis in Bewegung spruchreif, die sowohl für den Übergang zum ›Timaios‹ als auch zu den ›Nomoi‹ von maßgeblicher Bedeutung ist. Vgl. J. R. Wallach, The Platonic Political Art: A Study of Critical Reason and Democracy. Pennsylvania 2001, sowie G. Klosko, The Development of Plato’s Political Theory. Oxford 22006.

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keit« (361c5 f.) – Schmach, Verfolgung, Folter, schließlich die Hinrichtung wird er auf sich ziehen, während dagegen der Ungerechte, der gerecht zu sein scheint, gerühmt werden wird. Die Voraussetzung einer ›verkehrten Welt‹ deckt Glaukon an dieser Stelle nicht auf, denn dadurch würde er die Maske des ›Advocatus diaboli‹ ablegen und sich zu dem sophistischen Logos in Distanz begeben. Sein Bruder Adeimantos ergänzt seine Rede und hat dabei den Anspruch, das zu sagen, was vor allem gesagt werden müsse (362d2). Dies ist deshalb bemerkenswert, weil Sokrates mit dem Hinweis auf ein genügendes Beweisverfahren (hikana) (d7) anmerkt, dass er schon überwunden sei. Adeimantos folgt den verbreiteten Aussagen über die Götterwelt und die überlieferten Worte der Dichter. Und dabei macht er allererst den Anschein transparent. Er lenkt damit auf den Sachgehalt in der Ausgangsfrage des zweiten Buches zurück. Dabei ist es sein Anspruch, den Part zu übernehmen, den sein Bruder Sokrates zugedacht hatte: der Gerechtigkeit zu helfen (boethein dikaiosýne) (d10). Deshalb wendet er ein, wenn nur die Folgen der Gerechtigkeit gepriesen werden (363a ff.), sie aber nicht an sich selbst als gut erwiesen wird, dann werde lediglich ein Anschein gelobt. Und er macht in dieser Absicht eine doppelte Grundtendenz in den Dichtungen namhaft: Zwar werde, unter anderem bei Hesiod und Homer, in ausführlichen Mythen vom eschatologischen Wohlergehen der Gerechten gesprochen (363b1–e4); es gibt aber eine andere Art (allo au eidos) über Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit zu reden. Sie erscheint als doppelzüngig, denn sie lobt Gerechtigkeit und Besonnenheit, doch sie zeigt zugleich, dass Ungerechtigkeit süß und leicht sei (364a3 f). In Adeimantos’ Rede kommt das blind zuteilende Geschick zur Sprache, das immer wieder den Guten Unglück, den Schlechten aber Glück zuteilt (364b4). Das Schicksal (moira) wird dabei aber nicht als eine Wahrheit am Weltgrund aufgewiesen, sondern als Entgegensetzung zu der Orientierung der Gerechtigkeit. Deshalb sind diese Bemerkungen mit Glaukons Hinweisen auf die ›Lenkbarkeit‹ der Götter durch Weihegeschenke und Opfer in Beziehung zu setzen. Die Geheimüberlieferung der Dichtung (es werden Musaios und Orpheus genannt) (e5 f.) deutet Adeimantos als Anweisungen zu Sühne- und Reinigungsopfer (365a). Schrecken wird denen in Aussicht gestellt, die nicht opfern. Die dichterische Lehre von der Moira kommt insofern mit der rhetorisch sophistischen Auffassung überein. Wenn man ihr glaubt, komme man zu der Maxime: »[S]o lass uns Unrecht tun und 254 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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dann von unseren Ungerechtigkeiten opfern« (365e–366a). Das nachdrücklich geforderte Opfer ist eine äußerliche Handlung, die ein inneres Korrelat hat. In beiden Hinsichten wird die Bilanz aufgemacht, dass der Anschein von Gerechtigkeit bei tatsächlichem Hang zur Ungerechtigkeit in jedem Fall gegenüber einem anscheinlosen Gerechtsein überwiegt. Nach Adeimantos ist wie in einem Resümee der Explikationen zu schließen, dass der Anschein (to dokein) die Wahrheit überwältigt (tàn alátheian biatai) (365c) und bestimmend für die Glückseligkeit ist. Gerade junge Menschen würden deshalb unter dem Einfluss der Sophisten in den Sog einer Aushöhlung des Überlieferten und in tiefgreifende Zweifel über die eigene Lebensführung geraten (358a ff., 364a). Dahinter ist kaum verborgen das eigentliche Anliegen von Adeimantos und Glaukon erkennbar. Die Verflechtung der Handlungsorientierung auf Schein mit Verborgenheit wird an prägnanter Stelle wiederaufgenommen: Adeimantos durchbricht den Schleier der ›verkehrten Welt‹, indem er vor Sokrates ›nichts verbergen‹ möchte (oudèn gár se déomai apokryptesthai) (367a–b) und die Verdrehung der Gerechtigkeitslehren seit den Heroen aufweist. Er legt ihre Gedanken frei, um das Gegenteil zu hören, und damit wird offensichtlich erst die Tendenz von Adeimantos eingelöst, der ›Gerechtigkeit zu helfen‹ (362d) und in Ergänzung zu seinem Bruder die Rede zu entwerfen, die ihr hilft (e3 ff.). Beide Brüder fürchten, dass sich Gerechtigkeit nicht situationsinvariant denken lasse, insofern geben sie eine tiefe Furcht vor der Vergänglichkeit und der offensichtlichen Nichtswürdigkeit der Gerechtigkeit zu verstehen. Damit steht und fällt für Glaukon und Adeimantos auch der Zusammenhang der Polis: Wenn offengelegt worden wäre, wie in der Fortsetzung der Thrasymachos-Rede konsequenterweise zu sprechen wäre, »so dürften wir nicht einer den andern hüten, kein Unrecht zu tun; sondern jeder würde sein eigner bester Hüter sein« (367a). Deshalb verlangen sie von Sokrates, dass er die verwirrenden Stimmen zum Schweigen bringe. Dies würde aber bedeuten, dass konsequent alles, was sich auf den Anschein (bzw. Ruf) der Gerechtigkeit bezieht, wegzulassen ist (367b). Die Frage, was von beiden besser ist, Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit, soll, so fordert Adeimantos, in dem doppelten Horizont ihrer Wirkung und ihrem in dieser Wirkung sich zeigenden wahren Wesen aufgewiesen werden (367b; e). Damit ist eine Blickwendung von der nach einem hedonistischen Gesichtspunkt sich richtenden Schematisierung des Guten verbunden, mit der Glaukons fingierte Lobrede auf die Ungerechtigkeit begonnen hatte (357b). Wenn er da255 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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rauf verweist, dass ihnen ›Göttliches‹ begegnet sein müsse (368a) und zugleich ihre Anlage lobt, 28 so nimmt Sokrates darauf Bezug, dass sie nicht von dem Mehrwert der Ungerechtigkeit überzeugt seien, obgleich sie für die Ungerechtigkeit reden konnten. Damit ist auch angedeutet, dass kein bindender Zusammenhang zwischen der Rhetorik und der Sache bzw. der inneren Handlung des Redenden besteht. Doch Sokrates sieht sich dadurch auch in eine Not gebracht, denn über den Beweis, den er im Thrasymachos-Gespräch gegeben hatte, meint er nicht hinausgehen zu können (368b). Fürs erste tritt der Argumentationszusammenhang des ersten Teils der ›Politeia‹, der Unterredung mit Thrasymachos am Leitfaden des Zusammenhangs von Fertigkeit (techné) und Tugend (areté), in den Hintergrund. Offensichtlich ließ sich die Auffassung, dass es eine ›techné‹ des Ungerechten und eine Vollendung von Ungerechtigkeit gibt, durch alle Argumentation nicht ausschließen; dies zeigte sich in Glaukons Lob der Kenntnis, im Verborgenen Unrecht zu tun (364a). Wenn Adeimantos verlangt, nach dem Wesen von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit unabhängig davon zu fragen, ob »sie nun Göttern und Menschen verborgen bleiben oder nicht« (367e), so ist das Thema von Politeia II-X negativ exponiert. Denn es wird sich zeigen, dass dieses Verständnis der Gerechtigkeit nur zu gewinnen ist, indem der sophistische Naturbegriff als verfehlt erwiesen wird. Deshalb kann triftig festgestellt werden, dass das Paradeigma der Gerechtigkeitsexplikation, die Polis, gegenüber Politeia I einen vollständigen Neueinsatz unternimmt. Wie sich zeigte, erweist sich bezüglich Glaukons und Adeimantos’ Reden die Explikation dreier Arten des Guten als unzulänglich, denn das seinem Wesen nach Gerechte ist keinem der drei Begriffe des Guten zuzuordnen. Es ist beschwerlich – und es scheint zu schaden. Die Ungerechtigkeit, die sich den Anschein der Gerechtigkeit gibt, könnte dagegen der dritten Gruppe zugeordnet werden (vgl. 357d3 ff.). Niemand will sie um ihrer selbst willen haben, doch wegen der Folgen, die sie nach sich zieht, wird sie in Kauf genommen.

Vgl. dazu Neschke-Hentschke, Politik und Philosophie, a. a. O., S. 107, siehe auch Krämer, Arete, S. 80 ff. Ferner Seubert, Polis und Nomos, a. a. O., S. 275 ff.

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Natur und Paideia Mit der Frage »Was ist also die Erziehung?« (tis oun he paideia) (vgl. 377e) beginnt der Exkurs auf die Erziehungsproblematik, der der Untersuchung der Gerechtigkeit vor der größeren Schrift der Polis zu Hilfe kommt. Wie wir sahen, wird damit scheinbar ein Umweg in Gang gesetzt, der aber erforderlich (hikanon) sei (376d). Man hat sich, auch vor den Erwägungen über den Einheitssinn der Seele im Marionettengleichnis, noch einmal zu vergegenwärtigen, dass jene Anforderungen an die Natur der Wächter, die über die Beherrschung einer ›techné‹ hinausgehen, zwiespältig sind. In ihrer Erziehung geht es ganz in diesem Sinn darum, das Entgegengesetzte (t’anantía) zu vereinigen (vgl. 375d): den Eifer gegen die Gegner und die Sanftmut gegenüber den Freunden. Zunächst ist davon die Rede, dass die Wächter notwendigerweise aufmerksam sein müssen. Das entspricht ihrer kynischen (hundeartigen) Natur, der ersten Vorgestalt philosophischer Wesenszüge (375a). Dieser rudimentäre Grundzug weist bereits auf eine ›innere Handlung‹ voraus, auch wenn von ihr noch nicht die Rede ist. Denn es ist eine Frage innerer Selbstverständigung, Freund und Feind zu unterscheiden. »Weil er [sc. der werdende Wächter] an nichts anderem einen befreundeten Anblick und einen widerwärtigen unterscheidet, als dass er den einen kennt und der andere ihm unbekannt ist« (376b). Wie Platon nur andeutet, begegnen in der Wächternatur selbst einander widerstreitende Eigenschaften. Der Eifer (thymos) weist bereits auf das später ausdrücklich explizierte mittlere Seeleneidos (thymoeides) voraus: Es ist aggressiv, ausgreifend; während die Tapferkeit (andreia) wesentlich durch den Innenblick in die eigene Seele und ein An-sich-Halten ausgeformt wird. Damit ist schon ein erster Schritt im Vergleich zwischen der großen und der kleinen Buchstabenschrift, der Seele und der Stadt, getan. Im Problemzusammenhang der Paideia wird auf die Einheit der Tugend Bezug genommen, die erst in einer inneren Verständigung der Seele an ihr Ziel kommt. Im Blick auf das Gesetzgebungsproblem zeigt sich eben hier eine Spannung. Es wird zusehends deutlicher, dass Platon die Erziehung als den Ankerpunkt der Gesetzgebung begreift. Eine gute ›Paideia‹ macht eine Vielzahl von Einzelgesetzen überflüssig (425b–c). Eine gesetzliche Festschreibung einzelner Lebensumstände wäre, wie Platon bemerkt, einfältig, denn sie hätte weder Bindekraft noch Bestand 257 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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(425b). »Es scheint wenigstens, sprach ich, o Adeimantos, wie einer von seiner Erziehung her anfängt, eben so auch das andere zu folgen« (425a). Dies setzt allerdings voraus, dass die Umstände der Paideia stabil bleiben. Insbesondere sind Revisionen im Zusammenhang der Musik zu vermeiden (424a–b). Doch schon zu Beginn des PaideiaKapitels wird ausdrücklich auf die Autorität der Überlieferung Bezug genommen. Es ist schwer, eine bessere Erziehung zu finden »als die durch die Länge der Zeit (hypò tou pollou chrónou) gefundene (376e). Im Hinblick auf die Musenkunst wird dann unter ausdrücklichem Bezug auf das ›tertium comparationis‹ des ›Nomos‹-Begriffs, der nicht nur ›Gesetz‹, sondern auch ›Melodie‹ bedeuten kann, festgehalten, dass »die Gesetze der Musik nur im Zusammenhang mit den wichtigsten bürgerlichen Ordnungen« (424c) geändert werden könnten. Hiervon ausgehend verstehen wir auch die verähnlichende, prospektiv mit einem Urbild zusammenstimmende Wirkung der Erziehung. »Wenn sie durch gute Erziehung Männer geworden sind, die das rechte Maß halten, so werden sie dies alles leicht selbst einsehen und noch vieles andere, was wir jetzt übergehen« (423e). Damit ist der Ausgangspunkt des Paideia-Exkurses wieder erreicht. Denn dass »die gesamte Stadt uns zu Einer erwachse und nicht zu vielen« (423d), ist gleichsam selbstverständlich, wenn nur die Problematik der Paideia angemessen verstanden wird. Dadurch, dass sie als ›genügend‹ (hikanos) bezeichnet wird, ist eine Nähe zur Dialektik (dem Hinreichendsein der Idee) anvisiert. Die Erörterung bewegt sich aber von Anfang an in einem Kreisgang. Einerseits können gerechte Gesetze nur aufgefunden werden, wenn das Leben des Einzelnen gerecht ist, wenn es sich also in der Einheit der Tugend (areté) hält, andererseits erzieht die gerechte Polis auch zur Seelentugend. Die Spannung wird aber vollends darin offensichtlich, dass die ›Paideia‹, obwohl sie Gesetze überflüssig machen soll, selbst auf einer spezifischen Gesetzgebung, der Nomothetik des Philosophen, beruht. Wiederum zeigt ein Gegenblick auf die ›Nomoi‹ eine alternative und damit komplementäre Erörterung. Die ›Nomoi‹ lösen sich aus dem bezeichneten Kreisgang. Deshalb wird der Begriff der ›Paideia‹ dort im Licht der elementaren und zeitbehafteten Affiziertheit durch Lust und Schmerz im Umkreis des Marionettengleichnisses eingeführt. Der Athener bemerkt, dass Tugend (areté) und Schlechtigkeit (kakia) durch Lust (Glück) und Schmerz in die Seele eingehen (Nomoi 653a). Damit soll gezeigt werden, wie Tugend aus dem Anschein 258 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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entsteht. Das Kind sieht nur das als gut an, was ihm im Augenblick gut und annehmlich vorkommt. Es ist den Veränderungen der Zeit ausgeliefert, da es vom Umschlag des Glücks in den Schmerz betroffen wird, ohne schon ein Erfahrungswissen gewonnen zu haben. Scheinbar unvermittelt wendet sich die Rede des Atheners an diesem Punkt der Erziehung zu. Er sagt, es sei ein Glück (eutyché), wenn sich im Alter vernünftige Einsicht (phronesis) und wahre Meinungen (aletheis doxas) einstellen. Und er fährt fort: »Unter Erziehung (paideia) verstehe ich daher die Tugend (areté) in der Gestalt, in welcher die Kinder sie zuerst empfangen, wenn nämlich eben, noch ehe sie die Vernunft (logos) zu gebrauchen im Stande sind, Lust und Liebe so wie Schmerz und Hass auf die rechte Weise in ihren Seelen erregt werden« (653b).

Die Erziehung setzt also in elementarer Weise ein. Durch Schmerz und Lust dringen nicht nur Tugend und Schlechtigkeit in die Menschenseele ein; diese beiden Urregungen sind zugleich die allererste Wahrnehmung des Kindes (653a). In dem Urereignis der Begegnung mit Gutem und Bösen, vor der sich das Kind als empfangend und getroffen wahrnimmt, erfährt es notwendig sich selbst und die umgebende Welt, ohne dass diese Hinsichten schon klar unterschieden werden können. Das Grundverhältnis von Gutem und Schlechtem, von Lust und Schmerz, gewinnt hier erstmals eine geklärte Struktur. Es wird deutlich, dass beide gegenläufigen Tendenzen die Einheit der menschlichen Seele aufspalten. Im Grund sind beide als ein Wahrnehmungszusammenhang aufzufassen. Sie sind einander ähnlich und entgegengesetzt. Jede Lust schlägt in einen ihr entsprechenden Schmerz um, und jeder Schmerz ist zugleich Vorspiel von Lust. 29 Davon ausgehend ist es phänomenal einsichtig, dass sich Schmerz und Lust im Sinn des Marionettengleichnisses zeitlich als ›Hoffnung‹ und ›Furcht‹ zu erkennen geben (Nomoi 645a ff.). Das mittlere Seelenvermögen (thymoeides) wird in der Paideia-Exposition in den ›Nomoi‹ auffälligerweise ausgelassen; der Grund könnte sein, dass der Gedankengang von den Extremen her möglichst deutlich profiliert werden soll. Am Anfang steht das unmittelbare Affiziertsein. Dabei soll aufgewiesen werden, wie ein Dazu J. Annas, Platonic Ethics, Old and New. Ithaca/London 1999; siehe ferner E. N. Ostenfeld, Ancient Greek Psychology. Aarhus 1987 und S. Lovibond, Plato’s Theory of Mind, in: S. Everson (Hg.), Companions to Ancient Thought 2: Psychology. Cambridge 1991, S. 35 ff.

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einsichtiger Umgang mit dem Affekt möglich ist (vgl. 653b). Die in akusmatischen Sinnbildern aufgewiesene Einheit der Seele (symphonía) zeigt sich nicht plötzlich, sondern durch Eingewöhnung (ethon). Auf sie ist die Paideia bezogen. Paideia ist also derjenige Teil der Tugend, der sich im Umgang mit den Widerfahrnissen von Lust und Unlust ausbildet. Durch die unvermittelt scharfe Bezugsetzung von Affekt als dem Anfang der Paideia und ihrem Vollendungszustand, der logos-gemäßen Tugend, wird in den ›Nomoi‹ verständlich gemacht, wie es eine tragfähige, richtige Meinung (orthe doxa) geben kann: dadurch, dass die Paideia zur Logos-Gemäßheit führen kann, wenn der längere Weg zu Einsicht und Tugend, die philosophische Dialektik, den meisten Menschen verschlossen bleibt. Allerdings kann sich auch die ›wahre‹ Meinung über ihren Grund, also den Grund ihres Wahrseins, keine Rechenschaft ablegen; an dieser Stelle wird die anvisierte Spannung zwischen Gesetz und Erziehung noch einmal offensichtlich. Da er diesen Grund in den Prooimien auszusagen hat, muss im Sinn der ›Nomoi‹ der Gesetzgeber der Rechenschaft fähig sein. In der ›Politeia‹ orientieren sich die gesetzlichen Bestimmungen zu Musenkunst und Gymnastik an einem unsichtbaren Vorbild, das von der parallelen Explikation in den ›Nomoi‹ klarer gefasst werden kann, nämlich als die Übereinstimmung des Gesetzes mit Einsicht und Vernunft. In diesem Sinn ist die richtige Meinung, die sich in der Paideia der Seele einprägt, auf die Wahrheit bezogen. An einer wichtigen Stelle im III. Buch der ›Nomoi‹ wird dieses Verhältnis zusammengefasst: »Man müsse die gesamte Tugend und vor Allem die oberste Leiterin der selben im Auge haben, und diese letztere bestehe in Einsicht, Vernunft und richtiger Vorstellung nebst denjenigen Neigungen und Begierden, welche ihrer Leitung folgen« (Nomoi 688b3 ff.). Die Phronesis wird hier als eine Handlungs-Klugheit gekennzeichnet, die durch Erziehung zu finden ist. Sie ist die Führerin der ›areté‹, das heißt: das Vermögen, das zur Tugend hinleitet und das bestimmt, was die Tugend in ihrem Einheitssinn ist. Jener Einheitssinn soll hier selbst wieder doppeldeutig verstanden werden: als die zur Einheit der Seele führende Tugend und als jene Tugend, die die Einheit der einzelnen Tugenden gewährleistet. Allerdings wird an der fraglichen Stelle offensichtlich nicht allein die Phronesis genannt. Neben ihr werden der Nous, also das reine Denken des philosophischen Menschen, und die Doxa hervorgehoben. Offensichtlich grün260 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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det der Passus, der auf die Einheit der Tugend verweist, auf dem Aufweis innerer Differenzen der Einsicht. Die Phronesis ist, im Unterschied zum Nous, von einem jeden einzufordern. Ohne sie kann es keine Einheit der Tugend geben – und keine Gerechtigkeit.

Musenkunst und Affekte Methodisch bleibt die Frage nach der Bildung in einem kontinuierlichen Zusammenhang mit der Urstiftung des Stadtstaates. Denn auch hier soll das ›wahre Wesen‹ in einer genealogischen Frage ans Licht gebracht werden. Platon fragt, wie Gerechtigkeit durch das Grundgesetz der Paideia entsteht. Die philosophische Gesetzgebung der Erziehung beginnt mit einer radikalisierten Dichtungskritik; die in den Dichtungen Homers und Hesiods überkommene Ansicht von den Göttern soll ›gereinigt‹ werden, denn sie ist dem Vorbegriff der Tugend nicht gemäß. Wenn sich Sokrates nachdrücklich darauf beruft, dass die festgelegten Formen der Paideia, die während langer Zeit (pollou chronou) gefunden worden seien (376e), die bestmöglichen sind, ist offensichtlich mitgemeint, dass auf die alte dichterische und mythische Überlieferung nicht verzichtet werden kann. Die Gesetzgebung muss als kritisches und kathartisches Verhältnis zu dem Überkommenen verstanden werden. Sie hat – kritisch – den Bestand dichterischer Gottesrede auf das Eidos des Göttlichen hin zu befragen und sie hat es – kathartisch – vom Anschein zu reinigen. Nicht ohne Grund setzt also die gesetzliche Gründung der Polis bei der Musenkunst an. Diese markiert in zweifacher Hinsicht einen Anfang: Kinder hören vom Beginn ihres Lebens an die Märchenerzählungen, so wie es sich trifft (377b). Zum anderen evozieren Musik und Rede die elementaren Grunderfahrungen von Lust und Schmerz, sodass sie, im Sinn der Seelenlehre der ›Nomoi‹, deren engen Zusammenhang aufweisen können. Georg Picht hat deshalb zu Recht darauf aufmerksam gemacht, 30 dass jenseits aller bewussten Formung von Handlungen die Tugend in der musischen Erfahrung als eine Seelenbewegung eingeprägt werden kann, die in harmoG. Picht, Platons Dialoge, a. a. O., S. 320 ff. Siehe auch Gadamer, Die Idee des Guten zwischen Platon und Aristoteles, in: ders., Griechische Philosophie Band III., a. a. O., S. 128 ff.

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nischem Gleichmaß verläuft. Im Sinn der musischen Gesetzgebung sind zuwiderlaufende Regungen wie Misstöne, die in einem zensierenden Gesetzgebungsakt zu erkennen und dann auszuschließen sind. Von Anfang an wird Musenkunst in einem weiten Sinn, also unter Einbeziehung der Reden (logoi), begriffen (376e). Dadurch ist die Möglichkeit gegeben, zwischen wahren und falschen Logoi zu unterscheiden (376e f.) – eine Distinktionsmöglichkeit, die in der platonischen Dichtungskritik vorausgesetzt ist. Den Schnitt markiert Sokrates in einer Vorgriffsstruktur. Die kleineren Mythen, die den Kindern erzählt werden, sollen ausdrücklich nach dem Maßstab der größeren beurteilt werden, da beide nach Art (typon) und Zweck (dynasthai) gleich sein müssen (377c–d). Es ist also bereits dann, wenn es vordergründig nur um die Mythen geht, die den Kindern erzählt werden, das Problem einer dichterischen Gotteslehre aufzuwerfen. Um den Logos-Charakter der Mythen näher zu bestimmen, ist eine Vorverständigung hilfreich; sie sind durchgehend als ›pseudos logos‹ verstanden. Wie Platon betont, erfindet dieser zwar immer, er muss aber nicht lügen. Er kann auch abbildhaft auf den wahren Logos (alethes logos) vorausverweisen. Wie sich zu Beginn des III. Buches der ›Politeia‹ zeigt, kommt der Tilgung von lügenhaft täuschenden oder erschreckenden Passagen vor allem der homerischen Dichtung (dem Verfahren des ›diagraphein‹) (387b2) eine herausragende Bedeutung zu. Der Korrektur fällt die maßlose Klage zum Opfer, vor allem dann, wenn sie sich auf die Unterwelt (aides) oder den Tod bezieht. Denn sie gefährdet die beiden einander entgegengesetzten, grundlegenden Anforderungen der Wächternatur: 31 die nach außen gerichtete Tapferkeit und den nach außen gerichteten Eifer. Der erst zu bildende Charakter ist so wenig in sich gefestigt, dass er Jammer und Wehklagen (threnoi kai adoi) nicht standhält (388d–e). Deshalb muss die Musenkunst maßvoll sein. Für die positive Gesetzgebung zeigt sich das darin, dass die im Mythos auftretenden Götter und Heroen so dargestellt werden, dass sie in den Entgegensetzungen von Lust und Schmerz aushalten – gleichsam als Vorgriff auf das Paradigma der Seelentugend (375d). In diesen Zusammenhang gehört es auch, dass die Dichter das Vgl. dazu Neschke-Hentschke, Platonisme politique, a. a. O., S. 250 ff., siehe auch M. C. Nussbaum, The Fragility of Goodness. Luck and Ethics in Greek Tragedy and Philosophy. Cambridge 1986, sowie W. Perpeet, Das Gute als Einheit. Zur AgathonSpekulation Platons, in: Kant-Studien 57 (1966), S. 17 ff.

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der Gerechtigkeit verpflichtete Leben als das glücklichste Leben preisen sollen (392b). Wenn sie dies tun, so sprechen sie von einem Wesenszug der Gerechtigkeit, von dem Sokrates selbst – im Sinn der Fragen von Platons Brüdern Glaukon und Adeimantos im II. Buch der ›Politeia‹ – schweigen muss. Wenn das Wesen der Gerechtigkeit ohne allen Anschein zur Sprache gebracht werden soll, kann nichts über Glück und Schönheit eines gerechten Lebens ausgesagt werden. Demgegenüber scheint jetzt der Weg wieder eingeholt zu werden, den das Thrasymachos-Gespräch im I. Buch der ›Politeia‹ nahm: Dort geht es um jene, die gerecht zu sein scheinen – und es auch sind (vgl. 335b–e). Die Fragen von Glaukon und Adeimantos zeigen allerdings, dass auf diesem Weg der situationsinvariant Gerechte, der im Schein der Ungerechtigkeit steht, nicht gefunden werden kann. Jeder Verweis auf das Glück des in Wahrheit Gerechten bringt einen dessen Gerechtigkeit fernliegenden Anschein hervor.

Die nomothetische Vorzeichnung der Dichtung als Teil der Paideia geht von der Bestimmung des Inhalts der Reden (logoi) auf das Problem ihres Vortrags über (392c–395d). Im Blick auf diese Differenz trifft die ›Politeia‹ ihre grundsätzliche Unterscheidung zwischen ›Diegesis‹ und ›Mimesis‹ (392d). Da eine mimetische Darstellungsweise die Seelen mitreißt, ist sie gefährlich; gerade für diejenigen, die ihre Seelen-Einheit noch nicht auf einen dauerhaften Grund geführt haben. Die Mimesis nämlich macht im Unterschied zur Diegesis denjenigen, der sie übt, zu einem Abbild dessen, was er darstellt. Die dadurch erzeugte Ähnlichkeit wird zum Instrument der Mimesis-Kritik: Lässt doch die Mimesis, sei es durch den Leib des Agierenden, sei es durch die Stimme des darstellenden Rhapsoden, das nachgeahmte Urbild in die Gewöhnung oder die Natur des Nachahmenden übergehen (eis ethe te kai physin) (395d). Diese Erwägungen werden anlässlich der Frage angestellt, ob dramatische Künste, Tragödie und Komödie, in die Polis aufgenommen werden sollen (394d). Und dabei wird das Ausgangsproblem noch einmal schärfer gefasst: Die Mimesis prägt Grundzüge des Darzustellenden dem Darstellenden ein; seien es körperliche Züge, sei es die Stimme oder die Denkart (dianonia) (395d). Mithin verfällt die Mimesis von verschiedenen Zügen dem Verdikt der Vieltuerei. Es sei unmöglich, dass jemand zugleich einer würdigen Beschäftigung 263 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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nachgeht und vielerlei darstellt, aber auch, dass er Entgegengesetztes zur Darstellung bringt (395a). Hier hat die Grundunterscheidung zwischen dem Rhapsoden und dem Mimen ihren Ort (395a). Ein Mensch kann schwerlich beide Teile der Mimesis gleichermaßen beherrschen. Wie von selbst ergeben sich an dieser Stelle die einschlägigen gesetzlichen Abgrenzungen; die jungen Wächter sollen nicht Kinder nachahmen, sie sollen nicht Bosheit oder Jammer darstellen oder den Wahnsinn der Frauenrollen verkörpern (395c–396b). Die Konzentration der Wächter wird an dieser Stelle noch einmal auf ihren Fußpunkt hin transparent gemacht, nämlich, die Freiheit der Polis möglichst vollkommen ins Werk zu setzen (eleutherías tes póleos pány akribeis) (395c). Jene Konzentration zieht in den Fragen der Dichtung Begrenzung und Auslassung nach sich (397a). Im Blick auf die Vortragsweise (lexis) gibt Sokrates eine Mischung zu. Die Lexis wird an beidem Anteil haben (metéchousa), »jedoch so, dass in einem großen Umfang von Rede nur ein kleiner Teil Mimesis vorkommen wird« (396e). Damit ist der Grundtypos der Lexis exponiert. Die Explikationen sind dann, gemäß dem Umfang der Musenkunst, auf die Lehre von den Tonarten (harmonía) weiter zu spezifizieren. Folgerichtig zu den vorausgehenden Grundlinien spricht Sokrates davon, dass der, der sich an die Tugend hält, einer einzigen Tonart folgt (mia harmonía) (397b9). Diese Tonart bzw. Vortragsweise ist diegetisch und sie gehört der Gattung des Zusammenstimmenden an. Die nähere Explikation der Diegesis beruht auf einer Grundunterscheidung, die urbildhaft allen Vortragsarten zugrunde liegt. Während die erste Gattung durch Zusammenklang gekennzeichnet ist und nur einem Minimum an Veränderung unterliegt – mit der zugeordneten Bewegung und dem Taktmaß verhält es sich ebenso –, (397a4 f.) gehört die zweite Tonart dagegen zur Gattung des Anderen, der unbestimmten Zwei- und Vielheit (heterou eidos). Sie ist mimetisch. Hinsichtlich ihrer möglichen Gegenstandsbereiche sind der Mimesis aber im Grundsätzlichen keine Grenzen gesetzt. Deshalb verliert sie sich in eine unbestimmte Vielheit. Auch Tier- oder Naturlaute können von der menschlichen Stimme nachgebildet werden. Beide Grundgestalten können in ihrer reinen Grundgestalt gehalten werden, es lassen sich aber auch Mischungen denken. Sokrates stellt die naheliegende Frage, ob nicht eine gemischte Tonart ›anmutig‹ sei (397c). Obwohl dies nach Maßgabe von Lust und Unlust unstrittig der Fall ist, soll die Mischung 264 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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sensu strictu ausgeschlossen bleiben, was mit der Ausweisung des nachahmenden Vielkünstlers aus der Polis besiegelt wird (398a). Die Verbannung ist als gesetzgeberischer Grundakt zu verstehen. Dem Enthusiasmus und der Göttlichkeit des Mimeten wird in der Folge des Frühdialogs ›Ion‹ (Ion 542a) die Ehrerbietung nicht versagt. Wir »würden ihm Verehrung bezeigen als einem heiligen und wunderbaren und anmutigen Mann, würden ihm aber sagen, dass ein solcher bei uns in der Stadt nicht sei und auch nicht hineinkommen dürfe und würden ihn, das Haupt mit vieler Salbe begossen und mit Wolle bekränzt, in eine andere Stadt geleiten« (Politeia 398a3 ff.). An dieser Stelle ist die musikalische Seite der Kunst berührt. Dass sich das der Tugend Gemäße keineswegs allein aus den angemessenen Inhalten und deren Gestimmtsein gewinnen lässt, wird deutlich, wenn die Erörterung kaum merklich vom Drama zu den Gesängen (398c) und ihrer Begleitung übergeht. Hier greift Platon das von Pindar und Damon überkommene Wissen um das Ethos der Gesänge wieder auf. Zu klären ist, in welchem Verhältnis die Bestandteile zueinander stehen. Die Explikation des Mythos als einer Art von Logos am Beginn der Dichterlehre wird dabei aufgenommen und variiert. Im Sinn des Sokrates soll der Gesang das Wort zur Leitgestalt haben; Tonart und Zeitmaß folgen damit dem logoshaften Anteil. Dies setzt eine zweite Erwägung voraus: Die Deutung einzelner Tonarten wird in deren Pathos, ihrem Zusammenhang mit der Affektennatur, fundiert. Auszuschließen sind demnach alle klagenden, ausschweifendem Jammer hingegebenen Harmonien. 32 Der Rhythmus (das Taktmaß) kommt in der Gesetzgebung der ›Politeia‹ erst spät ins Spiel; der Sokrates der ›Politeia‹ scheint in seiner eigenen Darlegung den Grundsatz einzulösen, dass Tonart und Takt der Rede folgen müssen (398d). Wenn der Rhythmus dann eigens behandelt wird (400e), zeigt sich, dass er als Zeitmaß erst das Eidos der Musenkunst erschließt. In der Fokussierung auf den Rhythmus kann Musik nämlich als »Bewegung in der Zeit« bestimmt werden. Allerdings ist die Zeitgestalt besonders schwer aufzuhellen. Sokrates und sein Gesprächspartner, immerhin ein Musiker, haben im Sinn der Dialogfiktion die einzelnen Zusammenhänge vergessen und sehen sich deshalb gezwungen, auf Damon, den großen Musikkundigen, Vgl. Höffe, Zur Analogie von Individuum und Polis, in: ders. (Hg.), Platon, Politeia. Berlin 1997, S. 69 ff., sowie J. Chanteur, Platon, le désir et la cité. Paris 1980.

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zu verweisen (vgl. 400a). Der Grund des Vergessens ist nicht zufällig: Die zeithaft verfließende Rhythmik ist, anders als ein Bildwerk, keiner fixierenden Gestalt abzulesen. Sie zeigt sich nur in Bewegung, also in der Richtung auf ein Vergehen. Zugleich könnte das Vergessens-Motiv auch noch einmal auf das Motiv des Ion-Dialogs anspielen und andeuten, dass es von der Musenkunst kein stabiles, der Rechenschaft fähiges Wissen gibt. Dies scheint aber nur so. Sokrates beruft sich darauf, dass es drei Arten von Bewegung gibt, auf die alle Rhythmen zurückzuführen sind: das auf Gleichmaß gerichtete ›ison‹-Verhältnis (2:2), das Daktylus, Spondeus und Anapäst umfasst; das ›hemiólion‹-Verhältnis (3:2) mit Päon, Kretikus und Bakchius; und schließlich Trochäen, Jamben und Jonier-Verse, die unter die Kategorie des ›diplásion‹ (2:1) zu summieren sind, 33 wobei die dritte Gruppe ein freies Spiel zwischen den schematischen Prototypen und der einzelnen rhythmischen Zeitgestalt zulässt (400c). Schwieriger ist es, einzelne musische Zeitgestalten und spezifische Lebensformen (bioi) aufeinander zu beziehen. Was hier zur Erwägung steht, ist wichtig. Im Dialog wird aber hinzugefügt, dass es »keine kleine Sache« sei, das Argument zu führen (400c4 ff.); es handelt sich offensichtlich nicht um authentisches Wissen, denn die Explikationen greifen jederzeit streng auf Damons Autorität zurück. Der schöne und stimmige Rhythmus beruft sich auf das gute Ethos (euethei) der Seele (400d; vgl. auch 402d). Diese Haltung weist bereits auf eine innere Handlung zurück, durch die sie allererst eingeprägt werden kann. Vom Blickpunkt der Paideia aus zeichnet sich also ein Kreisgang ab: Die musische Erziehung ist an der Stelle, an der es um ihre Zeithaftigkeit geht, nur wiederum im Rückbezug auf diejenige Seele zu verstehen, die durch die Tugend bestimmt wird. Authentisches Wissen von der Musik wird daher das Urbild ihrer Buchstabenschrift lesen müssen: »Werden wir nun nicht […] auch nicht eher Musiker sein, weder wir selbst noch Wächter die von uns erzogen werden sollen, bis wir die Gestalten [eide] der Besonnenheit und der Tapferkeit […] und was dem verschwistert ist, so wie auch wiederum die des Gegenteils, wie sie überall vorkommen, erkennen und mer-

Vgl. zur Reichweite der Musenkunst bei Platon: Picht, Platons Dialoge, a. a. O., S. 280 ff.; siehe auch ders., Kunst und Mythos, a. a. O., S. 58 ff. Siehe ferner M. H. Partee, Plato’s Poetics. The Authority of Beauty. Salt Lake City 1981 und H. Gundert, Enthusiasmos und Logos bei Platon, in: K. Gaiser (Hg.), Das Platonbild. Zehn Beiträge zum Platonverständnis. Hildesheim 1969, S. 176 ff.

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ken, dass sie da sind« (402b–c). Damit verweist die Zeitlichkeit des Rhythmus nicht nur auf Werden und Vergehen; Rhythmus und Harmonie durchdringen das Innere der Seele (to entos tes psyches) (401d) und prägen sich ihr ein, sodass die gute Musenkunst eine schöne und gute Grundgestalt (euschema) ausbildet. Das Schöne in der Seele, das sich als Gleichmaß (homologounta) und Übereinstimmung (xymphonounta) zeigt (402d), wird von hier aus als das schönste Schauspiel (kalliston théama) für denjenigen expliziert, der schauen kann. Mit dem Verweis auf das gute Ethos wird die Anähnlichung (homoioumen) des Rhythmus an den Logos besiegelt. Eine kleine Zusatzbestimmung ist besonderer Erwägung wert: Rhythmische Unangemessenheit und melodischer Missklang werden dem ›agathon ethos‹, der guten Prägung der Seele, entgegengesetzt (vgl. 402d). Es wird aber zugleich gesagt, dass beide einander verschwistert (adelphos) seien. Damit ist verdeutlicht, dass sich die Seele erst auf das innere Maß zu berufen hat, wenn sie sich dem Nicht-Schönen oder auch nur dem Vergehen des Schönen ausgesetzt sieht. Im Zusammenhang dieser Erwägungen erschließt sich, weshalb der Musenkunst die Herrschaft (Adj. kyriotaton) (401d) innerhalb der Sphäre der Paideia kraft philosophischer Gesetzgebung zugewiesen wird. Sokrates sprach im Zusammenhang des Vorrangs der Apollon- vor den Marsyas-Instrumenten der wahren Musik-Lehre die Macht zu, unversehens die »üppige Stadt« (vgl. 372c) reinigen zu können (diakathaírontes) (399e). Nur insofern sie auf die Musik gegründet ist, kann die Paideia gesetzliche Einzelbestimmungen überflüssig machen (423d). Sie ist wie selbstverständlich als Prototypon aller Kunst zu verstehen, und das musische Typos-Wissen ist auch in Malerei und Architektur (401b) maßgeblich. 34 In dem Passus, mit dem die Erwägungen über die Musenkunst schließen, ist der ethische, also der die Seele im Inneren prägende Charakter der Musik hervorgehoben. Damit tritt eine andere Bestimmung an die Stelle der EntVgl. dazu meine näheren Ausführungen in H. Seubert, Ästhetik – Die Frage nach dem Schönen, a. a. O., S. 57 ff. Es ist auffällig, dass in zahlreichen Darstellungen, auch im ›Platon-Handbuch‹, die Frage der Mousike und damit des in der Zeit vorbeigehenden Schönen eindeutig unterbestimmt ist.

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rückungs- und Manie-Problematik im ›Ion‹-Dialog. Wenn nämlich aufgewiesen wird, dass Rhythmus und Harmonie »vorzüglich in das Innere der Seele eindringen, und sich ihr aufs kräftigste einbilden« (401d), so ist der Zusammenhang der Musik mit dem ›inneren Vollzug in der Seele‹ nach den getroffenen nomothetischen Erörterungen nicht auf einen durch die Musik erweckten ›enthousiasmos‹ zurückzuführen. Indem dies klargestellt wird, wird die Kenntnis der Musenkunst allererst authentisch und löst sich von der Autorität des Damon (houtos oude mousikoi proteron esometha; 402c). Platon greift an der zitierten Stelle auf das in der Staat-Seelen-Analogie maßgebliche Beispiel der Buchstabenschrift (grammata) zurück. Lesen könne man erst, so wird gesagt, wenn man erkennt, dass es nur wenige Buchstaben gibt, dass sie aber in allen Verschriftlichungen in kombinatorischer Bandbreite immer wieder vorkommen. Es geht also darum, sie in den wechselnden Anordnungen und Gestalten, in denen sie erscheinen (402a), wiederzufinden. Der Sprachkundige wird die wenigen Grundmuster auch dann identifizieren, wenn sie nur »in Wasser oder in Spiegeln« (402b) zu sehen sind. Der Buchstabenvergleich gibt zu verstehen, dass die Tonsprache auf wenige ausgezeichnete musikalische Tonarten und Harmonien zurückzuführen ist; diese geben, wie im Vorblick gesagt werden kann, eine Idee der vielfältigen Klangwelten. Allerdings führt der Vergleich noch weiter: Die Buchstabenschrift der Musik ist erst dann kundig geübt, wenn diese Grundformen in der Seele aufgewiesen werden. Die wenigen Tonarten und Harmonien sind urbildlich als Gestalten der Tugend, »der Besonnenheit und der Tapferkeit«, zu erkennen. Die Gewichtung des Vergleichs zeigt allerdings auch, dass die Buchstabenschrift gerade in ihren Abbildern und Verzerrungen wiederzuerkennen ist. Dennoch unterliegt die Mischung der Tonart des Einen mit jener der unbestimmten Zweiheit strengsten Restriktionen. Vor diesem Hintergrund nimmt der sokratische Gesetzgeber Bezug auf den Eros. Als Trieb (aphrodision) (403a) 35 neigt der Eros zu Überhebung (hybris) und Getriebenheit (akolasia). Er ist weder mit der Besonnenheit noch mit der ›übrigen Tugend‹ in Übereinstimmung (402e5–403a1 ff.). Ein gemäßigter Eros wäre in einem vollendeten Sinn musikalisch; er wäre Liebe zu der Schönheit als dem eigentlich Schönen, das damit zugleich als Inbegriff von Liebenswürdigkeit begriffen wird. Musikalisch ist der Eros aber immer, weil er, 35

Dazu Benardete, Socrates’ Second Sailing. On Plato’s Republic. Chicago 1989.

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gemäß der platonischen Disposition, das »entgegengesetzte vereinigt« (374d). Auch wenn er es in vielfacher Gestalt liebt, liebt er das Schöne selbst, nicht einzelne seiner Gestalten. 36 Hier liegt daher auch erst der Ursprung der Ähnlichkeit zwischen Klang und Missklang. Bei der Liebe zum Eidos der Schönheit finden der Eros und die Musenkunst gemeinsam ihr Ziel. Und es ist diese Liebe zum Schönen (tou kalou erotika) (403c), in die die Erwägungen der Musenkunst münden. Was der Zusammenhang des Ethos der Erziehung mit dem Eros bedeutet, wird im Rückblick auf das von Sokrates entworfene Gesamtgefüge der Paideia deutlicher erkennbar (412b). An dieser Schnittstelle des Dialogs ist nicht von Eros, sondern von Freundschaft (philia) die Rede. Sie ist, so wird hier festgehalten, die Quelle der Wachsamkeit und Fürsorge für die Polis, und zu ihr ist jeder fähig, der seine eigene Lebensform mit der Polis verbindet, im Tun und im Unterlassen (412d). Dabei wird das Panorama eines freien, von Meinung (doxa) unabhängigen Zusammenspiels der Bürger im Stadtstaat entfaltet, so wie der Blick des in der Musenkunst erfahrenen Mannes sich auf die Schönheit selbst, nicht auf einzelnes Schönes bezieht. Und solche Erwägungen werden in einem Zusammenhang exponiert, in dem es um die Auswahl der geeignetsten Wächter für die Herrschaft geht. Man findet sie, wenn ihre fürsorgende Wachheit (phylaxia) von früh an strengen Prüfungen unterworfen wird, wenn ihnen die Möglichkeit zum Betrug und zum Verlust der eigenen Charakterfestigkeit eingeräumt wird, wenn sie Mühen (ponoi) unterzogen und in Schrecken versetzt werden (413c). Von Herrschaft (arche) ist an dieser Stelle allerdings in einem verhältnismäßigen Sinn die Rede: Es geht um die Herrschaft unter den Wächtern, die den vergleichsweise besten von ihnen zusteht. Diese relationale Herrschaft (arche) ist von dem Königtum der Philosophen weit entfernt. Die Herrschaft der Wächter bleibt relativ, da sie das, was »in Wahrheit gut«, also in Übereinstimmung mit der Tugend ist, nicht zu rechenschaftsfähiger Einsicht bringen können. Ihre philosophische Wesensnatur ist noch immer die von Hunden, die das Fremde vom Eigenen unterscheiden können (375e). Deshalb kann eine Verwandtschaft der Kenntnis der Wächter mit dem ›techné‹-Wissen konstatiert werden und der Vergleich zur Tauglichkeit von Bauern gezogen wird. Der Übergang ist Ders., Plato’s Symposium, Chicago 2001, passim und On Plato’s ›Symposium‹, zweisprachig. München 1993.

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aber dadurch bezeichnet, dass sie zu einer ›inneren Handlung‹ imstande sind; nämlich dazu, »das Entgegengesetzte zu vereinigen« (vgl. 375d). Ihre Freundschaft untereinander gibt eine Vorgestalt von Weisheit. Freundschaft ist notwendig, da die Wächter, als nicht aus wahrer Einsicht Wissende, dazu neigen, die Tugend als eigentliche Zweckbestimmung nur dem Schein nach zu wollen, in Wahrheit dagegen die persönliche Annehmlichkeit zu begehren. 37 In dem Mythos von der Erdgeburt der Stände der Polis am Ende des III. Buches findet diese Denkfigur ihren dichterischen Niederschlag: unter Einbeziehung der Täuschung, nicht aber der Lüge. Der Mythos ist eine der »untadeligen und heilsamen Täuschungen« (pseudon) (414b–c), durch die vornehmlich die Archonten und mit ihnen die übrige Stadt überzeugt werden sollen. Wären die Archonten schon Philosophen, so bräuchten sie den Mythos nicht. Die aus Phönizien stammende Erzählung, eine Variante des Mythos von Kadmos, gibt zweierlei zu verstehen. Zum einen, dass die Bürger der Polis Brüder (adelphoi) (414e) sind. Deshalb soll die Bürgerschaft in erster Linie als Freundschaftsverhältnis und erst sekundär als Differenzierung verschiedener Stände aufgefasst werden. Zum anderen zeigt sich, dass die Zugehörigkeit zu den drei verschiedenen Ständen der Natur gemäß (kata physin) ist: Sie wird versinnbildlicht durch die Edelmetalle Gold, das den Archonten, Silber, das den Wächtern und Erz, das dem Nährstand entspricht. Damit ist ein festgefügtes Ordnungsverhältnis bezeichnet, das aber mit der Geburt keineswegs unabänderlich festgeschrieben ist. Es steht in jeder Generation für den Einzelnen neu zur Wahl (415b). Beide Akzente, die Orientierung der Polis auf Einheit und die Einsicht, dass diese der Natur gemäß in einem Unterschiedensein manifest wird, werden gleichermaßen betont. Sokrates zögert mehrmals, den Mythos zu erzählen. Dass er schließlich doch erzählt wird, ist durch die Erwägung motiviert, die Erziehung, der Haltepunkt der Gesetze, könne vergessen werden. Es kann dazu kommen, dass sie nur noch als ein Traum erinnert wird (414d) und nicht mehr im Charakter der Bürgerschaft eingeprägt ist. Dass die Bürger des Stadtstaates sich als eines wissen, ist daher in einem sinnbildlichen Zusammenhang zu verankern: in der chthonischen Annahme der gemeinsamen Zugehörigkeit der Stände zur Erde als dem Muttergrund, von Vgl. R. Ferber, Platos Idee des Guten. St. Augustin 21989, siehe auch: K. Maurer, Platons Staat und die Demokratie. Berlin 1970.

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dem sie vorgeburtlich empfingen, was sie sind, und dem sie in ihren Handlungen zu Treue und Sorgfalt verpflichtet bleiben (414e). 38 Damit überschreiten die Gründer des Ideal-Gesetzes freilich eine Grenze und werden selbst zu Dichtern des Mythos. Indem derart die politische Ordnung als der Natur gemäß gedeutet wird, kann für die Unwissenden in Vergessenheit geraten, dass sie gar nicht möglich wäre, wenn der Mensch nicht aus dem unmittelbaren Naturzusammenhang herausträte (vgl. Politikos 277a3). Der Mythos von der Erdgeburt zeigt aber zugleich, dass in der Polisordnung selbst und auf einer Verstehensebene, die wie jene der archontischen Wächter an die durch die gereinigte Dichtung befestigte Meinung gebunden bleibt, die innere Ordnung der Politie nicht begründet werden kann. Eine positive Gesetzgebung, die sich nicht selbst einsichtig macht, kann jene Ordnung offensichtlich nicht grundlegen. Für die Wächter, die das Faktum der Erziehung ›vergessen‹ haben, ist aber Einsicht nur in der Affizierung durch ein Stück Musenkunst zu gewinnen, ohne dass sie erkennen könnten, dass dieses auf einem Gesetzgebungsakt beruht. Deshalb legt der Mythos in seiner Weise den Blick auf naturgemäße Einheit in einer wohlgeordneten Unterschiedenheit frei, um die es bei der idealtypischen Gründung der Stadt immer geht.

Bewegungsharmonien Die gymnastische Erziehung, die Diätik und andere Formen asketischer Lebenskunst einschließt, wird im Anschluss an die musische Paideia behandelt. Deren Zielbegriff, die Liebe zum Schönen (tou kalou erotika), steht schon im Blick. Dadurch ist angezeigt, dass die ›vollkommene Seele‹ aufgrund ihrer Bestheit »den Leib aufs bestmögliche ausbildet« (403d). Das Fundierungsverhältnis ist offensichtlich nicht umkehrbar. Folgerichtig ist die Ausübung der Gymnastik nicht Selbstzweck. Auch in dieser Hinsicht weicht die ›Politeia‹ klar und in einer fast karikierenden Abgrenzung des Gegenbildes von den in Athen überkommenen Speise- und Lebensvor-

Vgl. u. a. Angehrn, Die Ontologie des Politischen, a. a. O., S. 88 ff., siehe ferner G. Vlastos, Justice and Happiness in the ›Republic‹, in: ders., Platonic Studies. Princeton 1973, S. 119 ff. Siehe auch J. Ferguson, The Ethics of the ›gennaion pseudos‹, in: Liverpool Classical Monthly 6 (1981), S. 259 ff. und M. Hartmann, The Hesiodic Roots of Plato’s Myth of Metals, in: Helios 15 (1988), S. 103 ff.

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schriften für die Athleten ab, die einen Großteil ihrer Zeit schlafend zubringen und sich durch die Abzweckung allein auf den Leib der Gefährdung durch bedrohliche Krankheiten aussetzen (vgl. 404a). Wie in der Musenkunst gibt auch in der Gymnastik eine Zusammenstimmung das Maß vor. Deshalb können Diätetik und Gymnastik nicht nur als Teile der Paideia, sie müssen auch als Teile der Musenkunst betrachtet werden. Es wird angedeutet, dass die Zusammenstimmung des Entgegengesetzten (375d) auch das Grundverhältnis von Leib und Seele betrifft. Gymnastik und, ihr zugeordnet, die Diätetik sind Kunstfertigkeiten (technai), die bei der Einrichtung der Rechtsverhältnisse mit in Rechnung zu stellen sind, weil sie Wesentliches zur Ausbildung eines gesetzlichen bzw. ungesetzlichen Staates beitragen. Dies verdeutlicht wiederum ein Vergleich mit der Medizin: So wie die gemäße Ernährung und Bewegung eine auf das Nötigste reduzierte Heilkunde in der Art des Asklepios, nicht eine Medizin im Sinne des Herodikos (406a, vgl. auch Aristoteles, Rhetorik 1361b), die in unendlicher Therapie Krankheiten pflegt, ermöglicht, so bedarf die wohlgebildete Seele nur selten der Gerichtsbarkeit. 39 Der Vergleich hat für die Bestimmung der Gerechtigkeit in der Polis eine explizierende Bedeutung. Zwar ist die Sorge um den Leib eine Kunstfertigkeit, doch ihre Handhabung steht im Zusammenhang mit dem Grundverhältnis von Recht und Unrecht. Dies wird in der die Erörterungen zur Paideia abschließenden Analogie zwischen Arzt und Richter aufgewiesen. Entscheidend ist, dass der Vergleich nach zwei Seiten hin erschließend wirkt. Ein ausuferndes Gesetzeswerk ist als Anzeichen einer schlechten Polis zu verstehen (425a8) und ein hoher medizinischer Entwicklungsstand, der Schwache und Todkranke am Leben erhält, könnte eine Stadt in Misskredit bringen, wenn das Urbild der Gerechtigkeit als Maßstab angelegt wird. Dies hat seinen Grund in der (erst an späterer Stelle) zu erläuternden Leitbestimmung für den Einheitssinn der Seele und der Stadt: Jeder tue das Seine (ta heautou prattein). Wenn »jedem sein Geschäft [ergon] in der Polis aufgetragen ist, das er notwendig verrichten muss« (406d), so ist es nicht möglich, dass er eine lange Zeit seines Lebens in Krankheit verbringt. Dieser Verweis wird durch einen zweiten ergänzt, der aus dem ersten Buch der ›Politeia‹ bereits geläufig ist: dass sich alle Handlungen nicht auf sich Vgl. insbes. L. C. H. Chen, Education in General (Rep. 518c4–519b5), in: Hermes 115 (1987), S. 66 ff., R. Barrow, Plato and Education. London 1976.

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selbst, sondern auf ihre Sache beziehen müssten. »Lächerlich, sprach er, wäre es freilich, wenn der Hüter selbst eines Hüters bedürfte« (403e). Die Sachgemäßheit sicherzustellen, ist eine wesentliche Aufgabe der Gymnastik. Im Fall der Gymnastik wird das Problem einer Gesetzgebung für einen Bereich reflektiert, der die Gesetzgebung gerade tragen soll; dieses Spannungsverhältnis findet im Fall der Musenkunst keine Erwägung. Worin das Recht für die weittragende Vergleichsperspektive zwischen Richterschaft und Medizin besteht, erschließt sich, wenn Sokrates in Unterscheidung zur gängigen Meinung anmerkt, dass Musenkunst und Gymnastik gemeinsam als Sorge um die Seele zu verstehen sind, und nicht etwa die Gymnastik nur als Sorge um den Leib begriffen werden kann (410c). Dennoch sind in dem Ähnlichkeitsverhältnis klare Grenzen gezogen. Der Arzt wirkt mit seiner Seele auf den Leib ein. Deshalb wird er dann besonders trefflich sein, wenn er verschiedenste Krankheiten und Schwächen in seiner Jugend am eigenen Leib erfahren hat (408d); während dagegen der Richter, der mit seiner Seele auf die Seelen der anderen wirkt, sich nicht am Verbrechen, sondern an dem Maßstab, was der Gerechtigkeit gemäß sei, orientieren muss (409a1 ff.). Es wird nicht bestritten, dass auch der Arzt ein klares Wissen dessen, was Gesundheit ist, neben seinem Erfahrungs- und Gebrauchswissen von der Krankheit benötigt. Doch bei ihm kommt es auf die richtigen Mischungsverhältnisse an, anders beim Richter, der dem Eidos der Gerechtigkeit folgt (409a). Sein Wissen geht also nicht aus Fertigkeit und Gewöhnung hervor. Die Asymmetrie der hier umschriebenen Verhältnisse ist bereits angezeigt, wenn davon die Rede ist, dass die vollkommene Seele durch ihre Tugend auch den Leib auf das Bestmögliche ausbilde, nicht aber umgekehrt (403d). Ausgehend hiervon ist die gegenüber dem Vorausgehenden erweiterte Bestimmung der Paideia zu verstehen, wonach in der Paideia Naturgaben, die eher der Musenkunst und jene, die eher der Gymnastik entsprechen, richtig gegeneinander abgestimmt werden müssen (hermósthai) (410e). Sie müssen in schöner Weise gemischt und abgewogen werden (vgl. 412a), sodass sich in der Seele der Stadt und in der Seele des Einzelnen ein Grundverhältnis der Harmonie einstellt. Deshalb scheinen die Einsichten, die aus der Behandlung der Musenkunst gewonnen wurden, noch einmal wie in einer vergrößerten Schrift auf: Es geht nun, in einem weiter gefassten Blickpunkt, um die Gestimmtheit der Seele durch das Verhältnis von Musik und Gymnastik. Die eine der beiden Tonarten, die zwischen 273 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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Musik und Gymnastik zum Zusammenklang zu bringen sind, ist Rauigkeit oder Härte (makakía) (410d). Sie wird aus einer Akzentuierung der Gymnastik hervorgehen. Hätte sie kein Gegengewicht, würde sie zu Stumpfheit und Blindheit der Seele führen. Die ins Extrem getriebene gymnastische Neigung verdichtet sich zu der Gestalt des musenlosen Feindes der philosophischen Rede. Der musische Gegenton ist die Milde (hemeron) (410e), die ohne das Antidotum der Rauigkeit zu Weichheit führen könnte. Bemerkenswert ist es, dass im Zusammenhang der Exposition der Milde das zweite Mal im Aufriss der Paideia nach dem Vergleich der Wächter mit Hunden (375e) von der philosophischen Natur (philosophos physis) der Wächter die Rede ist (410e). Das Wort von der ›philosophischen Natur‹ hat an dieser Stelle allerdings eine Präzisierung erfahren. Denn es wird bemerkt, dass die Erziehung Besonnenheit (sophrosyne) einflößt. Besonnenheit bezeichnet aber nicht die Gewöhnung einer ›areté‹-haften Seele, sondern Einsicht in das Wahre. Wie sich diese Einsicht außerhalb der Philosophie zeigt, wird verschwiegen, und damit bleibt, zumindest vorerst, der Übergang der Wächter zur Einsicht noch im Dunklen. Allerdings wird festgehalten, dass derjenige, der Musik und Gymnastik am vollkommensten mischt »und im reichlichsten Maß der Seele beibringt« (412a), selbst vollkommen musikalisch und harmonisch genannt werden solle. Freilich wird an dieser Stelle nicht die philosophische Natur genauer bestimmt. Es wird vielmehr darauf hingewiesen, dass die beiden Grundpfeiler der Paideia, Musik und Gymnastik, Naturgaben (amphotera to physei) (410e) sind. Das sind im Sinn der Erläuterung Gaben, die in der Natur verborgen liegen und die sich dem erschließen, der Einsicht in ihre Maßverhältnisse gewinnt.

Anfang und Ziel der Paideia: Der Gott Damit ist zu erkennen, dass die Grundlinien der Paideia im Zuge einer philosophischen Gesetzgebung entworfen werden, die für Lebensführung, Kunst und die Rechtsverhältnisse grundlegend sein soll. Die Einzelgesetzgebung folgt diesem nomothetischen Grundakt. Der Ausgangspunkt der Erörterungen – die veränderte Bestimmung des Logos des Göttlichen gegenüber den Täuschungen von Epik und Rhapsodik – bleibt erst zu explizieren. Zur Vorverständigung ist es wichtig zu erkennen, dass in der Götterlehre eine doppelte Grund274 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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legung versucht wird. Einerseits geht es darum, ein Fundament der Musenkunst zu legen, und andererseits soll von hier aus ein Vorbegriff von Gerechtigkeit entwickelt werden. Dabei geht die Götterlehre der ›Politeia‹ von der Überlieferung aus und bleibt zugleich kritisch und kathartisch auf den Überlieferungszusammenhang und damit auf den vorfindlichen Mythos bezogen. 40 Platons bzw. Sokrates’ Explikationen legen lediglich Grundzüge der Gotteslehre frei (typoi perì theologías) (379a–b). Nur das Typoshafte soll Teil einer philosophischen Gesetzgebung sein. Am Ende von Politeia II wird der Zusammenhang von Adeimantos ausdrücklich anerkannt: »Auf alle Weise, sagte er, nehme ich diese Vorschriften [týpous] an, und möchte sie als Gesetze [hos nómois] gebrauchen« (383c). Dabei zeigt sich, dass eine Gesetzgebung, die sich auf die Fundamente des Polis-Gesetzes bezieht, nämlich die Götter, die als Begründer der Gesetzgebung zu beglaubigen sind, und die musische Paideia, die viele gesetzliche Einzelbestimmungen hinfällig macht, auf wenige Grundlinien zu beschränken ist. Es ist nicht Sache des philosophischen Gesetzgebers, die für wahr befundenen Mythen vorauszudichten. Als Städtegründer könnten sie nicht zugleich Rhapsoden oder Tragiker sein, gibt Sokrates seinen Mitunterrednern zu verstehen (379a). Er gibt den Dichtern lediglich eine doppelte Grundlinie vor. Zum einen wird festgehalten, dass der Gott so, wie er in Wahrheit ist (hoios ho theos on), bedichtet werden muss; und dies gleichermaßen, wenn die Dichtungsgattung Epos oder Tragödie ist. Diese Aussage wird im ersten Grundsatz weiter dahingehend spezifiziert, dass er seinem Wesen nach gut sei und mithin nur als gut dargestellt werden darf (lekteon) (379b). Der zweite gesetzliche Grundsatz besagt, 41 dass der Gott nicht viele Gestalten annimmt, sondern einfach (haploun) ist und weniger als alles andere Seiende »aus seiner eigenen Gestalt [tes heautou idéas] herausgeht« (380d). Im Sinn dieses Grundrisses ist die Darstellung (lexis) des Göttlichen zuallererst zu entbildlichen. Der grammatische Wechsel von ›hoi theoi‹ zu ›ho theos‹ oder zu adjektivischen Formen von dem ›Göttlichen‹ machen Vgl. dazu D. Ross, Plato’s Theory of Ideas. Oxford 21951, sowie F. Solmsen, Plato’s Theology. Ithaca/New York 1942 (= Cornell Studies in Classical Philology 27) und M. Enders, Platons ›Theologie‹ : Der Gott, die Götter und das Gute, in: Perspektiven der Philosophie. Neues Jahrbuch 25 (1999), S. 131 ff. 41 Dazu Enders, a. a. O., siehe auch weiter unten Fünftes Kapitel, VI. ›Nomoi‹, insbesondere zur Theologie in den ›Nomoi‹. 40

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dies sprachlich offensichtlich. Die vielfachen Gestalten und Vorstellungen überlieferter Mythen sollen in den gerechten Mythen auf den Einheitssinn des Göttlichen hin ausgelegt werden. Dadurch ist es motiviert, dass die homerische und hesiodische Überlieferung einer Reinigung und Scheidung zu unterziehen ist (377d). Offensichtlich antwortet dieser Aufriss der Theologie in der ›Politeia‹ auf das spezifische Gottes-Verhältnis des Sokrates in der ›Apologie‹ ; zugleich repliziert er allererst auf die Zweifel von Glaukon und Adeimantos, ob die Gerechtigkeit in irgendeiner Weise in Verbindung mit dem Ansehen und Glanz der Welt steht. Die im Sinn philosophischer Gesetzgebung gebotene Darstellung des Göttlichen rührt von einem Urbild her, dem Eidos der Gerechtigkeit. 42 Platon möchte das Urbild in der philosophischen Gesetzgebung aufweisen, sodass die Götterlehre als Vorgriff auf ihr Maß, eben die Gerechtigkeit, exponiert wird. Dabei steht zwar das Wesen (eidos, idea) des Göttlichen zur Erörterung, doch unterliegt das Typos-Wissen deutlichen Einschränkungen. Es bezieht sich im Wesentlichen auf die Redeformen, die zuzulassen sind, weil sie im Vorgriff als möglichst wahr-ähnlich oder wahrscheinlich zu erschließen sind. Nur ergänzend treten logische Erwägungen hinzu. So wird der Faden der ›idion ergon‹-Analyse wiederaufgenommen, um einen Vorbegriff des Wesens des Göttlichen zu geben. Vorausgesetzt ist dabei, dass Gott ohne alle Einschränkung gut sei. Und es wird die Bemerkung ergänzt, dass das, was nicht zum Guten gehöre, verderblich sei. Eine Zuordnung des Guten zu Verderblichem ist indes auch im Sinn der ›idion ergon‹-Analyse nicht zulässig. »Nicht also von allem ist das Gute Ursache, sondern was sich gut verhält, davon ist es Ursache […]. Also auch Gott, weil er ja gut ist, kann nicht an allem Ursache sein, wie man insgemein sagt, sondern nur von wenigem ist er den Menschen Ursache, an dem meisten aber unschuldig« (379c). Daher wird im Sinn dieser Vorgriffsstruktur ein ›Maß des Angemessenen‹ aufgewiesen, dem die archaische Götterwelt um Chronos und Ouranos (377e), so wie sie in der Überlieferung erscheint, nicht entspricht. Ihre Freveleien und Gigantomachien, ihre Eingriffe

Vgl. dazu in sehr guter Durchdringung der inneren Tektoniken H. J. Krämer, Arete bei Platon und Aristoteles, a. a. O., S. 230 ff., ders., Das Problem der Philosophenherrschaft bei Platon, in: Philosophisches Jahrbuch 74 (1966/67), S. 254 ff. und ders., Epekeina Tes Ousias. Zu Platon, Politeia 509b, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 51 (1969), S. 1 ff.

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zum Schaden der Menschenwelt (379e–380a) verbieten, bestimmte Handlungen sowohl den archaischen als auch den olympische Göttern zuzusprechen. Die Götter, unter anderem werden Athene, Zeus, doch auch die Urstifterin der Gerechtigkeit, Themis, genannt, sind nicht als Verursacher bestimmter Freveltaten oder Intrigen zu benennen (379e). Diesen Grundzug legte bereits Xenophanes’ Mythenkritik im Einzelnen dar (DK21 A12, B11). Platon bestimmt jedoch, bereits in den ersten Explikationen der Götterlehre im II. Buch der ›Politeia‹, darüber hinaus ihren Ort. Täuschende, nicht wahrheitsgemäße Mythen führen dazu, dass der junge Mensch jedes Maß von Recht und Unrecht verliert. Denn »wenn er das äußerste Unrecht begehe«, kann er sich noch vorsagen, »er tue nichts besonderes […], sondern […] immer nur was auch die ersten, größten Götter« tun (378b). Dies scheint eine eher funktionale Erwägung zu sein. Anders ist es, wenn sie im Zusammenhang mit der Explikation der Gerechtigkeit als einer ›inneren Handlung‹ wiederholt wird. Dann wird offensichtlich, dass die Seele Ort der Gesetzesexplikationen über die Götterwelt ist. Zu einer Reflexion über das Typos-Wissen der Gerechtigkeit kommt es am Ende des II. Buches, wenn der Grundsatz, dass Gott nicht lüge, weiter eingekreist wird. Dabei fällt der Begriff der »wahren Unwahrheit« (alethos pseudos) (283b). Sie ist zu bestimmen als die »Unwissenheit in der Seele des Getäuschten«, was einschließt, dass Unwahrheit, wenn sie als solche durchschaut ist, die Seele nicht für sich einnehmen kann. Sie werde »gehasst« werden. Das Verhältnis von Wahrheit und Unwahrheit prägt sich »urbildlich« in der Seele aus; und die »Unwahrheit in Reden« (en tois lógois pseudos) (382c) ist selbst nur ein Abbild, also nicht mehr unvermischte Unwahrheit. Die nomothetische Götterlehre kann nur dann kritisch und kathartisch sein, wenn sie aus einem Wissen um die Unwahrheit schöpft; und dies schließt die vorgreifende Einsicht in das dem Mythos zugängliche Urbild, die Gerechtigkeitsnatur der Götter, ein. In diesem Sinn hält Sokrates den alten Göttermythen entgegen, dass sie unwahr sprächen (377d–e), »wie wenn was ein Maler malt dem gar nicht gleicht, dem er sein Gemälde doch ähnlich (homoia) machen wollte« (377e). Aus dem ersten Grundsatz der nomothetischen Götterlehre ergibt sich, dass in den mythischen Reden darzulegen ist, dass Gott nur das Gute wirkt, nicht aber – im homerischen Sinn – Gutes und Übel 277 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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gleichermaßen zuteilt (379e). Aus der ›idion ergon‹-Lehre ist als Interpretament abzulesen, dass seine Wirkung untrennbar von seinem Sein (ho theos on) ist (379b). Und im Hintergrund wird mitgedacht, dass das Gutsein und das Einfachsein (haplos) in einem engen Zusammenhang stehen. Gutes kann also nur von Gutem herrühren, während das Schlechte vielerlei Ursachen haben muss (379b und c). Allerdings verschweigt Sokrates nicht, dass die Betrachtung menschlichen Schicksals keineswegs nur Gutes aufdeckt. Die Übel, die übrigens in dem Grundriss am Ende des II. Buches nur durch Namensnennungen anzitiert, aber nicht genannt werden, sind entweder nicht als göttliche Handlungen wiederzugeben (theou erga) (380a) oder es ist zuallererst deren Logos, gleichsam ihr innerer Sinn, aufzusuchen (380a). Dieser Logos hätte die Ereignisse auf die Urbilder dessen, was gerecht (dikaia) und dessen, was gut (agathà) ist, zu beziehen; dann dürfen sie den Göttern zugewiesen werden. Dies wird am Beispiel von Bestrafungen aufgewiesen. Man müsse dem Dichter die Lizenz geben, zu sagen, dass die Strafeleidenden unselig sind und dass der Gott ihnen eine (gerechte) Strafe zufügte (380b). Doch ist auszuschließen, dass der Gott straft, um daraus selbst einen Nutzen zu ziehen, und dass seine Strafe ungerecht gewesen sei. Die Zweifel von Glaukon und Adeimantos im II. Buch der ›Politeia‹ sind damit offensichtlich wiederaufgenommen. Sie wiesen in zwei Richtungen: Einerseits könnten die Götter sich durch die Schmeicheleien ungerechter Menschen beeinflussen lassen (vgl. u. a. 366a–b), andererseits ist ihr Beschluss unwägbar – und trifft in gleicher Weise Gerechte und Ungerechte (364a). Bereits im Thrasymachos-Dialog, dem ersten Buch der ›Politeia‹ (352a), hatte Sokrates gegenüber dieser anscheinend naheliegenden Abtrennung zwischen Gott und Gerechtigkeit festgehalten, dass der Ungerechte den Göttern immer feind, der Gerechte aber mit ihnen befreundet ist. Dabei kann nicht übersehen werden, dass Platon der dichterischen Rede von den Göttern weiterhin manche Freiheiten einräumt. Im Hinblick auf die Strafgerechtigkeit wird dies beispielshaft am Umgang mit dem Mythos von Niobe (vgl. 380b) gezeigt. 43 Im strengen Sinn ausgeschlossen werden nur Reden, denen zufolge der Gott als Urheber eines Unheils (kakía) vorgestellt wird. Wenn auf dem Boden der Polis solche Aussagen kategorisch ausgeschlossen werden, so wird M. M. Mackenzie, Plato on Punishment. Berkeley 1981. Vgl. auch J. Roberts, Plato on the Causes of Wrongdoing in the Laws, in: Ancient Philosophy 7 (1987), S. 23 ff.

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dabei zwischen den großen und kleinen Mythen, also den ersten Göttererzählungen, die die Kinder hören (377d), nicht grundsätzlich unterschieden. Wie sich zeigte, geben allerdings die großen Mythen den Maßstab ab, um die kleinen zu beurteilen (377c). Im Zuge der Reinigung und kritischen Betrachtung der Mythen nach der Maßgabe ihres Logos bleiben genügend Möglichkeiten, das Unwägbare andeutend auszusagen. Ein nicht einsichtig zu machendes Unglück kann so dargestellt werden, dass es nicht Handlung des Gottes ist und doch bejammert werden kann. Man kann es sogar als göttlich begreifen, wenn zugleich darauf hingewiesen wird, dass die Strafe im Letzten einen Gewinn für die Betroffenen bedeutet (380b). Sokrates deutet sogar an, dass dem Dichter aufgrund der beiden typoshaften entworfenen Grundgesetze erst Freiräume eröffnet werden (vgl. 379a und 380d). Die Einsicht in die wesenhafte Gutheit und Gerechtigkeit des Gottes löscht die Grunderfahrung eines tragischen Geschicks des Menschentums nicht aus. Denn wenn der Dichter das Recht haben soll, zu sagen, »dass die Strafeleidenden unselig sind, und doch der sie ihnen angetan hat Gott war« (380b), öffnet sich der Blick auf die Rätselhaftigkeit menschlichen Lebens. Wenn nur das Gute auf seinen ersten Anfang, den Gott, zurückgeführt werden kann, während vom Übel andere Ursachen aufzusuchen sind, nur nicht Gott (379c), so ist angedeutet, dass der Mensch mit der Suche nach diesen vielfachen Gründen während seines endlichen Lebens zu keinem Ende kommt; zumal zwischen dem Guten und dem Übel eine Asymmetrie bestehen bleibt: »denn es gibt weit weniger gutes als böses bei uns«. Mithin ist der Gott an der Mehrzahl und dem Übergewicht dessen, was sich ereignet, nicht beteiligt und nicht dafür haftbar zu machen. Das negierende Adjektiv ›anaitiois‹ drückt beide Aspekte aus (379b4) und wendet sich offensichtlich gegen die homerische Beschwörung der Allursächlichkeit der Götter, namentlich des Zeus (vgl. u. a. Ilias I 565 ff.; 589; II 118; V 877 ff.; VIII 10–27). 44 Das Verbot im Zusammenhang des ersten Grundsatzes besagt also nur, dass nicht behauptet werden darf, »dass Gott irgend jemande[m] Ursache des Bösen geworden ist« (380b). Es wird ausdrücklich als das Eine der Gesetze (nomon) und Vorschriften (typon) in Bezug auf die Götter bezeichnet (380c). Dazu Benardete, The Bow and the Lyre. A Platonic Reading of the Odyssee. London 1997.

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Indem festgehalten wird, dass die ungeheuren überlieferten mythischen Wahrheiten über die Götter im Zusammenhang der Polis nicht um jeden Preis verschwiegen werden sollen, 45 wird auch die Möglichkeit zugestanden, dass sie auf geheimnisvolle Weise nur den ganz Wenigen bekanntgemacht werden, allerdings nur, insofern eine Notwendigkeit (ananke) besteht (378a). Damit ist der zugelassene Kreis esoterisch auf diejenigen begrenzt, die »ein großes und unerhörtes Opfer« dargebracht haben. Sokrates’ Unterscheidung einer Geheimlehre von den Göttermythen spielt auf die Allegoresen in der HomerExegese seiner Zeit an. Deren Voraussetzung, dass hinter dem Literalsinn ein tieferer, allegorischer Sinn verborgen liegen könne, wird von Sokrates nicht im Grundsätzlichen bestritten. Zwingend erscheint ihm diese Konsequenz allerdings nicht. Der Geheimsinn müsste hinter der anthropomorphen oder täuschenden Vordergrundansicht aufgedeckt werden. Der Jüngling (neos) ist aber nicht vorbereitet, diesen Sinn zu erkennen. Sokrates erwägt gegenüber der Allegorese ausdrücklich, dass es auch Stellen im homerischen Corpus geben könne, in denen kein geheimer Sinn verborgen sei (378d). 46 Im Sinn des zweiten Grundsatzes wird festgehalten, dass die Gestalt (idea) des Gottes unwandelbar ist. Indem Gestaltänderungen und -täuschungen (ein phantazesthai) (380d) kategorisch ausgeschlossen werden, sind implizit weitere Aussagen getroffen. Eine Verwandlung, die der Gott von außen erleiden würde (durch die Zeit oder andere Bedingungen) (381a), ist nicht anzunehmen, da er in jeder Hinsicht seine Vollkommenheit in sich selbst hat (ariston echei) (381b). 47 Der Gott könnte, wenn er sich von sich her veränderte (autos auton metaballein) (382b), sich nur einer geringeren und hässlicheren Gestalt Zentral ist hier die Problematik der Unterscheidung des Eigenbezirks vom öffentlichen Bezirk. Vgl. dazu J. R. Wallach, The Platonic Political Art. A Study of Critical Reason and Democracy. Penn State University Press 2001; sowie M. Lane, Plato’s Progeny. London 2001 und D. J. O’Meara, Platonopolis. Platonic Political Philosophy in Late Antiquity. Oxford 2003. 46 Dazu H. Westermann, Die Intention des Autors und die Zwecke der Interpreten. Zu Theorie und Praxis der Dichterauslegung in den platonischen Dialogen. Berlin/ New York 2002, sowie H. Harth, Dichtung und Arete. Untersuchungen zur Bedeutung der musischen Erziehung bei Plato. Frankfurt/Main 1967. 47 Hier zeichnen sich Grundlinien des Autarkiebegriffs ab, den Aristoteles dann als intrinsische Orientierung eines guten Lebens vervollkommnen wird. Dazu G. Bien, Die Grundlegung der politischen Philosophie bei Aristoteles. Freiburg und München 1973. 45

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anverwandeln, als sie ihm eigen ist, denn vollkommener als er kann nichts sein. Wie aber könnte er dies aus Freiheit wollen? Dass er sich nicht aus Freiheit verwandelt, sondern, etwa aus Unwissenheit, sich eine ihm nicht gemäße Gestalt gibt, kann im Sinn einer Verständigung über den göttlichen Einheitssinn nicht angenommen werden (vgl. auch 381c). Die Bestimmung der Unwandelbarkeit wird ausdrücklich auch auf die in dieser Hinsicht strittigen Gottheiten Proteus und Thetis bezogen. Niemand solle sie durch die Erzählung von vermeintlichen Täuschungen und Wandlungen ihrer Gestalt (katapseudestho) verleumden (381d). Mit der Nennung dieser beiden Gottheiten ist ein Letztes auszuschließen: dass die Götter zwar ihre Gestalt bewahren, dass sie aber die Menschen glauben machen, sie zeigten sich in wechselnden Erscheinungen (382a). Dann würden sie täuschen und sich selbst als Phantasmata (Schattenbilder) auslegen (proteino). Nach der Maßgabe der Wahrheit über das Wie-Sein des Gottes (wie sie im ersten Grundsatz niedergelegt ist) ist diese Annahme zurückzuweisen, da es für vollkommene Wesen, also die Götter und die Daimonen, keine Nötigungen oder Gründe gibt, zu lügen (382e). Sie habe weder auf Feinde noch Freunde Rücksicht zu nehmen (382d); und da sie in den Grund der Dinge (arché) hineinreichen und herrschen, wissen sie auch, »wie die alten Begebenheiten [sich] in Wahrheit verhalten« (382d), von denen die Dichtungen nur in Unkenntnis und sich selbst täuschend sprechen. Die Götter neigen zu keiner Vernunftlosigkeit; deshalb ist es nicht möglich, dass sie die Unwissenheit oder den Wahnsinn der Ihren, der Gotteslieblinge, billigen oder gar als Form der Anbetung und Ehrenbezeigung annehmen würden. Wenn das Wesen der Götter nach diesen beiden Grundformen (typoi) bestimmt ist, kann ein Wahnsinniger oder Vernunftloser kein Gottesfreund sein. Am Ende des II. Buches wird die mimetische Bedeutung der Göttermythen weiter bestimmt. Dass ein Großteil der Mythen und dichterischen Gottesreden lügen, ist nicht nur daraus ersichtlich, dass die Götter abweichend von ihrer im Vorgriff zu fassenden Wesensnatur dargestellt werden (377e); die falschen Bilder verfehlen auch ihre Verähnlichungsaufgabe. Der junge Mensch, der sich nach ihnen richtet, wird sein eigenes normatives Urbild nicht erreichen. Im III. Buch wird die Analogie weiter expliziert: Die Unwandelbarkeit des Göttlichen fordert, dass die Götter nicht gezeigt werden, wie sie von Jam281 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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mer oder Gelächter überwältigt werden (387d). Dies gilt in ähnlicher Weise auch bei den Heroen, nach unterschiedlichen Vollkommenheitsgraden (388c und 387d–e). Apodiktisch gilt diese Gesetzesanwendung für Zeus, den Götterkönig; 48 im Fall der anderen Götter werden Ausnahmen zugestanden: »Und wenn auch Götter, so mögen sie doch wenigstens nicht wagen, den größten der Götter so unähnlich sich selbst (houtos anhomoíos) darzustellen« (388c). Die Ähnlichkeit mit dem Wesen der Götter wird im III. Buch im Sinne einer normativen Vorzeichnung für die größtmögliche Anähnlichung der menschlichen Seelen an das Gott-gemäße weiter verfolgt. Deshalb verhandelt Sokrates drei Problemkreise: das Verdikt, Tod und Unterwelt schrecklich erscheinen zu lassen (386a–387c), die benannte Warnung, Götter und Heroen vom Gelächter überwältigt zu zeigen (387d–389b), und schließlich das Verbot, Götter und Heroen im Widerstreit zur menschlichen Bestheit zu beschreiben (389b– 392a). Erst an dieser Stelle wird deutlich, dass nicht jede anthropomorphe Darstellung untersagt ist, dass die Götter aber nur im Sinn menschlicher Bestheit dem Menschen anzuähnlichen sind. Damit verbindet sich die Forderung nach sprachlicher Reinigung des Mythos, wenn Sokrates sogar die Durchstreichung der Namen empfiehlt, die wie Tartaros, Kokytos und Styx Tod und Unterwelt als schrecklich erscheinen lassen. 49 Von den beiden die theologische Typenlehre ergänzenden zusätzlichen Gesetzesbestimmungen ist an dieser Stelle nicht die Rede. Dass Tod und Unterwelt nicht als schrecklich ausgemalt werden dürfen, wird als Aufsicht (epistatein) über die Rhapsoden, die die alten Mythen vortragen (386b), aufgewiesen. Es ist nicht so, als wären die Beschwörungen einer schrecklichen Unterwelt nicht angenehm zu hören – die Diagraphé hat ihre Notwendigkeit darin, dass die Seelen der Wächter frei werden »und die Knechtschaft mehr scheuen [sollen] als den Tod« (387b), weshalb sie die mythischen Logoi umso weniger anhören dürfen, je dichterischer, also bezwingender diese reden. Dass auch der Schauder einen Geheimsinn hat, kann (ebenso wie im Blick auf die Homer-Allegorese) nicht ausgeschlossen werden (387c); diese Erwägung ist aber nicht hinreichend für die Rechtfertigung der Elementaraffekte. Das Verdikt Siehe dazu den Aufsatz von Enders, Platons ›Theologie‹ : Der Gott, die Götter und das Gute, a. a. O. 49 Zum mythologischen Zusammenhang vgl. J. Bollack, La Grèce de Personne. Les mots sous le mythe. Paris 1998 und W. Burkert, Weisheit und Wissenschaft, a. a. O. 48

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ist zumindest einem Gesetz ähnlich. Denn die Tilgung der anstößigen Todesbeschwörungen wird wie ein Gesetz mit einem Prooimion ›bevorwortet‹, »uns nicht zu zürnen, wenn wir es ausstreichen« (387b). Damit ist in einer vernunftförmigen Mythos-Auslegung und -kritik gezeigt, wie sich die göttliche Gestalt nicht zu erkennen gibt. Wie die Dichtung von ihr sprechen soll, kann im Zusammenhang einer philosophischen Gesetzgebung über die Leitgestalt einer der (vorgrifflichen) Wahrheit gemäßen Dichtung nicht entfaltet werden. Deshalb weist Sokrates die Bitte seines Gesprächspartners Adeimantos, die neuen, logos-gemäßen Mythen über die Götter im Grundriss zu entwickeln, von Anfang an zurück (vgl. 379a). Die Antwort wird zunächst nur indirekt, in der philosophischen Gesetzgebung als eidetische Annäherung an das göttliche Urbild, umrissen. Dies ändert sich erst mit dem philosophischen Mythos von Er am Ende der ›Politeia‹. Er bekundet, ähnlich wie andere platonische Mythen, den Leitfaden, den der philosophisch Einsichtsvolle braucht, wenn er seinem typoshaften Wissen von den Göttern Gestalt geben will. Insofern wird man ihn als Beispielsstück der ›gereinigten‹ Dichtung begreifen können. Die eschatologische Rede von den Göttern ist jedenfalls nicht ganz frei von Bildern zu halten; gibt sie doch Anhaltspunkte für den einsichtsvollen, aber sterblichen Menschen, der in einer nicht-erschütterlichen Gottesfurcht und -frömmigkeit befestigt werden muss (vgl. Nomoi 967d). 50 Dass sich Sokrates am einschlägigen Ort einer dichterischen Ausgestaltung entzieht, hat aber in der philosophischen Verpflichtung zur Bildlosigkeit nur eine Ursache. Die zweite liegt im wesentlich kritischen – und kathartischen – Unternehmen der philosophischen Gesetzgebung. Sie ›erfindet‹ nicht neu, sondern schreibt die vorfindlichen Mythen um bzw. unterzieht sie dem Verfahren der ›diagraphé‹. In diesen Zusammenhang verweist die monotheistische Problematik: die Frage nach dem Zusammenhang zwischen der Vielheit einzelner Götter und dem einen Göttlichen. Die in den beiden typenhaften Grundlinien der Gesetzgebung formulierten grundlegenden Eigenschaften werden von den Göttern und von dem (einen) Gott ausgesagt: die Seinsvollkommenheit, die Unwandelbarkeit, die von dem Wesen des Gottes untrennbare Vernunftgemäßheit. Vgl. M. Bordt, Platons Theologie. Freiburg, München 2006 und S. Menn, Plato on God as Nous. Carbondale 1995; vgl. auch P. Steiner, Platon Nomoi X. Berlin 1992.

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Das singularische ›theos‹ verweist nicht auf einen spezifischen Gott, zumal ›theos‹ nach einer auf Wilamowitz zurückgehenden und seither philologisch plausibel gemachten These im Griechischen in erster Linie prädikativ aufzufassen ist. 51 Die häufigen Singularformen (ho theos) oder auch das Neutrum ›to theion‹ deuten in jedem Fall an, dass der Sokrates der ›Politeia‹, durchaus in der Folge der Sicht der Götterwelt in der ›Apologie‹, den Blick darauf richtet, dass die täuschende, vielstimmige mythische Überlieferung über den Einheitsgrund der Gottheit nichts auszusagen weiß. Allerdings birgt die alte Überlieferung die Einheit des Gottes in vielfacher Gestalt und Verkleidung. Im Zuge einer Reinigung der Götterlehre wird dieses Eidos erst rein zutage treten. Die Dichtung ist jedoch nur das Zeugnis von nicht oder scheinbar Wissenden, während die Götter selbst die Wahrheit der alten Begebenheiten (ton palaion) kennen (vgl. 382d). Eine ›neue Mythologie‹, die sich von Homer und Hesiod zu trennen versucht, bleibt im Zusammenhang der philosophischen Gesetzgebung versagt, da der Mythos ebenso wie die Erziehung an der Überlieferung haftet. Das bei Homer und den Tragikern überlieferte Antlitz der vielen Gottheiten muss also erinnert und bewahrt werden, um allererst gereinigt werden zu können. Dass sich Adeimantos die neue Götterlehre aneignet (synchoro) und als Gesetz (hos nomois an chrómen) gebrauchen möchte (383c3 ff.), schließt Götterlehre und Gesetzesform am ausdrücklichsten – und wie in einer Besiegelung der vorausgehenden Expositionen – zusammen. Diese Verbindung ist nicht zufällig. Sie ist aus der Bindung des Philosophen an die Götter und die Gesetze in der ›Apologie‹ und im ›Kriton‹ bekannt und wird in den ›Nomoi‹ Buch X wiederaufgenommen werden, wenn der eine Nomos am Leitfaden der Etymologie als das Gesetz ausgedeutet wird, das durch den Nous (noos), das heißt: durch die dem Gott eigentümliche Bewegung, vorgezeichnet wird. 52 Indem das Gesetz so verstanden wird, kann der philosophische Erörterungsgang auf dieses verpflichtet werden. In diesem Sinn kann man konstatieren, dass die Anähnlichung an das wahre Wesen des Gottes in der ›Politeia‹ den Blickpunkt freigibt, von dem aus mensch-

Dazu Enders, Platons ›Theologie‹, a. a. O., S. 132; siehe auch J. Van Camp und P. Canart, Le sens du mot theios chez Platon. Louvain 1956, ferner L. P. Gerson, God and Greek Philosophy. Studies in the Early History of Natural Theology. London, New York 1990. 52 Dazu Peter M. Steiner, Platon Nomoi X, a. a. O. 51

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liches Leben und politische Welt, die große und die kleine Schrift, entschlüsselt werden können und denselben Sinn ergeben. 53 In den ›Nomoi‹ ist dann in der Anrede an die Siedler der kretischen Kolonie, dem ›Prooimion‹ zum gesamten Gesetzeswerk, der Zusammenhang von Gott, Gesetz und Recht festgeschrieben: »Männer, wollen wir also zu ihnen sagen, der Gott, welcher, wie auch ein alter Spruch besagt, Anfang, Mitte und Ende aller Dinge umfasst, geht immer den geraden Weg, weil er stets der Natur gemäß unwandelbar seine ewige Bahn verfolgt, und ihn geleitet stets die Gerechtigkeit [dike], welche Alle bestraft die das göttliche Gesetz überschreiten. An sie schließt sich an, wer glückselig werden will und folgt ihr in Demut und Sittsamkeit« (Nomoi 716a).

Damit ist nicht nur ein Stadt- und Bürgergesetz festgeschrieben, sondern auch die Grundlinie für die Lebensordnung des Einzelnen. Wenn sich ein Mensch über das göttliche Gesetz erheben will und vorgibt, selbst keiner Leitung zu bedürfen, aber andere leiten zu können, »so wird er von Gott sich allein überlassen; und so führt er denn von ihm geschieden und mit anderen seinesgleichen, die er an sich gezogen, vereint ein zügelloses Leben und richtet alle möglichen Verwirrungen an« (716b). Er wird irgendwann der Strafe (timoria) ausgeliefert, die ihm, nach dem Maß der Gerechtigkeit (dike), zukommt und richtet sein Haus und die Polis, in der er lebt, zugrunde. Diese Sätze berufen sich auf ein altes Zeugnis der Überlieferung (palaios logos) (715e): ein Orphiker-Fragment, das besagt, dass Zeus der Erste und Letzte ist, das Haupt und die Mitte. 54 Die überlieferte ›gnomé‹ wird bei Platon umgedeutet; aus der Aitiologie auf Zeus ist eine Bestimmung des Göttlichen unter dem leitenden Gesichtspunkt des Rechts geworden. Die Gesetzgebung über die musische Götterrede in der ›Politeia‹ schließt im II. Buch mit der Maßgabe, dass die Wächter so gottesfürchtig (theosebeis) und gottähnlich (theioi hoson) sein sollten, wie dies irgend menschenmöglich ist (vgl. Politeia 383c). Eben diesen Faden nimmt die Rede an die Koloniegründer im IV. Buch der ›Nomoi‹ wieder auf. In ihrem Fortgang bestimmt sie den Gott als Maß des Vgl. zur Analogie der beiden Schriften Seubert, Polis und Nomos, a. a. O., S. 313 ff. Erst aus dieser Analogie kann bekanntlich das Verständnis von Gerechtigkeit als ›innerer Handlung‹ (entos praxis) gewonnen werden. 54 Vgl. Picht, Platons Dialoge, a. a. O., S. 313 ff., siehe auch Orphicorum Fragmenta, hg von O. Kern. Berlin 21963. 53

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Seienden (716c). Kennzeichen des Besonnenen (sophron) ist es, dem Gott immer befreundet zu sein. Er verhält sich zu ihm als ein Ähnlicher (vgl. 716d). Das Ähnlichkeitsverhältnis, das in der Götterlehre der ›Politeia‹ erstmals angedeutet ist, wird in der Bestimmung weiter ausgedeutet, dass er sich im selben Maß wie der Gott hält (716c). Ähnlichkeit und Verwandtschaft im Sinne der Freundschaft (philia), die für den Zusammenhalt der Bürger untereinander und für den Zusammenhalt der je eigenen Seele von entscheidender Bedeutung sind, gründen sich auf das Verhältnis zwischen Menschen und Göttern. Zum Widerstreit gegen die Götter kommt es, wenn ihr gemeinsames Maß verloren ist; dann ist auch die Besonnenheit unmöglich gemacht. Der nomothetische, die Gesetzgebung erst begründende Zusammenhang der ›Nomoi‹-Stelle zeigt, dass diese Maßlosigkeit auch alle Freundschaft des Menschen mit sich selbst oder mit anderen Sterblichen, die der Gesetzgebung paradigmatisch zugrundeliegt, unterbinden muss. Diese Erwägungen nehmen einen Vorgriff auf die Idee des Guten. Der Zusammenhang von Einheit und Vielheit hinsichtlich des Göttlichen legt den Verweis auf das Verhältnis zwischen den Ideen und der sie ›wunderlich übertreffenden‹ Idee des Guten nahe. Diese Ähnlichkeitsvermutung ließe sich weitergehend begründen, da an einer Kernstelle des ›Sophistes‹ (248e) von den Ideen als dem ›vollkommenen Seienden‹ (pantelos on) die Rede ist, dem ›intelligible Bewegung‹, Seele, Denken und Vernunft zukommen. Die Ideen erkennen sich selbst, sie sind ›Reflexionen‹ ihrer selbst, was nahelegt, von ihnen sinnbildlich als von Göttern zu sprechen. Und es sind eidetische Eigenschaften oder Tugenden, die im Sinn der prädikativen Verwendungsweise von ›theos‹ das Göttliche näher charakterisieren: »Das Göttliche aber ist schön, weise, gut und alles Derartige« (Phaidros 246d). Im Zusammenhang der auf die Fluchtlinie des Göttlichen transparenten Exposition der Musenkunst wird lange vor deren ausdrücklicher Bestimmung im vierten Buch eine Vorgestalt der späteren Definition von Gerechtigkeit als ›innerer Handlung der Seele‹ angedeutet (vgl. 443d). Dies ist dadurch vorgezeichnet, dass, wie wir sehen konnten, eine deren Wesen gemäße Darstellung der Götter danach zu bemessen ist, welche Gestalt sie der Seele gibt. Nachdem die Erwägung längst auf die Lehre von den zulässigen und unzulässigen Grundformen der Musenkunst übergeleitet worden ist, wird auf der Suche 286 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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nach der statthaften Tonart (harmonía) allein eine Harmonie nahegelegt, die den ungemischten Charakter der Tugend nachahmen könne (mimetèn akraton) (397d). In den ›Nomoi‹ ist eine verdeutlichende Parallelstelle zu finden: »Alle Körperbewegungen und Töne ohne Ausnahme, welche mit einer Tugend der Seele oder mit irgendeinem körperlichen Vorzuge sei es im wirklichen Leben oder in der künstlerischen Nachbildung verbunden sind, setzen wir als schön« (655b). Nach ihrer sinnlichen Erscheinungsweise können Körperbewegungen oder Töne aber nicht beurteilt werden. Das Augenmerk ist auf deren bleibende innere Gestalt (eidos) zu richten, die für Sokrates in der ›Politeia‹ oder für den Athener in den ›Nomoi‹ zugleich auf einen Zusammenhang mit der Tugend verweist. Jenes Eidos ist aus der sinnfälligen Erscheinung herauszusehen; es begegnet aber nicht unabhängig von ihr. 55 Nur der gute Rhythmus, der der Seelentugend entspricht, ist zugleich schön, nicht aber jeder schön erscheinende Rhythmus ist auch gut. Um unterscheiden zu können, ist die Paideia, als eingeprägte Treffsicherheit, zu befragen (675c). Damit wird der Zusammenhang von Musenkunst und Götterwelt unter den Vorzeichen einer wahrheitsgemäßen gesetzlichen Bestimmung noch einmal vor einem veränderten Horizont umrissen. In den ›Nomoi‹ wird die Gesetzlichkeit der Musik von den Götterfesten her entfaltet und dabei werden die Götter als »Geber des Sinns für Rhythmus und Harmonie« begriffen (654a). Dies ändert nichts am Aufweis des Scheincharakters der Musik; nur als Schein führt sie zum gerechten Leben. Die Dichter deuten das vollkommen gerechte Leben als glückliches Leben (661e), 56 auch wenn Glaukon, um einen anscheinlosen Begriff vom Wesen der Gerechtigkeit zu gewinnen, die Gleichsetzung von Gerechtigkeit und Glückseligkeit zurückweist. Wenn die Dichter das Zusammenspiel von Lust und Gerechtigkeit besingen, dann überreden und zwingen sie (peisete kai anankasete) (661c). Die Dichtung wendet sich also nicht, wie die philosophische Gesetzgebung, ausschließlich an Freie. Gerade darin befestigt sie mit ihren Mitteln die Fundamente der Polis. In ihrer doppelgesichtigen Ausrichtung zeigt sie, »dass die sogenannten Übel für die Ungerechten Güter und nur für die Gerechten Übel und ebenso die Güter nur Hier ist insbesondere auf den inneren Zusammenhang von Einheit und Vielheit in den Spätdialogen, auch im ›Philebos‹, zu achten. Im Blick auf die ›Nomoi‹ siehe F. Lisi, Einheit und Vielheit des platonischen Nomosbegriffs. Königstein/Taunus 1985. 56 Dazu Benardete, The Bow and the Lyre, a. a. O. 55

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für die Guten dies wirklich sind« (661d). Aufgrund ihrer Tendenz zum Schein, dem zwingenden und blendenden Zusammenspiel von Mythos, Logos und Rhythmus, verdeutlicht die Dichtung dies auch Menschen gegenüber, die selbst nicht gut sind. Dass sich für die in der Meinung Befangenen nur im Schein der Dichtung, bei allen Gefährdungen der mimetischen Bilderzeugung, Gerechtigkeit zeigen kann, führt auf das nicht spannungslose Verhältnis zwischen ›wahrheitsgemäßer Dichtung‹ und Polis-Gesetzgebung zurück. Der Athener bemerkt in den ›Nomoi‹, dass man den Tragödienschauspielern, die in einer Stadt gastieren wollen, mitteilen solle, die nach dem Urbild des gerechten Gesetzes verfasste Polis sei »Nachahmung des schönsten und besten Lebens« (mimesis tou kallístou kaì arístou bíou). Sie sei also im vollkommensten Sinn ein schönes Drama (kallístou dramatos’) (Nomoi 817b). Der Wahrheit ähnliche Dramen müssten der Leitgestalt der wahren Gesetzgebung folgen, die selbst nicht veranschaulicht. Sie braucht aber, um sich einzuprägen, jene Verbildlichungen, die aus der Kunst kommen. Es ist bemerkt worden, dass im Zusammenhang der Musenkunst nicht von Spiel die Rede ist. Wie Hermann Gundert erwogen hat, könnte der Grund darin zu sehen sein, dass das Spiel innerhalb der sophistischen Spiegelfechtereien »seine Unschuld verloren hatte und sich keine andere Rettung vor dem Verfall zeigte« 57 als eine auf die Vernunftordnung begründete Gesetzgebung. Die Grundlinien einer Gesetzgebung über Erziehung und Musenkunst werden ausgehend von einer kulturellen Spätform entwickelt. Dies bedeutet aber nicht, dass der Grund der musischen Paideia verlassen würde. In der Folge von Xenophanes (21 B 10), Heraklit (22 B 57) und Herodot (2, 53) sieht auch der Sokrates der ›Politeia‹ in der Dichtung die Grundmacht von Erziehung und Bildung. Es ist Homer, der zusammen mit den anderen Dichtern Hellas erzogen hat (Politeia X, 606e). Das V. Buch der ›Politeia‹ hat eine Sonderposition inne. Sokrates scheut sich bekanntlich zunächst, Einzelbestimmungen über das Leben der Menschen zu treffen. Ihm kommt dies wie ein ›Wogenschwall‹ vor. Doch die Gesprächspartner entlassen ihn nicht aus der Verantwortung. 58 H. Gundert, Der Platonische Dialog. Heidelberg 1968, S. 59 ff. Insofern bildet das V. Buch m. E. sogar eine zweite Gesetzgebungsschrift. Dazu Seubert, Polis und Nomos, a. a. O., S. 326 ff. Zur Struktur im gesamten Dialog: Szlezák, Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie, a. a. O., S. 290 ff.

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Die Brechung dieser Aussagen sollte notwendigerweise mit reflektiert werden, wenn gerade in diesen Passagen der ›Politeia‹ eine totalitäre oder zumindest totale Tendenz konstatiert wird, wie dies besonders wirkmächtig Karl Popper unternahm. 59 Im Zentrum steht die dreifache Paradoxie, gegen die Meinung und die gängige Praxis gerichtet: das Paradoxon des gemeinschaftlichen Besitzes, das auch als platonischer Kommunismus thematisiert wurde; 60 das zweite, über die gängige Polispraxis weit hinausgehende Paradoxon der gleichgewichtigen Partizipation der Frau an den politischen Angelegenheiten, und schließlich das Paradoxon eines kollektiven Lebens auf allen Ebenen – vor allem aber in der Erziehung, mit dem Anspruch, dass Eltern und Kinder nicht in Familienzusammenhängen, sondern in einer vergesellschafteten, gemeinschaftlichen Zuordnung zusammenleben sollen. Alle Erwachsenen sind demnach für alle Kinder zuständig. Ob die Ideen-Polis diese Bestimmungen des V. Buches in Anspruch nehmen muss oder ob sie eher randständig sind, ist eine viel diskutierte Frage. 61 In jedem Fall hätte man es eher mit einer Idee ›in individuo‹ zu tun, die natürlich in besonderer Weise gefährdet ist, in ideologische Verhärtungen zu münden.

Fiktion und die Idee: ›Politeia X‹ Das Urbild der Lehre von der Musenkunst wird in der ›Politeia‹ als (vorgreifender) Ausblick auf die Natur der Götter exponiert. In der ersten Hälfte des X. Buches kommt Sokrates auf den Aufriss einer Gesetzgebung über die Musenkunst zurück, die dabei durch eine Sanktionierung bekräftigt wird. Ausdrücklich wird an dieser Stelle die Reinigung der Polis durch den Bannspruch über die mimetischen Künstler besiegelt. Was in den nomothetischen Grundlinien zur musischen Paideia im zweiten und dritten Buch in einem Vorgriff erörtert worden war, kann nun von einem ›festgemachten Anfang‹ her,

K. R. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Band I, a. a. O., S. 104 ff. Dazu auch Reeve, Philosopher-Kings.The Argument of Plato’s Republic. Princeton/ New Jersey 1988. 61 Vgl. dazu J. Annas, Transforming Your Life: Virtue and Happiness, in: dies., Platonic Ethics, Old and New. Ithaka, London 1999, S. 31 ff. 59 60

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nämlich aus der Bestimmung der Idee des Guten, gleichsam auf seinen Grund geführt werden. Sokrates ringt sich nicht ohne Scheu zur Wiederholung des Verbannungsurteils durch (595b5 ff.), wobei er auf seine Liebe und Hochachtung vor allem gegenüber der homerischen Dichtung verweist. Sie könnte ihn daran hindern zu reden (595b9 ff.). Aber gerade bei Homer muss die Mimesis-Kritik ansetzen. 62 Wenn Homer als ›erster Lehrer und Anführer‹ (595c) aller späteren Rhapsoden (Dichter) und Tragiker angesprochen wird, ist die Synkrisis zwischen Epos und Tragödie durch deren gemeinsamen Grund vorgebildet. Die an Homer aufgewiesenen Züge bleiben offensichtlich über die Differenzen zwischen Musik und Wortkunst hinaus in Geltung; denn auch der bildnerischen und der dichterischen Mimesis ist, obgleich der Phänomenunterschied der Abbildung von Seiendem im Raum und Handlungen in der Zeit offenkundig ist, 63 zumindest ihr abbildhafter Charakter gemeinsam. Die Mimesis-Kritik von Politeia X beschreibt, am Leitfaden der drei Arten eines Bettes, eine dreifach aufgefächerte Entfernung von dem wahrheitsgemäßen Urbild. An erster Stelle steht die Idee eines Seienden selbst. An der Idee weisen sich die vielfachen phänomenalen Ausprägungen dieses Seienden (also z. B. die Betten, die nach dem Ideenentwurf des Bettes angefertigt sind) als ihre Abbilder aus. Das Eidos ist also die eigentliche, wahre Natur des Seienden; und seine einzelnen Erscheinungen sind in der Eidos-Natur (en te physei) grundgelegt. Sie sind, was sie sind, weil sie an ihr Anteil haben. In einer fast mythischen Sprechweise wird angedeutet, dass das Eidos auf ein göttliches Schaffen zurückzuführen ist. Dieser Zusammenhang wird begrifflich transparent gemacht, indem den menschlichen Demiurgen ein Wesensbildner (der Phyturg) vorangestellt wird (vgl. 597d). Wie am Bettbeispiel gezeigt wird, ist jeder Herstellungsakt Nachahmung des eidetischen Entwurfs, des der Natur Gemäßen. 64 Zur Nachbildung der Idee im Phänomen sind, wie das Beispiel des Tischlers als einer Art des Demiurgen neben anderen zeigt, spezifische Fertigkeiten erforderlich (technai). Der Demiurg muss sich auf sein Handwerk verstehen, wobei alle Tausendkünstlerei für unDazu wieder Benardete, The Bow and the Lyre, a. a. O. S. 230 ff. Zu der Formation des akroamatischen Kunstwerks: H. Schmid, Kunst des Hörens. Orte und Grenzen philosophischer Spracherfahrung. Köln, Weimar, Wien 1999. 64 Vergleiche Politeia X, zu der Erzeugung des Kosmos im ›Timaios‹ vgl. vorliegende Monographie Siebtes Kapitel, I. Siehe auch G. Reydams-Schils (Hg.), Plato’s Timaeus as Cultural Icon. Notre Dame 2003. 62 63

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möglich befunden wird. Ein Mensch kann sich im Sinn des Sokrates offensichtlich nur auf eine Fertigkeit wirklich verstehen. Und der Grundsatz, dass jeder das Seine tun solle (ta heautou prattein), wird noch einmal im ›techné‹-Wissen verankert. Gegen diesen Grundsatz verstoßen die mimetischen Künste. Im Sinn der Explikationen von Politeia III über die Formverhältnisse der Dichtung wäre dieser Vorwurf der Darstellung (lexis) nicht zu machen, die lediglich verweist, aber Abstand zu ihrem Urbild hält. Mimetische Künste dagegen bilden allerlei nach, Dinge und Handlungen im Bereich der Menschenwelt, aber auch übergreifende kosmische Zusammenhänge. Freilich erzeugen sie in alledem immer nur Schein. »Am schnellsten wirst du wohl, wenn du nur einen Spiegel nehmen und den überall umhertragen willst, bald die Sonne machen und was am Himmel ist, bald die Erde, bald auch dich selbst und die übrigen lebendigen Wesen, Geräte und Gewächse« (596d–e). Da sie nur Schein über das, was sie aufweisen wollen, erzeugen, es aber nicht, wie es (als einzelnes Seiendes genommen) wirklich ist, zeigen können, bezeichnet Sokrates die mimetischen Künste auch als Sophisterei (596d). Sie bringen nicht ›Werke‹ (idia erga), sondern nur Schattenbilder (phantasmata bzw. eidola) des nachgeahmten Gegenstandes hervor (vgl. u. a. 599a). Die Mimesis bringt also Nachbildungen von Nachbildungen hervor, ohne sich, wie die demiurgischen Künste, an das eidetische Urbild zu halten. Sie stehen ›an dritter Stelle hinter der Wahrheit‹ und geben Nachbilder von Erscheinungen (phainomena) (598b), deren selbst nur relative Wahrheit sie mehr oder minder treffen. Deshalb spricht Sokrates von Schattenbildern (eidola) (598b), die aber eine zauberische Wirkung ausüben. In allen Kunstarten lässt sich die Mimesis auf den Auftrag von Farben zurückführen (vgl. 601a3 ff.), der nicht voraussetzt, dass der Künstler etwas von dem verstehen würde, was er zur mimentischen Darstellung bringt (601a4 ff.). Der Anschein gibt keinen Blick auf das Was-Sein (eben das Eidos) des betreffenden Seienden; es kommt nicht zu dieser Durchsicht, da sich die Mimesis auf das Erscheinende bezieht, so wie es erscheint (to phainomenon hos phaínetai) (598b). Es sind also bestimmte perspektivische Augenblickswahrnehmungen oder in der Dichtung bestimmte instantane Affekte, die in der Art des Farbauftrags belichtet werden. Deshalb fordert Sokrates seinen Mitunterredner zu dem Gedankenexperiment auf, die Werke der Dichter von den Farben, dem spezifischen Bau und Klang dichterischer Rede, abstrahiert zu betrachten (601b). Sie würden dann wie »jugendliche […], 291 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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aber nicht schöne Gesichter« aussehen, deren Blütezeit vorüber ist (601b). Das im Wechsel der Zeit beständig bleibende Eidos der Tugend kann aber nicht derart erscheinen; und, um gleichsam alle Einwände zusammenzufassen, verweist Sokrates auf die Fremdheit (allotría) der mimetischen Künste gegenüber der Tugend (604e), nach der Glaukon und Adeimantos fragten: also der Tugend ohne allen Anschein. Offensichtlich waren diese gegen die Mimesis gerichteten Bestimmungen erst in Kenntnis der Idee des Guten zu entfalten. Und es ist offensichtlich, dass Kritik und Katharsis nun radikaler ausfallen als im Zusammenhang der Erörterungen der Paideia. Dies hat auch damit zu tun, dass die nicht-mimetische Darstellung in dem veränderten Zusammenhang von ›Politeia‹ X keine Rolle mehr spielt. Daher zeigt sich, dass eine nicht auf Täuschung beruhende Dichtung auf einen anderen Grund gestellt sein wird. Die Diagraphé betrifft also nicht nur einzelne Elemente der Überlieferung. Allerdings wird in dem hier erörterten Zusammenhang nicht auf die Idee des Guten verwiesen; sie ist nur als innere Handlung der Seele, die das Wesen eines Seienden trifft, vergegenwärtigt. Umgekehrt sind Umschreibungen einer verfehlten inneren Handlung Fixpunkte in der sokratischen Mimesis-Kritik. Von entscheidender Bedeutung ist der Hinweis, dass derjenige, der sich auf beides verstünde – auf die Nachbildung des Prototypons, der Idee, und auf die Nachbildung der Nachbildung – doch wohl das Erstere wählen würde. Denn niemand wählt wissentlich Schlechtes. 65 Sogar der Erlernung einer schlichten ›techné‹ müsste Vorrang eingeräumt werden. Der Mimet ist unkundig, was die Handlungen seiner Seele angeht; deshalb ist er es auch hinsichtlich einzelner Fertigkeiten und Tugenden. Im Blick auf den Ursprung der Scheinkunst und den tiefsten Gegner des philosophischen Logos, Homer, wird dies im Einzelnen aufgehellt. Sokrates vermerkt deshalb, dass Homer keine Kenntnis von der Tapferkeit habe (559c), ebenso wenig sei er ein Erzieher der Seelen. Die Paideia der Seele kann er allenfalls nachbilden (vgl. 600c), er kann sie aber nicht verbessern. Wäre es anders, so wüsste man von ihm als einem Heerführer (600a) oder als von einem Psychagogen. Doch gibt es zwar eine pythagoreische Lebensform, aber keine homerische (600b). Dass die mimetischen Sprachkünstler, dass Homer und Hesiod eine ortlose Wanderexistenz führen und von den Menschen nicht um Rat gefragt 65

Vgl. auch T. H. Irwin, Plato’s Ethics, a. a. O., S. 54 ff.

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Gerechtigkeit ohne allen Anschein. Der Ankerpunkt der ›Politeia‹

werden, eben darin zeigt sich, dass sie nur Wortfechter sind (601a) – und dass von ihrer Dichtung, wenn man von der bezaubernden, verfärbenden Wortmusik absieht, nichts bleibt. Damit kommt die zweite leitende Unterscheidung ins Spiel; sie verläuft zwischen gebrauchenden, verfertigenden und nachbildenden Künsten. Und sie überführt das Verhältnis von Urbild und Abbild auf das Problem des Gebrauchs und damit der Tauglichkeit einer Kunst. Der Umgang (chresis) mit einem Gegenstand, zum Beispiel mit einer Waffe oder einem Musikinstrument, ist als die höchste Form jener Kenntnisse ausgewiesen (601d). Er ist zwar als Erfahrung (empeiria), zugleich aber, in verdeutlichender Abgrenzung gegenüber dem Schein-Künstler, als Wissen (episteme) (602a) aufgewiesen. Im sachgemäßen Umgang wird das betreffende Ding auf seine Tauglichkeit (areté) geprüft; damit dürfte zugleich angedeutet sein, dass ein richtiger Gebrauch zeigt, inwieweit es seinem Eidos und seiner Natur entspricht. Der Gebrauchskünstler hat deshalb »dem Verfertiger Bericht [zu] erstatten, wie sich das was er gebraucht gut oder schlecht zeigt im Gebrauch« (601d). Der Technit wird seine Erfahrungen also nach der Maßgabe des Urteils des Gebrauchenden erweitern 66 und der Gebrauch wird im Sinn einer Güte-Prüfung auf das Gut- oder Schlechtsein, also den Zusammenhang mit der jeweiligen Bestheit, bezogen. Entscheidend ist nun, dass der nachahmende Künstler keinerlei Kenntnis von der Gebrauchsdimension der Dinge hat (602a); und damit kann er auch nicht um die Tauglichkeit des jeweiligen Dings und der dazugehörigen Herstellungsform wissen. Die Unterscheidung zwischen gebrauchender, verfertigender und nachahmender Kunst hat allerdings ihrerseits ihren Ort in einer Unterscheidung, die die Seele treffen muss. Erst in der Blickwendung in das Seeleninnere wird deutlich, dass die Mimesis die Wahrheit gar nicht berührt (vgl. 602e). Es ist das in der Denkkraft (dem logistikon) wohnende Maß, das den Schein vom einzelnen seienden Ding und dieses wiederum von seinem Gebrauch zu unterscheiden lehrt. Dieses Maß, als inneres Messen, Zählen und Wägen verstanden (602d), ist das Urteilsvermögen. 67 Daraus wird deutlich, dass die Darstellungen der mimetischen Künstler ein gemäß der Vernunft (logistikon) (604c, 605b), dem GeWieland, Platon und die Formen des Wissens, a. a. O., S. 252 ff., die Unterscheidung zwischen technischem und praktischem Wissen. 67 Vlastos, Socrates. Ironist and Moral Philosopher, a. a. O., S. 55 ff. 66

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setz (604b) und der wahren Natur der Dinge nicht statthaftes Verhalten nahelegen: eine ungebärdige und nicht in sich ruhende Seelenhaltung, eine Begierde, »die uns durch alle Verhältnisse begleite [t]« (606d4) – und sich nach Lust und Unlust richtet. Mit dem Vorwurf, dass diese affektive Orientierung auf Lust und Unlust durch dichterische Nachbildung genährt werde, obwohl sie ausgetrocknet werden sollte, wird die Vermutung verknüpft, dass selbst eine zur Seelen-Tugend geführte gute Natur durch die mimetischen Künste nach und nach verdorben und zu einem disproportionierten Verhältnis von Lust und Unlust getrieben würde (605d). Es beginnt damit, dass die Seele Empfindungen und Erfahrungen, die sie sich im Leben versagen würde, genießt, wenn diese nur über die Kunst mitgeteilt werden: zum Beispiel den extensiven Schmerz (606a). Ihre Grundhaltung – die aristotelische Ethik wird von der Hexis sprechen – droht auf diese Weise bei allen künftigen Gefährdungen leichter erschüttert zu werden. Die dichterische Mimesis wirkt im Sinn Platons also nicht nur der Tugend, sondern bereits der Erziehung entgegen. In den ›Nomoi‹ wird dieser Grundzug der Mimesis wiederholt und bestätigt. Im Exkurs über den Rausch des I. und II. Buches, der auf die Explikation der Musenkunst überleitet, wird der Rausch als Gegenprobe auf die Seelentugend verstanden. Deshalb widersprechen sich die Bemerkungen in ›Politeia‹ X und der Versuch, in den ›Nomoi‹ die Musenkunst in die nomothetische Grundlegung der Paideia einzubeziehen, nicht. Sie verhalten sich eher wie einander ergänzende Gegenstimmen. Jede von ihnen hat deshalb auch am Gegenakzent Anteil. So sind in den ›Nomoi‹ die Gefahren angedeutet, die bei einer bedenkenlosen Handhabung von der Musenkunst ausgehen können. Der dichtungskritische Passus im X. Buch der ›Politeia‹ schließt mit dem Hinweis, dass sich auch die Besten dem Zauber der mimetischen Künste, zumal dem homerischen Zauber, nicht entziehen könnten (607b2 ff.). Damit schließt sich der Kreis zum Beginn des X. Buches, der Beschwörung von Sokrates’ lebenslanger Vertrautheit mit der homerischen Dichtung und der Liebe zu ihr (vgl. 595b), erst unter Einbeziehung der parallelen Erörterungen im Spätdialog. Am Ende freilich ist nicht mehr von der seit frühen Jahren bestehenden Scheu und Liebe zu Homer die Rede, der die Kritik abgerungen werden muss. Es wird vielmehr, in Abmilderung des Dictums von der Vertreibung der Tragöden aus der Polis im III. Buch und seiner bekräftigenden Wiederholung am Beginn von Buch X, angemerkt, dass sowohl die Dichtung selbst als auch die Dichterfreunde (philopoietai) 294 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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aufgefordert seien, sie zu verteidigen (607d). Sie mögen entweder selbst in dichterischer Rede, oder in Prosa, als ›Schutzleute‹ (prostátais) der Dichtung auftreten. Denn eine Dichtung, die sich verteidigen kann, wird – so muss man ergänzen – der Messkunst in der Seele nicht fremd gegenüberstehen. Nur eine Dichtung, die, wie in dem Frühdialog die Rhapsodik des ›Ion‹, zu keiner Rechenschaft über ihr eigenes Tun fähig ist oder sich ihr widersetzt, muss verbannt werden. 68 Im Zusammenhang der eidetischen Gesetzgebung über die Mimesis in Politeia X geht Sokrates weit über die Verortung der Musenkunst im Zusammenhang der Erziehung der Wächter hinaus. Die Frage der Dichtung hat ihren Ort nun endgültig in dem großen Kampf (mégas agon) um die Frage gefunden, ob jemand gut oder schlecht wird (608b).

IV. Die Struktur der Gerechtigkeit oder Große und Kleine Schrift Polis und Seele Wir kommen auf die typologische Gesetzgebung im II. und III. Buch der ›Politeia‹ zurück. Ein Defizit wird unmittelbar sichtbar: Obwohl sie Ausblicke in das Innere der Seele eröffnet, kann sich die nomologische Exposition der Musenkunst nicht selbst begründen. Wie die gewichtige Erwägung über die Mimesis des Menschen zeigt, reicht sie nur bis zu jener Gattung von Logoi, die einer Festsetzung (horizomenois), also einem festgelegten Gesetz folgen können, wie die Bestimmungen über die Darstellung der Götterwelt (392a). Für die Mimesis des Menschen muss dagegen ein offener Spielraum gelassen werden. Es ist keine feste Ordnung (taxis) vorauszusetzen und es können lediglich wenige Leitlinien einer tunlichen dichterischen Rede umrissen werden (392b). Dies geschieht, indem die Einwände von Glaukon als verbreitete Aussagen von Dichtern – und Rhetoren – zitiert werden. Es sind – wie sich zeigt – verfehlte Verflechtungen vom Anschein der Gerechtigkeit und deren Natur (»dass nämlich viele Ungerechte doch glücklich wären, und Gerechte elend, und dass Vgl. dazu Westermann, Die Intention des Autors und die Zwecke der Interpreten, a. a. O., siehe ferner zur Implementierung in den platonischen Dialogzusammenhang: N. Blößner, Dialogform und Argument, a. a. O., S. 152 ff.

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Unrechttun Vorteil bringe, wenn es verborgen bleibt, und die Gerechtigkeit hingegen fremdes Gut sei aber eigner Schade« (392b)). Die Leitlinie kann lediglich besagen, dass den Dichtern aufgetragen werden müsse, das Gegenteil davon (enantía) auszusprechen (392b). Wenn es um die Darstellung des Menschen geht, muss offensichtlich der Vorgriff eingeholt werden. Diese Struktur ist angedeutet, wenn Sokrates zu seinem Gesprächspartner von dessen Zugeständnissen (homologekénai) spricht (392b5 f). Er scheint damit auf die Schwierigkeit hinzuweisen, den Anschein vom Wesen der Gerechtigkeit so scharf zu trennen, wie es Glaukon und Adeimantos am Beginn von Politeia II gefordert hatten. Es bleibt dabei, dass die wahre – oder doch die der Wahrheit ähnliche – Dichtung das Lob des Gerechten zu singen hat. Doch wie der Dichter sprechen muss, kann erst festgesetzt werden, wenn gefunden ist, »wie es mit der Gerechtigkeit selbst beschaffen und wie wesentlich sie dem nützlich, der sie hat, mag er nun in dem Ruf stehen, ein solcher zu sein oder auch nicht« (392c). Ein vorgegebenes Gesetz, dessen Voraussetzungen nicht eingeholt werden können, ist, ganz im Unterschied zur Götterlehre, offensichtlich deshalb unstatthaft, da die Darstellung des Menschen auf dessen je eigene innere Handlung verweist, in der spezifisch die Gerechtigkeit sich zeigen muss. Die offene Frage gibt Anlass, das analogische Verhältnis zwischen der Gerechtigkeit in der Polis und der Gerechtigkeit in der Seele einen Schritt weiter zu führen. Nach der Exposition des Verhältnisses von größerer und kleinerer Schrift (368e–369a), das im II. Buch aus der Not motiviert wurde, nämlich der Unmöglichkeit, die Gerechtigkeit, wie sie ihrem Wesen nach ist, aufweisen zu können, wird das analogische Verhältnis erst im IV. Buch der ›Politeia‹ wieder aufgenommen und weiter geklärt. Dies geschieht aber im Anschluss an eine neben der Darstellung des Menschen zweite verbliebene Unsicherheit. Sie betrifft Einzelheiten des Götterkultes und zeigt, dass der Mensch dergleichen, also die Angelegenheiten der Götter, »selbst nicht versteht« (427b). Man greift daher wohl nicht zu weit, wenn man die Leerstelle hinsichtlich der Bestimmung des Menschen (392a–b) und des Götterkultes (427b–c) aufeinander bezieht. Die Aussage über das Nicht-Verstehen hinsichtlich des Götterkultes ist bemerkenswert, denn sie weist in Wiederaufnahme der im Frühdialog ›Euthyphron‹ behandelten Problematik des »Gottgefälligen« darauf hin, dass die musische Götterlehre auf einem nicht geklärten oder klärbaren Grund beruht, also nur Vorgriff und kein Wissen ist. 296 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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Da er nicht einzelne Bestimmungen geben kann, ruft Sokrates Apoll an. Er sei die attische Gottheit, der geeignete Ratgeber für die sich Unterredenden (427c). Mit dieser Zueignung dürfte allerdings, wie wir früher schon bemerkten, nicht nur der vaterländische Bezug auf Athen hervorgehoben sein, sondern auch eine Beziehung auf die in der Idee gegründete Polis. In diesem Sinn ist Apoll der Ratgeber der Menschen auf der Suche nach einer spezifisch menschlichen Gerechtigkeit. Wohl vor dem Hintergrund des Vorgriffsproblems kommt Platon wenig später (Politeia I 435a) auf die Analogie zwischen Stadtstaat und Seele zurück; und dies, nachdem die Gerechtigkeit in der Polis am Leitfaden der Paideia aufgewiesen worden ist. Es hatte sich bereits bei der Verhältnissetzung von ›großer‹ und ›kleiner‹ Schrift der Eindruck nahegelegt, dass der Blick auf die große Schrift den Rückweg erfordert: die Entzifferung der kleinen Schrift, den Ort der Gerechtigkeit im einzelnen Menschen. Sie wird immer wieder in die grundlegenden Überlegungen zur Gesetzgebung der Paideia in Anschlag gebracht. Wie wir mehrfach sahen, verlangt dies, zu prüfen, ob beide Schriftzüge tatsächlich denselben Text ergeben. Erst wenn beide übereinstimmen (homologétai), ist ihre Ähnlichkeit (homoiosis) tragfähig (434e). 69 Das Verhältnis beider Schriften ist offensichtlich nicht das von Urbild und Abbild. Vielmehr sind sie beide Paradeigmata, also im wörtlichen Sinn: nebenher gezeigte Urbilder, zwischen denen vergleichend hin- und herzugehen ist. Sie sind »gegeneinander [zu] betrachten und [zu] reiben«. Dann »werden wir doch wie aus Feuersteinen die Gerechtigkeit herausblitzen machen« (435a). Entsprechend dieser Maxime wird dann verfahren. Und es ist festzuhalten, dass beide Schriftwelten auseinanderdriften. Am Übergang von der Gerechtigkeit in der Polis zur Gerechtigkeit in der Seele zeigt sich, dass der politische Untersuchungsgang aus einer inneren Notwendigkeit von einem innerhalb der Erörterung politischer Gerechtigkeit nicht einlösbaren Vorgriff ausgeht. In der Exposition einer Entstehung der Gerechtigkeit in der Stadt muss bereits eine Gerechtigkeit angenommen werden. »Ist es nun nicht uns ganz notwendig, sprach ich, zu gestehen, dass in einem jeden von uns diese nämlichen drei Arten Vgl. Krämer, Arete, a. a. O., S. 146 ff. und S. 201 ff. Siehe ferner J. Neu, Plato’s Analogy of State and Individual: The Republic and the Organic Theory of the State, in: Philosophy 46 (1971), S. 238 ff.

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und Handlungsweisen sich finden wie auch im Staat? Denn nirgends anders her können sie ja dorthin gekommen sein« (435e). Es erfordert allerdings ein näheres Zusehen, um zu erkennen, worin sich die Polis-Gerechtigkeit von der Seelen-Gerechtigkeit unterscheidet. 70 Der Einheitssinn der vier Kardinaltugenden wird als Ziel- und Zentralpunkt der nomologischen Gründung der Polis angestrebt. Die Grundtugenden im Stadtstaat werden gesucht, wobei im Sinn der methodischen Maxime, die Sokrates zunächst vorgibt, drei herausgesehen (apidein) werden sollen. Die vierte könne dann erschlossen werden (428a). Wie sich herausstellt, ist diese vierte die Gerechtigkeit, als die die anderen erst ermöglichende und bedingende Tugend und damit als die Einheit der Tugend. Die Zetematik, der Gang des Suchens und Findens, ist eher windungsreich angelegt. Zunächst scheint sich die Annahme nahezulegen, dass mit der idealtypischen Gründung und Gesetzgebung einer idealen Polis die Grundtugenden schon gefunden seien: Offenbar (deloun) muss die Polis, wenn ihre Gesetzgebung richtig (orthos) angelegt ist, vollkommen gut sein – und offenbar werden dann auch die Grundtugenden in ihr aufgewiesen werden können. 71 Diese Vermutung scheint sich zu bestätigen, wenn sich Weisheit (sophia) und Tapferkeit (andreia) sowohl an den Regierenden als auch an den Regierten in je spezifischer Art zeigen. Weisheit konkretisiert sich auf die Wohlberatenheit (euboulia) (428b). Die Weisheit bezieht sich als Wohlberatenheit also auf das Ganze (pan) der Stadt und zieht dementsprechend die Polis in ein Gespräch mit sich selbst. Allerdings erscheint der Begriff der ›sophia‹ hier in einem eher unspezifischen Sinn. Denn gleichbedeutend mit ›sophia‹ steht ›episteme‹, sodass ›sophia‹ wohl in diesem Problemzusammenhang auch als Sachwissen zu verstehen ist. 72 Damit wird deutlich, dass ›sophia‹ und ›episteme‹ nicht einfach Fertigkeiten (technai) unter anderen sind. Deshalb fügt Sokrates den auszeichnenden Begriff des Ratschlags (bouleuma), der Wohlberatenheit, hinzu. Wohlberatenheit ist das spezifische Werk (idion ergon) (428b), das die als Kunstfertigkeit verstandene Weisheit bewirkt und das in der gesamten Stadt zur Geltung kommt. Sie ist offensichtlich Dazu auch Wieland, Platon und die Formen des Wissens, a. a. O., S. 185 ff., sowie R. Ferber, Platos Idee des Guten, a. a. O. 71 Vgl. im Blick darauf auch Platon, Politikos 305c8 ff. Siehe auch Th. Ebert, Meinung und Wissen in der Philosophie Platons, a. a. O., S. 140 ff. 72 Vgl. Wieland, Platon und die Formen des Wissens, a. a. O., S. 280 ff. und Th. Ebert, Meinung und Wissen, a. a. O., S. 117 ff. 70

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Sache der die Obhut tragenden (phylakiké), befehlenden (archousin) Erkenntnis, also jener Erkenntnis, die den Wächtern aufgetragen ist (428d). Deren Sachverstand zeigt sich als ein Wissen, das nicht nur über einzelne Polisangelegenheiten Rat gibt, so wie es auch die Techniten könnten, sondern über den angemessenen Umgang (oikistheíse) der eigenen Polis mit sich selbst und den sie umgebenden anderen Stadtstaaten (428d). Obgleich sie sich auf das Ganze der Stadt richtet und obgleich sie, wie in einer analogischen Vorwegnahme der ›inneren Handlung‹, Rat zum Umgang der Polis mit sich selbst gibt, bleibt die ›sophia‹ eine vereinzelte Tugend. Denn sie ist nur bei den vervollkommneten Wächtern anzutreffen; in Aristotelischer Begrifflichkeit wäre sie daher als kybernetisches oder ›architektonisches‹ Wissen aufzuweisen. 73 Auch die zweite Grundtugend, die Tapferkeit (andreia), ist parochial orientiert, da sie einer Gruppe von Bürgern zugeordnet ist (den Wächtern unterhalb der Stufe höchster Vollkommenheit); und auch sie bezieht sich, anders als einzelne Kunstfertigkeiten, auf das Wohl der ganzen Stadt. Sokrates deutet sie als Bewahrung (soteria) (429c) der richtigen Meinung (430b) über das Furchtbare und Schmerzliche. Die Tapferkeit ist also an eine Art von Wissen gebunden, das nicht zur propositional rechenschaftsfähigen Einsicht geworden sein muss. Es muss jedoch in die Natur der Krieger hinreichend tief eingeprägt sein (429c4 f.) und darf nicht durch Zeitumstände oder den Einfluss von Lust- und Unlustempfindungen erschüttert werden. Dies illustriert der Vergleich mit der Färbung, die sachgemäß den Stoff so durchdringen muss, dass der Farbstoff langfristig haften bleibt. Eine derart tiefe Prägung kann, wie sich zeigte, erst durch die Erziehung erworben werden. Da sie ihnen abgeht, können Sklaven oder Tiere, selbst wenn sie sich intuitiv der Tapferkeit entsprechend verhalten, nicht sinnvoll ›tapfer‹ genannt werden (430c). Sokrates’ Verständigung über die Tapferkeit bereitet Glaukon noch mehr Schwierigkeiten als jene über die Weisheit (429c). Dies hat wohl mit ihrer doppelten Referenz zu tun; denn die Tapferkeit soll auf die »von dem Gesetz durch die Erziehung eingeflößte Meinung« (429c) verweisen. Sie bezieht sich also auf die ›Natur‹ des Furchtbaren, so wie »der Gesetzgeber in der Erziehung« (429c2 ff.) sie erklärt hat. Der normative, von der Einheit der Tugend her gefasste Begriff der ›physis‹, der in AusVgl. Aristoteles, Politik Buch I. Dazu M. Riedel, Bürgerliche Gesellschaft, a. a. O., S. 54 ff.

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einandersetzung mit Thrasymachos in Politeia I entworfen worden war, steht mit im Blick, ohne dass die ›Umdeutung‹ des Naturbegriffs offengelegt würde. Es wird lediglich darauf verwiesen, wie sich diese ›Natur‹ manifestiert (nämlich durch Gesetzgebung und Erziehung). Eine Kurzdefinition kann die Grundstruktur anzeigen: Tapferkeit ist Umgang mit dem Eifer (thymoeides) – nach erlernter, richtiger Vorstellung von ihm und den aus ihm sich ergebenden möglichen schrecklichen Folgen, wie z. B. dem Krieg (429c–d). Eine nicht mehr parochiale Grundverfassung ist für die Besonnenheit (sophrosyne) kennzeichnend (430d). Sie ist im Polis-Zusammenhang als Einklang (symphonia) und Zusammenstimmung (harmonía) aufzuweisen (430e, vgl. auch 431e). Und auch die Handwerker, Bauern oder Kaufleute, die dem Begehren und dem unmittelbar naheliegenden Glück folgen, haben an der Besonnenheit ihren Anteil. »Weil nicht, wie die Tapferkeit und die Weisheit, jede nur in einem Teile einwohnend die ganze Stadt die eine weise die andere tapfer machten, ebenso auch diese die ganze Stadt besonnen macht, vielmehr ist sie ganz durch sie verbreitet« (433e–434a). Besonnenheit muss also gleichermaßen bei den Regierenden und den Regierten anzutreffen sein. Man könnte von einem gemeinsinnigen Band sprechen, durch das die Einheit, als das höchste Gut der Polis, erst gesichert wird (vgl. 461e). Es muss allerdings nur in einer einzigen, wenn auch grundlegenden Hinsicht wirksam sein: als übereinstimmende Meinung (doxa) zwischen Regierenden und Regierten darüber, wer herrschen und wer beherrscht werden soll (431d). Dieses Übereinstimmen kommt aufgrund verschiedener Voraussetzungen zustande. Während die Regierenden aus Einsicht besonnen sind, werden die Regierten durch die (unter anderem von den Schein-Künsten der Dichtung und Rhetorik) ihnen nahegelegte Meinung besonnen gestimmt, dass eine symphonische Ordnung das beste und glückseligste Leben verspricht. Besonnenheit in der Polis bedeutet daher, dass »die Begierden in den Vielen und Schlechten beherrscht [werden] von den Begierden und dem Sinn für das Tunliche [phronesis] in den Wenigeren und Edleren« (432b). Man bemerke die Voraussetzung, dass dadurch erst das ›ta heautou prattein‹, die Einlösung des Grundsatzes, jeder solle das Seine tun, möglich wird. Da eine vollständige Übereinstimmung hinsichtlich des Regierens und Regiertwerdens das Wesen der PolisBesonnenheit (sophrosyne) ausmacht, kann diese auch mit einem paradoxalen Begriff als Überlegensein der Stadt gegenüber sich selbst 300 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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gedeutet werden (430e). Indem im Sinn der unbestimmten Zweiheit von einem »Stärker-« bzw. »Überlegensein« gegenüber sich selbst die Rede ist, ist ein paradoxes Selbstverhältnis skizziert, das offensichtlich kommentarbedürftig ist. »Allein mir scheint diese Erklärung sagen zu wollen, dass es in dem Menschen selbst an der Seele irgendein besseres gibt und ein schlechteres; und wenn nun das von Natur bessere [to béltion physei] über das schlechtere Gewalt hat, dies nennt sie stärker sein als er selbst« (431a).

Und im Sinn dieser Bestimmung ist die Besonnenheit als ein inneres Gesetz zu verstehen, das nicht erst Bemühungen zur Übereinkunft untersteht, sondern sie auslöst. An dieser Stelle kann die Aufmerksamkeit auf die Art des Aufweises der Grundtugenden in der Polis zurückgelenkt werden. Sokrates hatte ja an etwas früherer Stelle in dem Argumentationsgang angemerkt, dass das, was »unter allen Erkenntnissen Weisheit genannt zu werden verdient« (429a), unvermittelt aufgefunden wurde – »ich weiß selbst nicht wie« (429a). Da die Findung selbst im Dunkeln bleibt, scheint der Begriff der Weisheit keiner Rechenschaft fähig zu sein. Er hat noch immer den Charakter einer Voraussetzung. In ganz ähnlicher Weise wird gezeigt, dass auch die Gerechtigkeit den anderen Tugenden zugrunde liegt, ohne dass eine Rechenschaft möglich wäre. Dies wird etwa im Zusammenhang der Frage nach der Tapferkeit (andreia) nahegelegt, wenn ausgeschlossen wird, dass sie isoliert für sich alleine betrachtet werden kann (vgl. 430b). Beim Übergang zur Erörterung der Besonnenheit soll allerdings die Gerechtigkeit nun geradewegs in den Blick genommen werden, um Weitläufigkeiten (episkepsometha), die die Untersuchung mit sich bringen könnte, zu vermeiden (430d4). Doch es stellt sich heraus, dass dies nicht möglich ist. Die Gerechtigkeit bleibt bis zuletzt im Vorgriff, was darauf hindeutet, dass sie den anderen Tugenden ›im Voraus‹ zugrunde liegt, sich aber erst als deren gemeinsamer Grund aufweisen lässt. Insbesondere gibt sie dem Grundcharakter der Besonnenheit, Zusammenstimmung (symphonia) zu sein, erst Grund und bedarf deshalb der Vorbereitung durch den Aufweis des Wesens-was von Besonnenheit (vgl. 432a). Die Erinnerung, dass die Gerechtigkeit nicht unmittelbar in den Blick genommen werden kann, weist zunächst in eine andere Richtung. Sokrates’ Überlegungen erwecken den Anschein, als erfordere 301 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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die Forschung nach der Gerechtigkeit einen neuen Ansatz (432b). Der vermeintliche Neueinsatz wird mit einem Gebet eingeleitet. Um den dramatischen Charakter der Suche hervorzuheben, wird die Metapher der Jagd verwendet. Sokrates und seine Gesprächspartner müssen zu Jägern werden, die das Gebüsch umstellen, sodass die Gerechtigkeit, umzingelt wie ein Wild, nicht wieder verschwinden kann. Es folgt das unvermittelte Jubelgeschrei des Jägers Sokrates, der suggeriert, sie erfasst zu haben (432d). Dies wird aber mit dem Hinweis zurückgenommen, dass die Jagd selbst lächerlich gewesen sei (432e). Denn die Gerechtigkeit, das letzte Frageziel, war zugleich das erste; sie war von Anfang an (ex arches) da. Das Jagdsinnbild ist von vorneherein gebrochen. Denn Sokrates gibt, ehe er die Jagdszenerie wachruft, eine Vorbestimmung der Gerechtigkeit, die ihren Vorgriffscharakter aufweist: »Aber die noch übrige Art [sc. der Tugend], durch welche die Stadt an der Tugend teilnehmen kann [aretes metéchoi pólis]« (432b), dies sei die Gerechtigkeit. Glaukon kann offensichtlich den Jagdjubel nicht nachvollziehen. Deshalb verweist er darauf, dass Sokrates eine zu lange Vorrede (prooimion) (433a) vorausgeschickt habe. Die Begründung dafür, dass die Gerechtigkeit von Anfang an im Blick war, wird mit einer nomothetischen Erwägung untermauert: Ohne die Gerechtigkeit hätte die Polis nicht in Gedanken errichtet und es hätte nicht bestimmt werden können, was der Einzelne und die einzelne Gruppe von Bürgern in ihr zu tun habe. Die Festsetzung von Anfang an (ex archés ethemetha), dass jeder das Seine tue (ta heautou prattein), wird ab hier präzisiert. Sie bezieht sich keineswegs nur auf die einzelnen Verrichtungen der Handwerker, sondern auf die ›praxis‹ der Lebensführung selbst. Gerechtigkeit wird gleichgesetzt mit denjenigen Handlungen, die jeder durchgängig verrichten muss (433a), in denen nämlich seine Natur am geschicktesten sei. Obwohl an dieser Stelle verbatim nicht auf den Gerechtigkeitsbegriff verwiesen wird, ist es offensichtlich, dass die Gründung der idealen Urpolis im Gesetz nicht willkürlich zuteilt, sondern das, was in der Natur liegt, aufweist und festschreibt. Sie nimmt dadurch allererst das Problem auf, das im I. Buch der ›Politeia‹ und im ›Gorgias‹ aufgebrochen war: die von den Sophisten und Rhetoren aufgewiesene Differenz zwischen dem, was von Natur aus (physei) für den Menschen gut (agathon) ist, und der gesetzlichen Ordnung (nómi), deren Maßstäbe im Athen des Thukydides, im 5. Jahrhundert, als Schein und Meinung 302 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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(dokounta) begriffen werden. 74 Wenn im ›Thrasymachos‹-Dialog Gerechtigkeit (dikaiosyne) nicht mehr als Tugend, sondern als Gutmütigkeit (euetheia) und umgekehrt Bösartigkeit für Wohlberatenheit (euboulía) erklärt wird (348c–d), zeigt sich die (von Thukydides vielfach beschriebene) Ausgangsposition einer Verkehrung der ›Namen‹ (onomata). Zudem ist aufgewiesen worden 75, dass jenes sophistische Nomos-Verständnis auf die parmenideische Abwehr der ›doxai broton‹ (B 8, 38 ff.) repliziert. Wenn Sokrates den Gerechtigkeitsbegriff an dieser Stelle mit der Gründung der idealen Polis in einem Gesetzgebungsakt verbindet, so ist ein wesentlicher Schritt zur Wiederaufdeckung des Wesens-Sinns (logos ousías) der Onomata, Gerechtigkeit und Gesetz, getan. Die Nomothetik lässt sich damit als Nomo-logie begreifen. Und erst von dieser Stelle aus ist das ›Tun des Seinen‹ methektisch mit der Gerechtigkeit als dem Einheitssinn der Tugend zu verbinden. 76 Alle sachgemäß verrichteten Handlungen haben an der Gerechtigkeit teil. Damit ist angedeutet, dass das ›Tun des Seinen‹ bislang nur unzureichend bestimmt worden war: nämlich in Orientierung an äußerlichen Handlungen und an der ständischen Polis-Ordnung. Ob innerhalb der großen Schrift der Stadt eine andere Lesart überhaupt möglich ist, wird zunächst offen gelassen. Doch wird die nun aufgewiesene, vertiefte Bedeutung des ›ta heautou prattein‹ in der folgenden, auf eine erste Gesetzgebung (nomothesis) verweisenden Erwägung begründet: Gerechtigkeit ist Einheit der Tugenden, da sie ihnen allererst »die Kraft gibt da zu sein« (433b). Sie gibt ihnen also gleichsam erst ihr Gesetz. Damit sind zwei weitergehende Implikationen verbunden: Zum ersten ist die Gerechtigkeit als richterliche und königliche Tugend diejenige Einheit der Tugend, die »vorzüglich unsere Stadt gut mache durch ihre Anwesenheit« (433c). Die Frage nach der Gerechtigkeit wird damit auf das Gutsein transparent. Und das Gute ist im Umriss als das Ermöglichende erwiesen, denn es wird in Beziehung gesetzt mit der Bestimmung, dass kraft der Gerechtigkeit erst die anderen Tugenden sein können, was sie sind. Indem die GerechVgl. dazu Maurer, Platons Staat und die Demokratie, ferner Chr. Meier, Die Entstehung des Politischen bei den Griechen. Frankfurt/Main 1983, S. 360 ff. 75 Vgl. Krämer, Arete, a. a. O., S. 220 ff. 76 Dazu auch Seubert, Polis und Nomos, a. a. O., S. 342 ff. 74

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tigkeit mit den Epitheta von Richterschaft und Königtum versehen wird, ist die philosophische Gerechtigkeitsfrage schon auf die politisch-rechtliche Durchsetzung des Rechten transparent gemacht, die in den ›Nomoi‹ entwickelt werden wird. Zum anderen geht es, wie ein Hinweis des Sokrates zeigt, nicht darum, die Gerechtigkeit bloß zu sehen, sondern sie aus dem ›ta heautou prattein‹ heraus als ihrem Urbild ähnlich zu erkennen (homologoito) (433e). Dies bedeutet, sie anzuerkennen. Auch Glaukon hat eine Ahnung davon, wenn er noch in der verwirrenden Jagdsituation davon spricht, dass Kraft erforderlich sei, um das Gezeigte, also die Gerechtigkeit, auch wahrnehmen, genauer: ›heraussehen‹, zu können (432c). Hier steht das verstärkende ›kathoran‹, während im Fall des Erblickens sinnlicher Phänomene von sehen (horan) die Rede ist. Auch das Gebet – im Zusammenhang der Jagdsinnbilder (vgl. 427b) – weist auf die Schwierigkeit des Heraussehens und wahrheitsgemäßen Erkennens der Gerechtigkeit hin. Gerechtigkeit lässt sich offensichtlich erst im Umgang erfassen. Und damit ist sie auch auf ihre Grundstrukturen hin durchsichtig gemacht. Es zeigt sich nämlich, dass sie der Gründung des bestmöglichen Staates von Anfang an in einem Vorgriff zugrunde lag; und es kann aufgewiesen werden, dass Gerechtigkeit als der Fußpunkt der ›oikeiopragía‹ (434c), als einem Handeln, das dem je Eigenen gemäß ist, begriffen werden muss. ›Geschäftstreue‹ übersetzt Schleiermacher treffend. Auch ›Sachtreue‹ wäre eine mögliche Wiedergabe. Aus der Rückschau zeigt sich, dass Sokrates eine Falle stellt, wenn er den Weg über die Besonnenheit zur Gerechtigkeit als einen Umweg ausgibt (430d). Der Exkurs ist unumgänglich, da sich aufgrund der Vorgriffsstruktur der Gerechtigkeit eine unvermittelte Annäherung verbietet. Ihren nicht-parochialen Charakter, im Unterschied zu den auf einzelne Stände beschränkten Grundtugenden, hat die Besonnenheit mit der Gerechtigkeit gemeinsam. Besonnenheit und Gerechtigkeit sind daher als Wechselbegriffe zu verstehen, denn von der Gerechtigkeit her erschließen sich auch erst Sinn und Möglichkeiten der Besonnenheit. Bei einem genaueren, von der Gerechtigkeit motivierten Zusehen wird deutlich, dass die Besonnenheit den anderen Grundtugenden ihren Ort in der Polis zuweist, der ihnen von der Gerechtigkeit ›immer schon‹ zugewiesen worden ist (vgl. 431a). Sui generis wird die Gerechtigkeit erst erfasst, wenn geklärt ist, dass sie den größeren Schriftzeichen der Polis gar nicht abgelesen werden 304 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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kann. Erst auf dem Grund der Seele kann sie ihrem Wesen nach als ›entos praxis‹ (443d) verstanden werden. Unmittelbar vor der Exposition der ›entos praxis‹ spricht Sokrates dies – mit deutlichen Überzeichnungen – aus. Er hält nämlich fest, dass bislang, also in dem gesamten auf die Polis bezogenen Erörterungsgang, nur ein Schattenbild (eidolon) der Gerechtigkeit sichtbar geworden sei. Und dabei spielt die gesetzliche Zuteilung des ›von Natur her‹ Gegebenen wiederum eine entscheidende Rolle. Die auf ihr Schattenbild reduzierte Gerechtigkeit legt nur nahe, dass derjenige, der gemäß der Natur (kata physin) zum Schuster geeignet sei, »auch Recht tue, nur Schuhe zu machen und nicht anderes zu verrichten, und der zimmermännische nur zu zimmern und die andern eben so« (443c). Ein derart auf Poietik und äußere Fertigkeiten eingegrenzter Gerechtigkeitsbegriff war im Ernst nie mit der Polis-Gerechtigkeit gleichgesetzt worden. Sokrates hatte vielmehr, gegen Ende der Bestimmung politischer Gerechtigkeit, eine strenge Unterscheidung getroffen: Aufruhr (stasis) und Umsturz (metabolé) werden nicht ausgelöst, wenn die Angehörigen eines Standes ihre Profession wechseln, sondern nur, wenn die Stände nicht mehr – in Bezug auf die Polis, auf Regieren und Regiertwerden – das ihrige tun (433b). Ein solcher Fall ist gleichbedeutend mit der Verletzung von Besonnenheit und Gerechtigkeit. Die Überzeichnung macht deutlich, dass aus der ›größeren Schrift‹, dem Blick auf den Stadtstaat, das, was die Gerechtigkeit in Wahrheit ist, nicht herausgesehen werden kann. Es ist das Grundverhältnis zwischen dem gemäß der Natur (kata physin) und dem naturwidrig (para physin) Seienden, also zwischen Gesundheit und Krankheit (444d), an dem sich erst die Kraft der ›areté‹ in ihrem vollen Sinn erschließt. Für Glaukon sind die Bestimmungen zur ›entos praxis‹ so unmittelbar einleuchtend, dass er Sokrates’ Frage, ob es zweckmäßig sei (lysitelei), sich um Rechttun zu bemühen, auch wo dies verborgen bleibe, oder ob man lieber der Ungerechtigkeit folgen solle, wenn sie nur straflos bleibe, für ›lächerlich‹ erklärt (445a5). Bei einem vollständigen Verfall der Natur des Leibes glaube man doch offenkundig auch nicht, weiterleben zu können, selbst wenn man über alle Nahrung und Getränke verfüge, weshalb solle dann nicht das Gleiche beim Verfall der inneren Natur gelten (vgl. 445b). Sokrates gibt die ›Lächerlichkeit‹ sogar zu (geloion gar) (445b 5). Dennoch möchte er von seiner Frage nicht ablassen (apokámnein). Es werden weitausgreifende Verfallsgeschichten exponiert, um das Wesen der Gerech305 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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tigkeit nicht nur herauszusehen (443c), sondern so deutlich als nur möglich einsehen zu können (445b). Jedwede ›Vieltuerei‹ und ›Fremdtuerei‹ (polypragmosyne bzw. allotriapragmosyne) (444b) indiziert einen Abfall von der Gerechtigkeit als dem der Natur gemäßen Handeln. Allerdings zeigt sich Gerechtigkeit auch in der ›großen Schrift‹ als Inbegriff und Einheitssinn der Tugend. Und es ist deutlich geworden, dass die einzelnen Tugenden nur deshalb ›gut‹ sind, weil sie an einem schlechthin Guten Anteil haben, das die anderen Tugenden und die Stadt »vorzüglich gut macht« (vgl. 433c). Ein Aspekt, der im Begriff des ›agathon‹ schon an dieser Stelle leitend ist, wird ausdrücklich erst in den platonischen ›Nomoi‹ entfaltet: Der Begriff der Güter (agatha) als Pluralform des ›Guten‹ bezeichnet nicht in erster Hinsicht menschliche, sondern göttliche Güter (Nomoi 631b f.). Sie gehen, der Ordnung des Seienden (physei) nach, menschlichen Gütern wie Schönheit, Ruhm oder Reichtum voraus (631d). Ihre Abzweckung richtet sich auf nichts Vereinzeltes. Die Vereinzelung ist dem Begriff der Tugend seinem Wesen nach fremd (vgl. 633a); der Versuch, eine Tugend in Vereinzelung zu betrachten, liefe deshalb darauf hinaus, 77 die innere Idee der Seele und damit den Begriff von ›areté‹ zu verfehlen. An dieser Stelle setzt die unsachgemäße, sophistische Verkehrung des Namens (onoma) der Tugend bereits an, die durch Freilegung des ›lógos tes ousías‹ zu korrigieren ist. Überdies lassen sich nur diejenigen Tugenden, die wie Weisheit und Tapferkeit auf einzelne Stände beschränkt werden können, überhaupt vereinzeln. Das Folgeverhältnis, in dem die Tugenden zueinander stehen, ist nicht umkehrbar. Denn die Tugend in der Stadt ist nicht von ihrer mit der Gesetzgebung der Ideen-Stadt bereits vorgrifflich in den Blick genommenen, also von Anfang an zugrundeliegenden Einheit her, sondern nur schrittweise, als immer schon in Rede stehend und am Ende sich enthüllend, zu erkennen. Solche Grundverhältnisse werden allerdings erst durch einen Blick auf die ›Nomoi‹ weiter geklärt. Die Tapferkeit (andreia) muss durch Selbstbeherrschung eingehegt werden. Sie bedarf der Herrschaft (enkrateia) der Seele über sich selbst (Nomoi 630c). Und diese Beherrschung ist durch die zweite Grundtugend der Besonnenheit (sophrosyné) zu gewinnen. Außerdem verweist die Enkratie darauf, dass eine Herrschaft des Höheren über das Dazu wieder Irwin, Plato’s Ethics, a. a. O.; siehe auch G. Klosko, The Technical Conception of Virtue, in: Journal of the History of Philosophy 19 (1981), S. 95 ff.

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Mindere notwendig ist, und damit weist sie auf die Gerechtigkeit als die Ordnung der gerechten Zuteilung voraus. Unmittelbar vor dem Aufweis der Gerechtigkeit in der Stadt wird darauf verwiesen, dass sich das Analogieverhältnis zwischen großer und kleiner Schrift nicht von selbst versteht. Sokrates verdeutlicht dies mit dem Sprichwort, dass »alles Schöne schwer« sei (435c). Die Zäsur ist auch dadurch markiert, dass, anders als im Zusammenhang der Frage nach der Gerechtigkeit im Stadtstaat, nun kein primär genealogischer Denkansatz verfolgt wird. Der Ort von Tugend und Gerechtigkeit in der Seele wird am Leitfaden eines logoshaften Fixpunktes aufgewiesen: einer Version des Satzes vom Widerspruch (436a). Dabei wird aber das Recht der Analogie ausdrücklich festgehalten. Die Arten (eide) und die zur Gewohnheit gewordenen Handlungsweisen (ethé), die in der Polis gefunden wurden, sollen auch in der Seele aufgewiesen werden können (435c). Sokrates deutet gegenüber Glaukon an, dass der bereits durchlaufene Gedankengang noch einmal durchzuführen ist, nun im Blick auf die Seele. Eine »schlimme Untersuchung« liege in dieser Hinsicht noch vor ihnen (435c5 f.). Dabei wird die im Zusammenhang mit der Freilegung der Stadtgerechtigkeit aufgewiesene ›oikeiopragie‹ als Leitfaden begriffen, denn, nachdem die drei Seelenteile voneinander unterschieden sind, gibt die Frage nach der Gerechtigkeit in der Seele zu bestimmen auf, ob den Seelenvermögen unterschiedliche Verrichtungen zugewiesen sind oder ob sie ›zusammenwirken‹ können (vgl. 436a). Ausgehend von dieser Beobachtung kommt dem Widerspruchssatz ein besonderes Gewicht zu. Der Satz weist in der Fassung, die Platon ihm in der ›Politeia‹ gibt, darauf hin, dass nichts in der gleichen Hinsicht und zu der gleichen Zeit ›etwas‹ sein und ›nicht‹ sein, eine Eigenschaft haben und nicht haben, eine Handlung ausführen und nicht ausführen kann (436c). Dies ist so unmöglich, wie sich das Beispiel aus dem Bereich der physischen Dinge selbst ad absurdum führt, dass »dasselbige zugleich in demselben Sinne still steht und sich bewegt« (436c). Daher wird festgestellt, dass nicht zwei einander entgegengesetzte Neigungen gleichzeitig in der Seele wirksam sein können, wobei ausdrücklich nicht unterschieden wird, ob sie sich als Tun (poiemáton) oder als Leiden (pathemáton) zeigen (437b). Im nächsten Schritt werden das vernünftige und das begehrliche Seelenteil im Sinn des Widerspruchssatzes aufeinander bezogen. Platon geht von den Extremen aus und hellt sie aus der Grundstruktur des Begehrens auf. Von Begehren ist dabei in einem sehr weiten Sinn 307 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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die Rede (437c–d). Der Begehrens- und Strebensbegriff ist also nicht auf das unterste Seelenvermögen zu begrenzen. Ausdrücklich wird eingeräumt, dass es auch ein willentliches oder ein logisches Begehren geben kann. Die Grundstruktur des Begehrens ist aber möglichst elementar aufzufassen. Sie orientiert sich an der notwendigen, unvermeidbaren Begierde: an Hunger und Durst. 78 Dies führt dazu, dass das Begehren in seiner Wesensbestimmung (in seinem ›autos‹-Sein) zu unterscheiden ist von einem spezifizierten Begehren, das die Beschaffenheit (poion – poson) dessen, worauf es zielt, mit einschließt (438b–c). Alles Begehren ist sodann von dem intentionalen Ziel her zu verstehen, auf das es sich richtet. Begehren nämlich ist niemals ein Selbstverhältnis, sondern immer bestimmtes Begehren von etwas. Dies wird synkritisch zur Grundverfassung der Erkenntnis aufgewiesen. Zudem wird dadurch verdeutlicht, dass auch die höheren Seelenvermögen die am Bedürfnis aufgewiesene elementare Grundstruktur erkennen lassen. Auch Erkenntnis ist Erkenntnis von etwas, auch sie ist immer auf ein wie auch immer beschaffenes Erkennbares gerichtet (438c). 79 Elementar ist dieser Klärung nach nur die einstellige Intentionalitätsstruktur, also zum Beispiel die Relation des Durstes zu etwas Trinkbarem. Die einzelne Beschaffenheit, also die Spezifikation eines Dursts auf heiße oder kalte Getränke gehört dieser Grundverfassung nicht an. Die Näherbestimmung nach der Maßgabe des ›poion‹ und ›poson‹ ist nicht elementar, sondern von der Situation und dem Angebotenen abhängig (in der Kälte wird ein heißes Getränk begehrt, in der Hitze nicht). Sokrates meint sogar, dass das Verlangen nach guter, genießbarer Speise der Bestimmung des Begehrens nicht innewohne (439a). Damit Erwägungen über die Tauglichkeit des begehrten Objektes einsetzen, ist bereits eine Distanz erforderlich. Gerät durch solche Fortbestimmungen der Leitfaden des Widerspruchsprinzips scheinbar zeitweise aus dem Blick, so wird er wieder bestimmend, wenn ein Fall analysiert wird, in dem ein widerstreitendes Begehren mit ins Spiel kommt. Wie ist es zu verstehen, wenn ein Durstiger doch nicht trinken will? Im Sinn des Satzes vom Widerspruch kann Vgl. zu diesen Formen der Intentionalität: J. Moline, Plato on the Complexity of the Psyche, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 60 (1978), S. 35 ff., siehe auch die Beiträge des Sammelbandes E. Wagner (Hg.), Essays on Plato’s Psychology. Lanham 2001 und P. Steiner, Psyche bei Platon, a. a. O. 79 Dazu wieder Wieland, Platon und die Formen des Wissens, a. a. O., S. 224 ff. und S. 236 ff. 78

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seine Seele nicht zu gleicher Zeit in der gleichen Hinsicht von Gegensätzlichem (Durst und Abgestoßensein durch Getränke überhaupt, bedingt etwa durch eine Übersättigung) bestimmt sein. Sie kann auch nicht Qualitätserwägungen anstellen, denen die gebotene Nahrung nicht genügt. Es besteht aber die Möglichkeit, dass sich ein entgegengesetztes Begehren geltend macht. 80 Man hat ein Beratschlagen und Überlegen der Seele mit sich selbst anzunehmen, das sie daran hindert, ihrem Bedürfnis sogleich nachzugeben. Zu einem derartigen Selbstberatschlagen und Überlegen kann es jedoch nur durch die Denkkraft (logistikon) kommen, die der Begierde als dem, worauf die Seele bezogen ist, widerrät. Sokrates gewinnt die Idee einer Zweiteilung der Seele bis zu diesem Punkt offensichtlich ausschließlich aus einer Interpretation von Lustund Unlustphänomenen vor den Festlegungen des Widerspruchssatzes und durch den Aufweis der elementaren Begehrensstruktur. Diese Überlegungen müssen ergänzt werden, wenn nun das mittlere Seeleneidos, der Wille (thymoeides), in seiner Selbständigkeit aufgewiesen werden soll; hier wird auch evident, dass es sich keineswegs von selbst versteht, dass die Denkkraft eintritt. Glaukon möchte den Willen unmittelbar dem Begehren zuordnen (439e). Doch dieses Dritte ist eben kein Mittleres. 81 Es liegt zwar in der Mitte zwischen Denkkraft und Begehren, es verbindet aber nicht. Es kommt in seiner Eigenständigkeit nur zur Geltung, da es mit dem Begehren und dem Logos gleichermaßen in Streit liegen kann. Es wäre also nicht zu erkennen, wenn nicht zuvor die Extreme – am Leitfaden eidetischer Erwägungen – deutlich festgehalten wären. Diese Bemerkungen sollen von der Erwägung des Phänomens her unmittelbar einleuchtend sein. Deshalb kann der mitsprechende Schüler die Antwort von selbst geben (441b); Eifer (thymoeides) bildet sich im Kind eher aus als die Vernunft. 82 Bezeichnenderweise steht für die Logosfähigkeit des Willens ein homerisches Wort ein. Das Herz kann nach Dazu R. Robinson, Plato’s Separation of Reason from Desire, in: Phronesis 16 (1971), S. 38 ff. 81 Vgl. Th. A. Szlezák, Unsterblichkeit und Trichotomie der Seele im zehnten Buch der Politeia, in: Phronesis 21 (1976), S. 31 ff. 82 Dazu A. Graeser, Probleme der platonischen Seelenteilungslehre. Überlegungen zur Frage der Kontinuität im Denken Platons. München 1969; S. Lovibond, Plato’s Theory of Mind, in: S. Everson (Hg.), Companions to Ancient Thought 2. Cambridge 1991, S. 35 ff. E. N. Ostenfeld, Ancient Greek Psychology. Aarhus 1987. 80

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dem Zeugnis der homerischen Dichtung, die an dieser Stelle als ›wahrhaftig‹ bezeichnet wird, mit Worten (mytho) gestraft werden (b 6 ff.), stimmt ihm Sokrates zu. Jene Worte sind nicht Logoi. Sie sind allerdings mythische Sinnbilder des Logos. 83 Da Begehren und Eifer in näherer Verbindung stehen als Eifer und Vernunft, führt ihre Unterscheidung unter anderem auf ein zweideutiges Phänomen, das besondere Beachtung verdient: eine Begierde, die nicht abgewehrt wird, in deren Äußerung aber ein Widerstreit offensichtlich wird. 84 »Aber, sprach ich, ich habe einmal etwas gehört und glaube dem, wie nämlich Leontios, der Sohn des Aglaion einmal aus dem Peiraieus an der nördlichen Mauer draußen herauf kam und merkte, dass beim Scharfrichter Leichname lagen, er zugleich Lust bekam sie zu sehen, zugleich aber auch Abscheu fühlte und sich weg wendete und so eine Zeitlang kämpfte und sich verhüllte, dann aber von der Begierde überwunden mit weitgeöffneten Augen zu den Leichnamen hinlief und sagte, Da habt ihr es nun, ihr unseligen, sättiget euch an dem schönen Anblick« (439e–440a).

So durchschaubar diese offensichtlich durch mehrere Berichte allgemein vertraute Situation für jeden sein wird, der um ihre Hintergründe weiß, also darum, dass hier ein eigenes Begehren an einem anderen aufgewiesen wird, so zeigt sie doch die Zweideutigkeit des Willens an, der in seiner Eigenmächtigkeit nicht transparent geworden ist (vgl. 440b). Sie gibt zu verstehen, wie der Eifer auch wider Willen zum Verbündeten der Vernunft wird, indem er sich von der Begierde entfernt. Es ist allerdings auch das umgekehrte Verhältnis möglich. Sokrates sah am Beginn dieses Erörterungsganges voraus, dass er schwer werden würde (vgl. 435c); dies bestätigt sich am Ende der Erwägungen (»Dieses also, sprach ich, haben wir mit Mühe durchgemacht« (441c)). Noch ist der Ort der Gerechtigkeit und der Einheit der Tugend innerhalb der Seele nicht aufgewiesen. Es ist lediglich gezeigt worden, in welchen Hinsichten des Widerstreits der drei SeeDazu R. Marten, Sind Ideen dem Denken zugänglich? Die dialektische Methode, ihre methodologische Bestimmung und das Problem ihrer Bewährung, in: Ders., Platons Theorie der Idee. Freiburg, München 1975, S. 15 ff. 84 Hier stellt sich fundamental, nämlich von der Ontologie der Seele her, die Frage nach einem guten Leben, das aus Vernunft und Lust gemischt sein muss, so wie es dann in concreto im ›Philebos‹ entwickelt werden wird. Dazu Gadamer, Platos dialektische Ethik, pass. 83

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lenvermögen sie zur Erscheinung kommen wird. Daraus soll sich die Einheit der Tugend wie von selbst finden lassen. Es soll, um die Analogie zwischen Stadt und Seele zu erhärten, auch offensichtlich werden, dass der Einzelne und die Polis auf die gleiche Weise (auto tropo) zur Gerechtigkeit gelangen – und dass die Einheit der Tugend für den Einzelnen und die Polis das Gleiche bedeutet (vgl. 441d). Allerdings folgt der Vergleich längst einer Heuristik der Differenz; ›große‹ und ›kleine‹ Schrift werden aneinander gerieben, indem Sokrates im Unterschied zu der Bestimmung der ›areté‹ in der Polis nun nicht mehr Vorgriffen folgt, sondern zuallererst deren Einheitssinn, die Gerechtigkeit, in den Blick nimmt. Sie bringt sich als Einheitssinn von Tugend dadurch zur Geltung, dass jeder Seelenteil das Seine tut, und das heißt, dass das vernünftige Seelenteil herrscht, das eifrige ihm verbündet ist und gestärkt wird, das begehrende Seelenteil aber in Schranken zu weisen ist (441e). Der Eifer ist unmittelbar auf die Vernunft bezogen. Er kann auf ihre Stimme hören; nicht so das Begehren. Es ist vernunftwidrig und muss deshalb eingeschränkt werden (442a). Dabei wird die Mächtigkeit des begehrenden Seelenteils hervorgehoben: zu ihren größten Teilen ist die Seele eines jeden Menschen begehrend. Das Zusammenspiel, als das die Gerechtigkeit zu begreifen ist, ist also einer übermächtigen Begehrensnatur abzugewinnen. Gerechtigkeit bedeutet in diesem Zusammenhang, dass jeder Seelenteil in Hinsicht auf das Herrschen und Beherrschtwerden das Seine tut und dass Einigkeit hinsichtlich des Herrschens und Beherrschtwerdens besteht (vgl. 441e; 443b). Dieser Grundzug begegnete freilich auch in der Polis. Damit führen die Explikationen noch einmal auf die Paideia zurück. Denn auch die Gerechtigkeit in der Seele ist als musische und gymnastische Zusammenstimmung konfiguriert. Daher ist das, was über die Stadt gesagt wurde, schon auf das Innere der Seele hin durchsichtig gemacht. Die Analogie wird an dieser Stelle wieder aufgenommen und dabei scheint die Stadt maßgeblich für den Aufweis der Gerechtigkeit in der Seele zu sein. Die Differenzanzeigen treten offenkundig zurück (441c). Dies ist überraschend, zumal wenn man sich die offenkundige Verschiebung im Expositionsverfahren, von der Vorgriffsstruktur auf den Versuch, sich am Leitfaden der Gerechtigkeit zu orientieren, vergegenwärtigt. Eine Erklärung könnte darin zu sehen sein, dass der Verweis auf die ›innere Handlung‹ durch eine Anzeige der Wirkung von Musik und Gymnastik im Seeleninneren vorbereitet wird (442a). 311 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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Von dieser Aussicht auf die (musische) Paideia her erklärt sich auch erst, dass die drei Seelenteile am Beginn der Exposition als eingeprägte Handlungen, Arten und Gestalten (eide) bezeichnet wurden (vgl. 435e2). Beide Bestimmungen sind in einem Zusammenhang zu sehen. Ein Eidos geht, gleichsam als Vorentwurf, der Konstituierung der Seelenteile voraus, die sich dann im Umgang der Seele mit sich selbst weiter ausbilden. Das Ethos weist auf dieses Moment des Umgangs hin. Anklänge an die Praxis, als den inneren Umgang der Seele mit sich selbst, sind also mitzuhören. Zu einem Ethos kommt es, da sich die Seelenteile der Seele erst mit der Zeit einprägen. Sie werden zeitlich, im Werden und Vergehen, evoziert; doch sie sollen dauern. 85 Daher können sie gleichsam als Charakter der Seele begriffen werden. Insofern sind sie mehr als bloße Hinsichten oder Perspektiven der Seele. Sie sind wesentliche Orientierungen, was an einer späteren Stelle auch darin zum Ausdruck kommt, dass sie als Lebensformen der Seele (bioi) (581c7) verstanden werden. 86 Sokrates’ Zweifel entzündet sich an dieser Stelle an der Frage nach der Gerechtigkeit. Er fragt, ob seinen Mitunterrednern nicht dunkel vorschwebe, dass die Gerechtigkeit in der einzelnen menschlichen Seele noch etwas anderes (allo ti) sein müsse als in der Polis (442d). Diese Frage wird dann in der ausdrücklichen Explikation der ›entos praxis‹, die die Summe aus den Erwägungen zieht, beantwortet werDie Rede von einer platonischen ›Anthropologie‹ halte ich indes für einen Anachronismus, der mit der großen Zurückhaltung Platons in Aussagen über den Menschen viel zu wenig rechnet. Siehe aber H. Tsioli, Platons Anthropogonie. Zum Problem der Interpretation der platonischen Anthropologie. Kiel 1980 und A. Zakopoulos, Plato on Man. New York 1975. Erstmals wurde die Rede von einer platonischen Anthropologie favorisiert von J. Wild, Plato’s Theory of Man. An Introduction to the Realistic Philosophy of Culture. Harvard 1946. Dazu G. Vlastos, Plato’s Theory of Man, in: The Philosophical Review 66 (1947), S. 184 ff. 86 Der Dreiklang der Seelenhinsichten stimmt, wie im Einzelnen und in Wiederholung der aus der Erörterung der Polis bekannten Bestimmungen dargelegt wird, tapfer und besonnen. Eine Abschattung zeichnet sich aber in der Bestimmung der ›sophia‹ ab. Diese wird bereits in ihrer ersten Nennung ausdrücklich auf die Denkkraft, das ›logistikon‹ bezogen (441e). »Nun gebührt doch dem Vernünftigen zu herrschen, weil es weise ist und für die gesamte Seele Vorsorge hat?« Der Begriff der ›sophia‹ scheint im Blick auf die Seele weiter gefasst zu sein als im Blick auf die Stadt. War er dort wesentlich mit einzelnem Techné-Wissen, das Wohlberatenheit bewirken kann, gleichgesetzt worden, so wird er nun mit dem Logos gleichgesetzt, wenn auch mit einem Logos, der in den einzelnen Seelenteilen die Erkennntnis der Gerechtigkeit zur Erscheinung bringt (442c). 85

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den. Erst in der ›inneren Handlung‹ der Seele findet die Gerechtigkeit ihren vollkommenen und schönen Ort. Alles, was über die Gerechtigkeit in der Polis ermittelt wird, ist demgegenüber ein vorläufiges Schattenbild (eidolon) der Gerechtigkeit (vgl. 443c). Die Überzeichnung, wonach die Polis-Gerechtigkeit nur setzt, dass jedermann seiner Anlage entsprechend handelt, indiziert, dass die Erörterung der Gerechtigkeit nach Maßgabe des Stadtstaats im Bereich der ›äußeren Handlung‹ (exos praxis) (443d) bleibt. Es scheint also fraglich, ob sich die Polis-Angelegenheiten von Grund auf aus dem ›techné‹-Charakter lösen können. In der Rede vom ›eidolon‹-Charakter der politisch verstandenen Tugenden, der sich im Hinblick auf die Mimesis-Lehre im X. Buch der ›Politeia‹ weiter klärt, ist auch angedeutet, dass hier die unbestimmte Zweiheit und Relativität des Maßstabs bestimmend sind. Erst der Blick auf die innere Praxis, dem sich das Ineinanderspiel der Seelenvermögen erschließt, führt auf ein wahres und unwandelbares Maßverhältnis; es wird in der äußerlich erklingenden Musik zur Darstellung gebracht. Deshalb wird im Umkreis der Exposition der ›entos praxis‹ das Sinnbild vom Wohlklang (harmonía), der Zusammenstimmung der drei Hauptsaiten des Oct-Akkords, angeführt. Das Seitenstück dazu ist der Entwurf der Gestalt des gerechten Mannes. In seinen ›äußeren Handlungen‹, zeigt sich die innere Handlung seiner Seele; dies geschieht freilich in einer paradoxen Weise, denn diese Gestalt lebt anscheinlos. Was sich an ihm zeigt, ist daher kein Schein von Gerechtigkeit; und es ist nur ›herauszusehen‹, wenn ein stabiles Wissen gewonnen ist. Seine Figur geht offensichtlich auf Glaukons Sorge hinsichtlich der Möglichkeit eines Überlebens des Gerechten unter den gegebenen Umständen zurück, ohne dass das Urteil aus dem Beginn von Politeia II korrigiert würde (vgl. 360e). Es ist aber möglich, aus einem stabilisierten Wissen um die PolisGesetzgebung darauf aus veränderter Perspektive zurückzukommen. Der ideale Typus des »gerechten Mannes« zeigt sich dem aus einer ›inneren Handlung‹ nach der Gerechtigkeit Fragenden als ein von aller Doxa gereinigter Gerechter, in dessen Seele »jegliches das Seine verrichtet in Absicht auf Herrschen und Beherrschtwerden« (vgl. 443b). Deshalb würde er auch bei Straflosigkeit kein Unrecht tun, er würde nicht einmal ein bei ihm hinterlegtes Gut veräußern. 87 Das Dies ist nicht einfach als »Intellektualismus« in der Ethik zu benennen. Es verweist vielmehr auf die Selbstverständlichkeit und Selbstbewegung der ›entos praxis‹. In der

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Problem für Glaukon und Adeimantos, ob es ein Wesen der Gerechtigkeit ohne allen Anschein geben könnte, wird hier beantwortet. Der sokratische Gerechte ist auch als gerecht zu erkennen, allerdings nur für denjenigen, der die kleine Schrift seiner eigenen Seele zu verstehen versucht, nicht aber von denjenigen, die, wie Thrasymachos, aus dem Anschein heraus über Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit befinden. Es bleibt deshalb denkbar, dass dieser anscheinlose Mensch, wie Sokrates, in der Polis keine Achtung findet, obwohl er einer der Gerechtesten seiner Zeit ist.

V.

»Sprösslinge der höchsten Idee«: Die drei Gleichnisse der ›Politeia‹ und der Philosophenkönigssatz

Wissen um die höchste Idee In den drei aufeinander aufbauenden und miteinander verbundenen Gleichnissen der ›Politeia‹ wird die höchste Idee in Bild und Ähnlichkeit exponiert. Sie kann nicht unmittelbar in den Blick genommen werden, da sie plötzlich erscheint. Wie eine mystische Erfahrung 88 entzieht sich ihr Überlicht der propositionalen Aussagbarkeit. Die höchste Idee hat nicht den Charakter der Phronesis, des abwägenden Wissens (505b ff.; 506b). Sie ist höchster Punkt des Wissens, das größte Lehrstück (mathema), wobei ein Lehrstück weder ein schlechthin Gewusstes, also auch kein schlechthin Wissbares, noch ein Ungewusstes, überhaupt nicht Wissbares sein kann (vgl. Menon 80d–e). Jens Halfwassen hat es so definiert: »Ein ›mathema‹ ist vielmehr nur solches, was in aller Erschlossenheit von Wirklichkeit je schon vorausgesetzt ist, was aber eben darum nicht schon als solches im Blick steht.« 89 Dies eigentlich zu Lernende ist aber für denjenigen nur andeutungsweise zu entfalten, der, wie die Mehrzahl der künftigen PoKonsequenz ergibt sich eine Ausnahmslosigkeit des Gebotenen, die an das kantische Sittengesetz und den mit ihm übereinstimmenden reinen guten Willen erinnert. 88 Hier kommt der arrheton-Charakter, die Überhelle und Nicht-Darstellbarkeit mit in den Blick. Vgl. Chr. Schefer, Platons unsagbare Erfahrung, a. a. O. 89 J. Halfwassen, Der Aufstieg zum Einen. Untersuchungen zu Platon und Plotin. Stuttgart 1992, S. 226. Siehe zur Klärung der höchsten Erkenntnisform der Idee des Guten auch Th. A. Slezák (Hg.), Platonisches Philosophieren. Zur Situation der Platonforschung. Akten des Tübinger Kolloquiums zu Ehren von H. J. Krämer (29.–30. April 1994). Hildesheim, Zürich, New York 1999.

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»Sprösslinge der höchsten Idee«

lisbürger, mit der dialektischen Übung nicht vertraut ist. Wie der Fortgang des Gesprächs zeigt (504c ff.), liegt in einem nur annäherungsweisen, mithin immer unzulänglichen Reden von der Idee des Guten eine Gefahr. Denn wie kann das Unvollkommene Maß sein, um die Angemessenheit an das eigentlich zu Lernende zu beschreiben? Angesichts dieses Mangels muss die Gleichnis- und Bildrede zu ihrem Recht kommen. Sie erschließt sich dem nicht Geübten, dem Fragesteller ebenso wie dem nachgeborenen Leser, ohne dass doch ganz unangemessen gesprochen werden müsste, was immer dann der Fall wäre, wenn auch Sokrates wie die vielen Lehrer bloße Meinungen – ›doxai‹ – berichten würde (506d). Stattdessen erklärt Sokrates in der ›Politeia‹, dass er selbst die Idee des Guten nicht so wisse, dass er sie so zeigen könnte, wie sie in Wahrheit ist. »Wie? sprach ich, dünkt dich denn das recht, wenn einer nicht weiß, darüber doch zu reden als wisse er es?« (506c). Um welches ›Wissen‹ geht es beim Wissen um die höchste Idee? Im griechischen Text steht ›eidota‹, was sowohl ›sich verstehen auf etwas‹ wie ›mit Gewissheit sagen können‹ oder ›aufweisen‹ bedeuten kann. Indem wir dem ›megiston mathema‹ nachgehen, nähern wir uns dem komplexen Verhältnis zwischen Nous und Phronesis, das bei Aristoteles ein Echo finden wird, wenn er darauf verweist, dass die Phronesis nicht autonom sei, sondern nur »möglich auf Grund eines höheren Vermögens, nämlich des Vermögens zum ›alethes lógos‹, zur Aufweisung und der Erkenntnis dessen, was in Wahrheit ist« (vgl. Eth. Nic. 1140b5 ff.). 90 Die Verhältnisbeziehungen sind hier klar: Der Geist erzeugt das eigentlich Wahre, also das größte Lehrstück, durch das die Besonnenheit (phronesis) in jeweiligen konkreten Lagen betätigt werden kann als jene Urteilskraft und Fähigkeit, das zu ermessen, was für den Menschen gut oder schlecht ist. Dass das Wissen um die Idee des Guten mit der Phronesis nicht einfach gleichzusetzen ist, ist in der Tat, wie Georg Picht verdeutlicht hat, 91 eine grundlegende Einsicht von Platons Denken. Doch führt der Weg der Gleichnisse nicht wirklich in jenen Bezirk hinein, weil er nicht in das Zentrum der Erkenntnisfrage führt. Er umgeht ihn vielmehr. Ausdrücklich ist auf die Unvollständigkeit der Gleichnisrede verwiesen. Zur Einleitung des Liniengleichnisses sagt Sokrates, an Glaukon Vgl. dazu u. a. W. Welsch, Aisthesis, S. 345 ff. und ders., Der Philosoph, a. a. O., S. 200 ff. 91 G. Picht, Platons Dialog, a. a. O., S. 35 ff., S. 250 ff. u. ö. 90

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gewandt: »Ich werde wohl, denke ich, gar vieles auslassen müssen; indes so viel für jetzt möglich ist, davon will ich mit Willen nichts übergehen« (509d). Vor diesem Hintergrund sagt das Sonnengleichnis seine zentrale Analogie aus: dass die Sonne sich zum Sehvermögen des Wahrnehmenden und zum Sichtbaren ebenso verhält wie die Idee des Guten zum überhaupt zu Denkenden und der denkenden Person (508d). Diese proportionale Analogie ist gleichermaßen gnoseologisch und seinshaft zu verstehen. 92 In seinshafter Weise verdankt es sich der Sonne, dass Licht (phos) über dem Seienden liegt, als das Dritte (507d), das zum Vermögen zu Sehen und zur Sichtbarkeit hinzukommen muss. So ist es jedenfalls, wenn die Klarheit des Blicks nicht getäuscht und in Dunkel und täuschendes Zwielicht zurückgetaucht werden soll (508d). Ausdrücklich bemerkt Sokrates (507c), dass der Sehsinn (horomen) aufgrund dieser Sonnen-Ähnlichkeit ausgezeichnet sei vor den anderen Sinnen. Die seinshafte Verständigungsspur wird weiter ausgezogen, wenn darauf verwiesen ist, dass die Sonne auch Werden, Wachstum und Nahrung verleihe (509b), obgleich sie dies alles selbst nicht ist. In gleichermaßen gnoseologischer und ontologischer, auf Erkenntnis und Sein bezogener Dimension also, erweist sich die Sonne als Abkömmling, der zur Idee des Guten in »größter Ähnlichkeit« sich verhält (Pol. 506e f., 508b). Wenn man die Idee des Guten zu verstehen sucht, darf man nicht darüber hinwegsehen, dass in der Verschränkung dieser beiden Dimensionen, der des Seins und der des Erkennens, ein Rätsel verborgen bleibt. Richtig ist auch, dass Versuche, sich dieser Schwierigkeit zu entheben, häufig auf Deutungsschemata zurückgehen, für die es im Sonnengleichnis der ›Politeia‹ keine Bestätigung gibt. Dies gilt für die teleologische Erklärung, dass alles um des Guten willen sei, die eher mit der aristotelischen Teleologie operiert, ebenso wie für Kurt von Fritz’ Auffassung, wonach ohne die Bevorzugung eines Guten, das dann in vergleichender Absicht herangezogen werden könne, Erkenntnis nicht möglich sei. 93 Besseren Anhalt, da sie sich auf die Kosmos- und Taxis-Lehre Platons im ›Gorgias‹ berufen kann, hat dagegen die Erwägung von Kurt von Fritz, wonach das Gute Gestalt und Bestimmt-

Dazu W. Wieland, Platon und die Formen des Wissens, a. a. O., S. 196 ff. K. von Fritz, Grundprobleme der Geschichte der antiken Wissenschaft. München 1981.

92 93

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heit und damit Sein und Erkennbarkeit im Chaos allererst erzeuge. 94 Man könnte die Idee des Guten damit als Inbegriff des ›Kosmos‹ verstehen, eine Deutung, die daran ihren Anhalt hat, dass das Gute nach den Testimonia von der ungeschriebenen Lehre auf die Einheit als ihr Wesen verweist. 95 Freilich ist auch davon im Gleichniszusammenhang nicht ausdrücklich die Rede. Doch die Abfolge und Struktur der Gleichnisse gibt durchaus Aufschlüsse in dieser Richtung: Auf das Sonnengleichnis folgt das Liniengleichnis, in dem nicht eigentlich anschauliche Bildlichkeit, sondern geometrisch-mathematische Figuren bestimmend sind und in dem doch nicht weniger umrissen werden soll als die Erkenntnisart, die die Idee des Guten erfordert. Diese wird in einer Evokation gefasst. Man wird Glaukons Ausruf »Apollo!«, dies Staunen darüber, dass die Idee des Guten über das Sein hinausführe (epekeina tes ousias) (509b), als etymologischen Hinweis auf das Eine, Nicht-Viele verstehen können. Indes, Glaukon ruft dies ›geloios‹, »scherzend« aus, und Sokrates verweist darauf (vgl. 506c), dass er gezwungen worden sei, das auszusprechen, wovon er bloß eine Meinung habe. In dieses Stadium des Gesprächs tritt die figurale Verdeutlichung durch das Liniengleichnis ein. In seinem Zentrum steht eine Konstruktionsanleitung: Eine Linie wird in einer ersten Teilung in zwei ungleiche Abschnitte geteilt, deren jeder in einer zweiten Teilung wieder im gleichen Verhältnis zu teilen ist. Den in der ersten Teilung entstandenen Abschnitten sollen das Gebiet des Denkbaren und das des Sensiblen zugewiesen werden (509d). Welches das längere, welches das kürzere Stück ist, erfahren wir nicht. Befolgt man die Konstruktionsvorschrift genau, so ergibt sich eine mittlere Proportionale »A : B = C : D«. Dadurch sind die beiden Sphären ineinander verschränkt, gilt doch nun: »B = C«. Es wird weiter spezifiziert: Im Bereich der sensiblen Welt ist zu unterscheiden zwischen der ›eikasia‹, einer Wahrnehmung, die auf Reflexe und Schatten bezogen ist, und Vgl. K. von Fritz, Die philosophische Stelle im siebten platonischen Brief und die Frage der ›esoterischen‹ Philosophie Platons, in: ders., Schriften zur griechischen Logik. Band I. München 1978, S. 175 ff. 95 Der ›Inbegriff‹ wäre im neuplatonischen Sinn zugleich die ›implicatio‹, sodass die kosmische Entität und Realität selbstverständlich auf diese Weise gerade nicht entfaltet ist. Dazu knapp H. Krämer, Platons Ungeschriebene Lehre, in: Kobusch, Mojsisch (Hg.), Platon, a. a. O., S. 249 ff. 94

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der Meinung (pistis), die auf einzelne Gegenstände orientiert ist (510a1 ff.). Wenn im Bereich der Sinnenerkenntnis von spezifischen Gegenstandssphären die Rede ist, so ist im Zusammenhang der Teilung des zweiten Primärabschnittes der Linie, der der intelligiblen Weltsphäre zugeordnet ist, nur die Rede von Vollzugsweisen der Seele. Im einen Falle ist sie genötigt (anankatzetai), von Voraussetzungen (hypotheseis) aus zu einem Ende weiter zu gehen (510b). Dies ist der Weg der mathematischen Erkenntnisse. Die Mathematik fungiert im Akt der Zählung in der Arithmetik, der geometrischen Konstruktion, doch auch der Mathematisierung anderer Erkenntniszweige, etwa von Tonfolgen. Doch der Anfang der Erkenntnis bleibt auf diese Weise ungeklärt und unerörtert. Die Mathematiker legen ihre Hypothesen als Wissen zugrunde. Sie sprechen eben, wie es im ›Theätet‹ heißt, »träumend« von der Wahrheit. Sie haben, wie es an späterer Stelle in der ›Politeia‹ heißt, vom Sein zwar etwas erfasst, doch nur so, dass sie von ihm träumen können (533c). Sie setzen nämlich ihre Vorannahmen voraus, müssen sie aber als unbeweglich (akineton) fixieren, da sie keine denkende Rechenschaft über sie abzugeben wissen. Erst mit dieser Distanzierung von der mathematischen Erkenntnisart kommt das Liniengleichnis, das sich eigentlich ihrer bedient, an sein Ziel. Wie Wolfgang Wieland zutreffend angemerkt hat, 96 können die Erkenntnisarten nicht von einem unbeteiligten, gleichsam »objektiven« Ort aus angezeigt werden, sondern nur in ihrem Vollzug. Dies führt über die mathematische Annäherung hinaus. Denn der Mathematiker weiß nicht von seinem Traum – wüsste er dies, so träumte er nicht mehr. 97 Das Liniengleichnis zielt also auf die höchste Erkenntnisart, die Dialektik, die nicht von Hypothesen weiterschreitet, sondern den Anfang festmacht (511d). Dies bedeutet im Sinn der Explikation der Dialektik im VII. Buch der ›Politeia‹ nicht weniger als die Hypothesen aufzuheben: ›anhairein tas hypotheseis‹ (533c). Aufgabe der Dialektik ist es also, in entgegengesetzter Richtung zur Mathematik mittels des Ausganges von Hypothesen dahin zu gelangen, wo alle Voraussetzungen aufhören (511b). 98 Mag es, wie Nicolai HartW. Wieland, Platon und die Formen des Wissens, a. a. O., S. 252 ff. Vgl. dazu W. Burkert, Konstruktion und Seinsstruktur. Praxis und Platonismus in der griechischen Mathematik, in: Abhandlungen der Braunschweigischen Wissenschaftlichen Gesellschaft 34 (1982), S. 125 ff. 98 Dazu Ferber, Platons Idee des Guten; auch Wieland, Platon und die Formen des Wissens, a. a. O., S. 280 ff. 96 97

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mann zeigte, 99 für Platon eine wichtige Frage geblieben sein, ob die Dialektik aufsteigend oder absteigend anzulegen sei und was bei der einen bzw. der anderen Blickrichtung sich zeige – die Erläuterungen zur Dialektik, die auf das Linien-Gleichnis folgen, verschränken doch sofort beide Richtungen. Dabei kann auch an das Sonnengleichnis und die in ihm angedeutete Unterscheidung zwischen intelligibler und sensibler Sphäre angeknüpft werden. Denn ein Denken, das ›anhypothetos‹ ist, wie es in dreimaliger Variierung in diesem Sinnzusammenhang heißt, doch nirgends sonst im überlieferten platonischen Werk, wird sich auch rein erhalten müssen. Auf diese Weise löst sich die intelligible Sphäre der Ideen von den Bildern ab. »So verstehe denn auch, dass ich unter dem andern Teil des denkbaren dasjenige meine, was die Vernunft unmittelbar ergreift, indem sie mittels des dialektischen Vermögens Voraussetzungen macht, nicht als Anfänge, sondern wahrhaft Voraussetzungen als Einschritt [epibaseis] und Anlauf [hormas], damit sie bis zum Aufhören aller Voraussetzungen an den Anfang von allem gelangend, diesen ergreife, und so wiederum, sich an alles haltend was mit jenem zusammenhängt, zum Ende hinabsteige, ohne sich überall irgendetwas sinnlich wahrnehmbaren, nur der Ideen selbst an und für sich dazu zu bedienen, und so am Ende eben zu ihnen, den Ideen, gelange« (511b).

Die voraussetzungslose ›arché‹, der Grund, ist also mit der Idee des Guten zu identifizieren. Bedenkt man dies, so erweist sich der Versuch der Tübinger Platondeutung, das Liniengleichnis als Aufstieg zum Einen über eine nicht mehr textimmanente Erörterung jener in 510c angedeuteten geometrischen Grundformen (Gerade, Ungerade, Quadrat) und ihre Bezeugung seit den Pythagoreern zu rekonstruieren, als unbefriedigend. 100 Wird doch auf diese Weise nicht berücksichtigt, dass die mathematische Perspektive verlassen werden muss. 101 Man gerät dann in die Gefahr, auch das Eine, das sich schon bei Platon mit einem gewissen Recht mit der Idee des Guten identifizieren lässt, mathematisch fassen zu wollen. Zudem wird der Textbefund überdehnt: Sokrates nämlich legt in den fraglichen Abschnitten seinem Gesprächspartner Glaukon nur dar, was alles in den N. Hartmann, Platos Logik des Seins. Gießen 1909. Vgl. G. Reale, Zu einer neuen Interpretation Platons. Paderborn 1993, auch Krämer, Platons Ungeschriebene Lehre, a. a. O. 101 Darauf verweist auch Wieland, a. a. O., S. 150 ff. unter der Kennzeichnung ›Idee und Hypothese‹ sehr treffend. 99

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Umkreis der Messkunst gehört, und dass es in der hier zur Erwägung stehenden Grundfrage keinen einschneidenden Unterschied macht, ob die mathematische Hypothese in der Skizzierung eines Kreises oder Quadrates besteht oder in der hypothetischen Definition von Entitäten, Einser-Elementen, die es dann zu zählen gilt, auch wenn die seienden Dinge, die gezählt werden sollen, durchaus aufweisbar sind. Bemerkenswert bleibt indes, wie der Hörer des Sokrates hier auf die dialektische Wissenschaft verwiesen wird – auf kürzerem nichtdialektischen Weg und im Zuge eines bildlichen, genauer: geometrisch figurierenden Denkens. Wenn derjenige, der die Dialektik nicht geübt hat, in dieser Weise von ihr hört, wird es ihm gehen wie Glaukon. Er kann zwar verstehen, doch, wie Glaukon am Ende einräumt, »noch nicht genau« (511c). Was aber »genau zu verstehen« heißt, auch dies bleibt eine offene Frage.

Epistrophé: Das Höhlengleichnis und seine Selbstauslegung Das Höhlengleichnis ist Teil des Dialogs; es ist, wie es zu Beginn der Erläuterung heißt, mit dem Vorausgehenden zu verknüpfen (proshapteon (517b1)). Im kulturellen Gedächtnis hat es sich unverlierbar eingeprägt und seine Bilder sind unmittelbar einsichtig: die Troglodyten, die die Schatten der künstlich erhellten Gegenstände für die Realität halten und auch sich selbst nur als sprechende Schatten erkennen, der Zwang, der einen von ihnen nötigt, nach oben zu gehen, die allmähliche Gewöhnung des Blicks an die Wirklichkeit der Idee und die zweite Nötigung, in die Höhle zurückzugehen und von dieser Wirklichkeit Kenntnis zu geben. Einzig zum Höhlengleichnis entfaltet Platon einen Selbstkommentar. So lehrt eine erste Selbstinterpretation, dass mit der sinnlichen Welt im Sonnengleichnis der Bildzusammenhang der Höhle gleichzusetzen ist und mit dem Aufstieg aus der Höhle die Annäherung an die höchste Idee. Auch die Wissensformen des Liniengleichnisses erschließen sich in diesem Zusammenhang: die Wahrnehmung der Schatten in der Höhle gehört dem Bezirk von ›pistis‹ und ›eikasia‹ an (533e), zwischen denen innerhalb des Täuschungszusammenhangs freilich nicht klar unterschieden werden kann (534a). Ob innerhalb der Höhle die ›eikasia‹ als solche zu erkennen und mithin zu überwinden ist, bleibt offen. Der ›dianoia‹ ist aber in jedem Fall eine sehr ambivalente Bedeutung zugedacht: Sie 320 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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wird einerseits als Aufstiegsweg verstanden (532b), also als Lösung aus den Bindungen (lysis ton desmon), und andererseits als Umwendung (metastrophe) aus den Schatten zu den Bildern und zum Licht. Da die Idee blendet und ihre Überhelle nicht zu ertragen ist, halten sich die so Umgewendeten an Reflexe und Widerspiegelungen der Bilder (eidola), also der Ideen der Dinge, im Wasser. Dies sind nicht mehr Schatten von Bildern, sondern Reflexe der göttlichen Idee selbst. Die im Einzelnen befragenden Disziplinen (dianoia) zeigen dies. Ihnen werden deshalb auch die die Dialektik vorbereitenden Künste zugerechnet (532c), also die arithmetische Zähl- und die geometrische Messkunst. Ungenau wäre es, darauf weist Sokrates hin, wollte man sie schon Wissenschaften (epistemai) nennen (532c4 und 533d4). Dazu ist an die Erörterungen zum Liniengleichnis zu erinnern: »Denn wovon der Anfang ist, was man nicht weiß, Mitte und Ende also aus diesem, was man nicht weiß, zusammengeflochten sind, wie soll wohl, was auf eine solche Weise angenommen wird, jemals eine Wissenschaft sein können?« (533a). Der Begriff der Episteme soll also der Dialektik vorbehalten bleiben. Die wissenschaftlich argumentierende Erkenntnisweise, die Dianoia, so heißt es später, bedürfe eines Namens, der mehr besagt als Meinung (doxa) und doch dunkler ist als Wissenschaft (episteme) (533d). Sie ist also Voraussetzung der Idee des Guten. Ohne die Umwendung des Blicks würde die Wahrheit gar nicht sichtbar. Sie erschließt sich erst im Licht der höchsten Idee. Platon verdeutlicht dies mit dem Hinweis, dass die einzelnen Kenntnisse nur Prooimion für die gefügte Melodie (nomos) seien, die erlernt werden soll (531d). Die Idee des Guten selbst ist im Sinn des Höhlengleichnisses als eine plötzlich aufleuchtende Schau verstanden. Dies zeigen sowohl die Erzählung als auch die Selbstkommentare Platons. Im ›Phaidon‹ war ergänzend bemerkt worden (99c5 ff.), dass die Augen beim Blick in die reine Lichtquelle gefährdet werden. Das Leuchtendste (ekphanestaton) auszuhalten (518c9 f.), verlangt Gewöhnung. Dann erst kann man bei der höchsten Idee verweilen, die man zunächst wie eine jähe mystische Erfahrung gewahrt und die die Dinge so zeigt, wie sie in Wahrheit sind (516b6 f.) 102 Die Aszendenz zu dieser Idee erweist das Höhlengleichnis als einen jähen und nur durch Zwang bewerkstelligten Aufstieg aus der Scheinwelt der Höhle, in der sich auch die Dazu nochmals sehr prägnant Wieland, Platon und die Formen des Wissens, a. a. O., S. 125 ff.

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beteiligten Personen nur als Schattenbilder erkennen. Verbunden ist dies mit einem Schmerz, der sich zugleich als eine behutsame, schrittund phasenweise Blickänderung vollzieht (516a), die von den Schatten zum Ursprungslicht führt. Erst in der Verbindung der Aszendenz mit intuitiver Schau und der Gewöhnung an sie (516b8 und 517c1) beginnt der Denkende den Zusammenhang alles Seienden im höchsten Licht, von der Idee des Guten her, zu sehen. Damit wird auch erst verständlich, dass diese Idee das Prinzip der Denkbewegung ist (511c f.). Der Dialektiker ist an seinem Ziel angekommen, er hat den Gipfel der Betrachtung erreicht, wenn er der Idee des Guten ansichtig wird (519c): seine Reise hat, wie eine platonische Erläuterung zu verstehen gibt, ihr Ziel gefunden (telos tes poreiras, 532e). Der Rückgang führt auch zu einer veränderten Bezugnahme auf den Hinweg. 103 Sie bildet sich dann wie von selbst aus, ist doch die eine, einzige und wesentliche Orientierung einmal gewonnen, die nicht nachahmen zu wollen unmöglich sei (500c). Durch das Sinnbild der Ruhe ist noch einmal unterstrichen, dass die Idee des Guten einen Aufenthalt in ihrer Nähe gestattet. Indes bewegen sich diese Klärungen in der Nähe eines Gedankenzusammenhangs, der die Kehrseite des Wissens um die Idee des Guten erweitert und die Lehre von den absteigenden Herrschaftsformen eröffnet: Wer nicht imstande ist, die Idee des Guten in Unterscheidung von allem anderen zu bestimmen (534c), von dem kann nicht gesagt werden, dass er das Gute selbst erkenne und mithin auch nicht irgendein Gutes, das an der Idee des Guten wesenhaft Anteil hat (505c). Sein Dasein bleibt vielmehr, bestenfalls, ein Traum.

Das Bild der inneren Politeia und das wesentliche Wissen: Momente der »Philosophenherrschaft« Das nächstmögliche institutionalisierte Nachbild der Idee des Guten ist die Philosophenherrschaft. Sie macht die wahre ›Politeia‹ gegenüber den empirischen Politien deutlich. Diese Konfrontation wird im Zusammenhang der platonischen Tugendlehre einsichtig: Wenn man selbst im Besitz der richtigen Meinung ist, oder doch meint, es zu sein, kann man meinen, man hätte eine Einsicht in das Wesen der Einschlägig ist hier der Parmenides-Satz, dass der Hin- und der Rückweg dasselbe seien.

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Tugenden und damit hätte man unmittelbar an ihnen Anteil (432b). Tatsächlich hat man aber Paradeigmata, nebenher gezeigte Modelle und Abbilder der Tugenden zu Gesicht bekommen: die Gestalt des Gerechten und des Weisen (472d). Idealtypen sind noch nicht wahrheitsfinite Begriffe. Die Philosophenherrschaft ist atopisch. Es ist auffällig, dass Sokrates zuerst die Frage nach der realen Möglichkeit der idealen Polis, die er als Probierstein seines Entwurfs vom gerechten Staat anerkennt, aufschiebt. Er tut es aus Trägheit, wie er bemerkt (457e), sodann will er sie nur tastend und zögerlich angehen, da sie »gefährlich« sei (472b). Wieder begegnet die Gefahr, mit der wir uns im Zusammenhang der Idee des Guten konfrontiert sahen: dass sich Sokrates genötigt sieht, etwas zu lehren, worüber ihm doch nur eine Meinung, nicht aber ein Wissen eigen ist. Gescheitert ist die Realisierung bislang daran, dass Athen, ebenso wie jede andere Stadt auch, keine wirklichen Philosophen hervorgebracht hat. Platon zeigt, dass das Zusammentreffen von Philosophie und Macht ein göttliches Schicksal (theia moira) (VII. Brief 326b) oder eine ›theia tyche‹ sei (Pol 592a). Deshalb warnt er nachhaltig vor der möglichen Korrumpierung des Philosophen durch die Macht und heißt ihr gegenüber die Lebensform reiner Kontemplation gut. Die Polisbürger würden sich der gängigen Einwände gegen die Philosophenherrschaft bedienen, die Glaukon noch einmal resümiert. Sie könnten den wahren Philosophen nicht erkennen – wie auch, wenn es nie einen gegeben hat – und sie könnten ihn auch nicht vom Sophisten unterscheiden (vgl. 492a ff.). 104 Hier tritt die Differenzierung zwischen esoterischer und exoterischer Lesart besonders deutlich hervor: Das Unterscheidungswissen des Philosophen kann offensichtlich nicht als propositionales Wissen hinreichend gewonnen werden. Es erfordert, selbst eine philosophische Natur zu haben. Problematisch bleibt es sicher, mit Wolfgang Wieland das Wissen um die ›Idee des Guten‹ als nicht-propositional aussagbares Praxis-Wissen verstehen zu wollen. 105 Indes ist es keinesfalls überzeugender, wenn die Vertreter der Auffassung von Platons ungeschriebener Lehre der ›Idee des Guten‹ einen proportional fassbaren Inhalt unterstelVgl. dazu weiter unten zur (Selbst-)Unterscheidung der Wahrheit von der Täuschung und des Philosophen vom Sophisten. 105 Dazu wieder Wieland, Platon, a. a. O., Dazu auch die grundlegende Arbeit von M. Polanyi, Personal Knowledge. Towards a post-critical Philosophy. London 1973. 104

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len wollen, der sich aus vereinzelten Testimonien rekonstruieren lasse, zumal dann völlig unverständlich bleibt, weshalb diese Idee in einem intellektualen Sinn »geschaut« werden soll (theastai). Diese Schieflage wird besonders deutlich, wenn sie bemerken, Sokrates habe doch eine ›Meinung‹ von dieser höchsten Idee gehabt, als ob sie durch irgendeine Meinung überhaupt getroffen werden könnte. In aller Vorläufigkeit kennzeichnet der platonische ›Charmides‹ das Problem, wenn er darauf verweist, dass es ein Wissen des letzten Wissens deshalb nicht geben kann, da dadurch in eine Iteration gewiesen wäre, das so gewusste Wissen also nie als letztes Wissen namhaft gemacht werden könnte. »Wissen des Wissens« kann die höchste Idee also offensichtlich nicht in dieser iterativen Weise sein. Es ist einerseits ein unmittelbares Wissen, eine Gewissheit, die andererseits auf alle Formen propositionalen Wissens ausstrahlt. Insofern kann es zur Umwendung (periagogé) der Seele und zur Leitung (hegemonikon) aller menschlichen Vermögen werden. 106 Indirekt wird dieser tiefliegende Charakter der Idee des Guten beleuchtet, wenn von den Gefährdungen des noch nicht gereiften jungen Philosophen die Rede ist. Er wird sich selbst als Philosoph wahrnehmen und sich als solchen bespiegeln. Dieses reflexionshafte 107 Wissen des Höchstbegabten von sich als einem Philosophen ist freilich dem Begriff des Philosophen entgegengesetzt. Es folgt, wie der Text zu verstehen gibt, der Fremdzuschreibung. Anhalt hat es daran, dass der Betreffende von seinen Mitbürgern (oikeioi) (494b) zu früh geehrt und befragt wird. Deshalb sieht der Bildungsweg der ›Politeia‹ die ständige Überprüfung in der politischen Praxis vor. Das Wissen vom Philosophen, das nur dem Philosophen sich erschließt, ist gleichwohl angebbar. Es ist also nicht nur Praktik und es ist nicht nur verborgenes Arkanum. Unbestimmt bleibt allerdings zunächst der Begriff des Philosophen. Einen Dialog ›Philosophos‹ hat Platon bekanntlich nie geschrieben; der ›Sophistes‹ unternimmt die weitestgehende Einkreisung des Begriffs. Die Unterscheidung zwischen ›episteme‹ und ›doxa‹ geht dem Bild von der Herrschaft der Philosophenkönige voraus. Exponiert

Vgl. grundlegend D. Ross, Plato’s Theory of Ideas. Oxford 21951; siehe auch G. Patzig, Platons Ideenlehre, kritisch betrachtet, in: Antike und Abendland 16 (1970), S. 113 ff. 107 Dazu wiederum B. Zehnpfennig, Reflexion und Metareflexion bei Platon und Fichte, a. a. O. 106

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wird hier in der Zwiesprache mit Glaukon, ausgehend vom Beispiel des Knabenliebhabers und des Ehrliebenden, dass nur dann davon gesprochen werden könne, jemand liebe etwas (philounta ekeinou) (474c), wenn er ihm ganz und gar zugetan sei und nicht einiges von der Art liebe, je nachdem, worauf die Wahl und das Entzücken fällt. Die Argumentation wird in Analogien geführt. Es steht also gleichermaßen die Unterscheidung zwischen dem wahrhaft Schönheitsliebenden und dem von einzelnen Reizen Angezogenen und zwischen dem Philodoxen, dem Schau- und Hörlustigen, und dem Philosophen an. Diese Verbindung hat nicht nur Beispielcharakter: Es sind die Philosophen, nicht die Scheinliebhaber oder die in der Sinnenwelt befangenen Hörbegierigen (476b), die sich dem Schönen selbst zu nähern und es zu betrachten vermögen, wie es an sich ist (ten physin idein). Hier besteht, bei aller sonstigen Differenz, eine analogische Verbindung zwischen Meinung und Wissenschaft. 108 So lässt es sich auch verstehen, dass Platon immer wieder ein Wissen um die sinnlichen Dinge anerkennt (vgl. Menon 98a, Theaitetos 201a–b) und dass er ebenso einräumt, über Ideen könnten bloße Meinungen geäußert werden (Politikos 506; Timaios 27d). Die höchste Idee ist aber nicht mehr Teil von Forschung, Argumentation und Begründung. Sie ist Blick, intellektuale Anschauung: Die Schaulust kann deshalb zum Tertium comparationis werden. Die Philosophen sind »schaulustig nach der Wahrheit« (475c). 109 Der Sache nach ist an dieser Stelle zu fragen, ob und inwieweit sich denn Wahrheit sehen lasse. Sokrates räumt gegenüber seinem Gesprächspartner Glaukon ein, dass dies nicht leicht zu erklären sei. Als Erläuterung führt er dann an, dass alle Logoi von Tugenden (Bestheiten) wie ›gut‹ oder ›gerecht‹ für sich eines seien, dass sie aber, sofern sie an körperlichen Dingen und Handlungen haften, jeweils als vieles erscheinen (polla) (476a). Richtete sich der Blick allein auf die Wahrheit, dann, so lehrt unser Zusammenhang, käme lediglich dies Einssein zur Spra-

Zu deren Konstruktion und Rekonstruktion wieder Wieland, Platon und die Formen des Wissens, a. a. O., S. 196 ff. und S. 309 ff. 109 Der frühgriechische Begriff der ›Theoria‹ verband sich mit sinnlicher ›Schaulust‹, die aber auf einen sinnlich nicht vollständig zu ermittelnden Zusammenhang bezogen ist. Vgl. dazu J. Ritter, Die Lehre vom Ursprung und Sinn der Theorie bei Aristoteles, in: Veröffentlichungen der Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen, Geisteswissenschaften 1 (1953), S. 32 ff. 108

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che, nicht die Vielheit. Dies ist in der ontologisch-gnoseologischen Orientierung des Philosophenherrschers der Fall. 110 Unter den Voraussetzungen des Ideen-Wissens bedarf es der Frage nach der Möglichkeit der Philosophenherrschaft im eigentlich philosophischen Sinne nicht. Sie ist für den, der um die Idee des Guten weiß, eine selbstevidente Notwendigkeit. Denn wie Robert Spaemann treffend gezeigt hat, erweist sich die ›Idee des Guten‹ dadurch als »jenseits des Seins« (epekeina tes ousias), dass sie »auch jenseits der Unterscheidung von Allgemeinem und Besonderem« verortet ist, 111 die die einzelnen Ideen noch bestimmt. Wie die drei Gleichnisse zu verstehen gaben, ist der Bereich der ›Idee des Guten‹ nicht mehr der Bereich einer Lehre von den zwei Welten, der Unterschiedenheit von Abbild und Urbild. Er begründet vielmehr das Verhältnis des Urbildes zu den Abbildern. Damit ist auch gegenüber dem Tun des Guten keine Indifferenz mehr aufrechtzuerhalten. 112 Angesichts dessen ist das Wissen um das Ganze zugleich ontologisches Weltwissen und praktisches ethisches Wissen, das auf das je einzelne geht: Erst ein solches Wissen ist geeignet, die Menschen wirklich zu bessern, und es ist schlechterdings nicht korrumpierbar (500c); es fordert aber aus sich heraus die Manifestierung in der Wirklichkeit. Da dem so ist, können in der Skizze des Bildungsganges der Philosophenherrscher die Reifejahre gleichermaßen dem kontemplativen Studium und der politischen Engagiertheit zugewiesen werden (473e). Eine Einseitigkeit im einen wie im anderen Fall würde zur Polis-Führerschaft ab dem fünfzigsten Jahr nicht mehr qualifizieren. Die Differenz zwischen jener Welt, in der der Philosoph lebt, und der Polis-Wirklichkeit wird durch die Fragen Glaukons noch einmal präzise ausgesprochen: »Auch ich, sprach er, teile die Meinung, so gut ich eben kann [tropon dynamei]« (517c). In einer Variante bestimmt diese Ambivalenz auch die Erzählung von der Rückkehr des Philosophen in die Höhle. Platon gibt ihr

Dazu H. J. Krämer, Das Problem der Philosophenherrschaft bei Platon, in: Philosophisches Jahrbuch 74 (1966/67), S. 25 4 ff., siehe auch J. Annas, An Introduction to Plato’s Republic. Oxford 1981. 111 Dazu Krämer, Epekeina tes ousias. Zu Platon, Politeia 509b, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 51 (1969), S. 1 ff. 112 Vgl. R. Spaemann, Die Philosophenkönige, in: Höffe (Hg.), Politeia, a. a. O., 168. Siehe auch Krämer, Das Problem der Philosophenherrschaft bei Platon, in: Phil. Jahrbuch 84 (1967), S. 254 ff. 110

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zunächst das Ansehen der Freiwilligkeit (516d1 f.). In der Auslegung des Höhlengleichnisses heißt es aber auch, dass durchaus zu erwarten sei, dass der Philosoph, der die Idee des Guten geschaut habe, nicht mehr Neigung hätte, sich weiter um die allgemeinen menschlichen Belange zu kümmern (517c). Die Nötigung spielt, wie wir sahen, in der auf- und der absteigenden Richtung eine Rolle. Dies bedeutet auch, dass zum Blick auf das Gute selbst die Besten genötigt werden müssen (515d). Vor diesem Hintergrund sind die Aussagen über die ideale Polis nicht nur als ›euché‹ aufzufassen, als ein unverbindlich schöner Wunsch, sondern als Anzeige eines ernsten Problems. Bereits der Thrasymachos-Dialog enthält eine Andeutung in diese Richtung, wenn davon die Rede ist, dass die Guten nicht ohne Notwendigkeit (ananke) regieren würden. Der größte Zwang, der auf sie ausgeübt werden kann, ist die Aussicht, von Schlechteren beherrscht zu werden, als sie selbst es sind (347b f.). Mithin heißt es an der zitierten Stelle weiter, dass es unter den Besten eher für schändlich gelte (aischron nenomísthai), wenn jemand ohne Notwendigkeit regieren wolle. 113 Die in mehrfachen Facetten entfaltete Differenz zur wirklichen Polis ist so tief im Gedanken vom Idealstaat verankert, dass sie innerhalb seiner nicht aufgelöst werden kann. Auf diese Weise wird die Wirklichkeit in die Frage nach dem idealen Staat eingeführt. Denn die Wesensbestimmung des Philosophen, seine Bezogenheit auf die Idee des Guten, ist selbst göttlich. Gleichwohl aber gehört er derselben Art an wie die Herde: Dies ist, wie der späte Dialog ›Politikos‹ zeigt (v. a. 275b), der Inbegriff der Aporie. Seiner Idee nach genommen müsste der Philosoph ein Gott sein – nicht berührt von der menschlichen Schwäche. Dem ist aber nicht so. Hier ergeben sich zwei Möglichkeiten: die Gründung einer Polis in der Polis, eben die platonische Akademie, und der zweitbeste Weg eines wahrheitsfähigen Mythos. Ihn wird Platon in den ›Nomoi‹ einschlagen.

Siehe dazu auch Maurer, Platons ›Staat‹ und die Demokratie, a. a. O., S. 218 ff., sowie Chr. Horn, Platons episteme-doxa-Unterscheidung und die Ideentheorie, in: Höffe (Hg), Politeia, a. a. O., S. 291 ff., sowie A. Graeser, Platons Auffassung von Wissen und Meinung in Politeia V, in: Philosophisches Jahrbuch 98 (1991), S. 365 ff.

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VI. ›Nomoi‹ – Ein Ausblick Der Gott oder der Menschen einer: Die Stiftung der Gesetze und die nomologische Paideia Die standardisierte Formulierung, wenn es darum geht, den Charakter der ›Nomoi‹ gegenüber der ›Politeia‹ zu bestimmen, ist, dass hier der Ideenhimmel auf die Erde und in eine konkrete Mustergesetzgebung heruntergeholt werde. 114 In diesem Sinn kann man tatsächlich wesentliche Bestimmungen der ›Nomoi‹ lesen, in denen nicht die Idee des Guten, sondern das »mögliche Beste« in einer bestimmten Situation den Ausschlag gibt. Damit verbindet sich aber keineswegs ein Konzeptionswechsel: An entscheidender Stelle bemerkt der Athener, dass man zuerst auf das Urbild geblickt haben müsse, danach auf das Abbild. Dies bestätigt sich bereits mit dem ersten Wort des großen Lehrgesprächs, das drei alte Männer auf dem Weg in das Idagebirge am längsten Tag des Jahres beginnen – ›theos‹ (624a) lautet dieses Wort und ist Teil einer fundamentalen Frage: »Gilt ein Gott oder der Sterblichen Einer bei Euch, ihr Gastfreunde für den Urheber Eurer Gesetzgebung?«. Obwohl sie aus unterschiedlichen Städten, aus Athen, Sparta und Kreta stammen, sind sie sich einig, dass das Gesetzgebungswerk letztlich auf einen göttlichen Ursprung zurückgeführt werden muss. Die Götterlehre in Buch X der ›Nomoi‹ bekräftigt dieses erste Wort. Es ist auffällig, dass noch jenseits der Dialektik und über sie hinausweisend eine Theologie exponiert wird, die auch in den Institutionen der Polis (Buch XII) einen festen Ort haben soll. Nicht zuletzt deshalb genießt das Gesetzgebungswerk auch eine solche Hochachtung, da es letztlich auf eine göttliche Weisung zurückgeführt wird. Der Gesetzgeber dürfte eigentlich nicht aus derselben Herde stammen wie diejenigen, denen er die Gesetze gibt – eine Aussage, die auch im ›Politikos‹ wiederkehrt. Ebenfalls im I. Buch wird als höchstes Ziel des politischen Lebens der Friede betont. Dies verbindet ihn mit der Philosophie, die, wie einige platonische Dialoge in der Auseinanderset-

Dies ist ein gängiger Topos der – zumal älteren – Nomoi-Forschung, der sich auch auf einige Momente in Platons Selbstcharakteristik berufen kann: Vgl. E. Sandvoss, Soteria. Philosophische Grundlagen der platonischen Gesetzgebung. Göttingen 1971 und T. J. Saunders, Plato’s Penal Code. Tradition, Controversy and Reform in Greek Penology. Oxford 1991.

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zung mit Sokrates’ Gegnern zeigen, auch zu einer umfassenderen Befriedung führen soll. Bewährung findet gleichermaßen im Kriegs- wie im Friedenszustand statt. So wird eingangs festgehalten, dass das Leben in der Polis nicht nur die Tapferkeit, sondern die allseitige Tugend jeden Bürgers festigen solle (628e). Die Präfiguration des Bürgerbegriffs, der ›politike koinonia‹, in der aristotelischen ›Politik‹ zeichnet sich hier besonders deutlich ab: Durch das Leben in einem geordneten Gemeinwesen erst kann der Einzelne als Mensch und Bürger zu der größtmöglichen Autarkie und Festigung kommen. 115 Nicht der Sieg in auswärtigen Konflikten, sondern der innere Frieden innerhalb der Bürgerschaft ist das genuin politische Ziel (625c). Damit ist eine Unterscheidung getroffen, die Machtkalkül und Kratik einerseits von Politik andererseits trennt, so strittig dies auch auf dem Weg der Politischen Ideengeschichte bis hin zu Carl Schmitt blieb. 116 Auch auf die Güterordnung, die Platon im ›Philebos‹ umrissen hatte, findet sich in den ›Nomoi‹ eine Resonanz: Die Polis bewirkt umfassende Glückseligkeit, den Besitz der wünschenswerten und möglichen Güter in der erwünschten Ordnung und Rangfolge (630d). Außerhalb von ihr ist ein solches autark glückseliges Leben also offensichtlich nicht zu erreichen. Ein besonderer Akzent liegt daher schon im I. Buch auf der Kultivierung der Besonnenheit (phronesis), die zugleich als Selbstbeherrschung (enkrateia) bestimmt wird. Auch hier erinnert man sich an frühere Überlegungen: In der Auseinandersetzung mit den Sophisten war von Platon immer wieder betont worden, dass man stärker sein müsse als man selbst, wenn man den Leidenschaften gewachsen sein wolle. 117 Dies ist Inbegriff der Besonnenheit. Sie schließt dem ersten Buch zufolge die Tapferkeit ein. Die Besonnenheit weist sie in ihre Schranken und macht sie sich so nutzbar. Damit verbindet sich eine Distanzierung von den spartanischen Polis- und Erziehungszielen. Ein lakedaimonisches Bildungsdogma wird gleich außer Kraft gesetzt: die Ächtung der Symposien. Vgl. dazu G. Bien, Die Grundlegung der politischen Philosophie bei Aristoteles, a. a. O. Siehe auch M. Riedel, Bürgerliche Gesellschaft, a. a. O., S. 35 ff. 116 Vgl. zu den Gegenkonzeptionen der Frage nach dem guten Leben H. Seubert, Gesicherte Freiheiten. Eine politische Philosophie für das 21. Jahrhundert. Baden-Baden 2015, vor allem S. 181 ff. 117 Dazu Th. A. Szlezák, Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie, a. a. O., S. 120 ff., siehe auch P. Stemmer, Der Grundriss der Platonischen Ethik, in: ZPhF 42 (1988), S. 529 ff. 115

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Selbstbeherrschung nämlich, so das durchgehende Argument, muss sich nicht nur in gefährlichen Situationen, wie beispielsweise im Krieg, bewähren, sondern auch gegenüber Lust und Begierde. Dies wird dadurch präzisiert, dass der Athener, der die Rede führt, zwei Arten von Furcht unterscheidet: Die erste entzündet sich an gefährlichen Situationen. Sie schließt eine unterscheidungsfähige Kenntnis über das, was furchtbar ist, und über das, was es nicht ist, ein. Die andere Art der Furcht ist die Scham, zunächst konventionell die Sorge, dass man in der Meinung anderer sinke. Eingeübt werden kann die Tapferkeit dadurch, dass die jungen Bürger frühzeitig in gefährliche Situationen gebracht werden. Umgekehrt sollen aber auch Symposien unter nüchternen Leitern veranstaltet werden, in denen die enthemmende Wirkung des Weins erprobt und im Zuge dessen geprüft wird, wie die jungen Menschen ihr standhalten. Der Weingenuss sei gleichsam ein kathartisches Instrument: Die Enthemmung fördere Gründe und Abgründe in der Seele zutage und zeige mithin, wie ein Mensch geartet ist. Im ›Symposion‹ war ein sublimiertes Gastmahl vorgeführt worden, in dem man sich nicht durch Getränke, sondern durch Reden berauscht. So weit gehen die Anordnungen in den ›Nomoi‹ nicht. Sie legen aber einen kultivierenden und bewussten Umgang mit dem Rausch nahe. In den Rahmen dieses Exkurses über den Rausch und den Maßstab über den rechten Gebrauch (673d) wird die Paideia-Lehre der ›Nomoi‹ eingefugt. Sie hat manche Züge mit der Paideia-Lehre der ›Politeia‹ gemeinsam, setzt aber zugleich eigenständige Akzente. Der Zusammenhang zwischen Mythen und Götterlehre, und damit der Theologie, tritt deutlich zurück. Die Paideia wird vielmehr in einem aus Lust und Vernunft gemischten Leben angesiedelt. Schlüssel ist, dass die Freude, die bei den Besten und Gebildetsten erregt werden könne (657c), Maßstab für Freude überhaupt sein solle. Nicht nur das Denken, sondern gerade die Empfindung müssen demnach gebildet werden, und die Paideia hat sich darin zu bewähren, dass die richtigen Lust- und Schmerzempfindungen (653a) erregt werden. Dies geschieht durch Gewöhnung, in Festen und Aufführungen. Eine Haltung (hexis) soll damit wachgerufen werden, die die Lebensform der jungen Menschen ganz und gar durchdringt. Schlechte Kunstwerke sind zugleich in einem ethischen Sinn »schändlich«. In anachronistischer Sprache könnte man sagen, dass Platon damit auf eine Konvergenz von Ethik und Ästhetik zielt. Nur durch ihre Verbindung

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mit der ganzen Tugend sind Gesang oder Tanz, aber auch andere Bewegungen überhaupt schön. Wie im ›Kritias‹ und im Vorspiel des ›Timaios‹ wird auch in den ›Nomoi‹ ein Blick auf die Ägypter geworfen: Sie hätten erkannt, dass man »die jungen Männer in den Staaten an schöne Tanzbewegungen und an schöne Tonweisen gewöhnen« (656d) müsse. An einer späteren Stelle wird es in den ›Nomoi‹ heißen, dass das Gesetzeswerk, das sie aufgestellt hätten, »die schönste Dichtung« sei. Eine meta-poetische Dimension tritt sogleich zutage: Im Paideia-Abschnitt des II. Buches wird jener Grundsatz, der als Zielbestimmung in der ›Politeia‹ gelten kann und wonach das gerechteste Leben auch das glücklichste Leben ist (661d), als die Lehre statuiert, die die Dichter verkünden sollen. Jener Satz soll unumstößliche Bedeutung gewinnen, denn er würde das Prinzip der Freiwilligkeit in allen politischen Verrichtungen etablieren. Die doppelte Wahrheit, die wir gerade im V. Buch der ›Politeia‹ kennengelernt haben, findet indes in einer besonders abgründigen Weise auch Eingang in die ›Nomoi‹ : Selbst wenn diese Aussage eine Lüge wäre, wäre sie aufgrund ihres Nutzens für die gute Polis gerechtfertigt. Die Einprägung einer Haltung erfordert nach der Lehre des Atheners besonders öffentliche und chorische Aufführung und Teilhabe daran. In den ›Nomoi‹ werden drei Chöre unterschieden (664c): ein erster Chor von Knaben, der als Musenchor figuriert, und ein zweiter Chor von jungen Männern unter 30 Jahren, ein ApollonChor, der den Päan singt und damit die Wahrheit des Grundsatzes der Gesetze bezeugt. Doch auch ein dritter Chor aus Greisen soll zugelassen sein, der ausdrücklich als Dionysos-Chor charakterisiert wird. Dies ist gegenüber den Bestimmungen zur Musenkunst in der ›Politeia‹ eine bemerkenswerte Neuerung. Dort war eindeutig zwischen ›rhesis‹ (Beschreibung) und ›mimesis‹ (Nachahmung) unterschieden worden. Nur die erstere, die nüchterne Darstellung, ist für die Neophyten zu empfehlen. Das Risiko einer Mimesis wäre viel zu hoch, wenn denn nicht nur gute, sondern auch ambivalente oder gar schlechte Eigenschaften nachgeahmt werden. 118 Aristoteles wird in seiner ›Politik‹ diese Differenzierung in genauer Entsprechung aufnehmen. Vgl. Saunders, Plato’s Penal Code; vgl. auch Benardete, Plato’s Laws. The Discovery of Being. Chicago 2000; sowie F. L. Lisi, Einheit und Vielheit des platonischen Nomosbegriffes. Königstein/Ts. 1984.

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Die ›Nomoi‹ weichen davon sehr deutlich ab: Der DionysosChor der Alten ist für die Gesetzgebung und die Ordnung der Seelenharmonie besonders wichtig. Dionysos wird also in ähnlicher Weise entsühnt, wie Platon dies im III. Buch der ›Politeia‹ für alle Gottheiten gefordert hatte: Man dürfe sie niemals zu Urhebern von Schlechtem erklären. Die Alten sollen durch Weingenuss dazu gebracht werden, dass sie überhaupt singen, denn im Allgemeinen werden sie sich davor scheuen. Auf die Frage, was sie denn singen sollten, wird festgehalten, dass es keineswegs die Lieder der anderen Chöre seien (606e). Den Schritt, der über diese kindliche Paideia hinausgeht, bezeichnet der Athener als jenen Schritt, der über eine nur militärische und primär auf die Tapferkeit fundierte Ordnung hinaus- und auf eine in Wahrheit bürgerliche Ordnung hinführt. Der Spartaner Kleinias bemerkt deutlich, dass damit die spartanische Gesetzgebung »herabgesetzt« wird (607a). In jedem Fall wird sie nur in engen Grenzen als normativ anerkannt. Die dionysische Kunst verbindet sich also mit der Harmonie und Zusammenstimmung der ganzen Polis. Dies hat, wie die einschlägigen Bestimmungen durchgehend zu verstehen geben, nichts mit Virtuosität zu tun. Die alten Männer werden nicht mehr zum klaren, strahlenden Gesang gebracht werden können. Doch sie kennen nicht nur Harmonien und Rhythmen, sondern auch die Richtigkeit der Darstellung (670e). Diese bemisst sich nicht nach der Lust oder dem Vergnügen, das in einer Kunstübung erregt wird, sondern nach deren Richtigkeit (668a). Erforderlich sei also die Kenntnis des Urbilds. Dies wird von dem Athener in einer ausgreifenden Begründung gesagt, die ebenso auf Bildwerke wie auf Musik und Skulptur bezogen ist. Man kann darin das Gegen- sowie das positive Komplementärstück zu der Dichterkritik in Politeia X erkennen. Die Alten des Dionysos-Gesangs haben demnach das phyturgische Wissen, das nach der ›Politeia‹ über die Beurteilung der Kunst entscheidet. Sie explizieren also eine Kunstform, die die Kenntnis der Ideen voraussetzt und im Sinn der wahrhaften, philosophischen Rhetorik im ›Phaidros‹ zu verstehen ist. 119 Offensichtlich wird das dionysische Element damit sublimiert und in den unmittelbaren Umkreis der Kenntnis des Wahren und der Idee versetzt. Damit klärt sich aber auch umgekehrt weiter, dass Platon mehrfach in den Sokratesdialogen die bacchantische, taumeln-

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Dies auch die Deutungstendenz bei Benardete, Plato’s Laws, a. a. O.

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de Ekstase als Stimmung der Philosophie benannt hatte und keineswegs die apollinische Klarheit. Sokrates gerät in Ekstasen, die ihn nicht mehr wissen lassen, wer und wo er ist. Neben der Anspielung auf die Eleusinien, die größeren und kleineren Einweihungen, ist dies ein weiterer Nervus Probandi, an dem die platonische Philosophie mit der mythologischen Welt konkurriert und sich damit zugleich als der ›wahre Mythos‹ zu verstehen gibt. Die wahren Dionysien sind die der philosophisch gegründeten guten Einsicht, die man erst in einem ganzen langen Leben bezeugt finden wird.

Das bleibend Gute – oder: Werden und Vergehen In vielfacher Hinsicht entsprechen die ›Nomoi‹ gar nicht den Erwartungen an einen platonischen Dialog. Man findet jene langen Lehrreden, oftmals bis ins Detail von Einzelgesetzen präzisiert, die Sokrates im Regelfall in seinen Dialogen ausgeschlossen sehen wollte. Denn solche langen Reden, auf die sich die Sophisten verstanden, verhindern die Nachfragen und damit die Dynamik von Rede und Gegenrede. Vor allem erlauben sie nicht, die jeweiligen Behauptungen zu befragen und zu bezweifeln, so wie dies für die sokratische Befragungskunst erforderlich ist. 120 Nur stellenweise und in markanten Einschlüssen, etwa bei der Paideia-Gesetzgebung und der Benennung des Eigenwertes der Mathematik, werden elenchtische Passagen mit kurzen Redewechseln, mit Frage und Antwort, einbezogen. Gegenüber der ›Politeia‹ ist auffällig, dass die ›Nomoi‹ in das anfänglich Wahre der Geschichte einführen sollen. Exhortativ wird an einer prominenten Stelle bemerkt, dass man sich mit den Gedanken in die wirkliche Geschichte versetzen solle (genometha de tais dianoiais en to tote chrono) (Nomoi 683c). Damit richtet sich das Augenmerk auch stärker als in der ›Politeia‹ auf die Bewegung, das zur-Erscheinung-Kommen dessen, was ist. Georg Picht hat dies als Einfinden »in der vergangenen Zeit« beschrieben, so, »als ob sie un-

Vgl. dazu V. Gerhardt, Die erste Lehre von der Verfassung – Der Beitrag der ›Nomoi‹ zur Theorie der Politik, in: B. Zehnpfennig (Hg.), Die Herrschaft der Gesetze und die Herrschaft des Menschen – Platons ›Nomoi‹. Stuttgart 2008, S. 13 ff., siehe auch Zehnpfennig, Die Anwesenheit des Philosophen und die Gegenwärtigkeit des Rechts – Platons ›Nomoi‹, in: ibid., S. 265 ff.

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sere Gegenwart wäre«. 121 Indirekt wird damit auf ein »inneres Auge« verwiesen, wie es in der vorsokratischen Philosophie als ›noos‹, also als ›nous‹, erwiesen wird. 122 Erst dieses göttliche Vergegenwärtigungsvermögen führt dazu, dass die eigene Zeit verlassen und in eine tiefere Schicht überführt werden kann. Im Licht solcher Motive ist der spezifische Ansatz der ›Nomoi‹ in den Blick zu nehmen. Sie nähern sich weitergehend der Frage der Polis in Bewegung, in Entstehen und Vergehen. Es ist also nicht nur darum zu tun, die reine und beste Polis an einem Paradigma zur Ansicht zu bringen; vielmehr geht es um ihre Realisierung in der geschichtlichen Welt, im Wechsel von Werden und Vergehen. Die Verfassung (politeia) wird dabei in ständiger Verflechtung mit der Frage nach dem Nomos entwickelt. So heißt es im Dialog ganz programmatisch, dass die Unterhaltung wechselseitig »über Politik und Gesetze« (peri te politeias kai nomon) reflektieren solle (Nomoi 625a). Dabei wird auch verdeutlicht, dass die Gesetze auf die Gründung der Polis bezogen sind. Die Rede ist von der ›diathesis‹ der Gesetze (624a), wobei der Begriff ›nomon diatithenai‹ nicht auf einen Akt der Setzung hinweisen muss, sondern auch eine Verteilung bezeichnen kann, die in der Verfassung geordnet wird. Es kann eine Verteilung von Land oder von Ämtern sein. Sie hat den Stadtstaat in jedem Fall nach dem richtigen Maß zu ordnen. Zu Beginn des dritten Buches der ›Nomoi‹ wird im Sinn dieser Wendung zu Zeit und Geschichte nach der ›arché‹ nicht im Sinn des Ideenprinzips, sondern eines anfänglich Wahren gefragt. 123 Zu suchen sei nach einem Gesichtspunkt, der nicht der nächstliegende sein kann, sondern dem der Fortgang zu entnehmen ist, in einem Wachstum (epidosis), das zur Steigerung der Polis, aber auch zum Untergang führen kann. Es ist also offensichtlich in den ›Nomoi‹ nicht möglich und nicht beabsichtigt, aus dem Fluss von Werden und Vergehen herauszutreten. 124 Es kommt nicht zu einer der Zeit enthobenen IdeatiPlatons Dialoge, a. a. O., S. 207. Vgl. auch Neschke-Hentschke, Politik und Philosophie bei Plato und Aristoteles, a. a. O., S. 264 ff. 122 Dazu Picht, a. a. O. pass. Behutsamer auch bei Benardete, S. 56 ff., siehe auch Seubert, Polis und Nomos, a. a. O., S. 475 ff. 123 Seubert, Polis und Nomos, a. a. O., S. 470 ff. Nach diesem anfänglich Wahren in der Zeit fragen in der Neuzeit je spezifisch auch G. Vico und Montesquieu; zu letzterem Seubert, Gesicherte Freiheiten, a. a. O., S. 203 ff. 124 Dazu D. Scolnicov und L. Brisson (Hg.), Plato’s ›Laws‹ : From Theory into Practice. Proceedings of the VI. Symposium Platonicum. Selected Papers. St. Augustin 2003. 121

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on. Platon verweist auf »die unendliche Länge der Zeit und der Veränderungen, welche innerhalb derselben vor sich gehen« (676a f.). Unendlichkeit ist dabei wohl vor allem im Sinn von Nicht-Zählbarkeit zu verstehen. Die Kenntnis der Gesetze als Verhältnisse, als Relationen zu Klima, Kultur, Geschichte, wie sie Montesquieu später profilieren sollte, rückt daher zumindest in die Nähe. Das Gesetz erlaubt es, den Wandel (metabole) zu verstehen, der gleichermaßen Entstehen (genesis) und Vergehen (pthora) ist (976c). Damit soll zugleich ein Zeitraum in den Blick genommen werden, während dessen »tausend und abertausend Poleis« entstanden und wieder untergegangen seien (676b). Wenn in der ›Politeia‹ und im ›Timaios‹ nach der Polis in Bewegung gefragt wurde, so geht es in den ›Nomoi‹ ergänzend darum, die Ursachen (aitiai) dieses Wandels zu ergründen. Erst davon abgezogen soll eine idealtypische ›prote genesis‹ der Poleis überhaupt gewonnen werden. Mit aller Vorsicht kann man doch diesen Zeitcharakter mit jenem im ›Timaios‹ in ein Verhältnis setzen, in dem Zeit bekanntlich als »endliches Abbild des Ewigen nach der Zahl« (Timaios 37d) bestimmt wird. 125 Die Verbindung zur Zeitlichkeit nötigt aber zugleich zu einem genaueren Blick auf deren göttlich sanktioniertes Inneres. Sobald in den ›Nomoi‹ der Übergang von der mythischen Urstiftung in die im strengen Sinn geschichtliche Zeit vollzogen ist, setzt die Fragebewegung neu ein. Die Untersuchungen könnten sich nun, so merkt der Athener an, da sie auf gewordene Begebenheiten (ergois genomenois) gestoßen seien (683e3), auf wirklich Geschehenes, auf Geschichte, beziehen und nicht nur auf den reinen Logos. Wenn man diesen Satz so akzentuiert, wie es erstmals Georg Picht und Konrad Gaiser getan haben, 126 so ist hier tatsächlich ein platonischer Weg in die Geschichte erkennbar. Zeit und Geschichte – und damit Bewegung – werden in der Denkform der ›Nomoi‹ in überraschender Weise und gegen ein gängiges Platon-Bild zentral. Parallel kann auf die Aussage aus dem ›Sophistes‹ verwiesen werden, dass die Gestalten der geschichtlichen und politischen Wirklichkeit ›pragmata tes aletheias‹ (Sophistes 234d) seien, also Sachverhalte der Wahrheit. Das Gesetzeswerk seinerseits ist damit nicht als statisches Gebilde zu erfassen. Dazu L. Brisson, Le même et l’autre dans la structure ontologique du Timée, a. a. O. 126 Vgl. G. Picht, Platons Dialoge, a. a. O., S. 158 ff. Siehe auch K. Gaiser, Platon und die Geschichte. Stuttgart, Bad Cannstatt 1963. 125

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Es zieht, wie es auf einer Linie von Aristoteles über Montesquieu bis Hegel dann deutlich werden wird, die Summe der politischen Genealogie. Die vordergründige Frage lautet daher, welches Gesetz gerecht und welches nicht gerecht sei und welches daher Tadel, welches Lob verdiene (683b). Dies bedeutet auch, in Orientierung an der Aitiologie des Anaximander: »Welche Gesetze erhalten das aufrecht, was bleibt, und welche richten das zu Grunde, was zu Grunde geht?« (ibid.). Wie schon zu Beginn des III. Buches bemerkt worden war, ist es erforderlich, vom aktual Gegebenen abzusehen und auf die Prinzipien aufmerksam zu werden (676c). Eine dritte Fragedimension richtet sich auf die »mögliche Zukunft«, die Erwartung (elpis) 127 – eine Grundstimmung, die sowohl Hoffnung als auch Furcht vor dem Ausstehenden sein kann. 128 Die ›Nomoi‹ zeigen also deutlicher als der Aufriss in der ›Politeia‹, dass es nicht möglich ist, aus dem Zusammenhang der geschichtlichen Entwicklung herauszutreten. Sie fragen nicht nach dem Urprinzip der Idee, sondern nach dem Stand- und Sichtort, von dem aus der Ursprung der Polis angemessen in den Blick gebracht werden könne (676a). Es muss ein Blickpunkt sein, der zurück und nach vorne zu sehen erlaubt, der also das Wachstum (epidosis) in den Blick nehmen lässt, das ebenso zum Gedeihen wie zum Niedergang führen kann. Platon verweist in diesem Zusammenhang auch auf »die unendliche Länge der Zeit und der Veränderungen, welche innerhalb derselben vor sich gehen« (chronou mekopus te kai apeirias). Unermesslichkeit ist dabei im Sinn der Unzählbarkeit zu verstehen. In der ›Politeia‹ hatte Platon als eine der notwendigen Eigenschaften der philosophischen Seele benannt, dass sie über die ›theoria pantos men chronou pases de ousias‹ (486a) verfügen müsse, sie müsse »überschauende Betrachtung der Zeit im Ganzen und des Seins im Ganzen« sein. Vor dieser Schau der Einheit löst sich das Moment der Unzählbarkeit nicht auf. Es wird aber möglich, die Einheit in der Unendlichkeit in den Blick zu bringen. Es soll also ein Blickpunkt gewonnen werden, der die Aufeinanderfolge der Staatswesen in der Zeit, gemäß dem Wechsel von Entstehen (genesis) und Vergehen (phthora), zu übersehen vermag (NoDie Deutung als Hoffnung hatte ja auch die Einführung der ›idea tou agathou‹ in der ›Politeia‹ bestimmt. 128 Vgl. dazu Picht, Platons Dialoge, a. a. O., S, 53 ff., siehe auch ibid., S. 163 ff. Ferner L. Strauss, The Argument and the Action, a. a. O. 127

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moi 676c). Nach Erfahrungskenntnis allein ist das nicht möglich. Sind doch während dieser unermesslichen Zeit »tausend und abertausend Poleis« entstanden und wieder untergegangen (676b). Die Ursache des Wandels zu ergründen, bedeutet, die Polis in Bewegung erkennen zu können und das gute vom zerstörerischen Wachstum zu unterscheiden. 129 Die ›Nomoi‹ setzen den Anfang bei einer Elementar-Polis, die nach den alten Logoi (Sagen) rekonstruiert wird (677a). Anders als in der ›Politeia‹ wird also nicht eine idealtypische Aufeinanderfolge konstruiert. Die Stufen sind vielmehr der geschichtlichen Wirklichkeit abgelesen. Die Elementarpolis soll einfach, aber wahr und in Übereinstimmung mit dem Naturwüchsigen gedacht werden. 130 Auch die ›Nomoi‹ exponieren, ähnlich wie die Idealtypik der ›Politeia‹, einen Hirtenstaat, in dem Gerechtigkeit und Tugend als Abwesenheit von Lastern zu verstehen sind. Es herrscht eine ›euetheia‹ (Einsinnigkeit bzw. Einfalt) vor, die zugleich Sammlung und Konzentration bedeutet. Kleinere Sippengemeinschaften schließen sich zu größeren Verbänden unter der Ägide von verwaltenden Archonten zusammen. Damit ist die Aristokratie entstanden und das Ende des Patriarchates besiegelt. Erst auf dieser Stufe werden Gesetze möglich. Deshalb müssen und können sie aber auch auf dieser Stufe erst erlassen werden. In größeren Gemeinwesen, die in den ›Nomoi‹ als ›oikia‹ bezeichnet werden, 131 kommt es zum Widerstreit zwischen einzelnen sittlichen Regularien. Dieser kann nicht aus der Überlieferung, sondern nur durch einen Gesetzgeber beigelegt werden (681 f.). Als dritte Polis erscheint das homerische Ilion: ein mythologisches Zeugnis. 132 Platon sieht darin ein ›schema politeias‹ (681d), in Dazu Sandvoss, Soteria, passim; auch Seubert, Polis und Nomos, a. a. O., S. 542 ff. Das Problem des Übergangs von Statik in Bewegung, der Gattung des ›tauton‹ in jene des ›heteron‹, wird dabei besonders eingehend thematisiert. Dazu wiederum Brisson, Le même et l’autre, a. a. O. Zu der impliziten Geschichtsphilosophie vgl. D. Barbarić, ›Die möglichst schöne und zumal beste Tragödie‹ – Über den geschichtsphilosophischen Hintergrund der ›Nomoi‹, in: B. Zehnpfennig (Hg.), Die Herrschaft der Gesetze und die Herrschaft des Menschen, a. a. O., S. 225 ff. 130 Dazu Neschke-Hentschke, Platos Politische Theorie in den ›Nomoi‹ – Geltung und Genese, in: B. Zehnpfennig (Hg.), Die Herrschaft der Gesetze, a. a. O., S. 43 ff. 131 Dazu S. Hegenbarth, Platons ›Nomoi‹ : Die Ansprache an die Siedler – Populärphilosophie für die breite Masse (715e7–734e2), in: Zehnpfennig (Hg.), Die Herrschaft der Gesetze und die Herrschaft des Menschen, a. a. O., S. 43 ff. 132 R. F. Stalley, An Introduction to Plato’s Laws. Oxford 1983. 129

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dem sich alle bislang durchlaufenen Polisformen zusammenbilden (sympiptein) – in der Burg von Troja, um die herum eine städtische Siedlung in der Ebene befestigt wird. Die vorausgehenden Hirtenpoleis waren dagegen am Hang gelegen. Die Siedlung im flachen Land setzt voraus, dass die zerstörerischen Flutkatastrophen aus der Vergangenheit vergessen worden waren und sich in mythischem Dunkel verloren hatten. Damit geht die Erörterung erst in die eigentlich historische Zeit über. Der Athener hält fest, dass der Erörterungsgang »wie durch göttliches Geleit« (hosper kata theon) (682e) zu den bereits am Gesprächsbeginn erörterten Fragen zurückschwinge (682e). Den historischen Dreh- und Angelpunkt bietet die lakedämonische Verfassung. Der Übergangscharakter zwischen den verschiedenen Polisformen wird auch formal besonders betont. Nichtsdestoweniger bleibt die Anrufung der Götter in Kraft. Denn die Generationenfolge, die auch die geschichtliche Zeit bestimmt, wird in ihrer Verflechtung mit den Gottheiten gesehen: »Das Geschlecht nun der Menschen ist in gewisser Weise von Natur verbunden mit der Gesamtheit der Zeit. Unablässig mit ihr verbunden, folgt es ihr und wird ihr folgen, indem es in der Weise unsterblich ist, dass es Kindeskinder hinterlässt, wobei es das Selbe und Eines ist zu aller Zeit und durch die Erzeugung an der Unsterblichkeit teilhat« (721c).

Dramaturgisch hervorgehoben ist dieser Passus dadurch, dass festgehalten wird, nun erst sei das Prooimion zum gesamten Gesetzeswerk zu seinem Ende gebracht worden (722c). Am Ende des vierten Buches wird festgehalten, dass es mittlerweile Mittag geworden sei. Sie waren am frühen Morgen aufgebrochen. Doch nun erst greift die Konkretion: Im Blick auf die dorischen Stadtstaaten wird das ›metabolé‹-Problem zuerst erörtert (676a). Mit diesen Poleis ist erstmals eine Stufe der Kulturentwicklung erreicht, auf der die Frage nach der Gerechtigkeit und damit nach der Tugend eigens aufgeworfen werden kann. Damit kann die Frage, was an Gesetzen den Bestand der Poleis sicherer macht und was nicht (683b), auf einem neuen Erörterungs- und Komplexitätsniveau durchgesprochen werden. Der Bericht des Atheners zeigt (684a–686b), dass die dorischen Staaten nach innen wie nach außen sehr gute Chancen gehabt hätten, zu überdauern. Es sei daher nur wahrscheinlich gewesen, dass die Zeitgenossen ihnen diesen besten möglichen Bestand auch zutrauten (686a), da sie, wie es Menschen üblich ist, von der Gegenwart in die 338 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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Zukunft schlossen. Sie befragten dabei das Orakel, achteten kaum auf Gegenmeinungen – und dann gingen, wider das zu Gebot stehende Wissen, die Poleis doch zugrunde. An diesem Beispielsfall muss also das Wissen um Werden und Vergehen der Polis in Bewegung exemplarisch zur Anwendung kommen. Der Athener verweist auf die fehlende Fähigkeit zu dianoetischer Durchsicht unter den Zeitgenossen. Die Einheit der philosophischen Kunst hätte auch eine Einheit in der Tapferkeit und damit in der Kriegskunst nach sich gezogen (686b–c). Doch denen, die keinen vergleichend dianoetischen Blick auf Werden und Vergehen anwenden konnten, musste es auch unmöglich sein, ein umfassendes Bild ihrer eigenen Zeit zu gewinnen. Noch einmal verweist der Athener auf die Eintracht in der Stadt, die schon in der mythischen Urstiftung eine Rolle gespielt habe (683e). Man kann sich dabei daran erinnern, dass auch in der ›Politeia‹ der Eintracht eine herausragende Rolle zugekommen war (Politeia 545c). Mithin könnten diese Passagen auch als Hinweis auf den inneren Fragezusammenhang beider Dialogwerke verstanden werden. Indem das Zusammenstimmen zu Einem (symphonesasa eis hen) als das Gesetz bestimmt wird, das die Einheit der verschiedenen Poliskräfte sichert, wird nach der ›enkrateia‹ als einer spezifischen Seelentugend gefragt. Diese innere seelische Einheit müsse jeder und jede in sich selbst leisten. Auf diese Weise müssten sie zeigen, dass das eigene Selbst Eines ist (644c). Aus der Beobachtung ist diese Einheit freilich nicht ohne weiteres abzuleiten. Die Seele hat nämlich zwei Ratgeber (symbouloi), die gleichermaßen, aber in entgegengesetzte Richtungen, leiten: Lust und Schmerz. Hinzu kommen Meinungen (doxai) über das Künftige, über Furcht oder Hoffnung, die im Sinn des Marionettengleichnisses »wie innere Drähte und Schnüre« (644e) leiten und zu verschiedenen Handlungen hinziehen. In deren Innerem liegen aufgrund widerstreitender Tendenzen Tugend (areté) und Übel (kakia) verborgen. 133 Implizit ist die Unterscheidung von Seelenarten (oder präziser -hinsichten) aus der ›Politeia‹ auch hier wieder aufgenommen. Die Affektlehre ist auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt: Lust und Schmerz gehören in den Bereich der Begierde (epitymetikon), Furcht und Hoffnung in die Sphäre des Willens (thymoeides). Im Sinn der Konsequenzen der ›Nomoi‹ wird dieser Problemansatz weiter verDazu eingehend J. Müller, Der Mensch als Marionette: Psychologie und Handlungstheorie, in: Chr. Horn (Hg.), Platon. Gesetze – Nomoi, Berlin 2013, S. 1 ff.

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tieft. Den Seelentendenzen ist auch ein verschiedener Zeitsinn zugewiesen: Während Lust und Schmerz in der Gegenwart befangen bleiben, verweisen Furcht und Hoffnung auf das Künftige. Eine nicht ausgebildete Dianoia wird sich freilich »versehen«. Dies ist Indiz dafür, dass das innere Auge (der ›noos‹) fehlt. Zu bedenken ist auch, dass in diesem Zusammenhang das menschliche Bewusstsein als in-der-Zeit-Sein verstanden wird. 134 Exemplarisch wird dies mit dem Marionettengleichnis verdeutlicht. Der dritte Draht wird als der eine und goldene Draht umschrieben. Ihm, der in Analogie zur ›Politeia‹ als Logismus ausgewiesen wird, verdankt sich die »heilige Führung« (645a). In temporaler Deutung ist es derjenige Sinn, der die unterschiedlichen und differierenden Zeitekstasen zusammenzusehen erlaubt. Durch dieses Bild sollen, im Sinn einer Selbstauslegung dieses Gleichnisses, Tugend und Laster klarer aufgegliedert worden sein (645b). Die Gliederungsinstanz ist dabei ausschließlich das Vernunftvermögen. Denn der unvermittelte Zusammenhang von Lust und Schmerz, Furcht und Hoffnung disponiert nicht dazu, zwischen dem Guten und Nicht-Guten klar zu unterscheiden. Erst vom Logismus her sollen sie getrennt werden können. Daraus resultiert der enge Zusammenhang zwischen Logismus einerseits und Gesetzgebung und Polis andererseits: »Außer diesem allen [sc. Lust und Schmerz, Hoffnung und Furcht] gibt es aber noch ein Nachsinnen [logismos] darüber, was denn von all dem besser oder schlechter ist« (645b). Wird diese Überlegung eine gemeinsame Überzeugung (dogma) der Stadt, so trägt sie den gemeinsamen Namen »Gesetz« (nomos) (vgl. 644d). Das Gesetz verlangt keine explizite Ideenerkenntnis. Wohl aber erfordert es eine Einsicht, die aus dem Inneren der beteiligten Personen hervorgeht, die aber auch den Charakter der ›orthe doxa‹ annehmen kann (645b). Dabei ist es eine weitere Verpflichtung der Gesetzgeber, dass sie sowohl den inneren Verkehr wie auch den Austausch zwischen den Poleis regeln. Ein enger Zusammenhang wird dabei zwischen dem musikalisch gesetzesförmigen und dem politisch nomologischen Einheitssinn in der Polis hergestellt. Es ist deshalb keineswegs zufällig, wenn auch die Bedeutung des Prooimion von der Musik her entfaltet wird (722d). In ihr zeigt sich die Bewegtheit und Zeitlichkeit der Seele,

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Vgl. Müller, a. a. O.

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damit aber auch ihre Gefährdung, sich an die Zerspaltungen im Strom der Zeit zu verlieren. Der Einklang kann, musikalisch und in der Polis, als Zusammenklang in der Zeit erwiesen werden. 135 Das Gleichmaß der Seele muss sich gerade auch angesichts der Umbrüche bewähren, sodass die Maßlosigkeit erneut in das Maß zurückgefügt werden kann. Eine Festlegung aus der ›Politeia‹ dürfte deshalb indirekt auch für die ›Nomoi‹ Relevanz haben. Sie gebietet die Stabilität der Paideia im Allgemeinen, der Musik im Besonderen. »Vor einem Umschlag in eine neue Form der Musik [mousikes metaballein] muss man sich hüten, weil man dadurch den Bestand des Ganzen in Gefahr bringt; denn niemals werden die Formen der Musik [mousikes tropoi] erschüttert, ohne dass zugleich die Grundgesetze der Politik [politikon nomon] erschüttert werden« (Politeia 424c).

Platons Sokrates weist dies als Lehre des Musikmeisters Damon aus, der er aber folge. Die Antwort auf die Frage, wie die dorische Macht verloren ging (686b), wird nicht in einer historischen Erörterung, sondern philosophisch gegeben (689e). Damit wird die Frage, was es bedeutet, die ›areté‹ und mit ihr die Seeleneinheit zu verlieren, grundsätzlich expliziert. Die Darlegung ist von betonter Einfachheit, was in der literarischen Form dadurch unterstrichen wird, dass die Antworten auf die Fragen des Atheners der Lakedaimonier Megillos gibt, dessen Wortkargheit sprichwörtlich ist. Die dorische Macht hätte, so wird betont, zu großen, wunderbaren Ergebnissen führen können, wenn man jene Macht nur richtig hätte benutzen können (686a). Dies hätte den Gesichtspunkt der Symphonia erfordert, der aber die Macht selbst in Frage stellt. Zu klären ist daher auch, wohin der blickt, der sich vom Machtphänomen blenden und einnehmen lässt. In der kratischen Perspektive hat er recht, und so entspricht seine Auffassung dem ›orthos logos‹ (687a). Die ›Politeia‹ hatte eine idealtypische Genese der Polis konstatiert. Erst auf einem bestimmten Komplexitätsniveau und nach Verlassen des Zustandes der elementaren Polis und des »Schweinestaates« stellt sich überhaupt die Frage nach der Gerechtigkeit, die die philosophische Gesetzgebung der ›Politeia‹ dann entfalten wird. Dies ist in den ›Nomoi‹ offensichtlich anders. Maßstab ist hier die konkrete griechische Geschichte, der sieben Axiomata der Beanspruchung von Herrschaft abgelesen werden. 135

Dazu Benardete, Plato’s Laws, a. a. O., S. 250 ff.

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Auch hier wird ein Anfangszustand benannt: das Patriarchat, in dem die bedeutenden Erfindungen späterer Zeiten weitgehend verborgen geblieben seien (677d). Geschichte weist auf eine Wahrheit hin, die am Anfang des geschichtlichen Verlaufs bereits sichtbar ist (ibid.). Allerdings kann und muss dabei nur bis zu einem relativen Anfang zurückgegangen werden, der Zeit nach der letzten großen Überschwemmung (678e). Im Hintergrund steht die Auffassung, dass es mehrere Katastrophen gegeben habe und dass die großen Errungenschaften, so wie es auch im Kritias-Bericht des ›Timaios‹ deutlich wird, mehrfach gewonnen und wieder vergessen worden sind. In diesem patriarchalen Urzustand habe es weder Künste gegeben noch Eisen, Erz und Metalle. Ein Rousseau’sches Motiv ist in den ›Nomoi‹ grundgelegt: dass nämlich die Menschen in dieser Frühzeit aufgrund ihrer Vereinzelung und der fehlenden Mittel außerordentlich friedlich gewesen seien. 136 Es hätte keinen Mangel an Raum gegeben und daher auch keine größeren Konflikte zwischen ihnen. Rechtsstreitigkeiten und politische Auseinandersetzungen hätten keinen Ort gehabt. Unter Berufung auf Homer wird als Herrschaftsform die »patriarchale Monarchie« (680e) genannt. Die Gemeinwesen jener Zeit seien allerdings klein gewesen. Die zweite Stufe – und der Ursprung der Gesetzgebung – wird mit einer Vergrößerung und verstärkten Verflechtung durch Zuwanderungen verbunden. Die einzelne Polis erscheint als ein »größeres Haus«. Die Verfassungsformen seien weitgehend auf Aristokratie und Monarchie begrenzt gewesen. Die Differenzierung setzt mit den Außenbeziehungen zwischen unterschiedlichen Poleis ein. Man siedelt wieder in den großen Ebenen. Dies setzt voraus, dass die Überschwemmungskatastrophen der Vergangenheit weitgehend in Vergessenheit geraten sind (682b). Troja und seine Belagerung sind dafür paradigmatisch. Es ist, im Licht der Dichterkritik der ›Politeia‹, auffällig, dass sich der Athener unter Zustimmung des Spartaners dabei an Homer orientiert: »Denn auch die Dichter sind ja ein gottbegeistertes Geschlecht, und so treffen sie in ihrem Gesang mit Hilfe der Chariten und Musen jedes Mal zum Teil die Wahrheit« (682a). Erst daraufhin wird, durch die bereits genannten Einschnitte Vgl. Lisi, Einheit und Vielheit, a. a. O., S. 220 ff. Siehe auch Sandvoss, Soteria, und K. Schöpsdau, Ursprung und Verfall von Staaten (III 676a1–702e2), in: Chr. Horn (Hg.), Platon. Gesetze – Nomoi, a. a. O., S. 67 ff.

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hervorgehoben, der Übergang in die geschichtliche Zeit thematisiert; es wird als ein sehr ausladendes Unterfangen, das den Gesprächsfaden zu sprengen droht, der Vorgang exponiert, aus den realen Verfassungen das Regularium zu entnehmen, was in ihnen Bestand hat und was vergeht (683d). Dies würde vermutlich sogar den längsten Tag, an dem das Gespräch stattfindet, aufsprengen. Thematisiert wird dabei auch der drohende Zerfall von Macht und Gerechtigkeit. Der Athener legt dabei seinen Grundsatz dar: Durch nichts anderes kann ein Gemeinwesen oder eine Verbindung zwischen Gemeinwesen zerfallen außer durch sich selbst (683e). Dies sei nicht nur eine abstrakte Rede, sondern auf Geschichte und faktische Begebenheiten begründet. Die Voraussetzungen für den dorischen Staatenbund werden als sehr günstig charakterisiert, und dies vorwiegend aus zwei Gründen: Zum einen konnte die Einhaltung der Gesetze wechselseitig durch zwei beteiligte Poleis erzwungen werden (684b). 137 Dadurch war eine Laxheit im Umgang mit den rechtlichen Regularien eingedämmt. Es kommen ein ausgewogenes Vermögensverhältnis hinzu und die von Aristoteles später systematisierte Einsicht, dass die politische Ordnung von dem Mittelstand ausgeht und dass zwei Poleis entstehen würden, wenn dieses Verhältnis nicht mehr beachtet ist. Die eigentlich schwierige Frage ist die nach dem Untergang dieser Poleis. Entstehen und Vergehen werden von der Geschichte gelehrt. Gemäß dem Satz des Anaximander, den man implizit den Äußerungen des Atheners entnehmen kann, 138 haben Entstehung und Vergehen dieselbe Ursache. Die Schwierigkeit wird dadurch noch vermehrt, dass die Stadtgründer sich auf Herakles zurückführten und ihren Bund sogar als Einung Griechenlands gegen herandrängende Feinde wie die Assyrer verstanden (685d). Als die eigentliche Ursache wird aber ein »Versehen«, eine »Täuschung« über die Gewichtung der Faktoren benannt, die im Folgenden für die Kritik an Sparta maßgeblich sein wird. Ihr Dreh- und Angelpunkt sei, dass die Bedeutung der Erkenntnis unterschätzt und

Vgl. ibid., Siehe auch im Einzelnen Schöpsdau, Platon Nomoi Buch I–III. Übersetzung und Kommentar, a. a. O., sowie die Beiträge bei Lisi (Hg.), Plato’s Laws and its historical Significance, a. a. O. 138 Vgl. Anaximander, Fragment B 1, DK: »[Werden und Vergehen der Dinge sind verknüpft] gemäß dem unerläßlichen Muß: Denn sie gewähren einander gebührendes Recht und Vergeltung für das Unrecht in der Ordnung der Zeit«, dazu Buchheim, Die Vorsokratiker, a. a. O., S. 62 ff. 137

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der Kriegskunst und Tapferkeit allein Gewicht zugewiesen werde. 139 Es sei die Unwissenheit, die die Dinge anders erscheinen lässt, als sie in Wahrheit sind, und die die Kriegskunst mit der politischen Kunst verwechsle. Deshalb weicht die Erörterung auf eine gnoseologische Metaebene, die Unterscheidung der größten Unwissenheit und des höchsten Wissens, aus. Als dieses höchste Wissen wird der größtmögliche Einklang (ton symphonion) bezeichnet, der als »vollendete Weisheit« verstanden werden könne. Wer es nicht habe, müsse sein eigenes Haus verderben und zugrunde richten. Unwissenheit ist dagegen jedes Verfehlen dieser Harmonie, gerade dann, wenn bedeutende Maximen grundsätzlich bekannt sind, aber nicht unmittelbar wirksam werden. Es ist offensichtlich, dass hier die Forderung nach der ›Idee des Guten‹ indirekt und ohne philosophisch entwickelt zu werden wieder aufscheint: Es wird einer invarianten Erkenntnisform bedürfen und einer möglichst tiefgehenden Begründung, um sich in diesem Wesentlichen nicht zu versehen. Die Herrschaftsansprüche werden vor diesem Hintergrund diskutiert: Als erster und elementarster, zugleich aber »sehr gerechter« Anspruch gilt dabei die Erwartung der Eltern an ihre Kinder, dass sie ihnen gehorchen; der zweite Anspruch sei der des Adels, der dritte jener der Älteren, der vierte der der Herren gegenüber den Sklaven. All diese Ansprüche haben in der sittlichen Konvention und damit im vorpolitischen Raum ihren Ort. Erst mit dem fünften Anspruch wird der politische Raum selbst erreicht, eben mit dem sophistischen Grundsatz, wonach der Stärkere herrschen und der Schwächere dienen soll (690b). Zu ihm wird ausdrücklich bemerkt, dass man sich ihm gar nicht entziehen könne und dass er am weitesten verbreitet sei. Dies ist ein Indiz dafür, dass die Sophistik, solange man die Sachverhalte naturwüchsig auffasst, kaum zu widerlegen sein dürfte. Mit dem sechsten Axiom wird aber der »gewichtigste Anspruch« verbunden und es wird zugleich festgehalten, dass auch er, von dem beispielsweise der Dichter Pindar gesprochen habe, nicht gegen die Natur sei, dass nämlich der Unverständige folge und der Verständige leite. Der fünfte und der sechste Anspruch stehen offensichtlich in einem nicht ohne weiteres lösbaren Widerspruch, der in der attischen Polis auch unauf139

Dazu u. a. der Kommentar von Schöpsdau, pass. mit weiteren Literaturhinweisen.

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gelöst geblieben war: dem Widerspruch zwischen Sophistik einerseits und wahrer Einsicht andererseits. Schließlich wird als siebtes Axiom das Los genannt, das unter Umständen den Anspruch auf Ämter und Macht legitimieren kann. Die Axiomatik wird nun durch zwei grundsätzliche Überlegungen einer Beurteilung zugeführt und damit erst auf die maßstäbliche Ebene gebracht. Einmal wird wiederum der Gesichtspunkt des richtigen Maßes expliziert. Es könne bei Machtansprüchen so sein, dass »die Hälfte oft mehr als das Ganze« sei (690e). Das Hinreichende (hikanon), das bei Platon ja der Begriff für einen Höchstwert und das Optimum ist, 140 könne im Verzicht liegen. Die zweite Maßgabe wiederholt Platons Grundeinsicht, dass auch die Tugenden (Bestheiten) nach eigenen Maßstäben geordnet werden müssten. Das Übermaß kann dementsprechend zum Untergang führen. Als großer Vorzug Spartas gilt, dass es die Königsgewalt begrenzt habe. Besonders wird dabei der Rat der achtundzwanzig Greise 141 (692a) hervorgehoben, der die königliche Macht um ein geteiltes aristokratisches Element ergänzt. Im Kern, wenngleich zunächst nur auf Monarchie und Aristokratie bezogen, ist hier die Konzeption einer Mischverfassung skizziert. 142 Die Bündnisfähigkeit von Sparta und Athen gegenüber dem Perserreich wird schließlich als Beweis ihrer richtigen Einsicht benannt. Ohne diese würde Griechenland »in die Knechtschaft« geführt worden sein. Die Lehre vom Maß wird zum Abschluss des Durchgangs durch die Geschichte in den Idealtypen von Persien und Athen konzentriert. Vor diesem Hintergrund wird auch die Mischverfassungslehre noch einmal vertieft. Eine Mischung aus Demokratie und Monarchie (693d) kann als das mögliche Beste firmieren, indem sich die Extreme gegenseitig einhegen. Dies wäre die Verbindung von »Freiheit und Eintracht« einerseits und »weiser Leitung« andererseits (693d). Der Athener hält in der Verschmelzung des persisch-attischen Gegensatzes auch fest, dass alle anderen Herrschaftsformen Varianten dieser beiden seien. Vielfach und zu Recht ist in der Forschung beobachtet worden, dass das pejorative Urteil über die Demokratie in der ›PoliVgl. dazu D. Kurz, Akribeia. Das Ideal der Exaktheit bei den Griechen bis Aristoteles. Göppingen 1970. 141 Zu diesem gerontokratischen Element auch die einschlägige Kommentierung bei Schöpsdau zu den jeweiligen Stellen. 142 Dazu H. Ottmann, Platons Mischverfassungslehre, in: B. Zehnpfennig (Hg.), Die Herrschaft der Gesetze, a. a. O., S. 33 ff. 140

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teia‹ damit modifiziert wird. Nimmt man beide Momente zusammen, so scheint es möglich, dass sich die Philosophenherrschaft auch demokratischer Realisierungen bedient. Allerdings würde dies nur dann gelingen können, wenn die Schwächen der Demokratie, wie sie die ›Politeia‹ eindrucksvoll benannte, erkannt und gebannt werden. Die Idealtypik Persiens und Athens zeigt diese Schwächen im Vollzug und in der Dynamik der jeweiligen Geschichte. 143 Das reine Königtum und die reine Volksherrschaft machen sich demnach eines Übermaßes schuldig und sind gerade dadurch nicht überlebensfähig. Auf persischer Seite wird die mangelhafte Erziehung (paideia) hervorgehoben. Einige der persischen Könige hätten von Jugend auf ihre Zeit im Heerlager verbracht; andere wären im Palast aufgezogen und damit verzärtelt worden. Auch hier zeigt sich ein »Versehen« der richtigen Proportionen: »O Dareios kann man wohl mit vollem Recht sagen, dass du den Fehler des Kyros nicht erkanntest und vielmehr den Xerxes in derselben Lebensweise aufziehen ließest wie Kyros den Kambyses« (695d–e). Aus dem Mangel an Paideia habe sich ein immer stärkerer Despotismus ergeben, der Eintracht und Gemeinsinn hintertrieben habe (698a). Das umgekehrte Extrem macht der Athener in der Demokratie seiner eigenen Polis aus: Auch hier spielt die Paideia, insbesondere die musische Erziehung, in der Darlegung der Mängel eine herausragende Rolle. Es sind insbesondere die Dithyramben, »eine Ausgeburt, glaube ich, des Dionysos« (700b), der ›Threnoi‹ und die ›Paiane‹ genannt. Mit den Gesetzen der Musik sei auch die Einsicht in die eigenen Grenzen und Formen des Wissens geschwunden. Dies habe zu dem Missverständnis geführt, »alle verstünden sich auf alles« (701b). Damit habe die »Vieltuerei« und die Unverschämtheit innerhalb der Massenherrschaft um sich gegriffen. Nach der Darstellung der Pathologie des persischen Reiches und nach der Darlegung der attischen Pathologie wird jeweils resümiert: Im Blick auf Persien wird festgehalten, dass eine verbindliche Rangfolge festgelegt sein müsse, welche Güter und Ehren wieviel gelten. Hier wird jene Hierarchie genannt, die in der Rede an die Siedler zur Anwendung kommt: Einsicht und damit die Güter der Seele sollen den ersten Rang einnehmen, die Güter des Leibes den zweiten, Besitztümer nur den dritten Rang. Ehre wird dabei nicht als Verlust der Dazu K. Schöpsdau, Ursprung und Verfall von Staaten (III 676a1–702e2), in: Horn (Hg.), Platon. Gesetze – Nomoi, a. a. O., S. S. 67 ff.

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Tugend charakterisiert, sondern als Habitualisierung des Wahren in der Polis-Öffentlichkeit. Die Verbindlichkeit soll dabei sowohl unter den Eliten wie in der Bevölkerung gelten. Vor diesem Hintergrund wird sogar eine kleine Tugendlehre in nuce entwickelt: Gerechtigkeit wird, in Übereinstimmung mit der ›Politeia‹, als Inbegriff der Tugend verstanden. Sie wird nicht auf die Formel ›ta heautou prattein‹ spezifiziert, setze aber Mäßigung und Besonnenheit voraus (696d). Die Summe des Erwägungsganges führt dann zu der Trias von Herrschaftsaxiomen, die die ›Nomoi‹ fixieren: Freiheit, Eintracht und Einsicht werden dabei als Zielsetzung der guten Gesetzgebung festgehalten (701d–e). Die Freiheit ist das demokratisch-politiehafte Moment, die Eintracht das Element eines Einheitssinnes, das sowohl durch Politie wie Monarchie hindurchgehen muss; die Einsicht verweist aber auf die Leitung gemäß der Vernunft und damit auf den Kernbestand der Philosophenherrschaft, wie sie in der ›Politeia‹ entwickelt worden war.

Nomos und Geschichte Platon betont die Verschiedenheit menschlicher Zielsetzungen, die zentrifugale Pluralität, der sich auch der Philosophenherrscher ausgesetzt sieht. Alle Menschen haben aber gleichwohl den gemeinsamen Wunsch (koinon epitymema) (687c), dass alles, was geschehe, so geschehe, wie es ihr Wille selbst bzw. ihr ›Herz‹ wollen kann. In Analogie zum ›Gorgias‹-Dialog (Gorgias 467c–468e) geben dabei nicht einzelne intentionale Handlungen die Orientierung, sondern das umfassende intentionale Ziel (hou heneka) solchen Handelns. Die Seele will in der Regel ihre Güter wirklich und in Wahrheit besitzen, nicht einen bloßen Anschein. Sie will nicht nur gesund oder schön erscheinen, sondern es in Wahrheit und Wirklichkeit auch sein (Nomoi 661a1 ff.). Allerdings begnügt man sich, gerade bei den höchstrangigen Gütern, den Tugenden, mit dem Besitz des Anscheins. Hier kehrt das Sophisten-Problem wieder, das im zweiten Buch der ›Politeia‹ durch die Fragen von Glaukon und Adeimantos im Blick auf das in Wahrheit und Wirklichkeit Gerechte durchbrochen wurde: dass bei den Tugenden die Erzeugung von Schein ausreicht. Es werde der Wunsch nach Macht verfolgt, dem die Seele bei größter Unwissenheit (megiste amathia) (688e) nachgeht. Es ist die Unwissenheit über die wesentliche Frage, was ein Gut in Wahrheit 347 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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und nicht nur zum Schein ist. Begehren und Wollen bilden demgegenüber eine Art Verblendungszusammenhang. Auch die ›Nomoi‹ beschreiben die Struktur so, dass diese Seelenteile erst vom Logismus her durchlässig sind. Der Wille, der sich nicht an den Logismus bindet, kennt seine eigene Natur nicht. Damit aber läuft er Gefahr, einen Schein des Guten für dieses selbst zu halten. Er sucht weiter und kann niemals seinen Ort finden und nie zur Ruhe kommen. Deshalb ist nur jenes Gute wert, um seiner selbst willen erstrebt zu werden, das an sich selbst gut ist. Dieses um seiner selbst willen Gute ist im platonischen Sinn eben die ›idea tou agathou‹ selbst. Wenn die höchste Idee in der ›Politeia‹ als gnoseologisches und ontologisches Prinzip expliziert worden war, so fügen die ›Nomoi‹ eine teleologische Zweckhaftigkeit hinzu. Das Gute ist die eigentliche Dynamis. 144 Die Problemstruktur zeigt damit eine dreistufige Orientierung: Die Frage, was eine dauerhafte, nicht illusionäre Macht ist, führt auf die Zusammenstimmung der Polis (symphonia). Das kratische Problem kann also mit kratischen Mitteln gerade nicht hinreichend gelöst werden. Die Symphonia aber verweist auf das Prinzip dieser Einheit, das in Wahrheit Gute. So einfach dieser Aufweis geführt wird, so sehr wird damit doch indirekt das ›größte Lehrstück‹ berührt. Knapp kann dies der Athener in den Worten zusammenfassen, dass, wo der Einklang fehle, nicht auch nur die bescheidenste Einsicht (phronesis) reifen könne.

Sieben Axiome von Herrschaft Der Fortgang der Rede führt deshalb auf die sieben Axiomata der Herrschaft (689e). Dabei changiert der Begriff des Axioms. Kann es doch einerseits die bloße Reklamation von Herrschaft meinen, andererseits aber auf in der Natur der Sache liegende oberste Grundsätze verweisen, die nicht beweisbar sind und des Beweises auch nicht bedürfen. 145 Die Axiome beziehen sich also auf das Wesen von Herrschaft. Sie sollen daher alle Institutionen gleichermaßen bestimmen, Dazu auch Benardete, a. a. O., S. 255 ff. Siehe auch Neschke-Hentschke, Politischer Platonismus und die Theorie des Naturrechts. Essai [sic] zur Archäologie der Menschenrechte, in: E. Rudolph (Hg.), Polis und Kosmos. Naturphilosophie und politische Philosophie bei Platon. Darmstadt 1996, S. 55 ff. 145 Dazu R. F. Stalley, An Introduction to Plato’s Laws. Oxford 1983, S. 158 ff. 144

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von der Hausgemeinschaft bis zu kleineren und großen Städten (690a). Der Passus beginnt mit dem Hinweis auf die »Notwendigkeit«: So sei es notwendig (anankaios), dass in jeder Sozialgestalt bis zur Hausgemeinschaft Personen sind, die herrschen, und andere, die beherrscht werden. Zunächst werden naturwüchsige Herrschaftsverhältnisse benannt. An erster Stelle steht das Arché-Verhältnis, wie es Eltern gegenüber ihren Kindern einnehmen (690a). Seine Richtigkeit (orthotes) hat dieses Verhältnis, da es durch die ganze Natur hindurchgeht. Andere Axiomata variieren im Sinn der ›Nomoi‹ dieses Grundverhältnis: die Herrschaft der von Geburt her Edlen über die Nicht-Edlen, der Älteren über die Jüngeren und schließlich der Herren (despotas) über die Sklaven (douloi) (690b). Von »Sklaven von Natur« ist zwar nicht die Rede. Doch setzen die ›Nomoi‹ diesem Gedanken auch keine Grenze entgegen. Beruhen die ersten beiden Herrschaftsaxiomata ebenso wie jene der Eltern zu den Kindern auf einem Fürsorgeverhältnis, so hat das Herr-Sklave-Verhältnis eine Entlastung der Freien von der Brotarbeit zum Inhalt. Es ermöglicht erst die Muße (schole), ohne die sie nicht in der Lage wären, dem Einen, das gerecht und gut ist, nachzugehen. Impliziert ist damit das aus neuzeitlich-demokratietheoretischer Sicht höchst elitäre und fragwürdige Prinzip der Herrschaft der Wissenden über die Unwissenden. Mit diesem vierten Anspruch ist zugleich schon der sechste vorbereitet, den der Athener als den bedeutsamsten (megiston) begreift: dass der Unverständige dem Einsichtigen (phrononta) Folge leisten solle (690b). Der fünfte Grundsatz, dass der Stärkere über den Schwächeren herrschen solle, nimmt eine Zwischenstellung ein. Er gilt zwar nicht ausdrücklich als »notwendig« oder »gerecht«. Doch sei er unter allen lebenden Wesen bekannt und insofern der Natur gemäß (kata physin). Diese Naturgemäßheit sei die Voraussetzung dafür, dass man sich einem Gesetz aus freien Stücken beuge und nicht aufgrund von Gewalt (biaion) 689b). Nur durch Setzung eingeführte Axiome im Sinn der Sophistik verlangen dagegen gewalttätige Unterwerfung. Als siebte Herrschaftsart wird die in der attischen Demokratie übliche Auslosung der Magistraturen genannt, die die Arche ausüben. Sie wird dabei keineswegs über das sechste Axiom gesetzt, auch wenn sie ihm folgt, 146 und schon gar nicht ist sie als Versuch eines Ausgleichs zwischen dem fünften und dem sechsten Axiom zu verVgl. die genannte Literatur. Siehe auch A. W. H. Adkins, Merit and Responsibility. Oxford 1960.

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stehen. Sie überschreitet die bislang durchlaufene Abfolge allerdings insofern, als sie auf die Freundschaft der Götter (theophilia) und das gute Glück (eutyche) gegründet ist (690c). Es wird sogar angedeutet, dass sie nicht der freien Einsicht folgt wie das sechste Axiom. In der abschließenden Rede bemerkt der Athener, dass der von den nicht-wissenden Gesetzgebern verkannte Sinn einer Gesetzgebung darin besteht, die Einheit der Verfassung zu wahren und damit die Widerspruchsverhältnisse ausgleichen zu können, die zwischen verschiedenen Axiomata auftreten können (690d). Damit ist ein Gedanke alludiert, der auch in der Bestimmung des ›Politikos‹ von maßgeblicher Bedeutung ist: die Einheit des Politischen zu sichern. Wenn Herodot, in einem geschichtlichen Rückblick auf die Könige von Argos und Messene, mit der Bemerkung zitiert wird, dass die Hälfte oft mehr sei als das Ganze und dass jene Herrscher der Vergangenheit dies verkannten und sich so zugrunde richteten (690e), so wird die ›Nomoi‹-Gesetzgebung selbst in den Fluss der Geschichte zurückbezogen. Etwas, was im Zusammenhang der ›Politeia‹ nie denkbar gewesen wäre. Damit zeichnet sich ab, dass jeder gesetzgeberische Versuch, Einheit zu finden und den Aufstand im Gemeinwesen zu vermeiden, Stückwerk zu bleiben droht – so auch der Versuch der ›Nomoi‹.

Herrschafts- und Gesetzesform Die Besonderheit an den ›Nomoi‹ ist, dass Sokrates überhaupt keinen namentlichen Auftritt hat. Mit dem Athener führt wohl eine Autorität die Gespräche, die einem Sokrates nahesteht, der seine Übereinstimmung mit Athen bekundet. Doch der kunstvolle Elenchos, das schrittweise Zugeben und ›Gebären‹ der Aussagen, begegnet uns in den ›Nomoi‹ gerade nicht. Sie reflektieren, namentlich in der Bestimmung über das Verhältnis von Vorrede und Gesetz, ihre eigene Gestalt. Diese kann man aber vielleicht am besten als wirkliche und »wahre Meinung« (orthe doxa) verstehen und damit als Beispiel jener wahren Rhetorik, die im ›Phaidros‹ entwickelt worden war. Sie steht, wie wir uns erinnern, nicht im Vorfeld der Dialektik und der Schau der Idee des Guten, sondern setzt diese voraus. Als Autor einer solchen Rede können wir uns nur einen ausgebildeten Philosophen denken, der die Idee des Guten geschaut hat und dann in die Höhle zurückgeht. Die platonische Formreflexion in den ›Nomoi‹ geht freilich 350 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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davon aus, dass die gebräuchlichen Verfassungen allesamt untauglich wären (712c–d). Es sind letztlich Herrschaftsformen ohne die Bestimmung eines absoluten Maßes. Hier kehrt der Grundsatz aus dem Anfang wieder, dass Gesetze eigentlich göttlichen Ursprungs und deshalb auch in hohem Maß zu verehren seien. Dies unterstreicht der Athener mit einem Mythos, der auf die aus dem ›Politikos‹-Mythos bekannte Zweiteilung einer menschlichen und einer göttlichen Zeit zurückverweist. Das eine Zeitalter sei vom vollkommenen Gleichmaß, das andere vom Maß der Fremdbewegung und des Angestoßenwerdens bestimmt (713c). Man kommt überein, dass die künftige Mustergesetzgebung sich an der Ordnung in der Zeit des Kronos orientieren solle. Kronos’ Einsicht sei gewesen, dass keine einzige Art der sterblichen Wesen »stark genug dazu sei, alle menschlichen Angelegenheiten aus eigener Machtvollkommenheit zu verwalten« (713c). Deshalb habe er »Wesen von besonderer und göttlicher Abkunft« über die Poleis gesetzt, zumindest dämonische Herrscher. Man kann im Philosophenkönig die gleichsam säkulare und rationale Variante dieser Konstellation erkennen. Denn es sei die Wahrheit, »dass es für alle Staaten, deren Herrscher nicht ein Gott, sondern ein Sterblicher ist, keine Möglichkeit gibt, Leiden und Mühen zu entfliehen« (713e). Wenn man nun die Kronos-Herrschaft in der geschichtlichen Zeit nachahmen will, so kann dies nur in einer Art »Metabasis eis allo genos« geschehen, indem nämlich das göttliche Gesetz herrscht. Dahinter steht eine überaus skeptische Anthropologie, die jener vom unsichtbar machenden Ring des Gyges in nichts nachsteht. Eine ethische Umbildung und Einhegung der Menschen wird dabei gerade nicht für wahrscheinlich gehalten: »Glaubst du nun […], dass wer auch die höchste Gewalt in die Hände bekommen hat, sei es das Volk oder sonst eine Zahl von Herrschenden oder auch ein Tyrann, aus freiem Antriebe nach einer anderen vorwiegenden Rücksicht Gesetze geben werde als nach der, die ihnen zur Erhaltung ihrer Herrschaft frommt?« (714d).

Man könnte dies auch so fassen, dass unter den Bedingungen eines empirischen Gemeinwesens die sophistische Gerechtigkeitsauffassung, wonach gerecht das für den Stärkeren Zuträgliche ist, trotz ihrer philosophischen Unhaltbarkeit konserviert bleibt. Deshalb sei der erste entscheidende Schritt die Festlegung, dass das Gesetz herrscht. Der Athener exponiert in diesem Sinn eine Nomokratie, in 351 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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der das Gesetz der Willkür der Herrscher entzogen ist (715d). Man bemerkt, dass auch dieser Zug auf das Trauma der Verurteilung des »gerechtesten Mannes« Sokrates reagiert. Er hatte selbst in ›Kriton‹ und ›Apologie‹ seine Treue zu den Gesetzen Athens betont und die Integrität dieser Gesetze hervorgehoben. Die zeitgenössischen Verwalter des Gesetzes hatten es aber ihren eigenen Interessen unterworfen und damit um seine Geltung gebracht. Eine jede Polis, die »unter der Willkür der Herrscher steht«, sei vom Untergang bedroht. Es kommt also darauf an, dass eine enge Ligatur zwischen Gesetz und Gott bestehen bleibt. In diesem Sinn wendet sich der Athener in einer fiktiven Ansprache an die Siedler der zu gründenden kretischen Kolonie. Dabei nimmt er schon Elemente der Götterlehre aus dem zehnten Buch der ›Nomoi‹ vorweg und schließt offensichtlich an die Götterlehre der ›Politeia‹ an, in der das Göttliche mit dem Wahren und Guten unmittelbar verbunden wird. »Männer, wollen wir also zu ihnen sagen, der Gott, welcher, wie auch ein alter Spruch besagt, Anfang, Mitte und Ende aller Dinge umfasst, geht immer den geraden Weg, weil er stets der Natur gemäß unwandelbar seine ewige Bahn verfolgt, und ihn geleitet stets die Gerechtigkeit, welche Alle bestraft, die das göttliche Gesetz überschreiten« (716a).

Die Anähnlichung an den Gott (homoiosis tou theou) ist daher das höchste Ziel für die Bürger. Denn allein in Gott liegt das eigentliche Maß. Deshalb ist Gott das Maß aller Dinge (716d) – und eben nicht der Mensch im Sinn des Homo mensura-Satzes von Protagoras. Im Blick auf die Paideia bedeutet dies, dass Frömmigkeit gegen die göttlichen Mächte und Verehrung gegenüber den Eltern von besonderer Bedeutung sind. Namentlich werden hier Nemesis und Dike hervorgehoben (717d). In der Linie der Spätdialoge, die ein gemischtes Leben als das für Menschen bestmögliche Leben bezeichnen, enthält die Vorrede dann eine Rangfolge der Güter, die besonders sorgfältiger Pflege erfordern. An erster Stelle stehen die Belange der Götter (726a), daraufhin wird die Seele genannt (727a), wobei ihr nur solche Zuwendungen zukommen sollen, die sie besser machen. Erst an dritter Stelle werden die Belange des Leibes genannt, in dem Sinn, in dem auch die Gymnastik eindeutig nachrangig zur Paideia genannt worden war. Äußere Güter sollen erst an letzter Stelle genannt werden. Daraufhin wirft das Prooimion die Frage nach dem menschlichen Verhalten auf: Grundlegende Bedeutung kommt dabei dem 352 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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nun nicht mehr in Frage gestellten sokratischen Grundsatz zu, dass Unrechtleiden besser sei als Unrechttun. Diese Bestimmungen könnte man auch als Anwendungen des Grundsatzes der Selbsterkenntnis (gnothi seauton) verstehen. Sie haben zudem eine dritte Bedeutung: Der Vorzug eines Lebens gemäß der Tugend war zunächst im Blick auf das Göttliche verdeutlicht worden. Auch im Blick auf den Menschen ist ein solches Leben aber in jedem Fall vorzuziehen. Dabei spielen auch Fragen der Konvention und der überlieferten Sittlichkeit eine bedeutende Rolle. Das Bild des Atheners nähert sich mithin aufgrund solcher Reden jenem des »kalos k’agathos aner«, 147 des in Wahrheit sittlichen Mannes, als den Xenophon den Sokrates gekennzeichnet hatte. Auch die starke Stellung der Ehre, die im Tugendkanon von Cicero und in der römischen Politik insgesamt die erste Position einnehmen sollte, zeichnet sich hier bereits ab. Thematisiert wird zunächst das Verhalten gegenüber jungen Leuten. Scham und die Vermeidung irgendwelcher unziemlicher Handlungen stehen dabei an erster Stelle (729b). Die jeweiligen Verpflichtungen werden weitgehend auf die Übereinstimmung mit den Geboten der Götter zurückgeführt. So soll man Verwandten und Angehörigen derselben Abstammung besonders verpflichtet sein, weil sie dieselben Götter verehren wie man selbst (729c–d). Die Gastfreundschaft und die Verpflichtung gegenüber »Schutzflehenden« hat noch eine größere Reichweite. Sie geht auf Zeus und das besondere Gastrecht zurück, das er einräumt. Ein Frevel gegenüber Schutzflehenden wiegt also besonders schwer. Der Satz von Unrechttun und Unrechtleiden soll das Verhalten anderen Menschen gegenüber bestimmen. Als ehrenwert gilt dabei »auch schon, wer kein Unrecht begeht, aber wer es nicht einmal geschehen lässt, dass es Andere begehen, der ist es noch doppelt und dreifach mehr« (730d). Der Besonnenheit und Sanftmut, einer Haltung gemäß dem menschlichen Maß, wird dabei besonderes Gewicht beigemessen. Doch auch der Zorn (thymos) kann aufgrund der Sorge um die eigene Seele unerlässlich sein. »Denn vor den schweren und tief oder sogar gänzlich unheilbar eingewurzelten Freveln Anderer kann man nicht anders sich retten, als indem man den Kampf gegen sie aufnimmt« (731c). Die Besonnenheit ist hingegen unumgänglich, um diejenigen, die unwissend und in einer noch heilbaren Weise Unrecht tun, wieder auf den rechten Weg zurückzubringen (732a). Dabei 147

Chr. Bruell, Xenophons politische Philosophie. München 1988.

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POLIS, SEELE UND DIE HÖCHSTE IDEE

wird festgehalten, dass es auch Pflichten gegen sich selbst gebe. In ihnen manifestiert sich die richtige Form der Selbstliebe, die nicht auf sich, sondern zuerst auf das Rechte gerichtet ist. Es ergibt sich also ein Gleichgewicht von Besonnenheit und Thymos als Umriss des empfehlenswerten Lebens, und gleichermaßen wird nahegelegt, dass das tugendhafte Leben nicht nur um des äußerlichen Anscheins willen zu empfehlen ist (733a1 ff.), sondern zumindest ebenso als intrinsisches Gut und in Bezug auf sich selbst, da es den entscheidenden Vorzug hat, »mehr Freude und weniger Schmerz« (733a) mit sich zu bringen. Implizit ist hier bereits eine Mesotes-Lehre angelegt, wie sie später Aristoteles entwickeln wird, und ebenso eine Lehre von der Dämpfung der Affekte, wie sie Stoiker und Epikureer in spezifischer Weise entwickeln. Schein und innere Orientierung sind in eine Art harmonisches Gleichgewicht gebracht; die Dramatik der ›Politeia‹, der gemäß Glaukon und Adeimantos von Sokrates forderten, dass er nun die Gerechtigkeit, wie sie an und für sich sei und nicht nur wie sie erscheine, zeigen sollte, ist demgegenüber zurückgenommen. Die Selbstreflexivität über die Bedeutung der Prooimien ist an dem Punkt eingeschaltet, an dem der Maßstab der Frömmigkeit gegenüber den Göttern entwickelt wird. Diese Bestimmungen greifen also am Übergang zwischen göttlichem und menschlichem Gesetzeswerk.

Prooimion: Einstimmung auf das Gesetz Das Prooimion, also die Vorrede, ist damit bereits wie in einem »medias in res«-Sprung begonnen worden. Die Reflexion über die Funktion der Gesetzesvorrede schließt sich an (718a). Motiviert werden die Bürger dazu, die Gesetze einzuhalten, indem ihnen nicht-gesetzesförmige Vorreden vorausgeschickt werden. Es sind gleichsam »Vorspiele« in einem analogen Sinn, wie die Rede vom ›Prooimion‹ auch in der attischen Musik exponiert wird. Dahinter verbirgt sich die Aporie jedes Gesetzes, dass es nicht seine eigene Auslegung mitbestimmen kann. 148 Ebenso wenig kann es zur Einhaltung motivieDazu W. Wieland, Praxis und Urteilskraft. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 28 (1974) S. 17 ff.; siehe auch ders., Platon und der Nutzen der Idee. Zur Funktion der Idee des Guten, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 1 (1976), S. 19 ff.

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ren. Das Prooimion ist keine philosophische Einführung, wohl aber eine Einführung der ›orthe doxa‹. Der Athener vergleicht es mit dem weicheren Garn, das in das härtere Garn der Sanktionen und Strafandrohungen, also des Gesetzeswerkes im engeren Sinn, hineinzuflechten ist. Wenn ein Gesetz diese Bestandteile enthält, so entspricht es der Handhabung eines Arztes für freie Bürger, der ihnen in Grundzügen erläutert, weshalb sie bestimmte Anordnungen befolgen sollen und was dies für ihre Gesundheit bedeutet (721a). Ein Sklavenarzt würde dagegen die unverstandenen Anordnungen mit Drohungen verbinden. Der von ihm Behandelte würde nicht wissen, weshalb er die Anordnungen befolgen soll. Wenn der Eingang entsprechend ausführlich exponiert wird, können die einzelnen Gesetzesregularien verhältnismäßig knapp ausfallen. Die Mustergesetzgebung für eine kretische Kolonie, die die Ausgangssituation der ›Nomoi‹ liefert, führt an einen im engeren Sinn politischen Akt, eine tatsächliche Gesetzgebung, heran. Aufgrund dieser Konkretisierung unterscheiden sich die ›Nomoi‹ von dem philosophisch-eidetischen Grundriss einer Gesetzgebung in der ›Politeia‹. Deshalb werden auch Fragen der Beschaffenheit des Landes und ihrer Wünschbarkeit in einer Mischung aus beeinflussbaren und feststehenden Komponenten diskutiert. Dabei fällt sogleich die antimaritime Konzeption auf. 149 Die Nähe des Meeres bietet, so der Athener, »zwar Tag für Tag ihre süßen Reize dar, in Wahrheit aber ist es eine salzige und bittere Nachbarschaft« (705a). Sie würde Handelsgeist und Gewinnsucht entstehen lassen, unter Umständen auch zu kriegerischen Abenteuern ermutigen, wobei der Athener festhält, dass die Attika von Landkriegen weit mehr Gewinn gehabt habe als von Seeschlachten. Kurz, die maritime Lage führe dazu, »sich der Treue und dem Wohlwollen gegeneinander sowie gegen andere Menschen« zu entfremden. Als günstig wird es bezeichnet, dass das Land das Wesentliche an Bodenschätzen und Ertrag hervorbringt, dass es aber gerade nicht »vielergiebig« ist (705b). Dies hätte nämlich die Nötigung zum Export zur Folge. Die Polis würde dann in Außenbeziehungen genötigt, die wiederum Erschütterungen zur Folge

Vgl. D. Lüddecke, Platons antimaritime Konzeption, in: M. Knoll (Hg.), Platons ›Nomoi‹. Die Akten einer Tutzinger Tagung vom Dezember 2015. Baden-Baden 2017, i. E.

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haben könnten. Es ist ohne Zweifel das Konzept eines »geschlossenen Handelsstaates«, wie es Fichte in seiner Zeit gänzlich anachronistisch wiederholen sollte. Unter plutokratischen Gesichtspunkten höchst erwünschte Wirkungen werden daher als schädlich und zu vermeiden charakterisiert. Auf zu erwartende Positivposten, wie die zahlreichen Häfen an der Küste, antwortet der Athener mit einem Ausdruck des Bedauerns. Nur das Gesetz sei richtig gegeben, »welches wie ein guter Bogenschütze stets sein Ziel im Auge behält« (706a); und dies eben sei die Übereinstimmung des Rechtsgesetzes mit der Tugend. Hinsichtlich der Herkunft der Bevölkerung ist aber gerade nicht größtmögliche Homogenität wünschenswert. Die Zugehörigkeit zu einem Stamm könne vielmehr den Rückfall in alte, wenig gute Konventionen bedeuten und die Annahme der neuen Gesetzgebung erschweren. Verfassungsfreundschaft und ›synousia‹ könnten dagegen einen neuen Geist konstituieren. Eingeräumt wird aber auch, dass menschliches Handeln immer gebunden ist. Neben dem göttlichen Grund sind es Geschick und Gelegenheit und jeweils bestehende Verhältnisse (709c). Diese Ausgangslage schreibt sich in die Gesetzgebung ein. Und eben an diesem Punkt evoziert der Athener als den günstigsten Ausgangspunkt für eine solche Gesetzgebung, dass die beste Voraussetzung ein weiser und besonnener Tyrann sei (710d). Seine Naturanlage oder die Umprägung seines Charakters auf eine konstante Wohlgesinntheit hin könnte unmittelbar in die Gesetzgebung einwirken. Damit wird offensichtlich die geniale Pathologie des tyrannischen Charakters in der ›Politeia‹ an entscheidender Stelle korrigiert, auch wenn diese den Erfahrungen besser entsprechen dürfte, die Platon zwei Mal in Syrakus machen musste. Monarchien werden erst als zweitbeste Möglichkeit der Transformation, Demokratie als dritte genannt. Die Bedeutung dieser Klärungen erweist sich auch darin, dass sie der Benennung der gesuchten Verfassung als Nomokratie vorausgeht. Die üblichen Namen der Herrschaftsformen seien gerade nicht aussagekräftig. Deshalb sei es eine Stärke der lakedaimonischen Verfassung, dass sie nicht ohne weiteres in diesem Raster aufgehe. »Das kommt daher, Bester«, gibt der Athener dem Kleinias zu verstehen, »[dass] ihr im Besitze wirklicher Staatsverfassungen seid, während die eben angeführten keine Staatsverfassungen sind, sondern nur das Zusammenleben von Leuten in einem Staate bezeichnen« (712e). Die Gesetzesherrschaft wird daher am ehesten der Herrschaft höherer Wesen, wie der Dämonen oder Götter, über die Menschen 356 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

›Nomoi‹ – Ein Ausblick

entsprechen. Sie garantiert Unparteilichkeit und wird nicht zur parteilichen Setzung von Machthabern degenerieren. An späterer Stelle wird noch einmal die Frage nach dem Status und der Realisierbarkeit jener Verfassung aufgeworfen. Sie gilt dabei als zweitbeste Verfassung, eben als am möglichen Besten orientiert (746a). Dabei wird festgehalten, dass die Umstände kaum immer ideal sein werden. In der ›Politeia‹ war bereits auf die Frage nach der Möglichkeit der idealen Polis so geantwortet worden, dass Platon auf die Idee des Guten und damit auf das Urbild verwiesen hatte: Wenn sie es sehen würden und wenn sie wirklichen Philosophen begegneten und nicht nur Trugbildern, dann würden sich die Polisbürger durchaus zu einem solchen Gemeinwesen bewegen lassen. Ähnlich heißt es in den ›Nomoi‹, man solle zunächst das Muster (paradeigma) aufstellen, wie sich die Dinge in Wahrheit verhalten (746c); dieses müsse man dann nach aller Möglichkeit zu realisieren versuchen. Wenn man von Anfang an nur auf das Urbild schaue, sei die Orientierung an der Bestheit von vorneherein verloren.

Gewebe: Gesetzesstrukturen Das Gesetzeswerk selbst kennzeichnet Platon durch eine Zweiteilung: Es sei zwischen den Bestimmungen für diejenigen zu unterscheiden, die einmal obrigkeitliche Ämter einnehmen würden, und für diejenigen, denen nur wenig abverlangt werde. Dies ist der Sinn der Rede vom »weicheren« und »härteren Garn« (734e). Die beiden Zentralstücke der Verfassung betreffen daher die Besetzung der Ämter und ihre Handhabung (735a). Auch hier ist letztlich in einer anderen Begründungsweise der Ansatz vom Philosophenkönigssatz noch einmal wiederholt. Davon ist nicht explizit die Rede. Es geht aber offensichtlich darum, ein Gesetzeswerk zu begründen, das in der Lage ist, die Seelen der Menschen zu bestimmen, denen viel abgefordert wird. Es geht gleichsam um eine Entsühnung der Vergangenheit und einen neuen Anfang, wobei der ursprüngliche Frieden und die Eintracht keineswegs durch Verteilungsungerechtigkeiten gefährdet werden sollen. Zunächst wird in Buch V verdeutlicht, dass es einer grundsätzlichen Reinigung der Gesellschaft bedürfe, bevor die Gesetzgebung greife, da sonst die Kontingenzen zu stark würden. Dies bedeutet auch, dass die Einwanderung einer neu zu gründenden Polis klug ge357 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

POLIS, SEELE UND DIE HÖCHSTE IDEE

regelt werden muss. Als elementar wird zunächst die Verteilung des Landes charakterisiert. Im Einzelnen ist zu den von Platon genannten Zahlenwerten vieles bemerkt worden. Wesentlich ist der Grundsatz, dass gemeinsamer Besitz, also der berüchtigte Kommunismus aus dem fünften Buch der ›Politeia‹, die ideale Ordnungsform sei. Er wird auf den Satz bezogen, dass »Freunden in Wahrheit Alles gemeinsam« sei (739c). Dies würde aber im wörtlichen Sinn nur für Götter und Heroen umgesetzt werden können. Daher kann die zweitbeste Verfassung nur eine Realisierung im anderen Genus des begrenzten menschlichen Lebens leisten. Maßgeblich ist aber, dass ein Teil des Landes den Göttern zugewiesen wird, denen darauf Heiligtümer errichtet werden (738b). Die zweitbeste Verfassung sieht eine private Bewirtschaftung des eigenen Landes vor. In der Teilung der Parzellen soll auf eine grundsätzliche Verteilungsgerechtigkeit geachtet werden. (740a1 ff.). Das Erbrecht wird als Mittel eingesetzt, um die Zahl der Bürger konstant zu halten. Auf die Veräußerung von geerbtem Landbesitz setzt die Mustergesetzgebung hohe Strafen fest. Doch auch sonst sind die Besitzreglements erstaunlich streng (742a): Gold- und Silberbesitz ist stark reglementiert (742b). Münzbesitz ist eine öffentliche Angelegenheit, Privatpersonen sind davon auszuschließen. Armut und Reichtum sollen streng begrenzt werden (744b): Dies geht weit über die Bestimmung des Aristoteles hinaus, der den »mittleren Stand« als Träger der bürgerlichen Gemeinschaft charakterisierte. Die größte Krankheit der Polis, die Stasis, also der Aufruhr der einen gegen die anderen, könne am ehesten beseitigt werden, wenn »weder der eine Teil in drückender Armut noch der andere in übermäßigem Reichtum« lebt (744d). Dazu wird festgelegt, dass die Armutsgrenze beim Besitz des zugelosten Landes liege, der höchste zulässige Besitz bei einer vierfachen Menge jenes Reichtums. Im Einzelnen wird ein komplexes Losverfahren vorgeschlagen, das die einzelnen Phylen auf Götter bezieht und aus dem dann vier Steuerklassen hervorgehen sollen. Auch sie bemessen sich nicht nach der Höhe der Einkünfte, sondern bilden eine Mischung. Das VI. Buch verhandelt sodann die Frage der Besetzung der obrigkeitlichen Ämter. Hier ergeben sich fundamentale Probleme, in die man bereits durch eine Anwendung der Gesetze gezogen wurde, die zur Verurteilung des gerechtesten Mannes, eben des Sokrates, geführt hatten. Der Athener bemerkt auch (751b), dass selbst die besten Gesetze keinen Nutzen für die Polis hätten, wenn sie von schlechten 358 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

›Nomoi‹ – Ein Ausblick

Magistraten verwaltet würden (751c). Das bereits in der ›Politeia‹ aufgeworfene Problem der »Polis in Bewegung« hängt damit zusammen, dass es einer Erhaltung (soteria) der Gesetze bedarf, die deren Geist gemäß ist. Dahinter steht die grundlegende Aporie, dass Gesetze niemals Verfügungen über ihre eigene Anwendung treffen können. 150 Eine Schwierigkeit besteht nun darin, die ersten Amtsinhaber zu benennen, die noch nicht mit den Gesetzen vertraut und ebenso wenig durch ihre Bestimmungen, etwa in der Paideia-Frage, geprägt worden sind. In Vorschlag gebracht wird letztlich ein doppeltes Wahlverfahren, das zunächst im Tempel und dann vor der gesamten Bürgerschaft auf der Agora ratifiziert wird. Die Mustergesetzgebung sieht auch vor, dass nur Bürger der neu zu begründenden Musterkolonie aufgenommen werden sollen, keine Fremden, und auch nicht die Gesetzgeber selbst. Das Gremium der Gesetzesverwalter, das siebenunddreißig Personen umfassen soll, 151 hat in erster Hinsicht die Wahrung der Gesetze zu handhaben. In zweiter Hinsicht obliegt ihnen auch das Verzeichnis der Steuerklassen und der Finanzverwaltung. Hinsichtlich der Altersgrenzen nach oben und unten kann man gewisse Analogien zu den Altersgrenzen in der ›Politeia‹ ziehen: Nicht vor dem fünfzigsten Jahr soll man ein solches Amt bekleiden können und nicht nach dem siebzigsten (755a). Die maximale Amtsdauer soll zwanzig Jahre betragen. Bei den Militärbeamten besteht ein Vorschlagsrecht durch diejenigen Magistraten, die die Gesetze zu verwalten haben. Die Nomokratie gibt also auch im Militärwesen letztlich den Ausschlag. Wenn Gründe in Tüchtigkeit und Eignung vorliegen, kann die Vorschlagsliste aber nicht ergänzt werden (755d). Eingehend werden auch die Ernennungsbestimmungen für die anderen Ämter erörtert. Bei Sakralbeamten spielt das Los eine gewichtigere Rolle. Daraufhin folgt eine Prüfung ihres Herkommens und ihrer Prägung (759c). Es besteht eine enge, durchaus umständliche Ligatur der Sakralämter

Dem tragen eben Begriffe der Urteilskraft, in der antiken Philosophie insbesondere die ›phronesis‹, Rechnung. Vgl. zu diesem Strukturproblem W. Wieland, Platon und der Nutzen der Idee. Zur Funktion der Idee des Guten, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 1 (1976), S. 19 ff. Siehe auch R. Enskat, Ontologie, Sozialphilosophie oder Politische Philosophie der bürgerlichen Gesellschaft? Zu einer Fundamentalalternative der Praktischen Philosophie, in: Politisches Denken 2013, S. 193 ff. 151 Dazu der Kommentar von Schöpsdau, a. a. O. 150

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POLIS, SEELE UND DIE HÖCHSTE IDEE

zum Delphischen Orakel. Die Musterkolonie soll also offensichtlich in besonderem Maß im apollinischen Geist begründet werden. Die zeitliche Begrenzung wird bei den Sakralämtern besonders betont: Niemand soll sie länger als ein Jahr innehaben (759d), die Altersgrenze beträgt sechzig Jahre. Bei anderen, besonders zentralen Funktionen, wie der Aufsicht über das Erziehungswesen, wechseln in einem kunstvollen Modus Wahl und Bestimmung nach dem Losentscheid einander ab. Die Bedeutung der Erziehung wird noch einmal sehr deutlich formuliert. Sie soll »nie irgendetwas Anderem« nachgestellt oder zu einer Nebensache erklärt werden (766a). Die polizeiliche Funktion, also die elementare Aufgabe des Phylakes-Amtes im Sinn der ›Politeia‹, sichert die rechtserhaltende Funktion der geschlossenen Ökonomie der Mustergesetzgebung. Sie habe zugleich richterliche Befugnisse zu erfüllen und über die Annahme oder Zurückweisung von Klagen zu befinden. Auch hier wird die Amtszeit klar auf zwei Jahre befristet; öffentliches Einnehmen der Mahlzeiten und eine sehr starke Bindung an das Territorium der eigenen Polis sind Teil der starken disziplinarischen Maßnahmen, die in diesem Zusammenhang formuliert werden. Auch im Blick auf andere Ämter wird deutlich, dass vordergründig kein Gewinn und keine Besserstellung zu erwarten sind – ganz im Gegenteil. Angesichts der Forderung, dass die Gesetze auf den notwendigsten Kern begrenzt bleiben und eine gewisse Lakonie herrschen soll, ist die Ausführlichkeit bemerkenswert, mit der die obrigkeitlichen Ämter behandelt werden. Das gesamte VI. Buch der ›Nomoi‹ widmet sich diesem Belang. Dies ist dadurch noch auffälliger, dass angekündigt wird, die bestehenden Gesetze würden durch eine Reihe weiterer Ausführungsbestimmungen ergänzt werden. Die Vorkehrungen, die verhindern sollen, dass nicht Bessere von Schlechteren regiert werden, und die Idee einer Mischverfassung werden bis in Detailbestimmungen hinein konkretisiert. Die Richter zum Beispiel, mit denen die Freunde des Sokrates wenig erfreuliche Erfahrungen gemacht hatten (767d), sollen vor ihren Wählern geprüft werden. Es besteht ein großzügiges Interpellationsrecht und die Möglichkeit, diejenigen zur Verantwortung zu ziehen, die einen Missstand verursacht haben. Das Gesetzeswerk der ›Nomoi‹ geht von Menschen aus, die sich bewusst sind, dass eigentlich die Götter die besseren Gesetzgeber für Menschen wären. Deshalb sollen die Gesetze auch verbessert werden können, wenn neue und tiefere Einsichten bekannt sind (770b–c). Es wird geradezu als Wesensmerkmal der Klugheit des Gesetzgebers 360 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

›Nomoi‹ – Ein Ausblick

verstanden, dass er solche Modifikationen vornimmt. Er wäre sonst wie ein Maler, der wider besseres Wissen an einer Version seines Abbildes festhält, auch wenn er in der Zwischenzeit viel tiefere Einsichten in das Urbild gewonnen hätte. Auch in der Vorrede zu Einzelgesetzen wird explizit festgehalten, dass an der Nachbesserung der Gesetze zu arbeiten sei (722b–c), solange der Erstgesetzgeber lebe, in Verbindung mit ihm; wenn er gestorben ist, eigenständig.

Die Gesetze und der Verlauf des menschlichen Lebens Die Gliederung der Gesetze folgt dem Plan und Verlauf des menschlichen Lebens. Es beginnt mit Bestimmungen, die den Bereich vor dem individuellen Leben betreffen: Liebe, Eheschließung, Zeugung und Erziehung in den ersten Lebensjahren eines Kindes. Die Zurückhaltung, mit der der platonische Sokrates alle solche Einzelbestimmungen im V. Buch der ›Politeia‹ kommentiert hatte, hat in den ›Nomoi‹ keine Entsprechung. Eine Trennung zwischen einem öffentlichen und einem privaten Bereich ist nicht zu erkennen. Der Exposition des Gesetzeswerks wird der Lebensbogen einer Generation zugrunde gelegt. Härteres und weicheres Garn verbinden sich miteinander. Der ›Agraphos Nomos‹, eine natürliche Kenntnis der Welt und des Menschen, einschließlich der Affekte und ihres Verhältnisses zum Logos, leitet die Gesetzesbestimmung an. Er verdient immer besondere Aufmerksamkeit, weil in ihm gleichsam die göttliche Stimme zum Tragen kommt. Dies bedeutet auch, dass sich das Gesetz allzu detaillierter Einzelbestimmungen über Fragen der persönlichen Lebensführung zu enthalten hat. In den Einzelgesetzen kommt der Konvention und Schicklichkeit besonderes Gewicht zu. Ein Mythos und eine doppelte Wahrheit, wie in der ›Politeia‹, wird hier freilich nicht bemüht. Ehelosigkeit auf Dauer soll unter Strafe gestellt werden; Regularien betreffen die Standeszugehörigkeit, wobei der Gesetzgeber darauf achtet, dass nicht Angehörige gleicher Stände einander heiraten, sondern dass eine Verbindung des Einen und Anderen zustande kommt (733c). Von vorneherein wird festgehalten, dass die Eheschließung ein öffentlicher Akt ist (773a und c) und dass die günstige Mischung den Vorrang vor der persönlichen Neigung haben soll. Manche Elemente betreffen eher die Kategorie der Billigkeit, die Aristoteles der Phronesis, der praktischen Klugheit der Betroffenen, zuweisen und gar 361 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

POLIS, SEELE UND DIE HÖCHSTE IDEE

nicht mehr im Einzelnen regulieren wird. 152 Auf die Errichtung eines eigenen Hausstandes des jungen Paares wird Wert gelegt. Die Eltern sollen gerade nicht ständig präsent sein (776a–b). In den Einzelbestimmungen zeichnet sich eine Art Mesotes-Lehre ab. Die Sklaven sollen keineswegs ruchlos und schlecht behandelt werden (777c). Ihnen sollen aber auch keine Unbotmäßigkeiten erlaubt werden. An einzelnen Stellen, etwa bei den Bestimmungen für die Landaufseher, wird deutlich, dass Platon seine Bestimmungen fast schon auf ein Ende der Sklaverei orientiert. Doch die letzte Konsequenz wird daraus nicht gezogen. So wird am Ende des Sklavenabschnitts festgehalten, die Anrede an einen Sklaven müsse »fast jederzeit ein Befehl« sein (778a). Die Grenzsetzung ist ein zentrales Anliegen der ›Nomoi‹. Wie schon Heraklit wusste, wird eine Polis nicht allein durch die Mauern der Stadt geschützt, sondern vielmehr noch durch die Männer, die sie verteidigen. 153 Und wie Richard Sennett gezeigt hat, sind Städte aus Fleisch und Stein errichtet. Die Stadtarchitektur unterliegt daher dem Gesetzgebungswerk, ist aber selbst Teil der Gesetzgebung, gleichsam deren sichtbare Manifestation. Sie signalisiert die Gewichtungen und Wertigkeiten. So sollen die Heiligtümer kreisförmig die Stadt durchziehen (778c); sie sollen auf erhöhten Punkten situiert werden. Die Nähe von Recht, Gesetz und Gottesherrschaft wird dadurch bezeichnet, dass die Gerichtshöfe in der Nähe der Heiligtümer angesiedelt sind. Sehr deutlich wird dabei die Grenzsetzung formuliert. Die Stadtmauern sollten »besser von Eisen und Erz als von Erde« sein (778d–e). Die Befestigungslehre betont aber auch, dass wesentlicher als die Mauern regelmäßig aufgestellte Wachen sind. Die Häuser wiederholen offensichtlich diese Architektur (779b) im Kleinen. Ihre Frontansicht soll selbst zu einer Mauer zusammengefasst werden. Daher geht es auch hier nicht einfach um Privatbesitz, sondern um die Gesamtkonstitution der Polis. Diese Linie setzt sich fort, wenn die Ansiedlung der einheimischen Bevölkerung und ebenso der fahrenden Händler, Schauspieler, Freudenmädchen exponiert wird – jener Gruppierungen, die Dazu Bien, Die Grundlegung der politischen Philosophie bei Aristoteles, a. a. O., S. 180 ff., ferner P. Aubenque, Politique et éthique chez Aristote, in: Ktema 5 (1980), S. 211 ff. 153 Heraklit DK Fragment B 44: »Kämpfen soll die Bürgerschaft für ihr Gesetz wie für die Mauer«. Im Hinblick auf das Auffälligwerden der keineswegs selbstverständlichen inneren Gesetzesordnung vgl. Seubert, Polis und Nomos, a. a. O., S. 104 ff. 152

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›Nomoi‹ – Ein Ausblick

schon in der ›Politeia‹ als Exponenten der hypertrophen und »verfetteten Stadt« charakterisiert worden waren und um deren Eindämmung willen die Gesetzgebung überhaupt erforderlich wurde. Die Ehegesetzgebung verpflichtet auch die neuvermählten Paare auf die größtmögliche öffentliche Präsenz, weil nur das, was sich im Polisraum abspielt, nach Gesetz und Harmonie geordnet werden kann. Verhindert werde dadurch die Zunahme eines nicht-öffentlichen und damit rechtsfreien Raumes. Die ausführlichere, die ›orthe doxa‹ bemühende Begründung geht aber noch weiter. Sie besagt, dass die drei elementaren Bedürfnisse nach Speise, Getränken und Fortpflanzung gleich nach der Geburt wach würden (782e). Jene Vitalfunktionen sind einerseits Grundlage für alles höhere Leben, andererseits können sie zur Degeneration führen. Augenfällig ist, dass die starke politische und öffentliche Beteiligung der Frauen an der Polis, die im Blick auf Politeia V gar von Platon als einem ›Feministen‹ sprechen ließ, als Entsprechung die starke Einbeziehung in das öffentliche Leben aufweist. Sie ist offensichtlich eher eine lakedämonische als eine Athener Eigenschaft. Die Ehegesetzgebung der ›Nomoi‹ ist im Einzelnen knapper als in der ›Politeia‹ ; es werden Altersgrenzen zwischen Mann und Frau festgelegt (785a), wobei für Mädchen das Alter von 16–20, bei jungen Männern von 30–35 Jahren genannt ist; 154 und es wird festgehalten, dass die Eheschließungen an bestimmte Gottheiten der Stadt zu binden sind. Die Detailliertheit dieser und anderer privatrechtlicher Bestimmungen ist dem neuzeitlichen und erst recht dem spätmodernen, pluralistischen Rechtsinstitut fremd. Man sollte sie aber nicht vor diesem Fokus beurteilen; die islamische Rechtsstruktur der Scharia lässt durchaus eine Nähe zu Platon erkennen. Auch das jüdische Gesetz in seiner deuteronomistischen Urstiftung hat erstaunliche Affinitäten zu den ›Nomoi‹ – sie führten zu nicht ganz unbegründeten spekulativen Konjekturen des Sinnes, dass Platon Moses gekannt haben müsse. 155 Diese Diskussion, die zwischen der jüdischen und griechischen Philosophie aufzunehmen wäre und die bereits im Mittelalter einen Topos markiert, kann hier nur angedeutet werden. Sie erfordert eine differenzierte Einzeichnung der platonischen ›Nomoi‹ in den Rechtszusammenhang der hebräischen Bibel und der arabischen Philosophie. Vgl. den Anstoß bei Strauss, Philosophie und Gesetz. Frühe Schriften, in: Strauss, Gesammelte Schriften Band 2, a. a. O., S. insbes. S. 47 ff. Siehe auch R. Brague, La loi de Dieu. Histoire philosophique d’une alliance. Paris 2005. Ich werde mich in den nächsten Jahren auch diesen Fragen zuwenden. 155 Dazu wieder Strauss, a. a. O. 154

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Bis heute sind in den immer stärkeren Konfliktlagen zwischen säkularen und theokratisch verfassten Rechts- und Gesellschaftsordnungen solche Bestimmungen bekannt, und in einer Situation, in der der Konflikt zwischen beiden Paradigmen wieder stärker deutlich wird, ist auch die platonische Option zwar vermutlich nicht modernefähig, wohl aber mehr als ein bloßes Vergangenheitsrelikt. Der Status der einschlägigen Paideia-Bestimmungen ist daher der Ratschlag und nicht die mit Sanktionen bewehrte positive Gesetzgebung selbst. Berührt wird hier offensichtlich ein Bereich der Billigkeit (epikia), den auch Aristoteles vom Recht strikt unterscheiden wird. 156 Die Paideia-Lehre der ›Nomoi‹, die kompakt im VII. Buch abgehandelt wird, ist selbst nicht rechtsförmig angelegt. Eine stimmige Paideia sei aber geradezu die Voraussetzung für eine gute Gesetzgebung und erst recht einen guten Gebrauch der Gesetze. Hier klingt implizit, ohne dass sie genannt würde, die Analogie zwischen großer Schrift in der Stadt und kleiner Schrift in der Seele an. Die Paideia beginnt bereits als Ernährung (trophé) vor der Geburt des Kindes im Mutterleib (789a–b); denn das neugeborene Kind hat den größten Teil seines bewussten Lebens im Mutterleib verbracht. Auch die Bedeutung der Gymnastik und Diätetik wird deutlich vor die Geburt des Kindes verlegt. Den werdenden Müttern sei in besonderer Weise Bewegung anzuraten. Auch für die Säuglinge spiele Bewegung bereits eine wesentliche Rolle. Sie könnten durch Musik in den Schlaf gewiegt werden, wodurch sich die Zustände bacchischer Raserei oder einfach der Schlaflosigkeit (790e–791a) verbessern ließen. Auf diese Weise soll gleichsam habituell eine Mitte zwischen Lust und Schmerz gewonnen werden; Bedingung jenes »gemischten Lebens« zwischen Begierde und Vernunft, von dem im ›Philebos‹ die Rede ist. 157 Ein leichter, nicht missmutiger Sinn soll gewonnen werden, was durch eine Neuorientierung der Kinderpflege durch die Wärterinnen geschehen soll, die die Kinder gerade nicht beständig verwöhnen und verzärteln dürfen. Die Seelenharmonie wird mit den »Bändern der ganzen Verfassung« (793b) gleichgesetzt; in der Analogie ist auch an die Bänder (desmoi) zu denken, jene Bänder, die der Demiurg im ›Timaios‹ für das kosmische Urbild der guten Verfassung einsetzt. Das ungeschriebene, durch Besonnenheit und Gewohnheit eingeschliffe156 157

Vgl. Eth. Nic. V. 1, siehe auch X. 1. Dazu Benardete, The Tragedy and Comedy of Life.

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ne Gesetz hat dabei vor dem geschriebenen stets und jederzeit den Vorrang, sodass die schriftlich gegebenen Gesetze letztlich nur »eine feste Verkleidung« (793c) bilden. Sehr deutlich wird dabei festgehalten, dass auf diesem und keinem anderen Weg die Gutheit und Rechtlichkeit in die Polis eingefugt würde. Auch die Erziehung der Kleinkinder wird nach Harmonie- und Maßkriterien exponiert. Im Einzelnen wird sie, in einer weiteren Präfiguration zu Aristoteles, als Mitte zwischen einem Übermaß und einem Mangel an Bestrafung charakterisiert. Damit folgt sie im Wesentlichen dem Muster der Sklavenerziehung und zugleich dem Prinzip der Mischung und des »Von nichts zu viel«. In der Erziehung zwischen dem siebten und zehnten Lebensjahr werden in einem doch erstaunlichen Maß Prinzipien der Koedukation benannt. Der Vorbehalt gegenüber einer virtuosen Beherrschung der Techniken der Musenkunst, den auch Aristoteles wirkmächtig formulieren wird, 158 ist hier vorgeprägt. Jungen und Mädchen soll der Waffengebrauch beigebracht werden, dabei sollen beide Geschlechter im Wesentlichen gleich behandelt werden. Die beiden Grundsäulen der Paideia, Gymnastik und Musik, werden wie in der ›Politeia‹ auch in den ›Nomoi‹ evoziert. Es beginnt bei den Spielen. Zu den Kleinkinderspielen war noch kein dezidierter Ratschlag erforderlich gewesen, weil sie »so natürlich« seien, dass es kaum Abweichungen gebe. Anders ist es bei den Spielen in der Adoleszenz. Sie differenzieren sich weiter und sollen die Seelen auf das Polisleben vorbereiten. Vor allem setzt der Athener auf die Stabilität und Kontinuität der Spiele. Dies ist ein Grundzug, der für die gesamte Paideia gelten wird. Sie muss in jedem Fall Konstanz haben. Vielfache Veränderungen würden das Maß relativieren und damit »das größte Übel« für Staaten (798d). Dies führt zu einem geradezu statutarischen Verständnis der Maßstäbe in der Musik und ihrer kultisch-hieratischen Bindung, die weit über den Grundriss in der ›Politeia‹ hinausgeht. Alle Tänze und Gesänge sollen geheiligt und Gottheiten zugewiesen werden (799a). Damit wird dem ägyptischen Vorbild und seiner Unabänderlichkeit der Gesetze 159 exemplarischer Rang

Vgl. J. L. Cleary, Paideia in Plato’s Laws, in: International Plato Studies 15 (2003), S. 165 ff. Ferner E. Fink, Metaphysik und Erziehung im Weltverständnis von Plato und Aristoteles. Frankfurt/Main 1970. 159 Dazu B. Wilke, Vergangenheit als Norm in der platonischen Staatsphilosophie. Stuttgart 1997. 158

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eingeräumt. »So möge denn vor der Hand dieses Seltsame beschlossen und die Gesänge für uns zu Gesetzen erhoben sein« (799e). Während also die Paideia nur der Logik des Ratschlags unterliegt, ist die Musik selbst gesetzesförmig zu erfassen. Die Musikgesetze sind damit zugleich Religionsgesetze – eine Verschränkung, die sich bereits in der ›Politeia‹ andeutete. Es ergibt sich damit eine Art Zirkularität zwischen Gesetzesstruktur und der Erweckung einer bestimmten, entsprechenden Seelenstruktur. Festgelegt wird, dass nur gute Vorbedeutungen und wünschenswerte Affekte geweckt werden sollen (800d). Ein zweites Gesetz sieht vor, »dass unsere Gesänge allemal Gebete zu den Göttern seien, welchen wir gerade opfern«. Der Bittcharakter und die mögliche Wirksamkeit solcher Bitten soll beim Wort genommen werden (801a–b). Deshalb soll in keinem Fall ein destruktives Moment in die Bitten einbezogen werden. Gesetzeskraft soll damit auch das Verhalten der Dichter lenken (801d): Dichter werden in der bestmöglichen Polis gerade nicht des Landes verwiesen, so wie dies die ›Politeia‹ festlegte. Sie werden aber an die Gesetze gebunden. Dichterische Leidenschaft (mania) ist nicht vom Rechtssystem ausgenommen. Die weiteren Bestimmungen zu Rhythmus und Melos folgen jenem Grundschema, das Platons Sokrates in der ›Politeia‹ dem Musikmeister Damon entlehnt hatte: Es geht um ein Ethos der guten, geschlossenen Harmonien. Wer die Harmonien von Kindheit an gehört hat, wird sich auch in späteren Jahren immer zu ihnen hingezogen fühlen (802c). Die Harmonik wird weniger differenziert als in der ›Politeia‹ charakterisiert, sie wird allerdings auch geschlechter-anthropologisch spezifiziert. Die anthropologische Frage wird, wie wir bereits mehrfach beobachteten, in den meisten Platonischen Dialogen ausgeblendet. Eine prägnante Ausnahme bildeten ›Timaios‹ und ›Philebos‹. 160 In den ›Nomoi‹ rückt demgegenüber vor dem Hintergrund einer Lehre von Spiel und Ernst durchaus eine fundamental-anthropologische Perspektive in den Blick. Sie enthält ein bemerkenswert eindeutiges Plädoyer für den Vorrang des Spiels und der Muße (schole) vor den vermeintlich ernsten Belangen wie dem Krieg. Der innere Widerstreit zwischen Besonnenheit und Tapferkeit dringt dabei durch, den Platon schon in seinen Frühdialogen zum Thema gemacht hatte. Dahinter steht die Verpflichtung der politischen Sphäre auf den Frieden, und 160

Dazu vorliegende Monographie weiter unten, Kapitel Sieben II.

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nicht auf den Krieg. Die Besonnenheit wird als die übergreifendere Tugend ausgewiesen, die deshalb auch den Menschen als Spieler und Mitspieler im großen göttlichen Spiel erkennen lässt. Nur der spielerische Charakter in der Ausübung der musikalischen Kunst sichert Freiheit und die Friedensorientierung der Seelen, und ausschließlich er unterscheidet die zu gründende Musterkolonie von einem spartanischen Heerlager. Nicht alle Bestimmungen können hier im Einzelnen thematisiert werden. Hinsichtlich der Schule wird die Orientierung auf die Muße (schole) und nicht auf die Arbeit besonders betont. Auch der koedukative Aspekt wird hervorgehoben. Mädchen und Buben sollen gleichermaßen und in den gleichen Disziplinen erzogen werden. Diese Prägung setzt sich auch im Erwachsenenleben fort. Dieses ist nicht mehr der Bildung zugänglich, wohl aber eine Übung und Orientierung. Platon sieht in ihrem Zentrum die gleichmäßige Pflege des Leibes und der Seele: eine Arbeit an der eigenen Skulptur (807d). Tag und Nacht seien nicht hinreichend, »wenn man eben lediglich dies zu seiner Aufgabe macht, es hierin zur Vollendung und zu einem wirklich befriedigenden Ziel zu bringen« (ibid.). Nicht auf der Tiefenebene des ›Phaidros‹ wird der direkte Problemzusammenhang im Blick auf die Unterweisung in Lesen und Schreiben hin fortgesetzt. Die Beschäftigung mit den Werken der Dichtung wird erneut differenziert dargestellt. Deren Werke enthielten manches, was Lob, anderes, was Tadel verdiene. Das Paradeigma, das nebenher gezeigte, aber grundlegende Muster, das genannt wird, sind die ›Nomoi‹ selbst. Damit wird nahegelegt, dass sie jene wahre Dichtung und Rhetorik verkörpern, die als Idealbild der guten musischen Bildung ausgezeichnet wird. Die Bestimmungen über das Leben der Älteren erweisen sich lediglich als Exkurs: auch Exkurse haben in den ›Nomoi‹ die Funktion des dünneren Garns. Hinsichtlich der Musenkunst wird für die biologische Umbruchzeit vom 14. bis zum 16. Lebensjahr eine zentrale Weichenstellung gesetzt. Die ›Nomoi‹ folgen also einer feineren Struktur als der Siebenerzahl, die in der ›Politeia‹ durchgehend zugrunde gelegt ist. Hier geschieht ein erster Ausblick auf die Variabilität in Rhythmik und Melos, deren subtilste Beherrschung in den Dionysoschören gefordert ist. Sie sollen bekanntlich ausschließlich den Greisen vorbehalten sein. Dabei wird die Tektonik durch den Leitfaden des Bezuges von Besonnenheit und Tapferkeit gesichert, der beiden Tugenden, die in 367 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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Konflikt miteinander geraten können. Das Verhältnis von Musik und Gymnastik dient letztlich dem Grundverhältnis dieser beiden Tugenden. Der Tanz (814b–c) bezeichnet insofern ein Verbindungsglied, als er Waffentanz oder freier musischer Tanz sein kann. Der Rhythmus wird hier zu einer Art ›Einfleischung‹, 161 die sich ohnehin nur in der körperlichen Manifestation zeigen kann. Eine Isonomie von Freude und Leidvermeidung soll durch diese leibliche Harmonie gewonnen werden. Die Bestimmungen zur Gymnastik treten gegenüber jenen zur Musik deutlich in den Hintergrund, sie werden nur nebenbei thematisiert. Den Schlusspunkt der gesetzlichen Regularien zur Musenkunst bildet auch in den ›Nomoi‹ die Verfügung über Theateraufführungen. Dass das Lächerliche (geloion) geradezu unerlässlich ist, um das Hohe und Schöne zu fassen, hält Platon fest (816d). Eine bewusste Nachahmung solcher Zerrformen zieme sich aber am wenigsten für freie Menschen. Die Konkurrenz zwischen der Gesetzgebung, die auch den Charakter eines dichterischen Textes annimmt, und der Tragödie wird deutlich expliziert. Sie würden in der Musterkolonie strenger Zensur und der Prüfung unterliegen, ob ihre Kunst mit dem Wortlaut der Nomokratie vereinbar ist (817b–c). Die propädeutischen Disziplinen Mathematik, Geometrie und Arithmetik werden auch in der ›Politeia‹ eingeführt. Allerdings ist es weniger die dialektik-propädeutische Dimension, die damit ins Auge gefasst wird, als die Vorbereitung auf ein göttliches Wissen und auf die Selbstbewegung der Gottheiten, die im X. Buch entfaltet wird. Sie wird großen Einfluss auf die aristotelische metaphysische Lehre von Gott als dem »unbewegten Beweger« haben. Das entscheidende Moment ist, dass die mathematischen Künste Abbreviationen, formelhafte Verkürzungen umfassender Lehrstücke sind. Ihre genaue Kenntnis erlaubt es daher, das Gesamtfeld des Wissens auf seine innere Gesetzmäßigkeit hin zu durchdenken und zu überprüfen. Mathematische Prinzipienlehre (818c) bereitet daher auf die göttliche Kenntnis des Ganzen und Wahren vor. Dabei wird eine zweifache Struktur der Messbarkeit entwickelt: ein Messen von Größen gegeneinander (pros allelas) und die qualitative Beschaffenheit, die dem Man könnte auch von einer ›Habitualisierung‹ sprechen. Doch hier geht es tatsächlich darum, dass diese sportlichen Fertigkeiten zur zweiten Natur des Menschen werden und buchstäblich in das Fleisch eingehen. Siehe dazu Th. M. Robinson, Plato’s Psychology. Toronto 21995.

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zugrunde liegen muss. Auch in der ›Politeia‹ hatte Platon bereits die nur material angewandte Mathematik, das Zählen der Händler, vom Blick auf die Gestirne und ihren ewigen Kreislauf klar unterschieden. In Entsprechung dazu werden hier das relative Maß und das Messen von Gegenständen und Sachverhalten miteinander mit der qualitativen Messung gemäß der Wesensbeschaffenheit kontrastiert. Erst daran anschließend kommen wieder Fähigkeiten, die im Zusammenhang mit der ›Andreia‹ stehen, zur Entfaltung. Hervorgehoben wird die Jagd (822d). Eine veredelnde und eine verrohende Jagd werden voneinander unterschieden (823d), achtsamer und hegender Umgang einerseits und gierige Nachstellung andererseits haben wenig miteinander gemeinsam. Die Rasterung erweitert sich auch auf die Tierarten und ihre Lebensräume.

Fleisch und Stein: Der Mensch als Bürger Das VIII. Buch der ›Nomoi‹ beginnt wieder mit einem internen Prooimion. Es soll um die allgemeine Lebensform der Stadtbürger gehen, sofern dies nicht in den Exkursen zur Paideia-Frage bereits thematisiert worden war. Durch Opfer und Feste soll dieses Leben geordnet werden. Dabei ist eine Phylenstruktur vorgegeben, die den zwölf Göttern zugewiesen ist. Die Strukturierung der Lebensform soll auch durch einen allgemeinen Wehrdienst, der für Frauen und Männer gleichermaßen verbindlich ist, gefördert werden. Es geht dabei um die Einübung der Tapferkeit vor dem Feind, einen durch Übungen erhärteten Habitus des Wissens über das Furchtbare und Nicht-Furchtbare (831a). Denn, so gibt der Athener zu verstehen, »wenn bei dergleichen Übungen alle Furcht gleichsam tot wäre, eben damit auch jeder Prüfstein wegfiele, die Tapferen und die Zaghaften zu unterscheiden« (831a–b). Solche Übungen seien, konstatiert der Athener, in den bekannten Herrschaftsformen und Poleis unterlassen worden. Die Kritik ist vernichtend, und sie instrumentiert, was der platonische Sokrates in der ›Politeia‹ über die Staatsmänner in Athen bemerkt, nämlich dass es bislang keinen einzigen wirklichen Staatsmann gegeben habe. Als die erste Ursache werden Gier und Mehrhabenwollen genannt. Die zweite Ursache liege darin, dass die klassischen Verfassungsnamen Demokratie, Oligarchie und Tyrannenherrschaft (832c) eigentlich nur Parteinamen bezeichneten. Zudem sind sie nicht dazu in der Lage, eine »freie Übereinstimmung 369 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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zwischen Herrschenden und Gehorchenden« zu ermöglichen. Jene ›koinonia‹ werde gerade durch die Besitzdifferenzen in der Polis gefördert. Denn an der Einheit muss festgehalten werden, obwohl es solche Differenzen gibt. Sie ist also gerade nicht naturwüchsig. Aristoteles wird daraus die Konsequenz ziehen, dass eine solche Spaltung zwei Politien statt einer hervorbrächte. Das agonale Element der griechischen Kultur wird in den ›Nomoi‹ gerade auf dieses gemeinsame Leben, die Synousia, bezogen. Physische und musische Wettbewerbe, die die ganze Stadtbevölkerung umfassen können, wären daher ein Element, um die Polis-Einheit aufrechtzuerhalten. 162 In der ›Politeia‹ war sie mythologisch als gemeinsame Geburt aus der Erde symbolisiert worden. Neben die Symbolisierung, die eher der Polis im statischen und ruhenden Zustand zugewiesen worden war, tritt nun die Anleitung zu entsprechenden Übungen. Dies ist sicher eher ein spartanisches Modell, eine umfassende Implementierung menschlichen Lebens in einen Einheitszusammenhang. Dass solche Verpflichtungen vor der Folie der Neuzeit eher totalitären als freien Systemen zugeordnet sind, ist offensichtlich. Karl Poppers Ansatz in ›Die offene Gesellschaft und ihre Feinde‹ ist also nicht einfach von der Hand zu weisen, so überspitzt und irreführend er im Ganzen auch ist. 163 Der lakedämonische Zwang verbindet sich allerdings in den ›Nomoi‹ durchgängig mit einem stark theokratischen Ansatz. Nur eine gleichsam göttliche Hochachtung der Gesetze kann die strikt statutarischen Vorgaben überhaupt einlösen. Allerdings ist das göttliche Gebot jederzeit einsichtig zu machen und nicht in einem »Deus lo vult!« aufzulösen, wie es die Kreuzfahrer ausriefen. 164 Päderastie und das Verhalten von Eromenos und Erastes werden als der politischen Besonnenheit zuwiderlaufend charakterisiert. Das Verdikt gegenüber Vgl. im Einzelnen den Kommentar von Schöpsdau zur Stelle mit weiterführender Literatur. 163 Vgl. K. R. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Band I, a. a. O., S. 165 ff. Popper konzentriert sich bekanntlich vor allem auf Buch V der ›Politeia‹. Die ›Nomoi‹ werden nicht eigens thematisiert. 164 Hier stellt sich die Frage, wie viel gesetzesförmige Begründung und ›orthe doxa‹ innerhalb einer Politischen Theologie möglich ist. Gerade Platons Götterlehre in Nomoi X zeigt, dass ihm an der Vernunfthaftigkeit des Logos vom Göttlichen lag und er keineswegs einen Hiatus irrationalis aufmacht. Dazu aufschlussreich H. Mai, Platons Nachlass. Zur philosophischen Dimension der Nomoi. Freiburg/Br., München 2014, insbes. S. 152 ff. Die buchtechnisch werkgenetische Rede von »Platons Nachlass« finde ich allerdings nicht überzeugend. 162

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übermäßigem Reichtum und die Eindämmung aller Maßlosigkeit werden als Korrektur eingefordert. Dies wird sogar noch weitergehend, und mit Vergleichen aus dem Tierreich, als »para physin«-Sein der Homophilie ausgewiesen. Besonnenheit ebenso wie Tapferkeit, kann man aus dem »weicheren Garn« der Gesetzesbegründung erkennen, würden durch eine uneingeschränkt gebilligte Homophilie in Zweifel gezogen. »Außerdem aber haben wir noch für uns anzuführen, dass die Zulassung dieses (unnatürlichen) Verhaltens in diesen Dingen nicht (mit dem Geiste unserer Gesetze) übereinstimme, eine Übereinstimmung, welche wir doch eben überall dem Gesetzgeber zur Pflicht gemacht haben« (836c–d).

Im Sinn des der ›orthe doxa‹ dienenden einleitenden Logos unterscheidet der Athener drei Formen der Freundschaft und Zuneigung. Die erste Philia gehe aus Gegensätzen hervor und sei dementsprechend wild und heftig, die zweite setze Ähnlichkeit (homoiosis) voraus und sei sanft. Die dritte sei eine Mischung aus beiden, wobei lange undefiniert bleibe, nach welcher Seite sie tendiert (837b). Zur Klarheit zu bringen wäre das Mischungsverhältnis nur, wenn, wie im ›Philebos‹, gezeigt werden könnte, welche Bestandteile dabei verbunden werden. Eine solche philosophische Begründung bleibt aus. Auf einen Limes in erotischen Fragen wird aber verwiesen, eine unbedingte Grenzsetzung, die Inzestbestimmung. Sie sei in keiner Weise »von den Göttern gestattet, sondern ein Gräuel in ihren Augen und des Schändlichen Schändlichstes« (838b). Der Gesetzgeber könne anknüpfend an diese Bestimmung mit seiner überzeugenden Rede weitere Grenzlinien setzen. Zugleich wird aber in einer weiteren weitausgreifenden Rede festgehalten, dass das Ideal eines Liebeslebens, das frei von allen benannten Formen von Perversion ist, sich nicht gesetzlich durchführen lassen wird. Das »mögliche Beste« kann nur besagen, »dass es zum geheiligten Grundsatze werde[ ], dass die Ehrbarkeit erfordere, solcherlei Handlungen nur im Verborgenen auszuüben und dass es eine Schande sei, dergleichen vor den Augen der Leute zu tun« (841b). Begrenzt wird die Ehegesetzgebung auf zwei statutarisch streng gefasste Gesetze (841d): Einerseits soll die Päderastie keinen Ort in der Polis haben, andererseits soll der erotische Akt an die Ehe und die mit ihr verknüpfte Heiligung gebunden bleiben. Einen besonders ausführlichen Bestandteil der Gesetzgebung der ›Nomoi‹ nehmen die Agrar- und Handelsgesetze ein. Sie beschreiben 371 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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im Kern eine nomologische Ökonomik. Dabei spielt an erster Stelle wieder der Begriff der Grenze eine Rolle. Grenzversetzungen und -verrückungen unterliegen strikten Sanktionen. Zeus firmiert dabei als Zeuge der Unveränderbarkeit und des sakrosankten Charakters der Landeinteilung. Überhaupt ist in den Wirtschafts- und Agrargesetzen, die in den letzten Jahren auch zu einem Schwerpunkt althistorischer und philologischer Forschung über die ›Nomoi‹ geworden sind, 165 der Bezug auf die göttliche Sanktionierung besonders durchgängig und stark. Auch die gleichmäßige Wasserversorgung und die Verhinderung, dass von unbefugter Stelle das Wasser abgezweigt wird (844b), ebenso wie die Einschränkungen der Weinlese werden im Detail geregelt. Die eingehende Klärung der Bestellung der verschiedenen Beamten, die die Agrarordnung zu überwachen haben, flankiert diese positivrechtlichen Bestimmungen. Damit ist davon auszugehen, dass sie sehr genau umgesetzt werden sollen. In der Handwerksgesetzgebung schließlich erweist sich die Musterkolonie als ein »geschlossener Handelsstaat«, der Ein- und Ausfuhr von Waren strikt reglementiert. Vor allem soll nichts, was »zur Bestreitung der notwendigen Bedürfnisse innerhalb des Landes bleiben muss« (847c), exportiert werden. Eine strikte Zuteilung der Erträge des Landes wird im Blick auf den Binnenhandel getroffen. Die Landerzeugnisse sollen nur zu einem dritten Teil verkauft werden können (848b), dabei sollen die eigentlichen Bürger, Sklaven und Metöken gleichermaßen Landbesitz erhalten. Das Verteilungsschema ist im Einzelnen sehr komplex angelegt; Ähnlichkeiten zu der Gleichgewichtstarierung der Solonischen Reformen sind möglich. 166 Für diesen Zusammenhang ist aber vor allem ein Schlüssel entscheidend: dass Gleichheit und Ungleichheit miteinander verbunden werden. Die Detailbestimmungen nehmen wiederholt die architektonische Anordnung der Polis und ihrer Wohnstruktur auf. Ebenso wird ein geordneter Markt, der die Qualität der angebotenen Waren sichert, an entscheidender Stelle benannt. Die »Beisassen« (Metöken) (850b–c) sollen mit in die Synousia der Polis einbezogen werden. Sie Vgl. den guten Überblick bei A. Schriefl, Die Wirtschaftsordnung und die richtige Einstellung zu Besitz und Reichtum, in: Chr. Horn (Hg.), Platon. Gesetze – Nomoi, a. a. O., S. 105 ff. 166 Vgl. dazu J. Mau und E. G. Schmidt (Hg.), Isonomia. Studien zur Gleichheitsvorstellung im griechischen Denken. Berlin 1965, siehe auch K. Maurer, Platons Staat und die Demokratie, a. a. O., S. 250 ff. 165

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bleiben daher keine Fremden. Auch ihr Besitz wird damit in die ökonomische Struktur mit implementiert.

Schuld und Strafe Die ›Nomoi enthalten einen sehr differenzierten strafrechtlichen Teil. Damit wird das wohl härteste, am strengsten sanktionierende Element der Gesetzgebung genannt. 167 Die Strafrechtsbestimmungen sind notwendige Hilfen angesichts des Mangels der menschlichen Natur, einer Härte der Herzen, der auch das mosaische und jesuanische Gesetz Rechnung trugen. 168 Zurückgeführt wird diese letztlich missliche Lage auf ein Zeitalter, in dem die Grundharmonie der Götterherrschaft nicht mehr besteht, verdeutlicht mit dem ProtagorasDialog: der Herrschaft der Menschen über Menschen, die nicht mehr dem Umlauf des ›tauton‹, sondern jenem des ›thateron‹ folgt. Das Strafrecht setzt mit Kapitalverbrechensdelikten ein. Auch hier ist wieder die Verbindung zum theokratischen Rahmen zentral. Erhebliche Vergehen gegen Götter, Eltern oder die Polis (854e) werden dabei als unsühnbar begriffen. Nur die Todesstrafe kann darauf appliziert werden. Denn ein solcher Mensch würde erkennen lassen, dass »die Erziehung und Bildung, welche er von Kindesbeinen an erhielt, ihn nicht einmal von den allerschlimmsten Freveltaten zurückzuhalten vermochte« (855e). Auch Umsturz und Verrat der eigenen Polis gelten als kapitale Verbrechensarten. Der eigentlich philosophische Zusammenhang wird in einem Exkurs über die Grundlegung des Strafrechts mit einer Bemerkung über den Arzt und die Krankheit eröffnet (857d): Die Gesetze sollen so erteilt werden, wie sie ein freier Arzt ausgeben würde. Seine Verfügungen werden nicht ad hoc erfolgen, sondern eine langfristige Zielrichtung haben. Dies verbindet in einem der neuzeitlichen Rechtstheorie ungewohnten Sinn Rechtslehre und Ethik, Einsicht und Nomologie. Nicht die dringende Not, son-

Vgl. E. Schütrumpf, Gesetze und Strafrecht, in: Chr. Horn (Hg.), Platon. Gesetze – Nomoi, a. a. O., S. 189 ff. Siehe auch R. Stalley, Punishment in Plato’s Laws, in: History of Political Thought 16 (1995), S. 469 ff., und Saunders, Plato’s Penal Code, a. a. O. 168 Vgl. Mt. 5, 1, Mt 19, 8. Auf das mosaische Gesetz kann man sich dabei vermittels des Doppelgebotes der Liebe beziehen, das im Schema Israel fixiert ist und von Jesus Christus aufgenommen wird. Vgl. Lev 19, 16; Dtn 6, 5; aufgenommen Mk 12, 29 f. 167

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dern ein langsam aufzurichtender, kunstvoller Bau formiert die Gesetzgebung. Wieder spielt dabei der Agon zwischen Gesetzeswerk und Dichtung eine entscheidende Rolle. Die großen Dichtungen würden nur Schein-Gesetze enthalten. Die Gesetzgebungsschriften sollen dagegen als die wertvollsten und wahrhaften Schriften kodifiziert werden. Sie sind eben die eigentlich prominenten Beispiele der philosophischen Texte? Der Grundsatz der Billigkeit, der bei Aristoteles dann als eigene Kategorie aufgenommen ist, die dem Recht zukommt, ist im IX. Buch der ›Nomoi‹ weitgehend auf den Ermessensspielraum der Richter eingegrenzt. Die Einteilung des Strafgesetzes folgt dann vor dem Hintergrund des Richterrechtes zumindest einem zweifachen Schema: Einerseits werden die Verbrechen nach dem Seelenteil kategorisiert, von dem sie ausgingen. Dies kann das Dunkel der Empfindung sein, Schmerz oder Furcht (864b–c), es kann das Willensvermögen (thymoeides) sein, wenn Lust und Begierde, die man aber kontrollieren kann, eine Handlung eingeben. Schließlich kann es eine fehlgeleitete Vernunft sein, der trügerische Hoffnungen oder Erwartungen ihre Handlungsweise eingeben. Auf diese »innere Handlung«, die hier freilich nicht so benannt wird, folgt die Kategorisierung nach äußeren Handlungsweisen. Der Athener unterscheidet dabei Handlungen, die durch offene oder verdeckte Gewalt begangen werden, von anderen, die durch List und Intrige im Dunklen verübt werden (864c). Als eigener Typus wird eine mittlere Form genannt, in der beides zusammengehen kann. Eine erwiesene Unzurechnungsfähigkeit, die im Fall von Wahnsinn oder Geisteskrankheit eintreten kann, hat eine Suspension des klassischen Strafrechts zur Folge. Ein solcher Mensch soll für ein Jahr aus der Polis verbannt werden (864c); wenn er sich daran nicht hält, soll er ins Gefängnis geworfen werden. Anders sind Vergehen im Zorn zu beurteilen. In einer recht subtilen Psychologie wird zwischen solchen Vergehen unterschieden, die in diesem Grundzustand absichtlich und anderen, die unabsichtlich geschehen sind. Letztere, denen also keine Planung und Intrige zugrunde liegt, sollen milder beurteilt werden. Auch im Fall solcher Attacken wird sich die Polis den Verbrecher aber vom Leib schaffen. Er soll auf Lebenszeit verbannt werden. Hinsichtlich der willentlichen Verbrechensakte werden hochdifferenzierte Unterscheidungen angefügt. Rein rationale und sakralrechtliche Momente greifen ineinander. 374 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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Die Systematik, deren Einzelbestimmungen hier nicht zu referieren sind, richtet sich in einer hierarchischen Abstufung nach menschlichen Beziehungen in unterschiedlichen Nähegraden. Dass Verbrechen gegenüber Verwandten, vor allem den eigenen Eltern, besonders schwer wiegen, wurde bereits gezeigt. Wenn jedoch der Gemordete im Sterben seinem Mörder vergeben hat, wie es in familiären Zusammenhängen immer wieder vorgekommen sein soll, so wirkt sich dies unmittelbar auf das Strafrecht aus. Der Täter würde dann straffrei ausgehen. Der Elternmord unterliegt ansonsten mehreren gesetzlichen Sanktionen: nicht nur den Mordgesetzen, sondern auch jenen, die Gottlosigkeit und Tempelschändung regeln, weil damit in einen unbedingt sakrosankten Rechtsraum eingedrungen wird (869b). Unter keinen Umständen könne es eine Entschuldigung für diese Art von Verbrechen geben, wird verfügt (869c). Hinsichtlich anderer freiwilliger Morde (870a) wird eine recht differenzierte Ursachenforschung gefordert. Je nach Ursache soll sich die Bestrafung richten. Habgier und Ehrgeiz (870c 1 ff.) gelten als Hauptursachen für Verbrechen. Obwohl Sokrates im Blick auf Kriegshandlungen in der Folge der humanisierenden Aussagen der griechischen Tragödie 169 festlegt, dass aus dem toten Feind alles Feindliche verschwunden ist und er insofern mit Achtung zu bestatten sei, ist es beim Mörder anders. Die Mysterienweisheit, dass wer einen Mord begangen habe, in der nächsten Inkarnation ermordet werde (870e), gehört in den Bereich der philosophischen Redekunst. Gerührt wird damit an ein Mysterium, über dessen Existenz oder Nicht-Existenz nicht durch die Vernunft entschieden werden kann. Dennoch gehen diese Bestimmungen in die Handlungen des Gesetzgebers ein. Insgesamt setzen die ›Nomoi‹ auf Morde aller Art die Todesstrafe fest. Da eine Entsühnung nicht denkbar ist, soll der Mörder in jedem Fall in anderer Erde als sein Opfer bestattet werden (871e). Bemerkenswert ist auch, dass für die Ermordung eines Sklaven (872a ff.) dieselben Strafmaße ausgesetzt sind wie für die Ermordung von Vollbürgern. Auch der Selbstmord gilt als ein Vergehen, das mit dem eigenen Tod nicht getilgt ist. Selbstmörder sollen »an namenlosen und unbebauten Plätzen« begraben werden, »und keine Säule oder Inschrift Dies ist das große Thema der ›Antigone‹ des Sophokles, dieser nach Hegel absoluten Tragödie. Vgl. G. Steiner, Die Antigonen. München 1988; ferner Chr. Meier, Die politische Kunst der griechischen Tragödie. München 1984.

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soll ihre Grabstätten bezeichnen« (873d). Ruhm- und Ehrlosigkeit begleiten also das Begräbnis. Detailliert werden im zweiten Teil dieses Strafgesetzes auch Körperverletzungen und -schändungen aufgeführt, und schließlich Realinjurien anderer Art. 170 Hinsichtlich der betroffenen Personengruppen und der Abstufung zwischen ihnen gelten dabei ähnliche Bestimmungen wie in Bezug auf Mord und Totschlag. Man muss sich nochmals vor Augen führen, dass Platon die Strafe grundsätzlich als unschön, den Kunstcharakter des Gesetzeswerkes trübend ansieht. Nur indirekt, extrinsisch, kann sie zum Guten führen und ist darin doch Teil einer umfassenderen Harmonie: indem sie den Gleichklang wiederherstellt.

Der Asebiefrevel Besonders hervorgehoben ist das Zehnte Buch: Es widmet sich dem Frevel gegenüber den Göttern. Der Asebiefrevel wiegt besonders schwer dadurch, dass die höchste Achtung vor dem Gesetz am Beginn der ›Nomoi‹ (624a–b) auf ihren göttlichen Ursprung zurückgeführt wird. Mit mangelnder Achtung vor den Göttern geht also in jedem Fall auch eine Missachtung von Recht und Gesetz einher. Das weichere Garn, das Prooimion, spielt hier eine besondere Rolle. Damit verschiebt sich in den ›Nomoi‹ die Angabe des höchsten Punktes: den ›Nomoi‹ gemäß ist damit nicht die Dialektik der ›mia idea‹ als Letztpunkt gemeint, sondern die Theologie des um die Welt bekümmerten Gottes. Der Asebiefrevel gewinnt auch dadurch eine besondere Bedeutung, dass ja gerade dieses Vergehen dem Sokrates vorgeworfen wurde. Im Sinn der Vorrede kann die Asebie nur auf einem dreifachen Irrtum beruhen. Denn auch diejenigen, die sich ihrer schuldig machen, tun es nicht willentlich, sondern aus Unwissenheit. Drei Irrtumsformen werden dabei unterschieden: zum einen (1) die Leugnung, dass es Götter gebe (885e), zum anderen (2) die Behauptung des Agnostizismus, der davon ausgeht, dass Menschen nicht wissen könnten, ob es Götter gebe oder nicht (886b). Der Athener bezeichnet dies als »eine schwere Unwissenheit, die ihnen aber als die größte Weisheit vorkommt«. An dritter Stelle schließlich (3) wird die Auffassung genannt (886d-e), dass die Götter sich nicht um die Men170

Dazu Schütrumpf, Gesetze und Strafrecht, a. a. O.

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schen kümmerten: Dies sei, wird ausdrücklich bemerkt, ein besonders häufiges Vergehen. Dieser in sich differenzierte Frevel der Götterleugnung soll argumentativ zurückgewiesen werden. Dies ist hier gleichsam das »weichere Garn« der Vorrede, das den strafbewehrten Asebiegesetzen vorangestellt ist. Nicht zu übersehen ist dabei auch, dass genau das Vergehen richtiggestellt wird, dessen Sokrates angeklagt wurde. Indem gezeigt wird, was Götterfrevel in Wahrheit und Wirklichkeit ist, kann zurückgewiesen werden, dass Sokrates dieses Vergehens schuldig gewesen sei. Das Gesetz hat also zwei Vorreden: Eine erste, die die Irrtümer der Gottleugner kategorisiert (885b), und eine zweite, die die Ansicht, es gebe keine Götter, und die andere, sie kümmerten sich nicht um den Menschen, widerlegt (887c–888d). Sie erscheint, bemerkt der Athener, wie eine »Aufforderung zum Gebet« (888d). Die Schwierigkeit bestehe nicht zuletzt in einem psychagogischen Problem, nämlich darin, die offensiven Gottesleugner mit der nötigen Sanftmut zu behandeln. »Denn es dürfen nicht beide Teile hier rasend vor Leidenschaft sein, jene vor unersättlicher Genusssucht und wir vor Entrüstung über sie« (888a). Die Gesetzgebung setzt also Belehrung voraus (888d). Doch zugleich muss sie die Seelen der Gottleugner zu einem inneren Frieden und einem Frieden gegenüber dem Göttlichen bringen. Dies ist ein Zug, der auch in anderen Auseinandersetzungen mit Sophisten wie im Dialog ›Gorgias‹ eine Rolle spielte. Die atheistische Lehre wird kurz als ein naturalistischer Reduktionismus charakterisiert, 171 der die in der frühgriechischen Philosophie in den verschiedenen Lehrgedichten thematisierte Grundfrage, was die Natur ist (Peri tes physeos), auf ein Werk des Zufalls reduziert (889c). Damit verbindet sich die Absage an eine Wesensnatur von Recht und Gesetz. Sie wird also als bloße Setzung (thesis) verstanden (889c). Der Atheismus führt auch dazu, dass Kultus und Ritus wie nichtig erscheinen, also Spott und Zynismus nach sich ziehen (888e). Das Umrissbild zeigt die Atheisten in keiner Weise als friedlich und tolerant, ganz im Gegenteil. Dabei besteht eine Korrelation zwischen der komplexen philosophischen Rhetorik, die den Götterglauben befestigen soll (891a), eiDies ist natürlich anachronistisch formuliert, doch in der Struktur ist eben dies der Vorwurf, den der Athener denen macht, die die Natur der Götter verkennen. Vgl. auch Enders, Platons Theologie, in: Perspektiven der Philosophie 25 (1999), S. 131 ff.

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nerseits und der statutarisch festgelegten Schwere der Strafe (891a– b), die im Wesentlichen als Todesstrafe festgeschrieben wird, andererseits. Als erster Kardinalfehler der Atheisten wird argumentativ nachgewiesen, 172 dass sie die Vorrangigkeit der Seele vor dem Leib übersehen würden. Die Seele wird (892a), ohne dass dies dialektisch und im Aufweis eines ›atomon eidos‹ gezeigt werden könnte, als ursprünglicher denn die Körperdinge und als Prinzip des Lebendigen aufgewiesen. Daher müsse »alles, was mit der Seele verwandt ist, für ursprünglicher gelten […] als Alles, was den Körper angeht« (892b). Die Differenz verläuft durch den Naturbegriff. Die Materialisten wollten, so bemerkt der Athener, mit dem Naturbegriff einen Ursprung aufweisen (892c). Sie verkennen aber gründlich, dass der Ursprungsbegriff der Physis nicht in einzelnen Elementen wie Feuer oder Luft liege, sondern eben in der Seele (892c). Damit ist der Prospekt sowohl zur Weltseelenkonzeption des ›Timaios‹ als auch zum versuchten Nachweis der Unsterblichkeit der Seele im ›Phaidon‹ eröffnet. Die Argumentation für die Existenz des Göttlichen ist zuerst und zuletzt eine Exposition des unreduzierbaren Eigenrechtes der Seele. Im Einzelnen wird sie so durchgeführt, dass zehn Arten von Bewegung unterschieden werden. 173 Die Seele ist also das Thema der Untersuchung (894b), was auch bedeutet, dass ohne sie ein Aufweis des Göttlichen in der endlichen Welt schwer oder gar nicht möglich wäre. Die Unterscheidung läuft allerdings auf die Unterscheidung zweier Bewegungsformen hinaus: einerseits das Angestoßen- und Bewegtwerden, andererseits die Selbstbewegung (894b–c). Es ist die Selbstbewegung, die die Atheisten nicht anerkennen, und deshalb verfehlen sie den wahren Ausgangspunkt aller Bewegung und Veränderung (894c). Sie wird in der Rangfolge der Bewegungsarten an die zehnte und letzte Stelle gesetzt. Tatsächlich ist sie die erste grundAusführlicher nehme ich darauf in Polis und Nomos, a. a. O., S. 613 ff. Bezug. Vgl. dazu Steiner, Nomoi X, a. a. O., S. 110 ff., siehe auch J. B. Skemp, The Theory of Motion in Plato’s later dialogues. Amsterdam 21967. Als erste Bewegung (1) wird die Kreisbewegung genannt, dann (2) die Bewegung »an vielen Stellen«, in der ein Körper an anderen Körpern Widerstand findet. Dies differenziert sich weiter: Wenn ein bewegter Körper auf einen Körper in Ruhe trifft, kann er von ihm inhibiert bzw. in seiner Gestalt zerstört werden (3); Körper, die aus entgegengesetzten Richtungen aufeinander zulaufen, können sich aber auch miteinander verbinden (4); und Körper können sich in ihrer Beschaffenheit verändern und Zuwachs oder Abnahme (5 und 6) erfahren. Damit stellt sich die Frage nach dem Werden und die Notwendigkeit, diese Bewegungslehre auf die beiden Bewegungstypen zurückzuführen.

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›Nomoi‹ – Ein Ausblick

legende Bewegungsform, jene, die Anaxagoras mit seinem Nous angesprochen haben wollte, deren genauere Konturen er aber nach Sokrates’ Klage im ›Phaidon‹ nicht anzugeben wusste. 174 Damit ist deutlich hervorgehoben, dass die beiden zentralen Bewegungsformen in der Zehnzahl nicht hinreichend repräsentierbar sind. Dies führt zu einer Unterscheidung »mit Hilfe der Zahl nach Arten« (894b). Anders verhält es sich mit den beiden grundlegenden Bewegungsarten, auf die die Fülle von Bewegungen zurückgeführt werden kann: Selbst- und Fremdbewegung. Sie führen in den eigentlich prinzipiellen Bereich hinein. Selbstbewegung wird dann summierend als das Wesen der Dinge bezeichnet (895c). Wenn man sie erfasst, ist man gleichsam beim ›logos tes ousias‹, dem Wesen des Seienden. Damit wird die Konsequenz gezogen: »Alles, was sich selbst bewegt, besitze eben damit Leben« (895b). In Übereinstimmung mit dem VII. Brief und im Sinn eines exoterischen Zugangs zu der philosophischen Fragebewegung wird ein Dreifaches unterschieden: das Wesen des Dinges, die Erklärung dieses Wesens und schließlich sein Name (895d). Demnach ist die Seele als das Erste und Grundlegende zu erfassen, die körperlichen Dinge seien ihr gegenüber abgeleitet. Der anti-materialistische Argumentationsgang muss aber noch einen wesentlichen weiteren Schritt tun: Er unterscheidet zwei Arten von Seelenbewegung. Die eine sei vernunftgemäß und gut, die andere aber sei widervernünftig und führe Nicht-Gutes herbei. (896e). Wiederum hat die vernunfthafte Seele im Sinn einer alles durchdringenden Weltseele das Prius. Die gegenläufige Bewegung der ›heterotes‹, die Schmerz und Leiden mit sich bringt und die man in der platonischen Rhizomatik etwa aus dem ›Politikos‹-Mythos kennt, wird als »böse« charakterisiert (897d). Die zehn, genauer: acht Arten von Bewegung erweisen sich nun als Bild (eikona), um den Charakter der Selbstbewegung zu bezeichnen. Sie sind der Vernunft ähnlich, was bedeutet, dass sie den Kreislauf und seine Harmonie veranschaulichen können. Das Spektrum wird nochmals kosmologisch geweitet: Auch das Weltall folge diesem selben Umlauf, wobei nur die äußerliche Bewegung der Gestirne sich der sinnlichen Wahrnehmung erschließt, ihre Seele sich aber erst dem Denken eröffnet. Dies ist eine Art umge-

Vgl. dazu Phaidon 97b 8, mit der nachfolgenden Bestimmung der zweitbesten Seefahrt durch Sokrates.

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kehrten Sonnengleichnisses: Im Vorgriff auf Erkenntnis der göttlichen Bewegung erweist sich die Seele erst als mit dem Guten und Wahren analogiefähig (899a). Damit kommt das Argument auf seinen Ausgangs- und Zielpunkt zurück: Die Gestirne sind selbst im Inneren beseelt. Sie sind von der einen durchgehenden Weltseele durchdrungen (899a). Im Sinn der ›orthe doxa‹ verifiziert sich hier das Heraklit-Wort, dass alles voller Götter sei. Eine dritte Gesetzesvorrede setzt hier ein. Sie konzentriert sich auf die Widerlegung der Auffassung, dass sich die Götter nicht um die Menschen kümmern würden. Anlass ist, wie so oft, die Erfahrungswirklichkeit, dass es üblen Menschen gut geht, edlen schlecht. Der Athener gibt zu bedenken, dass dies oft nur der Anschein sei (800e–900a), der aber keineswegs zu Gottlosigkeit veranlassen dürfe. Das Argument (901d) setzt den wahren Mythos von den Göttern voraus, wie er in ›Politeia‹ II und III umrissen worden war: Göttern dürfen keine schlechten menschlichen Eigenschaften zugesprochen werden. Damit kann aber der Gegenbeweis an Überzeugungskraft gewinnen, dass die göttliche Vollkommenheit die Vernachlässigung des Kleinen und Geringen ausschließen müsse (901d). Dies würde zum Beispiel Eigenschaften wie mangelnde Umsicht oder Sorgfalt nahelegen, die entweder moralische oder intelligible Defizite verraten würden. Beides ist den Göttern nicht zuzuweisen. Mehr noch: Es sei keine legitime Weise von ihnen zu sprechen und daher zurückzuweisen (903a). Die Argumentation schließt mit einer großen Schlussparänese. Sie berührt in gewisser Weise die Götteranrufung (893b), in der ein Gebet am Anfang steht: Die Götter möchten die Untersuchung über ihr Wesen fördern und dabei präsent bleiben. Die Paränese macht deutlich, dass Götter nicht anders als gerecht gedacht werden können. Dieses Grundvermögen der Tugend lassen gerade sie erwarten. Von der »inneren Handlung« ist dabei zwar nicht die Rede, 175 doch wird jede demiurgisch-handwerkliche Vorstellung des göttlichen Werkes zurückgewiesen. Die Götter berühren gleichsam »wie mit einem Mal« die Seelenstrukturen und können an jedem Teil des Weltganzen die Stelle fassen (904b), die sich am ehesten auf

Vgl. die Bestimmung der Tugend und insbesondere der Gerechtigkeit als ›innere Handlung‹ (entos praxis), Politeia 443b 8.

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Tugend und das Gute hin beeinflussen lässt. Ohne physischen Widerstand oder Orientierungsprobleme kann die Seele dies bewirken. Sodann schneidet die Paränese einen Gerichts- und Jenseitsmythos an: Der Götterspruch wird damit statutarisch fest in die Seelen eingebrannt, sodass die jenseitige, durch ›orthe doxa‹ erkannte Strafe vermutlich mindestens ebenso stark wirksam ist wie die vordergründige Sanktionierung der Asebie mit der Todesstrafe: Der Mythos des Er in der ›Politeia‹ und der Schlussmythos des ›Gorgias‹ gehen in diese Topologie gleichermaßen ein. Der Spruch ist unhintergehbar, dass diejenigen, die innerhalb einer Inkarnation ihre Seelen verschlechtert haben, in die Abgründe des Hades gelangen, die anderen Seelen aber aufsteigen können. Freiheit besteht dann nicht mehr. Vielmehr zeigt sich ein ehernes Gesetz, ähnlich wie es der Spruch des Anaximander vorsieht: »Diesem Rechtsbrauche der Götter wirst weder du jemals noch irgend ein Anderer, der in das Unglück [sc des Lasters] verfiel, dich rühmen können, entronnen zu sein« (905a), »sei es dass du [sc. nach dem Tode] nur an einen anderen Ort der Erde versetzt wirst, sei es dass du in den Hades oder an einen noch schrecklicheren Ort hinabfahren musst« (905b). Wie detailliert die Widerlegung gegeben wird, zeigt eine vierte Vorrede. Sie widerlegt schlicht die Auffassung, dass die Götter bestechlich seien. Auch diese Vorstellung wäre ganz offensichtlich nicht mit dem Gedanken göttlicher Vollkommenheit zu vereinbaren (vgl. u. a. 907a). Der Abschluss der Vorrede verdeutlicht noch einmal das hohe Gewicht dieser Bestimmung. Wenn das Gesetzeswerk ein Rezept für freie Menschen sein soll, so dürfen keine Vorwände geliefert werden, dass die Asebiefrevler sich einreden könnten, ihre Gründe seien etwa überlegen (907c). Nur wenn es nicht zu einer freien, vernunft-förmigen Überprüfung ihrer Gründe komme, werden sie unter das Gesetz gegeben, das mit Lakonie und einer gewissen Härte im Anschluss evoziert wird. Bei aller Lakonie fällt auch die differenzierte Kategorisierung verschiedener Typen von Asebiefrevlern auf. So gibt es beispielsweise nicht nur die Atheisten oder Agnostiker. Der Glaube, dass die Welt »leer von Göttern« sei (908c), kann vielmehr auch bei intelligenten Vertretern, »die dabei ein vortreffliches Gedächtnis und eine schnelle Fassungsgabe besitzen« (908c), zu der Begründung von Kulten und mantischen Tendenzen führen, die die Polisordnung zutiefst irritieren oder zerstören müsste. Auf solche Vertreter von Privatkulten werden deshalb in der 381 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

POLIS, SEELE UND DIE HÖCHSTE IDEE

Nomoi-Gesetzgebung langjährige Verbannungsurteile ausgesprochen (909c). Die grundlegende Unterscheidung bleibt aber in Kraft, ob ein solches Vergehen wissentlich und willentlich oder ob es unwillentlich begangen worden ist. Die Exkulpierung durch Unwissenheit wird dabei nach sehr weitgehenden Billigkeitsgrundsätzen ausgelegt. Die Polis darf, so wird in der besiegelnden Schlusssequenz festgehalten, hier in keiner Weise nachlässig und übermäßig nachsichtig sein, weil sie sonst selbst die Schuld auf sich laden würde, die den Asebiefrevler treffen muss (vgl. auch 910d). Neben den strafrechtlichen Bestimmungen enthalten die ›Nomoi‹ ein Eigentums- und Handels- sowie Gewerberecht, das dezidiert gegen die paradoxe Konzeption der ›Politeia‹ vom vergemeinschafteten Eigentum, also gegen den platonischen Kommunismus, gerichtet ist. Der Grundsatz, der im Feld des »möglichen Besten« greift, nachdem an anderer Stelle die Eigentumslosigkeit auch in den ›Nomoi‹ als der wünschenswerteste und ideale Zustand benannt worden war, ist der, dass fremdes Eigentum zu achten sei (913a). Dies zeigt sich besonders eindeutig bei vergrabenen Schätzen und Fundsachen. Der Grundsatz wird dann recht linear in die verschiedenen Rechtsstreitigkeiten und Dimensionen eingelassen: Hier wird auch das Sklavenrecht weiter konserviert – wie man weiß, ein neuralgischer Punkt der gesamten antiken politischen Philosophie –, das noch Aristoteles’ Lehre vom Sklaven gemäß der Natur prägt. 176 Nach Platon versteht es sich von selbst, dass ein entlaufener Sklave festgesetzt werden muss. Dies dürfen auch Freunde wechselseitig füreinander tun (914e). Der Bestrafung unterliegen auch Sklaven, die denjenigen, die sie freigelassen haben, nicht die erforderliche Ehrerbietung erwiesen haben (915b). Der Grundsatz gilt in hier im Einzelnen nicht aufzunehmenden Bestimmungen auch im Handels- und Kaufs- bzw. Verkaufsrecht (915e). Auch auf Lüge, Betrug und Fälschungen (916d 1 ff.) wirkt sich dies aus. In der Einzelvorrede über das Gesetz zu Kleinhandel und Gastwirtschaften wird die Zielsetzung noch einmal sehr eindrücklich benannt. Hier zeigt sich auch, wie in der anderen Gattung des Handelsrechts der platonische ›Kommunismus‹ gleichsam seine angemessene Aristoteles, Politik I. 4–6, insbes 1255 1–5. Dies ist bekanntlich eines der neuralgischsten und schwierigsten Stücke in einer nicht nur historischen, sondern auch normativen Perzeption der antiken politischen Philosophie.

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›Nomoi‹ – Ein Ausblick

Realisierung findet. Die Macht des Geldes wird ausdrücklich gerühmt (918b), sie soll aber eben nicht dem Wucher dienen, 177 sondern dem Ausgleich zwischen großen und kleinen Vermögen. Lediglich die Befriedigung überschaubarer und elementarer Bedürfnisse soll auf diese Weise garantiert werden. Die Option für einen ›geschlossenen Handelsstaat‹ und die relative Schließung der Zulassung neuer Gewerbetreibender wird damit festgeschrieben. Besonders hervorzuheben ist das Erbschaftsgesetz. Es wahrt den Grundsatz insofern, als auch die Verfügungen der Sterbenden und Toten als Anerkenntnis des Rechtswillens des Anderen in Geltung bleiben sollen. Das Prooimion befestigt dies mit der Aussage, dass es den Sterblichen in der Regel nicht gegeben sei, sich selbst zu erkennen, und daher auch ihr Besitz nur vorübergehend bei ihnen sein soll (625a). Man solle sich deshalb in den Schlussphasen des menschlichen Lebens, in Alter und Krankheit, nicht Schmeichlern ergeben, sondern den gemeinsinnigen Charakter des Besitzes im Blick behalten. Die weiteren familien- und prozessrechtlichen Bestimmungen detaillieren die Rechtsfragen; zu ihnen liegt mittlerweile eine differenzierte Einzelliteratur vor, die die platonischen ›Nomoi‹ auch in den Zusammenhang von griechischer Rechts-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte einrückt. 178 Diese Einzelheiten können hier nicht diskutiert werden. Zur Kenntnis zu nehmen ist aber, in welchem Ausmaß Platon sich den inhaltlichen Konkretisierungen des Rechtes zuwendet – so wie dies auch spätere große Rechtsdenker wie Kant oder Hegel taten. Das Militärrecht markiert End- und Höhepunkt der Rechtsordnung. Gegenüber dem Feind stehen zu bleiben und nicht zu fliehen, eine Fähigkeit, die auch dem Sokrates eigen gewesen war, 179 wird in dem einschlägigen Prooimion besonders festgehalten. Zu diesem Auch in der engen Begrenzung spekulativer Geldgeschäfte und des Wuchers gibt es deutliche Affinitäten zwischen der platonischen politischen Philosophie und dem deuteronomistischen Gesetz. Zur göttlichen Sanktionierung vgl. M. Bordt, Platons Theologie. Freiburg, München 2006; siehe auch ders., Die theologische Fundierung der Gesetze, in: Horn (Hg.), Platon. Gesetze – Nomoi, a. a. O., S. 209 ff. 178 Vgl. Schriefl, Die Wirtschaftsordnung, a. a. O.; siehe außerdem durchgehend den dreibändigen Kommentar von Schöpsdau. Ferner M. Piérat, Platon et la Cité grecque. Théorie et réalité dans la Constitution des ›Lois‹. Bruxelles 1973. 179 Vgl. den Vorspann zum ›Laches; diese besondere, gleichsam natürliche Fähigkeit des Sokrates zur Tapferkeit verbindet sich mit seiner göttlichen, manischen Natur. 177

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POLIS, SEELE UND DIE HÖCHSTE IDEE

Stehen soll die Seele gleichsam habituell »aus Gewohnheit« gebracht werden (942c). Der Zug zur Vergesellschaftung wird dabei sehr deutlich unterstrichen. Die Seele soll dahin gebracht werden, »dass sie weder weiß noch begreift, wie jemand überall für sich selber ohne Gemeinschaft der Übrigen handeln könnte« (942c). Sehr detailgenau werden Strafregelungen fixiert, die greifen sollen, sofern eine Person diese Tapferkeit vor dem Feind nicht einlöst. Es ist insbesondere die »Schändlichkeit«, der Verlust der Ehre, die in solchen Fällen greift. Dies sind virile Überlegungen, die deutlich an spartanische Rechtssetzungen erinnern und auch im römischen Recht ihre Entsprechungen finden könnten. So wird bemerkt, wer in diesen Belangen gefehlt habe, solle mit ihnen nicht mehr konfrontiert und wie eine Frau, nicht wie ein Mann behandelt werden (945c–d). Der Verweis auf die Ehre signalisiert auch, dass man denjenigen, der in diesen Belangen gefehlt hat, bestrafen soll, um ihn zu bessern. Anders ist es beim Unglücklichen. Er ist zu schonen, kann er sich doch nur begrenzt aus den Prägungen seines Schicksals lösen.

Göttliche Sanktionen und Euthynenamt Mit der Bestimmung der Euthynen, der Hüter der Gesetze, erreichen die ›Nomoi‹ ihren Ziel- und Endpunkt, der zugleich die Metaebene des Gesetzeswerkes und die Frage nach seiner Erhaltung bedingt. Der Athener zieht dabei den Vergleich mit den Tauen eines Schiffes, mit seinen »Spannstricken, Unterzügen und Sehnen« (945c), von denen es abhängt, ob das Gefüge Bestand hat oder nicht. Das im einzelnen komplizierte Wahlverfahren, in dem auch versucht wird, der Notwendigkeit ihr Recht einzuräumen (946a), soll bezeichnenderweise im Zeichen der Sommersonnenwende stehen und in einem Hain stattfinden, der gleichermaßen Helios und Apoll geweiht ist (946a). Jeder Vollbürger nennt dabei dem Gott, nicht den Magistraten, »drei Männer nicht unter fünfzig Jahren«, zwischen denen dann in komplexer Weise Mehrheiten gesucht werden. Den Euthynen gebührt im Gebäude der ›Nomoi‹ hohe Achtung auch nach ihrem Tod. Allerdings wird auch eingestanden, dass selbst sie nicht gefeit sind, Verfehlungen zu begehen. Man gewinnt den Eindruck, dass die Sokratesgestalt wie eine vor- und außerinstitutionelle Verkörperung des Euthynenamtes bzw. seine ideale Realisierung inszeniert ist. Dass gerade am Ende der ›Nomoi‹ die Sokratesgestalt indirekt evoziert und 384 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

›Nomoi‹ – Ein Ausblick

wohlbegründet assoziiert werden kann, wird etwa an den Bestimmungen über den Eid deutlich, die prozessrechtlich den Umgang mit dem Gesetz bezeichnen. Sokrates hatte in seiner ›Apologie‹ auf solche die Glaubwürdigkeit unterstützende Instrumente bewusst verzichtet und sie verworfen. Verworfen hatte er auch die Tendenz, Mitleid und Rührung bei den Richtern hervorzurufen. So wird nun gleichsam zum allgemeinen Gebot, dass Eideshandlungen nach Möglichkeit vor Gericht nicht zugelassen werden (949b). Nur bei Fremden könnten Ausnahmen gemacht werden. Auffällig ist auch, dass Ehre und Anstand, ein eher äußerliches Moment von Scham, die schlechte Verhaltensweisen verhindert, in den ›Nomoi‹ einen relativ großen Raum einnehmen (950c). Es ist also eher schon die Timokratie, wie sie in den römischen Staatsschriften dann dominieren wird, als die Orientierung auf die Idee des Guten, die hier leitend ist. Der Athener hält allerdings fest, dass der dauerhafte Besitz der Tugend (950c) wesentlich ist und die eigentliche Grundlage ihrer temporären Reproduktion. Wichtig ist dieser gesittete Anschein bei den im Nomoi-Gesetz stark limitierten Auslandsreisen. Sie sollen dazu dienen, andere Verhältnisse zur Kenntnis zu nehmen, denn auch in schlecht eingerichteten Staaten könne es unter der Masse »göttliche Menschen« geben (951b). Sie sollen freilich in der Diaspora immer wieder zusammenkommen und sich auf das eigene Gesetzgebungswerk verpflichten (952a). Umgekehrt wird auch eine Fremdengesetzgebung skizziert, die den Eigenwert des Gastrechtes achten soll (953a). Die Herbergen sollen sogar im Zentrum des Heiligtums eingerichtet werden, wodurch die Ehrerbietung besonders unterstrichen wird. Auch strafrechtlich unterliegen sie den Priestern (953b). Zwischen Besuchsrecht und dauerhafterem Aufenthaltsrecht wird dabei deutlich unterschieden. Von besonderem Gewicht sind die Bestimmungen zum Schlussstein des Gesetzesgebäudes. Hier zeigt sich die archaische, zugleich theokratische Verfassung der gesuchten kretischen Mustergesetzgebung besonders deutlich. Die »nächtliche Versammlung« (961a ff.) ist über das Euthynenamt die Instanz, die die zweitbeste Polis durch die Bewegung und Veränderung in der Zeit hindurch erhalten soll. Sie ist von den konkreten politischen Interessen und Zwecken freigestellt. Die in die nächtliche Versammlung Berufenen müssen vor allem anderen ein Wissen um die Einheit der Tugend haben (962a 1 ff.), also des Bandes, das durch alle Schichten und Bevölkerungsgruppen hindurchgehen soll. Dabei werden sie mit Aufgaben und 385 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

POLIS, SEELE UND DIE HÖCHSTE IDEE

Anforderungen konfrontiert, die aus der Bestimmung der ›Philosophenkönige‹ in der ›Politeia‹ oder aus dem ›Politikos‹ bekannt sind. Analogien zwischen dem Steuermann und dem Arzt (963b) werden immer wieder gezogen. Das Wissen um die Tugenden erfordert vor allem Kenntnis der Einheit der Tugend. Leitend ist dabei wiederum die Spannung zwischen Tapferkeit (andreaia) und Besonnenheit (phronesis) (963e–964a). Die vier Kardinaltugenden werden identisch zu der Struktur in der ›Politeia‹ genannt (964b); das Wissen um die Tugend-Einheit, das auf die höchste Idee, die Idee des Guten, in der ›Politeia‹ zielen müsse, wird selbst nicht angegeben. Es wird aber festgehalten, dass der Gesetzesverwalter sich dieses Wissens inne sein müsse. Unzureichend sei es, wenn er im Sinn der Epistemologie des VII. Briefes lediglich den Namen, also das Begriffswort, nicht aber die Erklärung kenne. Die Wissenschaftspropädeutik für die Teilnehmer der nächtlichen Versammlung weicht sodann an entscheidender Stelle von der ›Politeia‹ ab: Auch hier wird festgehalten, dass sie die Dialektik erlernen sollen (965b). Dabei geht es im Einzelnen darum, »was denn jenes Eine und Gleiche« sei, das sich durch die verschiedenen Tugenden hindurchziehe und sie verbinde (965d). Die Mitglieder der nächtlichen Versammlung werden ausdrücklich als Wächter (phylakes) benannt, bei denen es eben nicht ausreiche, wenn sie nur die Vielheit des Guten und Schönen, seine Auffächerung in unterschiedliche Exemplare kennen. Sie müssen vielmehr den Zusammenhang und den Einheitssinn verstehen. Jenes Wissen wird freilich in seiner Notwendigkeit nur benannt. Es wird nicht konkret, auch nicht propädeutisch ausgewiesen. Der Höhe- und Gipfelpunkt der ›Nomoi‹ ist aber nicht die Dialektik bzw. deren Selbstbegründung und -überschreitung in die ideativ anzuschauende »höchste Idee«, die in den drei Gleichnissen verbildlicht wird. Es ist vielmehr die Theologie und die Lehre von der Selbstbewegung, die den Vorrang gegenüber allen Fremdbewegungen hat. Was im X. Buch der ›Nomoi‹ abgehandelt wurde, soll also den Rang der höchsten Erkenntnisform haben. Dabei konzentriert sich die lakonisch knappe, wie in Stein gehauene Exposition auf zwei Sätze: Die Seele sei die ursprünglichste Ordnung. Sie gehe der Körperwelt voraus und sei »das Ursprüngliche von Allem« (967d). Und: In den Gestirnen und ihren Bewegungen sei das Göttliche beheimatet. Der stärker atavistische Ansatz der ›Nomoi‹ markiert sich in diesem unmittelbaren Übergang der Astronomie zur Theologie und darin, dass die Dialektik hier tatsächlich nur aus einer Außenansicht zur Sichtbarkeit kommt. 386 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

›Nomoi‹ – Ein Ausblick

Auch die Nomoi-Gesetzgebung ist noch nicht konkreter Rechtsakt, sondern Spiel mit den Möglichkeiten und Situationen des Rechtes, in der Bezugnahme der ideativen Erkenntnis auf den Raum der Geschichte, in seinem Anfang und seinem Verlauf.

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SECHSTES KAPITEL: FORM UND GRENZE DER DIALEKTIK

Der erste Schritt der platonischen Dialektik im ›Phaidon‹ bleibt ganz dem Konzept der vollkommenen Übereinstimmung von Denken und Sein im Lehrgedicht des Parmenides verpflichtet. Entscheidend ist dabei, dass Denken und Sein sich als identisch erweisen und dass nur der eine Weg zu gehen ist: eben jener des dauerhaften Seins, das sich in der Idee erschließt. Der andere Weg der Doxa, des Hell-Dunkel, ist demgegenüber verschlossen. Dies führt gegenüber den ›dissoi logoi‹ der Sophisten dazu, dass Stabilität und die Situationsinvarianz der Idee festgehalten werden. Anwendung findet diese Einsicht angesichts des bevorstehenden Todes und seiner Bedrohlichkeit: Das argumentative Kernstück des ›Phaidon‹ zielt darauf, dass sich gegensätzliche Ideen nicht miteinander verbinden können. Daher kann auch die Seele, die aufs engste mit dem Leben verbunden ist, nicht mit dem Tod zusammengehen. Dass die Seele aufgrund ihrer eigenen Natur die Sterblichkeit nicht annehmen kann, ist ein kontemplativ gewonnener Gedanke und zugleich eine Hoffnung. Diese Aussage steht unter der Voraussetzung, der Körper (Leib) verhalte sich nur wie ein Grabmal zur Seele, sprachlich in der Gleichung von ›Sema‹ und ›Soma‹ ausgedrückt. Am Ende des ›Phaidon‹ ist allerdings davon die Rede, dass man nicht beweisen könne, dass es sich genauso verhalte. Nur dass es so oder so ähnlich sei, das wisse jeder vernünftige Mann. Jenes ›Ähnlich‹-Sein kann, auf das Ganze des platonischen Denkens hin verstanden, andeuten, dass mit dem ›Phaidon‹ das dialektische Problem nicht gelöst ist. Der sterbende Sokrates philosophiert und prüft die Argumente und die Seelen seiner Mitunterredner buchstäblich bis zum letzten Atemzug. Auf die PhaidonKonstellation hin, und mit der Aussicht, dass der philosophische Logos weiter reicht, kann er sterben. Das heraklitische Problem des Fließens und der Vernunft in Werden und Vergehen ist damit aber nicht verständlich gemacht. Diese über die Fixierung der Idee hinaus-

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FORM UND GRENZE DER DIALEKTIK

gehende Selbstbefragung wird in den dialektischen Spätdialogen ermittelt. Deren Konstellationen sollen knapp auf ihre Hauptlinien hin durchlässig gemacht werden. 1. Für die kategoriale Struktur der Dialektik ist der wohl rätselhafteste platonische Dialog, eben der ›Parmenides‹, grundlegend. Seit der Antike ist nicht einzelnes an ihm, sondern vielmehr das Gesamtverständnis fraglich. Ist es nur eine ›Ideengymnastik‹, vielleicht gar ein Verwirrspiel, das die Ideenwelt insgesamt in Frage stellt und in einer Richtung zu einer nachgerade nihilistischen Verirrung führt? Oder ist es vielmehr die Grundlegung der negativen Theologie des Einen, das in keinen Namen und keine begriffliche Bestimmung zu fassen ist? So wurde der ›Parmenides‹ im Neuplatonismus verstanden, und so ging er in die christliche, jüdische und islamische Mystik ein. Hegel meinte gar, dass Platon hier den Widerspruch als Prinzip der Dialektik erstmals erkannt und eingeführt habe, dass ein und dasselbe (zu gleicher Zeit und in gleicher Hinsicht) A und Non-A sein kann. Die Dialogsituation ist für die Argumentationsstruktur von größtem Belang. Platon zeigt, wie der ›Vater Parmenides‹ seine eigene Ontologie, die Identifizierung von Denken und Sein, auf den Prüfstand stellt. Er widmet also auch Parmenides ein Philosophenporträt, das diesen in hohem Grad ehrt und als jenen Denker zeigt, der einen starken Gedanken gegen sich selbst zu denken unternimmt. Doch auch der junge Sokrates kommt zu Wort – mit der These, wie er sie in ähnlicher Weise im ›Phaidon‹ vertritt: dass Ideen ein eigenes Sein haben und für sich bestehen und dass sie sich nicht mit ihrem Gegenteil vermischen. Mehr noch: auch nicht mit Elementen, die akzidentell an ihrem Gegenteil Anteil haben. Die Hypothesis-Reihen, die Parmenides auf die Bitte von Sokrates und seinen Mitunterrednern hin entfaltet, dienen dazu, dass sich der junge Sokrates besser in der Dialektik üben kann. Sie zeigen daher auch, was die platonischen dialektischen Spätdialoge gegenüber der anti-sophistischen Dialektik evozieren. Hier begegnet das Kategorienpaar Eins und Vieles als Hypothesis. Hinzu kommt an späterer Stelle noch das Andere, also die Zweiheit. Das Prüfungsverfahren ist offensichtlich nicht jenes des Elenchos. Es denkt als Hypothesis gleichberechtigt, was im Lehrgedicht des Parmenides aufs klarste geschieden worden war: dass das Eine unabhängig von Eintrübungen aus Werden und Vergehen und sinn389 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

FORM UND GRENZE DER DIALEKTIK

lichen Beeinflussungen ist und der ganzen Skala dessen, was dort als Doxa benannt worden war. Als naiv erweist sich die Behauptung der Ideeneigenständigkeit bei dem jungen Sokrates auch darin, dass er die Methexis an der Idee als dem prinzipiierenden Einen allem Seienden zuerkennt, sich aber scheut, dann auch Ideen von Dreck und anderen Niedrigkeiten anzunehmen. Die zentrale Aufgabe des Dialektikers ist, zu wissen, welche großen Gattungen zusammengehen und welche eben dies nicht tun. Damit ist die staatsmännische Kunst mit der des Webmeisters zu vergleichen. Auch sie bemisst sich danach, wie er verbinden und trennen kann. In der Staatskunst geht es ganz offensichtlich um die Integrationskraft: Welche Kräfte und Gruppen einer Bevölkerung können in das Ganze der Polis verwoben werden, bei welchen endet diese Möglichkeit, sodass sie auszusondern sind? Hier greift Platon auf das Gesetz zurück, sodass Korrespondenzen zum späten ›Nomoi‹-Dialog durchaus auffallen. Ausdrücklich wird gesagt, dass nur ein Nomos, der aus Einsicht gegeben wird, eine Polis tragen kann. Entscheidender als die Herrschaftsform ist diese Bindung an Einsicht. Den wahrhaft königlichen Gesetzgeber erkennt man mithin daran, dass er die statutarischen Gesetze verändern kann. Er ist nämlich gleichsam in seiner Person selbst das Gesetz. Die Unterscheidung des Staatsmanns als des architektonischen und königlichen Herrschers von mit ihm konkurrierenden und die Polis usurpierenden Kräften wie Feldherren, Rednern oder Richtern ist zugleich eine Selbstunterscheidung. Sie manifestiert sich in seinem Wesen und er muss sich ihrer vergewissern. Hier ist eine analoge Struktur zu der Unterscheidung des Philosophen vom Sophisten und Rhetor zu erkennen. Sein und Nichtsein müssen sich in jedem Fall verbinden. Dabei gibt es im Feld der wahren und unwahren Staatskunst nicht nur Tausendkünstler und Falschspieler, sondern auch Funktionen, die die herrscherliche Kunst nur zu einem Teil ausgebildet haben und ihr dienen. Die großen Gattungen von Identität und Differenz, tauton und thateron, werden im ›Politikos‹ ausdrücklich in einem Mythos dargestellt, der für das politische Denken heuristische Bedeutung haben soll. Er thematisiert gleichermaßen die Notwendigkeit der Staatskunst und ihre Würde, ausgehend von dem Mythos der zwei Erdumläufe. Ein erster Umlauf folgt dem Maßstab des ›tauton‹, der Identität und Selbstübereinstimmung. Hier regieren die Götter über 390 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

FORM UND GRENZE DER DIALEKTIK

den Menschen. Es stellt sich also das Legitimationsproblem überhaupt nicht, das Platon sehr scharf für die Herrschaft eines Gliedes der gleichen menschlichen Kette herausstellte. Wenn die Götter sich, nach dem ›Politikos‹-Mythos aus unerfindlichen Gründen, aus dem Gang der Welt zurückziehen, ist aber eine solche weltliche Herrschaft unumgänglich und daher auch geboten. Auch sie vertritt letztlich ein ›Nicht-Sein‹ des Seienden. Zwischen den im engeren Sinn dialektischen Dialogen ›Sophistes‹, ›Politikos‹ und ›Parmenides‹ wird auch hinsichtlich der dramatis personae eine enge Ligatur geknüpft. Im ›Politikos‹ begegnet uns wie im ›Sophistes‹ der ›Fremde‹, der die Grundfragen der Dialektik stellt; im ›Parmenides‹ tritt der junge Sokrates als Gesprächspartner des Vaters Parmenides auf. Er verteidigt diesem gegenüber sogar die reine eleatische Lehre. Es ergibt sich also die folgende hypothetische Struktur: Zunächst wird die Hauptannahme getroffen, dass das Eins ist. Es wird dabei in der ersten Durchführung für sich, ohne das Andere, betrachtet. a. Bei dieser Hypothesis wird zunächst die Zusatzannahme getroffen, die das parmenideische Lehrgedicht und später der Neuplatonismus ihrer Ontologie zugrunde legen: dass das Eins keine Teile hat und damit auch kein Ganzes bildet. Es ist daher ortlos und gestaltlos, weder der Stasis (Sein, Bleiben) noch der Kinesis (dem Wechsel) unterstellt. Und es ist unter keine Kategorie zu fassen: weder ähnlich noch unähnlich, weder gleich noch ungleich. Der Grad der Verwirrung durch Indefinibilität ist bereits auf dieser ersten Stufe erheblich. Denn jenes durch eine Differenz (chorismos) vom bestimmbaren Seienden getrennte Eins ist, um es mit Hegel zu formulieren, in gleichem Maß reines Sein und reines Nichts. Es ist eigentlich der Denkbarkeit entzogen, auch ist es weder zeitlich noch ewig (140e1). Ist man nicht, indem man es zu fassen versucht, bereits mitten im Grenzenlosen (apeiron)? Wie soll dann dieses Eins Paradigma der Idee und des Einen sein? b. Der Argumentationsgang flüchtet sich geradezu in die zweite Zusatzannahme. Ihr gemäß wird das Eins dann sehr wohl definibel: Ist es doch ein aus Teilen bestehendes Ganzes (synholon), dessen Totalität über die Teile hinausgeht. Der Menge nach muss man es als unendlich denken, weil neben dem für sich 391 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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seienden Einen kein anderes angenommen werden darf. Aber hier tritt eine weitere Verwirrung ein (143a 4): Neben dem Einen besteht dann auch Vieles. Von diesem kann man aber nicht begründet und in unterscheidenden Kategorien sprechen. Denn die Existenz des ›thateron‹ wird ja noch explizit ausgeschlossen. Also müsste man in der Konsequenz dieses Gedankens festhalten, dass das Eins selbst Vieles ist. Diese Verbindung des Entgegengesetzten geht in das Eins selbst ein und stiftet weitergehende Verwirrungen. Die Kategorien können zwar einander prädiziert werden, doch fehlt ihnen jede Eindeutigkeit. Das Eins ist nämlich als zugleich Vieles sich selbst gleich und ungleich, ähnlich und unähnlich (147c 1 ff.). Es ist deutlich, dass damit die Trennung von Werden und Vergehen und die Abgrenzung des Todes im ›Phaidon‹ hinfällig werden. Wenn es dabei bliebe, hätten die ›Dissoi Logoi‹ der Sophisten recht und könnten aus prinzipiellen Gründen nicht widerlegt werden. Auch eine temporale Bestimmung käme dem Einen dann zu. Doch auch sie ist eben nicht eindeutig auf dem Zeitpfeil festgelegt, sodass jede Identität im Feld von Zuschreibungen undenkbar würde. Das Eins würde paradoxerweise jünger und älter werden, als es ist. Es könnte zwar, wie Platon ausdrücklich bemerkt, erkannt und benannt werden (155c 9). Doch Stabilität ist damit nicht verbunden. Die Zusatzannahme hat das ›Weder noch‹ in ein gleichermaßen unhaltbares ›Sowohl als auch‹ transformiert. Klärung hat sie nicht mit sich gebracht; die Negation ist in eine plurale Geltung von allem und jedem zu gleicher Zeit übergegangen. Die dritte Durchführung ist kein weiterer Rettungsversuch. Sie sucht vielmehr aus der zweiten die Konsequenzen zu ziehen. Damit wird aber nur gewonnen, dass das Eine nichts anderes sein kann als Übergang im Augenblick. Wie aber kann es dann Erkenntnis und Sein leiten und Prinzip sein? Dieser quecksilbrig vorübergehende Aggregatzustand weist wiederum eine Affinität zu den Elementen in der ›Chora‹ auf, so wie sie im ›Timaios‹ exponiert werden. Er würde genau den jähen Umschlag von einem Element ins andere bezeichnen. Nun wird der zweite Aspekt ins Spiel gebracht: Das Verhältnis des Eins zum Anderen (157b 5). Man wird von zwei Möglichkeiten sprechen können: Entweder das Andere ist dem Eins ähnlich oder unähnlich – ob dem Eins, wie es sich im Sinn von a.

392 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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e.

denken lässt oder im Sinn von b. und c., erweist sich dabei als sekundär. Denn es bleiben letztlich nur zwei Optionen: Entweder ist das Andere im Sinn der ersten Durchführung »Ganzes und Teil« in der Weise des ›Sowohl als auch‹ oder es ist in der zweiten Durchführung ›Weder noch‹. Als Anderes ist es in keinem der Fälle diskret unterscheidbar. Im ersten Fall fiele es mit dem Eins zusammen, das alle Gestalten annehmen kann. Im Sinn der zweiten Durchführung wäre es mit dem Eins identisch, das alles ausschließt. Eine eigene Kategorialität findet es aber nicht. Die zweite Hauptannahme überschreitet offensichtlich im Rahmen parmenideischen Denkens eine Grenze, die zu überschreiten unzulässig ist und an das undenkbare Nichts rührt: dass das Eins nicht ist, ja dass Sein und Eins überhaupt voneinander getrennt werden können (160b 5 ff.). Auch hier kann das nichtseiende Eins zunächst für sich aufgefasst werden. Die ihm gewidmete Ausgangshypothese ist umgekehrt zu jener des seienden Einen angelegt. So wird das nicht-seiende Eins zunächst als benennbar, erkennbar und durch Identitätscharakteristika gekennzeichnet eingeführt; dann wird es in den Strudel der absprechenden Prädikationen gezogen. Am Ende nähert sich der Überlegungsgang wieder dem seienden Eins. Doch ist das ganze Exerzitium, wenn man es einmal durchlaufen hat, weniger eine negative Theologie des Einen als vielmehr ein Erweis, dass seiendes und nicht-seiendes Eines und ebenso Eines und Anderes gar nicht voneinander unterschieden werden können. Die Deutungen im Sinn negativer Theologie müssen in jedem Fall diese nicht sistierbaren Übergänge doch stillstellen. Der uneingeholte kontingente Beginn von Hegels ›Logik‹ wäre dazu der eigentliche Kommentar und nicht, wie Hegel selbst bezogen auf den ›Parmenides‹ meinte, die höchste Stufe seiner Ontotheologie: reines Sein, reines Nichts, miteinander identisch und voneinander schlechterdings verschieden. Zugleich liegt eben hier die vielleicht tiefste Stelle für die Anknüpfungen der frühen Romantik an Platon. Friedrich Schlegel, der es für gleichermaßen falsch befand, ein System zu haben und keines zu haben, hat Platon ein ›Philosophieren‹ und nicht eine ›Philosophie‹ zuerkannt. Diese Aussage ist zwar im Recht gegenüber dem Fehlkonstrukt einer geschlossenen platonischen 393 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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›Lehre‹. Sie ist aber irreführend, wenn man das kunst- und gehaltvolle Geflecht der platonischen Dialoge näher besieht. 2. Die ontologisch-kategoriale Ausgangsfrage des ›Sophistes‹ bezieht sich sodann auf die Verbindung von Sein und Schein. Dies ist zugleich die Frage nach dem Sein des Nichtseienden. Das reine, absolute Nichts (ouk on) kann man gar nicht aus- bzw. ansprechen. Wohl aber ist die bestimmte Negation (me on) möglich. Verbindungen von Sein und Nichts treten bei so elementaren Phänomenen wie der Täuschung auf: Hier hält man etwas für etwas, das es aber de facto nicht ist; ebenso zeigt sich dies im Phänomen des Bildes. Das Urbild ist im Abbild präsent und zugleich ist es abwesend. Am Scheinphänomen bricht eine Gigantomachie, ein Gigantenkampf, auf, dessen Frontstellungen zunächst klar verteilt sind: Auf der einen Seite die ›Ideenfreunde‹, auf der anderen Seite jene, die Sein mit körperlichem Sein verwechseln. Die Ideenfreunde kann man mit platonischen Philosophen identifizieren, jedenfalls im Sinn einer allgemeinen Vorstellung. Von beiden Seiten werden Zugeständnisse gefordert. So müssten die Ideenfreunde in den Bereich des Seienden auch die Grundelemente aufnehmen, die auf das Werden und Vergehen gerichtet sind; genannt werden Vernunft, Seele, Leben, Bewegung und Ruhe. Dies hat zur Folge, dass auch im Sinne des ›Sophistes‹ die Identifizierung des Seins mit dem Einen, also die stringente Lehre des Parmenides, in Widersprüche führt. Damit setzt der ›Sophistes‹ eine Debatte fort, die im ›Theätet‹ und vor allem im ›Parmenides‹-Dialog selbst geführt worden war. Die Gleichsetzung des Einen und des Seins schließt auch die Möglichkeit aus, ein ›Ganzes‹ (holon) zu denken, das sich bekanntlich aus Teilen konstituieren muss. Die Präsenz von Theätet als Gesprächspartner im ›Sophistes‹ signalisiert dies äußerlich. Die Trennung von der Lehre des ›Vaters Parmenides‹ erweist sich allerdings als weit schwieriger als die Widerlegung der Herakliteer und ihrer Flusslehre. Es bedarf vermutlich im ›Parmenides‹-Dialog der Stimme des Vaters Parmenides selbst, der den Gegenbeweis gegen seine eigene Lehre vom Einen antritt. Die Materialisten, die nur körperliches Sein annehmen wollen, müssen im ›Sophistes‹ eine geringere Konzession erbringen. Sie müssen lediglich eine marginale Verbindung mit der Seele und der Möglichkeit zur Veränderung eingestehen. Seiend wäre dann alles zu nennen, »was irgendein Vermögen« (dynamis ti) besitzt. Für die platonische Dialektik wird damit eine weitere Grundeinsicht ins Feld 394 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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geführt: Einige Begriffe verbinden sich und andere nicht. Dies ist die Voraussetzung dafür, dass dem Nichtseienden ein Sein zukommt. Und eben diese gegenüber dem ›Phaidon‹ markante Akzentverschiebung ist im Sinn des ›sozein ta phainomena‹ gefordert. Denn nicht nur wären Bild und Täuschung sonst überhaupt nicht verständlich zu machen – auch das gesuchte Phänomen des Sophisten wäre sonst nicht dingfest zu machen. Dass sich einige Begriffe verbinden können und andere nicht, hat seinen Maßstab an der Verflechtung der großen Gattungen: Sie müssen miteinander in ein Verhältnis zu bringen sein, dürfen sich aber nicht aufeinander zurückführen lassen. Als diese Hauptbegriffe werden im ›Sophistes‹ genannt: Bewegung (kinesis) und Ruhe (stasis), die ein Paar gegensätzlicher und zugleich komplementärer Relationen ergeben; dann Selbiges (tauton) und Verschiedenes (thateron), also Identität und Differenz, die ihrerseits in einem Komplementärverhältnis stehen. Eine eigene, nicht in einem Differenzverhältnis aufgehende große Gattung ist sodann das Sein. Die Frage nach dem Nichtseienden muss aber nicht einfach abgebrochen werden, so wie dies im platonischen ›Parmenides‹ zu sein scheint. Ausdrücklich wird der Satz des Parmenides als »überwunden« bezeichnet (Sophistes 239d). Innerhalb der Verschiedenheit ist Nichtsein zu kategorisieren. Es erlaubt, im Sinne des rationalen Logos – und eben nicht, wie Parmenides nahelegte, nur der »doppelköpfigen Sterblichen« – vom Sein des Nichtseienden zu sprechen. Bereits Platon hält fest, was später im Rahmen einer realistischen Logik und Phänomenologie der Sprache als Grundsatz der Intentionalität wiederaufgenommen werden wird: dass nämlich alles Sprechen ein Sprechen von etwas ist (legein ti). Daher ist auch die falsche oder zumindest die »sich versehende« Aussage eine intentionale Rede. Sie kann nur innerhalb des Netzes der vorausgehenden kategorialen und logischen Befunde überhaupt sichtbar gemacht werden. Im ›Sophistes‹ hat diese Schrittfolge eine argumentative und zugleich eine dramaturgische Funktion. Der Sophist soll erkannt werden. Dazu verhilft eine Einteilung, die den Sophisten als Händler, genauer als Händler mit Worten, sodann als Streitkünstler und dabei als Nachbildner verortet. Doch innerhalb dieser Einteilung kann er nicht in das Netz gehen, weil die lineare Einteilung hin zum ›atomon eidos‹, dem selbst nicht mehr zu zerlegenden Wesenskern einer Definition, die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Lüge, Schein und Sein nicht aufzunehmen ermöglicht. 395 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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3. Der ›Theaitetos‹-Dialog wird ins Spiel gebracht, insofern er die mittlere Position zwischen der extremen Flusslehre der Herakliteer und der Lehre vom einen Sein des Vaters Parmenides, die für weitgehend sakrosankt erklärt wird, expliziert. In diesem Zusammenhang wird die Frage aufgeworfen, was Wissen ist und wie sich wahre Meinung eben zu diesem Wissen verhält. Dass Wahrheit erst aus der Kenntnis von Täuschung und Irrtum expliziert werden kann, ist eine weitere wesentliche Lektion des platonischen ›Theätet‹. 4. Wie in einer Abbreviatur können die Ergebnisse nochmals im ›Politikos‹ angewandt werden. Auch hier zeigt sich sehr deutlich, dass die Definitionsmethode Grenzen hat. Sie kann zunächst die Staatskunst als »einsehende« Kunst charakterisieren (258b7). Zuvor schon waren ihre Einheit und ihr gebietender Charakter unterstrichen worden. Die Art der Einteilung war dann aber einer immanenten Kritik unterzogen worden. Man habe jeweils Teilchen abgesondert, aber nicht auf den Begriff, das ihnen innewohnende Eidos, geachtet. Dies ist offensichtlich der Punkt, an dem die Frage nach den großen Gattungen ins Gespräch gebracht werden muss. An späterer Stelle wird explizit betont, dass der Fortschritt in der Dialektik das eigentliche Maß für die Tauglichkeit oder Untauglichkeit einer Untersuchung sei. Die großen Gattungen werden im ›Politikos‹ zwar nicht im Einzelnen entwickelt und aufgeführt, methodisch kehrt die Erwägung des ›Politikos‹ aber wieder. Es geht darum, dass der wahre Staatsmann ebenso wie der Philosoph sich auf die Kunst von Verbindung und Trennung verstehen muss. Dabei geht es nicht nur um Personen und Personengruppen, sondern auch um Tugenden (aretai). Ein Kernmotiv seit den platonischen Frühdialogen wird hier nochmals aufgenommen: dass zwischen Tugenden selbst, obwohl sie ja alle den Rang der Bestheit haben, Sprünge und Differenzen aufkommen können. Besonders evident zeige sich dies zwischen Tapferkeit und Besonnenheit. Beide könnten bis zur Verwerfung auseinandergehen. Die Schärfe, mit der Trennung und Verbindung festgehalten werden, lässt allerdings auch in der späteren Dialektik wieder an die Scheidung des Einen und des Anderen, des Lebens und des Todes, anknüpfen, die in der ersten versichernden Gewinnung der Dialektik im ›Phaidon‹, dem Unsterblichkeitsdialog Platons, ihren Auftritt haben. 5. Abschließend wenden wir uns dem Verhältnis von Dialektik und Sprache und damit dem ›Kratylos‹-Dialog zu. Das Kratylos-Pro396 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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blem ist sehr modern. Zeigt nicht der neuere ›Linguistic Turn‹ der Philosophie, dass alle Idee in der Sprache verankert sein muss? Die platonische Konzeption stellt diese vermeintliche Selbstverständlichkeit in Frage. Platons Dialog ›Kratylos‹ exponiert dieses Grundverhältnis. Er setzt mit einer Antithese ein, die auch für die Auseinandersetzungen mit der Sophistik zentral ist: der Gegensatz zwischen Setzung (thesis) und Natur (physis). In der Sophistik wurde diese Antithese allerdings primär vor dem Horizont von Recht, Gerechtigkeit und Tugenden zur Geltung gebracht. Auch bei der Sprache stellt sich freilich das Problem, ob ihre Benennungen gemäß und gegen die Natur sein können. Nur wenn es das Kriterium eines absoluten, situationsinvarianten Maßes überhaupt geben würde, könnte man zwischen richtigen und falschen Benennungen unterscheiden. Kratylos hält der radikal relativistischen Auffassung des Hermogenes entgegen: Wenn die Benennung eine Handlung wäre und ein eigenes Werk (idion ergon) hervorbrächte, so müsste auch sie ein ›idion ergon‹ haben, eine nur ihr eigene Intentionalität und Art des Hervorbringens. Die grundlegende Instanz der richtigen Benennung ist im Dialog ein Gesetzgeber: der Nomothet, der die Benennungen hervorgebracht hat. Dabei wird offen gelassen, ob dieser Gesetzgeber ein Gott oder ein Mensch ist. In jedem Fall muss er in der Relation von Worten und Dingen kundig sein. Die Entsprechung der Worte und der bezeichneten Dinge und Sachverhalte richtet sich nach den Urbildern, also nach den Ideen der Dinge. Es ist offenkundig, dass dieser Gesetzgeber eine ähnliche Bedeutung hat wie der Phytourg in der ›Politeia‹, der nach dem Wesenswas, der Physis des Seienden, alle Optionen möglicher Nachahmung festlegt. Die philosophische Dialektik, die ja primär darüber befindet, welche Begriffe sich mit Recht verbinden lassen und welche nicht, führt die Aufsicht über diese Frage. Das Verfahren, das Kratylos verwendet, ist allerdings primär das der Etymologie. Bis hin zu Heidegger hat es in der Philosophie immer einen Ort gehabt. Sokrates misstraut dieser Verfahrensweise aber und karikiert sie in einer Reihe von Beispielen wie dem, dass der Schnelllaufende sich in der Wortgestalt abspiegeln soll und Dionysos als derjenige firmiert, der den Wein einschenkt. Kratylos’ These, dass Benennungen, weil sie gemäß der Natur sind, immer richtig ausfallen müssen, erweist sich als keineswegs gedeckt. Deshalb wendet Sokrates gegenüber Kratylos ein, dass die Nachahmung der Sache in einem Wort 397 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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durchaus auch fehlschlagen kann, so wie die Mimesis durch Malerei. Dahinter steht, wie im zweiten Einwand klar gemacht wird, die Überzeugung, dass Nachahmungen eben nicht auf Identität, sondern nur auf Ähnlichkeit beruhen. Deshalb ist die Möglichkeit zum Irrtum im Einzelnen immer gegeben. Dies hat die weitere Implikation, dass, bei aller begründeten Sympathie für eine Zuordnung gemäß der Natur (kata physin), bis zu einem gewissen Grad Konvention erforderlich ist, um das Ähnliche aufeinander zu beziehen. Deshalb ist es möglich, dass ein und dasselbe eidetische Urbild in unterschiedlichen Worten und damit auch in verschiedenen Sprachen zur Darstellung gebracht werden kann. Intendiert ist damit auch die Auffassung, dass keineswegs ausschließlich die Wörter zu den Dingen und Sachverhalten führen. Sokrates führt dies in einer ironischen Aufnahme der Etymologien des Kratylos weiter aus. Der etymologische Wort- und Verständnissinn von Treue deute doch in jedem Fall auf Ruhe. Die Ironisierung hat aber einen ernsthaften Kern: die Verbindung des nichtstabilen Flusses und der Variabilität in der Sprache mit der bleibenden Idee. Die Sprache bewegt sich also stets in der Spannung zwischen Ideenlehre und dem radikalen Fließen der Dinge. Sokrates fragt nun eine Schicht tiefer und dringt damit in die eigentlich göttliche Sphäre des Nomotheten der Sprache vor. Wenn dieser in seiner Setzung der Stammwörter auf das Wesen des Seienden Bezug nimmt, so muss es einen Zugang zum Seienden geben, der hinter die Sprachwelt zurückgeht. Dabei wirft Sokrates in seiner Erwiderung auf Kratylos auch dezidiert die Frage auf, was wohl die schönere Art der Erkenntnis wäre – das Sein der Dinge durch Worte lernen zu können oder durch den unmittelbaren Zugriff auf die Dinge selbst. Damit ist eine in zweifacher Hinsicht bedeutsame Grenze gezogen: Die wahre Erkenntnis des Seienden ist nicht an eine universale, von den Divergenzen der Einzelsprachen absehende Sprachform gebunden. Die für den neuzeitlichen Begriff der sprachlichen Präzision überaus bedeutsame Konzeption eines ›calculus universalis‹ findet also bei Platon keinen präfigurierenden Text, und ebenso wenig die Haltung, dass nur in einer oder einigen wenigen bestimmten Sprachen die Philosophie artikuliert werden könne. Es ist gerade die bedrohliche Annahme, dass alles im Fließen begriffen sei und sich zu verflüchtigen drohe, die die Lehre der Herakliteer, die auch im ›Theätet‹ erwogen wird und zum Rückgriff auf das bleibende Sein der Idee nötigt, zur Herausforderung macht: »Ist 398 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

›Parmenides‹: Das »mühevolle Spiel«

aber immer das Erkennende und das Erkannte, ist das Schöne, ist das Gute, ist jegliches Seiende: so scheint mir dies, wie wir jetzt sagen, gar nicht mehr einem Fluss ähnlich [zu sein] oder einer Bewegung« (440b). Im Sinn der radikalen Flusslehre wäre eine bleibende Erkenntnis gar nicht möglich. Kratylos gibt am Ende dem Sokrates ein weitgehendes Eingeständnis: »dass wie ich auch darüber nachdenke und [die Sache] durcharbeite, es mir doch weit mehr so zu sein scheint, wie Herakleitos sagt« (440d-e). So unentscheidbar also, wie manche Interpretationen nahelegen, ist die sokratische und damit auch die platonische Position im Vexierspiel des ›Kratylos‹ nicht: Die Sprache verweist auf ein Wesen der Dinge. Sie tut dies aber nur kraft der Epistemologie des Ähnlichen, und sie ist mit diesem Wesen keineswegs schon identisch. Deshalb kann auch dasselbe eidetische Urbild in verschiedenen Sprachen niedergelegt werden.

I.

›Parmenides‹ : Das »mühevolle Spiel«

Das ›mühevolle Spiel‹. Zum ersten Teil des platonischen ›Parmenides‹ In der Rekonstruktion der platonischen Dialektik soll sogleich der ›Parmenides‹-Dialog in das Zentrum rücken, gerade weil er die Reflexion in die Rätsel der Begriffe des Einen und des Anderen hineinzieht und damit zur Klärung und Unterscheidung nötigt, wie sie etwa im ›Sophistes‹, aber auch im ›Theätet‹ geleistet wird. Wie immer man zu den zahlreichen Kontroversen philosophiegeschichtlicher und philologischer Forschung über den Sinn des ›Parmenides‹-Dialoges stehen mag, offensichtlich ist, dass nicht nur der junge Sokrates in die Denkübung hineingezogen wird und sich genötigt sieht, tiefer in die Ideendialektik einzudringen und sich nicht länger an die Meinung der Vielen zu halten, sondern dass auch der große, greise Eleat zum Zwecke der Übung in ein Spiel mit den Ideen gerät, das seine Ausgangsannahme »hen eon« (»Eines ist«) in Aporien treibt. Man kann als Ergebnis dieser Erörterung mit Günter Figal festhalten: »Wenn das Eine sei oder nicht, so sei gänzlich alles, es selbst und das Andere, für sich und für einander, und sei zugleich nicht, es erschiene und erschiene ebenso nicht.« 1 Wenn die beiden 1

Dazu G. Figal, Platons Destruktion der Ontologie. Zum Sinn des ›Parmenides‹, in:

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Gesprächspartner Sokrates, der gerade beginnt, und Parmenides, der am Ende seiner Denklaufbahn steht, sich dem gleichen Problem aussetzen, so zeigt sich doch zugleich ihr Missverstehen gegeneinander. Der junge Sokrates versucht, die Ideen stärker beim Wort zu nehmen, als es die eleatische Position tut, die ihm in Zenon begegnet ist. Seine Frage geht versuchsweise von einem Sein der Ideen selbst aus (128e) und fragt nach dem Zugleichsein von Einem und Vielem. »Denn wenn Jemand zeigte, die Ähnlichkeit selbst wäre unähnlich, oder die Unähnlichkeit ähnlich, das wäre, denke ich, ein Wunder. Zeigt er aber, wie dem, was beides an sich hat, auch beides zukommt, so dünkt mich, o Zenon, dies gar nichts Widersinniges« (129b). In einer Kulmination dieser Erwägungen nimmt der junge Sokrates bereits die später entwickelte Aporie in den Blick, dass das eigentliche Eins vielleicht selbst Vieles sei (129a). Damit würde die parmenideische Unterscheidung hinfällig. Parmenides unterzieht ihn daraufhin einer Befragung, die zwei Anläufe nimmt: Zum ersten richtet sie sich auf die Wirklichkeit der Ideen. Es steht in Frage, ob es eine Idee, ein ›eidos‹, der Ähnlichkeit gibt und ob Einheit und Vielheit eine Bedeutung über die einzelnen seienden vielen Dinge hinaus haben – eine Präfiguration der späteren Universalienfrage. 2 Sie führt bis zu dem Problem, ob es auch für verächtliche Dinge wie Kot oder Schmutz Ideen gibt (130c). Sokrates bestätigt die Existenz von solchen Ideen oder Wesensschemata. Erst beim Eidos des einzelnen Menschen beginnt er zu zweifeln und verneint die Annahme eines Eidos der niedrigen Dinge (130d). Er vertritt also nicht einfach eine ›doppelte Ontologie‹, die ihn dazu bringt, die Eigenschaften von Dingen von ihrer Teilhabe an Ideen her zu denken, nicht aber ihr Dasein. Der Sachverhalt ist zweischneidig: Der ›doppelten Ontologie‹ gilt gerade der Zweifel des jungen Sokrates, doch er kann diesen Zweifel philosophisch begrifflich noch nicht bewältigen. Ein kaum artikuliertes Vorverständnis nötigt ihn dazu, einen Bereich abzugrenzen, innerhalb dessen allein von Ideen sinnvoll die Rede sein kann. Es bleibt ein argumentativ unbegründetes Vorurteil, dass es Ideen von niedrigen, etwa nur stofflichen Entitäten eigentlich nicht

Antike und Abendland XXXIX (1993), S. 29 ff., hier S. 34. Siehe auch A. Graeser, Wie über Ideen sprechen?: ›Parmenides‹, in: Kobusch, Mojsisch (Hg.), Platon. Seine Dialoge in der Sicht neuer Forschungen, a. a. O., S. 146 ff. 2 Graeser, Wie über Ideen sprechen?, a. a. O., insbes. S. 160. Siehe auch ders., Über den Sinn von Sein bei Platon, in: Museum Helveticum 39 (1982), S. 29 ff.

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geben könne. Deshalb ist der Vorwurf des Parmenides im Grunde sehr gerechtfertigt, dass Sokrates ungeachtet seines Eifers für die Logoi (130b 1 f.) noch in menschlichen Meinungen befangen sei, wohl seiner Jahre wegen. In jedem Fall nimmt Parmenides im Dialog die Position der elenchtischen Frage nach den niedrigen Dingen vorweg, die in den Frühdialogen von Sokrates auftauchen wird. Sokrates’ Fragekunst wendet sich eben nicht nur dem Bedeutenden und Großen zu. Damit beginnt eine zweite Befragung: Sie richtet sich nun auf die Teilhabe (methexis) der seienden Dinge an den Begriffen. Parmenides’ Fragestellung ist durchaus suggestiv angelegt: »Selbst ein und dasselbe seiend, soll [das Eidos] also in vielen außer einander Seienden zugleich sich befinden, und also selbst außerhalb seiner selbst sein« (131b). Dieser Satz enthält, wohl zum Zweck der Irreführung, einen Widerspruch. Das Eidos könne, außerhalb seiner selbst versetzt, nicht mehr ›ein und dasselbe‹ sein. Sokrates freilich akzeptiert diese Unterstellung des Parmenides nicht. Er vergleicht die Idee mit dem Tag, der einer und derselbe bleibt, obgleich er vielerlei verschiedenes Seiendes bescheint. »Nicht doch, habe Sokrates gesagt, wenn wie ein und derselbe Tag überall zugleich und dennoch keineswegs außerhalb seiner selbst ist, so auch jedes Eidos in allen Dingen zugleich dasselbe wäre« (131b). Das Eidos der Dinge wird von Sokrates im Sinne der Metapher vom Tageslicht also als Erscheinungs- und zugleich als Entdeckungsform des Seienden namhaft gemacht. 3 Er vertritt keine vergegenständlichende Ontologie, deren Kritik wir in Übereinstimmung mit Wolfgang Wieland 4 vor allem dem ersten Teil des ›Parmenides‹ gewidmet sehen können. Eine solche Position hält ihm vielmehr Parmenides vor – mit dem ersten seiner Argumente, dem Argument vom Segeltuch. Es zeigt, dass die Ideen nicht hypostatisch und als Gegenstände aufgefasst werden können. Der Segeltuchvergleich ist eine Verdinglichung der Ideenlehre. Er erlaubt deshalb nicht, die wesentlichen phänomenalen Erfahrungseinsichten, die der Vergleich von Idee und Tag erschließt, zu bewahren. Denn in der Tat: Ein Segeltuch ist nie als Ganzes über vielen verschiedenen Personen ausgebreitet. Jede von ihnen hat nur an einem Teil von ihm Dazu Figal, a. a. O., Siehe vor allem W. Wieland, Platon und die Formen des Wissens, a. a. O., S. 112 ff. 4 Wieland, a. a. O. – Siehe auch H. G. Zekl, Der Parmenides. Untersuchungen über innere Einheit, Zielsetzung und begriffliches Verfahren eines platonischen Dialogs. Marburg 1971, der allerdings zu dem Ergebnis kommt, dass die Kritik, die der alte Parmenides an Sokrates übt, haltlos sei. 3

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Anteil (131b). Im Dialogverlauf zeigt sich aber, dass dieser Vergleich sich einer Verwechslung schuldig macht, die dann etwa im ›Politikos‹ namhaft gemacht und durchbrochen wird. Die in der ›Dihairesis‹ gewonnenen Ideen (eidé) sind nicht Teile (262a ff). Sie dafür zu halten bedeutete im Sinn des ›Politikos‹, das Maß des Angemessenen zu verfehlen. 5 Wenn im ›Politikos‹ die Unterscheidung zwischen Hinsichten (eide) und Teilen (meroi) (263a) auch nur genannt und nicht ausgeführt wird, so kommt ihr doch eine entscheidende Bedeutung zu, da sie eng mit der Frage nach dem Menschen korreliert. 6 Im Blick auf den Segeltuchvergleich des Parmenides wird man sagen können, dass in den ›eidé‹ das unteilbar Eine in den Teilen gegenwärtig ist. Zu dieser Darstellungsweise gibt es im Bereich des einzelnen Seienden keine Analogie. Der junge Sokrates kann gegenüber Parmenides diese Einsicht allerdings noch nicht in einem klaren Argument formulieren. Sein Vergleich der Idee mit dem Tag und der Verweis darauf, dass der von Parmenides nahegelegte Widerspruch zwischen der ›ein und dasselbe seienden Idee‹ und einer Sphäre außerhalb von ihr keinesfalls notwendig eintreten muss (vgl. noch einmal 131a), enthält die Erkenntnis noch intuitiv verborgen in sich. Man kann sich nur darüber wundern, dass er dieses tiefere Wissen so rasch im Dialogverlauf preisgibt. Dies gibt dem Parmenides die Möglichkeit, zwei weitere Argumente ins Feld zu führen: das sogenannte Regressargument (132a– 133a) und das sogenannte Transzendenzargument (133b–135b). Sie sind rein polemischer Natur. 7 Dies unterscheidet sie vom Segeltuchvergleich, der vielmehr positiv die eleatische Position zu erkennen gibt, dass nur das Eine zuzugeben und ihm allein Sein zuzuerkennen sei. 8 Trotz dieses Unterschiedes setzen Regress- und TranszendenzarZu bemerken ist an dieser Stelle, dass auch die Seelenteile in der ›Politeia‹ eher ›Hinsichten‹ als fixierte ›Teile‹ sind. 6 Vgl. C. Meinwald, Plato’s Parmenides. New York 1991; siehe auch dies. ›Good-bye to the Third Man‹, in: R. Kraut (Hg.), The Cambridge Companion to Plato. Cambridge 1992, S. 365 ff. 7 Dazu wieder Figal, a. a. O., S. 38 und S. 40. 8 Vgl. zum Verhältnis des Eleatismus u. a. H. F. Cherniss, Parmenides and the ›Parmenides‹ of Platon, in: American Journal of Philology 53 (1932), S. 122 ff., sowie die klassische Arbeit G. Calogero, Studi sull’eleatismo. Roma 1932. Siehe auch K. Düsing, Formen der Dialektik bei Plato und Hegel, in: M. Riedel (Hg.), Hegel und die antike Dialektik. Frankfurt/Main 1990, S. 169 ff. Siehe auch G. Prauss, Platon und der logische Eleatismus. Berlin 1966. 5

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gument die verdinglichende Grundtendenz des Segeltuchvergleichs fort. Das Regressargument nimmt Ideen und Entitäten, die unter diese Ideen fallen, ohne Unterschied in den Blick. Daraus ergibt sich der folgende Regress: Wenn ein beliebiger großer Gegenstand und das ihm zukommende Eidos der Größe zwei Dinge in einer Reihe sind, so bedarf es eines dritten gemeinsamen Begriffs, unter den beide fallen. Dies wäre ihr Eidos. Doch es wäre zugleich auch ein Glied in der Reihe, die sich ins Unendliche fortsetzt. Offensichtlich ist das Regressargument eine Folge der Annahme der Teilbarkeit von Ideen. Seine zweite Wurzel hat es aber in einem Verständnis von Sein als Existenz von Einzeldingen. Insofern geht es nicht nur um die Frage der ›methexis‹ (diese ist ihm vielmehr keine Frage mehr; sie firmiert hier vielmehr selbst nur als eine Art des Seienden, ob Idee oder Ding). Viel expliziter geht es auch um Sokrates’ Gedanken eines Seins der Begriffe (129a ff., weiter oben). Den Methexis-Gedanken führt das Regressargument offensichtlich ad absurdum, doch steht es selbst leicht erkennbar auf tönernen Füßen. Denn es ist wieder der junge Sokrates, der, noch halb träumend und nicht voller Rechenschaft fähig, im Blick auf die Methexis das Mimesis-Verhältnis von Urbild und Abbild ins Gespräch bringt, das für die Naturlehre der ›Timaios‹ nicht weniger prägend ist als die Frage nach dem Guten im menschlichen Leben im ›Philebos‹ und das auch die Frage nach dem wahren Staatsmann im ›Politikos‹ unterschwellig bestimmt. Parmenides geht im Zusammenhang des Regressgedankens, indem dieser schon auf das Transzendenzargument hin durchlässig wird, von der Unvereinbarkeit von Eidos und Ding aus. So ergibt sich die Aporie, dass, wenn man denn davon spricht, die Dinge – Parmenides sagt verräterisch ›die übrigen Dinge‹ (132c) – hätten Begriffe in sich, man entweder annehmen müsse, dass die Dinge auch aus Gedanken bestehen, oder man zu dem Widersinn komme, dass die nicht-denkenden Dinge, wenn auch vielleicht nur in einer bestimmten Hinsicht, 9 Gedanken seien. Nachdem nun Sokrates zugegeben hat, dass dies beides Ungedanken seien, folgt im Sinne seiner ursprünglicheren Einsicht der Verweis darauf, dass ihrer Natur nach die Eide Urbilder (paradeigmaVgl.dazu Figal, a. a. O., S. 35 ff. Zu der Problemstellung auch S. Rickless, Plato’s Forms in Transition: A Reading of the Parmenides. Cambridge 2007. Siehe ferner die differenzierten Interpretationen bei F. von Kutschera, Platons Parmenides. Berlin New York 1995.

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ta) sind, denen die übrigen Dinge im Sinne der Ähnlichkeit (homoiosis) gleichen (132d). Dies wäre ein entscheidender Schritt in der Erörterung. Doch eben dies will Parmenides nicht zugeben. Er lässt den Gedankengang stagnieren, indem er sein voriges Argument in dem veränderten Gesprächshorizont noch einmal wiederholt: Wenn es Ähnlichkeit als Eidos ist, das Ähnlichkeitsverhältnisse erst begründet, so kann die Anähnlichung doch nur immer wieder zu Eide, nicht zu Dingen führen. Auch von dieser Seite her betrachtet ergibt sich ein infiniter Regress. Durchdenkt man aber die Struktur des Einwandes genauer, so zeigt sich, dass das Regress-Argument einmal, nämlich im Blick auf das Sein der Ideen, Ideen wie Dinge behandelt; dann aber, in Auseinandersetzung mit der Frage der Methexis, das Gegenteil zu verstehen gibt, dass nämlich zwischen Ideen und Dingen keine Verbindung bestehen kann. Bezeichnenderweise beruhen die inhaltlichen Gegenthesen auf dem einen verdinglichenden Grundgedanken: Eide und Dinge werden wie zwei nebeneinanderstehende Gattungen von seienden Einzeldingen behandelt. Im Licht dieser Voraussetzung kann nicht deutlich werden, was das Mimesis-Verhältnis überhaupt ist. 10 Auch muss es nicht verwundern, dass die Erörterung unter der Leitung des Parmenides nicht fortschreitet: Ist doch in beiden Betrachtungshinsichten das gleiche dinghafte Grundverhältnis vorgezeichnet. Daraus resultiert dann das Missverhältnis, dass zwar Parmenides die Frage der Methexis erstmals aufwirft, dass sich ihre phänomenale Klärung aber ganz dem jungen Gesprächspartner, Sokrates, verdankt. Mit dem Transzendenzargument wird die Kluft zwischen ewigen Ideen und der Welt der Erscheinungen verstärkt, jener ›chorismos‹, auf den Sokrates zu Beginn anspielt, wenn er die Aussonderung der Begriffe gegenüber den Dingen anmahnt und dabei die Formulierung »dihairetai choris« (129d 7) gebraucht. Die in der Endlichkeit begriffenen Menschen können die für sich bestehenden Ideen nicht begreifen, genauso wenig wie die Götter die menschliche Welt – so formuliert Parmenides (133b) seine Absage an jede Möglichkeit einer Teilhabe. Dieser Gedanke führt den jungen Sokrates in eine tiefe Irritation darüber, ob es denn überhaupt möglich sei, zum Philosophieren Dazu wieder Meinwald, Good-bye- to the Third Man, in: R. Kraut (Hg.), The Cambridge Companion, a. a. O., S. 367 f., siehe auch F. A. Lewis, Did Plato Discover the Estin of Identity?, in: California Studies in Classical Antiquity 8 (1976), S. 113 ff.

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zu kommen. An dieser Stelle wird deshalb erstmals und ohne Festlegungen angezeigt, weshalb die ideendialektische Übung (gymnasía) einen Sinn hat (135d–e). Ausdrücklich bestätigt Parmenides dem jungen Sokrates, dass diese mühevolle Übung von den Ideen selbst auszugehen und sich nicht nur an die seienden Dinge zu halten hat (129a f.) – so wie es die orthodox-eleatische Rede des Zenon tat, da ihr zufolge das Viele nur Schein ist und auf das Eine zurückgeführt werden kann. Diese Bestätigung ist allerdings ironisch eingefärbt. Im Rückblick auf seine erste Einlassung hält Sokrates fest: »Es schien mir eben […] auf jene Art nicht schwer von den Dingen zu zeigen, dass sie ähnlich und unähnlich sind, und dass ihnen alles was man nur will zukommt« (135e). Man wird diese Einlassung wohl auf doppelte Weise verstehen können. In keinem Fall gibt sie das wieder, was Sokrates an jener früheren Stelle im Gespräch tatsächlich gesagt hatte. Die Formulierung kann darauf verweisen, dass über die Ideen und aufgrund der Methexis die Widersprüchlichkeit der Dinge leicht aufgewiesen werden kann und sie kann noch einmal rückblickend auf den zenonischen Nachweis Bezug nehmen. Tatsächlich hatte Sokrates aber davon gesprochen, dass es ein eigentlich denkwürdiges Vorhaben sei, die Eide selbst nach ihrer Verschiedenheit zu befragen. Da er seine ursprüngliche Einsicht verleugnet, trifft ihn die Ironie des Parmenides zu Recht, der nun anmerkt, dass Sokrates mit Recht das Unterfangen für leicht gehalten habe (136a), wo es in Wahrheit doch, wie dann deutlich genug erklärt wird, ein »mühsames Spiel« sei (137b), das einem alten Mann nur im kleinen Kreis zugemutet werden könne (136d). Obgleich sich Parmenides also nur spielerisch der Übung aussetzen kann, bedeutet sie für ihn die Nötigung, den eigenen altvertrauten Gedanken, dass das Eins ist, einer verflüssigenden Befragung zu unterwerfen; mithin bedeutet sie, im Sinn der Bildrede, eine lange Meerfahrt, einen Kampf, der Anlass gibt zu erzittern (137a). Deshalb sagt der weise Greis in einem letzten Bild, »er werde wider Willen, so alt schon, gezwungen, noch einmal die Bahn der Liebe zu gehen« (137a), also die Bahn des ungeschützt sich exponierenden Eros. Was zu diesem Wagnis Anlass gibt, ist freilich nichts anderes als die intuitive Einsicht, die der junge Sokrates gegen Zenons Rede in Anschlag gebracht hatte – mit der einen wesentlichen Erweiterung des Problems, dass die Ideen an sich unter der hypothetischen Voraussetzung, dass sie sind, und ebenso unter der zweiten Voraussetzung, dass sie nicht sind, durchdacht werden müssen. Wir sehen also gegen Ende des ersten Teils des ›Parmenides‹405 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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Dialogs die Kontrapunktik zwischen Parmenides und Sokrates klarere Konturen gewinnen. 11 Sokrates gibt, ohne die Tragweite seiner eigenen Einsichten wirklich abzusehen, die Frage vor, der sich Parmenides spielerisch, doch nicht ohne Wagnis, im zweiten Dialogteil aussetzen wird. Die drei Argumente (Segeltuchargument, Regressargument, Transzendenzargument) und manches Anzeichen einer Ironisierung seiner Position hat er zu erdulden, da er im erörterten Sinn zwischen Bereichen, die dem Ideendenken zugänglich sind, und solchen, die es nicht sind, unterscheiden möchte, aber noch nicht über die begrifflichen Instrumente verfügt. Diese verdinglichende Tendenz führt ihm Parmenides im ersten Dialogteil in aller Drastik und in ihren vielfältigen Ausprägungen vor Augen. Es scheint, wenn man den Gesprächsgang bis hierher verfolgt hat, kaum mehr einsichtig, wenn Andreas Graeser Parmenides als den Exponenten der ding-ontologischen ›Bewusstseinsgestalt‹ und den zweiten Dialogteil als Entfaltung der Widersprüche versteht, die sich in deren Betrachtungsweise ergeben müssen. 12 Dies verkennt in jedem Fall die maieutisch-dialogische Dimension des Gesprächs. Ehe wir uns der Übung im zweiten Dialogteil zuwenden, ist es wohl hilfreich, seine Beziehung zum ersten Teil und ebenso zum Parmenides des ›Lehrgedichts‹ transparenter zu machen. Reduziert man das Übungsgespräch, in dem nicht mehr der junge Sokrates, sondern der junge Aristoteles der Gesprächspartner des weisen Eleaten ist, auf sein Anliegen und seine Argumentationsstruktur, kann man mit Figal sagen, dass der zweite Teil die Kritik des ersten »auf der Grundlage des parmenideischen Monismus« entfaltet. 13 In diesem Sinn sieht Figal in den beiden Grundvariierungen der acht Hypothesen die drei Argumente des ersten Teils lebendig bleiben: Das Segeltuchargument führe nun auf den Gedanken, dass das Eins alles Seiende in seiner Vielheit bedeckt. Allerdings sei das Bild vom Segeltuch dabei in einem nicht mehr dinghaften Sinn gebraucht und daher eher dem vom jungen Sokrates im ersten Dialogteil verwendeten Bild vom Tag nahe, der die mannigfaltigsten Erscheinungen bescheint und zu Dazu Prauss, Platon und der logische Eleatismus, a. a. O. A. Graeser, Wie über Ideen sprechen?, a. a. O., und Über den Sinn von Sein bei Platon, a. a. O. In philosophiehistorischer Perspektive dazu W. Künne, Dialektik und Ideenlehre in Platons Parmenides. Untersuchungen zu Hegels Plato-Deutung. Heidelberg 1975. 13 Figal, Platons Destruktion, a. a. O., S. 32. 11 12

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erkennen gibt, was sie sind. Das Transzendenzargument kehre immer dann wieder, wenn gezeigt werde, dass sich der Gedanke des Vielen verflüchtigt, sobald er gedacht werden soll: Das Viele verschwimmt und damit werden auch seine Konturen gegenüber dem Einen durchlässig. Auch dieses Argument hat sich also verändert: Der ›chorismos‹ zwischen Einem und Vielem wird zwar festgehalten, die Ideendialektik zielt aber auf das Eins ab und hält nicht mehr den bewegungslosen Schematismus zweier Gattungen fest. Schließlich kann Figal auch das Regressargument im zweiten Dialogteil wiederfinden: Einerseits bleibt es in Kraft, um anzuzeigen, »dass der Gedanke des Vielen aporetisch ist, sofern er ins Unendliche führt« (144a 5–e 7), 14 andererseits ist es ex negativo fruchtbar zu machen, um zu zeigen, dass nur das Eins in Wahrheit sei. Vieles ist allenfalls als Vielheit von Einheiten zu denken, die ihrerseits auf das sie begründende Eins verweisen. Vieles verweist also unhintergehbar auf Eines. Solche Entsprechungen können tatsächlich festgehalten werden, sie sind aber nicht zu überschätzen. Denn Parmenides’ Einlassung im zweiten Teil wird in ihrer Tragweite nur erfasst, wenn sie nicht darauf reduziert wird, den Gedanken des Einen festzuhalten und die eigenständige Denkbarkeit des vielen Anderen abzuwehren. Figal selbst hat diese Bedeutung dadurch deutlich gemacht, dass er den Unterschied zwischen dem Parmenides des Lehrgedichts und dem des platonischen Dialogs klar akzentuiert hat: Dieser stellt durch befragende Denkbewegung das in Frage, was jener aus fragender Weltwahrnehmung heraus mit dichterischer Kraft festhält. 15 Daraus ergeben sich aber keineswegs nur Abweichungen, sondern auch tiefliegende Entsprechungen – denn das parmenideische Lehrgedicht bringt, wenn es Eines und Sein zusammendenkt, anfängliche Grunderfahrungen zum Ausdruck, die im platonischen ›Parmenides‹-Dialog zetematisch (also fragend und untersuchend, was dessen Wesen ausmacht) und kategorial weiter zergliedert werden. Der Wahrspruch der Göttin nötigt deshalb dazu, das Sein als Eins zu verstehen, da das All (to pan) als Eines Ibid., S. 43. Siehe dazu auch K. Düsing, Ontologie und Dialektik bei Plato und Hegel, in: Hegel-Studien 15 (1980), S. 95 ff. 15 Figal, Destruktion, a. a. O.; dazu aus eher analytischer Perspektive: G. E. L. Owen, Plato on Not-Being, in: G. Vlastos (Hg.), Plato I: Metaphysics and Epistemology. A Collection of Critical Essays. New York 1971, S. 223 ff. und M. McCabe, Unity in the Parmenides, in: Chr. Gill und dies. (Hg.), Form and Argument in Late Plato. Oxford 1996, S. 5 ff. 14

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gedacht werden muss, wenn es denn ist. Deshalb spricht der Parmenides des Dialogs ganz sachgemäß davon, dass er vom Einen als seiner eigensten Voraussetzung (137b) ausgehen möchte. Dieses Einssein des Seins wird im Lehrgedicht des Parmenides durch verschiedene andere, in den gleichen Zusammenhang gehörige Bestimmungen variiert, die sich zum Teil sogar vor die Aussage, dass das Eine ist, schieben: Das Sein ist Ganzes, Ungewordenes und Unvergängliches, es ist Kontinuierliches, Gleichartiges und Selbiges (DK, 8 3 ff. pass.). Was hier in den Parataxen der großen Denkdichtung gesagt wird, erfährt im prüfenden Gedanken eine ungleich härtere Befragung, indem das parmenideische ›esti gàr einei‹ (DK, B 6) nach seinen verschiedenen Hinsichten befragt wird. In der zweiten Durchführung der ersten Hypothesis, dass Eins ist, wird in diesem Sinn deutlich gemacht, was zu dem Einen hinzukommt, wenn von ihm sein Sein ausgesagt wird (142b); von der zweiten Grundvoraussetzung ausgehend, »wenn Eins nicht ist« (160b), wird die Verflechtung des ›hen eón‹ selbst in Frage gestellt. Dass der Parmenides in Platons Dialog das eine Sein und die Einheit von Denken und Sein, die mit seinem Namen verbunden ist, in Frage stellt, verflüssigt Ontologie und Begriffsbildung. Es ist wie bei einem Maler, der nach großen Bildern wieder zu erprobenden Skizzen zurückgreift und das, was er gewonnen hat, erneut radikal in Frage stellt – und so Versuch und Versuchung riskiert. 16 Damit kann das »mühevolle Spiel« in seinem Zusammenhang begriffen werden: Die erste Hypothese spricht vom Einen selbst, dessen Sein anzunehmen, aber nicht zu bestimmen ist. Diesem Einen kommen keine Teile zu, weshalb es auch nicht als ein Ganzes (holon) qualifizierbar ist (137c). Entscheidend ist, dass es unbegrenzt (apeiron) und ohne Gestalt gedacht wird. Es ist atopisch, ohne Ort, und wechselt deshalb auch seinen Ort nicht, weder durch von außen kommende Veränderung (138c) – denn dies setze ein mögliches abgrenzbares Verhältnis Diesen Vergleich legte mir Vroni Schwegler, auch durch das Paradigma ihrer eigenen Arbeit, nahe. In der Kunstgeschichte gibt es dafür einige Beispiele. Besonders eindrücklich wird dies in Georg Baselitz’ ›Helden‹-Bildern, jener fulminanten Explosion seiner Produktivität in den Jahren 1965–67, die im Sommer 2016 im Frankfurter Städel-Museum zu sehen waren. In kleinen Zeichnungen werden die Standards der großen Gemälde aufgeraut und wieder und wieder bedacht – eine Leistung, die eindrücklicher wirken kann als die immer routiniertere Fortsetzung der Bildsujets selbst.

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zu anderem voraus – noch durch Bewegung, denn dies setze eine Verortung voraus (138d). Diese Ausgrenzung und Separierung des Einen ist in der Wirkungsgeschichte des Parmenides spätestens seit Proklos immer wieder auf eine negative, mysterienhafte Theologie des Einen hin interpretiert worden. 17 In jedem Fall verweist sie auf einen Uranfang, der sich nicht einmal als Anfang isolieren und daher auch nicht dezidiert verstehen lässt, da ihm keine Umgrenzung eignet, aus dem Anderes hervorgehen könnte. Es zeichnet sich also ein Rückgang ins nicht mehr Vordenkliche allein mit den Mitteln des fragenden Denkens ab. So ist in der ersten Hypothese besonders hervorzuheben, dass das für sich genommene Eins keinen Selbstbezug zu erkennen gibt. Sein unbestimmtes Einssein hindert es daran, sich zu sich selbst zu verhalten und in sich zu bestimmen (139b f.). »Also wenn das Eins mit sich selbst einerlei geworden sein wird (heauto tautòn estai), wird es nicht [mehr] Eins mit sich selbst sein, und so wird es Eins seiend auch wieder nicht Eins sein« (139e). ›Ähnlichkeit‹ und ›Unähnlichkeit‹ sind noch keine Gedanken, die in der Sphäre des Einen greifen. Eine weitergehende Schwierigkeit zeigt sich darin, dass das Sein des Einen für sich gar nicht bestimmbar ist. In einem gegenüber anderem Seienden unterscheidenden Sinn lässt sich nicht einmal aussagen, dass es ist (138a, 142a). Dies hängt mit dem Verständnis der Zeit zusammen. Die anfangslose Zeit, von der die erste Hypothese handelt, ist nur im ›mythos‹ näher zu erschließen – als die Zeit von Kronos (vgl. weiter unten zum ›Timaios‹). Sie lässt sich aber nicht streng begrifflich fassen. Dies ist von umso größerer Bedeutung, als im ›Parmenides‹ durchgehend davon ausgegangen wird, dass ein bestimmbares Sein immer in der Zeit ist und damit selbst Zeit an sich hat (141c–d). 18 Nicht einmal der Grenzbegriff eines mit sich selbst gleichen Alters kann demgegenüber vom für sich selbst seienden Einen ausgesagt werden. In der zweiten Hypothesis ist diese Unbestimmtheit preisgegeben, indem das Sein des Eins eigens zu diesem hinzugedacht wird. Wie die erste Hypothesis und ihre Implikationen nicht notwendigerVgl. dazu die grundsätzlichen Untersuchungen J. Halfwassen, Der Aufstieg zum Einen. Untersuchungen zu Platon und Plotin. Stuttgart 1992, insbes. S. 265 ff. und H. J. Krämer, Der Ursprung der Geistmetaphysik. Untersuchungen zur Geschichte des Platonismus zwischen Platon und Plotin. Amsterdam 1964. Siehe auch W. Beierwaltes, Proklos. Grundzüge seiner Metaphysik. Frankfurt/Main 1965, S. 369 ff. 18 Vgl. R.-P. Hägler, Platons Parmenides. Probleme der Interpretation. Berlin, New York 1983. 17

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weise im Sinn der onto-theologischen Tradition als negative Theologie zu deuten sind, so sollte man die zweite Hypothesis nicht von vorneherein im Sinn ihrer Tradierung von Plotin bis Hegel als Prototyp der Selbstbewegung des Begriffs verstehen; ebenso wenig darf sie freilich als eine bloße Denkkomödie verkannt werden. 19 Sie bleibt eine durchaus sinnvolle Begriffsübung, ein Aufweis von Widersprüchen, der ex negativo dem, der sich im Denken des Einen zu orientieren versucht, aufgegeben ist (vgl. 137c) und ohne den sich die Frage nach Sein und Nichtsein, die dann im ›Sophistes‹ weiterverfolgt wird, überhaupt nicht aufwerfen ließe. Damit vertieft sich die Aporetik des Methexis-Gedankens. Es ist zutreffend, 20 dass die Methexis im ›Parmenides‹-Dialog bislang nur in unreiner Gestalt abgehandelt worden ist, durchsetzt nämlich von einer Ontologie, die sich, indem sie das Sein zu denken sucht, ganz im Sinne des ersten Dialogteils nicht endgültig von der dinghaften Seinsvorstellung lösen kann. Eine Befreiung aus dieser Kontamination ist nur in einer formal bleibenden Anzeige möglich: »Das Eins, sagen wir, habe Sein an sich, weil es ist.« (ousías phamèn me-téchein to hen, diò estin) (143a). Hier muss mitgedacht werden, dass dieses Verhältnis nicht wie das zweier einander einschließender Dinge exponiert ist. Es eröffnet sich vielmehr das Feld einer gegenseitigen Komplementarität. Dann ist zu fragen, in welcher Begriffssphäre wir uns bewegen, wenn wir von der Methexis von Sein und Einem sprechen: Es ist allein die Teilhabe von wirklichkeitsstrukturierenden Ideen aneinander. Weiter kann man im Zusammenhang der propädeutisch negierenden Ausrichtung der parmenideischen Übung nicht kommen. Das Methexis-Verhältnis, das die Einwohnung von Ideen in seienden Dingen beschreibt und auf das der junge Sokrates im ersten Dialogteil durch Parmenides erst gebracht worden war, kommt daher nur indirekt zur Sprache: indem die ›allotria‹, das Verschiedene Dazu Gadamer, Der platonische ›Parmenides‹ und seine Nachwirkung, in: ders., Griechische Philosophie Band III: Plato im Dialog. Tübingen 1991, S. 313 ff. 20 Die Auffassung, dass es sich nur um ›Begriffsgymnastik‹ handle, bezeichnet die Kehrseite der Theologisierung und Ontologisierung des ›Parmenides‹-Dialogs. Geläufiger in der neueren sprachanalytisch geprägten Interpretationslinie ist die Auffassung, der ›Parmenides‹ sei eine zu durchlaufende Zwischenstufe auf dem Weg zu zunehmender begrifflicher Klärung. Ihr können sich auch eher hermeneutische Deutungen anschließen. Vgl. dazu J. Moravčsik, Plato and Platonism: Plato’s Conception of Appearence and Reality in Ontology, Epistemology and Ethics, and its Modern Echoes. Cambridge, Oxford 1992, S. 135 ff. 19

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und Andere, als das differenzierende Grundverhältnis exponiert wird, durch das Sein und Eines als unterschieden verstanden werden müssen. Das Verschiedene ist ein Drittes (143b), und es ist zugleich ein Formprinzip, an dem die Andersheit erst erkennbar wird. Diese Einsicht ist insofern wichtig, als dem Anderen damit ein eigenes Recht eingeräumt ist. Umgekehrt verliert damit freilich die parmenideische Grundlehre, dass nur das Eins ist, das Viele aber nicht, ihre klaren Konturen. Das Viele wird in diesem Sinne auch umgekehrt am Verhältnis von Einem und Sein indirekt in seinen Formverhältnissen aufgehellt: Denn da alles Viele auf Einheiten zurückgeht, so ist mit dem Eins auch notwendig die Zahl mitgegeben (144a), die das unübersehbar Viele ordnet. Man könnte im Blick auf diese Gedankenführung sagen: Das Eins erweist sich selbst erst als Eines, insofern es sich auf die Andersheit bezieht, ja: indem es sich geradezu an ihr bricht. Der Gedankengang insgesamt aber entfaltet sich, indem er auf Aporien zugetrieben wird. Dieser aporetische Zug legt sich zu Beginn der zweiten Hypothesis als die Aporie zwischen einer Teilhabe der Ideen aneinander und der Methexis der Ideen in den Dingen aus. Obgleich, wie dies der weitere Verlauf der zweiten Hypothesis immer nachdrücklicher zeigt, die doppelte Aporetik durchaus zu widersprüchlichen Aussagen führt, geben doch die beiden Hinsichten auf das Teilhabeverhältnis einander gegenseitig ihre Form. Die beiden Hinsichten kommen im weiteren Gang zur Entfaltung: zunächst in der Frage nach dem Verhältnis von Teil und Ganzem. Als Ganzes, heißt es (145e), ist das Sein in einem Anderen, dem Verhältnis zum Teil. Das ›Ganzsein‹ ist also immer ein Als-Sein: Als Ganzes gedacht, ist das Eins gerade nicht in seinem Selbstsein erkannt. Denn vom bestimmungslosen Einen der ersten Hypothese lässt sich nicht sagen, dass es ein Ganzes sei. Von hier aus wird deshalb auch einsichtig, dass der platonische Parmenides sich, anders als der geschichtliche, nicht ohne weiteres dem Gedanken des ›Hen kai pan‹ annähern kann. 21 Wird das Eins im Umkreis der zweiten Hypothese für sich selber genommen, ist es als ›ta panta mére‹, die Gesamtheit seiner Teile, zu verstehen. Auch dies ist keine Prädikation, die das Wesen des Einen ausschöpft, wie denn solche Prädikate, wie uns die erste Hypothesis lehrt, nur über die bestimmungslose Leere des Einen hinwegtäuschen, weil sie diese nicht erfassen können. Die Prä21

Dazu Figal, Platons Destruktion, a. a. O., S. 44.

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dikation, das Eins sei die Gesamtheit seiner Teile, beschreibt vielmehr bestimmungshaft die Integrität des Einen in sich, und sie verweist darauf, dass es die zweite Hypothesis erlaubt, die eröffnete Aporie im Methexis-Denken nach zwei Seiten zu durchlaufen. Einerseits kann das Eins in seinem Verhältnis auf Anderes hin durchdacht werden, andererseits kann es auf sich selbst hin durchgesprochen werden, und dies letztere wieder in zweifachem Richtungssinn: in der Hinsicht der Binnenverfassung, die es annimmt, wenn es in sich bleibt, und in jener, die es annimmt, wenn es auf Anderes Bezug nimmt. Dieses Andere kommt hier freilich noch nicht selbst profiliert zur Sprache, sondern lediglich als Formprinzip (143a ff.; vgl. demgegenüber die dritte Hypothesis 157b ff.). Der skizzierte Grundsinn wird in den folgenden Erörterungen durchmessen, die man allesamt so verstehen kann, dass sie, wann immer gesagt werden soll, was das Eins ist, in eine Aporie münden. Man kann sie aber zugleich so verstehen, dass sie von diesem aporetischen Endpunkt aus die Hinsichten des Einen zu spezifizieren erlauben, die sich überhaupt unterscheidend zur Geltung bringen lassen. Mithin endet die Argumentation keineswegs rein aporetisch. Die Eröffnung dieses doppelten Verständnisses korrespondiert mit dem Ausblick, den Parmenides am Ende des ersten Dialogteils gegeben hat: dass die Untersuchung der Ideen alle Gewissheit destruiert, dass das ideendialektische Spiel aber zugleich die Hinsichten eröffnet, die durchdacht haben muss, wer die Frage des Guten ernstlich zu verstehen, nämlich im Zusammenhang der Frage nach dem, was ist, zu durchdenken versucht (vgl. 135d f.). 22 Mit diesem Schlüssel kann man sich nun den weiteren Gang der zweiten Hypothesisreihe verständlich machen: dass das Eins eins mit sich und zugleich, im Blick auf sein Verhältnis zu Anderem, verschieden von sich ist, und dass es von dem Anderen schlechterdings verschieden ist, mit ihm also keine Gemeinschaft hat, jedoch ihm einwohnt (146b ff.). Um Aporie und Rätselhaftigkeit dieser »Einwohnung« in ihrer Tragweite freizulegen, wird dieses letzte Grundverhältnis nicht mehr von dem erörterten Leitgedanken her angesprochen, dass das Eins »als Ganzes« dem Anderen, Vielen innewohne (145e). Denn in der Tat erfordert diese Bemerkung, zumal vor dem Siehe dazu die Hinweise bei E. Wyller, Platons Parmenides in seinem Zusammenhang mit Symposion und Politeia. Interpretationen zur Platonischen Henologie. Oslo 1960.

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Hintergrund des Segeltucharguments, eine in diesem Zusammenhang nicht geleistete Explikation. Im Zuge dieser Explikation müsste darauf verwiesen werden, dass das Teilhabeverhältnis von Ideen und Dingen nicht nach dem Teil-Ganzes-Verhältnis zu verstehen ist. Diese mehrfach im ›Parmenides‹ angedeutete Klärung wird im ›Politikos‹ Echo und Auflösung finden. 23 Im immanenten Dialogzusammenhang dagegen bleibt es dabei, dass mit kalkulierter Inkonsistenz ein Sprung namhaft gemacht wird: »Wenn also ganz und gar das Eine Eins ist, und das andere Nicht-Eins: so kann das Eins kein Teil des Nicht-Eins sein, noch auch das Ganze für jenes als seine Teile; eben so wenig wiederum ist das Nicht-Eins Teil des Eins, noch Ganzes, für das Eins als seinen Teil. Freilich nicht. Wir sagten aber, dass, was von einander weder Teil noch Ganzes wäre noch auch verschieden, das werde mit einander einerlei sein« (147b).

Selbstverständlich weist diese Darlegung in keiner Weise formale Stimmigkeit und Überzeugungskraft auf – schon deshalb nicht, weil sie eine notwendige mit einer hinreichenden Bedingung verwechselt und weil sie hinter den Bestimmungen zur Notwendigkeit der Zahl zurückbleibt, die sich einer strukturierenden Einwohnung des Eins im Vielen verdankt (143c). Gerade die semantisch formale Brüchigkeit legt aber eine phänomenale Wahrheit frei; verwiesen sei auf die Aporie, die es bedeutet, einen Zusammenhang von Idee und Dingen angesichts dieser Übergangslosigkeit überhaupt zu denken. Die Strenge des Denkspiels, der »mühsamen Übung«, nötigt dazu, dass dieser Widerspruch als unvermeidlich, doch keineswegs als hinnehmbar oder gar als eigentliche Denkbewegung ausgegeben wird, wie dies in einer spekulativen Ontotheologie im Ausgang vom Neoplatonismus bis hin zu Hegel der Fall sein wird. 24 Hier bleiben also zwischen Platons Text und den späteren Fußnoten gravierende Differenzen bestehen. Diese Perspektive erschließt sich freilich erst im Licht der durchgeführten Ontologie in ›Sophistes‹ 249 a–c. Wenngleich hier also nicht in Fortführung der Hegel’schen ›Parmenides‹-Interpretation (Hegel, Theorie-Werkausgabe Band 19, S. 81 ff.) im ›Parmenides‹ die eigentliche Ideenlehre Platons gesehen wird, wird der ›Parmenides‹ doch auch keineswegs als Zeugnis einer Selbstkritik interpretiert. Dies tat dagegen sehr pointiert W. K. C. Guthrie, A History of Greek Philosophy. Vol V. The later Plato and the Academy. Cambridge 1978, S. 51. 24 Vgl. dazu Halfwassen, Auf den Spuren des Einen. Studien zur Metaphysik und ihrer Geschichte. Tübingen 2015. Vgl. auch J. Szaif, Platons Begriff der Wahrheit. Freiburg, München 1996, S. 59 ff. 23

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Man könnte das benannte Formgefüge und seine bestimmungshafte Ausführung nun in ganz ähnlicher Weise an den weiteren Bestimmungen der zweiten Hypothesis namhaft machen. Da jeweils der gleiche Grundriss sichtbar und jeweils der Riss zwischen völligem Geschiedensein im Teilhabe-Verhältnis und völliger Übereinstimmung aufgerissen wird, kann eine grundsätzliche Anzeige genügen: Das Eins ist unter der Voraussetzung der ersten Hypothesis ähnlich und unähnlich mit sich selbst und anderem, es berührt sich und anderes und berührt es nicht (147c); weiter ist es gleich und ungleich mit sich selbst und anderem (150c). Eine neue komplexere Wendung nimmt der Gedankengang, indem die Frage der Zeit mit ins Spiel kommt. Damit wird zudem auf die nächste Hypothese verwiesen, die die Temporalität des Seins akzentuiert und damit den Übergang im Augenblick und die Komponente der Vergänglichkeit akzentuiert (155e). Die Zeitlichkeit wird zunächst im Blick auf das Eins selbst ausgesprochen. Es geht dabei um die Zeit, die das Eins an sich hat (chrónou metéchei tò hen) (151e). Wie zum Abschluss dieses Durchgangs noch einmal verdeutlicht wird (155d–e), gehen Bestimmbarkeit, Ansprechbarkeit und Denkbarkeit mit diesem Wissen um den Zeitcharakter des Einen zusammen. Hier ergibt sich das zwiespältige Grundverhältnis, dass die Zeit, die das Eins an sich hat, es älter werden lässt und dass sie auch – im Sinne unbestimmter Zweiheit – eine Vergleichsgröße für dieses Älterwerden zulässt; das kann aber nichts anderes sein als das Eins selbst. Es müsste also in einem offenkundigen Widersinn gesagt werden, dass das Eins älter bzw. jünger sei als es selbst (152b–d). Von besonderem Gewicht ist die Akzentuierung des ›Jetzt‹, des gegenwärtigen Augenblicks. In ihm ist das Eins gleichsam dem ihm inhärenten Zeitstrom enthoben und mit sich eins. »Wenn es also notwendig ist, dass alles Werdende, das ›Jetzt‹, nicht vorbeigehe: so hält es auch notwendig, wenn es an diesem ist, mit dem Werden inne, und ist alsdann das, in dessen Werden es eben begriffen ist« (152c). Der jeweilige JetztAugenblick des Einen führt in die Sphäre seines in sich abgeschlossenen Für-sich-Seins – er weist also auf die erste Hypothesis zurück. Insofern kann er nur als kurzer Augenblick des Stillstehens im Fortriss der Zeit gedacht werden, als Hinweis auf die Übergangslosigkeit zwischen dem jünger- und älter-als-es-selbst-Sein des Einen. Die Gedankenbewegung der zweiten Hypothesis kann hier schon deshalb keine Anwendung finden, weil sich in diesem Augenblick vom Einen nicht sagen lässt: das Eins ist. 414 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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Die Frage nach der Zeit stellt sich nun auch noch in einer zweiten Hinsicht. Damit verstärken sich die Irritationen. Denn, wie der Parmenides im Dialog mehrfach wiederholt, ohne dass er doch den Unterschied argumentativ akzentuiert, das Eins hat nicht nur Zeit an sich, es ist auch in der Zeit. Diese Hinsicht nötigt erst dazu, das Zeitverhältnis des Einen mit jenem des Anderen und Vielen zu kontrastieren; hier fächert sich ein vierfaches Verhältnis auf. Einmal ist der Problemzusammenhang gleichsam unter dem Gesichtspunkt absoluten Werdens zu betrachten. Das Eins ist zuerst geworden und insofern älter als das Viele (153a). Doch ist es mit seiner Urstiftung schon vollendet? An dieser Frage bricht der Methexis-Gedanke in seiner vollen Schwierigkeit auf. Im Sinn der ersten Hypothesis wäre die Frage zu bejahen, doch lässt diese bekanntlich nicht einmal zu, das Eins als Ganzes zu verstehen, und jede Zeitlichkeit ist ohnehin von ihm ausgeschlossen (137c). Würde das Eins im Sinn der Bestimmbarkeit so vorgestellt, dass es aus Teilen entstanden ist, so könnte es erst dann als das Eins verstanden werden, wenn alle diese Teile geworden sind. Erst vom Ende seiner Genesis, die sich aber nur in der Zeit – also unter Umständen, in denen auch Anderes schon geworden ist – denken lässt, wäre das Eins als Eines anzusprechen. Insofern ist es, in seiner vollständigen Bestimmtheit genommen, jünger als das Andere, Viele. Die beiden anderen antinomischen Glieder haben mit den relativen Verhältnissen von Alter und Werden zu tun. 25 Darin sind sie auch auf die Temporalitätsfrage bezogen. Aus der Perspektive des Werdens gesehen ändert sich an diesen Verhältnissen nichts. Das Frühere bleibt das Frühere, das Spätere bleibt das Spätere. Doch gibt es eine zweite Vergleichshinsicht: Das später Entstandene schreitet fort in der Zeit, das früher Entstandene auch. Auf diesen Zeitstrahl bezogen verringert sich der Altersabstand auf einer reflexiven Zeitstufe doch. In dieser Hinsicht lässt sich sagen, dass beide in diametral entgegengesetzter Hinsicht in der Zeit fortschreiten: Das Ältere wird jünger, das Jüngere älter (155a). Das zuerst genannte Antinomieverhältnis bleibt davon freilich unberührt. Es bleibt also nach wie vor bei der unlösbaren Aporie, dass sich nicht angeben lässt, ob nun das Eins als älter oder als jünger anzusprechen ist. Es ist die unmittelbar anschließende dritte Hypothesis, die die Denkerfahrung, die sich hinter dieser widerspruchshaften ExplikaVgl. dazu Figal, a. a. O., S. 36 ff., siehe auch Graeser, On Language, Thought, and Reality in Ancient Greek Philosophy, in: Dialectica 31 (1977), S. 358 ff.

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tion des Rätsels der Zeit verbirgt, auslegt. Hier wird wie in einer engeren Einkreisung das temporale Sein selbst befragt, 26 auf das wir Bezug nehmen, wenn wir denn sagen: »Das Eins ist«. Deshalb kann man diesen Untersuchungsschritt mit Recht als Appendix zu den vorausgehenden Klärungen verstehen. Dann käme man, wie die neuere Forschung im Unterschied zur neuplatonischen Überlieferung mit großer Einmütigkeit zeigt, 27 im ›Parmenides‹ auf insgesamt acht Hypothesen. Wir zählen die folgenden Erwägungen dessenungeachtet in Übereinstimmung mit der Tradition gesondert, denn sie weiten den Fragenhorizont in beträchtlichem Maß. Nun erst wird deutlich, dass die Frage nach dem Einen die Frage nach der Welt ist: »To hen ei estin hoion dielelýthamen, aph’ ouk anánke autó, hen te on kaì pollà kaì méte hen méte pollà kaì metéchon chrónou, hoti mèn estin hen, ousía metéchein poté, hoti d’ouk esti, mé metéchein au pote ousías.« – »Das Eins, wenn es ist so wie wir es durchgeführt haben, muß es nicht notwendig, da es Eins ist und Vieles, und auch wieder weder Eins noch Vieles, und dabei mit der Zeit Gemeinschaft habend, notwendig sofern es Eins ist, zu einer Zeit das Sein an sich haben?« (155e).

Anstelle dieses Begriffs von Eins könnte auch ›kosmos‹ stehen – verstanden in jener Spannung zwischen Urbild und Abbild, die seit dem ›Timaios‹ mitzuhören ist. Verwiesen ist damit offensichtlich auf die Erfahrung der Zeit, die das Eins selbst zur Streitstätte zwischen Einem und Vielem macht und die auch die Frage der Methexis am Einen und der Möglichkeit von philosophischem Denken überhaupt in einem zeitlichen Gefälle zu sehen nötigt. Die Betrachtung geht wieder vom Einen in seinem Selbstsein aus, also der Zeit, die es an sich hat, nicht jener Zeit, in die es hineingerissen ist. Damit liegt der Gedanke nahe, dass, wenn dem Einen Sein zukommen (metechei), es ihm auch wieder abgehen kann (155e). Denn, wie man mit Notwendigkeit wisse, zeithaftes Sein bleibt nicht. Also lasse sich eine Zeit (houtos chronos) (156a), in der dem Einen Sein zukommt, von Zeiten unterscheiden, in denen es ihm nicht zukommt. Der letztgenannte Typus von Zeit lässt sich freilich, nachdem die erste Hypothesis preisgegeben wurde, nicht in ihrer Verweisungsstruktur auf das bestimmungslose eine Sein hin namhaft machen. Vgl. zum folgenden: Düsing, Formen der Dialektik, in: Riedel (Hg.), Hegel und die antike Dialektik, a. a. O., S. 173 ff. 27 Siehe zur Temporalitätsfrage auch Gadamer, Dialektik ist nicht Sophistik. Theätet lernt das im ›Sophistes‹, in: ders., Griechische Philosophie Band III, S. 338 ff. 26

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Parmenides betont aber in einer eigentümlichen Formulierung im Blick auf das Eins, dass das Sein anzunehmen (zu empfangen) (ousian lambánein) Werden bedeute, von ihm abzulassen dagegen Vergehen heiße (156a). Die Perspektivierung auf das Eins treibt der Parmenides des Dialogs so weit, dass er aktivisch davon spricht, das Eins ergreife das Sein und entlasse es wieder (156b). Dies nötigt zu der Vorstellung, dass das Sein des Einen derart von der Zeit durchtränkt ist, dass es in einem vorüberfliehenden Zeitstrom sich nähert, auf eine Frist festzuhalten ist, um wieder zu entgehen. Der aktivische Modus darf also nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Handlungen des seienden Einen von einer Zeit-Notwendigkeit bestimmt sind. Die Denkerfahrung von Werden und Vergehen wird nun, wieder ohne dass dieser Übergang in formal argumentativer Hinsicht zwingend oder auch nur stimmig begründet wäre, mit dem Verhältnis von Einem und Vielem zusammengedacht. Es bedarf gewiss des nur zustimmenden naiven Gestus des jungen Aristoteles im Dialog, dass dem alten Wissenden seine gebrochenen Gleichsetzungen durchgehen, ohne dass er durch Fragen zu weiterer Rechenschaftsablegung genötigt würde. 28 Ein Simmias oder Kebes im ›Phaidros‹ und wohl auch der junge Sokrates im ›Parmenides‹-Dialog würden einen veritablen Widerstand entgegensetzen, darf man vermuten. Der Kern der Argumentation verdichtet sich auf die Aussage, dass sich das Eins gegenüber dem Vielen nicht festhalten lässt, da der Wechsel zwischen beidem doch ein unberechenbares Spiel der vergehenden Zeit ist: »Da es [das Eins als Welt] nun Eins und Vieles und werdend und vergehend [ist], wird nicht wenn es Eins wird das Vielsein vergehen, wenn es aber Vieles wird das Einssein vergehen?« (156b). Hiervon ausgehend muss sich das Augenmerk ganz auf den Übergang zwischen Werden und Vergehen richten. Er geschieht plötzlich (exaiphnes) – im Augenblick, der als ›Jetzt‹ identifizierbar wird, als ein ›Jetzt‹ freilich, das wohl nicht messbar ist (156e). Denn, wie sich die Zeit des Einen am Jetzt bricht, dieses selbst also nicht dem Fortschreiten vom Vergangenen ins Künftige angehört (152d, vgl. weiter oben), so ist auch der Augenblick wie ein »Auge im Sturm« des Umschlags (metabolé) zu begreifen (156d). Als solcher ist er ein reines Zwischen (adiaphoron) im eigentlichen Sinne: In ihm macht Solche Differenzen in der philosophischen Begabung der beteiligten Personen werden vor allem in den hermeneutisch angelegten Interpretationen bemerkt. Vgl. Figal, a. a. O. und Gadamer, a. a. O.

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sich weder der Zustand bemerkbar, von dem ausgegangen, noch jener, auf den hingezielt wird. In ihm ist also weder das Eins noch das Viele, weder die Ruhe noch die Bewegung. Dieser Zustand hat demnach streng genommen keinen Welt-Ort. Er ist in diesem prägnanten Sinn ortlos (a-topisch). Damit ist dieser Zustand nicht prädizierbar. Die substantivische Benennung ›to exaiphnes‹ verweist auf einen Zusammenfall des Unterschiedenen. Dabei kann die Frage festgehalten werden, ob diese Unmöglichkeit nicht jener nahekommt, auf die man stößt, wenn man von Ideen sprechen will, ohne den Tendenzen der Verdinglichung anheimzufallen. 29 Mit der nächsten, in unserer Zählung vierten Hypothesis verlagert sich der Akzent vom Einen auf das Andere. Es wird zwar an sich selbst betrachtet, doch bleibt es dabei auch auf das Eins bezogen. Die widersprechenden Prädikationen ergeben sich aus dem bisher Durchdachten wie von selbst. Der Erkenntnisgang scheint also abgekürzt werden zu können und es scheint möglich, dass sich die Darlegung immer mehr verschlankt, wie es der säulenartigen Verjüngungsstruktur des ›Parmenides‹-Dialogs bis hin zu seinem nachgerade fragmentarischen Abbruch auch tatsächlich abzulesen ist. Es ist einsichtig, dass das Andere ein Ganzes, also ein nach dem Strukturprinzip des Einen verfasster geschlossener Zusammenhang seiner Teile ist und zudem Teil jenes Ganzen, als das wir das Eins zu verstehen haben. »Nicht also von den Vielen […] ist der Teil Teil, sondern nur von der einen Idee, und von dem Einen, welches aus allen Gesamten ein Vollständiges geworden, das das Ganze genannt wird; hiervon muß der Teil Teil sein« (157d–e). Nicht minder einleuchtend ist es, dass das Andere als Teil in einer mengenhaften Vielheit (plethé) zur Erscheinung kommt (158c). Dies bedeutet auch, dass jeder Teil dieses Vielen, in welchen Größenverhältnissen er auch betrachtet werde, in sich Einer ist und insofern am Prinzip des Einen teilhat. Die beiden anderen antinomischen Paare – Begrenztheit und Unbegrenztheit, Ähnlichkeit und Unähnlichkeit – sind schwieriger zu durchdenken. Denn sie verweisen sowohl auf das Urbild-AbbildVerhältnis, das der ›Timaios‹ auf seine Weise durchgesprochen hatte, Vgl. die subtilen Erwägungen von Graeser, Wie über Ideen sprechen?, a. a. O., S. 148. Vgl. auch die sachlichen Anregungen bei M. Dummett, Frege and Other Philosophers. Oxford 1992, S. 97 ff.

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als auch auf den Ursprungsaspekt des zeitlichen Grundverhältnisses von Einem und Vielem. »Laß es uns so betrachten. Ist es nicht so, dass sie [sc. die Teile des Anderen] zu der Zeit, wenn sie das Eins aufnehmen, es aufnehmen als solche, die noch nicht Eins sind, und nicht Eins an sich haben?« (158b). Damit wird genau jene Sphäre erörtert, in die auch der ›Timaios‹ hineinführt, wenn er einen Urzustand der Welt als vorelementares Chaos namhaft macht. Indes, die behutsame Überredungskunst, die der göttliche Nous dem Notwendigkeitschaos im ›Timaios‹ angedeihen ließ, damit es ihm seine im Verborgenen vorstrukturierte, vom Chaos lediglich überdeckte Ordnung preisgäbe, ist ein Bild aus dem ›eikos mythos‹, das dem begrifflichen Denkspiel nicht zu Gebote steht. Sie hat es mit der ›Physis tou eidous‹ (der »Natur des Begriffs« bzw. »der Idee«) zu tun (158c). Bezeichnenderweise werden wir auch von diesem Gedanken aus auf ein »drittes Reich« (Frege) 30 zwischen dem Vielen und dem Eins verwiesen. Indirekt sagt diese Explikationsrichtung aus, dass gerade nicht sinnvoll gefragt werden kann, wie das Eins und das Viele, Grenze und Unbegrenztheit, einander korreliert sind: »Dem Andern insgesamt außer dem Eins kommt also zu, dass aus ihm selbst und dem Eins wenn beide in Gemeinschaft treten ein anderes in ihm entsteht [sc. im anderen], welches darin Begrenzung gegeneinander bewirkt; seine Natur aber an sich gibt ihm Unbegrenztheit« (158d).

Der Status dieser Bestimmung ist wiederum vor allem im Blick auf ihren Zeitcharakter festzuhalten: Da das Eins der ersten Hypothesis nicht zeithaft zu bestimmen ist, kann auch keine Folge- oder Nachordnung der Welt zu diesem Einen konstatiert werden. Wie die fünfte Hypothesis zeigen wird (159b ff.), ist auch das Andere, seiner indefiniblen Vielheitsnatur nach, zeit- und bestimmungslos, sodass sich die Aporie des Unvordenklichen nach zwei Seiten hin einstellt. Es bleibt aber nach den Zeitanalysen der dritten Hypothese die Hinsicht des ›Augenblicks‹. Er ist ein ›Drittes‹, in Analogie dazu, dass ein Drittes im Vielen entsteht, wenn sich das Eine in es einprägt. Aus dem Augenblick wird Begrenztheit und Unbegrenztheit als der vereinigte und doch entgegengesetzte Wesenszug des Anderen sichtbar. Damit ist auch schon auf das Gefälle von Ähnlichkeit und Unähnlichkeit, dieses Grundverhältnis, das zwischen Urbild und Abbild herrscht,

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Vgl. die Überlegungen bei Figal, a. a. O., S. 36.

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verwiesen: Das Andere erscheint, insofern ihm das Eins eingeprägt ist, sich und diesem gegenüber als ähnlich; insofern es dieses Eins nicht in sich eingeprägt hat, als sich und dem Eins gegenüber in höchstem Maße unähnlich (158e). Alle weiteren einander entgegengesetzten Beschaffenheiten des Anderen lassen sich hiervon ausgehend verstehen (159a f.). Sprachlich spiegelt sich die Betrachtungsweise vom Augenblick als dem Dritten darin, dass der Parmenides des platonischen Dialogs Hinblicke unterscheidet, nach denen für das Andere entgegengesetzte Bestimmungen zutreffen: »Hi mén pou apeirá esti katà tèn heauton phýsin pánta, tautòn peponthóta an eie taúte.« – »Inwiefern es [sc. das Andere] doch seiner eigenen Natur gemäß alles unbegrenzt ist, insofern kommt ihm doch von allem einerlei zu« (158e). Diese Rede von ›Hinblicken‹ bleibt gänzlich unbestimmt. Sie durchmisst eine Entgegensetzung, die nur durch eine andere Unterscheidung umschrieben wird, welche doch ihrerseits auch nicht über die Aporetik hinausführt: die Unterscheidung zwischen dem, was dem Anderen zukommt (symbainei), und jenem, was ihm von Natur aus eigen ist (158d). Leer bleibt sie, da die Hinsichten sich immer einer zeitlichen Folge verdanken, auch wenn dies nur die Folge unterschiedlicher Akzentuierungen innerhalb eines Interpretationsgeschehens ist. Aus dem Adiaphoron des Augenblicks heraus lässt sich dieses temporale Gefälle aber in keiner Weise vor Augen führen. Es deutet sich an dieser Stelle schon an, dass die Zeiterfahrung im Gedankenzusammenhang der ersten beiden Hypothesen weitgehend außer Acht gelassen wurde. Worin der Sinn dieser Ausblendung liegt, wird allerdings erst im Licht der fünften Hypothesis durchsichtig. In der vierten Hypothesis sollte der Zusammenhang von ›Eins‹ und ›Anderem‹, insoweit dies möglich ist, namhaft gemacht; nicht aber sollte der zerreißenden Macht der Zeit Tribut gezollt werden, die – wie uns die dritte Hypothesis belehrt hat – von einem Augenblick zum anderen das Sein des Einen wegnehmen kann, sodass allein das Andere zurückbleibt. Diesem Umbruch in die Negation, dem, obgleich der platonische Text ganz und gar bildlos und in strenger begrifflicher Nüchternheit spricht, Züge des phänomenhaft Schrecklichen anhaften, 31 wird Rechnung getragen, wenn wir das Andere noch immer Man vergleiche damit Kant, KrV A 100 f. Die Denkmöglichkeit einer ordnungslosen Welt, eines ›All-Chaos‹ wird demgegenüber in Platons ›Parmenides‹ sogar explizit eröffnet und nicht von vorneherein in einen Irrealis gesetzt.

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unter der ersten Grundvoraussetzung, dass das Eins ist, so betrachten, dass es keine Prägekraft auf das Andere hat. Dann verbietet sich der Blickpunkt vom Dritten, gleichsam der begrifflichen Fassung der ›chora‹ her, der für die vierte Hypothesis bestimmend war. Dieses Dritte gibt es in der neuen Hinsicht nicht, und damit fällt auch die Logik des Übergangs aus: »Denn alles ist ausgesprochen, wenn man spricht Eins, und das Andere außer dem Eins. Alles freilich. Also gibt es kein von diesen Verschiedenes mehr, in welchem das Eins und das Andere gemeinschaftlich sich befinden könnten« (159c). Als Anderes außer dem Eins ist das Andere, wenn es nicht vom Eins her interpretiert wird, ohne jedes strukturierende Prinzip. Es lässt sich also nicht als eine Menge von Teilen vorstellen, die in sich abgegrenzt wäre; es ist auch kein Ganzes. Kurz, es ist diesseits bzw. jenseits aller Bestimmbarkeit – in extremer Entgegensetzung und doch in Entsprechung zu dem für sich seienden Einen der ersten Hypothesis: Es ist »weder einerlei noch verschieden, weder bewegt noch ruhend […], weder größer noch kleiner noch gleich, noch kommt ihm sonst etwas dergleichen zu« (160a). In der unterschwellig bestimmenden Hinsicht auf die Zeitbestimmtheit wiegt indes besonders schwer, dass es auch »weder werdend noch untergehend« ist. Gewiss: Wie sich auch im Blick auf das bestimmungslose Eins zeigte, lässt sich von Seiendem, das keine Bestimmung an sich hat, kein Sein prädizieren, also auch nicht Seinszunahme oder Seinsverlust. Für das Andere außer dem Einen bedeutet dies aber noch mehr: Es wird weitgehend isoliert so betrachtet, dass sich sogar die mögliche Perspektivierung auf eine Einprägung des Einen ins Andere verbietet. So ist die fünfte Hypothese gleichsam aus einem negativen Gegenbild zu dem Augenblick, wie er hervorgetreten ist, formuliert: In Rede steht nicht das ›adiaphoron‹ des Umschlagens, sondern die umschlaglose Alleinigkeit des Anderen. Dabei wird deutlich, wie sich das für sich genommene Eins und das für sich genommene Andere voneinander unterscheiden: Ersteres nimmt die Richtung von einer impliziten Fülle zum ›Weder noch‹ der Bestimmungslosigkeit, letzteres von einem Chaos aus, das sich selbst vernichtet. Freilich wird dies nicht in positiven ontologischen Aussagen ausgeführt, wie in späteren spekulativen Ontologien und Kategorienlehren, am eindrücklichsten in der ›Logik‹ Hegels. Es deutet sich vielmehr im durchlaufenen Gang der Hypothesen dadurch an, dass für das Eins die Hinsicht des Selbstbezugs und die Hinsicht auf Anderes seitenverkehrt verlaufen: Das Eins ist von sich verschieden, sofern es sich dem Anderen mitteilt (147b). Für das An421 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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dere dagegen bedeutet Selbstbestimmung nur, dass die Momente des Einen an ihm zum Aufscheinen kommen. Es ist dieser Zusammenhang, der in äußerster Entfernung vom Eins zu einer amphibolischen Fassung des ›Hen kai pan‹-Gedankens Anlass gibt, jenes Gedankens, der dem Eleaten Parmenides aus der Erfahrung des ›einen Seins‹ nahegelegen hat, der aber in der radikalen Infragestellung einer monistischen Ontologie, wie sie unser Dialog pflegt, nicht aufgenommen werden konnte. Wenn das ›Hen kai pan‹ nun vom für sich betrachteten Vielen her ins Spiel kommt, so verändert sich sein Architektur: Es bleibt nicht länger die Wegformel, als die es in der frühgriechischen Denkerfahrung galt. Es wird, ebenso wie im Zeichen der hereinbrechenden Zeitlichkeit das ›Eins‹ (vgl. 155e), zu dem Punkt, an dem Eines und Vieles in ihren Widerstreit treten: »Auf diese Art also wenn Eins ist, ist das Eins Alles und auch wieder nicht einmal Eins sowohl für sich selbst als für das Andere gleichermaßen« (160b). Damit ist die Hypothesenreihe unter der leitenden Voraussetzung »Das Eins ist« durchschritten. Im Folgenden kann dann die Gegenvoraussetzung durchgesprochen werden, dass Eines nicht ist. Damit wird erst die Fragerichtung, die der alte Parmenides über Sokrates’ Erwartungen hinausgehend thematisiert, eingeschlagen, in der Parmenides sein eigenes Lehrgedicht deutlich in Frage stellt (136a). Wie im Verlauf der ersten Hypothesenreihe bereits zu bemerken war, treibt das Denkspiel subtile Verflechtungen aus sich hervor: So war im Blick auf das Andere die fünfte Hypothesis schon ganz in die Nähe der negativen Voraussetzung gerückt. Die nun zu betrachtende sechste Hypothesis bezeichnet, im Vergleich dazu, einen weniger radikalen Modus des Nichtseins. Das Eins, das nicht ist, bleibt doch Eins. Es ist bestimmbar und – ganz strukturanalog zu dem Eins, das Sein an sich hat – in Bezug auf sich selbst gleich, ungleich aber in Bezug auf sich, sofern es im Verhältnis zu Anderem betrachtet wird, und erst recht, insofern es allein bei [an] diesem Anderen aufgesucht wird (160b 1 ff.). Wieder ist der eigentliche Grund für diese Bestimmbarkeit in einem Dritten gelegen. Auch das nicht-seiende Eins kann mit anderem verglichen werden, im Sinne der unbestimmten Zweiheit, die, wie wir aus der ersten und der zweiten Hypothesis wissen, zwar nicht an das Wesen des Eins heranreicht, aber dessen Bezüglichkeit auf das Verschiedene, Andere, zu beschreiben erlaubt. Da sich davon sprechen lässt, es sei größer

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oder kleiner als Anderes, muss derartiger Vergleichbarkeit ein Gleiches zugrunde liegen (161d). Anders als im bisherigen Gang des Gesprächs wird eine zentrale Ausblendung im Argumentationsgang gar nicht namhaft gemacht, auf die man eigens aufmerksam werden muss. Das Nicht-sein des Seins begegnet als eine stillschweigende Abwesenheit von Sein. Sein selbst erscheint – wie in Antizipation von Kants Formulierung, die im Zusammenhang mit der Destruktion der ontologischen Gottesbeweise große Wirkung entfaltete – wie eine Art von ›Position‹, die an der Verfasstheit der Idee nichts ändert. 32 Bezogen auf Parmenides bedeutet dies, dass die Erschütterung der eleatischen Weltsicht, die sich einstellt, wenn das Eins vom Sein gelöst wird, wieder ausgeglichen wird, indem das Eins, insofern es auf seinen Weltaspekt, also sein Verhältnis zu Anderem hin befragt wird, integer bleiben kann. Dennoch besteht hier ein sachliches Problem. Nicht ohne Grund wird in dieser sechsten Hypothesis die Bezogenheit von Sein und Nichtsein weiter ausgeleuchtet. Es geht dabei um ein wesentliches und widersprüchliches Teilhabeverhältnis, um die Methexis vom Sein am Nicht-Sein, die seit dem ›Theätet‹ die Analyse von Täuschung und Lüge bestimmte. Sein »muss also ein Band haben mit dem Nichtsein, nämlich das Nichtseiendsein, wenn es nicht sein soll; auf ähnliche Art wie auch das Seiende das Nicht-sein des Nichtseins haben muss, damit es seinerseits vollständig sei« (162a). Wird von diesem Dritten ausgegangen, das in einer ganz bestimmten Hinsicht Nichtsein und Sein des Eins im Bezug zueinander und als Modi seiner (des Dritten) erweist, so wird wieder aus dem Augenblickspunkt argumentiert, in dem Sein in Nichtsein übergehen kann und umgekehrt (163a f.). Da das Eins aber in seiner Form unangetastet bleibt, kann es in diesem Zustand bestehen bleiben und sich selbst erhalten. In der siebten Hypothesis wird das nicht-seiende Eins für sich genommen betrachtet, keinesfalls das ›Nicht-Eins‹, wie Schleiermachers Einschub nahelegt. 33 Damit kommt erst die Abwesenheit von Sein zur Sprache. So betrachtet, hat das nicht-seiende Eins keinerlei Gemeinschaft mit Seiendem. Und das heißt, dass es als nicht-Seiendes auch keine Möglichkeit hat, Sein anzunehmen, in sich zu fassen Dazu grundlegend: Kants Abschnitt: »Kritik aller Theologie aus spekulativen Prinzipien der Vernunft«, KrV B 659 ff. und A 631 ff. Dazu D. Henrich, Der ontologische Gottesbeweis. Tübingen 1960. 33 Vgl. dazu Parmenides 160 b, mit der deutlichen Unterscheidung zwischen »nichtseiendem Eins« und »Nicht-Eins«, die Susemihls Übersetzung übergangen hat. 32

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oder mit Seiendem zusammengesehen zu werden. Das nicht-seiende Eins ist mithin vergleichslos, es ist schlechterdings nicht wirklich und damit keiner veranschaulichenden Bestimmung wie ›Ähnlichkeit‹ oder ›Unähnlichkeit‹ fähig (164a f.). Daran ändert nichts, dass das Eins Strukturprinzip alles geordneten Einzelnen sein muss. Wir finden uns also in der Gegenbetrachtung zur fünften Hypothesis: War dort die Abwesenheit des Eins im Vielen namhaft gemacht und dessen Bestimmungslosigkeit beschrieben worden, so verliert sich im Sinn der siebten Hypothesis das Eins aus Mangel an Sein in die Wesenlosigkeit. Formal unterscheiden sich wiederum sechste und siebte Hypothesis dadurch voneinander, dass jene ein Drittes zwischen Sein und Nichtsein zu denken nahelegt, diese aber nicht. Wie wir aus den vorausgehenden Hypothesen vermuten dürfen, verbirgt sich dahinter eine spezifische Denkerfahrung: Das Dritte zu denken heißt, die Urstiftung einer Ordnung und die Einstiftung des Eins im Vielen zu denken. Es nicht zu denken heißt, sich der Ordnungslosigkeit auszusetzen. Beide Gedankenbestimmungen treiben einander im dialektischen Spiel gegenseitig hervor. Wie aus der Ordnungslosigkeit die Ordnung hervorgeht, lässt sich in der Verflechtung von ›eikos logos‹ und ›mythos‹ im ›Timaios‹, nicht aber in der Begrifflichkeit der Denkbestimmungen anzeigen. Achte und neunte Hypothesis schreiten den durch die siebte Hypothesis vorgegebenen Bereich weiter aus. Sie bringen aber zugleich einen neuen Topos ins Spiel: den des Scheins. In der zweiten Hypothesenreihe hatte der zustimmende Gesprächspartner Aristoteles, ohne es zu wissen, einen ersten sublimen Hinweis darauf gegeben – nämlich als er seine Zustimmung zu einer Behauptung des Parmenides mehrfach durch ein ›phainetai‹ artikulierte (162c). Die achte Hypothesis zeigt nun, dass es im Anderen, wenn das Eins nicht ist, den Schein (phantasma) (165d) geordneter Verhältnisse geben kann. Ihm mag man vordergründig zustimmen; fraglich ist aber, ob er einer tieferen Prüfung standhält. Die Mengen bzw. Massen (plethe, onkoi) lassen im Sinn der unbestimmten Zweiheit den Augenschein von Größenverhältnissen aufkommen. Doch lässt sich so nur unbestimmte Verschiedenheit gewinnen und kein Maß, das es erlaubte, das Andere (Viele) zu gliedern. Mehr noch: Die Teile des Vielen lassen sich streng genommen gar nicht als Teile aufweisen, denn unter der Voraussetzung des nicht-seienden Einen bleibt das Viele unbegrenzt: 424 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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»Weil jedesmal, wenn Jemand etwas davon in seinen Gedanken festhält, als wäre es eins von diesen dreien [sc. Anfang, Mitte oder Ende], doch vor dem Anfang immer noch ein anderer Anfang erscheint, und nach dem Ende noch ein anderes zurückbleibendes Ende, und in der Mitte noch eine genauere und kleinere Mitte als jene Mitte, weil man eben nicht irgendetwas einzeln fassen kann, da es kein Eins gibt« (165a–b).

Die neunte Hypothese zieht aus der zerstreuenden Wirkung des Scheins nur den folgenden Schluss – und kommt damit vom NichtSein des Einen her noch einmal zu dem Ergebnis, dem sich die Auseinandersetzung auch vom Sein des Einen in seiner Abtrennung gegenüber dem Vielen näherte –: dass das Andere, dem das Eins nicht innewohnt, nichts wäre, nicht einmal unbestimmtes Vieles; allenfalls erschiene es als solches (165e). Dass am Ende der zweiten Hypothesenreihe, die dem Nichtsein des Einen nachging, von der anderen Seite auf die gleiche Aussage zurückzukommen ist wie am Ende der ersten Hypothesenreihe (›wenn Eins ist‹), ist nur schlüssig. Denn damit hat sich der Kreis geschlossen und es ist indirekt angezeigt, dass das Verhältnis von Einem und Vielem nun vollständig durchgesprochen ist. Lediglich die Verflechtungen wären anders zu legen, wenn nun auch das Viele auf die Bedingung hin erörtert werden sollte, dass es ist, und auf die Gegenbedingung, dass es nicht ist. Dieser Gang, den Parmenides zunächst in Aussicht gestellt hatte (136a–b), bleibt unausgeführt. Weshalb er als verzichtbar erscheint, wird man an späterer Stelle fragen müssen.

Phänomen und Widerspruch Ungeachtet dieses offensichtlichen Gleichklangs unterscheiden sich das Ende der ersten und der zweiten Hypothesenreihe beträchtlich voneinander. Mündet die erste Reihe in eine negative Dialektik 34 des ›Eins und Alles‹, so endet die zweite tatsächlich wie eine Denkkomödie in einem irisierenden ›Sowohl als auch‹, dem nur zustimmen kann, wer ein virtuoses Denkspiel von außen betrachtet, nicht aber in die Fragebewegung eingetreten ist. Offensichtlich hat der junge Aristoteles auch vergessen, dass er in einen Gedankengang geraten Dazu Düsing, Formen der Dialektik, in: Riedel (Hg.), Hegel und die antike Dialektik, a. a. O., S. 173 ff.

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ist, in dem untersucht werden sollte, was denn das Sein sei. »So sei demnach dieses gesagt, und auch, dass, wie es scheint, das Eins sei nun oder sei nicht, es selbst und das Andere insgesamt, für sich sowohl als in Beziehung aufeinander, alles auf alle Weise ist und ist [nicht], und scheint sowohl als [es] nicht scheint« (166c). 35 Gegen diesen vordergründig betrachtet alles zulassenden, etwas tiefer dringend gefragt zutiefst aporetischen Schluss ist daran zu erinnern, dass der durchschrittene Gedankengang immer wieder die Hinsichten zur Sprache brachte, in denen sich die im Zitat rekapitulierten Antinomien und Aporien zeigen. Parmenides hatte zudem ex negativo verschiedenste Problemzonen der Teilhabe von Ideen am Seienden aufgewiesen, die Zeitlichkeit des Verhältnisses von Einem und Vielem beleuchtet und die Schwierigkeit, über das ideenhafte Eins nicht-verdinglichend überhaupt zu sprechen. Sein letzter Satz im Dialog ist also keineswegs als angemessene Zusammenfassung dessen zu verstehen, was im Gespräch tatsächlich vor sich ging. Dieses Missverhältnis ist aus den aporetischen Frühdialogen bereits hinlänglich bekannt. Diese Zusammenfassung kann nur derjenige so aufnehmen, der nicht in das Ideenspiel eingetreten und der allenfalls Dinge zu betrachten gewohnt ist. Es ist die Position dessen, der mit dem Ideendenken nicht hinreichend ernst gemacht hat; dies wird am Ende noch einmal ironisch vor Augen geführt. Die Lesart, die die Verflechtungen und Sachprobleme des zweiten Dialogteils zu akzentuieren suchte, gehört in eine lange Deutungsgeschichte, die sich mit Klaus Düsing auf vier einander weitgehend ausschließende Grundpositionen konzentrieren lässt: 36 (1) Man geht in dieser Deutungstendenz davon aus, dass den einander widersprechenden sogenannten Hypothesen und Beweisen eine positive Metaphysik, spezifischer: eine Theologie, zugrunde liege; so schon die Auffassung des Neoplatonismus, aus der eine bevorzugte Akzentuierung der ersten und der zweiten Hypothesis folgt. (2) Auch Hier liegt ein wichtiger Ansatzpunkt zur Klärung des Verhältnisses des ›Parmenides‹ zum Eleatismus insgesamt. Vgl. u. a. H. F. Cherniss, Parmenides and the Parmenides of Plato, in: American Journal of Philology 53 (1932), S. 122 ff., sowie Calogero, Studi sull’eleatismo, a. a. O. Dazu auch wieder Prauss, Platon und der logische Eleatismus, a. a. O. Ferner J. M. E. Moravčsik, Plato’s Method of Division, in: Ders. (Hg.), Patterns in Plato’s Thought. Dordrecht, Boston 1973, S. 158 ff. 36 K. Düsing, Ontologie und Dialektik bei Plato und Hegel, in: Hegel-Studien 15 (1980), S. 95 ff. 35

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wurde der zweite Teil des ›Parmenides‹ bereits in der Antike als bloße Parodie oder anti-eleatische Polemik verstanden. (3) Man suchte zwischen Hypothesen bzw. Positionen innerhalb einzelner Hypothesen zu unterscheiden, die negativ blieben, und solchen, die platonische Lehre seien. Dabei kranken die nur idealtypisch grob umrissenen Deutungsvoraussetzungen (2) und (3) offensichtlich daran, dass sie wörtlich getroffene Teilaussagen des Dialogs überblenden müssen. Es bleibt als vierte Möglichkeit jene Prämisse, unter die wir selbst unsere Erwägungen stellten: Dass die Paradoxien des zweiten Teils insgesamt negativ bleiben, jedoch als notwendige Voraussetzung einer Lehre über das Sein zu verstehen sind, wie sie der ›Sophistes‹ ausführen wird. Diese vierte Grundannahme ist allerdings insofern zu modifizieren, als der negative Grundduktus auch aus sich heraus sehr wohl zentrale Grundfragen zu bedenken erlaubt – man erinnere sich noch einmal an die Frage der Methexis; dass aber innerhalb der Aporetik nicht lehrhaft die positiven Konsequenzen gezogen werden können. Letzteres zeigt sich insbesondere hinsichtlich der Unterscheidung von ›Hinsichten‹ (eidé) und ›Teilen‹, die im ›Politikos‹ ausdrücklich angemahnt wird. Dieser anzeigenden Bedeutungsschicht des ›Parmenides‹-Dialogs entspricht im ›Sophistes‹ eine kategoriale Differenzierung, sodass die Frage »Was ist Schein?« zu der Frage wird, wie sich über Nicht-Seiendes Aussagen treffen lassen. Denn eben das tut der Sophist, der als Täuschungskünstler Dinge und Sachverhalte nicht so anspricht, wie sie in Wahrheit sind, sondern so, wie sie nicht sind (243c). Der positive Aufweischarakter des insgesamt negativen Begriffsspiels hat noch eine weitere Dimension: Die negativen Verständigungen führten immer wieder auf die Frage des Dritten zurück. Sie deuten mithin in den Bereich des unerlässlichen Zwischengliedes im Urbild-Abbild-Verhältnis, so wie es in anderen denkerischen und bildhaften Bewegungen der ›Philebos‹ tut, wenn er nach dem Guten im menschlichen Leben fragt, oder wie es im ›Timaios‹ geschieht, wenn die Einprägung des unvordenklichen Urbildes in das Abbild gedacht wird. Der ›Parmenides‹ nähert sich dieser Problematik gleichsam von einer Metaebene aus, wenn er die Mitte anhand der Verflechtung widerstreitender Ideen namhaft macht. Er denkt also nicht nur vom Abbild her. Damit tut sich ein Rundblick auf, der Eins und Vieles und die Selbstverhältnisse des Vielen wie des Einen gleichermaßen ex negativo in ihren Bedingtheiten und wechselseitigen Im427 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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plikationen deutlich werden lässt. Der Eintritt der Zeitlichkeit, der Wechsel von ›kinesis‹ und ›stasis‹, 37 den die Übung des Parmenides dem Nachdenkenden auferlegt, entspringt eben dieser verwirrenden und für den endlichen Denkenden, der zudem allein auf reine Begriffsverhältnisse verwiesen ist, immer antinomischen Übersicht über ein Ganzes. Diese synoptische Rekapitulation einzelner Motive der Deutung geht damit über zu der Frage, was der ›Parmenides‹-Dialog insgesamt lehrt. Seine Ideendialektik ist insgesamt als Hinweis darauf zu verstehen, dass sich die beiden »größten Ideen«, Einheit und Vielheit, nicht zu einer bruchlosen ontologischen oder kosmologischen Lehre zusammenfügen lassen, sondern dass sie im Widerspiel des Seins und Nichtseins, des Werdens und Vergehens jeweils erkennbar werden, wenn ein einzelnes ›Etwas‹ zu bedenken ist. Der Rückgang auf dieses Etwas ist aber für den Wahrheitscharakter der Ideendialektik unerlässlich. Wie Parmenides gegen den jungen Sokrates ins Feld führt, spielt es dabei keine Rolle, wie marginal, niedrig oder nichtig dieses Etwas sei. Sehr treffend hat Günter Figal davon gesprochen, dass der Parmenides ein Verständnis dieses ›Etwas‹ als »Erscheinung in einer Idee« vorbereite, »das nur als in anderen Ideen Erscheinendes weiter bestimmt sein kann und zu seinem Erscheinen doch immer von Unbestimmtheit durchzogen ist.« 38 Über dieser Einsicht darf aber nicht übersehen werden, dass im ›Parmenides‹ von Erscheinung und Phänomen nur im Zusammenhang der Kritik des Scheines am Ende der zweiten Hypothesenreihe die Rede ist. In den verschiedensten Verflechtungen bleibt der Ausgangspunkt des geschichtlichen Parmenides bestimmend: die nähere Bestimmung des ›Einen‹. Dies sollte, meine ich, nicht wie bei Figal als eine eleatische Verzerrung verstanden werden. 39 Vielmehr dürfte sich, vor allem im Blick auf den ›Sophistes‹, die Auffassung Georg Pichts stützen lassen: »Das Werk, mit dem Platons Spätphilosophie beginnt, nämlich der ›Parmenides‹, wird in seinem Sinn erst verVgl. W. Künne, Die ›Gigantomachie‹ in Platons Sophistes. Versuch einer analytischen Rekonstruktion, in: Archiv für Geschichte der Philosophe 86 (2004), S. 307 ff. 38 Figal, Platons Destruktion, a. a. O., S. 45. 39 Vgl. Figal, a. a. O., S. 34 und S. 47, der in der Unterstreichung einer antieleatischen Tendenz eng an eine Vielzahl neuerer und älterer Kommentare anschließt, unter anderem Cornford, Plato and Parmenides. London 1939 und R. E. Allen, Plato’s Parmenides.Translation and Analysis. Oxford 1983. 37

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ständlich, wenn man erkennt, dass das dort diskutierte Eine mit der Idee des Guten identisch ist. Der ganze ›Parmenides‹ ist also ein Traktat über die Idee des Guten.« 40 Versteht man dies als eine Anverwandlung des eleatischen Einen an das platonische Denken, so lässt sich der leitende Blickpunkt im ›Parmenides‹ genauer angeben. Es geht um die Frage, wie die Idee des Guten jeweils Seiendem einzuprägen ist, mehr noch: wie sie im Fortgang der ihr immanenten Zeitverhältnisse im Seienden bleiben kann und was dies für ihre innere Verfasstheit und für die Verfasstheit des ihr gegenüber Anderen bedeutet. Mithin ließe sich die Dialektik im ›Parmenides‹ wohl phänomenal auf die Idee des Guten, wie sie an und für sich ist und wie sie zur Erscheinung kommt, übersetzen. Bezeichnenderweise unterbleibt ein solcher expliziter Schritt aber im Dialog. Er führt auf Phänomene zurück, so auf den atopischen Status des Philosophen in der menschlichen Gesellschaft. Die Verdeutlichung verläuft aber in den dialektischen Dialogen in einer anderen Richtung, und sie hält sich in der Sphäre rein gedanklicher Unterscheidungen auf. Dieser Ansatz erfährt im ›Sophistes‹ eine weitere Spezifizierung.

II.

Der ›Sophistes‹ : Wahrheit und der Logos vom Guten – oder: Sein und Nichts

Vom Sein des Nichtseienden: Verstrickungen Die Frage nach dem Wesen des Sophisten führt im gleichnamigen Dialog erneut in den Problemzusammenhang von Urbild und Abbild. Der Gesprächsgang geht vom phänomenalen Blick auf die Selbstdarstellung des Sophisten aus und weist jählings und ohne dass der junge Theätet, der Gesprächspartner des Fremden aus Elea, dies recht bemerken würde, »in eine […] höchst schwierige […] Untersuchung« (236e). Im Zuge des fünften Definitionsversuches zeichnet sich als Charakteristikum des ›Sophisten‹ ab, dass er gleichermaßen im Für und Wider über alles zu streiten vermag, über die kosmischen nicht anders als über die sozialen Zusammenhänge (232c). Er suggeriert seinen Hörern, dass er alles wisse. Diese Täuschung beruht, wie zunächst andeutend gesagt wird, auf einer ›alogia‹, einem Nichtwissen So die These von G. Picht, Platons Dialoge ›Nomoi‹ und ›Symposion‹, a. a. O., S. 266.

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(-wollen) um den Logos (»Ei tis phaíe mè légein med’ antilégein« (233d)). Ein erster, der Vorverständigung dienender Vergleich aus der Sphäre der bildenden Künste oder herstellenden Kunstfertigkeiten (technai) weist den Sophisten als jemanden aus, der vorgibt, durch eine Kunst (mia téchne) (234b), alle Dinge machen zu können. Dies wäre die Kunst eines Demiurgen, der verschleiert, dass seine Kunst ein bloßes Nachbilden ist. Die Suggestion einer solchen ›techné‹ kann Theätet nur als »irgendeinen Scherz« (234a) verstehen. Ein AllesMacher und in Entsprechung zu ihm ein Alles-Wisser ist unschwer als »Zauberer und Nachbildner« zu entlarven (235a). Doch damit ist das leitende Problem keineswegs gelöst. Es wird nun philosophisch auf die Frage, was ein Bild ist (235a ff.), eingegangen. Im Fortgang wird sich die Vorläufigkeit dieser Erwägungen darin zeigen, dass hier in großer Nähe zum begegnenden Phänomen, in der Art des Vergleichs zweier seiender Erscheinungen, das Grundproblem, wer der Sophist sei, gelöst werden soll. Der Dialog wird aber in der Folge zeigen, dass dies nur auf der Metaebene der Verhältnisse der großen Gattungen zueinander möglich ist. 41 In einer ersten Annäherung nun unterscheidet der Fremde aus Elea, der Fragende des Dialogs, zwischen Ebenbildnerei und Trugbildnerei – zwischen der Herstellung von Bildern also, die sich mathematisch getreu zu der abzubildenden Vorlage verhalten, und von Bildern, die die Größenverhältnisse eines ästhetischen Eindrucks wegen verzerren. Merkwürdigerweise aber führt dieser Vergleich, der die Schlinge um den Sophisten enger ziehen sollte (235a f.), ins Leere. »Was ich aber noch unentschieden ließ, in welche von beiden [sc. Arten der Bildnerei] der Sophist zu setzen sei, das kann ich auch jetzt noch nicht bestimmt sehen. Aber der Mann ist eben wahrlich rätselhaft und schwer zu erkennen« (236c f.). Der Unterschied zwischen beiden Arten von Bildern erweist sich als zu gering, als dass er näher an die in Insofern bleibt die negatorische Methode des ›Parmenides‹ im ›Sophistes‹ vorausgesetzt. Diese Kontinuitätslinie ist bislang immer in solchen Interpretationen besonders betont worden, die im Anschluss an Hegel dem ›Parmenides‹ eine eher positive, nicht-aporetische Deutung zu geben suchten. Darin behalten sie ein gewisses Recht. Vgl. Chr. Iber, Platons eigentliche philosophische Leistung im Dialog Parmenides, in: E. Angehrn u. a. (Hg.), Dialektischer Negativismus. Festschrift für Michael Theunissen zum 60. Geburtstag. Frankfurt/Main 1992, S. 185 ff. Vgl. auch M. Bordt, Der Seinsbegriff in Platons Sophistes. Eine Untersuchung zu 242b6–249d5, in: Theologie und Philosophie 66 (1991), S. 493 ff.

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Rede stehende Frage heranführen könnte. Tatsächlich wird auf diese Weise nur eine Differenz hinsichtlich mathematischer Genauigkeit gewonnen. In Zwiesprache mit dem jungen Mathematiker Theätet, dem Zahlen der Inbegriff des Seienden sind, der aber noch nicht hinreichend oder nur träumend um die dialektische Rede weiß (238b ff.), wiegt es besonders schwer, dass der mathematischen Abbildtreue keine klärende Bedeutung zukommt. Dies ist deshalb der Fall, da für Trugbilder ebenso wie für Ebenbilder eine prekäre und zugleich unauflösliche Verflechtung zwischen Sein und Nichtsein gilt (vgl. 241a– b). Das Abbild ist nämlich gegenwärtig, doch das Urbild, das es wiedergibt, ist keineswegs präsent. In jedem Fall also, ob maßstabsgetreu oder nicht, wird Nichtseiendes in der Bildkunst dargestellt (240e). Der Sinn dieses Vergleichs mit der bildenden Kunst hellt sich durch einen ersten expliziten Verweis auf den Logos, genauer: auf die Vorfindlichkeit des Nicht-Seienden im Logos weiter auf (238a ff.). Geht man von der eleatischen Grundthese aus, dass seiende Eigenschaften nicht Nichtseiendem beigelegt werden können, dass also das Nichtseiende nicht zählbar und schon gar nicht als eine Anzahl von Eins verstehbar sei, so zeigt sich, dass das Nichtseiende nicht widerspruchsfrei ausgesagt werden kann. Wir sagen ›Nichtseiendes‹ und nehmen damit einen unbestimmten numerischen Zahlbegriff in Anspruch. Wir sagen ›ein Nichtseiendes‹ und verweisen damit auf die Einheit eines Teiles des Nichtseienden, was es doch beides nicht geben kann, oder wir sagen ›das Nichtseiende‹ und verweisen damit auf seine dinghafte Ganzheit. Negativ wird durch diese unhintergehbare Aussagestruktur, denn anders lässt sich von ihm gar nicht reden, auf seine Teilhabe am Sein hingewiesen. Dies bedeutet auch, dass es ein Sein des Nichtseienden geben muss. Sonst wären solche Prädikationen unmöglich. In Rückführung auf die Frage nach dem Sophisten weisen diese Erörterungen auf die Notwendigkeit hin, hinter das mythische ›Sein‹ des Parmenides und der frühgriechischen Philosophie zurückzufragen. 42 Denn den parmenideischen Gedanken »esti gar einai« (DK B 6) nimmt auch der Sophist implizit für sich Anspruch. Er usurpiert ihn sogar zu der Aussage, »daß man etwas, das nicht es selbst ist, also

Dazu Gadamer, Dialektik ist nicht Sophistik, a. a. O.; zum Problem auch ders., Vorgestalten der Reflexion, in: Gadamer, Griechische Philosophie Band III, S. 116. Siehe auch Th. Buchheim, Die Vorsokratiker. Ein philosophisches Porträt. München 1994.

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Nichtsein ist, überhaupt (nicht) meinen und sagen könne, und damit könne es Schein und falsche Ansicht in den ›logoi‹ gar nicht geben.« 43 Theätet, der junge Gesprächspartner, wird in den Sog dieses Gesprächs hineingezogen. Er begreift, dass das in Rede stehende Thema ihm »immer schon« begegnet ist, wenn er zum Beispiel auf die Spiegelbilder von Gegenständen blickte und ihren Seinsstatus zu erfassen versuchte (239d). Es wird also auch für ihn unvermeidlich, der seltsamen Gedankenspur, also der Verflechtung von Sein und Nichtsein, zu folgen. Das Sein ist freilich nicht als Explikans heranzuziehen, um das Rätsel des Nichtseienden zu erkennen. Vielmehr verwickelt der Fortgang des Gesprächs in Aporien, die unbestimmbar lassen, was man denn sagt, wenn man vom ›Sein‹ spricht (242c ff.). Die Frage nach dem Sein entwickelt sich also aus sich selbst heraus zu ähnlich unlösbaren Schwierigkeiten wie die Frage nach dem Nichtsein: An dieser Stelle schreibt der ›Sophistes‹ die irrlichternde Fragebewegung des ›Parmenides‹ fort. Dies wird am Ende der Analyse deutlich, die dem Reden vom Sein gewidmet ist: »Da nun aber das Seiende und das Nichtseiende zu ganz gleichen Teilen gehen in dieser Verlegenheit: so ist doch nun Hoffnung, dass wie nur das eine von ihnen sich uns, sei es nun dunkler oder bestimmter, darstellt, auch das Andere eben so sich darstellen werde« (250e).

Allerdings ist dies nicht im Sinne einer Entsprechung zu erwarten, denn der Gedankengang führt in eine Aporie. Zu Anfang des eigentlich kritischen Passus des Dialogs (242b ff.) ist die Richtung der Prüfung deutlich festgehalten: Gegen den Satz des ›Vaters Parmenides‹, dessen Autorität nicht in Frage steht, soll ermittelt und es soll eine Hinsicht darauf erzwungen werden, »dass sowohl das Nichtseiende in gewisser Hinsicht ist, als auch das Seiende wiederum irgendwie nicht ist« (241d). Zugleich soll dem eleatischen Denken des Parmenides aber nicht Gewalt angetan werden (241d). Diese Bitte ist von Gewicht, und ihr bleibt der Fortgang des ›Sophistes‹-Gesprächs insgesamt verpflichtet. Die kritische Durchprüfung gilt nun im Einzelnen freilich nicht so sehr der parmenideischen Lehre vom Sein als den naturphilosophischen Folgerungen von eher narrativem als explikativem Charakter, die ihr abgewonnen wurden. Also zielt die Kritik auf einen ›DogmaGadamer, Dialektik ist nicht Sophistik, a. a. O., S. 353. Die Hervorhebungen finden sich im Original.

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tismus‹, der das Sein mit einzelnem Seienden bzw. mit einzelnen Gefügestrukturen des Kosmos identifiziert und der den durchgängigen Seinscharakter gerade nicht durchsichtig machen kann. Gegen diese Alogía, den fehlenden Logosbezug, der ionischen Naturphilosophen richtet der Fremde aus Elea einen Einwand, der an den Streit um die Unsterblichkeit der Seele im Phaidros erinnert: »Da wir nun keinen Rat wissen, so macht doch ihr selbst uns recht anschaulich, was ihr doch andeuten wollt, wenn ihr ›Seiendes‹ sagt« (244a). Die Anschaulichkeit ist offensichtlich nicht zu gewinnen, wenn das Sein aus einzelnem Seienden gewonnen werden soll. Die gleiche Logos-Feindlichkeit zeigt sich auch darin, dass in solchen vorschnellen Welthypothesen, die den Sinn von Sein als selbstverständlich voraussetzen, die »Andere[n] allzusehr übersehen« werden (243a), dass also das Gebot klärender Zwiesprache und dialogischer Rechenschaft voreinander verletzt wird. Das Gefälle dieser Dogmatismen gegenüber dem parmenideischen Lehrgedicht wird in dieser kritischen Annäherung durch mehrere Verweise transparent gemacht. Bei Parmenides ist dem eon (sein) noch ein verbaler, akthafter Aspekt eigen. Es deutet sich freilich bei ihm erstmals der Übergang zum statischen Begriffsdom ›des Seins‹ (to on) an. Dieser Singular wird dann in verschiedenen Doxai zur Erscheinung kommen. Alle diese Lehrmeinungen, in denen logoshafte und mythische Momente noch nebeneinander stehen, verdanken sich im Sinne des Parmenides göttlicher Mitteilung mit Offenbarungscharakter. 44 Von einer einheitlichen, lehrhaften Doxa dagegen ist bei Parmenides noch nirgends die Rede. Die Grundzüge seiner Denkart verweisen auf eine Frömmigkeit des Vaters Parmenides, der Achtung und Verehrung gebührt. Wie der Fremde in subtiler Ironie zu verstehen gibt, ist davon in der erklärenden Volksüberlieferung nur ein schwacher Abglanz übrig: Er fingiert deshalb, dass die verschiedenen naturerklärenden Thesen von Musen vorgetragen werden (242e-f), wodurch die Dimension des hieratischen Bezirks noch einmal aufscheint. Dementsprechend sind die Vorhaltungen verschieden, je nachdem, ob sie sich gegen Auffassungen, in denen das Seiende nur als Ibid., S. 356 f. Vgl. dazu auch M. Frede, Die Frage nach dem Seienden: Sophistes, in: Kobusch, Mojsisch (Hg.), Platon, a. a. O., S. 181 ff. Siehe auch ders., Being and Becoming in Plato, in: Oxford Studies in Ancient Philosophy. Supplementary Volume 1988, S. 37 ff.

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Vielheit erscheint (243c ff.), oder gegen den parmenideischen Gedanken, dass es eine Einheit sei (244b ff.), richten. Im ersten Fall hätte man es mit Prädizierungen der Art zu tun: Sein, also ›alles‹, ist eine Vielheit, z. B. warmes und kaltes (243d). Wenn man sich an den Vergleich des Sophisten mit jenem anmaßenden Pseudodemiurgen erinnert, der behauptet, mittels einer ›techné‹ alles ›machen‹ zu können, so hat man die negative Spitze dieser Ausführungen erkannt (vgl. 233e ff.). Der Versuch, das Ganze mit einem Griff zu erfassen, kann niemals zu einer Klärung über das Wesen des Seienden führen. Hier wird wieder das Problem des Sophisten berührt: Wer suggeriert, alles zu wissen und zu können, zeigt nur, dass er überhaupt kein Werk (idion ergon) hat. Ironisch wird gesagt, das Sein sei dann ein Drittes neben dem Einen und dem Anderen und das Ganze sei so zu begreifen, als sei es aus drei Grundelementen zusammengesetzt. Dies ist deshalb ironisch gemeint, da sich hier im Sinn des irreleitenden Arguments aus dem ›Parmenides‹ wieder der Gedanke Bahn bricht, das Sein gehöre in eine Reihe von Seiendem oder zumindest von seienden, sachverhaltlichen Bestimmungen. Dass Sein ein Drittes ist, wird sich in einem eigentlich methodischen, nicht numerischen Sinn freilich an späterer Stelle durchaus bewahrheiten (253a). Wenn nun umgekehrt mit Parmenides das Sein als Eins angesprochen wird, so zeigt sich wiederum eine Aporie, die zunächst numerischer Natur zu sein scheint, die aber grundlegender den Seinsbegriff und seinen Einheitssinn selbst berührt. Wären Sein und Eins eins, so würde sich unter keinem der beiden Begriffe etwas Spezifisches denken lassen (245b). Wäre dagegen zweierlei gemeint, so fiele die Bestimmung im Sinn einer Äquivokation auseinander. Zudem steht das Problem des ›Ganzen‹ als eigentliches Problem des Kosmos mit zur Debatte. Ist das Sein mit dem Ganzen eins oder nicht, wird gefragt. Damit aber gerät die dialogische Verständigung in eine Bewegung, die »tausenderlei Schwierigkeiten« nach sich zieht (245d). Es kann vorerst nur ein Ausblick auf eine mögliche Lösung angedeutet werden. Er bleibt vage genug, nämlich der Gedanke, dass Sein in gewissen Hinsichten dem Ganzen angehöre, in anderen Hinsichten nicht. Es folgt ein zweiter kritischer Durchgang: die berühmte Gigantomachie zwischen den Ideenfreunden und denjenigen, die sich an die Erscheinung der sinnlich daseienden Dinge halten (246e ff.). Man wird im Hintergrund mit Gadamer die Anspielung auf die Gigantomachie 434 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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zwischen Titanen und Göttern bei Hesiod und im ›Prometheus‹ des Aischylos mithören können. 45 Auch in der von dem eleatischen Fremden vor Augen geführten Gigantomachie geht es um eine letzte wesentliche Orientierung: um die Frage, was und wer das Prinzip erkennt, das legitimerweise herrscht. Bei näherem Hinsehen zeigt sich als Sinn der ›Gigantomachie‹ freilich der Versuch, zu einer Entsprechung zwischen den beiden im Streit liegenden Sphären zu gelangen. Es geht in ihr recht verstanden nicht um den Sieg der einen oder der anderen Seite, sondern um eine Versöhnung zwischen ihnen. Die Spannung bleibt, durchaus im Sinn der ›palintonos / palintropos harmonia‹ des Heraklit. Doch sie wird in einen möglichen Ausgleich überführt. Auf der Suche nach einer Übereinstimmung können die Vertreter des körperhaften Seins, wenn sie die Auffassung bekunden, die ihrer Sache im besten Sinne angemessen wäre, zu dem Eingeständnis bewegt werden, dasjenige sei »seiend«, was ein »Vermögen« besitzt (dýnamin echei) (247d): alles das also, was latent auf Bewegung bezogen ist, sei diese nun leidend oder handelnd (247e). »Ich setze nämlich als Erklärung fest um das Seiende zu bestimmen, dass es nichts anderes ist als Vermögen, Kraft« (247e). Für den an das sinnliche Seiende sich haltenden Menschen bedeutet dies zunächst eine Zumutung. Er wird auf ein übermaterielles Sein verwiesen, auf die Möglichkeit, und muss dieses Dritte als eigentliches Kriterium seiner Weltwahrnehmung anerkennen. Auch die Ideenfreunde müssen gegenüber ihren primären Auffassungen eine Entzentrierung 46 und Veränderung ihrer Gesichtspunkte hinnehmen. Damit deutet sich an, dass auch ihre Position nicht mit der Wahrheit identisch ist. Dadurch, dass Theätet von den Ideenfreunden in der Wir-Form spricht, wird dieser Zug noch unterstrichen (248b); sagt diese Redeweise doch, dass sich als Ideenfreund auch verstehen kann, wer noch kein Verständnis des Logos gewonnen hat und wessen Denken ganz in den Träumen der Mathematiker befangen ist. Die Ideenfreunde, die sich an das halten möchten, was in So Gadamer, a. a. O., S. 355 ff. Siehe auch H. Boeder, Parmenides und der Verfall des kosmologischen Wissens, in: ders., Das Bauzeug der Geschichte, a. a. O., S. 117 ff. Siehe ferner F. L. Beeretz, Die Bedeutung des Wortes PHYSIS in den Spätdialogen Platons. Diss. Köln 1963. 46 Siehe dazu M. Frede, Prädikation und Existenzaussage. Platons Gebrauch von ist und ist nicht. Göttingen 1967 und ders., Die Frage nach dem Seienden: Sophistes, in: Kobusch, Mojsisch (Hg.), Platon. Seine Dialoge in der Sicht neuer Forschungen, a. a. O., S. 181 ff. 45

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strukturierter Ordnung immer und unveränderlich ist, müssen eingestehen, dass die Vernunft selbst in einem Widerspiel von Ruhe und Bewegung begriffen ist (249a). Nur so können sie sich des Denkgeschehens in ihrer eigenen Seele innewerden. Der höheren Reife und Reinheit ihrer Denkart und ihrem ausgeprägteren Vermögen zur Dialektik ist es angemessen, dass von ihnen nicht einfach wie von den Materialisten eine Entzentrierung gefordert wird, sondern dass sie tiefer in die Idee des Seins eindringen müssen. 47 Ihre Einsicht am Ende der Gigantomachie ist mit dem Verhalten von Kindern bei einer Wahl zu vergleichen, die beides möchten (249d) – nur dass zwischen diesen beiden, Ruhe und Bewegung, keine Verbindung besteht, das eine das andere also ausschließt. Dieser Widerspruch wird festgehalten, und es ist am Ende der Gigantomachie mithin nicht mehr möglich, das Seiende mit Ruhe oder mit Bewegung gleichzusetzen (250a). Dann muss die Frage nach seiner Wesensbestimmung aber neu exponiert werden. Wenn die beiden Seiten des Gigantenkampfes zumindest in der Fragebewegung versöhnt sein sollen, lässt sich vorläufig sagen, dass ›Sein‹ ein Drittes zwischen zwei Gliedern ist, die schlechterdings keinen Kontakt miteinander zulassen. Indem die kritisch-dialektische Erörterung auf diese Aporie hinsichtlich des Seinsbegriffs zuläuft, blickt im Gesprächsgang auch die andere Aporie wieder durch, auf die die Frage nach dem Nichtseienden führt. Implizit ist die Verflechtung zwischen dem Seienden und Nichtseienden in der Analyse des Seienden bewahrt geblieben, denn die aporetischen Fragen nach dem Sein führen alle in einen Bereich, der nach den Maßstäben des Seienden nicht ›ist‹. 48 Diese Einsicht wird im Dialoggang selbst nicht weiter ausgeführt. Sie wird aber in der Sache auf ein doppeltes vorläufiges Ergebnis führen: (1) Es zeigt sich im Zentrum der Ideendialektik ein besonders prekäres MethexisVerhältnis: die Methexis zwischen Sein und Nichtsein. (2) Wenn man dieses Methexis-Verhältnis durchdenkt, so erkennt man, dass ›Sein‹ nicht eine Eigenschaft sein kann und dass die Teilhabe an ihm nicht wie die Teilhabe an einer Eigenschaftsattribuierung wie Größe oder Zahl zu verstehen ist. Verstehen wir formal Sein als vom Nicht-Sein durchdrungen, so verstehen wir es im Ergebnis der Gigantomachie Diesen Ansatz hat besonders Heidegger expliziert. Vgl. Heidegger GA 19. Platon, Sophistes. Vorlesung Wintersemester 1924/25. Frankfurt/Main 1992, S. 522 ff. 48 Siehe dazu Heidegger, Sophistes, a. a. O., S. 503 ff. Sowie Frede, Die Frage nach dem Seienden, a. a. O. 47

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zwar als Drittes, jedoch nicht als weiteres Seiendes neben anderem Seienden. Was dies bedeutet, wird dann auf einem doppelten Weg namhaft gemacht: in einer kategorialen Lehre von der Verknüpfung philosophischer Begriffe (251a ff.) und in einem Aufweis der Grundstruktur des Logos (259e). Von diesem propädeutischen Zusammenhang ist auszugehen. Er steht nicht umsonst am Ende des Dialogs. 49

Kategoriale Hinsichten. Zwei Beweisgänge Es mag überraschen, doch es verhält sich im Sinn des Fremden aus Elea unzweifelhaft so, dass der alltägliche Rekurs auf das Grundgefüge des Sprechens eine Klärung herbeiführt, die in der philosophischen Kategorienlehre ausbleiben musste. Offensichtlich unternimmt auch der Fremde ein ähnliches Experiment mit der Wahrheit, wie es sich der alte Parmenides im gleichnamigen platonischen Dialog zumutet. Hier erst wird deutlich, was die Verflechtung von Sein und Nichtsein eigentlich bedeutet, und es zeigt sich auch, dass von der Untersuchung solcher Verflechtungen her auch ›Wahrheit‹ und ›Falschheit‹ eines Logos sich erst bestimmen lassen. Zu diesen klärenden Aussagen gelangt der Fremde aus Elea bezeichnenderweise zugleich mit der Einsicht, dass auch Verflechtungen, die eigentlich unerwünscht sind und in die Irre leiten, nicht umgangen werden dürfen. Damit hängt es zusammen, dass ein bis ins Letzte durchgeführte ›Dihairesis‹-Verfahren, die Trennung »jedes von allem übrigen« (259e), die das Ideal einer eindeutigen Definition erfüllen würde, als »die völligste Vernichtung alles Redens« und bildlich sogar als Verlassenheit von den Musen beurteilt werden müsse (259e). Nur ein Aufweis der Verflechtung, durch den die Verbindung zwischen dem Unterschiedenen nicht getilgt werde, halte sich in jener ›philosophischen Frömmigkeit‹, der auch der Vater Parmenides verpflichtet gewesen sei. Es wird hinzugefügt: »Dià gàr tèn allélon ton eidon symplokèn ho lógos génomen hemin.« – »Denn nur durch gegenseitige Verflechtung der Begriffe kann uns ja eine Rede entstehen« (ibid.). Der Verweis auf das ›hemin‹ unterstreicht nochmals deutlich, dass der Ort der Rede hier im Gespräch gesehen wird, und zwar im letzten und eigentlich eminenten Sinn im Gespräch der Seele mit sich selbst (263c). 49

Dazu Gadamer, Dialektik ist nicht Sophistik, a. a. O., S. 363 f.

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Neben den größten Gattungen, die zuvor bestimmt worden waren als ›on‹ ; ›stásis‹ – ›kínesis‹ und ›tautón‹ – ›thateron‹ (255d), ist auch der Logos als eine große Gattung zu verstehen, ja als die größte Gattung, in der sich alle Gattungen ihrerseits wieder verflechten. Wenn man dies festhält, ist man noch keineswegs genötigt, die »Auswahl der größten Gattungen« als »einigermaßen willkürlich« zu deuten. 50 Doch man wird dann zugeben müssen, dass sie im Sinne Platons nicht hinreichend sind, um zu einem lebendigen Verständnis der Frage nach dem Verhältnis von Sein und Nichts, Wahrheit und Lüge zu führen. Wider Willen demonstriert dies im Dialog auch Theätet. Erst im gesprächsweisen Logos – an den Beispielen »Theätet sitzt« und »Theätet fliegt« – bemerkt er, was wahrer und was falscher Logos ist (263a–b). Er bemerkt es ohne jede Abstraktion von der eigenen Person, um die es hier, wenn auch nur beispielsweise, geht. Aus der Analyse des Logos, der Freilegung seines Formprinzips, wonach er aus ›onomata‹ (Hauptwörtern) und ›rhemata‹ (Zeitwörtern) besteht (262a), scheint ein grammatikalisches Grundmuster zu folgen. Doch die elementarste allgemeine Sprachstruktur ist nur ein Hilfsmittel, um die eigentliche Phänomenalität des Sprechens, nicht der Sprache als eines Regelgefüges, aufzuweisen: die Kundgabe (deloun) (262a). Dass es hier zuallererst um ausgesprochene Rede geht, wird auch in einer weiteren ganz elementaren Bestimmung verdeutlicht: »Der Ausfluss von jenem [sc. eines Gedankens] aber vermittels des Lautes durch den Mund heißt Rede« (263e). Das nächste und zugleich letzte Strukturmerkmal der Sprache, das der Fremde benennt, kann von der Einsicht abgezogen werden, dass jede Rede eine Rede von etwas, alles ›legein‹ ein ›legein ti‹ ist (262e). Das, was kundgetan wird, kann wirklich sein oder es kann nicht wirklich sein. »Wird also von dir verschiedenes als selbiges ausgesagt und nichtseiendes als seiend, so wird eine solche aus Zeitwörtern und Hauptwörtern entstehende Zusammenstellung [sýnthesis] wirklich und wahrhaft eine falsche Rede.« Theätet: »Vollkommen wahr« (263d). Wie die verwendeten Epitheta illustrieren (»wirklich und wahrhaft eine falsche Rede«), befindet sich der Dialog hier im Zentrum der Verflechtung von Nichtsein und Sein, von Wahrheit und Falschheit. So die Behauptung bei Gadamer, ibid. Siehe auch H. Koller, Die dihairetische Methode, in: Glotta 31 (1961), S. 6 ff. und R. Loriaux, L’être et la forme selon Platon. Brügge 1955. Vgl. auch B. Strobel, ›Dieses‹ und ›So etwas‹. Zur ontologischen Klassifikation platonischer Formen. Göttingen 2007.

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Dies ist zugleich der begriffskategoriale Punkt, an dem der Sophist ›gestellt‹ werden kann. Der Logos ist nicht ohne Grund das letzte mögliche Refugium, in das er sich zurückziehen könnte. Wenn es heißt: »So dass er […] wohl aber sagen [möchte], einige Arten hätten nur Anteil am Nichtseienden, andere nicht, und Rede und Vorstellung gehörten zu denen, die ihn nicht hätten« (260d), so ist damit ein mögliches Ergebnis der kategorialen philosophischen Analyse angegeben. Wenn man sich damit begnügen würde, so bliebe der Sophist aber auf jenem Feld unentdeckt, auf dem er seine täuschende Tausendkünstlerei entfaltet. Er würde also nach wie vor mit dem Philosophen verwechselt werden. Nur mit anderen Worten wird deshalb, gleichfalls am Ende der philosophischen Analyse, gesagt: »Und ist Täuschung, dann ist doch gewiss notwendig alles voll Schattengestalten und Abbildern und trüglichen Scheines« (260d). Nur über die Metaebene der Verflechtung von Sein und Nichtsein, Wahrheit und Täuschung im Logos kann also die Bestimmung des Sophisten gewonnen werden. Überraschend mag es sich dann ausnehmen, dass die abschließende Bestimmung des Sophisten in der siebten Definition das bekannte demiurgische Paradigma von der ›Nachbildnerei‹ wieder aufgreift (233d ff.). Dieses gewinnt aber nun einen neuen Sinn und führt nicht mehr in die einstige »größere Finsternis« zurück (264c), auf die ausdrücklich noch einmal angespielt wird. Denn aus der begriffskategorialen Analyse und vom Logos her ist zuallererst zwischen Urbild und Abbild zu unterscheiden, aus der Logos-Analyse hat die Wirklichkeit der Verflechtung von ›Wahrem‹ und ›Falschem‹ ihre Konturen. Von dieser Metaebene ausgehend kann deshalb auch überzeugend und in einem Akt der Dihairesis weiter unterschieden werden. Die ›mimesis poiesis‹, der die ›techné‹ des Sophisten zugehört, zerfällt in zwei Teile, einen göttlichen und einen menschlichen (265b). Die Grundeinsicht aus dem ›Timaios‹, dass auch der göttliche Demiurg ein Nachbildner ist, ist also im Hintergrund mitzuhören. In einem weiteren Schritt wird diejenige Nachahmung, die auf Kenntnis beruht, von einer anderen Art von Nachahmung, die auf Unkenntnis beruht, unterschieden (267c), eine gewichtige und grundsätzliche Differenz, die den Sophisten in der abschließenden Definition ins Netz gehen lassen wird und die, ähnlich wie sich dies im ›Politikos‹ zeigte, indirekt zu verstehen gibt, wer denn im Unterschied zum Sophisten der wahrhafte Philosoph und der wahrhafte Staatsmann sind. Es gelte, heißt es, den schicklichen Namen (onoma ekatéro) zu 439 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

FORM UND GRENZE DER DIALEKTIK

finden. Der eleatische Fremde gibt zu bedenken, dass es schwierig bleibe, zwischen dem wissenden und dem nicht-wissenden Nachahmer zu unterscheiden. Diese Unterscheidung ist nicht nur die letzte in der Reihe, sondern das eigentlich entscheidende Beweisziel im ›Sophistes‹ (267b). 51 Vorläufig wird aber verdeutlicht, dass es an dieser eigentlich entscheidenden Stelle der Verständigung zu keiner endgültigen, definitorischen Klärung kommt und dass die weitere Definition sich nur im Spielraum des Ungewissen bewegen kann. Betrachten wir nun den zweiten, eigentlich philosophischen Weg, den Platon zuerst und vor diesen Bemerkungen abhandelt. Die fünf obersten für sich bestehenden selbständigen Gattungen scheinen herausgegriffen zu werden, um aus den Verflechtungen der Begriffe (genon) das Wesentliche hervorzuheben und um, wenn es schon zu keiner deutlich definierenden Bestimmung des Nichtseienden kommt, dieses doch zumindest aufweisen zu können. Es soll sich »von dem Nichtseienden sagen [lassen], es sei wirklich das Nichtseiende« (254d). Obwohl sie nicht im strengen Sinn deduziert werden, werden die höchsten Gattungen ›on‹ – ›stasis‹ und ›kinesis‹ keineswegs zufällig gewählt. Wie wir sahen, wird im Lauf des Dialogs je länger je mehr die Frage nach dem Sein als eigentlich zentrale Frage einsichtig gemacht. Das Wechselverhältnis von ›stasis‹ und ›kinesis‹, die doch unvereinbar miteinander zu sein scheinen, bleibt dagegen am Ende der Gigantomachie eine ungelöste Frage. Der Einsichtige kann nicht Ruhe oder Bewegung oder beide zusammen mit Sein gleichsetzen. Die Gründe, sich auf diese Gattungen zu beziehen und nicht etwa auf jene, die im ›Philebos‹ evoziert sind, werden in Mitverfolgung des Gedankengangs auf immer höherer Ebene einsichtig gemacht. Doch gibt es zuvor eine phänomenale, sich unmittelbar menschlichem Weltverhältnis erschließende Evidenz für die Wahl, die auch Theätet ohne weitere Begründung anerkennen muss (254b). Ruhe und Bewegung sind in jedem Weltverhältnis präsent. ›Tauton‹ und ›Thateron‹ kommen nun als zwei weitere Gattungen hinzu. Dies geschieht mit einer gewissen Notwendigkeit, wenn das Verhältnis zwischen ›Sein‹ und ›Ruhe‹ und ›Bewegung‹, jener rätselhafte Punkt, in den die Gigantomachie eingemündet war, zur Sprache gebracht werden muss (254d). Es ist klar geworden: Ruhe kann nicht Bewegung sein und Bewegung nicht Ruhe. Beide schlie51

Dazu Wieland, Platon und die Formen des Wissens, S. 263 ff.

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Der ›Sophistes‹ : Wahrheit und der Logos vom Guten – oder: Sein und Nichts

ßen einander aus. Dennoch können beide Zustände sein. Also haben beide die Fähigkeit zur Gemeinschaft (dynamis koinonías) mit dem Sein, wenn auch nicht miteinander. Auf ihr Verhältnis zueinander und zu sich selbst bezogen heißt das weiter: Jedes ist verschieden von den beiden anderen, doch mit sich selbst ist es jeweils identisch (254e). Damit aber ist der Ort gefunden, um, in einem Vorgriff auf die Logos-Analysen aus einer elementaren Sprachstruktur schöpfend, zwei weitere Hauptgattungen benennen zu können. Sie müssen gleichsam ›deduziert‹ werden. 52 Das bedeutet: Dass sie zu Recht als eigene Gattungen eingeführt sind, ist nur zu zeigen, wenn sie sich gegenüber den vorfindlichen Gattungen als eigenständig erweisen. In der Art, wie dies geschieht, ist schon auf die verschiedenen Hinsichten vorausverwiesen, nach denen dann die Rede vom ›Sein‹ spezifiziert wird. Da Selbigkeit und Verschiedenheit sich der Ruhe und der Bewegung beilegen lassen, kann nicht eine von ihnen mit diesen identisch sein. Denn dann ließe sich der Unterschied von Selbigkeit und Verschiedenheit nicht auf Ruhe und Bewegung gleichermaßen beziehen, und sie ließen sich auch nicht beide nach ihrem Verhältnis zu sich selbst und zum Anderen spezifizieren. »Denn da alsdann« – also unter der Voraussetzung, dass Ruhe oder Bewegung identisch wäre mit Selbigkeit oder Verschiedenheit – das Eine von ihnen »von beiden gelten müsste: so würde dadurch das Andere genötigt sein, sich in den Gegensatz seiner Natur zu verwandeln« (255a f.). Es ergäbe sich also ein Umschlagen in den Widerspruch, was in der platonischen Dialektik, ganz im Unterschied zur hegelschen, in der Regel konsequent vermieden wird. 53 Das nähere Verhältnis der Unterscheidung von ›kinesis‹ und ›stasis‹ mit jener von ›Selbigkeit‹ und ›Andersheit‹ sowie die Frage, ob sie also eine Ähnlichkeit aufweisen, bleiben unthematisiert. 54 Der Deduktionsbegriff ist hier nur in dem elementaren, noch bei Kant relevanten Sinn zu verstehen, dass ein Rechtsgrund der Unterscheidung angezeigt wird. 53 Vgl. dazu grundlegend Düsing, Ontologie und Dialektik bei Plato und Hegel, in: Hegel-Studien 15 (1980), S. 95 ff. Demgegenüber finden sich in der nachhegelschen Philosophie, etwa bei Kierkegaard, dezidiert paradoxale Strukturen, ohne dass sie in die artikulierte Einheit der spekulativen Dialektik zurückgeführt würden. Vgl. aus selbst ›postmoderner‹ Sicht: G. Deleuze, Differenz und Wiederholung. München 1992. 54 Dazu subtile Beobachtungen bei Frede, Die Frage nach dem Seienden, in: Kobusch, 52

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In einem nächsten Erörterungsgang steht dann zur Prüfung, wie es sich mit Selbigkeit und Sein verhält. Hier wird ein letzter Schatten des parmenideischen ›einen Seins‹ sichtbar. Eine einfache semantische Erwägung, die nur auf das Verhältnis zwischen Ruhe und Bewegung und der als Sein verstandenen Selbigkeit gehen muss, zeigt, dass es widersinnig wäre, eine Identität zwischen ›Selbigkeit‹ und ›Sein‹ anzunehmen. Würde die Deckungsgleichheit bestehen, so sagten wir mit dem Satz »Ruhe und Bewegung sind« zugleich »Ruhe und Bewegung sind miteinander identisch«. Im Versuch, einen Rechtsgrund für die fünfte oberste Gattung, das ›thateron‹, zu finden, gelangt der Dialog zu einer grundlegenden Unterscheidung: Das ›thateron‹ kann deshalb nicht mit dem Sein eins sein, da wir von Verschiedenem immer nur verhältnishaft sprechen, von Seiendem dagegen »an und für sich« und in Beziehung auf anderes (255c). Da im Falle des Seins diese Phrasierung möglich ist, nicht aber im Falle des ›thateron‹, müssen beide wiederum klar voneinander unterscheidbar sein (255d). Es besteht keine Strukturanalogie zwischen ihnen. Sonst nämlich müsste man von Verschiedenem sprechen können, das nicht »in Beziehung auf ein anderes verschieden wäre« (ibid.) – gleichsam von einer »Differenz an sich selbst«. Dies aber wäre für den Fremden aus Elea ein Ungedanke. 55 Die Beweisführung ist im Blick auf das ›thateron‹ besonders tiefschürfend angelegt, nämlich als Aufweis einer grammatikalischen Grundstruktur. Die beiden ersten Aufweise dagegen gehen von einzelnen Verhältnissen zwischen den drei selbstevidenten Gattungen und ›tauton‹ und ›thateron‹ aus. Dabei ist besonders bemerkenswert, dass sich der erste Aufweis tief in die Logik jenes Widerspruchs einlässt, der um jeden Preis vermieden werden muss (Sophistes 230b und 263d) – aus keinem geringeren Grund, als um der Natur der Seele nicht zuwiderzuhandeln, die in allem, was sie untersucht, unentzweit eine bleiben muss.

Mojsisch (Hg.), Platon, a. a. O. Vgl. auch R. Heinamann, Being in the Sophist, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 65 (1983), S. 1 ff.; ferner L. Brown, Being in the Sophist: A Syntactical Inquiry. Oxford Studies in Ancient Philosophy 4 (1986), S. 49 ff. 55 Dies ist die schlüssige, in systematischer Weise von Karen Gloy begründete Position: Dies., Einheit und Mannigfaltigkeit. Eine Strukturanalyse des ›und‹. Berlin 1981, S. 25 ff.

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Im zweiten Hauptschritt dieser Kategorienlehre wird gefragt, in welchen Hinsichten die Hauptgattungen Verflechtungen eingehen können und in welchen sie getrennt bleiben. Dies ist keine Frage einer jeweils betätigten Klugheit oder fallweisen Urteilskraft. Es ist eine Frage, die sich im Zuge der genauen Formbestimmung zwischen den Hauptgattungen in kategorialer Hinsicht erschließt und aus der wohl als das wichtigste Resultat die Differenzierung in der Gebrauchsweise des Seinsbegriffs hervorgeht. Seine verschiedenen Verwendungsweisen werden gleichsam analytisch zerlegt. Man spricht von Sein im Sinn von Inklusionen, im Sinn von Gleichsetzungen, aber auch im Sinn einer attributiven Methexis, die lediglich besagt, dass etwas in Bezug auf sich oder auf anderes (etwas) ist. So sagen wir, etwas ›ist verschieden‹ und bezeichnen damit seine Teilhabe am Genus der Verschiedenheit in dem Sinn, dass von ihm ausgesagt werden kann, es sei im Verhältnis zu anderem verschieden. Wir treffen damit aber keine Wesensaussage, prädizieren also nichts über die eigentliche Bedeutung dieses Seienden, noch setzen wir es mit ›Verschiedenheit‹ gleich. Der Übergang zu diesem zweiten Gedankenschritt, in dem die Möglichkeiten einer Kombinatorik von Aussageweisen angezeigt werden, die, ohne dass es zu einem Widerspruch oder zu einfacher Gleichsetzung kommt, dem Denken eröffnet sind, ist zunächst durch eine Akzentverlagerung der Untersuchung vom Selbigen zum Verschiedenen (thateron) bezeichnet (255e–256a). Wenn gesagt wird, dass die Bewegung Selbiges sei, da sie am Genus der Selbigkeit teilhat, dass sich ihr Wesen darin aber nicht erschöpfe, da sie auch am Verschiedenen teilhat, sodass sie zugleich Selbiges und nicht-Selbiges genannt werden kann (256b), und dass mit all dem über ihre eigenste Bedeutung noch keine Aussage getroffen ist, tritt aufgrund der Abschattungen in der Rede vom Sein schon das Hauptinteresse ans Licht, um dessentwillen die Kombinatorik der großen Gattungen durchsichtig gemacht werden soll: die Verflechtung zwischen dem Seienden und dem Verschiedenen. Sein kann auf der Begriffsebene mit Verschiedenheit teilweise Verflechtungen eingehen. Dies ist eben jene Frage, die das Rätselgebilde des Nichtseienden, des dem Sein gegenüber Verschiedenen, kategorial zu erfassen erlauben wird. Scheinbar wird das Grundverhältnis von Seiendem und Verschiedenem nur benötigt, um die Verflechtung von Hinsichten am Phänomen der Bewegung zu bezeichnen. Dieser Zusammenhang gewinnt daraus seinen tieferen Sinn, dass mit dem Hinweis auf Bewegung auf die innere Seelenbewegung 443 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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des Denkenden selbst verwiesen ist. Die Seelenbewegung verifiziert gleichsam den Gedankengang. So wiederholt der Fremde noch einmal die Frage nach dem Seinscharakter von Bewegung: »Also ist ganz deutlich die Bewegung wesentlich nicht das Seiende, doch seiend insofern sie am Seienden Anteil hat« (256d). Daraus wird eine Folgerung gezogen, die weitgehende kategoriale Klärungen erlaubt: »Also ist ja notwendig das Nichtseiende, sowohl an der Bewegung als in Beziehung auf alle andere Begriffe« (256d). Dieser Gedanke ist bislang nicht ausgesprochen worden. Er liegt aber, wie der folgende Satz zu verstehen gibt, im Kern der Prädikation von Verschiedenheit: »Denn von allen [sc. großen Begriffen] gilt, dass die Natur des Verschiedenen, welche sie verschieden macht von dem Seienden, jedes zu einem nicht Seienden macht, und alles insgesamt können wir also gleichermaßen auf diese Weise mit Recht nicht seiend nennen, und auch wiederum seiend« (ibid).

Von Bedeutung ist, dass die Bestimmung nicht nur von Seiten des seienden Etwas ausgehen kann, sondern auch von Seiten des Seins. Dort spezifiziert sie sich, wie zu ergänzen bleibt, in den verschiedenen Hinsichten, in denen wir sagen können, etwas sei. »Das Seiende also ist, inwiefern das Übrige ist, sofern selbst nicht. Denn indem es jenes nicht ist, ist es selbst Eins, das unzählig viele Übrige aber ist es nicht« (257a). Durch die Methexis-Analyse wird deutlich gemacht, dass diese Arten zu sein nicht die Bedeutung des ›on‹ als einer der große Gattungen bezeichnen, sondern nur Teilhabe von etwas Einzelnem an der Gattung ›Sein‹. 56 Die Verbindung zwischen Sein und Verschiedenem ist damit expliziert. Sie erlaubt eine wichtige Klärung, mit der dieser Gedankenschritt an sein Ziel kommt: Wenn wir ›Nichtseiendes‹ sagen, meinen wir dies nicht notwendig in einem gleichsam absoluten Sinn. Wir meinen nicht ein absolutes Nichts als Entgegensetzung des Seienden, sondern nur ein Verschiedenes (257b). Diese Unterscheidung zwischen dem Gegensatz (enantion) und dem Anderen eines Etwas (heteron) verdankt sich der Grundstruktur alles ›legein‹ als eines ›legein ti‹, also der Intentionalität von Aussagen, die später erst (262e) explizit gemacht wird. Damit ist der Aussagbarkeit des Nichts eine deutVgl. demgegenüber den nur unzureichend begründeten Versuch einer entwicklungsgeschichtlichen Lesart, in der der ›Sophistes‹ als »Selbstkorrektur« Platons erscheint: W. Kamlah, Platons Selbstkritik im Sophistes. München 1962 (Zetemata Heft 33).

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liche Grenze gezogen. Dies dient dazu, dass in der platonischen Kategorienlehre nicht nur der Widerspruch vermieden werden kann. Ausgeschlossen sind auch ein Sprechen und Denken, die vom Bezug auf ›Etwas‹ gelöst würden. Gleichwohl kann auf diese Weise, dem Phänomen des Nichtseienden und des Scheins Rechnung tragend, über die parmenideische Begrenzung, vom Sein des Nichtseienden und dem Nichtsein des Seienden nicht zu handeln, hinausgegangen werden. Es ist daher nun eine nicht mehr irritierende Rede, wenn gesagt wird, dass das (jeweils) Nichtseiende nicht minder ›sei‹ als das jeweils Seiende. »Also des Seienden Gegensatz gegen ein anderes, wie es scheint, ist das Nichtschöne. Theätet: Ganz richtig. Fremder aus Elea: Gehört nun wohl nach dieser Erklärung das Schöne mehr unter das Seiende und das Nichtschöne weniger? Theätet: Mitnichten« (257d).

Dies fokussiert sich auf das Ergebnis, dass dem Nichtseienden unbestritten seine eigene Natur und sein eigenes Wesen eignet (to mè on bebaíos estìt? en autou phýsin echon) (257b). Es ist eine Gattung, die sich der Verflechtung (symploké) von Sein und Verschiedenem verdankt, so wie das Nichtgroße, Nichtschöne. Es ist aber, und dies ist für die platonische Dialektik von größtem Gewicht, keine oberste Gattung, der selbständige, nicht-abgeleitete Bedeutung zukäme. Es ist nicht einmal das eigenständige Gegenstück zum Sein. Die Verflechtung (symploké) von Sein und Verschiedenem macht sich geltend nicht nur dadurch, dass das Wesen des Verschiedenen sich dihairetisch in viele Teile zerlegen lässt (257c). Das Sein und das Verschiedene gehen vielmehr »durch alles und auch durch einander hindurch« (259a). Unter den Verflechtungen der größten Gattungen gilt dies in gleicher Weise nur noch für den Zusammenhang von Selbigkeit und Sein. Vor dem Hintergrund der leitenden Frage nach dem Sein des Nichtseienden, nach der Möglichkeit des Scheins und der Täuschung, wird lediglich die Struktur für das zuerst genannte Grundverhältnis zusammenfassend und in größtmöglicher Klarheit angegeben. So wird nun, wie am Sein des Nichtseienden deutlich geworden ist, »das Verschiedene als an dem Seienden Anteil habend freilich sein vermöge dieses Anteils, nicht aber jenes woran es Anteil hat, sondern ein verschiedenes; verschieden aber von dem Seienden ist es ja offenbar ganz notwendig das Nichtseiende« (259a, Hervorhebung von mir, H. S.). Indem das Sein des Verschiedenen dahingehend namhaft gemacht ist, dass es nicht, so wie dies in einem 445 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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jeden Formzusammenhang der Selbigkeit der Fall wäre, an jenem Sein Anteil hat, von dem es verschieden ist, sondern am von ihm Unterschiedenen, wird auf einem hohen formalen Niveau die Gattung des Nichtseienden notwendigerweise als in die Verflechtung der höchsten Gattungen ›Seiendes‹ und ›Verschiedenes‹ impliziert gedacht. So kann am Ende eine paradox erscheinende Aussagereihe stehen, die sich auch im ›Parmenides‹ finden könnte, die aber dem, der die gedanklichen Bestimmungen des ›Sophistes‹ mitvollzogen hat, nun keineswegs mehr widersprüchlich erscheinen wird: »So dass das Seiende wiederum ganz unbestritten tausend- und zehntausenderlei nicht ist und so auch alles andere einzeln und zusammengenommen auf gar vielerlei Weise ist und auf gar vielerlei nicht ist« (259b). Die Irrlichterei dieser Bestimmungsfolge ist durch Hyperbata und unbestimmte Verhältnisangaben (pollaché) noch unterstrichen – umso nachdrücklicher wird der Kontrast, dass sich unter diesen irisierenden Bestimmungen nun etwas sehr Bestimmtes denken lässt. Nicht wirbelnde Zusammenhanglosigkeit, die die Rede »bald hierhin bald dorthin ziehen« möchte (259c), steht am Ende, sondern die Einsicht, einen schweren und windungsreichen Weg zurückgelegt zu haben, der jedoch in sich schön sei. Die Rede, die in Widersprüche zieht, wird demgegenüber als vordergründig und ganz jung bezeichnet. Sie könne nur von einem stammen, »der die Dinge eben erst angerührt hat« (259d). Damit ist allerdings nichts gegen die Denkart des ›Parmenides‹-Dialogs gesagt; denn der Fremde aus Elea meint in diesem Zusammenhang ausdrücklich eine unbekümmerte Freude am Paradoxon. Wie wir zu zeigen versuchten, liegt dem ›Parmenides‹ ganz im Unterschied dazu die schmerzliche Denkerfahrung zugrunde, was es bedeutet, wenn das Eins ins Viele weggerissen wird und sich nicht halten lässt. Dies wird dadurch noch schärfer akzentuiert, dass der ›Parmenides‹-Dialog die Zeitlichkeit und Vergänglichkeit alles Denkens eindrücklich werden lässt. Verweise darauf fehlen in der positiven, kategorial unterscheidenden Lehre vom Seienden im ›Sophistes‹ ganz – es sei denn, man möchte einen indirekten Hinweis auf die Unverfüglichkeit des Denkens dem Umstand ablesen, dass die stringente Beweisführung noch nicht zwangsläufig die Möglichkeit eröffnet, zwischen wahrem und falschem Logos zu unterscheiden, und dass Theätet noch immer nicht verstanden hat, worum es bei der Unterscheidung des Sophisten eigentlich geht: um Wesen und Struktur des philosophischen Logos. Vor diesem Hintergrund legen sich 446 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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noch einmal die Gründe dafür nahe, weshalb es schlüssig ist, dass der ›Parmenides‹ als Propädeutik dem ›Sophistes‹ vorausgeschickt wird: Erst wer erfahren hat, wie naheliegend es ist, denkend in nicht-auflösbare Widersprüche zu geraten, zwischen denen das Denken dann zerrissen wird, und wer sie ernsthaft und durchaus streng methodisch durchgegangen ist, wer also diesen Engpass durchlaufen hat, hat die Dialektik erfasst. Denn der ›Parmenides‹ zieht ja keineswegs »die Rede bald hierhin bald dorthin«, sondern kann jene hinsichtliche Unterscheidung in ihrer Notwendigkeit und vielleicht schon in ihren Grundstrukturen erkennen, um die es im ›Sophistes‹ geht. Doch von der Denkerfahrung des ›Parmenides‹ her wird man vielleicht darüber hinausgehend auch vermuten dürfen, dass der zerreißende Widerspruch, von dem jener aporetische Dialog handelt, im klaren Licht unterscheidenden Denkens (›Sophistes‹) nicht vergessen werden darf. Mit Recht wird man also gerade vom ›Sophistes‹ her den ›Parmenides‹ als einen bleibenden, wesentlichen Zug platonischen Philosophierens verstehen dürfen. 57 Die Vorbereitung, die er abverlangt, kann nicht ein für alle Mal abgearbeitet werden. Die Denkart des ›Parmenides‹ bleibt deshalb im ›Sophistes‹ untergründig gegenwärtig. Man kann sich bei dieser Vermutung nicht auf ausdrückliche Bezugnahmen und Intertextualitätsverhältnisse zwischen ›Sophistes‹ und ›Parmenides‹ berufen – solche gibt es nicht. Wohl aber gibt es den verhaltenen Gestus einer Achtung vor dem großen ›Vater Parmenides‹, dem auch der Fremde aus Elea keineswegs leichtfertig widersprechen möchte (237b). Parmenides’ Warnung »Nicht vermöchtest du ja zu verstehn Nichtseiendes sei, sondern von solcherlei Weg halt fern die erforschende Seele« (ibid.) wird in den kategorialen Unterscheidungen des ›Sophistes‹ gleichwohl überschritten. Freilich liegt in dem angegebenen Zitat bereits selbst eine Spannung: Der platonische Parmenides verneint nicht, dass es einen Weg in den Widerspruch gibt. Ihn zu gehen überschreite aber alles menschliche Vermögen. Diese Einsicht nun setzt der Fremde nicht außer Kraft. Er kann die parmenideische Warnung nur überschreiten, da er sich innerhalb der Sphäre des Etwashaften hält und die vergängliche Zeiterfahrung nicht thematisiert. Er weiß dabei, dass diese Einklammerungen geschehen müssen, wenn denn der in Rede stehende Gedanke erträglich sein soll. 57

In diesem Sinn Gadamer, Dialektik und Sophistik, a. a. O., S. 359.

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Doch es ist erst der ›Sophistes‹, der die Grundvollzüge des Sagens – Bejahung und Verneinung – und die Täuschung als eine Bejahung des von sich her Verneinten in eine Lehre von den Hinsichten des Seienden überführt.

Sein als unterscheidende Form Wenn der Fremde sagt: »Das Wesen des Verschiedenen scheint mir ebenso ins Kleine zerteilt zu sein wie die Erkenntnis [epistéme]« (257c), so gebraucht er diesen Vergleich keineswegs aus Zufall. Im weiteren Erörterungsgang (254b–259d) soll nämlich, auf den Kulminationspunkt der Verflechtung von ›Sein‹ und ›Verschiedenem‹ hin, nicht weniger als die Grundform aller Erkenntnis angezeigt werden. 58 In einer Vorverständigung zu dem auf die eigenständigen ›Gattungen‹ bezogenen Dialogstück spricht der Fremde anhand des Begriffs des Menschen davon, auf wie viele Weise einem seienden Wesen Benennungen beigelegt werden könnten. Dieses Seiende kann nach Farbe, Gestalt und Größe, Fehlern und Tugenden durchgesprochen werden (251b). Den Nicht-verstehenden, Jünglingen und »schwerköpfigen Alten«, wird dies ein Grund zur Verunsicherung sein: »Denn das hat ja jeder leicht bei der Hand, aufzugreifen, dass es unmöglich ist, dass Vieles Eins und Eins Vieles sei, und sie haben zumal ihre Freude daran nicht zu leiden, dass man einen Menschen gut nenne, sondern das Gute gut und den Menschen Mensch« (251b– c). Dieser Passus ist zwar bewusst vorläufig gehalten und leitet auf die Unterscheidungen im Gebrauch von ›sein‹ hin, die bereits vergegenwärtigt wurden. Dennoch geben die von Platon verwendeten Beispiele, wie Gadamer in seiner subtilen Analyse gezeigt hat, 59 die wesentlichen Grundzüge des prädizierenden Bezugs von ›Vielem‹ auf ›Eines‹ zu verstehen. Das Eine, das hier an dem bei Platon sonst eher umgangenen Begriff des Menschen illustriert wird, lässt sich nach seinem ›Wie‹ (poion) und nach seinem ›Was‹ (ti poson) befragen. Beide Fragehinsichten sind gleichberechtigt. Das ›Wie‹ wird nicht als eine Bestimmung, die dem Wesen der gemeinten Sache nicht angehört, vom ›Was‹ unterschieden; vielmehr wird angedeutet, dass nach dem We-

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Strobel, »Dieses« und »so etwas«, a. a. O. Frede, Die Frage nach dem Seienden, passim.

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sen des Wie und des Was gefragt werden kann und dass damit der Hinblick in beiden Fällen einmal auf das ›to auto‹, die zu bestimmende Sache, und andererseits auf Was und Wie als ›ta alla‹, als die sie auszeichnenden Verschiedenheiten dieser Sache, gerichtet sein kann. Wesen (ousia) eignet also allem, was an einem Seienden ist. Gadamer spricht zutreffend davon, dass die ›ousia‹ vor jeder weiteren unterscheidenden Bestimmung der Sache als ›pros ti‹ begriffen werde, als auf verschiedenste Bezüge hin ausgerichtet. 60 Den Umstand, dass bei Platon, anders als bei Aristoteles, vom ›pros ti‹ nicht ausdrücklich die Rede ist, deutet Gadamer als Hinweis darauf, dass diese Hinsicht in seinem Denken »allgegenwärtig« sei. 61 Wie Gadamer gleichfalls eindrücklich gezeigt hat, wird bei Platon ausschließlich im Zuge einer Formunterscheidung argumentiert: Sein kann dem Selben und der Andersheit zugesprochen werden, und zwar nach der Hinsicht des ›Was‹ nicht anders als nach der Hinsicht des ›Wie‹. Es ergibt sich also eine andere Denkform als beim aristotelischen Seinsbegriff des ›hypokeimenon‹, das zugrunde gelegt ist und dem verschiedene Prädikate beigegeben werden können. Dennoch ist die Bewegung sprachlicher Differenzierungen hin zur Gewinnung einer Urform, von der Platon in unserem Zusammenhang ausgeht, das Paradigma, dem die aristotelische Analyse des ›Wesenswas‹ (ti en einai) (vgl. Met. Z 5) folgen wird. Wenn wir das gewonnene Formverhältnis auf den Seinsbegriff selbst beziehen, so ergibt sich, dass der Blick auf ›to auto‹ und ›ta alla‹ auch hier leitend ist. Zu Recht hat Michael Frede deshalb die Stelle Sophistes 256e 3–4 akzentuiert und in der folgenden Weise wiedergegeben: »Das Seiende ist das, was am Seienden an sich oder am Sein teilhat.« 62 Als ›Sein‹ muss hier ›das Sein von etwas‹ verstanden werden. Auch jener Passus, der im Argumentationsverlauf der Unterscheidung zwischen Seiendem und Verschiedenem gewidmet ist, wird dann in neuer Weise sprechend. Jener Gedankenzug, der den Unterschied zwischen dem, was in Hinsicht auf sich selbst, und jenem, was in Hinsicht auf etwas anderes ›seiend‹ genannt wird, markiert, bezeichnet dann die formale Urunterscheidung zwischen dem ›Seienden an sich‹ und dem ›Sein an etwas‹. In dem Sinn, in dem ›Sein‹ in dem Gadamer, Dialektik und Sophistik, a. a. O. Gadamer, Dialektik und Sophistik, a. a. O., S. 359. 62 Frede, Die Frage nach dem Seienden, a. a. O., S. 197. Vgl. auch R. Marten, Der Logos der Dialektik. Eine Theorie zu Platons ›Sophistes‹. Berlin 1965. 60 61

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impliziten ›pros ti‹ des platonischen Denkens allen nur möglichen Hinsichten von der Grunddifferenz zwischen Seiendem an sich und Seiendem an etwas her zugesprochen werden kann, kann auch der Begriff der Teilhabe nach diesen beiden Hinsichten weiter spezifiziert werden. Etwas bzw. jemand kann am Seienden teilhaben »entweder dadurch, dass man an einer bestimmten Form teilhat oder dadurch, dass man eine bestimmte Form ist.« 63 Teilhabeverhältnisse im ersten Sinn verweisen auf den Spielraum der ›ta alla‹, Teilhabeverhältnisse im zweiten Sinn dagegen auf das ›to auto‹. Was gemeint ist, ist offensichtlich: Sokrates ist nicht die Gerechtigkeit, er hat an ihr nur Anteil. Das Gerechte selbst dagegen ist die eidetische Form der Gerechtigkeit. In diesem Gedankengang ist das Methexis-Problem in einem Sinn erörtert, der sowohl unser Verständnis des Verhältnisses zwischen ›seienden Dingen‹ und Ideen schärft wie auch in einer äußersten formalen Rückführung auf eine Urstruktur den Methexis-Begriff von allen externen Erwägungen gereinigt vor Augen stellt: Es ist, so lernen wir, zu unterscheiden zwischen der Teilhabe von Ideen an dem, was Frede »Form« nennt, und der gegenseitigen Teilhabe von Seiendem an anderem Seienden qua Form. Dadurch ergibt sich keine Verdoppelung oder Itinerierung der Teilhabeproblematik. ›Idee‹ und ›Form‹ sind keineswegs miteinander zu verwechseln. Freilich entsteht das Problem, dass zu dem hier in Rede stehenden Formbegriff bei Platon kein strenges terminologisches Korrelat existiert. Doch ist in der Sache durchaus klar, dass die Form die Prädizierbarkeit von Sein auf Seiendes in unterschiedlichen Hinsichten meint. Die beiden unterschiedenen Weisen der Methexis erfüllen daher gemeinsam die Voraussetzung, »dass die Teilhabe an einer bestimmten Form nicht eine weitere Bedingung ist, sondern lediglich eine Weise, die Bedingungen dafür zu erfüllen, an der Form des Seienden teilzuhaben. Eine Weise, an der Form des Seienden teilzuhaben, bestünde also darin, an einer bestimmten Form teilzuhaben.« 64

Es bestätigt sich eindrücklich, was Heideggers ›Sophistes‹-Kommentar im Licht seiner Exposition der Seinsfrage betont hat: dass im ›Sophistes‹ Seinshinsichten in höchst differenzierter Weise gedacht werden, obgleich eine ›ontologische Differenz‹ zwischen ›Seiendem

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Frede, ibid., S. 196 f. Ibid.

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Aporie und Philosophie: ›Theätet‹

selbst‹ und jenem Seienden, das sich nur in der Teilhabe zeigt, nicht zum Austrag kommt. 65 Wenn man diese Verständigung über die Formverhältnisse des Seins rückblickend noch einmal durchdenkt, wird man sagen können, dass sie ein zweites wesentliches Charakteristikum der Kategorienlehre im platonischen ›Sophistes‹ neben der Vermeidung von Widersprüchen ermöglichen: dass die Ideen, »obwohl Bewegung im Ideenkosmos als Erkenntnisprozess zugelassen wird, ihre jeweilige konstante Bedeutung behalten und sie nicht verändern im dialektischen Durchgang« 66 – so wie es dann ein Kennzeichen der hegelschen Dialektik sein wird.

III. Aporie und Philosophie: ›Theätet‹ Die Frage des Seins des Nichtseienden, die im ›Sophistes‹ im Lichte der Bestimmung des Logos und seiner großen Gattungen behandelt wird, wird im ›Theätet‹ zum Leitfaden für die Verständigung über den Zusammenhang von Wahrheit und dem Guten – unter der leitenden Fragehinsicht, was Erkenntnis sei. Eine festgelegte Antwort darauf kann in allen drei Untersuchungsgängen, die der Dialog anstellt, nicht gewonnen werden. Der ›Theätet‹ endet also offen aporetisch. Damit verweist er auf die Frühdialoge zurück. Wohl kommt es im Zuge der Thesen Theätets zu einer immer weiteren Präzisierung: von der Gleichsetzung der Erkenntnis mit der Wahrnehmung (aisthesis), mit richtiger Meinung (orthe doxa) und schließlich mit ›orthe doxa‹ im Zusammenhang mit Erklärungen. Dennoch kann das Grundlegende, was Erkenntnis ist, nicht beweiskräftig gezeigt werden.

Was Erkenntnis ist: Vorfrage und Kern Es ist sinnvoll, bei der zweiten These des ›Theätet‹ einzusetzen. Diese soll positiv zeigen, was Erkenntnis (epistéme) sei, und sie soll das negative Ergebnis des ersten Untersuchungsganges festhalten, dass So Heidegger, GA 19, S. 502. Vgl. Düsing, Formen der Dialektik bei Plato und Hegel, in: Riedel (Hg.), Hegel und die antike Dialektik, a. a. O., S. 180.

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Erkenntnis nicht Wahrnehmung ist (187a). Zugleich soll sie das Wesenswas der Erkenntnis »unter demjenigen Namen [suchen], den die Seele führt, wenn sie sich für sich selbst mit dem was ist beschäftigt« (187a.). Der Untersuchungsgang soll also selbst in den Hintergrund treten und auf das innere Gespräch der Seele zurückgeführt werden. Bemerkenswert ist, dass dieser Exposition gemäß nicht sogleich zur positiven Einsicht vorgestoßen werden darf. »Dass jemand falsch vorstellt«, dies bleibt für Sokrates ein derart beunruhigendes Phänomen, dass es auf die Frage nach der Seele und ihrer Bewegungen führt. Es steht also auch in dem neuen Untersuchungsgang an erster Stelle in Rede. Später (196d–e) meldet sich dann allerdings die Einsicht, dass die Untersuchung bislang gar nicht fehlerfrei und stimmig durchgeführt werden konnte, da doch bei der Suche nach der »falschen Vorstellung« schon von Erkenntnis gesprochen wurde, ohne dass man gewusst hätte, was Erkenntnis ist. Offensichtlich ergibt sich daraus ein Zirkel. 67 Die Erörterung setzt freilich bei dem Grundverhältnis von Wissen und Nichtwissen ein. Dabei wird deutlich, dass, wenn es nur Wissen oder Nichtwissen von einem Seienden oder einem Sachverhalt gäbe, falsche Vorstellungen nicht möglich wären (187c ff.). Auch die Verwechslung, jenes Phänomen einer Verbindung von Seiendem und Nichtseiendem im Wissen, wäre dann nicht verständlich zu machen. Denn wenn wir auch mit zumindest behaupteter Eindeutigkeit wissen oder nicht wissen, können wir in keiner möglichen Abschattung Gewusstes für Nichtgewusstes halten oder umgekehrt. Entscheidend ist, dass die Relation hier noch frei von Zeitlichkeit und dem Wandel des Wissens im Zeitstrom gedacht wird. Dass diese Besinnung auf das Grundverhältnis von Wissen und Nichtwissen ergebnislos bleibt, führt Sokrates dazu, eine ontische Forschung anzuschließen. Der Blick richtet sich dann nicht mehr zentral auf Wissen und Nichtwissen, »sondern auf das Sein oder Nichtsein« (188d). Er folgt damit in einer Fragestellung, die auf das leitende Thema im ›Sophistes‹ zurücklenkt, implizit der inneren Richtung des Wissens und dem inneren Gefüge der Seele auf Sein. Die Seele ist im Denken auf ein Seiendes bezogen. Deshalb wird in Wahrheit der Blick auf die Seele nicht preisgegeben, wenn wir Sein oder Nichtsein selbst nachgehen. Er Vgl. zum ›Theaitetos‹ die sehr gute Studie von J. Hardy, Platons Theorie des Wissens im Theätet. Göttingen 2001; siehe auch W. Detel, Platons Beschreibung des falschen Satzes im Theätet und Sophistes. Göttingen 1972.

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wird nur auf seinen inneren, intentionalen Gehalt hin transparent gemacht. Dies wird an jener Stelle deutlich, an der Sokrates von dem beunruhigenden Phänomen der falschen Doxa auf das Denken (dianoeisthai) verweist. Denken sei »lógon on autè pròs autèn he psychè diexérchetai perì on an skope«. – »Eine Rede, welche die Seele bei sich selbst durchgeht über dasjenige was sie erforschen will« (189e). Er fährt fort: »Denn so schwebt es mir vor, dass, solange sie denkt, sie nichts anders tut als sich unterreden, indem sie sich selbst antwortet, bejaht und verneint. Wenn sie aber langsamer oder auch schneller zufahrend nun etwas feststellt, und auf derselbigen Behauptung beharrt, und nicht mehr zweifelt (distaze), dies nennen wir dann ihre Vorstellung« (189e–190a).

In ihrem Gespräch mit sich, in Bejahung und Verneinung gleichermaßen, ist die Seele auf ›Etwas‹ bezogen, und ihre Zweifel- und Fragebewegung steht gleichsam still, wenn sich eine feste Meinung ausprägt. Jede Doxa bedeutet mithin eine Festschreibung, oder eine Einbildung, in der die fließenden Verständigungen zum Bild fixiert werden. Die Bedeutung solcher Bildlichkeit zeigt sich offensichtlich erst, wenn das Innenverhältnis der Seele vertieft als ein Verhältnis zu Seiendem verstanden wird. Die Unterscheidungsfähigkeit zwischen Wahrheit und Täuschung ist damit aber noch nicht gewonnen. Deshalb kann das verwechselnde und damit irregehende Vorstellen (allodoxía) nicht durchsichtig gemacht werden. Sokrates wirft die Überlegung auf, es sei doch unmöglich, dass selbst ein Wahnwitziger »ausdrücklich zu sich selbst sage, dass der Ochse gewiss ein Pferd wäre oder Zwei Eins?« (190b). Was später streng unterschieden werden wird, Wissen mit und rein mathematisches Wissen ohne Wahrnehmung, wird hier nebeneinander genannt – ein Indiz dafür, dass das beunruhigende Phänomen der ›allodoxía‹ aus einem Vorverständnis von Wissen aufgehellt werden soll, das selbst noch ganz ungeklärt ist. Untersucht werden muss auch der Wahrheitsstatus der sinnlichen Wahrnehmung, und Sokrates bemerkt zu Theätet, dass sie gezwungen seien, »sehr viel unstatthafte Dinge zuzugeben« (190e). Das Atopische, auf das hier verwiesen ist, benennt vordergründig Gedanken, die eigentlich streng genommen keinen Ort in der Erörterung haben dürften. Im Licht der sokratischen Frühdialoge stellt sich allerdings auch die Frage, ob nicht atopische Gedanken dem atopischen Grundcharakter von Philosophie und Philosophen in besonderer Weise nahekommen. 453 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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Zuzugeben ist in diesem atopischen Sinn, dass jemand etwas, das er weiß, mit etwas verwechseln könne, das er nicht weiß (191b). Zur Präzisierung wird an diesem Punkt wiederum die Zeit genannt, und es wird von der Perspektive einer zeitfreien Gegenwart in die Kontrapunktik von ›aisthesis‹ und Wissen im Licht von Erinnerung übergegangen. Auch vor dem Hintergrund der Zeitdimension bleibt es aber unmöglich, dass Nichtgewusstes mit Nichtwahrgenommenen vertauscht wird. Als möglich erscheint aber immerhin, dass der Untersuchende »das, wovon er weiß, für etwas Anderes halte, wovon er auch weiß und was er eben wahrnimmt; oder auch für etwas, wovon er nicht weiß, das er aber wahrnimmt; oder endlich etwas, das er wahrnimmt und wovon er weiß für ein anderes, das er auch wahrnimmt und wovon er weiß« (192c–d).

Bemerkenswert ist, dass die Einbildung der begrifflichen Verständigung vorausgehen muss. So führt das Beispiel vom Wachsblock nicht ohne Ironie vor Augen, wie eine ›doxa‹ sich als Bild (vgl. 190a) einprägt. »Was sich nun abdrückt, dessen erinnern wir uns und wissen es, so lange nämlich sein Abbild vorhanden ist. Hat sich aber dieses verlöscht oder hat es gar nicht abgedruckt werden (können): so vergessen wir die Sache und wissen sie nicht« (191d–e). Jede Bildung einer Meinung (doxa) führt also zu einem vorläufigen Halt im Untersuchungsgang und einer Fixierung. Doch sie erlaubt es nicht, das Gesuchte wirklich ans Licht zu bringen. Bestätigt ist damit bereits, dass es eine richtige (wahre) Doxa ohne Einsicht geben kann (200d). Der Mangel der Doxa, einsichtslos zu sein, zeigt sich erst, wenn der Fragegang über den erreichten ›dogmatischen‹ Haltepunkt hinauszugehen nötigt: eine Nötigung, die Theätet zuerst nicht versteht. Hegels Typologisierung, dass die antike Philosophie zunächst die Begriffe fixieren und erst die Neuzeit sie verflüssigen konnte, trifft zumindest auf diese platonische Passage nicht zu. 68 Wahrnehmungsfreie Erkenntnis, dem Schüler zuliebe zuerst am Paradigma des mathematischen Zahlenwissens vor Augen geführt, muss von jener Erkenntnis, an der Wahrnehmung haftet bzw. die von Wahrnehmungen abhängig ist, unterschieden werden. Bei dem reinen Wissen kann und darf nicht auf Mnemosyne Bezug genommen werden, die doch Hegel, Rechtsphilosophie, Theorie-Werkausgabe Band 7, a. a. O., S. 311 ff., auch die Programmatik der ›Phänomenologie des Geistes‹ ist in diesem Zusammenhang zu verstehen. Vgl. dazu J. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen. Frankfurt/Main 1988, S. 34 ff.

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nur Bilder wiedergibt. In diesem Sinn wird nun eine Unterscheidung eingeführt, die sich aber als vorläufig erweist. Unterschieden wird zwischen einem immer schon seienden, gleichsam latenten »Haben der Erkenntnis« (Epistémes hexin) und einem »Besitz der Erkenntnis« (Epistémes ktesin) (197b), in dem das habituell Eingeprägte dynamisiert und virulent wird. Die Vordergründigkeit wird durch die Begriffe ›hexis‹ und ›ktesis‹ sublim angezeigt. Die beiden Begriffe können gerade keine disjunktive Unterscheidung tragen. Denn der erstere bezeichnet eine charakterliche Grunddisposition, die deshalb auch im zweiten Fall prägend bleibt. Es wird sich also nun das Problem ergeben, dass alle ›allodoxía‹ aus einer Verwechslung von einer Erkenntnis mit einer anderen erwächst. Damit verschiebt sich aber die Problematik in die Sphäre der Verfasstheit des Wissens selbst und darauf, wie das Gespräch der Seele mit sich selbst verkehrt werden kann. Ein ähnliches Phänomen zeigt auch das Bild an, das nun jenem vom Wachsstock an die Seite gestellt wird. Im Sinne der Anamnesis das zu lernen, was man schon weiß (198e), wird im Bild eines Taubenschlags versinnbildlicht, in dem verschiedenste Vögel, die Erkenntnisse, zusammengesperrt sind und in den der, der zu lernen sucht, hineingreift und einzelne der Vögel erfasst und herausnimmt. Doch das Bild muss sich noch deutlicher als die thesenhafte Durchführung selbst ad absurdum führen. Denn »wie wäre dieses nicht ganz widersinnig, dass indem ihr Erkenntnis einwohnt, die Seele doch gar nichts erkenne, sondern Alles verkennen sollte« (199d). Theätet versucht gleichwohl eine Rettung des Gleichnisses. In einer Verdoppelung der Gleichnisstruktur legt er die Annahme nahe, dass im gleichen Vogelbauer auch Unkenntnisse mit herumfliegen (199e). Selbstverständlich ist damit das Ausgangsproblem, die bedrängende Frage der ›allodoxía‹, wie es zur Verwechslung von Seiendem und Nichtseiendem kommen kann, noch einmal aufgeworfen, aber in keiner Weise einer Lösung näher gebracht. Es ist nur das Stadium der ersten Aporie wieder erreicht (200a). Dies ist nicht verwunderlich, denn Theätet erweist sich mit seinem Rettungsversuch wieder als der, der allzu wenig mutig redet (187b). Er versucht das offenkundig unzureichende Bild vom Taubenschlag festzuhalten, da er die tiefe Aporie des Verkennens (doxazein pseude), dass die Seele, der doch Erkenntnis einwohnt, gleichwohl »nichts erkenne, sondern Alles verkennen sollte« (199d), nicht ertragen kann. Über diese tiefe Aporie kommt das Gespräch nicht hinaus, obwohl sie als Widersinn (alogia) 455 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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begriffen wird. Sie bannt mit einer fast magischen Macht den Dialog. Das Phänomen dieses Widersinns bleibt unaufgelöst – und ebenso bleibt die Frage, was Erkenntnis sei, unbeantwortet. Es wird nur deutlich, dass beide Probleme eng zusammenhängen. Die Widerlegung von Theätets Definitionsversuch verläuft viel einfacher. Sie geschieht in einer Untersuchung, deren Lakonie erstaunt: Im Blick auf die politische Praxis des Rhetors, die auf (richtige) Meinung zielt, diese jedoch nicht durch einen philosophischen Erkenntnisweg erreicht, sondern durch Überreden: »Tò peisai d’ouchì doxásai légeis poisai?« – »Heißt aber nicht überreden bewirken, daß etwas auf eine gewisse Art vorgestellt werde?« (201b). Früh, noch bevor er mit der sokratischen Befragungskunst konfrontiert wird, kommt Theätet seiner Natur nach zu jenem Erstaunen, mit dem alle Philosophie beginnt (155c–d). Und noch früher ahnt er, dass die wesentliche Frage, die es zu erörtern gälte, die Frage nach der Erkenntnis (epistéme), nicht nach dem Paradigma jenes mathematischen Wissens zu beantworten sei, das er von seinem Lehrer Theodoros erlernte (148b–c). Damit deutet sich an, dass man den ›Theätet‹-Dialog als ein Seitenstück für die Aporien des ›Parmenides‹ lesen könnte. Die Gegenauffassung zur eleatischen Lehre vom einen Sein, die radikale Flusstheorie, ist stets mit im Blick – als eine Implikation des Satzes des Protagoras. Die protagoreische Lehre wiegt für Sokrates im ›Theätet‹ leichter als die parmenideische, sie ist gleichsam propädeutisch zu stellen und zu widerlegen. Das parmenideische ›Eins‹ lässt Sokrates indes unangetastet. Parmenides’ Denken erkennt er als groß und zugleich furchtbar, sodass es unziemlich wäre, mit ihm in einen Agon zu treten (183e–184a); dies umso mehr, als, was unter dem ›Eins‹ zu verstehen sei, wie Sokrates zu bedenken gibt, noch längst nicht ausgemacht ist. 69 Im inneren Geflecht der Dialoge mag sich hier der Grund dafür finden, dass letztlich nur der alte Parmenides selbst mit seinem eigenen Agon in einen Austausch treten kann. Theätets Ausgangsthese – Wahrnehmung sei Erkenntnis – wird unmittelbar auf den protagoreischen homo mensura-Satz bezogen. Protagoras »sagt nämlich, der Mensch sei das Maß aller Dinge, der Seienden wie sie sind, der Nichtseienden, wie sie nicht sind« (152a). Sokrates erläutert dies: »Nicht wahr er meint dies so, dass wie ein 69

Vgl. W. Wieland, Platon und die Formen des Wissens, a. a. O., S. 309 ff.

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jedes Ding mir erscheint, ein solches ist es auch mir, und wie es dir erscheint, ein solches ist es wiederum dir. Ein Mensch aber bist du sowohl als ich« (ibid.). Über den Wortlaut hinausgehend, gibt Sokrates hier eine Deutung, die den Protagorassatz-Grundsatz auf die Wahrnehmungsweise einzelner Personen spezifiziert. Doch nicht auf die Brechung von Perzeptionen durch eine Vielzahl von Menschen und mithin eine ständige Nötigung zum Perspektivenwechsel wird der Protagorassatz damit umgedeutet. Das Maß, von dem er spricht, verweist für Sokrates in Abweichung vom Wortlaut auf den Schein, also auf eine Erkenntnis, die einzig auf Sinneswahrnehmung zurückbezogen ist. In dieser impliziten Gleichsetzung schwingt mit, dass Wahrnehmung nicht mit sich eins ist, sondern auch in ein und derselben Person in unterschiedlichsten Gestalten vorkommt. Wie die Erkenntnis eine sein kann, wird zum Prüfstein des ganzen Dialogs. Nur dieser Einheitssinn böte eine Immunisierung gegen das Gespenst der Allodoxía. Dieser zentrale Grundzug wird auf dem ersten Gang des ›Theätet‹ vielfach namhaft gemacht: Sokrates mahnt den Theätet, nach der Einheit der Erkenntnis zu suchen, nicht im Mannigfaltigen verharrend Arten, Eigenschaften und Hinsichten von Erkenntnis aufzuzählen (146d-f). Ein derartiges Verfahren wäre ›lächerlich‹, so wie wenn jemand, nach der Beschaffenheit von Lehm befragt, verschiedenste Zwecke angeben wollte, für die Lehm verwendet werden kann. Zudem verweist er darauf, dass sie, Sokrates selbst und sein Gesprächspartner, die nicht »von den gewaltigen Weisen sind, die schon alles durchgeprüft haben in ihrem Gemüt […], doch zuerst die Sache an sich selbst« (autà pròs autà ti pot’ estin) (154e) zu betrachten hätten, um sich nicht ans Viele zu verlieren. An diesem Punkt legt Sokrates eine weitere implizite Bedeutung des Protagorassatzes frei: »Der Anfang aber, an welchem auch, was wir vorhin sagten, alles hängt, ist bei ihnen [sc. den Herakliteern] der, dass Alles (pánta) Bewegung ist, und anderes außerdem nichts, von der Bewegung aber zwei Arten (eide), beide der Zahl nach unendlich, deren eine ihr Wesen (dynamin) hat im Wirken (poiein), die andere im Leiden (paschein), und aus dem Begegnen und der Reibung dieser beiden gegen einander entstehen Erzeugnisse, der Anzahl nach auch unendliche« (156a–b).

Die Crux ist, dass in der so angezeigten fluiden Doppelbewegung von Tun und Leiden überhaupt erst entsteht, was ist. Es liegt eine Aporie darin, dass, was entsteht, immer etwas bestimmtes, einzelnes Seien457 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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des ist, nicht das Eidos; dass aber – in einem Widerspruch, den Sokrates nicht expliziert, den er aber durch die Art seiner Darlegung deutlich hervortreten lässt – von einem Eidos ausgegangen werden muss, wenn sich die radikale Flusstheorie denn überhaupt in Logoi fassen lassen soll. Das Beispiel der Genesis des Gesichtssinnes, dargelegt aus der Sicht der Flusstheorie, mag dies verdeutlichen: »Wenn nun ein Auge und ein solches Anderes ihm Angemessenes [sc. ein seiendes Ding, das wahrgenommen wird] zusammentreffen […], dann wird, indem beide sich bewegen, nämlich das Sehen auf Seiten der Augen, die Röte aber auf Seiten des die Farbe miterzeugenden Gegenstandes, auf der einen Seite das Auge erfüllt mit der Gesichtswahrnehmung, und sieht alsdann, und ist geworden nicht eine Gesichtswahrnehmung sondern ein sehendes Auge; auf der anderen Seite wird das die Farbe Miterzeugende erfüllt mit der Röte, und ist geworden auch wiederum nicht die Röte, sondern ein Rotes, sei es nun Holz oder Stein oder welchem Dinge sonst begegnet, mit dieser Farbe gefärbt zu sein« (156d–e).

Jeweilige Einzeldinge und -phänomene entstehen aus dem Bewegungszusammenhang von Tun und Erleiden. Doch, um überhaupt beschreiben zu können, was dabei geschieht, muss von bleibenden Ideen gesprochen werden, vom Sehen auf Seiten der Augen, von der Röte auf Seiten der farbigen Dinge. Wenn Sokrates in dem bisherigen Erörterungszusammenhang diesen Widerspruch benennt, dann indirekt und indem er fragt, ob denn Werdendes sein könne, wenn nicht zuvor das Gewordene sei, also seiende Dinge, denen immerhin Dauer auf einige Zeit zukommt. Diese Vorläufigkeit liegt im Sinn der Verständigung – gibt Sokrates doch zu verstehen, dass er nicht zu sagen wisse, ob sich Alles nach der Art der radikalen Flusstheorie verhalte oder nicht (157c–d). Im Sinn der Flusstheorie kommt einem Seienden also nur in jeweiligen Relationen und Spezifikationen Sein und damit Bewahrheitung zu. Beide Verknüpfungen im Protagorassatz, die der Aussage mit Sein und die von Sein mit ›Wahrheit‹, nehmen eine hohe gnoseologische Würde in Anspruch. Beide verweisen darauf, dass die Seele bei dem Seienden ist, von dem sie Aussagen trifft, ja mehr noch: dass sie streng genommen dies Seiende selbst ist. 70 Diese Entsprechungen können jedoch, wenn sie von einer Wahrnehmungslehre wie der skizVgl. dazu M. Erler, Der Sinn der Aporien in den Dialogen Platons. Übungsstücke zur Anleitung im philosophischen Denken. Berlin 1987, inbesondere S. 268 ff. und S. 280 ff.

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zierten Flusstheorie in Anspruch genommen werden, nur erschlichen sein. Denn zu einem Gespräch der Seele mit sich selbst kommt es hier nicht. Unvermittelt, jäh, also ohne Einsicht, sollen wir wahrnehmend bei dem wahren Sein sein, wenn wir bei einem jeweiligen Zustand unserer selbst sind. Zu einem solchen Zustand im Fluss der Bewegung ist in der jeweiligen Relativität der Erfahrungen jedoch ein Verhalten überhaupt nicht möglich. Der vexierende Charakter der protagoreischen Position tritt durch die Identifizierung von ›alethès‹ (wahr) und je eigener Wahrnehmung noch verstärkt hervor, die jede Frage nach der Wahrheit unterbindet: Das Sinnliche ist schon das Wahre: »Wahr also ist mir meine Wahrnehmung, denn sie ist die meines jedesmaligen Seins (tes gàr emes ousías aei estin). Ich also bin der Richter, nach dem Protagoras, dessen sowohl was mir ist wie es ist, als dessen, was mir nicht ist wie es nicht ist« (160c). 71 Es bedeutet ein weiteres gewichtiges Indiz, dass die Entsprechung zwischen dem, was erscheint, und jenem, was ist (158a), im Zusammenhang einer Erörterung der Phänomene von Krankheit und Schlaf, ja sogar Wahnsinn, steht (157d ff.), die für die skizzierte Wahrnehmungslehre und die radikale Flusstheorie insofern sprechen, als auch der Traum Wahrnehmungen, ja Reden zulässt und es mitunter schwierig ist, zwischen Wach- und Schlafzustand zu unterscheiden. Doch diese unvordenklichen Phänomene müssten bedacht werden. Eine Denkart dagegen, die die Unterscheidungslosigkeit zwischen dem Erhellten und dem Nichterhellten zum Programm macht, widerspricht der Erkenntnissuche. 72

Zwischen Sein und Werden Sokrates geht erst zu einer Kritik über, nachdem der Protagorassatz unverkürzt dargelegt worden ist (160d ff.). Die ersten beiden Einwände, auf die er im Zug der Prüfung hinweist, sind denkbar einfach: Protagoras muss, wenn er als das Maß aller Dinge, dass sie sind und dass sie nicht sind, jeden einzelnen Menschen versteht, Unterschiede in der Erkenntnis annehmen, die zumindest der Zahl nach ins UnendVgl. dazu die gründliche formgeschichtliche Untersuchung D. Roloff, Platonische Ironie. Das Beispiel: Theaitetos. Heidelberg 1975, insbesondere S. 175 ff. 72 Dazu S. C. Rickless, Plato’s Forms in Transition. A Reading of the Parmenides, a. a. O., S. 35 ff. 71

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liche gehen, für deren Nähe oder Ferne zur Wahrheit aber im Protagorassatz selbst kein Maß angegeben ist (vgl. 161b ff.). Diesem Satz zufolge müssten alle Einsichten gleichermaßen ›wahr‹ sein, was bedeuten würde, dass kein Mensch den anderen etwas lehren könne. Dies wäre das zu Ende gedachte Ergebnis der Sophistik. Unterschiedliche Nähen oder Entfernungen zur Wahrheit gäbe es also nicht. Im zweiten Einwand wird auf das Erinnern (mnemein) verwiesen. Erinnerung firmiert hier zunächst als Grenzbedingung: Es wird deutlich, dass sich, wenn man Wahrnehmung mit Erkenntnis gleichsetzte, die abstruse Folge ergäbe, dass derjenige, der sich erinnert, also nicht sinnlich gegenwärtige Zustände wahrnimmt, keine Erkenntnis hätte (163a ff.). Wenn man den permanenten Wandel im Sinn einer Radikalisierung der Flusstheorie annimmt, wäre Erinnerung vermutlich überhaupt nicht möglich. Die Schwäche und die wahrheitserodierende Wirkung der Flusstheorie liegen also offen zutage. An dieser Stelle kommt es zu einem retardierenden Moment im Gesprächsgang. Es leitet dazu über, dass nicht mehr der junge Theätet, sondern sein alter Lehrer, der Mathematiker Theodoros, ganz gegen seinen Willen in das Gespräch gezogen wird. Eingeleitet wird die Retardierung dadurch, dass sich Sokrates zum Fürsprecher des Protagoras macht. Dass er im Namen des Gegners spricht, hat nicht nur eine Bedeutung für die Argumentation (eine Widerlegung hat billigerweise die gegnerische These dort anzugreifen, wo diese am stärksten ist), sondern mehr noch für deren Grundstimmung. Freundschaftliche Gelassenheit, nicht Polemik oder gar eifernder Gestus sollen das Gespräch über Erkenntnis leiten (168b). Der Sache nach sagt Protagoras, dass, wenngleich es seiner Flusslehre gemäß nichts Falsches geben könne, dennoch die Unterschiede in der Erkenntnis namhaft gemacht, also höhere und niedrigere Erkenntnisgrade voneinander unterschieden werden könnten. Zum Leitwort dieses Gesprächspassus wird ›metabasis‹, die Umwandlung von einem Zustand in einen anderen, wobei zu wünschen ist, dass sie vom schlechteren in den besseren Zustand erfolge. Sache des Wissenden ist es, diesen Umschlag herbeizuführen. In diesem Zusammenhang ist freilich bezeichnenderweise nicht vom Philosophen die Rede, sondern vom »guten Redner« (agathous rhétoras) (167c). Der Beispielsfall des Umschlags ist demgemäß die erste menschliche Natur: der Umschlag vom Schlechteren zum Besseren wie in der Heilung bei einer Krankheit. Dieser Passus kann für den weiteren Gesprächsgang nicht fol460 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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genlos bleiben, und er steht im Dialogzusammenhang nicht allein. Denn die Ermahnung, das Gespräch zwischen Männern an die Stelle des Kinderspiels mit Theätet zu setzen (166a), wird im Weiteren tatsächlich eingelöst: Sie führt zu dem Exkurs über den wahren Philosophen (172a ff.). Damit findet das eigenste Anliegen, das Sokrates’ Kritik an der protagoreischen Position angeleitet hatte, seine Einlösung: dass es eines nicht-bedingten Maßes bedarf, um den Wissenden vom Nicht-Wissenden zu unterscheiden. Zudem ist die von Sokrates imaginierte Rede des Protagoras dadurch von einschneidender Bedeutung, dass sie die Frage nach dem Guten ausdrücklich ins Gespräch bringt. In diesem Sinn wird als Leitthema des Dialogs, das sich hinter der Frage »Was ist Erkenntnis?« auf einer tieferen Ebene auftut, der Zusammenhang von Wahrem und Gutem erkennbar. Der Versuch einer Rettung protagoreischen Denkens muss allerdings, wie der Fortgang des Gesprächs zeigt, scheitern. Denn das von Sokrates untergeschobene protagoreische Ethos und die Aussagen seiner Philosophie – radikale Flusstheorie und die Lehre vom Menschen als dem ›Maß aller Dinge‹ – bleiben unverbunden nebeneinander stehen. Das Ethos führt also nicht zu einer angemessenen Verständigung über die Frage, was Erkenntnis ist. Sokrates legt dies offen, indem er zeigt, dass in der Logik des Protagoras die Wahrheit einer Aussage und zugleich ihres Gegenteils zugelassen sei – je nachdem, ob die behauptende oder eine opponierende Person gerade in der Richterposition ist. »Wenn du bei dir selbst etwas abgeurteilt hast [krinas] und mir nun deine Vorstellung davon kund tust: so muss nach Jenes [sc. Protagoras] Behauptung dir zwar dieses Wahrheit sein; steht es aber uns Andern nicht frei, auch wieder Richter zu sein über dein Urteil, oder urteilen wir, daß du immer richtig vorstellst?« (170d).

Die Verwirrung, die dem Protagorassatz zugrunde liegt, berührt eine Tiefenstruktur. Sie kann daher auch nicht in einem immanenten Argumentationsrahmen ohne weiteres korrigiert werden. Sie ist ›para physin‹, denn sie verkennt, dass Seiendes eine in seiner Natur liegende »bestimmte Beschaffenheit« habe, und hält stattdessen dafür, dass »etwas solange als es, nach der begrenzten Möglichkeit eines Wahrnehmenden, für wahr vorgestellt werde, es dies auch sei« (172b). Wie nach dem Exkurs über den Philosophen noch deutlicher gesagt wird (177c ff.), ist es vor allem das Moment des Künftigen, also dessen, was Seiendem in der Zeit widerfährt, an dem sich eine in den Dingen 461 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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liegende Notwendigkeit erweist, die in keiner Weise auf den perspektivischen Schein für diesen oder jenen Hinblick reduziert werden darf. Protagoras legt nahe, dass es keine personen- und situationeninvariante Wahrheit gibt. Eine Differenzierung, der gemäß daneben eine schlechthin seiende Wahrheit anzuerkennen wäre, ist nicht möglich. Aus zwei Gründen ist sie nicht stimmig: Einmal könnte der Protagoras, dessen Argumentation Sokrates führt, das Eidos des Gerechten oder Ungerechten in seiner Denkart überhaupt nicht namhaft machen; er müsste es jedoch, dem Ethos gemäß, das er anmahnt, voraussetzen. In einer tieferen Einkreisung des Gedankenganges wiederholt sich also noch einmal das Dilemma, das uns an der Wahrnehmungstheorie aufgegangen war. Es zeigt sich, dass der Protagoreer, wenn er über das Gerechte sprechen möchte, dies nicht anders tun kann, als indem er sich auf den Anschein und allenfalls noch auf möglichst geteilte Meinungen beruft. Die Unterscheidung, die ihm Sokrates in den Mund legt, unterläuft er damit freilich. Zum anderen deutet sich auch in diesem Denkzusammenhang an, dass für Platon Natur- und Wesensbegriff so eng aufeinander bezogen sind, dass Erkenntnis nur eine Denkart heißen darf, die zu einem Begriff der Welt zu führen vermag, der beide umschließt. Wie der ›Timaios‹ lehrt, ist dies geboten, obgleich die Notwendigkeit (ananké) der ersten Natur wie blind fortzuschreiten und sich dem Ideenblick ganz zu verschließen scheint. Die Versuche einer Rettung des Protagoras-Gedankens laufen also ins Leere: Gewiss, Protagoras könnte gegen Sokrates’ ironischen Einwand, den Anfang seines Logos betreffend (161c) – es sei nicht anständig, darüber zu spotten, weshalb das Maß aller Dinge der Mensch sein soll und nicht das Schwein oder der Frosch (166c–f) –, sich im Namen seines philosophischen Ethos verwahren; eines Ethos freilich, das sich nicht argumentativ auszuweisen vermag. Gerade die ironischen Volten, gegen die er sich auf diese Weise abgrenzen würde, sind der sophistischen Antilektik eng benachbart. Der Sache nach bleibt Protagoras gleichwohl die spezifisch menschliche Einsicht verschlossen – und dies weil er den Anfang seines Gedankenganges mit einer verengenden Identifizierung verschüttet, ohne sich in Besonnenheit auf die ›Sache selbst‹, eben das Maß, zu besinnen und auf diesem weiteren Weg zu einem Maß für die Seele zu kommen. In ironischem Tonfall bemerkt Sokrates dazu: »Ich aber, der Unwissende, könne auf keine Weise gezwungen werden ein Maß zu sein, wie 462 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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doch nur eben die für ihn gesprochene Rede mich zwang, ich mochte wollen oder nicht, eins zu sein« (179b). In einem Zwischenresümee weist Sokrates darauf hin, dass der Protagoras-Gedanke gleichwohl eine Wahrheit für sich hat. Diese zurückhaltend behutsame Rettung wiegt schwerer als die große Verteidigungsrede (166a ff.). Sokrates gibt nun nämlich zu verstehen, dass ihm in der bisherigen Überlegung nur widerlegt zu sein scheint, »dass jede Vorstellung eines Jeden wahr sein soll« (179c). Eine gewichtige Frage bleibt dagegen, »was den gegenwärtigen Zustand eines Jeden betrifft, woraus die Wahrnehmungen [aistheseis] und die sich auf sie beziehenden Vorstellungen [dóxai] entstehen: so ist es schwerer zu zeigen, dass diese nicht wahr sein sollen« (179c). Warum diese erneute Konzession an Theätet, der doch, selbst ein Kind, kurz bevor das Gespräch auf Theodoros übergegangen war, seine fehlende denkerische Gediegenheit dadurch unter Beweis gestellt hatte, dass er seine eigene These schnell preisgegeben hatte (162d)? Warum ein weiterer Untersuchungsgang (179e–183b), der in der Sache zu den besprochenen Erwägungen kaum etwas hinzufügt? Dass Sokrates dem Ausgang von den je spezifischen Zuständen des einzelnen Menschen ein so großes Gewicht zuspricht, legt wiederum den Blick auf die Seele als den Ort von Erkenntnis und Einsicht frei, mit deren Erweis als der Möglichkeit der Gemeinschaft (dynamis tas koinonía) (185d) der Erörterungsgang endet. Indem damit der Schritt zur Seele getan wird, wird gegenüber dem bislang Gesagten auch ein Schritt zum Sein getan – gemäß dem aufgewiesenen Grundverhältnis, dass die sich unterredende Seele bei dem Seienden ist, von dem sie spricht. Von der Zerstreuung in das Viele wird übergegangen zu der Exposition der einenden Kraft der Seele. Es mag nun im Blick auf diesen Übergang noch besser verständlich sein, weshalb sich Sokrates einer Auseinandersetzung mit der eleatischen Lehre des Parmenides verweigert und die parmenideische Orientierung allein auf das Eins als ein ernsthaftes Denkanliegen festhält. Dazu gehört auch, dass der parmenideische Gedanke als einzelner, vereinzelter und einsamer Gedanke dem Vielerlei der Flusstheorien kontrastiert wird, das nicht nur Weise miteinander verbindet, sondern zu dem sich auch die Dichter, Homer ihnen allen voran, bekennen (vgl. 153c–d; 180d–e). Die dritte These Theätets, die die zweite erweitert und Erkenntnis als »mit ihrer Erklärung verbundene richtige Vorstellung« zu definieren 463 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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versucht (201c), erachtet Sokrates als einen Traum (u. a. 201d, 202c). Er bringt die Auffassung Theätets durch eine zweigleisige Argumentation zum Einsturz. Einmal zeigt er, am Beispiel der Buchstabenschrift, dass ein Zusammenhang nicht erkennbar sein kann, wenn nicht bereits die einzelnen Bestandteile, aus denen er sich formieren soll, erkannt sind (203a). Wir können nicht Silben, geschweige denn Worte und Sätze lesen, wenn wir nicht einmal die einzelnen Buchstaben beherrschen (vgl. 203b). Wie sich bei den Anfangsgründen von Fertigkeiten verschiedenster Art, zum Beispiel dem Kitharaspiel, zeigt (206b), sind die Einzelbestandteile einfacher geartet und prägen sich mithin rascher ein als die Verflechtungen. Es ist indes darauf hinzuweisen, dass diese Argumentation darauf beruht, dass das TeilGanzes-Verhältnis vorausgesetzt wird. Dies ist dem jungen Theätet alles andere als selbstverständlich; er mahnt sogar die Unterscheidung zwischen dem Ganzen (to holon), für das die Teil-Ganzes-Unterscheidung gelten soll, und dem Gesamten (to pan) (204b) an, das über sie hinausführe – und er dringt damit nicht durch. Sokrates widerlegt ihn bezeichnenderweise mit Beispielen aus dem eigensten Erkenntnisgebiet des Jüngeren, aus der Zahlenwelt (204c). Die zweite Argumentationslinie zielt lediglich darauf, über den dreifachen Sinn des Wortes ›logos‹ zu einer Verständigung zu kommen. ›Legein‹ heißt zunächst, Gedanken über einen Sachverhalt zu äußern (206d), dann die einzelnen Bestandteile einer Sache aufzuzählen (207a). Weder das eine noch das andere verwandelt aber eine richtige Meinung in den Rang einer Erkenntnis. Es bleibt ein dritter Sinn von ›legein‹ : die Angabe der auszeichnenden Eigenschaft eines Seienden, die es unverwechselbar kennzeichnet (diaphoróteta) (209e). Ein solches ›legein‹ ist, wie wir mit Seitenblick auf den ›Parmenides‹ ergänzen können, erst eigentlich philosophisch; benannt ist damit die Methode der Dihairesis. Der Logos, der zu dem definierenden Begriff führt, ist erst im vollständigen Sinn Erkenntnis. Wie geht aber der Versuch, von diesem Punkt aus Erkenntnis nach dem Muster der Dihairesis zu definieren, aus? Sokrates’ Definitionsvorschlag führt auf eine Tautologie: »Wer also gefragt wird, was Erkenntnis ist, der soll, wie es scheint, antworten: richtige Vorstellung mit Erkenntnis der Verschiedenheit verbunden« (210a). Theätet stimmt zu, er gibt aber zugleich zu verstehen, dass eine derartige tautologische Bestimmung ›pantápasí euethes‹ (»auf alle Weise einfältig«) sei (210a). Die äußerste Nüchternheit, mit der Sokrates gerade im dritten Argumentationsgang zu seinem jungen Gesprächspartner spricht, etwa über das Teil464 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

Aporie und Philosophie: ›Theätet‹

Ganzes-Verhältnis, weist darauf hin, dass das Wesentliche des Philosophierens, die Erkenntnis (epistéme), die an einer frühen Stelle des Dialogs mit ›sophia‹ gleichgesetzt ist (145d), sich selbst der satzhaften Aussage entzieht. Sokrates’ durchgehend erkennbare Geste, dem Jüngeren verführerische Unsinnigkeiten – ein Spiel mit dem Widersinn oder die Annahme von Grundverhältnissen, in denen die mathematischen Gesetze außer Kraft gesetzt wären – zu untersagen, verweist zugleich darauf, dass dieses Unvordenkliche der Philosophie sich nur der Klarheit des Denkens erschließt. Und damit nähern wir uns dem auszeichnenden Wesenszug, der dem ›Theätet‹ im Zusammenhang der aporetischen, die Grenzen der Dialektik durchmessenden späten Dialoge zukommt: dass er eine Einführung in die Philosophie ist, die zugleich die Schwierigkeit des philosophischen Denkens deutlich macht. Er ist Protreptik und zugleich Warnung vor dem philosophischen Weg. 73 Denn die Wenigen, die den philosophischen Weg zu gehen imstande sind, zu ihm zu verführen, und die Vielen, die sich nicht eignen, von ihm abzuschrecken, dies beides vermag die sokratische Hebammenkunst nur deshalb, da sie einem jungen Adepten gleichermaßen mit Süße und Härte begegnet. Ganz in diesem Sinn bestimmt Sokrates das Ergebnis des Dialogs als aporetisch. Was Theätet mit Hilfe der Maieutik ausgeboren habe, seien nur Windeier gewesen: »Gedenkst du nun, Theaitetos, nach diesem wiederum mit anderem schwanger zu werden: so wirst du, wenn du es wirst, dann besseres bei dir tragen vermöge der gegenwärtigen Prüfung, wenn du aber leer bleibst, denen, welche dich umgeben, weniger beschwerlich sein und sanftmütiger, und besonnenerweise nicht glauben zu wissen was du nicht weißt« (210b–c).

Die warnende Protreptik: Im Vorhof der Philosophie Der gerade skizzierte Einleitungscharakter wird an zwei Stellen weiter verdeutlicht: in den freundlichen Winken über seine Hebammenkunst, die Sokrates dem Theätet gibt (148e ff.), und in dem großen Exkurs über die »wahre Philosophie« (172c–177c), die sich wiederum nicht an den Jungen, sondern an seinen Lehrer Theodoros richtet. Die Hinweise auf die Hebammenkunst erwachsen aus der LebenssituaVgl. Mojsisch, ›Dialektik‹ und ›Dialog‹ : Politeia, Theaitetos, Sophistes, in: Kobusch, Mojsisch (Hg.), Platon, a. a. O., S. 167 ff.

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tion, die am Beginn des Dialogs gezeichnet wird: der Begegnung zwischen dem Philosophen und dem hoffnungsvollen jungen Mathematiker, die sein Lehrer Theodoros vermittelt. Sie enthält im Kern bereits die Fragen in sich, die der Dialog entfalten wird. Es geht um ein erstes gegenseitiges Vertrautwerden, und zu diesem Ende möchte Sokrates nicht weniger von Theätet wissen, als was Erkenntnis seines Erachtens sei (146d). Es kann in der Inszenierung des Dialogs deshalb von Anfang an in die innerste Sphäre der Verständigung gezielt werden, da wir uns unter dem Augenschein nach einander zum Verwechseln Ähnlichen befinden, da also die Frage nach dem Sein des Nichtseienden und der Täuschungsmöglichkeit, die in Fortsetzung des ›Sophistes‹ in der Erörterung der zweiten These von Theätet die entscheidende Rolle spielt, auch lebensweltlich gegenwärtig ist: Sokrates und Theätet ähneln einander, sodass sie bei vordergründiger Betrachtung verwechselt werden könnten; ebenso wie der exakte Mathematiker, der Theätet ist, von Unkundigen für einen Philosophen gehalten werden könnte. Auch dieses ›Vorbeisehen‹ wäre ein Irrtum, wenn auch nicht einfach eine Perversion. Wenn Sokrates festhält, dass er als Maieut nicht mehr gebäre, nicht mehr selbst Antworten gebe, sondern nurmehr frage, so ist andererseits bereits auf jene Ernüchterung hingewiesen, die Theätet am Ende des Dialoges erfahren wird. Die Innenseite dieser Einsicht teilt sich in dem Exkurs über den »wahren Philosophen« mit. Er bleibt ein Einzelner, Isolierter, dessen Frage nach dem Guten und nach der Wahrheit der geschäftigen Welt auf der Agora unverständlich ist, so wie auch umgekehrt ihm deren Bedrängnisse fremd sind (174a ff.). Das, was das menschliche und soziable Wesen in Wahrheit ist, sieht der Philosoph dagegen klarer als irgendein anderer. Deshalb liegt ihm Wehmut über seine Abseitigkeit und Wirkungslosigkeit fern. Als Theodoros eine derartige Klage führt: »Wenn du, o Sokrates, alle wie mich überzeugtest von dem, was du sagst, so würde mehr Friede und des Bösen viel weniger sein unter den Menschen« (176a), erwidert ihm Sokrates mit dem Hinweis darauf, dass das Böse nicht auszutilgen sei. »Das Böse, o Theodoros, kann weder ausgerottet werden, denn es muss immer etwas dem Guten Entgegengesetztes geben, noch auch bei den Göttern seinen Sitz haben. Unter der sterblichen Natur aber, und in dieser Gegend zieht es umher jener Notwendigkeit gemäß« (176a). Aus seiner nüchternen Wirklichkeitskenntnis heraus kann der Philosoph die Forderung aufstellen, dass es gelte, nicht nur gut zu scheinen, sondern in Wahrheit gut zu sein (176b-f). Damit wird die Linie des Gor466 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

Aporie und Philosophie: ›Theätet‹

gias-Dialogs weitergeführt. Gut zu sein bedeutet, der Gerechtigkeit zu folgen. Der ›Theätet‹ selbst gibt keinen Hinweis auf den Weg der Gerechtigkeit. Er belässt es bei der Hinführung. Die Summe des Dialoges liegt daher nicht so sehr in einer propositionalen Einsicht, sondern im Rückblick auf den durchlaufenen Weg: »Eines aber begegnet ihnen doch, dass, wenn sie einzeln Rede stehen und Antwort geben sollen von dem, was sie tadeln, und sie wirklich tapfer genug lange aushalten und nicht unmännlich fliehen, dann, mein Guter, endet es wunderlich mit ihnen, wenn sie nicht sich selbst nicht gefallen in dem, was sie sagen« (177b).

Man kann an den Kallikles des Gorgias-Dialogs denken oder an Theätet selbst, der sich mehrfach der Forderung, dem philosophischen Gespräch überhaupt standzuhalten, ausgesetzt sieht und der von Sokrates nicht wie von seinem eigenen mathematischen Lehrer schmeichelnd umworben wird. Er erfährt den abweisenden Charakter der Philosophie, wenn er sich als Kind behandelt und fast zurückgestoßen sieht. Zudem könnte man im Rückblick auf die Dialoglandschaft erkennen, dass die Einführung in die Philosophie über die Aporetik und das Schweigen führt. Wenn man den Rahmen des Theätet-Gesprächs hinzunimmt, vertieft sich dieser Eindruck der Aporetik noch: Die Rahmenerzählung berichtet, wie viele Jahre nach dem nun als denkwürdig zu erinnernden Sokrates-Gespräch Theätet schwer, vielleicht tödlich, an der Ruhr erkrankt und aus dem korinthischen Lager nach Athen zurückgebracht wird. Er wird von Eukleides und Terpsion als außergewöhnlicher Mann gerühmt (142a). Der Dialog verbindet die erinnerte Lebenssituation mit der Tapferkeit desjenigen, der nun nicht mehr als Kind von der Wahrheit Zeugnis ablegt. Ihm zu Ehren liest der Knabe aus der Aufzeichnung eines Gesprächs mit Sokrates, dem offensichtlich im Gedächtnis der Bedeutung des ›Theätet‹ besonderes Gewicht zukommt. Theätet erweist sich als ein Mann, an dem sich Wahrheit und Gutes zeigen, obwohl er im engeren Sinn niemals zum Philosophen geworden ist. Er hat sich durch die Philosophie erniedrigt und ist durch sie erhöht worden, 74 was sich auch darin zeigt, dass er nicht nur in dem nach ihm benannten Dialog, sondern auch im ›Sophistes‹ eine nicht unwichtige

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So eindrücklich in der Exposition im Rahmendialog Theätet 142 1 a 1 ff.

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Rolle spielt. Sie ist freilich eher passivisch als aktivisch orientiert. Theätet ist derjenige, der durch den Fremden aus Elea belehrt wird.

IV. Der wahre Staatsmann: ›Politikos‹ Politike techné oder: Nomos und Denken 1. Das Feld politischer Philosophie und damit der Spannung zwischen Philosophie und Politik hat Platon noch einmal in einem Dialog aufgenommen, der konsequent den Weg der Dialektik geht: im ›Politikos‹. Man könnte diesem Dialog auch eine besondere Nähe zu dem ungeschrieben gebliebenen Dialog über den Philosophen zuweisen, denn die Philosophen sind in der Linie der ›Politeia‹ die wahren Staatsmänner und dem Sokrates wird, anders als Solon oder Perikles, der staatsmännische Rang zugewiesen. Dieser Eindruck wird dadurch noch verstärkt, dass das Gespräch der Fiktion immanenter Chronologie zufolge auf die Frage nach dem Sophisten folgt. Diesen »im Netz einzufangen« und damit offenzulegen, was der Philosoph nicht ist, ist die Voraussetzung dafür, den wahren Staatsmann bestimmen zu können. Diese indirekten Verweise werden durch weitere Momente unterstrichen: Theätet begegnet auch im ›Politikos‹ als Gesprächspartner – der Mann also, nach dem der Dialog benannt worden war, der die Erzeugung des Wissens durch die Aporetik hindurch exemplarisch leistet. 75 Im ›Politikos‹ wird eine klassische Dihairesis angesetzt, also eine Begriffsunterscheidung, die zum Einzelbegriff (atomon eidos) führt: dem Wesensbegriff des Staatsmannes, der nicht mehr weiter teilbar ist. Die politische Kunst wird dabei als eine Erkenntnis verstanden, die mit Einsicht verbunden ist. Unter den einsehenden Erkenntnissen unterscheidet Platon wieder zwischen den nur kritisch-beurteilenden und den bestimmenden bzw. gebietenden. Offensichtlich ist die Herrscherkunst gebietend; ein Zug, der auch in Aristoteles’ Bestimmung ihres kybernetischen und architektonischen Charakters nachwirkt. 76 Die Linie auf den Philosophenherrscher wird damit noch weiter verVgl. J. Mittelstraß, Die Dialektik und ihre wissenschaftlichen Vorübungen, in: O. Höffe (Hg.), Platon, Politeia. Berlin 22005. 76 Vgl. dazu M. Riedel, Bürgerliche Gesellschaft hg. von H. Seubert. Stuttgart 2011, S. 55 ff. 75

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Der wahre Staatsmann: ›Politikos‹

dichtet, dass die politische Kunst als »selbst-gebietend« (259–260) ausgezeichnet wird. Gemeint ist damit, dass die Herrscherkunst nicht fremde Befehle oder Weisungen ausführt. Indirekt bedeutet dies aber auch, dass sie in der Selbstherrschaft über sich (enkrateia) begründet sein muss. In einer weiteren definitorischen Aufgliederung wird nach dem Bereich jener Herrschaft gefragt. Die politische Kunst wird als königliche Kunst (basilikes epistemes) charakterisiert, die, weil sie auf beseeltes, intelligibles Lebendiges gerichtet ist (261c), höher steht als die Baukunst, die eine formale Tektonik im Material verfügt. Unterschieden wird dann zwischen einer Einteilung nach der Art (eidos) und nach dem Teil (meros). Der Fremde aus Elea, der diese Unterscheidung anmahnt, charakterisiert sie prägnant so: »Dass nämlich, wenn es eine Art von etwas gibt, eben dieses notwendig auch ein Teil desselben Gegenstandes sein wird, wovon es eine Art genannt wird; dass aber, was ein Teil sei auch eine Art sein müsse, gar nicht notwendig ist« (263b). Diese Unterscheidung fungiert hier im Zusammenhang der Unterscheidung der verschiedenen Arten von Lebewesen und damit der Abgrenzung des Staatsmannes vom Hirten oder Viehzüchter. Sie ist aber auch auf einer tieferen Ebene wirksam und vorausgesetzt, wenn in der ›Politeia‹ von den verschiedenen Seelen-›eidé‹ die Rede ist. Wie schon gesagt sind damit eher ›Hinsichten‹, bzw. ›Arten‹, nicht aber ›Teile‹ im engeren Sinn gemeint. 77 Die Zusammenfassung der eleatischen Einteilung erbringt aber keineswegs ein befriedigendes Ergebnis – dass nämlich der König der Hüter über die Herde der aufrecht gehenden zweifüßigen Lebewesen ist (267c). Diese Einteilung wird »untadelig« genannt. Zugleich aber ist sie völlig unbefriedigend. Denn die Dihairesis ist unzureichend, um andere Personengruppen auszugrenzen, die auch mit der menschlichen Herde beschäftigt sind. Die Begriffe der Aufzucht und der Ernährung, die dafür gebraucht werden, sind von einer metaphorischen Weite. Sie umfassen die Paideia ebenso wie die physische Ernährung. Mithin wird deutlich, dass die Analogie der politischen Sphäre zur Zucht nicht aufgeht. Vordergründig zeigt sich dies darin, dass bei der TierVgl. J. Annas, On the intermediates, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 57 (1975), S. 146 ff., zur Orientierung auch: K. Düsing, Ontologie und Dialektik bei Plato und Hegel, in: Hegel-Studien 15 (1980), S. 95 ff. Gliederungsprinzipien der Psychoanalyse und des Seelenapparates verlaufen in sprechender Analogie dazu.

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zucht der Hirte auch für die Ernährung und Medizin zuständig ist. So ist es beim Menschen nicht. Es bedarf vielmehr der Fertigkeiten, die nicht nur »für die Erhaltung der Menschen sorgen, und zwar nicht nur der zur Herde gehörigen Menschen, sondern auch der Herrscher selbst« (268a). Er ist also selbst von Rahmenbedingungen der Personen abhängig, die sich um die Ausgestaltung von Handel und sonstiger Versorgung kümmern. Dahinter ist ein tieferliegendes Problem verborgen, das auf die Legitimierbarkeit der Herrschaft von Menschen über Menschen verweist: dass nämlich der Herrscher zur selben Gattung gehört wie die Beherrschten. Dies zeigt der Mythos von den beiden Weltaltern; einem ersten, das des harmonischen Umlaufs, in dem der Kosmos göttlich bestimmt gewesen ist (269e) – in diesem Kronoszeitalter seien selbstverständlich göttliche Hirten über die erdgeborenen Menschen gesetzt gewesen. Anders ist es im späteren, der göttlichen Präsenz abgewandten Weltalter (272e). Die Menschen sind sich selbst überlassen und müssen deshalb auch über ihresgleichen herrschen. Darin liegt eine letztlich unlösbare legitimatorische Aporetik. Der Mythos hat eine heuristische Aufgabe: Die Bestimmung einer königlichen Webkunst sei ausschließlich einem göttlichen Weltalter zugewiesen. Wenn man sie auf die Epoche der Herrschaft von Menschen über Menschen überträgt, ist, wie nun deutlich gemacht wird, eine weitere dihairetische Unterteilung entscheidend: die Trennung in einerseits gewaltsame und andererseits freiwillige Herrschaft (biaio te kai hekousio) (276d). Mit ihrer Hilfe kann, scheint es, das Legitimationsproblem gelöst werden. Ist nun die Beweisführung an ihrem Ziel? Zunächst scheint es tatsächlich so zu sein. Der Fremde verweist allerdings auf das grundlegende Problem, das sich einstellt, wenn ein zu großes Gebilde geschaffen werden soll. Analoges konstatiert er auch bei Bildhauern. Dann würden zwar die Umrisse (das Schema) noch einigermaßen deutlich angezeigt (277c), die Einzelausführung und die Pigmentierung der Farben sei aber längst nicht austariert. Dies erfordert wieder eine mikrologische Ebene der Zwischen- und Übergangsstufen, wie Platon es exemplarisch im ›Philebos‹ einfordert. 78 Das Beispiel ist wieder einmal die Buchstabenschrift: Jeder Buchstabe muss gegenüber den anderen, benachbarten Buchstaben unterVgl. weiter unten, Siebtes Kapitel II. Siehe dazu auch J. Annas, On the intermediates, a. a. O., und E. E. Benitez, Forms in Plato’s Philebus. Assen, Maastricht 1989.

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schieden sein und jeder muss mit sich selbst identisch sein (278b). Dies zu klären ist nicht nur eine Frage der Sicherheit, die die Seele zu gewinnen sucht (278d), sondern offensichtlich auch der Friedensstiftung, weil doch »mit dem königlichen Geschlecht so viele andere um die Besorgung im Staate sich streiten« (279a). Das Beispiel, das zunächst gewählt wird – das der Webekunst – bringt zwei Elemente zusammen: einmal, dass jedes Gewebe aus Zusammenflechtung (symploke) und zugleich aus der Aussonderung (dihairesis) dessen, was nicht in das Geflecht einbezogen werden kann, gebildet werden muss. Zum anderen verteilen sich die beiden Fertigkeiten auf zwei Berufe: Die erstere liegt bei den Webmeistern selbst, die zweite bei dem ›Wollkämmer‹, einer Fertigkeit, die nur mit-ursächlich für die Webkunst ist. Diese Unterscheidung führt der Fremde im Dialog ausdrücklich an: »Solche Künste, welche die Sache nicht selbst verfertigen, den verfertigenden aber Werkzeuge reichen, ohne deren Anwendung das jeder Kunst anheimfallende nicht könnte verfertigt werden, diese nenne ich Mitursachen (synaitious), die aber, welche die Sache selbst verfertigen, Ursachen (aitias)« (281e).

An dieser Stelle (283c) zielt der Dialog auf eine Metaebene ab. Vordergründig geht es nur darum, wie ausführlich das Webbeispiel entwickelt werden soll, und damit um seine Angemessenheit für die politische Kunst. Auf diese Weise stellt sich aber auch die grundlegendere Frage nach dem Maß des Angemessenen (283c). Im platonischen Sinn bildet sich diese Distinktion als Unterscheidung zwischen relativen Maßverhältnissen einerseits (nach der Zahl) und dem absoluten Maß anderseits ab (283d). Die nur relative Messung, von der auch in der ›Politeia‹ die Rede ist (284a), müsste nach Platon die Kunstfertigkeit und die Werke, die sie hervorgebracht hat, zerstören. Deshalb bedarf es eines nicht-bedingten Maßes. Auch dieses beruht auf Messung (285a); doch der Maßstab dieser Messung ist die höchste Idee selbst. Jene Messung soll deshalb der »königlichen Kunst« (ibid.) vorbehalten sein. Offensichtlich ist die Unterscheidung im Maßbegriff auch erforderlich, um Erstursache und Mitursachen voneinander sondern zu können. Das relative zählende Maß wäre dann Sache der Mitursachen, das absolute Maß Sache der königlichen Kunst. Dieser Spur folgt der Dialog auch in der Abgrenzung von Hilfskünsten, die sich auf Werkzeuge und Nahrung beziehen (287d), und der Abtrennung 471 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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aller anderen Hilfsfunktionen wie Knechte, Kaufleute, Söldner, Mantiker und Priester von der königlichen Kunst (289c–290d). 2. Damit tritt die Untersuchung in ihr neuralgisches Stadium ein. Hier konzentriert sie sich nämlich auf die Frage nach der Unterscheidung zwischen Wahrheit und Lüge. Ähnlich wie in den Frühdialogen wird damit auch ein konkreter Anlass ins Auge gefasst. Es geht um diejenigen, die beanspruchen, wahre Staatsmänner zu sein, aber tatsächlich Tausendkünstler sind und nur Verwirrung stiften. Dezidiert wird auf die Crux in der Bestimmung des Sophisten verwiesen, das Sein des Nichtseienden: »Sollen wir nun, wie wir bei dem Sophisten durchsetzten, das Nichtseiende sei, weil dahin allein die Rede sich retten konnte, so auch jetzt durchsetzen, das Mehr und Weniger müsse messbar sein nicht nur gegen einander, sondern auch gegen die Entstehung des Angemessenen?« (284b–c).

Hier zeichnet sich auch eine gravierende Asymmetrie ab. In der Frage des Sophisten ist die Untersuchung auf eine Negativgröße gerichtet, im Fall des wahren Staatsmannes auf das positive Gegenstück. In jedem Fall legt der Dialog die Erwartung nahe, dass diese Unterscheidung angesichts der usurpatorischen Ansprüche besonders dringend erforderlich ist. 3. In diesem Sinn beginnt der Teil des Dialogs, der die Gestalt des wahren Staatsmanns freilegen soll, mit einer Herrschaftsformenlehre, die im Wesentlichen mit den Bestimmungen in der ›Politeia‹ übereinstimmt, aber eine andere Funktion hat. Der Fremde unterscheidet Monarchie, Oligarchie und Demokratie. Die Dreiheit werde zur Fünfheit, wenn die zuvor schon getroffene Leitunterscheidung von Freiwilligkeit oder Unfreiwilligkeit, Gesetz und Gesetzlosigkeit (291e) mit in Rechnung gestellt wird. Ebenso kommt die Differenz zwischen ›arm‹ und ›reich‹ zur Geltung, deren Reichweite Aristoteles dahin bestimmen wird, dass aus einem zwei Staatswesen hervorgehen. 79 Erst unter Einbeziehung dieser Raster sind Monarchie und Tyrannis, Aristokratie und Oligarchie zu unterscheiden.

Dazu F. L. Lisi, Einheit und Vielheit des platonischen Nomosbegriffes, a. a. O., S. 106 ff., siehe auch durchgehend B. Effe, Der Herrschaftsanspruch des Wissenden: ›Politikos‹, in: Kobusch, Mojsisch (Hg.), Platon, hier S. 208 ff., sowie derselbe, Das Gesetz als Problem der politischen Philosophie der Griechen: Sokrates – Platon – Aristoteles, in: Gymnasium 83 (1976), S. 302 ff. und H.-J. Oesterle, Platons Staatsphilosophie im Dialog ›Politikos‹. Gießen 1978.

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Der wahre Staatsmann wird allerdings nicht im Gefüge der Herrschaftsformen gefunden. Denn als eigentliches Kriterium wird, wiederum in Übereinstimmung mit der ›Politeia‹, die Kenntnis und Vernunftgemäßheit einer Herrschaft genannt. Nur sie könne das Legitimationsproblem auflösen: »Denn wer die königliche Kunst besitzt, den müssen wir, er mag nun regieren oder nicht, auch nach unserer vorigen Rede doch immer König nennen«, gibt der jüngere Sokrates zu bedenken (292e–293a). Der Fremde gibt darauf zu verstehen: »Sehr gut erinnert. Und daraus, meine ich, folgt, dass man die richtige Regierung bei Einem oder Zweien oder gar Wenigen suchen muss, wenn es eine richtige gibt« (293a 1 ff.). Das Provokationspotential dieser und der aus ihr hervorgehenden Aussagen wird in der Literatur selten gesehen. Es zeigt sich darin selbstverständlich nicht nur, dass die Demokratie implizit wieder ausgeschlossen wird. Vielmehr wird auch der Gegensatz einer Regentschaft mit und ohne Gesetze, mit und ohne Gewalteinwirkung, in Freiwilligkeit oder Unfreiwilligkeit marginalisiert, wenn nur die wahre Einsicht vorhanden ist. »Und wenn sie auch Einige töten oder verjagen, und so zu seinem Besten den Staat reinigen, oder auch Kolonien wie die Schwärme der Bienen anderwärts hinsenden oder ihn kleiner machen, oder Andere von außen her unter die Bürger aufnehmen […] solange sie nur Erkenntnis und Recht anwendend, ihn erhalten […] werden wir immer nach diesen Bestimmungen diese Staatsverfassung für die einzige richtige erklären müssen« (293d–e).

Zwischen Recht (dikaion) und positiven Gesetzen wird also eine klare Trennungslinie gezogen. Herausgearbeitet wird vielmehr eine konstitutive Schwäche des Gesetzes. Es kann im platonischen Sinn gar nicht ›akribes‹ (genau) sein, denn Gesetze bilden immer Allgemeinbestimmungen. Niemals können sie dem Einzelnen, weder der einzelnen Person noch dem Einzelfall, gerecht werden (294b–c). Die Verwandtschaft dieser Schwäche der Gesetze mit der Schwäche des geschriebenen Logos ist bemerkenswert. Das positive Gesetz, um das es hier ausschließlich geht, hat sogar selbst tyrannische Züge. Es sei »wie ein selbstgefälliger und ungelehriger Mensch, der nichts will anders als nach seiner eigenen Anordnung tun und auch Niemanden weiter anfragen lassen, auch nicht, wenn jemandem etwas Neues und Besseres gekommen ist« (294b–c). Deshalb ist eine Zurückhaltung in gesetzlichen Bestimmungen geboten. Sie sollen sich, so wie Aristoteles dies für die Praktische Philosophie programmatisch zeigen wird, auf die Angabe des 473 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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Umrisses begrenzen und nicht versuchen, die Einzelheiten im Detail auszuarbeiten. An diesem Punkt greift besonders prominent das mehrfach bei Platon benannte Beispiel aus der Medizin. Der Fremde im ›Politikos‹ vergleicht die Gesetze mit den Rezepten, die ein Arzt seinem Kranken hinterlässt, wenn er auf eine Reise geht. Wenn der Arzt aber zurückkehrt oder, wie ausdrücklich hinzugefügt wird, ein anderer, der über ähnliche Fertigkeiten verfügt, und wenn er wieder persönlich handeln kann, wird man vernünftigerweise nicht das abstrakte Formular seiner Urteilskraft vorziehen, die auf den individuellen Kranken zugeschnitten ist (296a). »Die nun gezwungen werden, gegen das Geschriebene und Hergebrachte anderes Gerechteres, Besseres, Schöneres als das bisherige zu tun, sprich: wenn diese sich nun über solchen Zwang beklagen wollen und ihre Klage soll nicht die allerlächerlichste unter allen sein, muss sie nicht eher jedes andere aussagen, als dass den Gezwungenen Schändliches und Ungerechtes und Böses widerfahren wäre von den Zwingenden« (296d).

Das positive Gesetz wird also im Sinn dieser Nomokratie durchaus bejahend festgehalten (297e). Es entspricht aber nur der zweitbesten Politie. Damit wird es auch als Mimesis charakterisiert. Nicht zufällig hat der jüngere Sokrates mit dem Mimesis-Begriff seine Schwierigkeiten: Das Abbild folgt zugleich der ›Metabasis eis allo genos‹, denn der in Wahrheit gerechte Mann handelt aus eigenem Willen. Er erkennt das höchste Prinzip und kann es zugleich am Einzelfall aufweisen. Am Schriftcharakter und an der Schwäche der geschriebenen Gesetze hat er nicht mehr Anteil. Außer Kraft gesetzt ist gegenüber einem solchen Mann auch das Diktum, dass man nicht weiser als die Gesetze sein dürfe (299c). Dies wäre mit dem Verdikt gleichzusetzen, dass man sich nicht eine authentische Heilkunde aneignen dürfe. Die unvollkommenen Staatsformen werden im ›Politikos‹ als bloße Einhegungen von Gewalt verstanden. Deshalb müsse man in ihnen am unveränderten und unveränderlichen Wortlaut des Gesetzes festhalten. Hier deutet sich die Berechtigung eines hobbesianischen bzw. insgesamt neuzeitlichen Ansatzes an. Die Mimesis der königlichen Kunst, des freien Urteilsspruches, kann jedoch, wenn sie von ungeeigneten Personen ausgeht, nur schändliche Resultate hervorbringen. »Wenn sie aber nun Unkundige sind und doch dergleichen tun, so versuchen sie freilich, das Wahre nachzuahmen, sie werden aber alles gar

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schlecht nachahmen. Sind sie aber Kunstverständige, dann wäre es nicht mehr Nachahmung, sondern eben jenes Wahrste und Richtigste selbst« (300d).

Die peinliche Beachtung der Gesetze hat also nur einen funktionalen Zweck: die Eindämmung der Gewalt. Das Untersuchungsziel gliedert sich damit auf: Es erweist sich als von höchster Bedeutung, Gewissheit darüber zu gewinnen, wer zu Recht als dieser königliche Mann gelten kann. Ebenso wichtig ist es, ihn kriteriologisch eindeutig von seinen unrechtmäßigen Nachahmern unterscheiden zu können. Eine sekundäre Aufgabe ist es, die gesetzliche Ordnung zu bestimmen. 4. Die Staatsformenlehre wird im Sinn dieser Aushilfe aufgenommen und weiter differenziert. Dabei wird die königliche Staatskunst aus der Tektonik der verschiedenen Verfassungen ausgegliedert. Die Herrschaftsformen Monarchie, die zur Tyrannis werden kann, Oligarchie und Aristokratie, sowie eine gesetzgemäße und eine gesetzlose Demokratie (302d) werden jeweils danach eingeteilt, ob sie gemäß dem Gesetz oder gegen das Gesetz ausgerichtet sind (302e). Hier ergibt sich also eine Normativität zweiten Grades, die die Aussonderung der eigentlich guten Staatskunst bereits voraussetzt. Die Usurpatoren, die an früherer Stelle wie ein aberwitziger Aufzug von »Kentauren und Satyrn« (303c) dargestellt worden waren, sind lediglich im scheinbaren Sinn Staatsmänner. Alle Vertreter der unvollkommenen Staatsformen werden in diesem Sinn ausgeschlossen. Bevor Platon zur Definition des wahren Staatsmanns kommt, setzt er aber eine Voruntersuchung an: Sie verweist auf die helfenden Fertigkeiten, Redner, Feldherren und Richter, die mit anderen Edelmetallen verglichen werden. Sie könnten das wahre Gold der königlichen Staatskunst hervorleuchten lassen. Unter Umständen sei es sogar möglich, dass sie selbst zu solchem Gold geläutert werden. Dies trifft etwa bei einer Rhetorik zu, die der wahren Staatskunst dient. Man kann diese Funktionen mit der Bewährung der Philosophen in der realen Polis in ein Verhältnis bringen, wie sie in der ›Politeia‹ charakterisiert wird. 80 Unbestechlichkeit und Sachgemäßheit müssen solche dienenden Künste und ihre Ausübung kennzeichnen.

H. Herter, Platons Staatsideal in zweierlei Gestalt, in: ders., Kleine Schriften, hg. von E. Vogt. München 1975, S. 259 ff.

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5. Der verschlungene und gleichwohl sehr präzise Gang des ›Politikos‹ mündet in die Bestimmung der königlichen Webkunst, die auf die Metaebene der Tugenden verweist. Diese selbst sind nämlich keineswegs einstimmig. Dies wurde bekanntlich schon in den Frühdialogen wie dem ›Charmides‹ angezeigt, und es wird auch die ›Nomoi‹ noch durchziehen. Die tendenzielle Spannung wird vor allem an zwei Tugenden deutlich: an Tapferkeit und Besonnenheit (306a ff.). Sie müssen nicht in einen Widerstreit geraten, möglich ist es aber. Die Verflechtungskunst des wahren Staatsmannes, die ›symploké‹, besteht darin, diese Widersprüche so zu verbinden, dass sie zusammen bestehen können (309b 1 ff.). Die Verflechtung der tapferen und besonnenen Gemütsart (310e ff.) begreift der Fremde als die Vollendung eines königlichen Gebildes. So wie in der Kosmogonie des ›Timaios‹ von dem göttlichen Band die Rede ist, 81 das den Kosmos zusammenfasst, wird auch hier von dem Band gesprochen, das »füreinander unähnliche und entgegengesetzt fortstrebende Teile der Tugend« (310a 1 ff.) sammeln kann. Die Aussonderung der nicht einschließbaren und bösartigen Naturen, die verhindern würden, dass die gute Staatskunst überhaupt zustande kommt, wird hier aber bereits vorausgesetzt. Herrscherin ist dabei nicht mehr die Nomokratie, sondern die königliche Webkunst selbst. Der ›Politikos‹ verfolgt zugleich eine anthropologische Orientierung. In der Einteilung der verschiedenen Herrschaftsverhältnisse wurde bekanntlich nach dem längeren und dem kürzeren Weg auf der Suche nach der wahrheitsfiniten Bestimmung des Menschen gefragt (265a 1 ff.). Dies führte auf die Unterscheidung von Teilen und Arten, auch als Reflexion der Aporetik, dass ein Exemplar derselben menschlichen Herde als Herrscher fungiert, wo es legitimerweise doch eines Gottes bedürfte. Der doppelte Ansatz bei der Frage nach dem Menschen verdient besondere Aufmerksamkeit, da in den platonischen Dialogen die Frage nach dem Humanum ansonsten mit besonderem Vorbehalt behandelt und meist ausgespart wird.

J. M. E. Moravčsik, The Anatomy of Plato’s Divisions, in: Exegesis and Argument. Studies in Greek Philosophy, presented to G. Vlastos. Assen 1973, S. 324 ff. Siehe auch Ch. L. Griswold, Politiké Epistêmé in Plato’s Statesman, in: J. P. Anton, A. Preus (Hg.), Essays in Ancient Greek Philosophy III. Albany 1989, S. 141 ff.

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Eine bedeutsame Zäsur im ›Politikos‹ tritt ein, als der Fremde aus Elea, der anstelle des Sokrates das Gespräch zunächst führt und damit die Verbindung zum parmenideischen Denken anzeigt, bemerkt, man habe sich bislang zweier Fehler schuldig gemacht, eines größeren und eines kleineren. Der größere bestehe darin, dass man die Bestimmung des Staatsmanns als über theoretische und gebietende Erkenntnis verfügenden Monarchen wie einen Gott und nicht wie einen Menschen behandelt habe (275a). Damit ist auch die Frage nach dem Philosophenkönigssatz nochmals aufgeworfen. Der kleinere Fehler hängt eng damit zusammen, denn die Herrschaft unter Menschen, der gleichen Herde, kann nie unangefochten sein. Dem endlichen Herrscher kann sein Machtanspruch auch streitig gemacht werden. Daher erzählt der Fremde aus Elea nun dem jüngeren Sokrates einen Mythos, eine der alten Erzählungen, die alle einen geheimen Ursprung haben, der selbst nicht erzählt werde (269b). Der Mythos unterscheidet zwei Weltalter, die in bestimmten Zeitabständen wechseln – er hat also eine kosmische Dimension. Im ersten Abschnitt seien die Götter Herrscher und Lenker der Welt, im zweiten seien die Menschen sich selbst überlassen. Brüche und Legitimationsprobleme, aber auch den Unterschied zwischen Natur und Geschichte finde man im ersten Weltalter noch nicht. Alles Sein folge einer zyklischen Ordnung. Die Alten stürben nicht und würden wieder zu Kindern (270e); die Menschen träfen auf keine widervernünftige Wirklichkeit. Den Kronoskindern ist es also vergönnt, »nicht nur mit den Menschen, sondern auch mit Tieren vernünftigen Umgang zu haben« (272b). Auch zwischen Leben und philosophisch-noetischer Verständigung gebe es keinen bemerkbaren Unterschied. Nachdem sich die Götter zurückgezogen haben, herrscht allerdings Chaos. Der Mensch steht macht- und schutzlos Tier- und Naturwelt gegenüber. Die Götter kommen ihm aber entgegen; so erhalten die Menschen Anteil am Feuer und an Fertigkeiten, die es ihnen erlauben, ungeachtet ihrer physischen Unterlegenheit, der Mängelwesennatur, doch zu überleben. 82 Auch das Wesen des Politischen und die Wirksamkeit des Staatsmannes ist also in diesem Weltalter keine Selbstverständlichkeit mehr. Der Mythos wird dann in ein propädeutisch-dihairetisches Verfahren einbezogen. Der Fremde aus Elea Dazu Chr. Horn, Warum zwei Epochen der Menschheitsgeschichte? Zum Mythos des Politikos, in: M. Janka und Chr. Schäfer (Hg.), Platon als Mythologe. Darmstadt 2002, S. 137 ff.

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beschreibt dieses Verfahren auch als einen diagonalen Schnitt (265a). Dadurch entstehen nicht Teile (meroi) – also Einzelentitäten – sondern eben Eide, Hinsichten und Aspekte des Ganzen (263a). Diese Unterscheidung wird angerissen, ihre Entfaltung jedoch auf eine andere, ruhigere Stunde vertagt. Dabei ist es eine sehr wesentliche Differenzierung, die etwa in der Seelenlehre der ›Politeia‹ Verwendung findet, aber nicht entwickelt und immer wieder übersehen wird. 83 Die Bedeutung wird auch durch den Zusatz: »Nur das nimm ja in Acht, dass du nicht etwa meinest, hierüber etwas genau Bestimmtes gehört zu haben« (263b) unterstrichen. Dass die dialektischen Subtilitäten nicht weitergetrieben werden, muss man keineswegs als Verweis auf Platons »ungeschriebene Lehre« interpretieren. Es hat seinen Grund unstrittig dialogimmanent in dem nur anfängerhaften Wissen des jüngeren Sokrates, dem vom dialektischen Verfahren nur »ein Teil« bekannt ist, nämlich die Dihairesis. Außerdem tut es nicht not, mehr zu sagen (267d). Eine Irritation ist ohnehin in der Dialogsituation unübersehbar. Der Fremde aus Elea hatte zunächst den Anschein erweckt, dass nur ein kleines Stück Weges zurückzulegen sei (265b) – nun wird aber deutlich, dass die unterscheidende Wesensbestimmung des Staatsmannes noch überhaupt nicht getroffen ist (268a). Der diagonale Schnitt der Dihairesis trennt jedenfalls eine Königsherrschaft (basileia), die aufgrund von Gewalt ausgeübt wird, und eine Herrschaft, die Zusammenschluss aus freien Stücken ist, voneinander (276e). Der Fremde verweist in unmittelbarem Anschluss an diese Aussagen darauf, dass der Aufweis (apodeixis) nicht zu Ende gebracht und dass das, was der Staatsmann sei, sich nur in Umrissen erkennen lasse (277b f.). Um den ausstehenden Schritt angemessen darzustellen, bedürfe es eines Beispiels (paradeigma) (277d), denn Beispiele stellten Unbekanntes neben Bekanntes, sie seien aus einem leichter einsehbaren Lebensbereich genommen. Die Wollwebkunst ist dieses, vermutlich vor allem weniger komplexe, Paradeigma. Es erfüllt freilich nur Hilfsfunktionen. So kann mit seiner Hilfe »etwas Richtiges« gesagt werden, »Bestimmtes und Vollendetes« aber nicht (281d). Dass das Beispiel nur Annäherungscharakter hat und den Fragenzusammenhang keineswegs erschöpfend zu Vgl. die versuchte Verhältnisbestimmung bei Chr. Horn, Kontinuität, Revision oder Entwicklung? Das Verhältnis von Politeia, Politikos und Nomoi bei Eric Voegelin und in der aktuellen Forschung. München 2001. Siehe auch Chr. Bobonich, Plato’s Utopia Recast. His Later Ethics and Politics. Oxford 2002.

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durchdenken erlaubt, wird schon darin grundgelegt, dass im Sinn einer früher getroffenen Unterscheidung (258b f.) die Webkunst eine praktisch dienende Erkenntnis, die Staatskunst aber eine theoretisch herrschende Erkenntnis ist. Immerhin trägt das Beispiel zur Unterscheidung zwischen »mitverursachenden Fertigkeiten«, wie der Herstellung von Werkzeug, einerseits und der eigentlichen Webkunst andererseits oder zwischen Mitursachen und eigentlicher Ursache (281d) bei. Eine zweite Unterscheidung hat wohl noch weitergehende Konsequenzen: die Distinktion zwischen verbindender und trennender Fertigkeit, die in der Webkunst zusammenkommen müssen (283a). Sie wird in der eigentlichen Begriffsbestimmung des Staatsmannes am Ende eine wichtige Rolle spielen. Nach dem Gesagten muss es nicht verwundern, wenn das Bild der Webkunst auch Bild für die Dihairesis, also einen Zweig der dialektischen Kunst ist. Sie berechtigt es, wie Hans Joachim Krämer sagte, dass der ›Politikos‹ »mit den Kernstücken des ›Theätet‹, des ›Gorgias‹ und besonders der ›Politeia‹« in eine Reihe gestellt werden kann. 84 Gefragt wird dabei auch auf einer Metaebene nach den angemessenen Proportionen eines jeweiligen Logos. Der ›Politikos‹ ist bekanntlich nicht frei von Umwegen und Exkursen. Doch die angemessene Länge einer Untersuchung lasse sich, so der Mann aus Elea, nicht abstrakt entscheiden, sondern nur nach seiner sachlichen Angemessenheit. Wer einen Logos für zu lang befindet, der hätte nach dem Maß der Dialektik zu zeigen, wie er kürzer zum selben Ziel geführt werden könnte. Damit steht aber die Frage nach dem Staatsmann nicht isoliert. Sie wird zugleich metatheoretisch zur Frage nach dem Maß der Philosophie; insofern ist die Frage, wer der wahre Staatsmann ist, zwar für sich selbst von Bedeutung, aber zugleich mit der Frage nach dem Philosophen und seiner Selbstunterscheidung vom Sophisten verknüpft. Jene Bestimmungen weisen daher auch auf den Philosophenkönigssatz der ›Politeia‹ und deren Behauptung des engsten Zusammenhangs zwischen der höchsten philosophischen Kenntnis und der Staatskunst hin. In jedem Fall hat es die ›Politikos‹-Frage mit der eidetischen Sphäre zu tun: »Denn das UnkörperH. J. Krämer, Arete bei Platon und Aristoteles, a. a. O., S. 146 ff. Siehe auch M. Kranz, Das Wissen des Philosophen. Platons Trilogie ›Theaitet‹, ›Sophistes‹ und ›Politikos‹. Tübingen 1986.

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liche als Größtes und Schönstes wird nur durch Erklärung und auf keine andere Weise deutlich gezeigt« (286a). Der methodische Vorrang und damit der paradeigmatische Charakter der konkreten Untersuchung werden von dem Fremden ausdrücklich betont. Im Sinn einer zielführenden Untersuchung gebiete dieser Logos, »dass zuerst das Verfahren [methodon] in Ehre sei, dass man der Teilung der Arten [dihairein] mächtig sei« (286d). Damit wird auf eine frühere Stelle zurückverwiesen, an der der Fremde eine Art Weggabelung im Untersuchungsgang konstatiert hatte. Man könne einen längeren und einen kürzeren Weg wählen (265a). Der jüngere Sokrates möchte beide Wege nacheinander gehen, was nicht möglich ist. Die Schrittfolge über die Dialektik erweist sich als umständlicher und schwieriger. Sie führt aber zugleich dazu, dass nicht im Sinn einer ›orthe doxa‹, einer richtigen Meinung, sondern im Sinne des begründeten Wissens die Dihairesis vorgenommen wird. Der metatheoretische Zugang führt vorrangig zur Unterscheidung zweier Arten von Messkunst. Sie wird in zwei Teile geteilt, einen nur relationalen, der das ›größer als‹ und ›kleiner als‹ in den Blick nimmt, und einen anderen, der »nach dem Angemessenen, Schicklichen, Gelegenen und Gebührlichen« (to metrion kai to prepon kai ton kairon) fragt und alles in den Blick nimmt, »was in der Mitte zwischen zwei äußeren Enden seinen Sitz hat« (284e). Diese Unterscheidung dürfte sich auf eine Differenzierung nach Arten der Zählkunst in einigen der Testimonien zur ungeschriebenen Lehre zurückführen lassen. 85 Sie ist aber auch in den Unterscheidungen der philosophischen von der nicht-philosophischen Mathematik in der ›Politeia‹ gegenwärtig. 86 Indem auf die Mitte zwischen den Eschata verwiesen wird, ist indirekt eine Verbindung zu den Mischungsverhältnissen gezogen, wie sie im ›Timaios‹ und im ›Philebos‹ expliziert werden. Das gute Leben muss ein nach dem eidetischen Urbild gemischtes Leben sein. Die Polis in Bewegung, das Bleibende in der Zeit wird also durchaus schon im ›Politikos‹ berücksichtigt. Der Fremde fasst seine dialektischen Klärungen so zusammen: »Die eine [Hinsicht] bezieht sich auf ihr Teilhaben an Größe und Kleinheit im VerVgl. Reale, Zu einer neuen Interpretation, S. 425 ff. M. F. Burnyeat, Platonism and Mathematics. A Prelude to Discussion, in: A. Graeser (Hg.), Mathematics and Metaphysics in Aristotle. Akten des 10. Symposium Aristotelicum. Bern 1987, S. 213 ff., ders., Plato on Why Mathematics is Good for the Soul, in: T. Smiley (Hg.), Mathematics and Necessity. Essays in the History of Philosophy. Proceedings of the British Academy 103. Oxford 2000, S. 1–81.

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hältnis zueinander, die andere auf das notwendige Wesen des Werdens« (283d). Wenn das eidetische Maß des Angemessenen, das die Mitte aus Kenntnis des Anfangs und des Endes bestimmt, nicht getroffen wird, würden »die Künste selbst und alle ihre Werke« einschließlich der Staatskunst zerstört (284d). Alle nennenswerten menschlichen Hervorbringungen, alles endliche Vermögen, Gutes und Schönes zu vollbringen, beruhen auf diesem Maß auf (284a). Das Beispiel vom Webmeister tritt in den unthematischen Hintergrund. Es bleibt aber durch bestimmte Signalwörter in Erinnerung, wie z. B. die Umschreibung der Polis als ein »Geflecht« (to plegma) (289c). Auf diese Weise entsteht ein Bild konzentrischer Kreise der Polisverfassung, die in der Sache aus der ›Politeia‹ vertraut ist, nun aber mit dialektisch-definitorischen Mitteln durchgeführt wird, die zum jeweiligen ›atomon eidos‹ führen. Entscheidend ist dabei erst die Sphäre der Nebenbuhler und Usurpatoren der wahren Staatskunst, die, wenn es an Einsicht mangelt, mit ihr verwechselt werden können (291a). Durch dichterisch eindrückliche Umschreibungen, in denen der Fremde aus Elea diesen »Schlaf der Vernunft« benennt und die Gegner des wahren Staatsmannes und Philosophen als ein seltsames Panoptikum auftreten lässt, wird nahegelegt, dass die Priester und Maniker den Mangel an Einsicht wesentlich selbst miterzeugen. Ihnen kommt es darauf an, mit dem wahren Staatsmann verwechselt zu werden, beruht doch ihre Macht eben auf dieser Verwechslung: »Denn viele der Männer gleichen den Löwen und Kentauren und anderen der Art; gar viele aber auch den Satyrn und den schwächeren aber gewandteren Tieren; oft verwandeln sie sich auch aus einer Gestalt und Eigenschaft in die andere« (291a). Legt man aber das Maß des Angemessenen zugrunde, so zeigt sich, dass sie von dem tatsächlichen Königtum, der ›basilike‹, weitgehend unterschieden sind, »gerade durch den Mangel an wahrer Wissenschaft (epistéme) und Kenntnis (techné)« (292c). Mehr noch: Sie sind »Tausendkünstler« und dürften rechtmäßig in der Hierarchie der Fertigkeiten überhaupt keinen Platz haben. Wenn eine strenge Dihairesis angelegt würde, die nicht nach dem Schein, sondern nach dem Wesentlichen sieht, wären sie darin ortlos. Obwohl der Mann aus Elea neben der dihairetischen auch eine zweite Spur legt, die über die Erkenntnis der verschiedenen Herrschaftsformen verläuft, so erweist sich die Herrschaftsformenlehre letztlich nur als Vordergrundansicht, die nicht zum wahren Staats481 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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mann führen kann. Nur negativ ist zu fragen, in welchen der nicht guten Herrschaftsformen sich wohl »am wenigsten schlecht« leben lasse, »denn schwer ist es in allen« (302b). Gewaltmaßnahmen wie Vertreibungen und Tötungen (293d f.) sind nicht der eigentliche Grund, weshalb in einer Polis schlecht zu leben ist. Dieser tritt vielmehr ein, wenn den Regierenden die richtige Einsicht fehlt. Die Zumutung besteht darin, dass der längere Weg der Dialektik eingeschlagen werden muss, dass gemäß der Aussage des Sokrates zuerst das Verfahren in Ehre zu halten ist und erst die »zweite Liebe« auf die konkreten Streitfragen bezogen werden soll (286d). Hält man sich daran, so verliert der Verweis auf »Erkenntnis« als leitendes Kriterium seine Leerheit. Es wird deutlich, dass erst im Sinn dieses »längeren Weges«, der weder in der ›Politeia‹ noch in den ›Nomoi‹ gewählt wird, die Betrachtung der Erkenntnisweise die Sache klären kann. Da das Zeitalter, in dem im ›Politikos‹ die Fragen der Ordnung zu thematisieren sind, das Zeitalter der von der Andersheit bestimmten Ordnung ist, in der grundsätzlich nur »zweitbeste Wege« offen stehen, 87 können zunächst nur Nachahmungen (mimeseis) der wahren politischen Fertigkeit gewonnen werden. Deshalb ist auch das mögliche Abbild von Miseren und Unzulänglichkeiten bestimmt. Das Urbild dagegen ist nicht zu erreichen. Dies wäre nur in einem göttlichen Zeitalter möglich. Unter diesem gleichen Zeichen der Vorläufigkeit steht die Explikation des verschriftlichten Nomos im ›Politikos‹. Auch in der ›Politeia‹ wird darauf verwiesen, dass der wissende und gesetzliche Mann zum verschriftlichten Gesetz Abstand nehmen kann (Politeia 425c). Die fixierende Schriftform der Gesetze und die Erfordernisse der Besonnenheit kann ein mit Allgemeinheitscharakter festgeschriebenes Gesetz gerade nicht erfüllen (294a). Auch im Fortgang kommt es deshalb nicht zu einer Rehabilitierung oder gar Inthronisation des geschriebenen Nomos (295c und 300a). Doch immer wird auf seine relative Bedeutung hingewiesen. Gesetze seien, so bekundet der Mann aus Elea, im Verhältnis zum wissenden Gesetzgeber mit den schriftlichen Anweisungen vergleichbar, die ein Arzt dem Patienten hinterlässt, wenn er selbst auf Reisen geht (295c).

Man erinnert sich an die Bestimmung der zweitbesten Seefahrt im ›Phaidon‹ XX. Vgl. J. R. Wallach, The Platonic Political Art. A Study of Critical Reason and Democracy. Pennsylvania 2001, der die verschiedenen Positionen der Bestimmung von Politik in ein Verhältnis zu bringen versucht. Siehe auch M. H. Miller, The Philosopher in Plato’s Statesman. The Hague, Boston, London 1980.

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Doch völlig unsinnig wäre es, wenn diese Hilfsmittel ein so großes Gewicht bekämen, dass der Arzt gehindert wäre, nach seiner Rückkehr anderes, besseres zu verordnen (296a). Den Grundmangel kann nur der gesetzmäßige Mann beheben: Nur er kann den Einzelfall berücksichtigen. 88 Die negierende Frage, unter welcher unzulänglichen Verfassung sich am wenigsten schlecht leben lasse, führt zu der Aussage, dass eine Gesetzesbindung unter Einschluss von Sanktionen, die den Frevler treffen, in jedem Fall einem anarchistischen Zustand allgemeiner Auflösung vorzuziehen ist (300a). Lediglich der philosophische Gesetzgeber, wenn er denn wiederkäme, wäre frei, die Gesetze zu verändern. 89 Das Sokrates-Beispiel vom gerechten Mann, der es verdient hätte, als der eigentliche Gesetzgeber Athens zu gelten, ist hier wiederum überdeutlich präsent. Im Nachklang des Höhlengleichnisses ist auch davon die Rede, dass eher die Vielzahl der Polisbürger dem Zwang zu unterwerfen sei, »Besseres und Schöneres als das Bisherige zu tun« (296d), als dass derjenige, der aus besserer Einsicht den verschriftlichten Kanon (gegrammena) und das Hergebrachte (patria) verändert, sich deshalb Verfolgung und Zwang ausgesetzt sieht. Die Frage nach dem »am wenigsten schlechten Leben« erschließt sich, als der Fremde bemerkt, alle Staatsverfassungen und die sie tragenden Gesetze seien nur Mimesis der »einen richtigen Politeia« (297c). Einige von ihnen seien besser, andere schlechter. Würde versucht, die ideale Staatsverfassung direkt nachzuahmen, so müsste dies zu Verzerrungen führen (300d). Verhältnismäßige Gerechtigkeit komme jenen Poleis nur zu, wenn die sie Beherrschenden wüssten, dass ihre Poleis nur mehr oder weniger schlecht sein können. Wenn sie selbst Kunstverständige wären (entechnoi), »dann wäre es nicht mehr Nachahmung, sondern eben jenes Wahrste selbst« (alethestation ekeino) (300e). Bei aller Etablierung der Abbildrelationen darf nicht vergessen werden, dass diesen immer ein Mangel eigen ist. Deshalb geht der Wolfgang Wieland hat im Grundsätzlichen gezeigt, dass Gesetze nicht über ihre eigene Anwendung befinden können. Siehe ders., Kants Rechtsphilosophie der Urteilskraft, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 52 (1998), S. 1 ff. 89 Nicht nur er allein, sondern im Sinne der Urbild-Abbild-Relationen auch die ihm [an Einsicht] Ähnlichen. Vgl. dazu Seubert, Polis und Nomos, a. a. O., S. 463 ff., siehe zur strukturellen Fortschreibung auch G. Seel, Die Rechtfertigung von Herrschaft in der ›Politik‹ des Aristoteles, in: G. Patzig (Hg.), Aristoteles’ ›Politik‹. Akten des XI. Symposium Aristotelicum. Göttingen 1990, S. 32 ff. 88

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Verdeutlichung der Mimesis-Verhältnisse ein geradezu karikierender Passus voraus, der Einsichtslosigkeit und den tyrannischen Charakter der Volksherrschaft verglichen mit Arzt und Steuermann hervorhebt, die besser über ihre »technai« gebieten und nur durch Umstände von deren Handhabung abgehalten werden könnten (299a). Die Differenz zwischen der Einsicht des wahren philosophischen Staatsmannes und dem Druck der Vielen wird deutlich, fast drastisch zur Darstellung gebracht. Dieser Eindruck wird in dem Denkdrama durch den Widerhall noch verstärkt, den die Ausführungen beim jungen Sokrates finden. Er erschrickt regelrecht vor den Aussagen. Wenn es sich nämlich so verhielte, wie es gezeigt wurde, so würden, sagt er, »uns [offenbar] alle Künste gänzlich untergehen und könnten sich auch in Zukunft gar nicht wieder erzeugen, wegen des das Forschen untersagenden Gesetzes; sodass das Leben, welches jetzt schon schlecht genug ist, zu einer solchen Zeit gar nicht würde zu leben sein« (299e–300a).

Hier ergibt sich die Kehrseite der Aussage, dass alle wirklichen Künste und Wissenschaften auf dem Maß des Angemessenen beruhen müssen: Wenn es sich so verhält, dann müssen sie untergehen, wo immer dieses Maß verloren geht. Die Herrschaftsformenlehre weicht von jener in der ›Politeia‹ ab. Denn eine sich auflösende Demokratie bis zur Anarchie gilt gerade nicht als schrecklich, könne sie doch weder im Guten noch im Bösen Wirksamkeit entfalten. Denn »die Herrschaft der Menge aber [ist] ganz schwach und weder im Guten noch im Bösen etwas Großes vermögend« (303a). Die Zersplitterung hemmt nicht nur die Verwirklichung der Gerechtigkeit, sondern auch der Übel (303e). Die Politiker in diesen Herrschaftsformen sind nicht ›Politikoi‹, sie sind vielmehr Agenten des Aufstandes: ›Stasiastikoi‹ (303c). Sie können nicht die Polis formen, sondern allenfalls das Chaos verwalten. Daher könnten sie, selbst wenn sie es wollten, nur auf Partialinteressen ausgerichtete Parteimänner sein, nicht aber Staatsmänner, die die Polis-Einheit bewahren. Die Summe ist rasch gezogen: dass nämlich alle nicht auf der ›politike techné‹ beruhenden Staatsordnungen maßlos bzw. maßvergessen sind und tendenziell Aufruhr bedeuten. Die Überlegungen zu den Hilfsursachen der wahren Staatskunst sind hier eingezeichnet. Sie tradieren Elemente der platonischen Frühdialoge weiter: Sie können Hilfsdienste jener königlichen Kunst sein, die von allen anderen Kunstfertigkeiten so unterschieden ist, wie andere edle Erze vom Gold abgesondert werden müssen (303d). 484 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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Keinem der Hilfsdienste, auch nicht den wesentlichen, kommt eine Kompetenz der Mitentscheidung zu. Höher als die Kunstfertigkeiten selbst steht indes das Wissen, das darüber zu befinden erlaubt, »ob man etwas lernen soll oder nicht« (304c).

Ausblick ins Freie: ›Physiké areté‹ Das Paradigma, also das nebenher gezeigte Urbild von der Webkunst wird im ›Politikos‹ nur dort in Gebrauch genommen, wo es um die Bestimmung der eigentlichen Staatskunst geht. Es zeigt sich zunehmend, dass das Paradigma deshalb trägt, weil die gemeinsame Praxis von Staats- und Webkunst nicht allein darin besteht, dass beide Künste der Fürsorge dienen. Dies wäre für die Wesensbestimmung der Staatskunst nicht ausreichend. Damit würde auch der erreichte Status der Dihairesis unterschritten. Denn Fürsorge zu üben ist keineswegs ein ausschließliches Merkmal der Staatskunst. Es sind die beiden bereits bekannten grundsätzlichen Phänomenbezüge, die sich an der Staatskunst aufweisen lassen. Weben ist Zusammenflechten (symploke) und Trennung (dialytike) des faktisch Zusammenhängenden, das jedoch in Wahrheit und normativ nicht zusammengehört (281a). Beide Phänomene sind an der Staatskunst aber in einem grundsätzlichen, auf die Tugenden und ihren Widerstreit bzw. ihre Harmonie zielenden Sinn aufzuweisen. Ihr obliegt es, insbesondere zwischen den beiden Tugenden, die in Konflikt miteinander geraten können, zu vermitteln: der Tapferkeit (andreia) und der Besonnenheit (sophrosyne). Die Spannung war bereits in einer Reihe von aporetischen Frühdialogen wie dem ›Laches‹ thematisiert worden. 90 Diese Spannung könnte im Sinn der sophistischen Auffassung von der Teilbarkeit der Tugend verstanden werden, die im Protagoras (329c ff.) erörtert und verworfen worden war – im Namen der Einzigkeit und Unteilbarkeit, die im Begriff der ›areté‹ liege. Der Fremde belehrt Sokrates deshalb, dass man das Gesagte keineswegs als eine »gewöhnliche Auffassung« (logon oudamos) (306b) nehmen dürfe. Obgleich es unstrittig ist, dass die Tugend eine ist, sind ihre Einprägungen in verschiedene menschliche Temperamente unterschiedlich. Das eine ist dabei vom anderen Vgl. weiter oben, Drittes Kapitel pass. Siehe auch: M. Schofield, Approaching the Republic, in: Chr. Rowe und M. Schofield (Hg.), The Cambridge History of Greek and Roman Political Thought. Cambridge 2000, S. 190 ff.

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zu unterscheiden. 91 Dies meint die Bemerkung: »In allen Dingen müssen wir wohl alles das aufsuchen, was wir zwar schön nennen, es aber in zwei entgegengesetzten Arten aufstellen« (306c). Damit ist darauf verwiesen, dass die Relationierung von Tapferkeit und Besonnenheit und ihre Gewichtung deutlich nach Art der jeweiligen Temperamente differieren werden. Menschliche Temperamente sind so verfasst, dass das, was der eigenen Neigung entspricht, eher gelobt, und das, was entgegengesetzten Neigungen entspricht, eher getadelt und zurückgewiesen werden wird (307d). Auch der Zeitpunkt, zu dem eine Tugend gewählt wird, spielt eine Rolle: Übertriebene Sanftheit in frühen Jahren könne etwa zu Schwächung und Verweichlichung in späteren Lebensphasen führen. Hier wird einer der evidenten Gründe für die Notwendigkeit einer Paideia genannt, die dem Menschen Maß und Harmonie gibt. Die charakterologischen Details können hier unberücksichtigt bleiben. Sie führen zu der Einsicht, dass sich die Einheit der ›areté‹ nur in der Zerrissenheit der menschlichen Natur manifestiert. Das Maß ist insofern immer durch Maßlosigkeiten getrübt. Der Mythos von den zwei Weltaltern bleibt insofern im Hintergrund leitend. Im Aion der Zerrissenheit ist das, was von sich aus schön und verbindend sein soll, nur in Entgegensetzungen zu vergegenwärtigen. Dieser Widerstreit zeigt sich im Verhältnis der Seele zu sich selbst ebenso wie im Zusammenleben der Menschen. Er betrifft die ethische Grundfrage, wie man leben soll, die sich der Einzelne vorlegt, und er betrifft die Sphäre der Polis gleichermaßen. 92 Als bloße Mimesis, die die Transformation in eine andere Gattung verlangt, erweist sich also jeder menschliche Versuch, nach der Tugend zu leben. Das Urbild-Abbild-Verhältnis im ›Politikos‹ kann daher auch die Exponierung der Frage nach einem »möglichen Besten« in den ›Nomoi‹ erst begründen. Man kann daher mit Krämer festhalten, dass sich im ›Politikos‹, anders als in der ›Politeia‹, »die Aufgabe einer Bewältigung der physis, der natürlichen Grenze jeder Paideia, mit verstärkter Dringlichkeit« darstellt. 93 Er stößt damit in den Bereich der endlichen Konkretion absoluter Aufgaben, der nur teilweise durch Musik und Gymnastik gelöst werden kann. 94 Dazu Seubert, Polis und Nomos, S. 462 ff., siehe auch den hilfreichen Sammelband Chr. Rowe (Hg.), Reading the Statesman. Proceedings of the III Symposium Platonicum. St. Augustin 1995. 92 Dazu M. van Ackeren, Das Wissen vom Guten, a. a. O. 93 Krämer, Arete, a. a. O. S. 148 ff. 94 Vgl. ibid., S. 153 ff. 91

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Der wahre Staatsmann: ›Politikos‹

Der wahre Staatsmann hat sich gerade darin zu bewähren, dass er die Ordnung des Guten in die gestörte erste Natur einführt. Negative und positive Seite seiner Betätigung gehören dabei zusammen: Negativ kann er jene Naturen, in denen der Widerstreit ausbricht, nur aus der Polis aussondern (308c). Dies tut er gegenüber Frevlern und Gottlosen (308e–309a). Ihnen gegenüber endet auch die Fürsorgepflicht. Sie sind zwar in das Staatsgewebe faktisch eingewoben, doch sie passen nicht dazu. Anders die positive, verbindende Kraft: Sie gilt nach den Worten des Fremden aus Elea denen, die fähig sind, »gebildet zu werden und kunstmäßig Vermischungen miteinander einzugehen« (309b). Doch in ihrer ersten Natur bleiben sie der Entzweiung ausgeliefert. Die aristotelische terminologische Unterscheidung erster und zweiter Natur, Vorprägung der Differenz von Natur und Kultur, 95 findet sich selbstverständlich bei Platon nicht, auch nicht im ›Politikos‹. Doch in der Sache schimmert diese Fragestellung bereits durch. Die Lehre von den Seelenteilen der ›Politeia‹ ist hier nicht präsent. Allerdings sollte man wohl nicht so weit gehen wie Krämer, der davon spricht, dass man es mit zwei völlig zusammenhanglosen Phänomenkomplexen zu tun hätte, die »im Grunde nur den letzten Zweck, die Norm der vollen Areté«, 96 miteinander teilten. Unstrittig lässt der ›Politikos‹ die »gemeingriechische Polistradition, die kanonische Zweiheit von Musik und Gymnastik hinter sich« und stößt, wie Krämer es nennt, »zu einer radikaleren Diagnose der physischen Bedingtheiten des Menschen und damit zu einer prinzipielleren Erfassung der erzieherischen Aufgabe und ihrer Grenzen« vor. 97 Dennoch gibt es auch eine Kontinuität – wird doch die Lehre von den widerstreitenden Temperamenten in eine Lehre innerhalb der einzelnen Seelenteile und nicht zwischen ihnen überführt. Man wird daran denken dürfen, dass im ›Politikos‹ unreine Mischungen und Überlappungen zwischen diesen Seelenteilen als der Zustand bekannt sind, in den das göttliche Geschlecht verstrickt ist. Monströs, also überwältigend tierhaft, bleiben die Kontaminationen des Willens mit dem Begehren. Die Verbindung nach dem angemessenen Maß zwischen diesen Vermögen zu vollbringen, ist ein königliches, philosophisches, ein eigentlich göttliches Unterfangen. 95 96 97

Krämer, a. a. O., S. 148. Ibid., S. 151. Ibid.

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In dem dämonischen Menschengeschlecht ist der Widerstreit zu heilen. Das Band zwischen ihnen wird im ›Politikos‹, ähnlich wie im ›Timaios‹, als Einprägung eines göttlichen Urbildes in die dunkle Notwendigkeit der ungeordneten Natur verstanden. Die positiven Gesetze firmieren dagegen als menschliche Bänder. Hier ist wohl auf ein Regularium verwiesen, wie es ähnlich in den ›Nomoi‹ ausgeführt wird. »Die übrigen Bande menschlicher Art sind, wenn nur dieses göttliche vorhanden ist, weder schwer zu sehen, noch wenn man sie gesehenen hat, schwer in Anwendung zu bringen« (310a). Die Schwierigkeiten liegen auf einer anderen gravierenden Ebene. Entzweiung und Zwietracht machen vor dem Staatsmann nicht halt. Es ließe sich zwar ein Staatsmann denken, der die beiden kontrastierenden Tugenden, Besonnenheit und Tapferkeit, in vollendetem Maß in sich vereinigt – dieser wäre im Sinn des ›Politikos‹ der geborene Alleinherrscher. Doch ist diese Koinzidenz offensichtlich so unwahrscheinlich, dass ein zweites Modell hinzugefügt wird, die Herrschaft von Zweien oder Mehreren, in der »beides miteinander vermischt« ist (311a); keine Identität also, sondern eine Vermischung nach dem idealen Maß, wie sie ähnlich im ›Philebos‹ angezeigt ist. Dadurch würde die Seeleneinheit, von den verschiedenen Temperamenten her, verwirklicht werden. In den Polis-Raum übersetzt und ausgehend vom Verhältnis der großen und der kleinen Schrift bedeutete dies aber, dass an diesem Idealpunkt nicht eine Mimesis der ›mia politeia‹ im Blick steht (297c), sondern diese selbst realisiert wird. Damit bildet sich das »herrlichste und trefflichste aller Gewebe« (311c). Hier ist der höchste Punkt und Gipfel der Betrachtung erreicht, und es wird deutlich, dass sich die »ganze Tugend« nur in der Wirksamkeit des wahren Staatsmannes manifestiert. Seine Idee und Wirksamkeit sind ein Grenzfall. Die Tugend, die er realisiert, wird als ›kyria areté‹, als Herrschaftstugend, bestimmt. In der späteren Akademie wird sie zudem als ›physike areté‹ benannt; ein Begriff, der bei Platon noch nicht vorkommt. Mit welchem Recht wird er gebraucht? Wenn man diesen Begriff vor dem Hintergrund des ›Politikos‹ bestimmt, so ist von Physis im doppelten Sinn die Rede: im Sinn der entzweienden ersten Natur, die es zu beherrschen gilt, und im Sinn der ›areté physeos‹, der Vortrefflichkeit gegenüber der Natur. In diesem zweiten Sinn geht es um die Physis der Natur selbst, die gemäß der göttlichen Einsicht im Werdenden und Vergehenden zur Geltung gebracht werden soll. Dass die Physike areté die Tugend der Physis selbst ist, lässt sich dann auch dahingehend formulieren, dass jene Verbindung von 488 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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erster und zweiter Natur, die durch Unordnung und Zwietracht menschliches Dasein begleitet, in der einen ›areté‹ in eine sinnhafte Ordnung kommt. 98 Doch vor diesem höchsten Punkt der Betrachtung kommt ein weiterer Fluchtpunkt ans Licht: Die Frage nach dem Staatsmann führt in der Tendenz bereits auf jene nach dem Philosophen. Trennung und Verflechtung sind politische, staatsmännische Kenntnisse; sie sind aber zugleich die beiden philosophischen Grundverfahren der Dialektik. Die Dialektik gibt, wenn man diesen Gedanken weiterführt, selbst das Paradigma des Politischen ab; allerdings in Variation der Mimesis-Lehre des ›Politikos‹ (300d) nicht im Sinn der Nachahmung, sondern der Sache selbst, wenn man sie so tief auffasst wie möglich. Wenn man diese Deutung einmal in den Blick genommen hat, die möglich, aber nicht zwingend ist, so kann auch das Szenario sie weiter erhellen. Der schweigende Sokrates ist im Dialog hintergründig gegenwärtig. Er trägt selbst nichts Wesentliches zum Disput bei, lenkt ihn aber subtil durch seine Präsenz. Ebenso ist im ›Politikos‹ nur die halbe Dialektik präsent – die Dialektik nämlich als Dihairesis. Der große Zusammenhang der ›Symploke‹ bleibt aber aus. Er ist im Sinn einer künftigen Ergänzung und Vervollständigung in den Blick zu nehmen.

V.

›Kratylos‹ – Sprache, Sache und Idee

Sprachkonvention: Hermogenes Auch in dem sprachphilosophischen Dialog ›Kratylos‹ wird eine für die Auseinandersetzung mit der Sophistik grundlegende Problematik weiter erörtert; die Frage, ob Benennungen (onomata) ihre Bedeutung ›physei‹ oder ›thesei‹ empfangen haben, betrifft die Leitunterscheidung in der Auseinandersetzung mit den Sophisten. Die vollständige Naturgemäßheit der Benennungen behauptet bekanntlich Kratylos; der Verweis auf eine bloße Sprachkonventionalität kommt von Hermogenes, seinem Gesprächspartner. Es ist ersichtlich, dass die Hermogenes-These an der unbegrenzten Eigengesetzlichkeit und Macht jedweden Logos festhält und insofern die Vgl. dazu H. Krämer, Die Idee des Guten. Sonnen- und Liniengleichnis, in: Höffe (Hg.), Platon ›Politeia‹, a. a. O., S. 179 ff.

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sophistische Tendenz vom Setzungscharakter der Tugenden auf die Sprachphilosophie überträgt. Die Frage ist daher, was im Fall einer fundamentalen Umbenennung geschieht. Über die Kraft des Logos, Benennungen vorzunehmen, kann die Konventionsthese keine Aussagen treffen. »Wenn ich den Menschen Pferd nenne und das Pferd Mensch, so werde es so heißen« (385a). Hermogenes kann diese Auffassung aber nicht verteidigen, da er im Unterschied zu den Sophisten den Unterscheid zwischen ›wahren‹ und ›falschen‹ Benennungen festhalten möchte. Durch Hermogenes’ Eingeständnis zieht sich mithin eine Bruchlinie. Denn obgleich er eingesteht, man könne wahre und falsche Worte sagen, will er festgehalten wissen, jeder könne ein Ding mit dem Namen belegen, den er ihm gibt. Unverkennbar ist hier die Nähe des Protagoras-Satzes vom Menschen als dem Maß aller Dinge. Dieser Satz unterminiert aber, wie Sokrates zu verstehen gibt, jede Unterscheidung zwischen Besonnenheit und Unbesonnenheit (phronesis und aphronesis). »Denn es wäre ja in Wahrheit nicht Einer vernünftiger als der Andere, wenn, was Jedem schiene, auch für jeden wahr wäre« (386d) und wenn die Wahrheit, so müsste man ergänzen, nur die jedesmalige, jeweilige Wahrheit sein würde. Sokrates verweist demgegenüber darauf, dass jedes Seiende ein Wesen habe. Dafür steht in diesem Zusammenhang nicht der Begriff der ›ousia‹, sondern des ›pragma‹. Es verdeutlicht, dass die Erschließung einer Wirklichkeit aus dem Umgang den Primat vor jeder theoretischen Annäherung hat. Denn alle Theorie ist ihrerseits wieder Handlung: nämlich ›pragma‹. Heideggers Rede von der »Umgangsdimension« in ›Sein und Zeit‹ kann insofern nicht nur an Aristoteles, sondern auch an Platon anknüpfen. 99 Dabei ist entscheidend zu beachten, dass eine jede Handlung ihre eigene Natur hat (autos physis): Man kann nur dann sachgerecht schneiden, wenn man gemäß der Natur des Schneidens operiert (387a). Richtig reden werde dann doch nur, wer »vermittels dessen, was der Natur des Sprechens und Gesprochenwerdens angemessen ist«, spricht (387c). Das Benennen und mithin die Ebene der treffenden Heidegger, Sein und Zeit, a. a. O., S. 50 ff. u. ö. Zur Orientierung über den ›Kratylos‹ vgl. D. Barbarić, Spiel der Sprache. Zu Platons Dialog Kratylos, in: Internationales Jahrbuch für Hermeneutik 1 (2002), S. 39 ff. Siehe auch R. Barney, Names and Nature in Plato’s Cratylus. New York 2001.

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Bezeichnung im Wort ist »ein Teil der Rede«, der konstitutive Teil freilich, denn »durch Benennung besteht jede Rede« (387c). Vor diesem Hintergrund wird nun der Akt des Benennens zunächst in seiner Struktur, sodann aber in seinem fingierbaren Anfang aufgewiesen: Organon und Medium der Benennung ist das Wort (388a). Hermogenes kann nicht angeben, wer der kompetente Benenner ist. Sokrates deutet an, dass es, ebenso wie der eigentliche Gesetzgeber in den ›Nomoi‹ nicht ein Mensch, sondern ein Gott sein müsse. Er bemerkt, dass es immer schwierig sei, die wahren Meister zu benennen. In jedem Fall werden die Benennungen von einem Gesetzgeber verfertigt, der sich nach den Urbildern der Dinge richten wird. Er ist offensichtlich dem Phytourgen in der ›Politeia‹ oder dem Urnomotheten im ›Timaios‹ verwandt. 100 »Und dieser ist, wie es scheint, der Gesetzgeber [nomothetes], von allen Künstlern unter den Menschen der seltenste« (389a). Die Urbilder der Dinge wird er so genau wie möglich in den Tönen und Silben (phtongus kai syllabas) einprägen. Damit ist das Verfahren vorbereitet, das im Weiteren geübt werden wird: nämlich eine etymologische Wortsinnforschung. Der kritische Umgang mit dieser physishaften Sprachschicht setzt sich der Schwierigkeit aus, dass es unterschiedliche Sprachen gibt. Damit ist schon eine wichtige Bestimmung des ›Kratylos‹ angezeigt: Das Wesen kann nicht nur in genau einer Sprachform und der genau identischen Wortfindung ausgesagt werden. Im Bild gesprochen: Übereinstimmung von Sinn und Bedeutung bemisst sich nicht danach, dass der Schmied seine Gestalt in genau dasselbe Eisen legt, sondern dass es dieselbe Gestalt (idea) ist (390a). Auch eine Analogie zur Lehre vom brauchbaren Kunstwerk in der ›Politeia‹ wird hier eingeführt. Denn die Aufsicht über diese nachgerade göttliche Benennungskunst muss derjenige haben, der sich ihrer bedient und sie gebraucht. Am Ende des ›Kratylos‹ wird der Dialektiker als derjenige gezeigt, der diesen sachgemäßen Gebrauch leistet. Dieser Ausgangspunkt führt zu der etymologischen, gemeinschaftlichen Untersuchung, in der sich Sokrates ausdrücklich als nicht vollendet erklärt (390e–391b). Die Befragung der Berechtigung von Benennungen folgt keineswegs der Matrix sokratischer Definitionsdialoge. Sokrates hat darin Hier weiter oben, Fünftes Kapitel III zu Politeia X. Siehe auch K. Gaiser, Name und Sache in Platons Kratylos. Heidelberg 1974.

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keine der Rechenschaft fähige Kenntnis, dies wird nur allzu deutlich unterstrichen. Damit erhebt sich die Frage, bei wem man sich Rat holen will. Erwogen werden die Autorität der Sophisten und des Homer. In der Sache wird ein homerisches erstes, genealogisches Gesetz aufgestellt, das Benennung und Herkunft in ein Folgeverhältnis bringt: »Gleich Geborene soll man auch gleich nennen«. Also solle man dem von einem König Abstammenden seinerseits wieder einen königlichen Namen geben (394a ff.), ebenso ungleich Geborenen wieder einen ungleichen Namen (395a). Die homerische epische Genealogie (an die Seite zu stellen wäre ihr die Genealogie der Geschichtsschreibung) erweist sich aber deshalb als untauglich, die wahren Benennungen zu finden, da sie den alten und aufgrund seines Alters treffenden Namen an winzigen Abweichungen der Buchstabenfolge gegenüber der heute gebräuchlichen Form festmachen will. »Wer in den Wörtern wissend ist, der wird nur auf das Bedeutsame als ihre Kraft sehen« (395a); dies aber ist eben das ›onomaton‹, die Nennung, über die in der etymologischen Wortkenntnis damit selbst noch nichts ausgemacht ist. Die Aussage über den Status seiner homerischen Aussagen, zu der Sokrates durch Hermogenes’ Bewunderung gebracht wird, müsste den Sokrateshörer und den Leser platonischer Dialoge indes zweifach skeptisch stimmen. Er erscheint wie ein atechnos, ein manisch Begeisterter, der »plötzlich [exaiphnès] Orakelsprüche von sich gibt« (396d); dies habe er wohl »vom Euthyphron«, gesteht Sokrates ein. »Denn ich war diesen Morgen viel mit ihm und hörte ihm zu. Und so scheint es, dass er in seiner Begeisterung mir nicht nur die Ohren angefüllt hat mit seiner herrlichen Weisheit, sondern auch die Seele muss sie mir ergriffen haben« (396d). Der Verweis auf den Scheinkundigen in der Behandlungsweise der Götter, der aber nicht einmal im Umgang mit seinem eigenen Vater unterscheiden kann, was recht und was widerrechtlich ist, zeigt, dass die homerische Sprachlehre und eine aus ihr gewonnene Theologie allein nicht den Ausschlag geben kann.

Die Natur der Dinge in den Worten: Kratylos’ These Dennoch sind diese homerisch-euthyphronischen Überlegungen nicht einfach als ironisches Kinderspiel, als ›paidia‹, zu kennzeichnen. Es gibt einen wichtigen Hinweis darauf, wie sie richtig gelesen wer492 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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den sollen. Sokrates spricht von der ›daimonia‹ des Euthyphron (396d); sodann wird das Wesen der Daimones bestimmt, die identisch mit den Bewohnern des goldenen Zeitalters gesetzt werden. Signum der Daimones ist ihre Vernünftigkeit (phronesis), wodurch auch auf die Daimonia des Euthyphron ein anderes Licht fällt – nicht zu vergessen der Hinweis auf das Daimonion des Sokrates selbst, das zumindest eine ferne Verwandtschaft mit diesen Dämonien haben soll. Hält man diese Ambivalenzen fest, so erweist sich die homerische Rede als Anachronismus aus einer lange vergangenen Zeit. Argumentativ kann man freilich das Ungenügen der etymologischen Versuche bei jähen Einblicken, die sie erlauben mögen, nicht übersehen. Dies zeigt sich besonders deutlich dort, wo die Methode auf die Götterlehre selbst angewendet wird: Die Bezeichnung für Götter (theoi) wird etymologisch nicht von theia (dem Blicken) abgeleitet, dessen Genese sich von ›idein‹ herleitet, sondern von ›dein‹ (gehen). Nur mittels einer wenig überzeugenden Beispielerzählung kann dies plausibel gemacht werden: Sonne, Mond, Erde und Gestirne seien als erste Götter verehrt worden, und diese alle ›gehen‹ auf ihrer Bahn, woher der Name rührt. Ein ähnliches Wortspiel wird zwischen ›Heros‹ und ›Eros‹ entwickelt, weil sie aus einem erotischen Zusammenspiel zwischen Göttern und Sterblichen abstammen (398d). Aufschlussreich ist auch die Etymologie für ›Mensch‹ (anthropos). Sie wird aus einer ganzen Satzsequenz abgelöst. Er sei der einzige unter allen Lebewesen, der das, was er sieht (episkopei), eigentlich betrachtet, vergleicht und zusammenstellt (anathrei: zusammenschauen; hopos: von allen) (399c 2 ff.). Seele (psyche) wird von ›physechen‹ abgeleitet, wofür wiederum zwei mögliche Varianten gegeben werden: eine »stumpfe« (399e), und sodann eine gefällige, mit der auch ein Euthyphron einverstanden sein müsste. Die stumpfe Variante besagt, die Seele sei das, was den Leib hält (echein). Die subtilere Spielart verweist auf das, was, wie der Nous des Anaxagoras, durch alle Dinge hindurchgeht (400b). ›Soma‹ wird auch hier als Leib bzw. Kerker und als Zeichenleib verstanden (sema semainein), weil durch den Körper, wie durch eine Schrift hindurch, die Seele ›bedeutet‹ und ›bezeichnet‹ wird. 101 Dazu A. Soulez, Nommer et signifier dans le Cratyle de Platon, in: B. Mojsisch (Hg.), Sprachphilosophie in Antike und Mittelalter. Amsterdam 1986, S. 17 ff.

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Mit demselben Verfahren wird eine Reihe der bedeutendsten Götternamen durchgegangen, womit in der Tat Züge des Wesens der Götter ans Licht treten; ein ernstes, erbauendes Spiel, aber eben kein Wissen. Diese Virtuosität hat auch eine Tendenz zur Schmeichelei; nicht dass das Wahrere gefunden wird, sondern das den Geübten Gefälligere, die sich gleichsam zitatweise verständigen können, gibt bei diesem Verfahren den Ausschlag. 102 Zudem zeichnet sich ab, dass die etymologisch gefundenen Bedeutungen keinesfalls eine Einheit oder geschlossene Gestalt bilden. Es gibt nämlich meist mehrere Varianten, neben ernsthaften auch scherzende und spielerische. Das Wort für die Musen kann man von ›mosthai‹ (nachsinnen) (406a) gewinnen, was gewiss ein tiefgedachter Name ist – anders als die Dionysos-Benennung ›didus oinon‹, der Weinspender. Im Namenswort von Hermes, dem Dolmetscher und Boten, wird ›eirene‹ mitgehört. Hermes wäre also dementsprechend ein Befriedender, was dem Mittler zwischen Göttern und Menschen nur gemäß sein kann. Auch die Begrenztheit des Verfahrens geht mit in die Überlegungen ein. Man muss einräumen, dass manchmal die Worte auch gar nichts bedeuten; genauso verhält es sich mit dem mehrfachen Schriftsinn im homerischen Epos. Es könne, bemerkt der platonische Sokrates in der ›Politeia‹, durchaus so sein, dass an einigen Stellen gar kein mehrfacher Sinn auftritt (410b) – nicht nur, wenn Homer schläft. Von der Etymologie der Götternamen wendet sich die Überlegung sodann menschlichem Verhalten und bestimmten Tugenden zu. Auch hier wird ein methodischer Hinweis mit dem Anspruch auf die Gültigkeit einer Maxime gegeben, der im Einzelnen leitend sein soll: dass nämlich die Ursache für die Benennungsnot in den betreffenden Dingen selbst liegt. Misst man diesen Eindruck an der platonischen Grundlehre, so hat man überhaupt nicht den Grund klarer und eindeutiger Bestimmungen erreicht. Auch Seiendes in Bewegung, was vor allem im Blick auf die Polis von Bedeutung ist, kann demnach erst gefunden werden, wenn es zunächst im Ruhezustand Dazu K. Oehler, Platons Semiotik als Inszenierung der Ideen, in: R. Enskat (Hg.), Amicus Plato magis amica veritas. FS für Wolfgang Wieland. Berlin, New York 1998, S. 154 ff. Aus der älteren Literatur auch R. Rehn, Der logos der Seele. Wesen, Aufgabe und Bedeutung der Sprache in der platonischen Philosophie. Hamburg 1982.

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aufgewiesen wurde. Umgekehrt stellt sich die Erschließungsfunktion nicht ein. Es dürfte ausreichen, auf das Gerechte (dikaion) zu verweisen: ›to diaion‹ (das durch alles Hindurchgehende) (413a). Hier wird allenfalls eine Problematik antizipiert, wie sich das Gute in Bewegung und in der Zeit erhält, die in einem ganzen Corpus von Dialogen nach der ›Politeia‹ entfaltet wird. Das innereidetische Netz der Logoi wird sodann zu einem zentralen Untersuchungsfeld der entwickelten späten platonischen Dialektik. 103 Den Zwischenbemerkungen, die das Zweifelhafte des Verfahrens ans Licht bringen sollen, kommt in der Architektonik des ›Kratylos‹ besondere Bedeutung zu. Etymologie hat mit einer Archäologie, der Aufsuchung eines originär Wahren in der Sprache zu tun, und eben darin liegt auch ihre Misere. Hermogenes wird als Aufseher (epistates) aufgerufen, der darauf achten soll, dass mit diesen Rekonstruktionen nicht beliebig, sondern »nach Maß und Billigkeit« verfahren werde (415a). Wer den Gedankengang des Dialogs aufmerksam verfolgt, wird sofort der Diskrepanz gewahr. Hermogenes ist keineswegs der Dialektiker, dessen es bedürfte, um die Sachgemäßheit herauszufinden, sondern allenfalls ein findiger Sophist, der den erhabenen Logoi und ihrer Verführungskraft wenig Widerstand entgegenzusetzen vermag. Gleichwohl, und obgleich sie derart auf ungegründeten Fundamenten ruht, nimmt die etymologische Untersuchung den Weg zu einem vermeintlichen Gipfel der Betrachtung, der die Tugend und die mit ihr verbundenen Empfindungen und Verhaltensweisen des inneren Ethos behandelt. Auch Schmerz oder Wollust werden erörtert. Hier kann es wiederum nur auf die Ankerpunkte ankommen: Das ›Böse‹ (kakon, kakia) wird, gemäß der Untersuchungsrichtung, als das ›böse Gehende‹ (kakos ión) begriffen; ›areté‹ (Tugend) hingegen von ›aeireten‹ (415d), dem immer Fließenden, abgeleitet. Es ist Hermogenes, der, nachdem all diese Untersuchungen sehr ausführlich geführt worden sind, die Frage nach der Richtigkeit (orthóteta) solcher Benennungen aufwirft (421c) und noch einmal auf »dieses Gehen und Fließen und Binden und Halten« (ibid.) verweist, das Richtigkeit offensichtlich keineswegs notwendigerweise in sich 103

Dazu Chr. Stetter, Schrift und Sprache. Frankfurt/Main 1999.

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enthält. Sokrates weist ihn an dieser Stelle ausdrücklich auf die Grenzen des etymologischen Verfahrens hin. Sie zeigen sich einerseits bei den barbarischen Worten (Fremdworten oder »Wörtern aus der Fremde« 104). Andererseits zeigen sie sich, wenn ein Wort zu alt geworden ist, als dass sein Ursinn noch ans Licht gebracht werden könnte. Die Etymologie müsste daher von den Stammwörtern (den Wurzelsilben) ausgehen. Sie sind gleichsam die ersten Worte, an denen die Frage der Richtigkeit ihr primäres Kriterium hat. Deshalb werden sie auch ›onomata stoicheia‹ genannt. Nur vermittels der elementaren Silben können Zusammensetzungen zu dem gesuchten Ergebnis führen. Dabei wird eine bemerkenswerte Überlegung angestellt: Wie würden wir uns die Richtigkeit der Stammsilben vergegenwärtigen, wenn wir keine Stimme (phone) hätten? Offensichtlich, indem wir die Dinge mit unserem Leib in einer Art gestischen Symbolisierens, einer ›mimesis to somati‹ (423b) 105, vorstellten wie die Stummen. Wenn, um es mit Sokrates’ Beispielen zu sagen, das Leichte und nach oben Steigende angezeigt werden sollte, würde man die Hand zum Himmel heben, um das Wesen des Seienden zu zeigen; umgekehrt könne man auch Schwere darzustellen versuchen oder rasch laufende Tiere in Bewegung. Die Abstraktion von der Stimme plausibilisiert nun, was das einzelne Wort und vor allem sein bedeutungstragender Anteil wirklich ist, nämlich Nachahmung der Stimme des Nachgeahmten mit der eigenen Stimme. Bei genauem Studium des Dialogs wird evident, dass damit die Forderung, die stimmliche Benennung müsse die Idee der Dinge treffen, schon unterschritten ist.

Versuchte Modifizierungen und die Unrettbarkeit der Kratylos-These Hier kommt eine andere Frage auf: Wie verhielte sich eine solche unmittelbare stimmliche Nachahmung, wenn es nicht um feststehende Sachverhalte und Dynamiken ginge, sondern um Farben oder Ge-

So die Wendung von Theodor W. Adorno, Wörter aus der Fremde, in: Adorno, Noten zur Literatur. Frankfurt/Main 1981, S. 216 ff. 105 Dazu Soulez, Nommer et signifier, a. a. O.; siehe auch H.-G. Schmitz, Die Eröffnung des sprachphilosophischen Feldes. Überlegungen zu Platons Kratylos, in: Hermes 119 (1991), S. 43 ff. 104

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stalten in der bildenden Kunst und Malerei? Sinnliche Erscheinungen könnten nur durch eine Art Lautmalerei in den Wurzelsilben sichtbar gemacht werden; wer dies vermöchte, so wird noch einmal bemerkt (424a), wäre der ›onomastikós‹, der Künstler und Meister der Benennungen. Wenn es ihn gäbe, könnte man erwarten, auf diese Weise das Gehen und Fließen ›zum Stehen‹ zu bringen. Indessen wird das Methodenproblem dadurch keinesfalls grundsätzlich gelöst, vielmehr wird die Fragestellung nur weiter atomisiert. Denn man müsste dann angeben können, welche Urbedeutung die jeweiligen Phoneme und ihre Mimesis in Buchstabenschrift haben. Dieses Verfahren brächte Großes und Schönes an Licht. Es zeigte auch, wie die Alten mit der Sprache umgingen und ihr Wesen trafen. Es ist aber offensichtlich so, dass Sokrates sich die Kenntnis, die zu dieser Untersuchung erforderlich wäre, nicht zutraut; und im Sinn der sokratischen Ironie kann man vermuten, dass es vermutlich gar kein wirklich begründetes Wissen ist, sondern ein Scheinwissen, ähnlich wie die Kenntnisse über den Willen der Götter bei einem Euthyphron. »Lassen wir es denn. Oder willst du, dass wir, so gut wir es vermögen, wenn wir auch nur wenig davon einsehen können, es dennoch versuchen« (425c). Es wird sogar offen die Gefahr eingestanden, nur leeres Geschwätz zu betreiben, nicht der Rechenschaft fähig zu sein. Das Wissen des Kratylos, der den natürlich (physei, kata physin) bestehenden Zusammenhang zwischen Worten und Dingen nachweisen möchte, scheint sich aber nicht essentiell von jenem Scheinwissen zu unterscheiden, das Kratylos so charakterisiert. Sokrates lobt dieses Wissen ausdrücklich (428a); wobei es noch einmal als von Euthyphron begeistertes oder durch die Einwohnung einer anderen Muse bedingtes Wissen erscheint. Zwischen der angezeigten Übereinstimmung und dem faktischen Verlauf des Untersuchungsganges ergeben sich damit immer tiefere Differenzen. Daran kann Sokrates’ Ironie anschließen: »Ja, guter Kratylos, ich wundere mich selbst schon lange über meine Weisheit, und kann kaum daran glauben« (428d). Dies führt nun von der etymologischen Untersuchung auf die grundsätzliche Überlegung, welches Wissen dabei in Anspruch genommen wird. Dies fordert offensichtlich eine Unterredung über die Unterscheidung von Treffen (Wahrheit) und Verfehlen (Irrtum), wie sie im Widerstreit mit den Sophisten vielfach begegnet. Der Meister der Etymologie und Grammatik, Kratylos, sucht sich zu verteidigen. Er behauptet, sehr im Unterschied zu den Sophisten, nicht, dass es keinen Irrtum gebe; aber er schränkt die 497 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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Reichweite des Irrtums ein und macht ein Zugeständnis, das sich nur tautologisch begründet und deshalb eher ›thesei‹ als ›physei‹ ist: Gesetze und Benennungen können nicht falsch sein, weil sie sonst eben nicht Gesetze und Benennungen wären. Dies führt nun zu einigen weitreichenden Bestimmungen: (1) Zum ersten: Benennung (logos) ist eine Form von Mimesis. Ihr Charakteristikum wird klarer, wenn man sie mit anderen Mimesisformen wie der Malerei kontrastiert. Beider Qualität bemisst sich danach, ob sie den abzubildenden Dingen (onta) das ihnen Ähnliche oder Unähnliche ›zuteilen‹. Daher muss, ohne dass freilich das Wahrheitskriterium schon gefunden wäre, festgehalten werden, dass es gute und schlechte Wortbildungen geben kann (431e). (2) Der zweite Einwand ist eine nähere Explikation des ersten. Er zeichnet die Struktur vor, nach der Ähnlichkeit als Kriterium des Richtigseins eines Bildes (mimema) gelten könnte. Wenn ein Maler, so die mit Kratylos angestellte Überlegung, »nicht nur die Farbe und Gestalt des Abzubildenden nachahmte, sondern auch seine Weichheit, Wärme, Bewegung« (ibid.), dann würde sich nicht ein Bild formen, sondern ein zweiter Kratylos, gleichsam eine identische Kopie, ein Klon. Dabei werden die unterschiedlichen Grade der mimetischen Ausführung akzentuiert, die das Analogon zur Malerei weiterzutreiben ermöglichen. Stammwörter sind wie die Handskizze einer Zeichnung; Sätze (rheseis) und Logoi wie Bilder und Gemälde. Das vorläufige Resümee wird an dieser Stelle von Sokrates gezogen: »Wage also das nur immer zuzugeben, wackerer Freund, dass auch die Wörter teils gut abgefasst sind teils schlecht, und bestehe nicht darauf, dass sie alle Buchstaben so haben sollen, dass sie ganz und gar dasselbe seien, wie das Seiende, dessen Namen jedes ist« (433a). Nur die Grundzüge (typoi) des Seienden müssten darin sein (433a). Dies führt letztlich auf die Ausgangskonstellation zurück, dass nur das ›Bedeutsame‹, ›Bedeutung Gebende‹, also die Idee des Dinges, im Onoma bezeichnet werden muss. Dabei zeichnet sich aber fast unmerklich eine gewichtige Verschiebung ab. Die Benennung wird nicht als Mimesis, sondern als Darstellung (deloun) charakterisiert. Sie ist Kundmachung (déloma) des Gegenstandes »durch Silben und Buchstaben« (433b). Dabei ist eine Ähnlichkeit auf der elementaren Ebene die beste Möglichkeit; eine Behauptung, die an keiner Stelle des ›Kratylos‹ außer Kraft gesetzt werden wird, deren Gewicht als conditio sine qua non von Verständigung aber deutlich zurückgenommen wird. Zunächst wird ein 498 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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Ähnlichkeitsverhältnis angedeutet, das ungefähr wie jenes zwischen den Farben eines Gemäldes und den dargestellten Dingen aussehen müsse. Die Farben müssten etwas von dem Seienden an sich haben, sonst könnten sie es nicht anzeigen (deloun) (434d). Die Erkenntnis dieser ›Ähnlichkeit‹ ist aber – eben weil sie sich auf das Werdende und Vergehende bezieht – außerordentlich schwierig. So unternimmt Sokrates noch einmal den Versuch, die Bedeutung der einzelnen Grammata und aus ihnen heraus der Silben zu artikulieren. Sie wird aber nun auf eine schon an früherer Stelle im Dialog angespielte Problematik zugespitzt: die Varianz in Buchstaben bei gleicher Wortbedeutung. Dies führt zu der Modifizierung, dass das ›deloun‹, die eröffnende Kraft des Wortes, nicht in der Ähnlichkeit, sondern der Gewohnheit (ethos) liege. Gewohnheit aber beruht auf einem Sich-Verabreden (xyntheke). Letzteres gibt Kratylos nur ungern zu, doch macht er weitere Zugeständnisse. Das Gespräch gerät damit in eine bemerkenswerte Schwebelage: Besser wäre in der Tat und in jedem Fall die Ähnlichkeit, sie soll aber nicht conditio sine qua non der Zuordnung von Wort und Sache sein. Aus diesem Eingeständnis heraus wird nun ein zweiter Untersuchungsgang angesetzt: »Was für ein Vermögen die Wörter eigentlich haben, und wie wir sagen wollen, dass sie uns Schönes ausrichten« (435d). Kratylos will nicht weniger behaupten, als dass Einsicht in das Wesen eines Dinges, seine Idee, nur über das Wort möglich ist. Wenn die Worte »Darstellungen«, also Eröffnungen sind, die zeigen, was ist, so liegt diese Auffassung tatsächlich nahe. Sie bringt aber fundamentale Probleme mit sich. Dies zeigt sich bei der genealogischen Betrachtung: Was, wenn der erste Gesetzgeber sich geirrt hat? Kratylos möchte diese Bezweiflung, die Annahme eines erstanfänglichen ›spiritus malignus‹, gar nicht zulassen. Der erste Benenner und Gesetzgeber der Worte soll ihm zufolge notwendigerweise als Wissender gedacht werden, als göttlicher Erstbenenner. Die dafür angegebene Begründung ist aber problematisch: Kratylos sieht ihn in dem vollkommen ausgewogenen, harmonischen Zusammenhang zwischen den Dingen. Hier soll unmittelbar aus der Natur, ohne den Umweg einer Begründung, eine Normativität abgelesen werden (436d). Ein solcher Zusammenhang könnte also auch auf einem ganz und gar brüchigen, löchrigen Fundament errichtet sein. Er nimmt die »erstbeste Seefahrt«, das Sich-Offenbaren der Dinge selbst in An499 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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spruch, was keineswegs zwingend gegeben ist. 106 Kratylos’ Ansatz hat letztlich keinen Bestand. Worte zeigen die Dinge in Bewegung. Sie zeigen sie aber auch in Ruhe; wiederum wird Etymologie betrieben. Die Sprache ist also, was Ruhe und Bewegung betrifft, zutiefst zweideutig; es läge nahe, was für einen Kratylos natürlich auch nicht zulässig sein kann: wie im Rechtsakt des Psephisma, der Stimmzählung, numerisch aufzulisten, wie viele Worte die Dinge in Ruhe, wie viele sie in Bewegung zeigen. Die fehlende Begründung dieser Passagen verdeutlicht, dass nach einem übersprachlichen Anfangspunkt gefragt werden muss. Zunächst geschieht dies in genetischem Sinn: Wenn man den Urgesetzgeber und Erstbenenner als Wissenden bezeichnet, dann muss er ein Wissen von den Dingen gehabt haben. Nur dadurch kann er die Natur der Dinge (physis) erfassen. Woher ist ihm aber dieses Wissen zugewachsen, wenn nur durch die Worte hindurch die Dinge benennbar sind? Kratylos verweist auf eine übermenschliche Kraft: die des Gesetzgebers. Ein Daimon oder ein Gott müsse er gewesen sein. Doch selbst wenn man dies nun ausdrücklich annimmt (438c), bleibt zu sagen, dass er die Worte untereinander gegensätzlich, nämlich als die Dinge in Ruhe und in Bewegung zeigend, dargestellt hätte. Wer sollte Schiedsrichter sein, wenn es um die Rechtmäßigkeit von Worten gehe und er selbst nur durch die Worte (Benennungen) die Dinge erkannt habe? Eine Entscheidung fordert offensichtlich die Annahme eines Prinzips, das so nicht gegeben ist. Auf der mythologischen Ebene der Darlegungen lässt sich analog zur Natur des Eros auch bemerken, dass die Zweiteilung gegen eine göttliche Genese spricht und allenfalls eine dämonische zulässt. »Wohlan denn, beim Zeus, haben wir nicht oft eingestanden, dass wohlabgefasste Worte müssten demjenigen, welchem sie als Namen beigelegt sind, ähnlich, und also Bilder der Gegenstände sein« (439a). Noch einmal zeichnet sich eine subtile Modifizierung der Abbildrelation ab: von ›mimesis‹ über ›deloun‹ zu ›eikon‹ – einem Ähnlichkeitsbild, wobei sich die volle platonische Bedeutung dieses Wortes erst im ›Timaios‹ entfalten wird. Die Erkenntnis der Dinge (onta) durch die Worte wäre also, wenn man der inneren Sprachlogik folgt, Dazu H. Peterreins, Sprache und Sein bei Platon. München 1994. Siehe auch E. Heitsch, Sprachtheoretische Überlegungen Platons, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 23 (1998), S. 43 ff.: sowie R. Barney, Names and Nature, a. a. O., S. 120 ff.

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›Kratylos‹ – Sprache, Sache und Idee

selbst nur abbildlich, also nicht vollkommen. Die schönere und sicherere Art der Erkenntnis aber wäre jene durch die prágmata, eine Erkenntnis der Dinge selbst. Von bestimmendem Gewicht ist dabei der Gedanke der Einwohnung der Idee in den Dingen. Die Bifurkation in Ruhe und Bewegung gibt zu verstehen, dass die Sprache, ein Hauch in der Zeit, im Fluss bleibt, dem panta rhei der Herakliteer, zu denen Theätet gehört. 107 Die intrinsische Erkenntnis der Dinge soll damit Erkenntnis aus der Idee sein (439b), die in der Schwebelage bleibt und offen lässt, ob die Sprache sich nach der Natur oder bloß nach der Setzung entfaltet.

Idee und Wort: Die Auflösung des Problems? Es ist unstrittig, dass die Erschließungskraft der Sprache mittels der Idee schon früh im ›Kratylos‹-Dialog vorgezeichnet ist. Das benennende Wort soll das Wesen der bezeichneten Dinge oder Sachverhalte und nicht deren sinnliches Korrelat nachahmen (388a–389c). Damit ist die Erschließungskraft der Etymologie schon deutlich relativiert. Der Grammatiker ist allenfalls wie ein Physiker wirksam, der sich in der Zweiteilung von Ruhe und Bewegung, einer der Sprache innewohnenden Differenz aufhält, ohne sie selbst durchschauen zu können. Wittgenstein hat die Frage nach dem ›Ordnungszusammenhang der Sprache‹, die offensichtlich im ›Kratylos‹ aufgeworfen wird, mit guten Gründen als Urbild unlösbarer Probleme begriffen. 108 Gerade solche unlösbaren Probleme aber halten das Denken gleichwohl in Atem. Die Einsichtigkeit der Idee vor allen Worten macht indes deutlich, dass weder die These vom physis-, noch ihr Komplement vom bloßen thesis-Sein der Sprache letztlich befriedigen kann. Nur auf schwankendem Grund argumentieren deshalb auch namhafte Linguisten, die wie Genette 109 bezogen auf den ›Kratylos‹ festhalten: Derjenige, der erkenne, dass Sprache nicht auf natürliche Weise nachVgl. G. E. M. Anscombe, The Question of Linguistic Idealism, in: The Collected Papers of G. E. M. Anscombe. Bd. 1: From Parmenides to Wittgenstein, S. 112 ff. 108 Dazu sehr hilfreich M. Kraus, Platon und das semiotische Dreieck, in: Poetica 22 (1990), S. 242 ff. Siehe auch ders., Platon, in: T. Borsche (Hg.), Klassiker der Sprachphilosophie. München 1996, S. 15 ff. 109 Vgl. ders., L’éponymie du nom ou le cratylisme du Cratyle, in: Critique 28 (1972), S. 1019 ff. Siehe auch ders., Mimologiques. Paris 1976. 107

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FORM UND GRENZE DER DIALEKTIK

ahmt, werde sie als künstlich mimetisches System und daher als Konvention verstehen. In der analytischen Philosophie spielte dieser Ansatz in Auseinandersetzung mit dem ›linguistischen Idealismus‹ eine gewisse Rolle (M. Anscombe). 110 Man kann auch an Wittgensteins Diktum denken: »Wer über das Wesen spricht, konstatiert bloß eine Übereinkunft«. 111 Karl Bühlers Befund über die Onomatopoesie könnte dies bestätigen; er erkannte auch Onomatopöien, Lautmalereien, schon als »symbolische Interpretationen«, freilich auf elementarer Ebene und keineswegs als »naturalistische Äquivalente«. 112 In Übereinstimmung mit den besonders anregenden Arbeiten von Antonia Soulez zum ›Kratylos‹ wäre die Passage 435a besonders hervorzuheben, in der – noch im Zusammenhang der Aufsuchung der thésis – in der Sprachgebung einem binären Verhältnis zwischen Namen und Sache in der Benennung ein dreiwertiger relationaler Prozess exponiert wird. Er verbindet den Namen als Zeichen (sema) mit dem Bezeichneten durch die ›diánoia‹ (das, was ich denke). 113 Diese Struktur wird auch unter Einfügung der ›idea‹ bestimmend bleiben.

Zwei Folgeprobleme Auf zwei systematische Spezifizierungen im ›Kratylos‹ ist dabei noch einmal besonderes Augenmerk zu richten: Sokrates erwägt immerhin ein Wesen der Stimme (ousia) (423e). Die Annahme (hypothesis) dieses Wesens ist unstrittig nicht dem sinnlich verlautbaren Klang der Stimme abzulesen; das zeigt sich im Fortgang des ›Kratylos‹. Allerdings ist nicht zu verkennen, dass auch die Erkenntnis der Ideen mittels der Sprache erst in ihrer ›dynamis‹, ihrem wechselweisen Sich-Entgegensprechen, fassbar gemacht werden kann. Der Rückgang auf eine ›ousia‹ der Phoné ist also keinesfalls vorschnell für obG. E. M. Anscombe, The Question of Linguistic Idealism, in: The Collected Papers of G. E. M. Anscombe, Vol. 1: From Parmenides to Wittgenstein. Minneapolis/MN 1981, S. 112 ff. 111 L. Wittgenstein, Schriften Band 1. Frankfurt/Main 1960, S. 74. 112 Siehe dazu auch K. Bühler, Sprachtheorie. Jena 1934. In dem Beitrag von Soulez in: Kobusch und Mojsisch, a. a. O., S. 144 f. werden diese Zusammenhänge aufgewiesen. Siehe auch Soulez, Grammaire philosophique chez Platon. Paris 1991. 113 Dazu A. Silverman, Plato’s Cratylus. The Naming of Nature and the Nature of Naming, in: Oxford Studies in Ancient Philosophy 10 (1992), S. 25 ff. 110

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solet zu erklären. 114 Man erinnere sich daran, dass die Stimme auch schon im frühen ›Charmides‹ gleichsam das Medium war, in dem die Erkenntnis sich vollzieht. Die Probleme, die der ›Kratylos‹ indessen in der etymologischen Aufsuchung der kleinsten Stoicheiai (Elemente) und der Unmöglichkeit, ihnen rechenschaftsfähigen Sinn zu geben, aufwirft, werden noch einmal reflektiert, nämlich im ›Theaitetos‹, der der Frage nach dem Wesen des Wissens gewidmet ist. Diánoia (Denken) wird dort als Gespräch, also ›logos‹ der Seele mit sich selbst, bestehend aus Fragen und Antworten, definiert (189e–190a), das sich als Bejahen und Verneinen betätige. Was ist aber nun der dabei stets in Anspruch genommene ›logos‹ ? Das Wort kann Erklärung, Satz und Rede bedeuten. Sokrates berichtet an dieser Stelle die Erklärung eines Ungenannten: Erklärung gelte jeweils einer Zusammensetzung von Namen. Die Urbestandteile aber seien selbst nicht erklärbar, wie im Rekurs auf den Namen Sokrates gezeigt wird. Dies hieße, dass es nur ein Wissen von Zusammensetzungen gebe, deren Bestandteile hingegen unerklärbar bleiben müssten, was Sokrates grundsätzlich zurückweist. Dennoch ist sie im Raum. Es werden daraufhin zwei Wege erwogen, einen Chorismos von Erklärung zu geben: 1. Offenbarung (deloun) des Denkens durch die Stimme mit Hilfe von Wörtern, wobei eine bislang nicht getroffene Unterscheidung eintritt: jene zwischen Namenwörtern (onomata) und Verben (rhemata), die die Sprache erst auf den Wechsel von Ruhe und Bewegung artikulieren. 2. In einem zweiten Verständigungssinn muss die Erklärung gewissermaßen ein Merkmal angeben, das das Gesuchte von allem anderen unterscheidet; es ist letztlich die Frage der Ideation, die aber nicht auf die innersprachliche, den Satz betreffende Struktur zurückbezogen wird. Auch im ›Theätet‹ kann das Problem des Logos nicht wirklich aufgeklärt werden. Es ist der ›Sophistes‹, der an dieser Stelle seinerseits noch einmal anschließt; auch hier können wir fürs erste nur den Fußpunkt der Sache benennen. In Frage gestellt wird dort die parmenideische WeiDazu Soulez, Das Wesen der phoné. Die Relevanz eines phonetischen Symbolismus für eine Bedeutungslehre: Kratylos, in: Kobusch, Mojsisch (Hg.), Platon, a. a. O., S. 131 ff.

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sung, wonach Nichtseiendes nicht zu sagen sei, denn damit sage man nichts. Auf diese Weise wird auch die sophistische ›techné‹ des Antisthenes (im ›Euthydemos‹ virtuos auseinandergelegt) in Zweifel gezogen, wonach ebendeshalb nicht-tautologische Aussagen unmöglich seien. Im ›Sophistes‹ werden vor diesem Hintergrund fünf große Gattungen unterschieden: Das Seiende (to on) Die Ruhe (stasis) Die Bewegung (kinesis) Das Selbige (tauton) Das Verschiedene (thateron; heteron). Sie sind jeweils für sich und untereinander verschieden und stellen Verbindungen zwischen den Ideen dar, die in umfassender, wenn auch nicht beliebiger Weise möglich sind. Von Interesse ist der Vergleich mit den Buchstaben (grammata). Auch sie können nicht beliebig ineinander übergehen. Das Nichts tritt als Verschiedenes (heteron) in dieses Geflecht ein. Dabei ist es von größter Bedeutung, dass es sich mit dem Seienden verbindet; ein nicht-es-selbst-Seiendes, ein Verschiedenes, ist also zu sagen. Sinnvolle Rede entsteht, so werden wir im ›Sophistes‹ belehrt, durch die Verknüpfung der Begriffe bzw. Ideen (symploké ton eidon) (259e). Dies verlangt, die ›logos‹-Struktur präziser auszubuchstabieren. Sie ist Verknüpfung von zwei Gruppen von Wörtern: Dingwörtern (Namen, onomata) und Zeitwörtern (rhemata); nur durch ihre Verknüpfung wird eine sinnvolle Rede ausgeformt, und keineswegs je isoliert. Ein solcher Satz macht etwas offensichtlich, entdeckt es (deloun); und er »vollbringt« damit etwas, indem er das Benannte näher bestimmt (261c–262d), was einschließt, dass die Benennung für sich alleine defizitär wäre. Man vergleiche den Philosophie-Exkurs im VII. Brief: mit der Unterscheidung von Name (onoma), Begriffserklärung (logos), Bild (eidolon) und schließlich Erkenntnis (episteme) (342b). Darin ist die Bestimmung des Logos aber noch nicht erschöpft. Er muss auch für sich selbst Logos von ›etwas‹ sein und auf eine mögliche sinnvolle Verflechtung der großen Gattungen bezogen sein, die ihrerseits der Korrelation von Ideen zu Grunde liegen müssen. Hiervon ausgehend erweist sich der Satz »Theaitetos fliegt« als unmöglicher, niemals als wahr zu denkender Satz (Idee des Fliegens – und Idee des Menschen); der Satz »Theaitetos sitzt« aber kann wahr und er kann unwahr sein. Die erschließende Kraft der Sprache scheint 504 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

›Kratylos‹ – Sprache, Sache und Idee

hier mit einiger Konsequenz auf den primären Charakter der Bedeutung bezogen zu sein, in der Folge der Problemvorzeichnungen im ›Kratylos‹. Nicht minder offensichtlich ist es aber, dass Platon später im VII. Brief jedweder Mitteilung der Idee eine Absage erteilt, keinesfalls nur, so wie es noch im ›Phaidros‹ zu sein scheint, der schriftlichen: »Von mir selbst wenigstens gibt es keine Schrift darüber, noch wird es je eine geben; denn es lässt sich in keiner Weise in Worte fassen wie andere Kenntnisse, sondern nur aus dauerndem Zusammensein in Beschäftigung mit dem Problem und aus dem Zusammenleben entsteht es wie ein von einem springenden Funken entflammtes Licht in der Seele und nährt sich dann selbst weiter« (341c–d);

dies scheint immerhin das Gewicht gesprochener – und schriftlich dokumentierter – Sprache für die Erzeugung des Gedankens zu mindern. Sie ist selbst nur tauglich, wenn die Gedanken, die sie aussagt, gemeinschaftlich erzeugt wurden: Eine Beurteilung dieser Konstellation wird uns im Licht der Ideenlehre möglich sein.

Kratylos-Wirkungen Die Fußnoten, die an den ›Kratylos‹ und die sprachphilosophischen Implikationen Platons anschlossen, können nur knapp und auf ihren Ort bezogen bezeichnet werden. Der Thesaurus des ›Kratylos‹ ist dabei je spezifisch ausgeschöpft worden. Aus Fragen und Aporien im ›Kratylos‹ wurden ganze Theoriegebäude errichtet. Die Kontroverse von natürlicher oder konventioneller Sprachrichtigkeit, aber auch des göttlichen oder menschlichen Ursprungs wird im Hellenismus unter dem Topos des Analogie- (physis) oder Anomalie- (thesis) Seins der Sprache weiter erörtert. 115 In veränderter Form kehrt diese Problematik auch im Universalienstreit des Mittelalters wieder, nämlich als das Problem, ob Worte nur definitorische Festlegungen sind oder RealBedeutung haben. Schließlich spiegelt sich die ›Kratylos‹-Problematik auch in der Kontroverse zwischen Locke und Leibniz und der folgenden Überlegungen zum Sprachursprung (bei Herder und Humboldt), mit einer Vorgeschichte von Lukrez bis in die Aufklärung. Vgl. dazu die Übersicht J. Hennigfeld, Geschichte der Sprachphilosophie. Antike und Mittelalter. Berlin, New York 1994; siehe ferner die Einzeldarstellungen T. Borsche (Hg.), Klassiker der Sprachphilosophie. München 1996.

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FORM UND GRENZE DER DIALEKTIK

Bei aller hoch ironischen Brechung hat auch die etymologische, assoziierend zerlegende Verfahrensweise Schule gemacht – bis in das 18. und 19. Jahrhundert hinein; zumal dann, wenn man sich ihren Ort im ›Kratylos‹ nicht mehr klar machte. Auch für eine phonetisch strukturelle Sprachwissenschaft, für Jakobson oder Trubetzkoy, bleiben diese Momente von einigem Gewicht. Die Dreiheit, die sich im Kratylos andeutet, wird bestimmend. Vermittelt über Aristoteles prägt sie als Trias von ›vox‹, ›conceptus‹ und ›res‹ das Mittelalter und die Logik von Port Royal. Auch wurde dem ›Kratylos‹ die Unterscheidung zwischen ›Bedeutung‹ und ›Referenz‹ eines Wortes abgelesen (etwa Hermogenes’ Lehre von der Wahrheit von Namen); eine Unterscheidung, die in der modernen Logik von Frege über Husserl bis zu Quine eine große Rolle spielt und die Unterscheidung von ›Intension‹ und ›Extension‹ mitbestimmt.

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SIEBTES KAPITEL: KOSMOS UND LEBENDIGKEIT – ›TIMAIOS‹ UND ›PHILEBOS‹

Blicken wir, bevor wir auf Einzelheiten Bezug nehmen, nochmals auf die Landschaft der dialektischen Spätdialoge zurück: Die ›Großen Kategorien‹ und die Unterscheidung des Eins und des Seins retten, am prägnantesten im ›Sophistes‹, die Substanz eines Denkens des Einen, ohne jedoch Sein und das Eins zu vermischen. Dies ist die Modifizierung, die Platon an den Einsichten des ›Vaters Parmenides‹ vornimmt, dem er doch – wie sich etwa im ›Theaitetos‹ zeigt – nur sehr zurückhaltend zu widersprechen wagt. In einigen späteren platonischen Dialogen ist allerdings, wie sich im ›Philebos‹ zeigt, nicht von der Dialektik, sondern primär von Mischungsverhältnissen die Rede. Wie wir sahen, unterliegt die Frage der Mischung einem kategorialen Muster; dieses ist aber nicht mit jenem der Dialektik identisch. Am ›Timaios‹ und am ›Philebos‹ wird jeweils auch die Motivierung für die Reflexion des Mischungsbereichs deutlich. Er ermöglicht es, die Dimensionen des Lebendigen, das nie Eindeutigkeit erreicht, philosophisch zu erfassen. An ihm löst sich deshalb die ›Methexis‹, die Teilhabe des Seienden an Ideen, in einer Methode ein, die nicht nur das situationsinvariante Eins erfasst, sondern zugleich seine Abstände zum Vielen zählt. So wie im ›Phaidros‹ die Rhetorik gerechtfertigt ist, wenn sie durch das Nadelöhr – den »Begründungsengpass« (R. Berlinger) 1 – der Philosophie gelangt ist, so verhält es sich mit der Ermittlung des Wahrscheinlichen oder Wahr-ähnlichen, wenn das Wahre als Urbild gewonnen worden ist. Eben davon sprechen auch die ›Nomoi‹, ohne dass sie das Mischungsdenken eigens vollziehen würden. Die aristotelische Empeiria ist in der Denkform der Mischung vorgeprägt und ebenso in den ›Nomoi‹, die sich auf die zweitbeste Politie und das mögliche Beste, aber nicht die Idee des Guten beziehen.

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Vgl. ders., Philosophisches Denken. Einübungen. Amsterdam 1992, S. 55 ff.

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KOSMOS UND LEBENDIGKEIT

1. Der platonische ›Timaios‹ folgt einem kosmologischen, zuerst aber einem kosmogonischen Ansatz. Er ist Bildrede und steht dem Mythos nahe. Der wiederholte Hinweis auf den bloßen Ähnlichkeitscharakter macht dies deutlich. Das Bild vom platonischen Text und seinen Fußnoten in der Philosophiegeschichte gilt vom ›Timaios‹ in besonderem Maß. Er eignet sich als spätere Matrix für hochspekulative Theoriebildungen der Gnosis ebenso wie für konkrete Naturforschungen. Was Heidegger über die ›Physik‹ des Aristoteles sagt, gilt in ähnlicher Weise auch für den platonischen ›Timaios‹ : Er ist ein grundlegendes Zeugnis der europäischen Metaphysik. Es kommt hinzu, dass die Kontinuität seiner Rezeption zu keinem Zeitpunkt abgerissen ist. Mit einem Dialog im Zuschnitt der platonischen Frühdialoge oder auch des ›Gorgias‹ hat der ›Timaios‹ kaum etwas gemeinsam. Er ist eine Lehrrede, wie sie bei den Pythagoreern üblich gewesen sein dürfte; eigentlich ist er sogar ein Lehrgedicht. An keiner Stelle wird die strenge Beweisfähigkeit beansprucht, die von der Philosophie erwartet wird. Ihre Argumentationszüge sollen ›hikanon‹ sein, hinreichend, was mit einschließt, dass auch die Verbindung zwischen der umfassenden Idee und dem Einzelnen hergestellt wird. Jenes Einzelne hat Platon keineswegs verkannt oder nicht beachtet, auch wenn ihm erst Aristoteles den deiktischen Begriff des »to de ti« (»Dieses da!«) gegeben hat. Ein weiteres Spezifikum besteht darin, dass der ›Timaios‹ keineswegs ein Sokratesdialog ist. Sokrates ist zwar anwesend und die Verbindung zu seinen Fragebewegungen ist deutlich; immerhin folgt der ›Timaios‹ in der Fiktikon auf das ›Politeia‹-Gespräch. Doch an dieser Stelle beginnt bereits eine metonymische Bewegung zwischen Kosmos, Gott und Stadt. Der Kosmos erweist sich als »sterbliche Gottheit«, eine Bezeichnung, die Thomas Hobbes später für seinen ›Leviathan‹ gebrauchen wird. Zugleich ist er aber Urbild der geordneten Polis: Die Anordnungen des Kosmos werden insofern als Prototypen einer guten Gesetzgebung wirksam. Was in der ›Politeia‹ mehrfach angekündigt wurde, aber letztlich nicht geleistet werden konnte – die ideale Stadt in Bewegung zu zeigen –, dieses Desiderat wird indirekt dem ›Timaios‹ zugewiesen. In ihm geht es um das Wechselspiel von Werden und Vergehen. Für die ›Politeia‹ ist ein Begriff des Wechsels von Werden und Vergehen gerade deshalb entscheidend, weil er die Matrix der ›Polis in Bewegung‹ angeben müss-

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te: des Standhaltens der guten Stadt in der Dynamik des politischen Geschehens, bis zu Angriffen und Bestreitungen. Der ›Timaios‹ und der kurze ›Kritias‹-Dialog sind dabei eng miteinander verbunden. Der ›Kritias‹-Dialog vom Aufenthalt des Urahnen des Kritias in Ägypten, wo er in den dortigen Archiven die ideale Polis auffinden konnte und sich von dem ägyptischen Priester sagen lassen musste, dass die Griechen spielende Kinder seien, weil sie ihr Gedächtnis nicht aufzeichnen würden, ist in den ›Timaios‹ gleichsam hineinkomponiert. Doch der geschichtliche Anfang reicht noch nicht in die eigentliche Tiefe der ›Kosmogonie‹ zurück, von der Timaios in dem nach ihm benannten Dialog dann sprechen soll. Die Verbindung zur ›Politeia‹ wird nicht nur chronologisch nahegelegt – dadurch, dass der ›Timaios‹ am Tag nach der ›Politeia‹ stattfinden soll –, sondern auch dadurch, dass der geordnete Kosmos als Voraussetzung und Urbild für eine geordnete Polis erscheint. Bemerkenswert ist dabei, dass den Dialog leitmotivisch die selbsteinschränkende Aussage durchzieht, eine solche kosmogonische Rede könne keine strenge Beweiskraft haben. Dies bedeutet zunächst, dass sie nicht den Status des ›hikanon‹ erreicht, dessen, was »genügend« gezeigt worden ist. Dies verlangt, dass auch der Einzelfall bezeichnet werden kann. Vielmehr hat sie ausdrücklich eine bildhafte Funktion. Dies eben meint die Rede vom ›eikos logos‹ bzw. ›eikos mythos‹, einer sich der Wahrheit annähernden Rede, die zugleich bildhafte und damit darstellende Funktion hat. Dass die Dialogpartner nicht zum Wahren selbst, sondern nur zum Wahrähnlichen kommen können, manifestiert sich auch darin, dass der ›Timaios‹ drei Annäherungen benötigt, um die Genese der geordneten Welt aus dem Chaos sichtbar zu machen. Platon spricht deshalb ausdrücklich von einem ›ersten‹ und einem ›zweiten Anfang‹. Während der erste Anfang die vier Elemente strukturell voraussetzt und daher ein Anfang gemäß der Vernunft ist, wird im zweiten Anfang einen wesentlichen Schritt zurückgegangen: auf jene Grundmatrix, aus der überhaupt erst die Scheidung der Elemente hervorgehen kann, eben die ›Chora‹, die selbst keine Gestalt hat, sondern proteushaft alle anderen möglichen Gestalten und Gestaltungen annehmen kann. In ihr bleibt die Idee in Unentschiedenheit und Schwebe. Dies mag ein Grund sein, weshalb sie Jacques Derrida, den Differenzphilosophen, besonders fasziniert hat. Der zweite Anfang greift tiefer in die Sphäre der Notwendigkeit (ananke) zurück. Diese Archäologie ist erforderlich, weil die Wirklichkeit in der Prägung auf509 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

KOSMOS UND LEBENDIGKEIT

grund der Vernunft nicht hinreichend erfasst werden kann. In einem dritten Schritt kann dann das »aus Vernunft und Notwendigkeit gemeinsam« (Tim 69a) Hervorgebrachte verdeutlicht werden. Damit behandelt auch der ›Timaios‹ ein Mischungsverhältnis und rückt damit in die Nähe des ›Philebos‹-Dialogs. Dass Sokrates nur als Zuhörer des jungen ›Timaios‹ präsent ist, hat gute Gründe. Hat er sich doch auf die rein menschliche Weisheit konzentriert, die ›anthropine sophia‹, während im kosmologisch-kosmogonischen Zusammenhang ein Wissen um die Rätsel von Physis und Kosmos erforderlich ist. Dass dieses Wissen, wenn man es als wahr-ähnlich versteht, seine eigene Dignität hat, wird niemals in Zweifel gezogen. Dies bringt die Konstellation des ›Timaios‹ in eine gewisse Nähe zu der Sokrates-Rede im platonischen ›Symposion‹, die dem Sokrates aus einer mehrfachen Distanz von Diotima, der Priesterin aus Mantinea, übermittelt worden war. Es war die Stimme einer Frau; sie bleibt im sakral-kultischen Zusammenhang und in einer kulturellen und geographischen Entfernung zu Sokrates’ Herkunft. Der ›Philebos‹ nennt als Grundunterscheidung jene zwischen ›Einem‹ und ›Vielem‹. Das Viele ist zugleich das unbegrenzt Unendliche (151d). Deshalb lässt sich die Hingegebenheit an die reine und ausschließliche Lust gar nicht anders konzipieren denn als ein ununterbrochenes Fließen, dessen einzelne Zustände sich in diskreter Unterschiedenheit gar nicht markieren lassen. Der ›Philebos‹ unterscheidet sodann vier Arten des Seienden: Unbegrenztes, Begrenztes, beider Mischung und die Ursache der Mischung. Ursache muss das Eins sein, das mit der Vernunft in eine enge Nachbarschaft gesetzt wird, wenn denn eine gute Mischung entstehen soll. Eine Mischung, die von der Lust und dem Apeiron getragen wäre, würde das gemischte Leben um Gestalt und Kontur bringen. Im ›Timaios‹ geht es ebenso wie im ›Philebos‹ offensichtlich um Mischungsverhältnisse. Doch die Mischung wird nur an untergeordneter Stelle, in der Zuordnung der Seelen zu ihren Schicksalen, ausdrücklich thematisch gemacht. Sie erweist sich als eher mythologisches Moment, das in der Verbindung von freier Wahlmöglichkeit und Notwendigkeit (tyche) mit dem Schlussmythos in der ›Politeia‹ in engem Zusammenhang steht und auf ihn antwortet. Das Bild, das den ›eikos mythos‹ bzw. ›eikos logos‹, also das ›Ähnlichkeitsbild‹ des ›Timaios‹ bestimmt, hat vielmehr bildlogischen Charakter. Es geht um das Verhältnis von Urbild und Abbild. Der wohlgeordnete Kos510 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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mos soll Abbild der Güte und Mächtigkeit des Gottes sein. Allerdings setzt diese Abbildlichkeit eine ›metabasis eis allo genos‹ voraus. In seinem eigenen Bereich ist der Gott nicht imitierbar. Der Gott ist Einer und ungeworden, während der Kosmos entstanden, aber doch sterblich ist. Er ist daher als in der Zeit nach dem Maßstab des Ewigen verfasstes Abbild (27d 5) zu verstehen. Die Urbild-Abbild-Relation spielt aber auch in der umgekehrten Richtung eine Rolle. Hier erweist sich die wohlgeordnete Polis als Abbild der Welt: Diese ist »sterblicher Gott« und »vollkommenes Kunstwerk« (29d). Hätte sie nicht diesen Vollkommenheitscharakter, so könnte im Sinn der idealen Polis gar kein Ordnungssystem errichtet werden. Die kategoriale Struktur des ›Timaios‹ ist auf ›Sein‹ und ›Werden‹ bezogen. Was im ›Philebos‹ ins Zentrum der Ausgangsfrage gerückt worden war, erscheint leicht versetzt auch hier: eine Verbindung von Vernunft und Nicht-Vernunft, die sich als Notwendigkeit (ananke) erweist. Nur wenn beides verbunden werden kann, kann der Kosmos als das sichtbare Abbild des unsichtbaren rein und ausschließlich Guten entstehen. Hiervon ausgehend unterscheiden sich die beiden Anfänge des ›Timaios‹ : Der erste Anfang, der Anfang gemäß der Vernunft, zeigt die Hervorbringung des Weltkörpers aus den vier Elementen. Sie werden als Ordnungsstruktur zunächst vorausgesetzt. Nach proportionalen und arithmetischen Verhältnissen werden sie nun verbunden. Dieser Anfang führt aber nicht in die vorrationale Tiefe, die für die Weltgenese unabdingbar ist. Dies geschieht erst im zweiten Anfang. Dabei kommt eine Schicht ins Spiel, die ›Chora‹, die sich jeder terminologischen Fassung entzieht. Deshalb ist es verständlich, dass sie Neuplatoniker und Gnosis mit dem ›auto kakon‹, dem Bösen selbst, identifiziert haben. Bei Platon wird die ›Chora‹ allerdings keineswegs als böse abgewehrt, sondern in Sinnbildern des Gebärens und der Aufzucht als »Mutter« und »Amme des Werdens« bezeichnet. Sie ist ohne Gestalt und proteushaft. Die Elemente sind in ihr noch nicht als diskrete Zustände ausgebildet. In sie wird aber eine Ordnungsstruktur eingeprägt, die erst die Unterschiedenheit der Elemente ausbildet. Dies geschieht durch die mythische Rede von der Ausformung der fünf schönsten Körper, die alle aus Elementardreiecken konzipiert sind. Die Vorstufen der Philosophie, Geometrie und Mathematik, müssen also bemüht werden, um diesen Zusammenhang zu ermitteln. Streng genommen kennt der ›Timaios‹ noch einen dritten Anfang, und streng genommen könnte man hier wiederum von einem 511 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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Mischungsverhältnis sprechen. Es geht dabei um das »von Vernunft und Notwendigkeit gemeinsam Bewirkte« (69a 6). Im Wesentlichen ist es der menschliche Leib, in seiner geschlechtlichen Bifurkation zwischen Mann und Frau; im Blick auf die leiblich-seelische Verbindung wäre es der Bereich des mittleren (willenshaften) und unteren (begehrenden) Seeleneidos. Aber auch die Entstehung von Krankheiten und Störungen wird unter dieser Rubrik behandelt. 2. Der ›Philebos‹ entwickelt von hier aus eine Konzeption des menschlichen Lebens zwischen Vernunft und Begehren, dem konkreten Guten in den Übergängen zwischen Werden und Vergehen. Der Dialog etabliert damit die Grundlinien einer Lehre von den Gütern, die sogar hierarchisch verfasst ist: Als erstes werden dabei Maß und Angemessenheit exponiert, wobei auch die zeitliche Angemessenheit, also der Kairos, Teil dieser Maßlehre ist. An zweiter Stelle wird Schönheit im Sinne von Gleichmäßigkeit als »Vollendetes« und »Genügendes« bestimmt (69b). An dritter Stelle stehen Vernunft und Einsicht; dies versteht sich nicht von selbst. Der Ansatz verweist darauf, dass beide nur durch die Bindung an die vorausgehenden Kategorien überhaupt wirksam sind. An vierter Stelle werden die ›Technas kai doxas‹ ins Spiel gebracht, die Fertigkeiten und Künste, und erst an fünfter Stelle Lust und Begierden. Noch weiter zurück geht die Begründungsstruktur nicht; vielmehr heißt es ausdrücklich, dass der Gesang darüber schweige (66d), denn man käme wohl in Bereiche, die allzu weit von der Idee des Guten entfernt sind. Nach der »Verwandtschaft« mit dem Guten selbst bemisst sich auch die gemischte Güterlehre des gelingenden Lebens. Das Verwandtschaftsverhältnis bemisst sich nicht nach dem Abbild, sondern nach dem Urbild, dem ›Primum analogatum‹, wie die mittelalterliche Scholastik sagen wird. Man findet auch in der Begriffsstruktur des ›Philebos‹ die Konzeption von großen Begriffen, die sich miteinander verbinden, und von anderen, die sich nicht miteinander verbinden können. Dies ist der systematische Zusammenhang mit dem ›Sophistes‹. Dessen Leitunterscheidungen ›tauton‹-›thateron‹ ; ›stasis‹-›kinesis‹ bleiben im ›Philebos‹ im Hintergrund wie ein Gerüst, das aber in die Struktur von Einem und Vielem, Ruhe und Bewegung mit eingeht. Es kommt allerdings in der umfassenden Struktur des Lebens noch eine Kategorialität ins Spiel, die bislang keine Rolle gespielt hatte: eben das Verhältnis von Ursache und Verursachendem. Damit wird die ontologische Linie der Idee des Guten weiter ausbuch512 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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stabiert: dass es ›arché‹ ist, der Anfang, von dem alles andere Seiende abhängt. Die ›Politeia‹ hat diese Tiefendimensionen nicht im Einzelnen bestimmt. Dies hat durchaus tektonische Gründe – geht doch die Erfassung des Lebens und des Natürlichen der Erfassung des politischen Lebens voraus. Das große Problem der gerechten Polis in Bewegung, die sich nicht auflöst, setzt den Blick auf die bewegte Natur voraus. Daher erfordert die ›Politeia‹ den ›Timaios‹ und im Grunde auch den ›Philebos‹. So wie der ›Timaios‹, der die kosmologische Voraussetzung der Polis artikuliert, formuliert auch der ›Philebos‹ die Voraussetzung der Idee, die in der Zeit erscheint. In der Ordnung nach der Verwandtschaft mit dem Guten selbst kann nur das, was mit Vernunft verbunden ist, den Charakter einer ›arché‹, also eines Ursprungs, annehmen. Und noch eine weitere Differenzierung bringt der ›Philebos‹ an. Er begreift Schönheit, Verhältnismäßigkeit und Wahrheit als Formen des Guten (64b 5); nur wenn sie in eine Mischung eingehen, kann diese als eine gute Mischung begriffen werden. Schönheit ebenso wie Wahrheit stehen mit dem Guten in einem unmittelbaren Zusammenhang; deshalb können diese Formprinzipien auch, leicht verändert, in der Abfolge der Güter wiederkehren. Das Maß, wie es Platon in der ›Politeia‹ eingeführt hatte, ist das Maß an der Idee des Guten selbst. Jedes relative Maß würde nämlich die Angemessenheit vermissen lassen und sich in einem relativen Fluss nach vorübergehenden Eindrücken richten. Das Schöne erweist sich im ›Phaidros‹ als die sinnliche Manifestation des Guten. Es ist, wenn es erscheint, unmittelbar Idee; ›exaiphnes‹ (mit Plötzlichkeit) scheint es auf. Die Wahrheit jedoch ist Übereinstimmung mit der höchsten Idee. Eine Konzeption des guten Lebens, das gemäß dem ›Philebos‹ ein ›gemischtes Leben‹ ist, folgt dem Weg der »doppelköpfigen Sterblichen«, der die Doxa mit einbezieht und den Parmenides abgeschnitten hatte. Würde er dauerhaft ausgeblendet, so bewegte sich die Philosophie in einer Enklave, die mit den sonstigen Lebensrealitäten nichts gemeinsam hätte. Platon durchbricht jenes parmenideische Verdikt, doch so, dass damit die Begründungsform der Ideendialektik keineswegs durchbrochen, sondern komplexer und dynamisierter angesetzt wird.

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KOSMOS UND LEBENDIGKEIT

I.

Urbild, Abbild und Notwendigkeit. Von der Wahrscheinlichkeit eines Logos über die Weltgenese

Vorläufiges: Genesis und Prinzip Die exponierte Sonderstellung des ›Timaios‹ ist in der Platon-Exegese unbestritten, wie konträre Folgerungen auch aus dem Befund dieser singulären Position gezogen werden. Nirgends durchdringen Mythos und Theorie einander so deutlich, und man wird noch immer die besondere Aufmerksamkeit »dem Ineinandergreifen verschiedener Redeweisen« widmen müssen. 2 Dabei scheint es fruchtbar, mit Gadamer die Hypothese festzuhalten, dass »Plato bewusst so komponiert hat und nicht aus Unvermögen auf eine ungeschickte Weise fremde Anregungen in seine Gedankenführung eingearbeitet habe, die eben dadurch für unser prüfendes Auge kenntlich würden«. 3 Keineswegs ist der ›Timaios‹, der doch nach einem elementaren Verständnis die platonische Naturlehre beschreibt, hinreichend verstanden, wenn er als bloße Geschichtserzählung über die Entstehung des Kosmos gedeutet wird. 4 Er ist seiner Form nach, und von Platon auch so ausgewiesen, Nomos – ein einer gesetzmäßigen Bahn folgendes Lied und Gesetzgebung der Elemente (29d). Zugleich ist er ›eikos mythos‹ bzw. ›eikos logos‹ : ein Logos, der Vorgriffe bei dem nimmt, was unmittelbar einsichtig ist, das weder im Raisonnement noch in religiöser Rede im letzten ergründet werden kann und muss. Man kann dies als ›wahrscheinlichen Logos‹ oder Mythos verstehen oder auch als Bildlogos. Da im ›Timaios‹ die Welt selbst als Abbild von einem unerkennbaren paradeigmatischen Urbild expliziert wird (eikónos kaì perì tou paradeígmatos), kann über die Wahrscheinlichkeit gar nicht hinausgegangen werden. Diese Zwischenposition führt in das Zentrum des Dialogs und auf die Unterscheidung zwischen dem »Seienden, welches kein Werden zulässt«, und dem »immer Werdenden, welches niemals zum Sein gelangt« (27d). Platon unterstreicht, dass das immer Werdende Vgl. zum Folgenden: Gadamer, Idee und Wirklichkeit in Platos ›Timaios‹, in: ders., Griechische Philosophie Band II., a. a. O., S. 242 ff., hier insbes. S. 253. 3 Ibid. 4 Ibid. 2

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Urbild, Abbild und Notwendigkeit

nur vom immer Seienden her zu denken ist, das es doch nie erreichen wird, und an das auch der Gedanke nicht herankommt. Es ist ein »Werden zum Sein«, mit dem späteren aristotelischen Terminus »Entelecheis ateles«. 5 Deshalb manifestiert sich der Schwebezustand darin, dass Timaios’ Rede über die Weltentstehung mit einer hymnischen Anrufung der Götter beginnt (27c), aber »direktes Mythologisieren« vermeidet. 6 Wenn man sich der platonischen Lehre vom Gewicht der Vor-Sprüche für die Form von Dichtungen und von Gesetzen aus den ›Nomoi‹ erinnert, so erkennt man die Bedeutung solcher ›Prooimia‹. Das Proömium führt bereits in eine Denkart, die nicht auf die höchste Idee ausgreift. Im ›Timaios‹ wird vielmehr nur von dem ähnlichen Abbild des vollkommenen Urbildes her gedacht, auf das sich der Demiurg bei der Weltentstehung bezieht (30c–d). 7 Sodann wird aus der Notwendigkeit dieses vollkommenen Guten und Schönen mit einer vorbegrifflichen Notwendigkeit geschlossen, dass auch das Abbild, also unsere Welt, vollkommen schön sei. Die Nachahmung bleibt Nachahmung, sie ist es aber in einem idealen Sinn. Sie bringt ein »umfassendes Nachgebildetes« hervor (31a). »Damit sie [die Welt als Nachbild] also gleichfalls einzig in ihrer Art dem vollkommenen lebendigen Wesen ähnlich wäre, darum bildete der Schöpfer weder zwei, noch auch unzählige Welten, sondern, wie dies Weltgebäude als ein einzig geborenes entstanden ist, so besteht es auch und wird auch fernerhin bestehen« (31a-b).

Eingelöst ist dies dadurch, dass, wie es eindrücklich heißt, die Verfertigungen des Demiurgen den Nous haben und bewegt sind. Das eine ist vom anderen untrennbar. Der Nous ist, wie es ausdrücklich im ›Sophistes‹ heißt (Soph. 249a 4), nicht ohne die belebte Physis zu denken. Im ›Timaios‹ wird dieser Zusammenhang als »Vorausschau des Gottes« charakterisiert. 8 Dies ist die anregende, aber den Sinngehalt des ›Timaios‹ nicht erschöpfende These bei Figal, Warum soll man über die Welt eine Geschichte erzählen? Der Timaios als Traktat vom Abbild, in: Figal, Das Untier und die Liebe, a. a. O., S. 86 ff. 6 Gadamer, a. a. O., S. 247. 7 Ibid. Siehe auch K. Alt, Die Überredung der Ananke zur Erklärung der sichtbaren Welt in Platons Timaios, in: Hermes 106 (1978), S. 426 ff. Siehe auch N. Fischer, Die Ursprungsphilosophie in Platons ›Timaios‹, in: Philosophisches Jahrbuch 89 (1982), S. 247 ff. Vgl. ferner A. J. Kung, Mathematics and Virtue in Plato’s Timaeus, in: Essays in Ancient Greek Philosophy, Vol. 3: Plato, eds. J. Anton and A. Preus. Albany/ New York 1989, S. 300 ff. 8 Vgl. Gadamer, ibid., S. 248. 5

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KOSMOS UND LEBENDIGKEIT

In dem wahrscheinlichen Logos kann weder der Anfang des demiurgischen Werkes noch seine Motivation zur Sprache kommen. So wird nur einmal in wenig spezifischem Sinn von einem ›Wollen des Demiurgen‹ gesprochen (29e 3). Doch wird in erzählendem Ton gesagt: Der Demiurg »war gut (agathos en), und in einem Guten entsteht niemals Neid, worauf sich derselbe auch immer beziehen könnte« (29e). Sein Gutsein eröffnet die vorgreifende (proleptische) Aussicht darauf, dass das, was er hervorbringt, vollkommen ist. Nichts anderes als Vollkommenheit bedeutet es, dass das Seiende durch den Nous belebt und gesteuert wird. Damit wird die NousLehre des Anaxagoras gleichsam in eine konkrete Kosmogonie integriert. Das Urbild-Abbild-Verhältnis wird eingelöst, indem ein Drittes gedacht wird: Zunächst ist es die Beseeltheit der Welt. Im Zusammenhang des zweiten Anfangs des ›Timaios‹, der nötig wird, um der Notwendigkeit (ananke) ihr Recht einzuräumen (46c und 48c), ist es die Frage nach der ›Chora‹, der »Amme des Werdens«, die aller Geordnetheit der Elemente zugrunde liegt. Gadamer verweist zu Recht darauf, dass die Genese der Weltseele der Verfertigung der Körper des Alls im Sinne des ›Timaios‹ vorausgehen muss (vgl. 34c), 9 ist sie doch deren inneres Bewegungs-Lebensgesetz. Die Genese der kosmischen Seele geschieht nun in mehreren Schritten, deren Exposition seit der Spätantike zu den rätselhaftesten Teilen des ›Timaios‹-Werkes gezählt wird. Gewiss liegen die Gründe zum Teil darin, dass diese Stufenlehre Motive aus der pythagoreischen Überlieferung enthält, die zunehmend in Vergessenheit geraten waren. Es darf aber auch nicht der textimmanente Hinweis vergessen werden, dass wir in der Rede von der Genesis der Seele »vielfach vom Zufall und Ohngefähr abhängig sind« (34c). Die Genesis der Seele ist eine Genesis des Ungeordneten zur Ordnung und zugleich eine Genesis aus einem bestehenden Ordnungsgefüge. Dies vollzieht sich nach Mischungsverhältnissen gegenseitiger Durchdringung. Sie verlaufen keineswegs bruchlos und ohne Schmerzen. Dabei lassen sich drei Phasen unterscheiden: (1.) »Aus beiden, nämlich aus der unteilbaren und sich immer gleich bleibenden Wesenheit [amerístou kaì aei katà tautà echouses ousías] (35a) und derjenigen, welche an den Körpern teilbar wird, mischte [sc. der Demiurg die Seele] als eine dritte Art von Wesenheit zusammen, welche die Mitte 9

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Urbild, Abbild und Notwendigkeit

hielt zwischen der Natur des Selbigen und der des Anderen [tes te tautou physeos kei tes tou hetérou]« (35a).

Er habe die Drei dann vor sich hingestellt, sodass die Seele in die Mitte zu stehen kam. Aufgrund der ersten Mischung wird die Seele ein Mischungsverhältnis aus Selbigkeit und Andersheit. Damit werden die beiden großen Gattungen aufgenommen, deren Verbindung im ›Sophistes‹ dialektisch entwickelt wird. Wir erinnern uns auch daran, dass im ›Sophistes‹ das Erkenntnisvermögen auf diese Verflechtung zurückzuführen ist. (2.) »Darauf nahm er alle drei und mischte sie zu einer einzigen Gestaltung zusammen, indem er die der Mischung widerstrebende Natur des Anderen gewaltsam mit dem Selbigen verträglich machte« (35a).

Diese Fügung des Anderen zum Selbigen ist gegen die noch ungeordnete Natur (Physis) gerichtet. Sie ist, von dieser Natur her betrachtet, ›para physin‹. Mit einem solchen Schritt wird über das Verfahren der Mischung hinausgegangen: Das Andere soll im Selbigen und das Selbige im Anderen zur Geltung gebracht werden, eine Gedankenfigur, an der sich immer wieder die spekulativen Denkformen des deutschen Idealismus entzünden konnten. 10 Im anderen Anfang des ›Timaios‹ wird dann das Aufbrechen einer Andersheit gedacht, die sich aller Transformierung ins Gleiche widersetzt. (3.) »Und nachdem er so beide [also Andersheit und Selbigkeit] mit der Seelensubstanz gemischt und so aus Dreien Eins gemacht hatte, teilte er wiederum dieses Ganze [holon] in so viel Teile als es sich ziemte, so aber dass ein jeglicher aus dem Selbigen, dem Anderen und der Seelensubstanz zusammengesetzt war« (35b).

Diese letzte Teilung, in der das Grundverhältnis von Harmonie wiederhergestellt ist, folgt spezifischen Zahlenverhältnissen. Sie bilden Mittelwerte ab, die im Sinn des Pythagoreismus in Tonschwingungen erklingen können, sodass sie sich zwar akustisch darstellen lassen,

Ein besonderes Inzitament ist der ›Timaios‹-Kommentar des jungen Schelling: H. Buchner (Hg.), F. W. J. Schelling, ›Timaeus‹ (1794). Stuttgart, Bad Cannstatt 1994. Siehe dazu auch die nähere Besprechung dieses Kommentars weiter unten, Siebtes Kapitel, II. Siehe auch die Übersicht K. Hammacher, Platon bei Jacobi, sowie J. Halfwassen, Idee, Dialektik und Transzendenz. Zur Platondeutung Hegels und Schellings am Beispiel ihrer Deutung des Timaios, beide in Kobusch, Mojsisch (Hg.), Platon in der abendländischen Geistesgeschichte. Darmstadt 1997, 183 ff. und S. 193 ff.

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aber doch der Materialität enthoben sind. 11 Es entsteht also wie in der zweiten Mischung wieder ein Gebilde der gegenseitigen Durchdringung von Selbigkeit und Andersheit – doch nun ohne Gewalt. »Dies ganze so zusammengefügte Gebilde aber spaltete er [hierauf] der Länge nach in zwei Teile, verband dieselben kreuzweise in ihrer Mitte, so dass sie die Gestalt eines Chi (X) bildeten, und bog dann jeden von beiden in einen Kreis zusammen, so dass er also jeden mit sich selbst und beide miteinander in dem Punkte, welcher ihrer Durchschneidung gegenüberlag, verknüpfte, umschloss beide mit der auf dieselbe Weise und in demselben Raume herumgeführten Bewegung, und machte den einen dieser Kreise zum äußern und den anderen zum inneren« (36c).

Die beiden Kreise verweisen also, obwohl sie klar voneinander unterschieden sind, aufeinander. Wenn auch der eine als der Kreis des Selbigen und der andere als der Kreis des Anderen benannt wird, so sind sie doch aufgrund der Mischung miteinander verbunden. Die Trennung hat ihre Berechtigung in der unterschiedlichen Natur der beiden Bewegungen, die sich notwendig gegenläufig zueinander vollziehen müssen (36b). Dem Kreis des Selbigen wird dadurch die Dominanz zuerkannt, dass er als unteilbar erwiesen ist. Der Kreis des Verschiedenen dagegen ist in sieben Teile geteilt, die sich unterschiedlich, jedoch in einem spezifischen Verhältnis bewegen: »drei untereinander an Geschwindigkeit gleich, vier hingegen unter sich und von den dreien verschieden, jedoch so, dass sie sich nach einem bestimmten Verhältnisse bewegten« (36d). Diese Kreisform wird deshalb an einer späteren Stelle der Lehrrede unter Bezug auf die Planeten als Werkzeuge der Zeit (38b ff.) den Fixsternen zugewiesen. Der andere Kreis dagegen vollzieht wechselnde Bewegungen, die aber nicht ungeordnet sind und denen eine gewisse Stabilität eignet. 12 Was gibt dieses Mischungsverhältnis, das hier bewusst noch nicht in seiner mathematisch-geometrischen Detailansicht rekonstruiert wurde, in Bezug auf die Seele zu verstehen? Zum ersten, dass die Seele als ein Mischungsverhältnis in zweifacher Hinsicht verstanden wird: im Blick auf den »Gegensatz zwischen der beständigen Seinsweise der unteilbaren Dinge (Ideen) und der unbeständigen Seinsweise der körperlich-teilbaren Dinge (Erscheinungen).« Dies ist ein ontischer Unterschied. »Dazu tritt dann mit Selbigkeit und Verschiedenheit (Identität und Diversität) ein […] 11 12

So z. B. Gadamer, Idee und Wirklichkeit, a. a. O., S. 252. Hierzu Gaiser, Platons ungeschriebene Lehre, a. a. O., S. 42 f.

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Urbild, Abbild und Notwendigkeit

kategorial zu nennender Gegensatz«, der mit dem ersten nicht einfach gleichbedeutend ist. 13 Zum zweiten: Indem verdeutlicht wird, dass die Weltseele eine Realität zwischen Intelligibilität und Sinnlichkeit ist, ist der Grund dafür gelegt, dass sich der ›Gesang‹ von der Weltentstehung, als der sich der ›Timaios‹ verstehen lässt, weiter zu der Einsicht ausfalten lässt, dass die Weltseele dieselben kategorialen Grundelemente wie jede andere Wirklichkeit enthält, nämlich Selbigkeit und Andersheit; und dass als eigentlich Strittiges die Natur (ousia) dieser Grundelemente zu bedenken ist. Sie aber kann nur von der Weltseele her verständlich werden. Doch zugleich muss sie in gewisser Hinsicht vorausgehen, wenn denn die Ordnung des Kosmos überhaupt verstehbar sein soll. Eben hier wird das Ungefähre in allem endlichen Nachsinnen über die Weltseele deutlich. Gadamer hat deshalb die Frage aufgeworfen, »warum die Konstitution der Weltseele […] nicht durch die einfache Einmischung von Selbigkeit und Verschiedenheit hergestellt wird, sondern in einem doppelten Mischungsgeschehen […] zustande kommt.« 14 Man kann, wie er selbst andeutet, im ›Timaios‹ Hinweise auf diesen Sachverhalt finden: Nötig werde es, das Mischungsgeschehen insgesamt darzulegen, da doch die Bewegung der Seele eigentlich in Frage steht und nicht, wie etwa in Proklos’ ›Timaios‹-Kommentar, die Seele in erster Hinsicht als die erkennende Instanz gegenüber allem Seienden ausgezeichnet ist. 15 Auf diese Weise soll gezeigt werden, dass die Seele sowohl am Sein (on) wie am Werden (gignómenon) Anteil hat. Sie ist als das Dritte zwischen Werden und Sein aus eigener Kraft selbst bewegt. Sie ist also Anfang und Ermöglichung der Bewegtheit und doch selbst nicht Teil jener KörGadamer, a. a. O., S. 250. Dazu auch L. Brisson, Le même et l’autre dans la structure ontologique du Timée de Platon. Paris 1974, sowie ders. und W. F. Meyerstein, Inventer l’Univers. Paris 1991. 14 Gaiser, Platons ungeschriebene Lehre, a. a. O., S. 450 ff. Vgl. zum Fragezusammenhang auch: G. Reale, Zu einer neuen Interpretation Platons, a. a. O., S. 445 ff., der dem ›Timaios‹ einen zentralen Ort in der Tektonik zuerkennt. Eine behutsam abwägende Position zu der ›systematischen‹ Timaios-Interpretation, die deren Positiva behält, ohne sich all ihren Thesen anzuschließen, lässt Gadamer, Idee und Wirklichkeit, a. a. O., erkennen. Vgl. auch K. Oehler, Der entmythologisierte Platon. Zur Lage der Platonforschung, in: ders., Antike Philosophie und Byzantinisches Mittelalter. Aufsätze zur Geschichte des griechischen Denkens. München 1969, S. 66 ff., sowie E. Berti, Eine neue Rekonstruktion der ungeschriebenen Lehre Platons, in: J. Wippern (Hg.), Das Problem der ungeschriebenen Lehre Platons, a. a. O., S. 240 ff. 15 Vgl. Gaiser, a. a. O., S. 47, im Anschluss an sein Schema. 13

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perwelt, an der sich Bewegungsphänomene sichtbar zeigen. Es dürfte das Bewegungsphänomen sein, das dazu nötigt, im skizzierten Sinn Teilbarkeit und Unteilbarkeit, Selbigkeit und Andersheit derart ineinander zu verschränken und doch jeweils ihren eigenständigen Charakter zu wahren, wie dies im ›Timaios‹ geschieht – sodass, in Denkfiguren, die einer nicht-spekulativen, neuzeitlichen Denkart nur fremd anmuten können, ontologische und kategoriale Verständigung zusammengeführt werden. Zum dritten: Wie gründlich dieser fremde Gedanke bei Platon Gestalt gewonnen hat, lässt sich aus einigen der ›Testimonien‹ zu Platons ungeschriebener Lehre ersehen, die Konrad Gaiser sinnreich zusammengestellt und interpretiert hat. 16 Nimmt man eine besonders sprechende Stelle aus Aristoteles’ ›De anima‹ (404b 16–27) und Alexander von Aphrodisias’ Bericht im Kommentar zur ›Metaphysik‹ zusammen, dann legt sich nahe, dass Platon die Ideenzahlen (1–2–3– 4), die Raumdimensionen und die Erkenntnisvermögen in seiner ›ungeschriebenen Lehre‹ in spezifischer Weise zusammengesetzt hat. »Und wieder anders: die Einsicht (nous) sei die Eins, das Erkennen (episteme) die Zwei, denn auf einfache Weise beziehe es sich auf Eines, die Zahl der Fläche aber sei Meinung (doxa), sinnliche Wahrnehmung (aisthesis) aber die Zahl des Körperlichen.« 17 Dabei ist auch anzumerken, dass gerade für die mathematisch-geometrische Dimension des ›Timaios‹ die Freilegung der ›ungeschriebenen Lehre‹ wichtige Ergänzungen und Verdienste aufweist. Wie Gaiser weiter namhaft macht, werden durch diese Koordinierung Methexis und Chorismus, die beiden Relationen der Idee zu den Einzeldingen, verständlich. 18 Was in den Ideen im nicht-sichtbaren Urbild der Zahlen rein, aber nicht sichtbar erscheinend ausgeprägt ist, tritt in der Körperwelt sichtbar hervor; in der Seele jedoch in einem mittleren Sinn, nicht sichtbar, sondern allein als Erkenntnisvermögen. Dies konkretisiert sich in dem Grundgedanken des ›Timaios‹, dass die Seele Begrenzung des Körpers ist.

So Gaiser, a. a. O., S. 64. Vgl. auch K. von Fritz, Die Archai in der griechischen Mathematik, in: ders., Grundprobleme der Geschichte der antiken Wissenschaft, a. a. O., S. 335 ff. 17 Gadamer, Idee und Wirklichkeit, a. a. O., S. 251. 18 Gaiser, Platons ungeschriebene Lehre. Stuttgart 31998, S. 224 ff. Dazu ›Timaios‹ 2a–b. 16

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Urbild, Abbild und Notwendigkeit

Geometrie und Ontologie In der geometrischen Strukturierung ist der Nous der Ideen-Zahl (›Einheit‹) zugewiesen, die Erkenntnis der Linie und die Doxa der Fläche, wie es in dem zitierten Aristoteles-Zeugnis in stark verkürzter Form ausdrücklich heißt. Die Wahrnehmung (aisthesis) schließlich gehört der körperlichen Sphäre an. 19 Bemerkenswert ist dabei, dass durch die sichtbare Darstellung die Vermögen der Seele, des Mittleren, in der ihnen gemäßen ordnungshaften Folge Ideenwelt und Erscheinungswelt jeweils für sich beschreiben und dadurch deren Beziehung aufeinander ermöglichen. Damit ist aber zugleich gezeigt, dass die horizontale und die vertikale Korrelation nur zwei Seiten eines bewegungshaften Verhältnisses sind, das als Weg zum Einen und zu den Ideen zu verstehen ist; gerade auch, wenn man sich ausschließlich an die mathematisch-geometrische Veranschaulichung hält. 20 »In der Tat kann die Abfolge der Dimensionsformen das ontologische Gesetz veranschaulichen, dass der übergeordnete Bereich jeweils im untergeordneten als gestaltgebende, formierende Grenze (peras) wirkt« und dass die Frage nach der Seins-möglichkeit jeweils aus der sinnlichen Sphäre in jene der Ideen führt: »Körper gibt es nicht ohne Flächen, Flächen nicht ohne Linien«. 21 Die Durchlässigkeit auf das Eins, das Urbild, wird auch deutlich, wenn man die einzelnen Stufen je für sich betrachtet: Sowohl bei den Idealzahlen als auch in der Welt der Körper stellt sich immer die Zweiheit ein, die Einheit und die Zweiheit, nämlich der Prototyp des Verhältnishaften (›viel‹ und ›wenig‹, ›weniger‹ und ›mehr‹, ›tief‹ und ›flach‹), wobei die Zweiheit in Platons esoterischer Lehre auch Paradigma des ›Schlechten‹ gewesen zu sein scheint (vgl. Aristoteles, Metaphysik A 6, 988a 6–10 und N 4, 1091b 13–15). Im Grundverhältnis von ›teilbar‹ und ›unteilbar‹ bzw. von ›Selbigkeit‹ und ›Verschiedenheit‹ wird dieser doppelte ideenhafte Anfangsgrund im ›Timaios‹ ausgesagt, sodass, was die Tübinger Platon-Interpretation zu wenig reflektiert, von den Idealzahlen im strengen Sinne nur gesprochen werden kann, wenn es um Eins und Zwei, nicht aber, wenn es um die Reihe von Eins bis Vier geht. 19 20 21

In ›Timaios‹ 32 a ist dieses Verhältnis durchgeführt, freilich nur für ein Mittelglied. Gaiser, Platons ungeschriebene Lehre, S. 250 ff. Gadamer, Idee und Wirklichkeit, a. a. O., S. 251.

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KOSMOS UND LEBENDIGKEIT

Die geometrische Verdeutlichung, wie sie sich aus den Bezeugungen der ›ungeschriebenen Lehre‹ ergibt, erlaubt präziser zu bestimmen, dass die Seele das »Zwischenglied zwischen der Welt der Ideen und der Welt der Erscheinungen« ist. 22 Deshalb ist sie zwischen teilbarem und unteilbarem Sein, zwischen Selbigkeit und Verschiedenheit angesetzt. Mit der Seele wird die Übergangsbewegung zwischen der idealen Zahl und den Körpern verglichen: Im Sinn der Geometrie weist sich dieser Übergang als jener zwischen Linie und der Linien-Verbindung zur Fläche aus. In Linie und Fläche also sind die reinen Zahlenverhältnisse erstmals darstellbar, und zugleich sind Linie und Fläche die elementaren Konstituentien des Raumes. So hilfreich die geometrische Verbildlichung ist, der Phänomenzusammenhang erschließt sich doch nicht erst in der Beachtung der esoterischen Testimonien, sondern in eminenter Weise im Hören auf den Wortlaut des ›Timaios‹. So sehr also gerade für das kosmologischkosmogonische Denken und seine mathematisch-arithmetische Anlage die Beachtung der esoterischen Lehre hilfreiche Ergänzungen liefert, so bleibt sie doch auf das Gesagte zurückzubeziehen. In eben diesem Sinn hat Gadamer zu Recht sein Augenmerk auf die Rede von der Erkenntnisweise des seelischen All-Lebewesens gerichtet. 23 Es erkennt in einer stummen, ihm innerlichen Kenntnis, wobei in diesem stimmlosen Geschehen, wenn immer ein Seiendes an die kosmische Seele rührt, diese ganz (pasan tèn psychén) (37b 7) bewegt wird. Dadurch erkennt die Seele das Seiende im Verhältnis zu seiner Umwelt, »womit nur immer irgendetwas Dasselbige oder wovon es verschieden ist, und in was für Beziehung vornehmlich und auf welche Art und Weise und, wann für dasselbe der Fall eintritt, was immer und im Verhältnis zu wem immer sowohl von dem Werdenden als auch von dem immer sich Gleichbleibenden zu sein« (37b).

In zweifacher Weise fächert sich die Erkenntnisweise auf: Die Kundgabe ohne Schall ist gleichermaßen wahr, sie bleibt ›alethes logos‹, ob sie sich nun auf das Verschiedene (thateron) oder ob sie sich auf das Selbe (tauton) bezieht (37b). Die Kundgabe dieses wahren Logos in der Welt-Seele geschieht stumm, allein durch reine Bewegung. Dies korrespondiert mit den Kategorien von Selbigkeit und Andersheit im Ibid., S. 252. Dazu Gadamer, Idee und Wirklichkeit in Platos ›Timaios‹ (1974), in: Gadamer, Gesammelte Werke, Band 6, Griechische Philosophie II, a. a. O., S. 242 ff.

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Urbild, Abbild und Notwendigkeit

›Sophistes‹, denen »in merkwürdiger Empfindungslosigkeit« Ruhe und Bewegtheit hinzugefügt werden. 24 Deshalb spricht vieles dafür, dass Platons ›Timaios‹ die Kategorien von Selbigkeit und Verschiedenheit in der Bewegung der Weltseele grundgelegt sieht. In der Erscheinung entsprechen ihr die gleichbleibenden Fixstern- und die wechselnden, einer Ordnung folgenden Planetenbewegungen. Die Grundunterscheidung des Selben und des Verschiedenen verdankt sich freilich nicht den endlichen und sinnlichen Erscheinungen der kosmischen Abläufe. Dieser Gedanke ist überhaupt nur möglich, da das Abbild der kosmischen All-Seele immer schon vom Urbild her gedacht wird, dem es durchgehend ähnlich sein soll. Von ihm ausgehend hat die Zeit ihre Bedeutung, sodass sie als »bewegliches Abbild der Ewigkeit« verstanden werden kann (37d), das nach der Ordnung der Zahlen bewegt ist. Während die Kundgabe der Welt-Seele in Bezug auf ›tauton‹ und ›thateron‹ gleichermaßen wahr ist, verschieben sich die Erkenntnisweisen, je nachdem, ob die Seele sich auf das sinnlich Wahrnehmbare (to aithetón) oder das Vernunfthafte (logistikon) bezieht; im einen Fall formieren sich gesicherte, wahre Vorstellung bzw. Meinung (pistis und doxa), im anderen Nous und gefestigtes Wissen (episteme) (37b–c). Im zweiten Fall wird der der Seele gemäße Kreislauf des Anderen beschritten, im ersten jener des Selbigen, dem nach der kosmischen und noetischen Ordnung doch immer der Primat zukommt. Die Selbigkeits-Andersheits-Unterscheidung liegt also aller Erkenntnis zugrunde. Indem sie in ihren Betätigungen diese Unterscheidung erzeugt, erweist sich die Seele im ›Timaios‹ als »Mittleres«. Dabei ist der ›Timaios‹ nicht nur von einer tektonischen Spannung zwischen Mythos und geometrisch-mathematischer Explikation durchzogen – durch ihn geht ein weiterer unübersehbarer Riss. Dies macht sich das erste Mal bemerkbar, als Timaios seinen Bericht von der Entstehung der Augen und der Sehkraft unterbricht und bemerkt: »Dies Alles gehört unter die Hilfsursachen (synaitíon), welche Gott als dienende Kräfte verwandte« (46c). Sie würden aber von den meisten für die wirklichen Ursachen gehalten. Diese Verwechslung ist zu vermeiden. Denn die Hilfsursachen sind unvermögend, »allein mit Überlegung und Vernunft auf Etwas hinzuarbeiten« (46d). In einem zweiten Vgl. Cornford, Plato’s Cosmology. The ›Timaeus‹ of Plato, translated with a running commentary. London (1948).

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Textpassus ist dann ganz deutlich gesagt, dass ein zweiter angemessenerer Anfang (hetera arche) gesucht werden müsse (48b). Das wäre, so wird wenig früher bemerkt, ein Anfang, der nicht nur die Wirkungen des Nous zu betrachten erlaubt, sondern auch »das, was durch die [blinde] Notwendigkeit [ananké] entsteht« (48a). Bemerkenswert ist, wenn man die beiden angeführten Stellen zusammen betrachtet, dass die Begrenzung auf den Nous zu Scheinursachen führt, die gerade nicht der Entstehung von Etwas aus dem Logos, also der von den Ordnungen des Nous geforderten Einsicht, gerecht werden. Offensichtlich wird nämlich, wenn sich der Gedanke bei den Hilfsursachen beruhigt, nicht tief genug gebohrt. Diese Tiefengrabung führt auf den Widerstreit zwischen Ananke und Nous. Der zweite Anfang nötigt in diesem Sinn dazu, hinter das bislang Gesagte zurückzugehen. Dabei muss eine Voraussetzung, die in der Erörterung des Vernunftanfangs unbefragt geblieben war, in Frage gestellt werden: die Gewordenheit der Elemente. Ursprungscharakter hat sie gerade nicht. 25 Ein Missverständnis ist zu vermeiden: Tiefer zu fragen heißt nicht, nun doch noch in das Geheimnis des Demiurgen einzudringen. Es ist eher die Verborgenheit der ›Physis‹ selbst, die in diesem anderen Anfang sichtbar gemacht wird. In einem bislang bewusst nicht interpretierten Passus, der den Ausführungen zur Genesis der All-Seele vorausgeht, wird die Bildung des Weltkörpers aus den vier Elementen behandelt. Dort findet sich zum ersten Mal die Bedeutung von Mischungsverhältnissen thematisiert, und es wird gesagt, dass sie am besten (ariston) durch die Gewinnung der proportionalen Mitte (to méson) zu verstehen ist, die dann im Einzelnen in Zahlenverhältnissen ausgedrückt wird. Das proportionale Mittel des Welt-Körpers ist indes dreidimensional, sodass es, im Unterschied zur Fläche, nicht nur durch eines, »sondern stets durch zwei Mittelglieder zusammengehalten« werden kann (32b). Der Gott fügt Wasser (hydor) und Luft (aéra) in die Mitte zwischen Feuer (pyr) und Erde (ges) und mischt sie im Sinne des Ordnungsgesetzes der Proportionalität (1 : 2 = 2 : 3 = 3 : 4) derart zusammen, 26 dass sich »das Feuer eben so zur Luft, wie die Luft zum Wasser, und wie die Luft zum Wasser so das Wasser zur Erde« verVgl. Gadamer, Idee und Wirklichkeit, a. a. O., S. 259. Siehe auch J. E. Moncada, Chora und Chronos. Logos und Ananke in der Elemententheorie von Platons ›Timaios‹. Wuppertal 1994. 26 Zu den Einzelheiten Cornford, Plato’s Cosmology, a. a. O., S. 280 ff. 25

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Urbild, Abbild und Notwendigkeit

hält. Dadurch ist der Weltkörper als Einheit gebildet. Er ist durch die innere Zusammenstimmung seiner Teile unauflöslich geworden. In zumindest dreifacher Hinsicht wird diese Genese des Weltkörpers (soma tou kosmou) einsichtig gemacht: (1) Die vier Elemente machen die Grundstoffe des Alls aus. Diese Einsicht wird nicht nur aus der antiken Naturforschung gewonnen. Sie entspricht im Falle von Feuer und Erde einer Vernunftnotwendigkeit, die allerdings keineswegs mit der Ananke verwechselt werden darf. »Ohne das Feuer aber kann schwerlich je Etwas sichtbar werden, noch fühlbar ohne etwas Festes«, dessen Inbegriff die Erde sei (31b). Wenn das Gewordene als körperhaftes Etwas existieren soll, dann muss es fest, fühlbar und wahrnehmbar sein. Weiter ist zu bedenken, dass Feuer und Erde für sich genommen sich nicht verbinden können. Sie bedürfen also des Bandes, der verbindenden Vermittlung (synagoge), um sich verbinden zu können. (2) Zum zweiten ist das Werden des Welt-Körpers aus den vier Elementen vernunfthaft, also der Orientierung am Nous gemäß, da es, ohne dass Reste bleiben, ein in sich wohl-bestimmtes Ganzes hervorbringt, das zudem ein einziges ist, »sofern nichts übrig geblieben [ist], woraus ein Anderes von derselben Art entstehen könnte« (33a). Dieses Ganze lässt auch ein ihm äußerlich bleibendes schlechterdings Anderes nicht zu, sodass der Welt-Körper auch nicht Alterungs- oder Krankheitserscheinungen, die immer von außen kommen müssten, unterworfen sein kann. Vernunftgemäß, nämlich der Überlegenheit an Schönheit und Sinn entsprechend, sind dann sowohl die Form des Weltkörpers wie seine Bewegung. Erstere bestimmt der ›Timaios‹ als die Kugel, die immer gleich weite Entfernungen zwischen Mitte und Endpunkten aufweist (33b). Die Bewegung ist die gleichmäßige Kreisbewegung, die am meisten Vernunft (nous) und Einsicht (phronesis) entspricht (34a). Eben in dieser Vernunfthaftigkeit liegt nun aber auch eines der Probleme, die zum zweiten Anfang nötigen. Die noetische Ausgangsannahme erlaubt es nicht, das All-Chaos zu denken, das die Elemente vor ihrer Ordnung in ihrem Verhältnis zueinander bestimmt. Sie reicht mithin nicht bis in die Verborgenheit der Natur zurück. 27 Es bleibt jenes große Ungefähr unaufgelöst, dem zufolge die Ordnungen der Welt-Seele in der Bildung des Welt-Körpers schon vorausgesetzt 27

Auf diese Aspekte verweist Gadamer, a. a. O., S. 257 und S. 259 besonders.

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werden müssen, obwohl nicht in ihre Urbildhaftigkeit vorgedrungen werden kann (34b–c). Sobald also aufgeht, dass der Mensch aufgrund seiner Endlichkeit eigentlich so nicht sprechen kann, wie in der Lehre vom Welt-Körper gesprochen wird, ist bereits der Bruch zu ahnen, der dann zum Ungenügen an dem ersten, geometrisch erklärenden Anfang des Nachdenkens führen wird (47e ff.). Im Zusammenhang des evokativen Gesangs, als der der ›Timaios‹ seiner Form nach zu verstehen bleibt und der aus der Anwesenheit des Göttlichen lebt (vgl. 29d), wird die Elementenlehre als Grund der Seelenlehre nicht außer Kraft gesetzt. Sie ist aber ein brüchiger Grund, und sie ist allein sinnvoll zu verstehen als Zeugnis des tiefen Staunens über den Gott, der im Sinn der ältesten griechischen Kronoszeit anfangslos ist. Denn nur aus der Stimmung dieses Staunens heraus lassen sich im Wissen um ihre Unmöglichkeit die ›logismoi theou‹, die Erwägungen des Gottes, welcher von Ewigkeit her ist, anstellen. Dass der philosophische Logos die Gedanken des Gottes nicht denken kann, reflektiert Platon in seiner Elementenlehre. 28 Diese Elementenlehre ist deshalb als Gedankenzusammenhang zu verstehen, den der Demiurg über einen zweiten Gott anstellt: die zugleich abbildhafte und vollendete Welt, die er so anlegt, dass sie einzig und einsam und sich selbst genug sein kann, keines anderen bedarf und »hinlänglich bekannt und befreundet allein mit sich selber« ist (34b). 29 Sie konstituiert sich deshalb »zu einem seligen Gotte« (ibid.).

Der ›andere Anfang‹ : Grund und Abgrund der Chora Damit sind die Reflexionen bis zu dem Punkt geführt, an dem der zweite Anfang einsetzt. Wenn im ›ersten Anfang‹ des ›Timaios‹ zuerst von Mischungen die Rede war, so ist es nur folgerichtig, dass der zweite Anfang einen Urbegriff des Gemischtseins bietet: Das Werden der Welt ist gemischt, so heißt es nun, geht die Welt doch »aus einem Zusammentreten der Vernunft und der Notwendigkeit hervor« (48a). Diese Verbindung (systasis) wird genauer bestimmt. Die Mischung erscheint im Sinn des anderen Anfangs als ein spezifischer Wider-

Vgl. dazu L. Brisson, Le même et l’autre dans la structure ontologique du Timée a. a. O. 29 Siehe H. Krings, Genesis und Materie, a. a. O., S. 126 ff. 28

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Urbild, Abbild und Notwendigkeit

streit, nämlich ein Überredungsversuch des Nous an der blinden Ananke. Man muss hier die Bedeutung mithören, die dem Begriff des ›Überredens‹ (peithein) bei den Sophisten zukam. Das Überreden richtet sich nicht an das denkende, sondern an das affektive Vermögen, also an Lust und Unlust. Die Notwendigkeit (ananke) wird also bildhaft so vorgestellt, dass sie nicht über ein Denkvermögen, wohl aber über Affekte verfügt und allein über sie ansprechbar ist. Die Dramatik des Übergangs in den zweiten Anfang wird im ›Timaios‹ sehr deutlich instrumentiert. Mit der Genese der Elemente werde ein Bereich berührt, den »noch Niemand« erörtert habe (48b). Obwohl sich also auch der zweite Anfang im Blickkreis und der Methode des ›eikos logos‹ bewegt (48d), soll doch in einer »Alles übertreffende[n] Weise von Anfang an über das Einzelne und das Gesamte« (perì hekaston kai sympánton) gesprochen werden (ibid.). Dabei soll tiefer als im Zusammenhang des ersten Anfangs die Welt ihrem Wesen nach als Abbild gedacht werden. Einzelnes und Ganzes zusammenzusehen – dies wird der methodische Leitfaden, der den Rückgang in den Anfang nach der Notwendigkeit rechtfertigt. Die Darstellungsweise wird als »fremdartig und ungewöhnlich« (48d) ausgewiesen. Schwierigkeiten werden nicht ausbleiben, denn das gesuchte Dritte, die Chora, ist selbst eine »schwierige und dunkle Gattung« (chalepòn kaì amhydròn eidos) (49a). Sie wird deshalb mit sehr ambivalenten Bildern umschrieben: sie ist Aufnehmerin, an etwas späterer Stelle heißt es: »Mutter« (50d) des Werdens. Zugleich ist sie seine Amme und seine Ernährerin. Jedes dieser Bilder eröffnet einzelne Aspekte und verdunkelt andere Seiten wieder. Ein begriffliches Gesamtbild der Chora, gar ihre Definition im Sinn eines ›atomon eidos‹ sind offensichtlich nicht möglich. Die Chora, so scheint es, ist nicht im Ganzen zur Darstellung zu bringen. Es bedarf deshalb einer Erklärung, die jedoch auf Schwierigkeiten stoßen wird, denn es versteht sich keinesfalls von selbst, dass mit dem Instrumentarium des Logos überhaupt in den vorelementaren Bezirk hineingefragt werden kann. Mehrere Gänge sind also erforderlich, um die Chora zu explizieren und zu exponieren. 30 Auf einem ersten Gang (49a–50c) wird Vgl. auch die eigenständige Aneignung bi W. Heisenberg, Platons Vorstellungen von den kleinsten Bauteilen der Materie und die Elementarteilchen der modernen Physik, in: F. Hollwich (Hg.), Im Umkreis der Kunst. Festschrift für E. Preetorius.

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deutlich gemacht, dass den Elementen, die in ihr fluktuieren, keine Beständigkeit zukommt. Sie sind immer nur augenblicksweise in ihrem eigenen Aggregatzustand aufzufinden und schlagen durch Verdichtung, Verflüssigung oder Auflösung wechselseitig ineinander um: Wasser kann in einen festen Aggregatzustand übergehen. Beständigkeit eignet allerdings ihrem Modus, das nicht nur ein Wiesein ist, sondern zugleich ein Worin. »Von allem, was wir bald so und bald anders werden sehen, wie zum Beispiel das Feuer, werden wir niemals sagen: dies ist Feuer, sondern stets nur: in dieser Beschaffenheit ist dies Feuer« (49d). Damit erweist sich im Blick auf die fluktuierende Urform der Elemente die philosophische Wesensfrage ›Ti estin‹ als sinnwidrig. Das übergängige Seiende in der Chora lässt sich nicht stimmig und in Erwartung dauernder Gewissheit auf sein Was-Sein – »Dies ist das und das« – hin ansprechen (49e). Auch die Unterscheidung von Sein und Werden kann überhaupt erst dann ausgewiesen werden, wenn auf das Dritte, die eigentliche Wesenheit, zurückgegangen wird, »welche alle denkbaren Gestalten an sich zulässt« (50b). Sie ist die Matrix bestimmter Beschaffenheiten und sie ist immer eine und dieselbe. Dieses Dritte ist jenseits von Sein und Werden und es ist selbst gestaltlos, kann aber alle Gestalten annehmen. Es darf keiner von den Gestalten ähnlich sein, die in sie eingehen (50c). Die Amme oder Mutter des Werdens zeigt sich also proteushaft, 31 übergehend und nicht fixierbar. Ein zweiter Argumentationsgang setzt hier ein (50c–51b). Das angeschlagene Leitthema der Gestaltlosigkeit bleibt auch in ihm bestimmend. Es wird aber nun verdeutlicht, indem der Verhältniszusammenhang zwischen Gestalten, also den Elementen im Übergang, und der Chora nicht nur als ›Worin‹, sondern als ›Woraus‹ expliziert wird. Die Elemente sind aus der Chora und können nur deshalb immer wieder in sie zurückkehren, ganz im Sinn der Rückkehr des sphärischen Kosmos in sich (37b), auf die bereits der erste Anfang hingewiesen hatte. Dieses ›Woraus-Sein‹ bedeutet also, dass die selbst gestaltlose Chora im Kern alles Seiende, also die »Abbilder von Allem, was da von Ewigkeit ist« (51a), in sich enthält. Die Chora erzeugt das Gewordene, das als ihr Kind bezeichnet wird (50d). Wiesbaden 1954, S. 137 ff. siehe exemplarisch: R. D. Mohr, The Platonic Cosmology. Leiden 1985. 31 Zur Chora-Problematik nochmals: Moncada, Chora und Chronos, a. a. O.

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Urbild, Abbild und Notwendigkeit

Diese Annäherung führt noch einmal auf die Elemente: Feuer ist der entzündliche »Teil«, besser »Aspekt« der Chora, Wasser der feucht gewordene, sodass sie »als Erde und Luft insoweit erscheint, als sie Abbilder von ihnen in sich aufnimmt« (51b). Ihr Wesen aber ist mit diesen Gestalten nicht erschöpft und auch gar nicht getroffen. Es liegt in der Gestaltlosigkeit. An dieser Stelle beginnt ein dritter Gang, dessen Exposition eine deutlichere argumentative Zäsur bedeutet, als sie zwischen dem ersten und dem zweiten Erörterungsweg zu erkennen war. Gefragt wird nach dem Eidos des Feuers und damit wohl indirekt auch nach dem Verhältnis der Chora zur Idee. Vom Eidos des Feuers ist dabei nicht zufällig die Rede: Nicht nur wird mit dem Feuer auf die Urstiftung der griechischen Kosmologie im vorplatonischen Denken, vor allem bei Empedokles, zurückverwiesen; es ist vielmehr die Frage nach der Scheidung sinnenhafter und ideenhafter Erkenntnis aufgeworfen. Ist doch das Feuer selbst nicht dinghaft gebunden, sondern überall dort, wo Wärme ist, und in reinster Gestalt in der ausschlagenden Flamme wahrzunehmen bzw. zu erkennen. 32 Dies ist zwar eine Schwierigkeit, die sich bei allen Elementen stellt, sich aber beim Feuer schon phänomenhaft am deutlichsten bemerkbar macht, wie in ähnlicher Weise vielleicht noch bei der Gestaltlosigkeit des Wassers (vgl. Parmenides 130c). Wir erinnern uns hier daran, dass der junge Sokrates im ›Parmenides‹ bezweifelt, ob den Elementen Ideen zukommen, und dass ihn der greise Parmenides dann in ein Vexierspiel der Widersprüche führt. 33 In der Sache wird die Verbindung mit der Idee durch eine Auffassung ›unechten Denkens‹ provoziert, die an die Chora rührt, sie aber einfach als ausgedehnten Raum versteht und damit verkennt. »Bastardschluss« nennt die Übersetzung pointiert diese Gegenthese: »Es müsse doch notwendig das, was ist, an einem Orte sein und einen Raum einnehmen, was aber weder auf der Erde noch sonst im Weltall sich befinde, sei überhaupt gar nicht vorhanden« (52b). Die Chora erscheint diesem unechten Denken als ein Ort, auf den man trifft, wenn man das Sein von sinnlichem Seienden aufweisen und nach seiner Existenz fragen möchte. Platon kennzeichnet das unechte DenDazu und zu anderen Detailfragen: G. E. R. Lloyd, ›Plato as a Natural Scientist‹, in: The Journal of Hellenic Studies 88 (1986), S. 78 ff. 33 Vgl. im selben Kontext zu der dialogimmanenten Aristoteles-Kritik an der platonischen Ideenlehre. Dazu weiter oben, Sechstes Kapitel I. 32

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ken weiter als Träumerei, also als einen Zustand, der weder den Schlaf noch das Wachen erlaubt. Die Schwierigkeiten, die sich mit dem Gedanken der Chora verbinden, sind derart, dass auch die philosophische Natur immer wieder in diesen Schlaf hineingezogen wird, wenn sie die Elemente als unhinterfragte Einzelgestalten denkt. In denselben Kontext gehört es, dass der ›Timaios‹ weiter von »alla adelpha« (52b), also geschwisterlich verwandten Träumereien, spricht, womit nach Archytas’ Zeugnis Zahl und Größe gemeint sein sollen, 34 also die mathematischen Strukturelemente, die im ersten Anfang die Weltseele strukturiert haben. Dieser Hinweis berührt sich dann aufs engste mit dem ›Traum der Mathematiker‹, von dem sich in der ›Politeia‹ die philosophische Dialektik abgestoßen hatte und der auch im ›Theaitetos‹ eine Rolle spielte. Er gibt aber vor allem im weiteren Fortgang der Argumentation zu denken; denn die Lehre von der Chora als dem dritten Seins-Genus wird in einem unbetonten Übergang in eine geometrische Konstruktion der Welt-Elemente überführt. Bezogen auf das Archytas-Zeugnis mag man sich fragen, ob dies denn wachend oder träumend geschieht.

Ein methodischer Hinweis ist hier weiter zu berücksichtigen. Platon gibt zu verstehen, dass in starker Verdichtung über Zusammenhänge gesprochen wird, die eigentlich zu umfänglichen Zwischenuntersuchungen Anlass geben müssten (51d). Dieser kondensiert gedrängten Darstellung verdankt es sich, dass wie in einem philosophischen Bekenntnis der innere Gedankenzug in wenigen Worten ausgesprochen wird. Die aus dem Rechtszusammenhang der attischen Volksversammlung entnommene Formulierung ist unzweideutig: »Hode oun tén g’emèn autòs títhemai psephon« – »Folgendermaßen gebe ich demnach meine Stimme ab.« Dabei soll die Unterscheidung zwischen Nous und zufälligerweise richtiger Vorstellung (doxa alethes) zur Geltung gebracht werden. Auf diese Unterscheidung muss derjenige treffen, der sich der Chora aussetzt. Sie ist scheinbar der Idee am weitesten entgegengesetzt, diametral von ihr unterschieden. Dennoch erschließt sie sich Vgl. K. von Fritz, Gleichheit, Kongruenz und Ähnlichkeit in der antiken Mathematik bis auf Euklid, in: ders., Grundprobleme der Geschichte der antiken Wissenschaft, a. a. O., S. 430 ff., sowie ders., Theaitetos und die antike Mathematik, in: Philologus 87 (1932), S. 30 ff. und S. 136 ff. Siehe ferner Gadamer, Mathematik und Dialektik bei Plato, in: ders., Plato im Dialog, a. a. O., S. 290 ff.

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nur dem Denken, nicht der Anschauung. Je mehr man sich ihr annähert, umso weniger lässt sich die Vorstellung der unecht Denkenden aufrechterhalten, dass »alles, was wir durch die Sinne des Körpers wahrnehmen, für das Sicherste gelten« dürfte (51d). Die Annäherung an die Chora dient der Korrektur solcher Irrmeinungen und damit der klaren Unterscheidung von Nous und richtiger Vorstellung. Die wahre Vorstellung, in deren Umkreis der erste Anfang befangen blieb, entsteht durch Belehrung. Sie ist eine von außen kommende Einsicht, nicht inneres Zurategehen der Seele mit sich selbst. Sie setzt zwar schrittweises Überlegen voraus, doch sie bleibt der nicht-philosophische Weg der Paideia, der jedem offensteht (51e). Dagegen entsteht der Nous durch »Überredung in uns«, die sich der Bewegung der Seele verdankt und deshalb, im Unterschied zur Meinung, veränderlich ist. Das philosophische Denken bleibt in einer unabschließbaren, zetematischen Fragebewegung begriffen, der sich die ›wahre Doxa‹, die doch gefunden zu haben meint, ohne sich über die Triftigkeit Rechenschaft ablegen zu können, nicht aussetzt. Täte sie es, wäre sie nicht mehr Meinung. 35 In einer provozierenden Zuspitzung heißt es sogar, dass das Denken ›alogon‹ sei: Es ist nämlich anders als die ›wahre Meinung‹ nicht auf schrittweise Überlegungen angewiesen. Seine Einsichten stellen sich vielmehr blitzartig ein, wenn auch im lange dauernden Zusammenhang des inneren Gesprächs, das gemäß der Erkenntnisart der Weltseele nicht laut- und stimmhaft nach außen dringt. Zudem ist die Möglichkeit zum Nous nicht der Tendenz nach jedem Menschen gegeben, sondern nur den Göttern und von den Menschen »ein[em] geringe[n] Teil«, eben den wahrhaft am Nous orientierten Denkenden (51e). Alles dies wird, gemäß der bekenntnishaften Bemerkungen über die philosophische Denkart, nicht eigentlich begründet, sondern noch immer im Sinn einer entschiedenen Stimmabgabe ausgesprochen. Timaios spricht davon, dass mit der Unterscheidung zwischen ›alethes doxa‹ und ›nous‹ zugegeben werden müsse, dass das Sein als unerschließbares Urbild, unerzeugt und unvergänglich, unsichtbar und sich selbst genug sei. Dagegen ist das Abbild, der werdende Kosmos, dem Urbild »gleichnamig und ähnlich« (52a), jedoch in steter BeweZu den zahlreichen Verklammerungen des ›Timaios‹ mit der Lehre von der Polis L. Schäfer, Das Paradigma am Himmel. Platon über Natur und Staat. Freiburg/Br., München 2005.

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gung, erzeugt und vergehend. Zwischen Urbild und Abbild vollzieht sich also eine ›Metabasis eis allo genos‹. Die Chora erweist sich als die Stätte (hedra) für alles, was ein Werden hat und dem Vergehen unterworfen ist, aber durch kein vernunfthaftes Reden zu erfassen und genauer zu bestimmen ist. Dieser Zusatz verdeutlicht die tiefliegende Aporie, die sich darin zeigt, dass die Chora darauf hinweist, dass es der Begründung des Seienden in ewigen Ideen bedarf. Sie ist aber selbst der Ideenlehre inkommensurabel. Deshalb ist es völlig zutreffend, wenn Gadamer diesen dritten Gang zur Explikation der Chora gerade nicht als einen »die paradigmatisch verstandene Ideenlehre überwindende[n] Gedanke[n]«, sondern als ihre Weiterbildung versteht, freilich in der Fokussierung auf die leitende Frage, was es denn heißt, dass die Welt ein Bild, genauer: ein Abbild ist. 36 Daraus wird deutlich, dass die Perspektive auf die Ideenlehre, die der ›Timaios‹ gibt, gegenüber dem in den dialektischen Spätdialogen, jedoch auch in den vorläufigen Mitteilungen in ›Politeia‹ oder ›Politikos‹ Erörterten ungewöhnlich und fremd bleibt. An keiner Stelle ist von dem aus dem ›Parmenides‹ bekannten Ineinandergreifen von ›Dihairesis‹ und ›Synagoge‹ die Rede. Es wird vielmehr gezeigt, dass der Kosmos bei all seiner Vollkommenheit, seiner vollendeten Ähnlichkeit zum unerkannten Urbild, von einer ›heterótes‹-Struktur durchzogen bleibt und dass das Urbild, das eigentliche Paradigma von Einheit, nicht erkennbar ist. Diese Akzentuierung der bei aller Wohlordnung im ersten Anfang nicht tilgbaren Andersheit hängt eng mit dem Bildcharakter der Kosmogonie zusammen – denn das Bild ist im Sinn des ›Timaios‹ Bild von etwas nicht Darstellbarem. Die ›heterótes‹-Struktur geht am Bild selber auf, sie durchzieht es als Durchsichtigkeit auf seinen fluktuierenden und nicht fixierbaren Grund. Gadamer formuliert die phänomenale Evidenz, auf die der ›Timaios‹ hier hinweist, mit treffenden Worten: »Ein Abbild ist nicht bei sich selbst, sondern im Verweisen […]. Ein Bild ist ein Bild von etwas nur dadurch, dass es das Etwas nicht ist, das es abbildet, sondern für sich etwas ist. Ein Bild ist aber andererseits nur ein Bild, wenn es dies, was es für sich ist, nicht sichtbar hervorkehrt, sondern ganz nur das andere erscheinen lässt.« 37 Vgl. zum Urbild-Abbild-Problem K. Gloy, Timaios. Würzburg 1986, S. 160 ff., sowie Moncada, a. a. O. Siehe auch Th. Leinkauf und C. Steel (Hg.), Platons Timaios als Grundtext der Kosmologie in Spätantike, Mittelalter und Renaissance. Leuven 2005. 37 Gadamer, Idee und Wirklichkeit, a. a. O., S. 267. 36

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Urbild, Abbild und Notwendigkeit

Der platonische Text fasst dies grundsätzlicher, in einem Blick auf die Ideal-Zahlen aus dem ersten Anfang und indem er damit eine Gedankenbahn erschließt, die als Korrektur am eleatischen ›einen Sein‹ zu verstehen ist und insofern der Eleatenkritik unter anderem im ›Sophistes‹ an die Seite zu stellen ist. Nur bei dem unveränderlich einen Sein, so der Gedanke, kann das Selbe nicht zugleich Eins und Zwei sein, genauer: kann nicht das mit sich selbst Gleiche und sich selbst Genügende in und aus einem anderen sein, entstehen und vergehen (52c). Die Zweiheit gehört notwendigerweise der Sphäre des Bildes an. Da das Bild auf anderes verweist, da es Sein im Zustand des teilbaren Werdens darstellt und seine Entstehensursache nicht »in sich selber hat, sondern immer nur als Erscheinung eines anderen« vorkommt, kommt es ihm nur zu, entweder »in einem Anderen zu werden, damit es doch irgendwie mit dem Sein verknüpft ist, oder aber gar nicht vorhanden zu sein« (52c). Das Anders-Sein ist also erst im Licht der Chora zu verstehen. Es bezeichnet die Relation zum Urbild und seine Manifestation in der Chora, in und aus der der Kosmos als Abbild ist, was zugleich heißt, dass er nicht in und aus sich selbst ist. Diese Andersheit geht sogar in die Bestimmung der Identität der Chora ein. Gesagt wird nämlich, dass sie als ›Amme‹ und ›Mutter‹ »dem Anblicke alle möglichen Erscheinungen darbietet« (53d–f). Es scheint zunächst so, als komme die ›Chora‹ im weiteren Lehrgespräch nicht mehr ausdrücklich vor. Deshalb konnte man in der kommentierenden Literatur so weit gehen, eine Zusammenhanglosigkeit zu dem Vorhergehenden und Folgenden festzustellen. 38 Wenn man die Struktur des ›Timaios‹ etwas aufmerksamer verfolgt, wird aber deutlich, dass die Frage nach der Chora im Hintergrund leitend bleibt, auch wenn sie nicht ausdrücklich formuliert ist. Allerdings ist in den weiteren Bestimmungen des »anderen Anfangs« nicht mehr isoliert von der Chora, sondern im Zusammenhang mit der Herrschaft der Notwendigkeit (ananke) die Rede. Durch ihre Schüttelbewegung bringt die Chora die Elemente

Vgl. Cornford, Plato’s Cosmology. The Timaeus of Plato translated with a running commentary. Nachdr. London 1977. Zu den verschiedenen Deutungsperspektiven siehe Th. Calvo und L. Brisson (Hg.), Interpreting the Timaeus-Critias. St. Augustin 1997, sowie Th. K. Johansen, Plato’s Natural Philosophy. A Study of the Timaeus – Critias. Cambridge 2004.

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erstmals zur Erscheinung. Sie erscheinen jedoch noch völlig ungeordnet (53d f.). Die Elemente tragen in diesem Aggregatzustand »zwar schon gewisse Spuren von ihrer eigentlichen Beschaffenheit an sich« (53b); doch die Ordnung kommt erst durch die geometrische Konstitution ins Spiel. Mir scheint, dass der Wortlaut des Textes eine Auffassung nahelegt, die Gadamer gegen die Communis opinio vertreten hat, auch wenn sie sich bislang nicht wirklich hat durchsetzen können: dass nämlich der Gott bei der geometrischen Konstitution der Elemente nicht beteiligt sei. Er schafft weder in der Weise eines Creator im christlichen Sinn, noch betreibt er Mathematik. Die mathematische Sinnbildlichkeit wird vielmehr als menschliche Interpretation namhaft gemacht. Des Gottes und selbst des Demiurgen Denken ist nicht durch menschliche Gedankenrekonstruktion nachzuvollziehen, denn dies hieße, in den Urgrund vorzudringen, was auch im Zuge des zweiten Anfangs ausdrücklich ausgeschlossen ist (vgl. 48c). Dass er oder vielleicht ein von ihm geliebter Mensch tiefer dringen könnte als zu der geometrischen Repräsentation, wird von Timaios allerdings zugestanden. Dies ändert aber nichts an der grundsätzlichen Inkommensurabilität zwischen menschlichen und göttlichen Gedanken (53d). Wäre es anders, könnte über den Bezirk des ›eikos logos‹ hinausgegangen und eine präzise Bestimmung der Kosmologie gewonnen werden. Dies ist aber nach der Selbsteinschätzung im ›Timaios‹ offensichtlich nicht der Fall. Für Gadamers Lesart spricht schließlich der Satz: In diesen beiden Dreiecken (trigona), dem gleichschenkligen rechtwinkligen Dreieck und dem ungleichseitigen rechtwinkligen Dreieck, die die Elemente ordnen, »haben wir daher den Ursprung des Feuers und aller andern Körper zu suchen, wenn wir jener Wahrscheinlichkeit folgen wollen, welche im Gebiete der (blinden) Notwendigkeit erreichbar ist« (53d). Wahrscheinlichkeit (hypotithémetha) und blinde Notwendigkeit sind hier in ein Verhältnis zueinander gebracht, im Sinne einer impliziten Vernunft, die in der Ananke angelegt ist. Wenn also davon die Rede ist, dass der Gott die Beschaffenheit der vier Elemente (als der Grundkörper) nach Zahl und Gestalt (eidesin kaì arithmois) ordnet, so kann dies dahingehend verstanden werden, dass er die zahlen- und gestalthaften Ordnungsformen in der Ananke vorfindet und sie wie in einem Agon dazu überredet, sie preiszugeben und erstmals der möglichen Wahrnehmung zu erschließen. Der Demiurg isoliert diese Ordnungsformen gleichsam aus der Ananke. Er konstruiert sie nicht. Es ergibt sich also eine Denkform, die in der Tat gegen alle Ordnung zu sein scheint 534 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

Urbild, Abbild und Notwendigkeit

(diataxin) (53c): Eine geometrische Weltrepräsentation wird gedacht, die nicht entworfen, sondern latent vorfindlich und nach der Natur der Notwendigkeit eingerichtet ist. Diese Denkart wirkte in der Überlieferung nicht eigentlich nach, bei aller vielfältigen und wirkmächtigen Rezeption, die der ›Timaios‹ fand – von Kepler über die metaphysisch-spekulative Funktion der geometrischen Repräsentation in der Renaissance bis zu Schelling. 39 Denn sie widerspricht nicht nur allem Schöpfungsglauben und aller Emanationsmetaphysik von Christentum und Platonismus; sie widerspricht auch deren neuzeitlichem Analogon, der Akzentuierung einer poietischen Weltnatur des Menschen, die unmittelbar und in ein und demselben Genus Imitation der göttlichen Schöpferkraft sein könnte. 40

Weltentstehung aus dem Geist der Stereometrie An dieser Stelle kann weitergefragt werden, was der Gott denn eigentlich nach Zahl und Gestalt in der Ananke bereits vorgegeben findet, sodass er sie in seiner Gutheit, die frei von Neid (phtonos) ist (53b, vgl. 29e), »aufs Schönste und Beste« zusammenfügen kann. Der Zahl nach ist es die Zweiheit, ist sie doch schon formiert, wenn die Elemente in einem Anderen, der Chora, zur Erscheinung kommen (52d); ebenso ist es die stereometrische Dreiheit, die die sich formierenden Elemente bereits in ihrer chaoshaften Urstiftung als Körper erscheinen lässt. Damit ist zugleich die Grundverfassung der Gestalt vorgegeben. Außerdem ist die Dreiheit gegenwärtig in den drei Ideen des Seins – Sein-Werden-Chora – die alle als vorelementar ausgewiesen sind (vgl. 52d f.). Wie sich jedoch die Notwendigkeit aus einem Zustand ohne Maß dazu überreden lässt, Formen freizugeben, bleibt offen. 41 Der Text sagt ausdrücklich, dass die Chora gemäß der NotZur Rezeptionsgeschichte: Vgl. auch M. Baltes, Die Weltentstehung des platonischen Timaios nach den antiken Interpreten. Leiden 1976; und ders., Der Platonismus in der Antike. Band 5: Die philosophische Lehre des Platonismus. Platonische Physik im antiken Verständnis II. Stuttgart-Bad Cannstatt 1976. 40 Vgl. dazu vielfache Hinweise bei W. Beierwaltes, Platonismus im Christentum, a. a. O. Siehe auch G. Reydams-Schils (Hg.), Plato’s Timaeus as Cultural Icon. Notre Dame 2003. 41 Ich entferne mich deshalb an einem weiteren entscheidenden Punkt von Gadamer, wenn er von einer zweifachen Vorordnung im Bereich der Notwendigkeit spricht: einmal von der Schüttelbewegung der ananke-geleiteten Chora, dann von deren Vier39

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wendigkeit ohne Gestalt sein müsse. Man sollte deshalb nicht durch Konjekturen in Abrede zu stellen versuchen, dass die Vierzahl der geometrischen Körper im ›Timaios‹ ein Rätsel bleibt. Sie lässt sich nicht begründen und erweist damit ihren Unvordenklichkeitscharakter. 42 Timaios fragt gar nicht nach der Genesis der Vierzahl aus der Ananke, er fragt vielmehr: »Und nun ziemt es sich hiernach zu zeigen, welche Beschaffenheiten es sind, die gerade vier Körper zu den schönsten erheben und zwar so, dass dieselben zwar untereinander unähnlich, jedoch mit der Fähigkeit ausgerüstet sind, auseinander zu entstehen, für den Fall, dass einige von ihnen sich aufgelöst hätten« (53e).

Diese Frage lässt sich nicht behandeln, wenn der Widerstreit zwischen Ananke und vernunfthafter Überredung selbst thematisch wird. Sie wird allenfalls indirekt im Licht der stereometrischen Konstruktionen geklärt, 43 wobei das weitere Problem darin liegt, dass Platon nur Konstruktionsanweisungen, jedoch nicht ihre mathematische Formulierung geben kann. Dies hat unter anderem mathematikhistorisch kontingente Gründe, ist doch die Fertigkeit, die Kubikwurzel zu ziehen, noch nicht entwickelt. Timaios geht hier auf einen mathematischen Logos über. Die mythologische Dimension wird weitgehend verlassen. Doch die bloße Wahrscheinlichkeitsannäherung bleibt bestehen. 44 Sowohl der Mythos als auch der Logos können ja im Sinne der Wahrscheinlichkeit oder Wahr-ähnlichkeit verwendet werden. Dass die höchste Schönheit dem gleichschenkligen rechtwinkligen Dreieck und dem ungleichseitigen rechtwinkligen Dreieck, »in dem das Quadrat der größeren Kathete das Dreifache von dem der kleineren beträgt« (54b), mit Recht zugesprochen wird, lässt sich nicht mit demonstrativischer Sicherheit einsichtig machen; es lässt sich aber auch nicht mythisch ansinnen. Es bleibt zu zeigen und es bleibt dem Agon besserer Konstruktionen einer vollkommenen Form überantwortet. dimensionalität, auf die es überhaupt zurückgehe, dass Platon von vier Elementen spreche. 42 Dazu die großen Kommentare, v. a. A. E. Taylor, A Commentary on Plato’s Timaeus. Oxford 1928, sowie G. Vlastos, Plato’s Universe. Seattle 1975. 43 Dazu Th. Ebert, Von der Weltursache zum Weltbaumeister, in: Antike und Abendland 37 (1991), S. 43 ff., sowie Th. A. Szlezak, Über die Art und Weise der Erörterung der Prinzipien im Timaios, in: Calvo und Brisson (Hg.), Interpreting the TimaeusCritias, a. a. O., S. 195 ff. 44 Vgl. dazu A. Gregory, Plato’s Philosophy of Science. London 2000.

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Zuweilen wird die wahrscheinliche, theoriehafte Rede überschritten, indem sie fragmentiert bleibt; die letzten Gründe für die gewählten Hypothesen werden nicht offengelegt. Dies kann zwei Ursachen haben: Einmal kann es daran liegen, dass hier auf die nur mündlich mitteilbaren höchsten Gründe der Mathematik verwiesen ist. 45 Zu einer solchen Lesart neigen die Vertreter einer »ungeschriebenen Lehre«. Zum anderen kann es darin seine Ursache haben, dass Timaios, wenn er nach den letzten Gründen fragen würde, auf jene ursprünglicheren Urbestandteile zurückzugehen genötigt wäre, die sich doch nur dem Gott und denen, die er in besonderer Weise liebt, eröffnen (53d). An die Stelle letzter Begründungen treten, so wie an anderen entscheidenden Stellen im platonischen Dialogwerk, Gesten personhafter Beglaubigung, gleichsam weitere philosophische Bekenntnisse, und im Sinne dieser Zeugnisse einer Wahrhaftigkeit kommt es andererseits auch zu Selbstrevisionen. Hieß es in dem zitierten Passus zu Beginn des geometrischen Lehrstücks, dass die Körper auseinander hervorgehen müssten, so wird dies bei näherer Betrachtung korrigiert: Der aus Quadraten gebildete Kubus, der dem Element der Erde zugeordnete Körper, ist aus gleichschenkligen Dreiecken zusammengesetzt, die drei anderen Gattungen dagegen bestehen aus ungleichseitigen Dreiecken (54c). Deshalb können nur die drei stereometrischen Grundformen ineinander aufgelöst und wieder auseinander zusammengesetzt werden. Bevor die stereometrischen Verhältnisse, wenn auch nur andeutungsweise, im Einzelnen erörtert werden, ist von der »Beschaffenheit, welche jede Art vermöge ihrer Entstehungsweise an sich trägt, und [den] Zahlen, deren Zusammentreffen zu diesem Zwecke erforderlich war« (54d), die Rede. Im Einzelnen wird die geometrische Beschaffenheit in der folgenden Weise aufgewiesen: 46 Gleichschenkliges rechtwinkliges Dreieck und ungleichseitiges rechtwinkliges Dreieck erweisen sich als Das letztgenannte Argument wird immer wieder im Zusammenhang der Rekonstruktion der »ungeschriebenen Lehre« namhaft gemacht. Vgl. dazu die Übersicht bei J. Halfwassen, Der Demiurg. Seine Stellung in der Philosophie Platons und seine Deutung im antiken Platonismus, in: A. Neschke-Hentschke (Hg.), Platos Timaios. Beiträge zu seiner Rezeptionsgeschichte. Louvain/Paris 2000, S. 39 ff. 46 Vgl. Cornford, a. a. O. Siehe zum Zusammenhang von Natur und antiker Mathematik H. Boeder, Was ist Physis?, in: ders., Das Bauzeug der Geschichte, a. a. O., S. 69 ff. 45

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Grundformen, da alle für die Bildung von stereometrischen Körpern benötigten Formen in nuce in ihnen enthalten sind. Da es unzählige ungleichseitige Dreiecke gibt, ist die skizzierte Einschränkung zu beachten: in Rede steht nur jenes ungleichseitige Dreieck, das die Hälfte eines gleichseitigen Dreiecks bildet. Zwei weitere Flächen, die noch für die Formierung der Grundkörper benötigt werden, sind dann aus diesen beiden Dreiecksarten zu gewinnen: Das Quadrat lässt sich aus vier rechtwinkligen gleichschenkligen Dreiecken zusammensetzen (55b), das gleichseitige Dreieck aus sechs rechtwinkligen ungleichseitigen Dreiecken (54d f.). Die Körper nun formieren sich aus den Dreiecken derart, dass vier gleichseitige Dreiecke nach ihren Flächenwinkeln verbunden einen Köperwinkel ergeben: Es entsteht der spitzeste der Grundkörper, der außerdem die geringste Fläche aufweist: der Tetraeder (54e– 55a). Der zweite Körper entsteht auf dieselbe Weise, doch als Zusammensetzung von acht gleichseitigen Dreiecken. Zudem entsteht nicht wie beim Tetraeder der Körperwinkel aus drei Flächenwinkeln, sondern aus vieren (55a). Sechs ergeben das gesuchte Gebilde, den Oktaeder. Der Ikosaeder besteht dagegen aus zwanzig gleichseitigen Dreiecken, ihrerseits konstituiert aus sechzig elementaren, rechtwinkligen ungleichseitigen Dreiecken. Die Zuordnung zu den Elementen (stoicheiai) bleibt unter zwei Vorbehalte gestellt: zum einen unter die bekannte Maßgabe der Wahrscheinlichkeit aller Rede, die wiederum unter die Notwendigkeit gestellt ist. Zum anderen unter die als unentscheidbar erwiesene Frage, ob es nur eine oder mehrere Welten gebe (55c f.). Dass andere darüber anders urteilen mögen als er selbst, gesteht Platons Timaios ausdrücklich zu (55d), und er spricht sich dafür aus, diese gegenläufigen Urteile zuzulassen. Allerdings weist er ganz eindeutig die Annahme zurück, dass eine unbeschränkte Zahl von Welten angenommen werden dürfe (55c). Es ist geradezu ein Gesetz, dass dies nicht gedacht werden darf. Um die Einheit, das heißt die Einzigkeit, das sich-selbst-Genüge-Tun und Allumfassendheit der Welt zu wissen, sei eine unabdingbare Lehre für alle, die über Genesis und Wesen der Welt nachdenken. Wer sich dies nicht klar macht, wer unendliche Welten supponiert, der verliert sich ans Viele. Strittig dagegen bleibt, ob fünf Welten als entstanden – was eine stärkere Annahme ist denn ›als möglich‹, aber eine schwächere denn ›als seiend‹ – anzunehmen sind. Auf diese Fünfzahl kommt Platon, da es neben den genannten regelmäßigen Grundkörpern einen weiteren, fünften gibt, den bei 538 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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seiner ersten Zitation (55c) gar nicht mit Namen bezeichneten Dodekaeder, den der Gott nach Timaios »für das Weltganze« nimmt. Der Dodekaeder ist indes der sphärischen Form am nächsten. Es ist deshalb auch denkbar, dass er für die Einheit der Welt selbst einsteht. Weiter wird die Zuweisung der Elemente an die Grundkörper den Gesetzen der Notwendigkeit so schlüssig entsprechen müssen, dass die Annahme einer anderen Verteilung ans Absurde grenzte. An eine Lehre von Kontingenz und Beliebigkeit der Weltentstehung wird durch den Vorbehalt allerdings keinerlei Zugeständnis gemacht. Denn auch die anderen Welten müssten aus den nämlichen stereometrischen Grundkonstellationen geformt sein und würden, wie uns der Fortgang des Gesprächs lehrt (56d ff.), damit nach der gleichen Grundordnung ineinander übergehen und den gleichen Bewegungsgesetzen folgen. 47 Bei der Zuordnung von Elementen und Grundkörpern selbst werden auffälligerweise Erde und Feuer, die Extreme, besonders eingehend expliziert. Die Zwischen- und Mischungsglieder Wasser und Luft dagegen bestimmen sich von diesen Extremen her. Die Erde bleibt dem unbeweglichsten der Körper, dem Kubus, zugewiesen, der außerdem die festesten Grundflächen hat, sind doch die gleichseitigen Dreiecke an Festigkeit den ungleichseitigen oder den zusammengesetzten Grundkörpern überlegen (55e). Wenn es heißt, dass Erde und Kubus ›plastikotáte‹, die bildsamsten aller Körper seien, so meint dies vordergründig, dass nur das Feste derart dauert, dass es überhaupt verschiedene Gestalten annimmt. Es könnte jedoch auch darauf hinweisen, dass die ausgewogene Viergliedrigkeit dem Kubus am nächsten kommt. Die drei anderen Körper sind, wie Timaios zeigt, untereinander in höherem Grad verwandt als die Erde mit ihnen. Deshalb geht die Erörterung nun vom Feuer aus, dem der spitzeste, kleinste, beweglichste und leichteste Grundkörper mit dem geringsten Flächenausmaß zugewiesen wird. Das Wasser hat demgegenüber unter den dreien die größte Ausdehnung, die Luft dagegen nimmt die Mitte ein (56b f.). Zweimal scheint in dem theoriehaft dem ›eikos logos‹ folgenden Erwägungsgang die Präsenz des Gottes durch. Einmal in Bezug auf den Dodekaeder; der Demiurg verwendet ihn für das Weltganze, Siehe für die Details auch: W. K. C. Guthrie, A History of Greek Philosophy. Vol. 5: The later Plato and the Academy. Cambridge 1978.

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heißt es (55c). Doch verweist auch diese Stelle keinesfalls auf eine Konstruktion durch den Demiurgen, sondern auf seinen späteren Gebrauch der Grundform. Dann ist am Ende der Zuordnung der vier Grundkörper zu den Elementen davon die Rede, dass der Gott die Verhältnisse mit aller möglichen Vollständigkeit und Schönheit und in aller Genauigkeit (pante di‹ekribeias) (56c) geordnet habe. In einem rückschauenden Passus, in dem Platon noch einmal auf den zweiten Anfang zurückblickt, wird der Bezug auf den Gott besonders deutlich. Es heißt, dass der Demiurg »alles dies« (also alle Ordnung) in der Notwendigkeit vorgefunden und dies Vorfindliche sich zu Hilfe genommen habe, »aber doch so, dass die Vollendung, zu welcher alles Werdende gedieh, dabei ganz sein eigenes Werk war« (68e). Schärfer als am Ende des ersten Anfangs, als Scheinursachen und wirkliche, aus der Notwendigkeit resultierende Ursachen unterschieden wurden, trennt Platons Timaios nun die wirkliche Ursache und die göttliche voneinander (69a). Letztere sei, soweit unsere Natur dies vermöchte, aufzusuchen, auch im Sinne eines glückenden, guten Lebens, das doch dieser Ordnung nachgestaltet sein müsste. Die Art, wie Ananke und demiurgische Kraft miteinander im Widerstreit liegen, ist aber im Zusammenhang eines ›eikos logos‹ allenfalls in Andeutungen zu erkennen. Und in der Tat erfahren wir von dem Widerstreit nichts, der zu Beginn des zweiten Anfangs angedeutet war (48a). Den einzigen Hinweis gibt das zweimal gebrauchte Wort von der Überredung der Notwendigkeit durch die göttliche Vernunft (48a und 56c). Die Vernunft herrscht über die Notwendigkeit dadurch, dass sie dieselbe überredete (48a 2 f.), heißt es im ersten Zusammenhang. »Die Notwendigkeit gab dem Gott, durch seine Überredung bewogen, nach«, heißt es dann im zweiten Kontext (56c). Wie vor allem Gadamers Arbeiten zum Thema gezeigt haben, 48 ist dies weder in dem Sinn zu verstehen, dass die Ananke damit ein für alle Mal gebannt worden wäre, noch so, als bleibe sie in dem Überredungsgeschehen der rein passive Teil. Vielmehr schafft sie absichtslos aufgrund des ihr innewohnenden Gefügezusammenhangs das, was zum Prototyp des göttlichen Schöpfungswerkes werden kann. So ist auch ausdrücklich davon die Rede, »wie weit auch die ziel- und zwecklos umherschweiVgl. hier vor allem Gadamer, Idee und Wirklichkeit, a. a. O. Siehe auch seinen Verweis auf den bloßen »Hilfsmittelcharakter«, den Aristoteles dem Buch Delta in seiner ›Metaphysik‹ zuerkennt.

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fende Ursache« der Notwendigkeit ihrer Natur nach wirklich mit zur Genesis des Kosmos beigetragen hat (48a). Kehrseite dessen ist, dass wiederholt die Natur der geometrischen Grundformen beschworen wird (54a). Diese sind also keineswegs nur geometrischer Entwurf – ihnen eignet eine Natur aus Notwendigkeit.

Bewegung – Werden und Vergehen In diesem Zusammenhang ist es durchaus von Interesse, dass Timaios, ehe er nun im Lichte des zweiten Anfangs noch einmal die Struktur der sinnlich erscheinenden Welt exponiert, von der geometrischen Ordnung des Kosmos her zwei grundsätzlichere Fragen beantworten kann: Woher es komme, dass die vier Elemente sich auflösen und ineinander übergehen, und woher es rühre, dass sie stets in Bewegung sind. Diese Umwandlungen sind nun nicht mehr als Fluktuationen im All-Chaos der Chora verfasst. Sie sind vielmehr, ähnlich wie in einer grundlegenden Denkart molekularer Physik, in ihrer geometrischen Form zu rekonstruieren. Körper treffen aufeinander, Gewichte tarieren sich aus, die spitze Grundform des Feuers zerschneidet andere elementare Grundformen. Dass die Erde von eigener Art ist, wird dabei festgehalten. Sie kann niemals in eine andere Gestalt übergehen (56d). Dies können nur die unmittelbar ineinander verwandelbaren Elementarformen. Damit wird der Grundsatz festgehalten: »Denn nichts Gleiches und Ähnliches kann durch eine Veränderung in dem Gleichen und Ähnlichen hervorbringen noch von ihm erleiden« (57a). Das geschieht nur, wenn die ineinander verwandelbaren Elemente in einen Agon treten. Zwei Möglichkeiten gibt es dafür: die Zersetzung eines Elementes in immer kleinere Körperchen, die sich aus der Konfrontation auf sich selbst zurückflüchten, oder die, dass sie sich mit dem siegenden Körper verbinden und in ihn eingehen (57b). Dieses Grundverhältnis bleibt bezeichnenderweise mächtig, wenn der Agon zwischen gleichstarken Elementen ausgetragen wird. Auch dann gibt es keine Balancierung der Kräfte. Der Übergang bedeutet Bewegung, Verlagerung im Raum, je nach der Zusammenballung oder der Distanzierung der elementaren Körper. 49 Vgl. dazu u. a. G. Böhme, Idee und Kosmos. Platons Zeitlehre. Eine Einführung in seine theoretische Philosophie. Frankfurt/Main 1996, sowie J. B. Skemp, The Theory of Motion in Plato’s Later Dialogues. Cambridge, New York, Amsterdam 121967. Vgl.

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Allerdings ist Bewegung für Platon, ganz im Unterschied zur neuzeitlichen Physik, 50 ein Phänomen, das sich zwar geometrisch genauer beschreiben, doch keinesfalls auf mathematische Formeln reduzieren lässt. Auch wenn davon nicht explizit die Rede ist, rührt der ›Timaios‹ eben hier an die Geheimnisse der Weltseele als des von sich selbst aus bewegten übergreifenden Lebenszusammenhangs. Die geometrische Beschreibung gibt zu verstehen, dass die kleineren Körper die großen auseinander- und die größeren die kleineren zusammenhalten (58b). Diese Bewegung folgt dem Gesetz, dass keine Leere sein dürfe. Jenes Gesetz (nomos) aber rührt aus der sphärischen, kosmischen Bewegung, die sich selbst genüge, also in sich selbst zurücklaufe. »Da der Umlauf des Alls [alle] diese Gattungen [sc. die vier Elemente] in sich fasst, so drängt er, eben weil er kreisförmig ist und seiner Natur nach mit sich selber zusammenzugehen strebt, sie alle dergestalt in sich zusammen, dass er keinen leeren Raum übrig lässt« (58a f.).

Dieser Gedanke könnte gegen Demokrits Atomismus gerichtet sein. 51 Wichtiger dürfte es sein, dass das Gesetz der rücklaufenden kosmischen Bewegung auch im zweiten Anfang maßgeblich bleibt. Anders als hinter die Genesis der Elemente ist hinter dieses Gesetz schlechterdings nicht zurückzugehen.

Notwendigkeit und Idee Die Chora gibt als übergreifende Frage zur Erwägung auf, wie in dem Naturdenken des ›Timaios‹ das Ideendenken gegenwärtig sei. Unstrittig bietet der Gedanke der aufnehmenden Mitte Gelegenheit, auch die Naturdinge ideenhaft vorzustellen. Damit wird es auch erforderlich, das Verhältnis von Notwendigkeit und Nous zu klären. Dass der göttliche Nous selbst nicht darstellbar ist, sondern nur der Kosmos als sein Abbild – in diese Form der Entzogenheit führt die auch R. Sorabji, Matter, Space, and Motion: Theories in Antiquity and their Sequel. London 1988. 50 Dazu noch immer hilfreich: J. Mittelstraß, Die Rettung der Phänomene. Berlin 1962; sowie R. D. Mohr, The Platonic Cosmology. Leiden 1985. 51 Vgl. u. a. G. Reydams-Schils (Hg.), Plato’s Timaeus as Cultural Icon. Notre Dame 2003. Siehe auch die schwungvolle Deutung M. v. Perger, Die Allseele in Platons Timaios. Stuttgart, Leipzig 1997.

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Aporetik, auf die das Ideendenken je unterschiedlich im ›Parmenides‹ und im ›Philebos‹ trifft. Gadamer hat dies sehr genau gesehen und Derridas dekomponierender Lesart der Chora mit guten Gründen widersprochen. 52 Derridas Versuch, auch die Chora einem vermeintlichen und zu kritisierenden ›Logozentrismus‹ abendländischer Metaphysik einzugliedern, übersieht, so Gadamers zentraler Einwand, dass eine Gedankenspur nicht nur für sich, sondern immer in der Richtung zu betrachten ist, in der sie ins Gespräch gebracht wird. Im platonischen ›Timaios‹ ist die Richtung auf das Abbild und auf den Naturgrund der Notwendigkeit orientiert. Idee und Elemente sind aufgrund dieser Frageweise aufeinander bezogen. 53 Dies bedeutet konkret, dass die gestalthafte, nicht veränderliche Wirklichkeit der geometrischen Grundformen die Vielheit der phänomenalen Erscheinungsweisen der Elemente ebenso zu denken erlaubt wie ihr eines Sein, das sich nur von der Idee her erschließt. Die Chora, der sich das geometrische Weltdenken verdankt, erweist sich gerade insofern als ein Drittes, als sie diese beiden Blickrichtungen miteinander verbindet und sowohl die eine wie die andere offen hält. Sie soll zu verstehen geben, dass das Feuer überall ist, wo Wärme ist, und in all diesen Erscheinungen doch es selbst in reiner eidetischer Gestalt Feuer bleibt, ebenso wie das Wasser im Ozean, im Fluss und genauso im Eis ist, und die Luft in Wind, in den Wolken und im Azur. 54 Deshalb führt es nur in die Irre, wenn Derrida und andere Differenzphilosophen die Chora als Ausdruck eines Zweiwelten-Denkens verstehen und sie zu diesem Ende philologisch leichtfertig mit dem seins-jenseitigen Ort des Guten in der ›Politeia‹ gleichsetzen, obwohl dort von der Chora selbstverständlich an keiner Stelle die Rede ist. Zugleich versteht Derrida die Chora von der neuplatonischen Begriffsverwendung – vor allem Dionysios Areopagita – her, bei dem sie als der Ort des Einen Gottes expliziert ist. 55 Zum folgenden siehe J. Derrida, Chora. Hgg. von P. Engelmann Wien 1990, S. 1 und die Auseinandersetzung mit Derrida bei Gadamer, Hermeneutik auf der Spur, in: ders., Hermeneutik im Rückblick. Gesammelte Werke, Band 10. Tübingen 1995, S. 148 ff., hier insbes. S. 167 ff. 53 Dazu u. a. K. Gloy, Studien zur Platonischen Naturphilosophie, a. a. O., S. 135 ff., siehe auch L. Brisson, Platon. Les mots et les mythes. Paris 21994. 54 Derrida, Chora, ibid. pass. 55 Derrida, ibid. Siehe auch L. Tarán, Perpetual Duration and Atemporal Eternity in Parmenides and Plato, in: The Monist 62 (1979), S. 43 ff. 52

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Die Zweifel an einer solchen Lesart sind aus den vorausgehenden Befunden und Beobachtungen vielfach zu begründen: so, dass die platonische Chora eher als ›Zwischen‹ denn als ›Jenseits‹ (epekeina) gedacht ist; dass sie einen ursprünglicheren Frageansatz als der erste Anfang erlaubt; dass jedoch gerade sie ins Nicht-Prinzipielle, vielmehr in das »nach der Notwendigkeit Wahrscheinliche« verweist; dass ihre Evokation in einen ganz singulären Ton zwischen Lehre, Theorie und Mythos anschlägt – alles dies nötigt dazu, sie als dritte Gattung zu gewichten. Gadamer bemerkte bekanntlich, die ›Notwendigkeit‹, von der im ›Timaios‹ die Rede sei, wäre die Notwendigkeit der Mathematik. 56 Damit ist die platonische Frage gewiss nicht ausgeschöpft, doch als Zuspitzung des schwebenden Verhältnisses, das den zweiten Teil des Dialogs kennzeichnet, ist diese Überlegung berechtigt. Die Naturhaftigkeit der mathematischen Verhältnisse, ihre Vorfindlichkeit, kommt darin ebenso zum Ausdruck wie der Umstand, dass die Ananke nicht anders zu explizieren ist als im Sinn jener geometrischen und stereometrischen Elementarkonstitution, in der sie sich gleichwohl nicht erschöpft. Es ist noch einmal daran zu erinnern, dass Platon deutlich zu verstehen gibt, auch auf dem zweiten Weg nicht zum »eigentlichen Urgrund aller Dinge oder [den] Urgründe[n] zu gelangen« (48c). Dann ist es wohl nicht zufällig, dass Gadamer gerade am ›Timaios‹ gegen den Derrida’schen Dekonstruktivismus verdeutlichen kann, in welcher Weise ein philosophischer Text ein eminenter Text sein kann. Er ist es notwendig, anders als ein Text der Dichtung. Er bleibt ›Interpretation‹ von Sachverhalten im Dialog, ein klärendes Dazwischenreden, das sich überflüssig machen soll, es aber noch nicht vermag. Die Sache ist niemals endgültig gefunden. 57 Dieses Dazwischensprechen 58 wird an der Abbildhaftigkeit und dem ›eikos logos‹Charakter des ›Timaios‹ besonders offensichtlich. Gerade der ›Timaios‹ verweist allerdings auch auf die Spannung zwischen philosophischem Denken und Gott. Gadamer nimmt das platonische Denken in einer Nebenbemerkung ausdrücklich von dem Grundzug philosophiDazu wieder R. D. Mohr, The Platonic Cosmology. Leiden 1985; siehe ferner C. Natali und S. Maso (Hg.), Plato physicus. Cosmologia e anthropologia nel Timeo. Amsterdam 2003. 57 Hierzu Gadamer, Der Hermeneutik auf der Spur, a. a. O., S. 170. 58 Ibid., S. 173. Offensichtlich ist gerade die Konfrontierung der ideativen Sinnklarheit mit der Dunkelheit der Materie ein paradigmatischer Fall für hermeneutisches Verstehen. Vgl auch Brisson, Platon. Les mots et les mythes. Paris 21994. 56

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scher Vorläufigkeit aus. 59 Es überschreitet offensichtlich die bezeichnete Grenze, da es sich in seinem dialogischen Vollzug der Vorläufigkeit bewusst ist und da es sich – wie das Verhältnis von erstem und zweitem Anfang zeigt – selbst dazwischenredet. Insofern ist es dem eminenten Charakter des Kunstwerks nahe. Der vom Demiurgen hervorgebrachte Kosmos ist also zugleich das Paradigma eines vollkommenen Kunstwerks. Weniger formgeschichtlich orientiert hat Wolfgang Wieland ähnliche Einsichten gewonnen, wobei er sich gar nicht explizit auf den ›Timaios‹ bezieht. Das Modell einer am Ideengefüge orientierten Naturbetrachtung lebt, so zeigt Wieland, davon, dass von der Hervorbringung, nicht dem Sein her gedacht wird. Ideen können dann in Analogie zu normativen Prädikaten gedeutet werden. Indes wird der Herstellungsvorgang indirekt vor Augen geführt, sodass er nicht eigens thematisiert werden muss. 60 Eben dieses Verfahren lässt sich im ›Timaios‹ allenthalben aufweisen. Wielands zentrale These, dass das platonische Ideendenken eine Form impliziten Wissens ist, findet mithin im platonischen ›Timaios‹ eine gewichtige Bestätigung. »Die Idee ist unmittelbar kein möglicher Gegenstand einer diskursiven Erkenntnis. Es ist daher kein Zufall, wenn Platon Formen der intuitiven Erkenntnis herausstellt, wenn es um die der Idee adäquate Form des Wissens geht.« 61 Dieser Zusammenhang ist allerdings auf den ›Timaios‹ hin stärker zu spezifizieren als dies bei Wieland geschieht. Das Eigengewicht einzelner Dialoge ist stärker in Rechnung zu stellen, um Gegenstimmen in Platons polyphonem Denkkosmos nicht zu überhören. Denn wenngleich Wielands Bemerkung zutrifft, dass »man […] Ideen schon dann vorausgesetzt [hat], wenn man damit beginnt, Dinge zu benennen und zu unterscheiden, um sie auf ihre mögliche Eigenschaft, Ideensubstrat zu sein, hin zu untersuchen«, 62 so fragen doch die Aporien des ›Parmenides‹ und der ›Sophistes‹, in Das Sachanliegen weist also gerade für eine hermeneutische Deutung über den Wortlaut des Textes hinaus, auch wenn nicht ohne weiteres ein umfassendes Lehrgerüst angegeben werden kann. Die Erwartung einer geschlossenen ›Platonischen Lehre‹ scheint ohnedies hinter der Fragebewegung zurückbleiben zu müssen. Vgl. M. Erler, Grundriss der Geschichte der Philosophie, Band 2/2, S. 338 ff. 60 Dazu M. Baltes, Gegonen (Platon, Tim 28b7). Ist die Welt real entstanden oder nicht?, in: A. Keimpe, P. W. van der Horst und D. T. Runia (Hg.), Polyhistor: Studies in the History and Historiography of Ancient Philosophy. Leiden 1996, S. 76 ff. 61 Gadamer, Idee und Wirklichkeit, a. a. O., S. 148. 62 Ibid. 59

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anderer Weise und Hinsicht als der ›Timaios‹, ausdrücklich nach den Schwierigkeiten des Ideengebrauchs. Demgegenüber geht es im ›Timaios‹ um eine Beschreibung der Natur des Seienden in ihrer Genesis. Im Blick auf dieses Hergestelltsein kommt quasi-normativ die Idee ins Spiel, sie bleibt jedoch, deutlicher als sonst, implizit – und in den Raum der Notwendigkeit zurückgestellt. Gerade so kann im dialogischen Vollzug ein wesentliches Moment des Ideendenkens thematisch werden: die Gestaltwerdung eines nicht-sichtbaren Entwurfes. Darin zeigt sich die Bedeutung des Dritten, ganz im Unterschied zu einer Zweiwelten-Lehre, mit der platonisches Denken in Derridas Vulgärversion gleichgesetzt wird. So wird auch das Grundverhältnis der Herstellung auf ganz spezifische Weise gedacht. Es ist nicht poietisch, sondern als denkende und ordnende Hinnahme verstanden, nicht als herstellende Technik also, sondern als passive und aktive Handlung. Dieser Ansatz dürfte von großer Bedeutung für das Verhältnis des platonischen Textes zu seinen neuzeitlichen Fußnoten sein.

Natur und Mensch: Mischungen aus Vernunft und Notwendigkeit Damit kann gefragt werden, wie die Natur, die menschliche Natur eingeschlossen, im Horizont der Kosmogonie des ›Timaios‹ zur Sprache kommt. Zwischen den Aussagen im Horizont des ersten und jenen im Horizont des zweiten Anfangs ist dabei zu unterscheiden. Sie fallen allerdings nicht auseinander, sondern ergänzen sich komplementär. Am Anfang steht eine Genealogie der vier Arten von Lebewesen, zuerst der Götter. 63 Dann wird im Licht der Genesis der Weltseele deren Einkörperung behandelt, bis der Dialog den Grenzpunkt der sinnlichen Wahrnehmung erreicht, wobei das Gehör noch abgehandelt wird, die Explikation aber bei der Frage der Sehkraft abbricht (47a). Im Licht des zweiten Anfangs wird der Faden genau an dem

Es ist auffällig, dass die medizinisch-anthropologische Fragestellung in den vorliegenden Studien zum ›Timaios‹ nur unterschwellig vorkommt. Vgl. aber K. M. MeyerAbich, Platons Theorie der Naturwissenschaft, in: E. Scheibe und G. Süßmann (Hg.), Einheit und Vielheit. FS für C. F. v. Weizsäcker. Göttingen 1973, S. 20 ff.; siehe auch die ältere Studie P. Shorey, Platonism and the History of Science, in: The Proceedings of the American Philosophical Association 46 (1927), S. 159 ff.

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Punkt fortgeführt, an dem er abgerissen war, allerdings aus einer leicht veränderten Perspektive. Es geht nun nicht mehr um die Erschaffung der Sinnesorgane, sondern um die Genesis der sinnlichen Perzeption. Erst als sie durchgesprochen ist, kommt die emphatische Unterscheidung zwischen Ursache aus der Notwendigkeit und göttlicher Ursache zum Tragen (67c 4 f.). Dann erst wird in einem weiteren Schritt die sterbliche Disposition der Seele in ihrem Verhältnis zum Körper thematisiert. Dieser Gang endet mit dem Blick auf Krankheiten, einer Art der diätischen Ethik, einer Besinnung auf Degeneration und auf den Geschlechtstrieb, und er mündet, nach dieser gleichsam absteigenden Durchführung des Themas, in eine erneute Rückerinnerung, die nun im Lichte der phänomenhaften Anschauung und geklärt durch den zweiten Anfang noch einmal vor Augen führt, dass der Kosmos Abbild und zugleich in höchster Weise vollkommen sei (92c), ja dass er ein sinnlich wahrnehmbarer Gott und selbst ein Lebewesen (zoon) sei (ibid.; vgl. auch 31a). In dieser inneren Tektonik erschließt sich die Natur, auch die Natur des Menschen, als Grundphänomen des aus Vernunft und Notwendigkeit gemeinsam Zusammengesetzten. Man kann vom Ende her zu lesen beginnen: Der Zeugungstrieb wird im ›Timaios‹ nicht, wie in den Erosdialogen, mythisch vor Augen geführt. Er wird auch nicht normativ gesehen, wie später in den ›Nomoi‹. Deshalb tritt sein animalisch-naturhafter Charakter hervor. Hinzu kommt, dass der im gegenwärtigen Weltalter vorfindliche Eros, auch in der nicht-mythischen Darlegung, als Degeneration erscheint. Eine andere verlorene Urgestalt des Eros ist im ›Timaios‹ jedoch, ganz anders als im ›Symposion‹ oder im ›Phaidon‹, nicht einmal zu erahnen. Dies hängt damit zusammen, dass nicht eine beide Geschlechter sphärisch umfassende Ur-Natur auftritt, sondern die Entstehung der Frau im Zusammenhang einer Pathologie und Degeneration, die überhaupt zur Geschlechtlichkeit führte, vorgestellt wird. Die Götter schufen in einem und demselben Akt den Trieb zur Begattung dadurch, dass das verlängerte Rückenmark, der Samen, mit »dem Durchweg des Getränkes« (91a) verbunden wird, Luft bekommt und sich Bewegung verschafft. Die Frau dagegen wird im Sinn einer Degenerationstheorie nur als Metamorphose der feigen Männer in ihrer zweiten Geburt eingeführt (91a). Jene Misogynie findet sich sonst bei Platon nicht. Sie wäre eingehenden geschlecht-differenzierenden Analysen zugänglich zu machen; dabei wäre auch zu fragen, wie von der Misogy547 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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nie her die gnostisch-neuplatonische Verwerfung der Chora als ›autokakon‹, das Böse selbst, in Gang gesetzt wurde. 64 Der Zeugungstrieb ist also, auch dies ganz im Unterschied zum ›Phaidon‹ und ›Symposion‹, nicht als Zeugung ins Ewige zu verstehen, sondern als widerfahrnishafte Gewalt nahe der Krankheit. Er ist keineswegs die Selbstbewegung der Seele, sondern eine erzeugte Bewegtheit, sodass Seele und Nous über den Geschlechtstrieb kaum Herr werden können. »Daher sind denn auch bei den Männern die Schamteile etwas Unlenksames [apeithés] und Eigenmächtiges [autikratès], wie ein Tier, welches nicht auf Vernunft [logos] hört, und trachten mit ihren rasenden Begierden Alles zu beherrschen, und ganz aus denselben Gründen geht es bei den Weibern ebenso mit der sogenannten Scheide und Gebärmutter« (91c).

Die pathologischen Züge werden besonders betont: Aufruhr und Ungeduld sind Folgen, die ein gereiftes Geschlecht erleiden wird, das nicht Erfüllung im anderen Geschlecht finden kann. Atemnot, Beängstigung kommen auf, »bis denn die wechselseitige Begierde (epithymia) und Liebe (eros) 65 beider Teile sie zusammenführt und gleichsam die Frucht vom Baume pflückt« (91c–d). Dieses Begehren gilt nach der Naturlehre des ›Timaios‹ nicht notwendig einer bestimmten Person. Und es ist im Grundsätzlichen nicht nach Geschlechtern differenziert: Beiden eignet, wenn sie sich nicht ineinander finden können, eine ähnliche lebensbeherrschende und unter Umständen zerstörerische Begierde, wiewohl die schmerzhafte Erregung des Mannes und die ungestillte Sehnsucht der Frau sehr verschiedenen Gesetzen gehorchen. Erst wenn der »Gebärmutter wie ein Saatfeld Tierchen, die vor Kleinheit unsichtbar und noch unausgebildet sind, hineingestreut werden, sich hernach aber wieder von ihr ablösen, von innen heraus groß wachsen und endlich ans Licht her-

J. Jantzen, Das philosophische Problem des Bösen. Platon und die ontologische Tradition, in: Philosophisches Jahrbuch 99 (1992), S. 74 ff., siehe zur antiken Deutungsgeschichte auch die Beiträge: R. W. Sharples und A. Sheppard (Hg.), Ancient Approaches to Plato’s Timaeus. London 2003. 65 Die Schleiermacher-Müller’sche Übersetzung tauscht hier ohne ersichtlichen Grund die Reihenfolge von ›Epithymia‹ und ›Eros‹ aus. Der Verweischarakter auf das ›Symposion‹ ist aber unübersehbar. Vgl. auch R. Rehn, Der Logos der Seele. Wesen, Aufgabe und Bedeutung der Sprache in der platonischen Philosophie. Hamburg 1982 und C.-A. Scheier, Schein und Erscheinung im Platonischen ›Symposion‹, in: Philosophisches Jahrbuch 90 (1983), S. 363 ff. 64

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vortreten, und so Entstehung lebendiger Wesen sich vollendet«, kommt der Geschlechtstrieb zur Ruhe (91d).

Damit wird erstmals das in allen mythoshaften Ansichten, die Platon dem Eros widmet, zentrale Moment der Dauer durch die Zeugung thematisch. Doch dies ist eine vorübergehende Erfüllung, denn der Geschlechtsakt selbst schenkt diese Ruhe nur für kürzeste Zeit. Bereits kurz nach der Befriedigung kann, durch einen Anblick angestoßen, die ungestillte sexuelle Erregung wiederkehren. Ruhe und Vernunft kann der chthonische Trieb nur finden, wenn er sich auf Schönheit richtet. Denn nur die Gestalt ist dem Maß entsprechend. Was in einem anderen Zusammenhang gesagt wird, gilt aufgrund der Teilhabe an dem Maß auch für den Eros: »Alles Gute ist schön, das Schöne aber darf des Ebenmaßes nicht entbehren. Daher muss man sich auch ein Lebewesen, welches derart sein soll, ebenmäßig vorstellen« (87c). Insofern bleibt auch im ›Timaios‹ jene notwendige Verbindung zwischen Eros und Schönheit in Kraft, von der im ›Symposion‹ nachhaltig die Rede ist. Nur intrinsisch, nicht durch äußere Auflagen und Verdrängungen kann eine Klärung des Geschlechtstriebs einsetzen. Die Unendlichkeit dieses Triebs bei menschlicher Endlichkeit wird erst in nachplatonischer Zeit erwogen werden, wenn Augustin von der Traurigkeit spricht, die alle Tiere nach dem Koitus umfängt, da im Augenblick physishaften Einsseins den Menschen erst ihre Geschiedenheit voneinander ganz aufgeht. Luc Brisson hat in seinen kontextreichen und gründlichen Kommentaren zum ›Timaios‹ verdeutlicht, 66 dass in die platonische Naturlehre eine Ethik eingearbeitet ist, die sich auf eine erste Natur bezieht. Diesem kosmogonischen Blick verdanke es sich, dass der proportionale Zusammenhang von Gutem und Schönem so deutlich hervorgehoben ist und dass das Ebenmaß (symmetría) zwischen Seele und Körper (87d) zum Leitfaden der impliziten Ethik werden kann. Die Symmetrie würde gleichermaßen bei einem unziemlichen Übergewicht der Seele wie des Körpers gestört. Die harmonische Verflechtung beider lässt sich nicht ohne negative Folgen lösen, ist doch der Körper als Fahrzeug der Seele zu verstehen (87d). Hier findet sich gleichsam die protoanthropologische Grundlegung der gymnasti-

Vgl. Brisson, Le même et l’autre dans la structure ontologique du Timée. Paris 1974. Siehe auch den prägnanten Abriss ders., Den Kosmos betrachten, um richtig zu leben, in: Kobusch, Mojsisch (Hg.), Platon, a. a. O., S. 229 ff.

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schen und musischen Paideia. Beide, Leib und Seele, müssen daher im Zusammenhang miteinander geübt werden, nicht je für sich; dabei kommt der Musenkunst, auch wenn sie nur knapp erwähnt wird, ausdrücklicher noch als in der ›Politeia‹ eine in eminentem Sinn verbindende Bedeutung zu. In ihr kommt die Harmonie am schönsten zum Ausdruck (88c) als jenes Grundverhältnis, in dem sich Körper und Seele miteinander verbinden. Dieses geometrische Maßverhältnis ist es, das – im Sinne des ›Timaios‹ – ein glückendes und damit gutes Leben überhaupt ermöglicht. Hiervon ausgehend entwickelt der ›Timaios‹ eine Bewegungslehre. Von größter Bedeutung sind diesen Bestimmungen zufolge gymnastische Bewegungen, gefolgt von Bewegungen von Schiffen und anderen Fahrzeugen. An letzter Stelle stehen die inneren Umwälzungen, die durch Medikamente ausgelöst werden; sie sollen nur in sparsamster Dosierung verwendet werden (89a f). Diese Erwägungen zur Lebenskunst stehen in einem Erörterungszusammenhang über das Wesen der Krankheit, der sich zugleich dem Stachel der Frage nach dem Wesen des Bösen annähert. Der ›Timaios‹ nimmt auch deshalb eine Sonderstellung ein, da er die Ambivalenzen des Bösen und seiner Zurechnungsfähigkeit sehr klar herausstreicht. 67 »Denn Niemand ist freiwillig böse [kakos], sondern wer es ist, der ist es durch fehlerhafte Beschaffenheit seines Körpers und durch falsche Erziehung geworden; einem Jeden aber ist dies verhasst und es wird ihm, (wie gesagt) wider seinen Willen zu Teil« (87e). Zwei solcher Seelenkrankheiten, beide als Arten der Vernunftlosigkeit (anoía) gekennzeichnet, werden unterschieden: Wahnsinn und Unwissenheit. Eine Manie kann sich einstellen, wenn die Seele überbeansprucht wird und auf diese Weise in ein Missverhältnis zum Körper gerät. Zudem werden oftmals öffentliche Miseren, wie fehlerhafte oder maßlose Rhetorik und eine schlechte Polisverfassung (87b), mitwirken, wenn aus physischen Defekten Seelenkrankheiten entstehen. Indes kommt den leiblichen Krankheiten, verstanden als »Vorkommnisse, welche den Menschen in einen von beiden Zuständen« (86b), den des Wahnsinns oder der Unwissenheit, versetzen, eine

Dazu F.-P. Hager, Die Vernunft und das Problem des Bösen im Rahmen der platonischen Ethik und Metaphysik. Bern, Stuttgart 21970. Vgl. zur Sache auch R. Berlinger, Der Philosoph und die Schlange. Zur Philosophie des Bösen, in: M. Langer (Hg.), Weite des Herzens, Weite des Lebens. FS zum 25jährigen Abtsjubiläum von Odilo Lechner. Regensburg 1989, Band I, S. 295 ff.

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grundlegendere Bedeutung zu: Übermäßige Lust und übermäßiger Schmerz sind die Erkennungszeichen derartiger Leiden. Ersteres weist auf die Gefährdungen durch den erotischen Drang hin: Ein übermächtiger Same kann einen Mann dazu nötigen, sein Leben in einem permanenten Wahnzustand hinzubringen, ohne dass er dafür in die Verantwortung zu nehmen wäre, denn der Geschlechtstrieb entzieht sich der Vernunft. Das bestimmende Symptom der zweiten Krankheitsart ist dagegen der Schmerz. Timaios deutet ihn als Ausdruck von bitteren, salzigen und galligen Säften, die sich nicht nach außen hin Bahn brechen können, sondern ins Körperinnere eingekapselt bleiben und in ihm umherirren. Im Umgang mit Krankheiten, dem Ethos des Nächsten, wie es unser Dialog lehrt, ist deshalb zuerst zu bedenken, dass auch sie ihre Natur und ihre eigene immanent teleologische Lebensform haben. Ihre Entstehung, die wie die Entstehung anderen Lebens ihr Wesen erklärlich macht, »hat etwas Ähnliches mit der [Entstehung] lebendiger Wesen« (89b). Im Sinn dieser Analogie wird davon ausgegangen, dass auch die Krankheiten aus den elementaren geometrischen Dreiecksformen gebildet seien (89c). Erstmals wird hier expliziert, dass der Tod eine Auflösung der Formgebung bedeutet, »denn die Dreiecke treten gleich von vorneherein in einem jeden mit der Fähigkeit zusammen, bis zu einer bestimmten Zeit auszuhalten, über welche hinaus kein Geschöpf sein Leben ausdehnen kann« (89c). Diese Zeitdauer ist einer gestalthaften Bildung stabil eingeprägt, auch wenn sie sich nicht vorhersagen lässt und wenn sich gerade hier zeigt, dass die blinde Ananke untergründig bestimmend bleibt. Sie kann den Lebensfaden auch vor der Zeit abschneiden. Freilich gilt ein solches Zeitmaß auch für Krankheiten: Man soll ihnen deshalb die Zeit gewähren, die sie brauchen, und ihre Entwicklung nicht gewaltsam durch die Einnahme von Medikamenten verkürzen (89d). Das bedeutet nicht, dass den Krankheiten freier Lauf gelassen werden soll. Sie sind durchaus zu kanalisieren, nämlich »durch Beobachtung einer strengeren Lebens- und Ernährungsart« (diaítais) (89c). Doch wenn ihre Lebensdauer beschnitten würde, »pflegen aus kleinen große, und viele aus wenigen Krankheiten zu werden« (89c). Diese Betrachtungsweise, die der Natur der Krankheit das ihre einräumt, gibt allerdings nur eine Facette des Blicks auf das Krankheitsphänomen im ›Timaios‹ frei. Kurz vor diesem therapeutischen Krankheitsbegriff ist ein Gegenakzent gesetzt: Krankheiten sind ›para physin‹, wider das Gleichmaß der Natur, und sie sind ihrem Wesen 551 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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nach metastatisch: Aufstände gegen die Physis oder gegen Zeit und Raum, in dem sie auftreten (82a). Dieser Grundzug kehrt in allen drei zu unterscheidenden Weisen der Krankheitsentstehung wieder: Die elementarste Form zeigt sich als Mangel oder als Überfluss einzelner der vier Elemente, sodass deren geometrische Bestandteile miteinander kollidieren. Dies geschieht immer dann, wenn nicht »das Gleiche zu dem Gleichen gleichmäßig« (tautòn tauto katà tautòn) hinzutritt (82b). Die Folge sind Überbildungen oder Zerstörungen (phthorás te apeírous). Die zweite Entstehungsweise betrifft Wesenheiten des Körpers, die bereits aus verschiedenen Elementen zusammengesetzt sind: Mark, Knochen, Sehnen, Blut. Krankheit bedeutet hier eine Umkehrung des naturgemäßen Entstehens: Die Grundelemente treten nicht zu wohlbestimmten und durchformten Gestalten zusammen, sondern verdicken sich so weit zu formlosen Zusammenballungen, bis es zur Auflösung der klaren Konturen und ihres Telos kommt. Der Vorgang der Gestaltwerdung wird also durch Übererzeugung von Masse in sein Gegenteil verkehrt (83a). In einer bezeichnenden Formulierung spricht Timaios diese Genesis, die gegen die Natur ist, aus: »Alle diese Bildungen nun, die da entstehen, wenn das Blut nicht naturgemäß [kata physin] aus Speisen und Getränken sich ergänzt, sondern aus verkehrten Quellen wider die Gesetze der Natur [parà tous tes phýseos nòmous] seine Masse entnimmt« (83e).

Die beiden genannten Grundelemente, die gemäße Ergänzung und die Masse (to ogkon), stehen kontrafaktisch zueinander. Noch einmal anders stellt sich die Naturwidrigkeit im dritten Krankheitstypus dar: Hier exponiert Timaios eine Säftelehre, deren Pointe es ist, dass Blockierungen der Bewegung, z. B. der Atemwege, auch durch ein Übermaß an einzelnen Elementen bewirkt sein können (86a); nicht nur, wie im ersten Krankheitstypus, durch eine Störung in deren Zusammenwirken. Es sind vor allem Fiebererkrankungen, die auf diese Weise zustande kommen, wobei die chthonische Verfestigung, also ein Übergewicht des Elements der Erde, die Gefahr am weitesten befördert. Aus der Dominanz der Erde rührt das viertägige Fieber, das sich nur schwer heilen lasse (86a). Der doppelte Blick auf das Wesen der Krankheit, einerseits sympathetisch auf ihre Natur, andererseits antithetisch auf ihre Widernatürlichkeit gerichtet, macht deutlich, welches komplexe Fließgleichgewicht bei der Wahrung bzw. Wiederherstellung des 552 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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Gleichmaßes zu beachten ist. Heilung und Vorsorge werden unter diesem leitenden Gesichtspunkt abgehandelt: Der Bewegung des Leibes aus sich selbst und in sich selbst ist eine höhere Bedeutung als sekundären Bewegungen und erst recht als der medikamentösen Behandlung zuzuweisen, da sie bewirkt, »dass Befreundetes sich mit dem Befreundeten verbinde und dadurch Gesundheit verleihe« (89a). Wie wir wissen, bedeutet das treffende Maß der Bewegung, dass weder der Körper ohne die Seele, noch die Seele ohne den Körper bewegt werde (88d). Freilich ist mit der bewegungshaften Balancierung des Körpers noch mehr gemeint. Sie bedeutet auch, die einzelnen Urelemente des Körpers zueinander im Maß zu halten, ebenso wie die Teile der Seele: den unsterblichen Teil des Nous, den Ursprung des Seelischen, auf den allein die Gottheit ihr Haupt richtet (90a), und die sterblichen Seelen-Eide, ›thymoeides‹ und ›epithymía‹ (69c,d,e und 70e). Den Nous begreift unser Dialog in seiner evokativen Sprache als Daimon, als Schutzgeist des Menschen (90a). Wenn man dabei die Anspielung auf das sokratische Daimonion mithört, so ist dies sicher nicht verfehlt. Der Nous nimmt nämlich eine besondere und a-topische Rolle ein, die sich durchaus auf den Bios Sokratou abbilden lässt. Denn einerseits ist er eines von drei Seelenteilen bzw. -hinsichten – es gilt ihn also im Ebenmaß mit den anderen beiden Seelenteilen zu üben und keinesfalls in Ausschließlichkeit (90a). Andererseits ist er Schutzgeist und lenkende Kraft über den anderen Seelenteilen. Nur durch ihn kann eine Bewegung überhaupt ihre Gesetzmäßigkeit gewinnen. Diese enthüllt sich nämlich in ihrer Verwandtschaft mit »den Gedankenbewegungen und Kreisläufen des Alls« (90d). Nur wer ihnen folge, wer also »das Denkende zur Ähnlichkeit mit dem Gedachten seiner ursprünglichen Natur [kata tèn archaian phýsin] gemäß erhebe« (90d), könne überhaupt ein inneres Lebensziel erreichen. Die Bewegungen, denen vordergründig eine diätische Funktion zukommt, verweisen im letzten auf das Urbild, die göttliche Bewegung des Kosmos, eine Bewegung des Gedankens und des Weltkreislaufs (tou pantòs dianoéseis) (90c). Dem geht eine vorläufige Begründung der leiblichen Bewegungen voraus. Mit der Bewegung ahmen wir in der abbildlichen Sphäre Schüttelbewegungen der Chora, der Amme des Alls, nach (88d), aus der anfangs überhaupt erst eine Ordnung der Elemente hervorging. Wie wiederum Luc Brisson zutreffend bemerkt hat, vertieft sich der Traktat vom Abbild schließlich zu der Einsicht, dass nicht, wie Protagoras meinte, der Mensch für den 553 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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Menschen das Maß sei, 68 »sondern der Kosmos, dieser sichtbare Gott, der so vollkommen wie möglich ist, weil sein Ordner, der Demiurg, eine wohlwollende Gottheit war«. 69 Diese Erwägungen folgen auf die zitierte abschließende Reflexion des Unterschieds zwischen der der Notwendigkeit dienenden und der göttlichen Ursache (68e). Sie werden durch den Hinweis eingeleitet, dass es nötig sei, noch einmal »zum Anfange zurück[zu]kehren und uns in der Geschwindigkeit [noch einmal] zu demselben Punkte [zu] begeben, von welchem wir hierher gelangt sind, und dann [zu] versuchen, unserer Dichtung [to mytho] einen dem Vorhergehenden entsprechenden Schluss hinzuzufügen« (69a).

Gemeint ist nicht der erste und nicht der andere Anfang, sondern eine Mischung aus beiden Anfängen. Dabei wird im Zusammenhang dieses letzten Teils des Dialogs – auf den Fluchtpunkt des Wesens der Krankheit und der Bewegung hin – erstmals dargelegt, welcher Art der Kosmos des Menschen ist. Die Darlegungsweise ist nun eigentlich mythisch. Der Demiurg und seine Gehilfen erscheinen als Schöpfer. Sie wirken aber nur zweitursächlich. Vorausgesetzt bleibt die elementare Welt-Ordnung aus dem ›eikos logos‹ der Stereometrie. Doch gewinnt diese Voraussetzung ambivalente Züge; denn damit noch einmal mit dem Anfang begonnen werden kann, muss sie in den Hintergrund treten. Dieser Vorbehalt zeigt sich bereits daran, dass die Genesis der Seele jetzt nicht aus geometrischen Grundformen entfaltet wird. Sie wird vielmehr in mythischer Sprache als ein Geschehen vorgestellt, das sich ›exaiphnès‹, wie mit einem Schlag, zuträgt (69c). Das All (panta) ersteht als ein einziges belebtes Wesen, »welches die Gesamtheit aller (besonderen) lebendigen Wesen, der sterblichen wie der unsterblichen, in sich schließt« (70c). Dies ist die mythische Geburtsstunde des unsterblichen Teils der Seele, die der Gott selbst bildet. Ihre beiden sterblichen Bestandteile ›thymos‹ und ›pithymia‹ hingegen überlässt er seinen sterblichen Gefährten. Die drei Seelen-Teile sind aufgrund dieses genealogischen Wesensunterschieds an verschiedenen Orten im Körper beheimatet, sonst könnte der Leib nicht als Fahrzeug des daimonischen Nous seine Einheit bewahren. Dementsprechend wird die Genesis der inneren Organe auch 68 69

Brisson, Den Kosmos betrachten, a. a. O., und ders., Les mots et les mythes, a. a. O. Brisson, Den Kosmos betrachten, a. a. O., S. 242.

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nicht aus den Elementen und ihrer geometrischen Anordnung expliziert, sondern aus den Erfordernissen, die die Seelenteile stellen. Nur die Grundzüge sind hier zu rekapitulieren: Das Herz ist nahe dem Thymos (70a). Da es eine Überhitzung des Körpers bewirkt, ist die blutlose und durchlöcherte Lunge als kühlender und erleichternder Schwamm (70c–d) ebenfalls in die Brust eingesenkt. Schon hier zeigt sich, dass Brissons Feststellung, die Herstellung und erst recht die Natur des sterblichen Seelenteils werde im ›Timaios‹ nicht beschrieben, zu widersprechen ist. 70 Die tatsächlichen Ambivalenzen und Lücken des Textes sind anderer Art: Zwar trägt der Gott seinen Gehilfen die Verfertigung der sterblichen Seelenteile auf und sie suchen diese gemäß der Vollkommenheit auszuführen, die der Gott bei der Genesis der unsterblichen Seele vorgegeben hat (69c) – wir haben es also mit einem doppelten Mimesis-Verhältnis, einer Nachbildung des Abbildes, zu tun. Doch der göttliche Demiurg greift an sehr spezifischen Punkten ein, die der – bemerkenswerten – Umsicht der Gehilfen nicht zugänglich wären. So wird ausdrücklich der Gott als Erzeuger der Leber (hepatos) genannt, die von ihrer Natur her süß und zugleich mit Bitterkeit durchsetzt ist (71b). Die Leber ist ein Spiegel, in dem der begierdehafte Seelenteil in leibhaften Affektionen unmittelbar auf den Nous bezogen ist. Diese Vorstellung ist von großer Subtilität, kann sie doch verdeutlichen, wie in der Begierde, ohne Vermittlung des Willens, der Nous zur Geltung gebracht werden kann. Die Einsetzung der Leber steht im Zentrum unseres Textpassus, der darum kreist, dass in einer kosmischen Ordnung der Natur auch das Niedrige den höchst möglichen Grad an Erhebung und Korrespondenz mit dem Göttlichen erfahren soll. Es soll in seinen Grenzen seine Vollendung empfangen. Deshalb versuchen die Gehilfen des Demiurgen, diesem Werk entgegenzukommen: Sie binden die Epithymia an das Zwerchfell an wie ein wildes Tier (hos thremma agrion) (70e), damit sie nach der Notwendigkeit (anankaion) ihre Nahrung empfängt und sich nicht in der Gier verzehrt; und sie senken die mantische Fähigkeit in die Epithymia ein. Hierher rührt es dem Mythos zufolge auch, dass Visionen vorbewusst und ohne eigene Akzentuierung des Willens geschaut werden. Die Schau bedarf zwar der zergliedernden Auslegung, diese ist ihr gegenüber aber zweitrangig. Die nicht-bewusste Vision ist auch für sich genommen schon Wahrsagung (manteia), die

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Brisson, Le même et l’autre, a. a. O.

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Dolmetschkunst dagegen lediglich eine Fertigkeit. 71 Das visionäre Vermögen hat seinen Ort gleichfalls in der Leber (72b), wodurch unterstrichen sein dürfte, dass diese nicht nur ein Abbild des Nous ist, sondern auch dessen göttliches Urbild mit vor Augen führt. Im Sinn dieser mythischen Explikationen vollenden die Helfer des Demiurgen das, was er begonnen hat. Sie sind aber in ihren Handlungen nicht frei; nur er verfügt über das göttliche Vermögen. Unmittelbar nach diesen Erwägungen ist in einer ausgreifenden Textsequenz noch einmal der Demiurg selbst als Schöpfer namhaft gemacht: wenn es um die Genesis des Körpers geht, die nun in einem zweiten Anlauf, nach der topischen Verteilung der Seelenteile, abgehandelt wird. Von einem zweiten Anlauf können wir sprechen, da nun die elementare (stoichetische) und die geometrische Modulierung einer Ordnung erstmals wieder in den Vordergrund treten: »So viele nämlich von den Elementardreiecken völlig regelmäßig und glatt und so am meisten dazu geeignet waren Feuer, Wasser, Luft und Erde genau darzustellen, diese sonderte [der] Gott einzeln von ihren Gattungen [genon choris apokrinon] für sich aus, mischte sie nach richtigem Verhältnis miteinander und bildete aus ihnen das Mark, um in demselben die Gesamtmasse des Samens für das ganze Geschlecht der sterblichen Wesen zu bereiten« (73b–c).

Das Mark ist mithin die Wurzel alles sterblichen menschlichen Lebens. Der Gott fügt die drei Seelenarten (psychon gene) dem Mark ein und formt es in zweifacher Gestalt – als das dem Nous zugehörige Kopf-Mark und als das All-Mark, das dem ›thymos‹ und der ›epithymía‹ zugehört (73d). Um diese Radix des leiblichen Lebens werden aus den elementaren Grundstoffen und ihrer Verbindung dann die Knochen als feste Verstrebungen und Gelenke aus der Substanz der Andersheit (heterotés) gefügt (74a 1 ff.). Hervorzuheben ist ein letzter ethischer Zug in der Bestimmung guten Lebens. Der Demiurg kommt mit seinen Helfern in dem Befund überein, dass ein kurzes, doch gutes einem langewährenden, aber schlechten Leben in jedem Fall vorzuziehen sei: »und demzufolge bedeckten sie denn den Kopf wohl mit einem dünnen Knochen, nicht aber mit Fleisch und Sehnen, so wie er denn ja auch keine Bie-

Damit ist auch auf religionsgeschichtliche Gegebenheiten, insbesondere die Eingeweideschau, verwiesen. Vgl. Martin P. Nilsson, Die Geschichte der griechischen Religion. Band I. München 1923, S. 522 ff.

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gungen hatte« (75c). Das Kopfmark also, der Ort des göttlichen Nous, ist zugleich der ephemerste Teil der menschlichen Gestalt. Seine Zerbrechlichkeit ist eminentes Zeichen der Sterblichkeit und zugleich des Transzendenzcharakters. Die Überlegungen zu Krankheit und innerer Seelenordnung können nun noch einmal auf ihren Ort im ›Timaios‹-Dialog hin befragt werden. Die Tonart des Textes scheint hier wieder deutlich verändert. So ist zwar auch jetzt noch immer von dem Gott die Rede, doch ist insgesamt nicht der Schöpfungsmythos bestimmend, sondern der Bezug auf Bewegung und geometrische Ordnung. Den Elementen ausgesetzt, droht der Mensch von ihnen verzehrt und zerstört zu werden (77a). Einen Gegenhalt findet er in den Pflanzen, die ihm Nahrung und Schutz geben. Damit wird der Seelenbewegung eine Bewegung an die Seite gerückt, die zwar als lebendig angesehen werden muss, die aber nicht imstande ist, aus sich heraus eine vollkommene Bewegung zu vollziehen (77c). Es ist bemerkenswert, dass die Rückbindung menschlichen Lebens an die Elemente als ›ex anánkes‹ (aus Notwendigkeit) (ibid.) erkannt wird; sie schadet dem Menschen eher als dass sie ihm hilft, ist aber so unbedingt mit dem Menschsein verbunden, dass sie auch der göttliche Demiurg nicht auszutilgen vermag. Auch die Atmung wird als Moment menschlicher Welthaftigkeit hervorgehoben. Sowohl im Blick auf den pneumatischen Kreislauf der Luft (79e) wie auch im Blick auf den Atmenden selbst bedeutet Atmung Tun und Erleiden zugleich. Eine konstruktionshafte und eine kosmische Bedingung kommen also im Atemgeschehen zusammen. Die konstruktionshafte Seite zeigt sich in der Lehrrede darin, dass die Atmungsorgane gedoppelt sind: Wir atmen mit der Oberfläche des Körpers in einem erleidenden Sinne, denn hier sind wir der äußerlichen Welt schutzlos ausgesetzt. Und wir atmen aktiv durch Mund und Nase. Da aber »der Atem von uns nach außen bewegt wird, so ist demgemäß bereits Jedermann klar, dass er dabei nicht in einen leeren Raum eingeht, sondern das Nächste aus seiner Stelle verdrängt, und dies seinerseits treibt immer wieder das Nächste weg« (79b). In der Doppelbewegung von Aus- und Einatmen vollenden sich diese Anstöße zu einem Kreislauf, der paradigmatisch ist für andere grundlegende, welthafte Vorgänge: einmal für das Zusammenschwingen von Tönen unterschiedlicher Laufgeschwindigkeit, dann für den Wasserfluss, der sich nicht linear, sondern kreishaft vollzieht (80c), und schließlich für all jene Phänomene, die gemeinhin mit der 557 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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magischen und wunderbaren Anziehungskraft in Verbindung gebracht werden (80c) – der Niedergang der Blitze oder die magnetischen Wirkungen. »Bei keiner von allen diesen Erscheinungen findet jemals wirkliche Anziehung statt, sondern darin, dass es nichts Leeres gibt und alle Körper [daher] durch den aufeinander geübten Druck einander in Kreislauf versetzen« (80c), sei deren Ursache zu sehen. Dem sphärischen, kosmischen Kreislauf folgt schließlich der Kreislauf des Blutes. Mit ihm verbinden sich erneut Fragen nach dem innersten Kern des Lebens und nach seiner Endlichkeit. Blut bringt die Zerstörung der in der Nahrung zugeführten Elemente mit sich. Deshalb wird in halb mythischem Ton seine rote Farbe von seiner verbrennenden Wirkung hergeleitet (80e). Andererseits gehen die im Verbrennungsvorgang umgesetzten Elemente als Lebensgrundstoffe in den menschlichen Organismus ein. Dies ist freilich nicht nur von einer kosmischen, sondern auch von einer geometrischen Elementenlehre her zu verstehen. Das Feuer des Blutes zerschneidet die Dreiecke der aufgenommenen Stoffe und bildet sie zu den für den Körper konstituierenden Dreiecken um, als deren zentraler Sitz das Mark erwiesen worden war (81b f.). Es hält als Dreh- und Angelpunkt den Körperbau zusammen. Ab diesem Punkt gibt der ›Timaios‹ eine Erläuterung über Altern und Sterben. Er beschreibt diese Vorgänge als ganz und gar ›kata physin‹. Die das Mark formierenden Dreiecke seien in der Jugend spitz angelegt, sie nutzten sich im Alter aber ab und würden immer stumpfer, bis sie ihre haltende Wirkung nicht mehr ausüben könnten. Die Seele löse sich dann aus dem Körper. Krankheit ist umso schärfer als Gegenbild zu diesem naturhaften Geschehen in der Zeit zu verstehen. Aufgrund ihrer Widernatürlichkeit verursacht sie Schmerzen. Im Licht dieser Verständigungen wird erst einsichtig, welche Schwierigkeit und Selbstüberwindung es bedeutet, die Natur der Krankheit als solche anzuerkennen – und damit zuzugestehen, dass Krankheiten nicht nur ihre Zeit haben, sondern selbst aus geordneten geometrischen Grundformen entstanden sind (89c 1 ff.).

Platonische ›Anthropologie‹ Betrachtet man die Anthropologie, die einzig in den ›Timaios‹ eingeschrieben ist und die auf eine schon mehrfach bemerkte Enthaltung der Frage nach dem Menschen in anderen Dialogen trifft, nun noch einmal synoptisch auf ihre Architektur hin, so kann man erkennen, 558 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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dass ihre Achse in der Analytik der Sinne, namentlich des Gesichtssinns, liegt. Nicht umsonst vollzieht sich bei seiner Explikation der große Umbruch, der zum anderen Anfang nötigt. Auch aus dem ersten Anfang heraus wird die Genesis des menschlichen Leibes in den Anfängen skizziert (43a ff.). Schon dieser erste Ansatz gibt zu verstehen, dass sie nicht vom Demiurgen selbst ausgeführt wird. Er überträgt sie vielmehr seinen Gehilfen. Auch in der ganz rudimentären, noch nicht im Lichte der Chora und der geometrischen Grundverhältnisse exponierten Erörterung wird schon deutlich, dass dies eine Erschaffung aus den Elementen ist, ein Formgebungsgeschehen, und gleichsam eine Mimesis zweiter Stufe. Es ergibt sich die Struktur eines Abbilds des Abbildes. Denn die Gehilfen des Demiurgen sind selbst Abbilder und können insofern nur Abbilder vom Abbild schaffen: Sie »verkitteten darauf diese entnommenen Teile [sc. aus den Elementen] in Eins, indem sie sie nicht mit den unauflöslichen Bändern, durch welche sie selber zusammengehalten wurden, sondern mit einer Menge von Stiften […] zusammenhefteten« (43a). All diese Anzeichen von Endlichkeit deuten an, worauf die Kosmogonie der Verleiblichung eigentlich abzielt: auf eine Urstiftung der satyrhaften Vernunftlosigkeit und Kontingenz, ja der Verwirrung der Weltseele durch die Einkörperung. Die gewordenen Menschen haben zwar an der Weltseele teil, doch sie folgen nicht dem kosmisch-sphärischen Zusammenhang. Weder herrschen sie, noch werden sie beherrscht, sie sind vielmehr nach allen sechs Richtungen (oben – unten, rechts – links, hinten – vorne) zerstreut: sie werden fortgezogen (43a-b). Die Zerstreuung kann sich nicht zur Form fügen und zerstört das Gleichmaß der Weltorientierung. Damit gibt der Textpassus eine bewegende mythische Urgeschichte der Doxa. Da die endlichen Menschen, anders als die göttlichen Gehilfen des Demiurgen, den Eindrücken von außen, etwa der Kollision mit anderen Elementarkörpern, schutzlos ausgeliefert sind, sind sie ganz und gar von der sinnenhaften Empfindung (aisthesis) bestimmt (43c). Diese bringt Bewegungen hervor, die die beiden Kreise der Weltseele, den Kreis des Selbigen und den Kreis des Anderen, an ihrer Selbstbewegung hindern. Dadurch werden beide Kreise auf mehrfache Weise blockiert; einmal, indem das Selbe und das Andere, Identität und Differenz, spiegelverkehrt wahrgenommen werden – eine Verwechslung, die umso leichter verständlich ist, als den von der Empfindung angezogenen Seelen das, was immer ist, also Selbigkeit und Andersheit, nur an jeweiligen Wahrnehmungen aufgeht. Diese Dominanz 559 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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der Aisthesis 72 spitzt sich in einem zweiten Defekt zu. Es zeigt sich nämlich, dass die endlichen Seelen das Selbige und das Andere für »irgend Etwas« halten (44a). Da aber weder Selbigkeit noch Andersheit die Seele leiten, ist diese orientierungslos und in höchstem Grade erschütterbar. Die Verbindung mit dem endlichen Körper bewirkt, dass sie ›anoos‹ wird (44b): bewusst- oder vernunftlos. Diese präzise, wenn auch etwas umständliche Übersetzung von Apelt 73 verweist auf den eigentlichen Sinn dieses Epithetons: Die Seele verliert durch die Einkörperung ihr Wesen, ihren Anteil an der Weltseele. 74 Wie ein Rückweg von dieser vollständigen Verwirrung, der Verstrickung ins Scheinhafte, zur Wiedergewinnung der der Seele eigenen Kraft aussehen könnte, ist zunächst nur in Andeutungen gesagt. Schon hier ginge es um die Restitution des guten, göttlich sanktionierten Urzustandes. Die Umschwünge der Weltseele verlaufen gemäß der Natur (kata physin) und diese naturgemäße Kraft kann sich gegen die Störung wieder einpendeln. Der Ansatzpunkt wird bei der sinnlichen Wahrnehmung genommen. Das Auge strahlt reines Feuer aus (45a): nur so kann es sehen. Es sieht freilich nur, wenn ihm Ähnliches entgegenkommt, also bei Tageslicht. Dass das Auge nachts ruht, bedeutet eine Eingrenzung seiner Reichweite. Sie ist aber nicht zu beklagen, denn sie lässt den Blick nach innen gehen, gibt ihm Ruhe und »beschwichtigt sodann die Bewegungen« (45e). Die Seele bleibt dem Auge unerkennbar (46d). Dennoch kommt der Aisthesis in den Sinnen große Bedeutung zu, gibt sie doch in den Umschwüngen des Weltalls die Zeit zu sehen, das Abbild des Ewigen, und die Welt, das Abbild des Einen in Allem Dazu die sehr schöne Darstellung ihrer Bedeutung bei W. Welsch, Aisthesis. Grundzüge und Perspektiven der Aristotelischen Sinneslehre. Stuttgart 1987, S. 427 ff. 73 Vgl. die Ableitungen bei Kluge/Mitzka, Etymologisches Wörterbuch. Berlin, New York 1995, S. 383 und S. 754. Siehe zur Sachlage des Zusammenhangs von Sehen und Hören und seiner spekulativen Umformung auch M. Riedel, Hören auf die Sprache, a. a. O., S. 11 ff. 74 Die anthropologische Frage ist bei Platon ansonsten selten überhaupt explizit exponiert worden. Vgl. aber M. Bordt, Metaphyischer und anthropologischer Dualismus bei Platon, in: B. Niederbacher und E. Rungaldier (Hg.). Die menschliche Seele. Brauchen wir den Dualismus? Frankfurt/Main u. a. 2006, S. 99 ff., und S. Broadie, Soul and Body in Plato and Descartes, in: Proceedings of the Aristotelian Society 101 (2001), S. 295 ff., ferner Chr. Gill, The Body’s Fault? Plato’s Timaeus on Psychic Illness, in: M. R. Wright (Hg.), Reason and Necessity. Essays on Plato’s Timaeus. London 2000, S. 59 ff. 72

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(hen panta) (47a), in den Gestirnen. Der Gott habe für uns die Sehkraft erfunden, heißt es, »damit wir die Umläufe der Vernunft im Weltgebäude betrachten und sie auf die Kreisbewegungen unseres eigenen Nachdenkens anwenden könnten, welche jenen verwandt sind, soweit es das Durchschütterte mit dem Unerschütterlichen sein kann« (47c). Im Sinne des alten indogermanischen Wortverständnisses denkt Platons ›Timaios‹ das Sehen mit dem Hören und der Sprache zusammen. 75 Denn auch die Sprache (und mit ihr die Musik) ist ein inneres Geschehen, Helferin, 76 um »den in Zwiespalt geratenen Umlauf der Seele in uns zur Ordnung und Übereinstimmung mit sich selber zurückzuführen« (47d). Bemerkenswert ist nun, dass dieser Hinweis auf die transzendierende Bedeutung der Sinneswahrnehmung die Exposition des Bruches begleitet, der schließlich zum zweiten Anfang nötigt. Offensichtlich ist es nicht möglich, die innerste Bedeutung von Gesicht und Gehör zu denken, wenn nicht zugleich von den vernunfthaften Hilfsursachen der Blick sich auf die tiefere und originärere Ursache wendet, auf die Wirkung, die aus dem Widerstreit zwischen Nous und Ananke hervorgeht – jenes Widerstreits, der zur Überredung der Ananke durch den Nous wird und dann zu einer Gemeinsamkeit zwischen beiden. Dies bedeutet, dass dem ersten Anfang beides, Ideenblick und das Urchaos am Grund des Seins, gleichermaßen verschlossen bleiben muss. Einsichten dieser Art sind offensichtlich nur der unsterblichen Seele zugänglich. Doch bleibt dabei die immanente Empfindung selbst unerklärt und unerklärbar. Sie verdankt sich der sterblichen Seele, von der bislang nicht die Rede war. Der unsterblichen Seele und ihrem Ideenblick ist sie im letzten nicht zugänglich. 77 Was zu Beginn der Erörterung des Empfindungsproblems wie eine Dispositionsfrage erscheinen könnte, enthüllt sich im Fortgang, eben im Blick auf die sterbliche Art der Seele (69a ff.), als mehr. Es geht nicht Nietzsche hat auf diese religionsgeschichtlichen Befunde eine starke Resonanz gegeben. Vgl. M. Riedel, Freilichtgedanken. Nietzsches dichterische Welterfahrung. Stuttgart 1998. Im Hintergrund auch: Gadamer, Über das Göttliche im frühen Denken der Griechen, in: ders., Griechische Philosophie Band II, a. a. O., S. 154 ff. und Picht, Platons Dialoge, a. a. O., S. 309 ff. 76 S. Benardete, On Plato’s Timaeus and Timaeus’ science fiction, in: Interpretation 2 (1971), S. 21 ff. 77 Dazu Figal, Warum soll man über die Welt eine Geschichte erzählen?, a. a. O., S. 88. Im Hintergrund Th. Johansen, Body, Soul and Tripartition in Plato’s Timaeus, in: Oxford Studies in Ancient Philosophy 19 (2000), S. 87 ff. 75

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nur darum, dass das Eine, Sinneswahrnehmungen, und das Andere, die unsterbliche Seele, nicht gleich behandelt werden könnten und dass doch ihre Trennung in eine Aporie führt: »Wir müssen daher zunächst das Eine von Beiden (als wäre es schon abgetan) voraussetzen, und nachher auf dies Vorausgesetzte [hypothetéon] wieder zurückkommen; und damit nun die Darstellung der Eindrücke sich unmittelbar an die der (vier) Gattungen anschließe (von denen sie ausgehen), so wählen wir hierzu [sc. zum Ausgangspunkt] das Körper und Seele Anlangende« (61d).

Im Fortgang der Erwägungen zeigt sich vielmehr, dass die gegenseitige Unzugänglichkeit von sterblicher und unsterblicher Seele auch dann nicht aufzulösen ist, wenn der sterbliche Seelenanteil im Denken thematisch wird. Das Daimonion des vernunfthaften Seelenteils wird sich dabei als Lenker erweisen: indem es die Harmonie stiftet, die die Seelenteile untereinander ebenso wie Leib und Seele mit ihrer Natur eins sein lässt (87d). Dieser Grundriss konkretisiert sich im Zusammenhang der Lehre von den stereometrisch ausfigurierten Elementen in eine Wahrnehmungslehre. Da es den spitzen Dreiecken zuzuordnen ist, wirkt das Feuer schneidend auf andere, ihm begegnende Körper ein. Es löst auf und zerstückelt (62a). Diese Schnitte seien als Wärme wahrzunehmen, wobei der Übergang von der Ideenstruktur (Schneiden) zu der Wärmeperzeption nicht entfaltet wird. Man könnte den Konnex, was bei Platon freilich unterbleibt, von der leiblichen Selbstempfindung her einleuchtend machen: Schneidender Schmerz zieht in der Regel eine Hitzewallung nach sich. In Hinsicht auf andere Empfindungen scheint der Bruch weniger tief zu gehen; so wird zur Verständigung über Frost und Zittern auf die unterschiedliche Größe der elementaren Dreiecke hingewiesen: Von außen kommende größere stereometrische Zusammensetzungen wie das Zähflüssige (schmelzendes Eis) gegenüber dem Dünnflüssigen (menschliche Körpersäfte) (58d), die in einen Körper eintreten, suchen die kleineren Zusammensetzungen zu verdrängen. Sie können sie, des innerkörperlichen Kreislaufs wegen, freilich nicht vertreiben, sondern nur zusammenziehen. Diese systolische Bewegung kommt gewaltsam von außen. Sie ist überdies ausdrücklich als widernatürlich (para physin) benannt (62b). Die Bewegung, die sich immer dann einstellt, wenn schockartig äußere Temperaturverhältnisse auf einen inneren Kreislauf treffen, äußert sich als Zittern und Kälteempfindung. Timaios spricht aber 562 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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nicht von ›Äußerung‹, sondern von einem Kampf und einer Erschütterung (máche – seismo) (62b), die, indem sie als Kälteempfindung und Zittern bezeichnet werden, einen Namen bekommen, deren Sache aber in diesem Namen nicht gültig erfassbar ist. Die »Vernunft des Leibes« hat eben keine scharf abgegrenzten Ränder. Dies zeigt sich auch im Blick auf Schwere und Leichtigkeit, Oben und Unten. Da dem Kosmos eine in sich kreisende sphärische Gestalt eigen ist, schlägt es fehl, ›oben‹ und ›unten‹ als feste Richtungssinne anzunehmen. Vielmehr befindet sich jeder Punkt des Kreiskörpers in gleicher Entfernung zur Mitte, die Gestalt verhält sich »auf allen Seiten gleichmäßig« (62d). Für die menschliche Wahrnehmung geben sich die zu unterscheidenden Richtungssinne durch die gewaltsame Einwirkung auf Körper zu erkennen, die eine je verschiedene Anspannung freisetzen, je nach ihrer Stärke (vgl. 58d), die also ganz in der stereometrischen Weltkonstruktion zu beschreiben sind (63c). Die stärkeren Körper werden gegen äußerliche Gewalteinwirkung eine geringere Gegenspannung entwickeln, die schwächeren eine größere. Da sie nicht in sich ruhen, 78 werden sie leichter dem Druck nachgeben, der widernatürlich ist und sie so aus ihrer Mitte reißt (63d). Dass sich in dem Gedankengang die Frage der Gewalteinwirkung immer deutlicher geltend macht, ist keineswegs zufällig. Die Erörterung der Sinneswahrnehmungen läuft nämlich auf eine Verständigung über Lust- und Schmerzgefühle zu (64a). Beiden ist gemeinsam, dass sie jählings und stark (athroon) wirken, ersteres als Wiederherstellung eines der menschlichen Natur gemäßen Zustandes, letzteres als dessen gewaltsame Aushebelung (64d). Bemerkenswert ist, dass Lust ausschließlich als Wiedergewinnung des verletzten naturhaften Zustandes verstanden wird (64e). Im naturhaften Zustande selbst ist sie nicht wahrnehmbar. Anders verhält es sich mit dem materiehaft Körperlichen, Haaren und Haut, in denen die erdhaften Grundelemente überwiegen. Der äußerliche Anstoß trifft hier auf Trägheit. Deshalb sedimentieren sich Wahrnehmungen zu Schmerzgefühlen. Als das große Gegenbild wird wieder das Gesichtsvermögen ins Spiel gebracht. Es empfängt die stärksten Wahrnehmungen und es bringt stärkste Wahrnehmungen hervor (64e). Der bereits aus dem SonnenDazu G. Vlastos, Plato’s Universe, a. a. O., S. 220 ff., sowie R. Sorabji, Matter, Space, and Motion, a. a. O., S. 100 ff., siehe auch R. Brague, Du temps chez Platon et Aristote. Quatre études. Paris 1982.

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gleichnis bekannte Gedanke, dass das Auge nicht zu sehen vermöchte, wenn nicht ihm Ähnliches, das Licht, ihm entgegenkäme, ist hier zu der frühgriechischen poetischen Einsicht verdichtet, dass das Auge nur als ›immer schon‹ Angeblicktes seinen Sehstrahl aussenden kann. Das Gesehenwerden geht dem Sehen voraus. 79

Der politische Traktat im ›Timaios‹ Seth Benardete hat in einem wichtigen Aufsatz auf die politische Fragestellung im ›Timaios‹ verwiesen, 80 und in der Tat ist sie für die Architektonik des Dialogs von tiefer, wenn auch verborgener Bedeutung. Das ›Timaios‹-Gespräch und in seinem Umkreis der Dialog ›Kritias‹ sind in der fiktiven Chronologie in der unmittelbaren Folge der ›Politeia‹ angesiedelt; sie sollen am Tag nach dem Politik-Gespräch stattgefunden haben. Auch in der Sache ergibt sich ein Folgeverhältnis. Für Sokrates muss auf das Thema der ›Politeia‹, den idealen Staat in Ruhe, notwendig folgen, ihn in Bewegung (kinoumena) und im Kampf (agonta) (19b) zu zeigen. Dies sei bislang nicht geschehen, und eine Klärung dieser Frage lasse sich weder vom Dichter noch vom Rhetor erwarten. Sie könne nur von einem Mann erhofft werden, der in der Praktik des Staates ebenso geübt sei wie in der philosophischen Besinnung (20a). Die in der ›Politeia‹ immer wiederkehrende und verschieden beleuchtete Frage nach der Wirklichkeit des idealen Staates erfährt dadurch eine neue, unerwartete perspektivische Wendung. Die von Sokrates exponierte, von Kritias dann aufgenommene Frage ist also keineswegs eine Frage der Applikation. Es ist eine Frage, an der sich zeigen muss, ob der Entwurf der ›Politeia‹ in den Veränderungen von Zeit und Geschichte und in Werden und Vergehen standhält. Kritias gibt die Antwort ausschließlich narrativ. Er erzählt die Geschichte von Ur-Athen, die – wie zuweilen bei Platon – in einem Zusammenspiel von Authentizitäts- und Distanzierungsmotiven (Picht) 81 entfaltet ist. Der gerade zehnjährige Kritias hörte sie von einem neunzigjährigen Greis, der auch den Namen Kritias

Diese Vorordnung wird sich auch im Ideenblick der ›Politeia‹ und nicht zuletzt in der Struktur des Sonnengleichnisses verifizieren. 80 Noch einmal S. Benardete, On Plato’s Timaeus and Timaeus’ science fiction, in: Interpretation 2 (1971), S. 21 ff. 81 Vgl. G. Picht, Platons Dialog ›Nomoi‹ und ›Symposion‹, a. a. O., S. 309 ff. 79

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führt (21b), Hinweis auf eine tiefe innere Affinität bei zeitlichem Abstand. Doch auch der greise Kritias gibt eine sich zu eigen gemachte fremde Rede wieder: einen dichterisch gefassten Bericht des Solon über seine ägyptische Reise und den erzählerischen Logos, den ihm ein alter ägyptischer Priester von Ur-Athen weitergab. 82 Schon in der Berufung auf die relevanten Zeugnisse zeigt sich dabei eine Staffelung. Kritias nämlich gibt dies aufgrund der ägyptischen Schrifttradition wieder, die ein sehr viel längeres Gedächtnis repräsentiert als die Tradition der Griechen. Die Athener und die anderen Hellenen beginnen nach jeder welterschütternden Katastrophe von neuem mit ihrer Zeitrechnung, während in den ägyptischen Tempeln alles »Treffliche und Große« von alters her aufgezeichnet ist, von dem die Griechen selbst nur durch Hörensagen vage Kenntnis haben (diaphoràn allen echon) (23a). Seinen Hinweis auf dieses grundsätzlich unterschiedliche Verhältnis zur Vergangenheit leitet der ägyptische Priester ein, indem er dem Solon zuruft: »O Solon, Solon, ihr Hellenen bleibt doch immer Kinder, und einen alten Hellenen gibt es nicht!« (22b). Distanzierung und Affinität, Fremdheit und Einführung in die Anfangsgründe der eigenen Polis halten einander in der Erzählung von der Reise nach Ägypten die Waage. Solon erfährt von der Urgeschichte Athens in Sais, einer Stadt, als deren Gründerin Neith, die Entsprechung der griechischen Athena, verehrt wird (21e), weshalb Athen und Sais als stammverwandt gelten (philathénaios). Diese Narration in Spiegelungen präludiert bereits das leitende Thema des ›Timaios‹Dialoges, das Verhältnis zwischen Urbild und Abbild. Sie zeigt auch, dass die Idee der Polis in der ›Politeia‹ in Atlantis, Ur-Athen, bereits realisiert war. Insofern ist »das Erzählte […] verständlich gemessen an dem, was es zu verstehen gibt. Weder dominiert das Einzelne und Spezifische noch ist es um der Verständlichkeit willen zum bloßen Exempel stilisiert.« 83 Die Entsprechungen führen aber niemals zu vollständiger Deckungsgleichheit. Ur-Athen, das in vorgeschichtlicher Tiefe im Kampf mit der sagenumwobenen Insel Atlantis erstmals ans Licht mythischer Erzählungen trat, war dem Mythos zufolge durch Los von Hephaistos, dem Gott der Schmiedekunst und des Feuers, erDazu nochmals Th. K. Johansen, Plato’s Natural Philosophy. A Study of the Timaeus-Critias. Cambridge 2004. 83 Figal, Warum soll man über die Welt eine Geschichte erzählen?, a. a. O., S. 88. 82

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wählt worden; Atlantis gehörte dagegen dem Wasser und damit dem Gott Poseidon an (25e). Vor der Vergleichsperspektive weist der alte Logos, der nur fragmentarisch in ›Kritias‹ und ›Timais‹ überkommen ist, 84 in einen noch tieferen und grundlegenderen Bereich als in den vorgeschichtlichen Mythos: nämlich auf die Notwendigkeit (ananke) und die aus ihr hervorgehende Urwahl. Der Zusammenhang zur Ananke in der Naturlehre des ›Timaios‹ wird auch aus den Berichten ersichtlich, die über das Ende von Atlantis erzählt werden: Im Zuge lang andauernder und »gewaltige[r] Erdbeben und Überschwemmungen« versinkt »während eines schlimmen Tages und einer schlimmen Nacht« (25c) Atlantis im Meer. Damit bricht die Physis als Urnotwendigkeit in eine geordnete Menschenwelt ein. Am Ende des ›Kritias‹ wird dieses Geschehen als Götterspruch gedeutet (120d) und mit dem verlorenen Ethos der Urstadt in Verbindung gebracht. Ihr Untergang erscheint nun dadurch bedingt, dass die Bewohner von Atlantis immer mehr die Orientierung am göttlichen Einen verlieren und sich in die Vielheit zerstreuen (121a). Durch diesen Verweisungszusammenhang wird deutlich, dass sich die Frage nach der Entstehung der Welt und die Frage nach dem Verhältnis von blinder Notwendigkeit und Naturordnung auf dem Grund der Frage nach der Ur-Polis erhebt. Nicht nur der Zeit, sondern der Sache nach geht das eigentliche Thema des ›Timaios‹ dem Vorhaben von Kritias voraus. Dies wird indirekt dadurch thematisiert, dass Timaios, der seinen Blick auf den Umlauf der Gestirne konzentriert und nicht auf die menschlichen Belange sieht, in der Rednerfolge den Vortritt vor Kritias eingeräumt bekommt. Darauf stellt sich aber die Frage, ob das, was Sokrates dem Kritias aufgibt, nicht besser durch die naturphilosophische Erwägung des ›Timaios‹-Dialogs eingelöst werden kann: Seele, Bewegung und Kampf der idealen Polis zu zeigen. Dies mag zunächst überraschen, denn offensichtlich gehören die politische Erzählung des Kritias und der ›eikos logos‹ des Timaios verschiedenen Gattungen an. Kritias als Erzähler des »anfänglich Wahren« kann die ihm zugedachte Aufgabe jedoch mit seinen narrativen Mitteln nicht erfüllen. Er zeigt weder Atlantis noch Ur-Athen in Bewegung, und noch weniger kann er zeigen, dass die Städte der Bewegung gewachsen sind. Die Bewegungen, die er anzeigt, Urstiftung und Urzerstörung, gehören der Welt der Götter oder der NaturZu den textkritischen Überlieferungsproblemen vgl. Krämer, a. a. O., S. 188 ff. und E. Schmalzriedt, Platon. Der Schriftsteller und die Wahrheit. München 1969.

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notwendigkeit an. Damit erweist sich die ›Kritias‹-Erzählung nicht nur im Verhältnis zur Ideal-Polis und zur sokratischen Frage als ein bloßes Abbild, sie ist es auch im Blick auf den ›Timaios‹. Kritias erzählt aus den Urtiefen der Geschichte. Der ›eikos mythos‹ des ›Timaios‹ löst sich dagegen aus diesem Bereich der Narration. Der Erzähler Kritias zeigt im Prolog seines Berichtes dementsprechend wenig Verständnis für die Denkart des Philosophen (Kritias 107a ff.). So gibt er zu verstehen, dass sein Unterfangen schwieriger sei und wohl auch schwerer wiege als das des Timaios. Denn bei Timaios gehe es um Abbilder des Gottes und der Götter, die doch niemand der Anwesenden kenne. Er dagegen habe etwas zu schildern, was jedem der Anwesenden bekannt sei, die politische Welt. Er werde daher wohl einer ungleich strengeren Nachprüfung unterworfen sein als Timaios. Diese Auffassung fällt deutlich hinter die Position des Sokrates und auch des Timaios zurück, der sich hier an Sokrates orientiert: Der denkende Mensch, der auf die unsterbliche Seele in sich bezogen ist, ist nicht in Unkenntnis über die Götter. Nicht die Nachprüfung durch die Hörer, sondern die in der Sache liegende Wahrheit ist das leitende Kriterium seines Logos. Es zu erreichen ist eine umso schwierigere, aber auch eine umso vornehmere Aufgabe, je mehr es um das Göttliche und Eine geht. Zudem hat Kritias eine irrtümliche, meinungshafte Vorstellung vom Verhältnis zwischen Urbild und Abbild. Seine Rede bleibt auf der Ebene der Abbildhaftigkeit. Er kann diese, sehr im Unterschied zu Timaios, nicht durchbrechen. Das Urbild ist für ihn ein seiendes Ding (vgl. Kritias 107d); auch dies in diametraler Entgegensetzung zu allem, was Timaios lehrte, wenn er die Welt als vollkommenen und gleichwohl abbildhaften Kosmos, das Urbild aber als dem menschlichen Geist entzogen darstellte. Aufschlussreich ist dabei, dass Kritias das Leitmotiv des Timaios, das Wort vom ›eikos logos‹, kritisiert und für seinen eigenen Bericht eine Nachprüfbarkeit (exetázomen) einfordert, die seinem Verständnis nach einen deutlichen Mehrwert erbringt. Kritias erfährt im Dialog keinen expliziten Widerspruch. Dies hat aber wohl eher damit zu tun, dass sein Irrtum zu offensichtlich ist. Das zeigt sich auch, wenn man ihn mit dem Demutsgestus konfrontiert, mit dem Timaios seinen Bericht beendet und in dem er es der Gunst der Götter überlässt, ob die Erkenntnis den Bereich des ›eikos logos‹ überschreiten und unmittelbar in die Sphäre der Wahrheit gelangen kann: Die richtige Strafe bestehe darin, heißt es, dass uns der Gott »aus Irrenden zu Kundigen mache. 567 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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Damit wir also in Zukunft über die Entstehung der Götter die Wahrheit reden, so flehen wir ihn an, er möge uns als Heilmittel, und zwar als das vollkommenste und beste aller Heilmittel, die Erkenntnis verleihen« (Timaios 106b). Alles dies zeigt, dass Kritias’ urgeschichtliche Erzählung noch im Bereich der Abbilder (eidola) bleibt. Wenn sein Bericht wahre Erzählung werden soll – und dies ist er in seinen Grenzen und über das Vermögen des Erzählenden hinausgehend unstrittig –, so verdankt er dies durchaus seiner Ähnlichkeit mit dem ›eikos logos‹, die aber unbewusst bleibt. Die Erzählung allein reicht nicht aus. Der Erzähler erfüllt nicht, was Sokrates fordert: gleichermaßen in den Dingen der Polis und in den Dingen der wahren philosophischen Einsicht (phronesis) bewandert zu sein (vgl. 20a). Er ist, ähnlich den Malern, ein Abbildkünstler. Nicht umsonst, doch wiederum in Unwissenheit über das, was er dadurch preisgibt, vergleicht er sich mit ihnen (Kritias 107a). Im Spannungsfeld zwischen ›Timaios‹ und ›Kritias‹ wird auch die Frage des Vergessens und Erinnerns aufgeworfen. Sie durchzieht als ein Nebenmotiv von eigenem Gewicht beide Dialoge. Kritias erinnert sich mit Hilfe einer Überlieferung, die bis in das schriftliche Gedächtnis des ägyptischen Tempelbezirkes weist, an das, was im jungen Attika vergessen worden ist. Zu erinnern und nicht zu vergessen was am Vortag über die Polis im Ruhezustand gesagt wurde, ist dann auch die Aufgabe in der Eingangssequenz des ›Timaios‹ (17a ff.), und man wird vermuten dürfen, dass die ergänzende Erörterung, die der bewegten Polis gilt, nicht zuletzt dazu dient, das ins Gedächtnis einzuprägen, was am vergangenen Tag über die Idee der Polis gesagt wurde. Kritias selber weiß darum, dass sein Unterfangen ausschließlich von der Gnade des Gedächtnisses abhängt (108a ff.). Er beginnt seinen Bericht deshalb mit einer eigenständigen Anrufung der Mnemosyne, der sich an den Anruf der anderen Götter anschließt (108c f.). Dabei bleibt in der Schwebe, ob eine Idee erinnert werden soll, die immer wahr ist, oder nur eine seit langem vergangene Erzählung. Unterschwellig ist auch der ›eikos logos‹ des Timaios eine Erinnerung, jedoch eine, die nicht auf eine schwierige Aktivierung der Gedächtniskunst angewiesen ist. Sie führt nämlich einerseits in die Sphäre der Physis und andererseits in die Sphäre des Göttlichen. Die Erzählung von Ur-Athen zeigt, wenn sie im Kontext des ›Timaios‹ betrachtet wird, dass die Frage nach der Realität der Polis in 568 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

Urbild, Abbild und Notwendigkeit

Bewegung erst im Horizont des natürlichen Kosmos angemessen beantwortet werden kann. Am Anfang der Genese der abbildhaften Welt ist im Blick auf die Weltseele bereits über die Vollkommenheit dieser Welt entschieden (36d). Aus Freude über die gelingende Entsprechung beschließt der Gott eine Ergänzung dieser Vollkommenheit. Er möchte sie noch mehr dem Urbild ähnlich machen. Dies geschieht in einem großen Ordnungsakt, in dem der Gott in der Zeit ein Abbild der Ewigkeit entstehen lässt, dessen Ordnung dem zugrundeliegenden All-Chaos abgerungen ist. Der Zeittakt, der dem Wechsel von Tag und Nacht (39b) und den Bewegungen der Planeten zwischen dem Kreislauf des Selben und des Anderen folgt, vermag nämlich nicht mehr, an das Urbild einer ewigen Zeit, die immer ist, die aber zugleich in höchstem Grade lebendig ist (37d), zu rühren. 85 Der Horizont der entstandenen, endlichen Zeit (chronou gegonóta) und von Werden und Vergehen ist gleichsam unüberschreitbar. Dieses ›war‹ und ›wird sein‹ ermöglicht es, die Erfahrungen der endlichen Welt zu ordnen. Es kommt aber nie an das ewige ›es ist‹ heran, denn dem Vergangenen und Künftigen ist weder die Deutlichkeit noch die Lebendigkeit realer Gegenwart eigentümlich. Im ›Timaios‹ wird der Bruch deutlich sichtbar: Er weist darauf hin, dass strenggenommen nicht davon die Rede sein könnte, dass das Entstandene oder das Entstehen-Werdende seien (38b). In der undurchdringlichen Doppeloptik von ›Sein‹ und ›Werden‹ sind sie und sind sie zugleich auch wieder nicht. Der Passus verfolgt bis zur Erörterung der Einkörperung der göttlichen Seele in die endlichen Leiber dieses Problem in mehrfältiger Weise weiter: Der Gott ergänzt die abbildhafte Welt so, dass in ihr Luft- und Wasserwesen, dann Erdenwesen, unter ihnen die Menschen, und sichtbare Götter in Abbildung des wahren göttlichen Geschlechts vorkommen (40a ff.). Er ordnet nach einem nicht zu beschreibenden inneren Gesetz die sieben charakterologischen Grundausprägungen der Seelen den Planeten zu und lässt auf diese Weise ihren göttlichen Charakter hervortreten. Doch er schreibt dem entstandenen Kosmos zugleich seine Endlichkeit ein. Er ist auflösbar und kann untergehen (37b); freilich würde, wie der Gott seinen Gehilfen, den entstandenen Göttern, zu verstehen gibt, nur ein Frevler das Entstandene wieder auflösen (41b). Die Ordnungsstiftung, von der hier die Rede ist, ist von kosmischem Ausmaß, und sie ist doch Zum Problemzusammenhang vgl. auch L. Schäfer, Das Paradigma am Himmel. Platon über Natur und Staat. Freiburg/Br., München 2005.

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endlich. Sie trägt alle unter Menschenhand gewordene politische Ordnung; doch die Ordnung ist auf Widerruf gegeben. Letzteres wird durch das mythologische Motiv noch einmal eingeschärft, dass über die Herkunft und Abstammung der Götter Stillschweigen bewahrt bleiben muss bzw. dass von ihnen nur gesagt werden kann, was die Überlieferung zu verstehen gibt (41d ff.). Dass es zuerst um Ordnung geht, dass diese Ordnung aber auf dem Grund des Chaos errichtet ist, macht der Gott deutlich, wenn er die endlichen, gewordenen Gottheiten um ihn herum zu Mitschöpfern beruft und ihnen das Gesetz verkündet, an das er sich auch selbst gebunden weiß (42d). Dieses Gesetz ist der erste Akt einer Ordnungsstiftung und es weist doch zugleich in einen Bereich der Notwendigkeit, denn es ist ein ehernes Maß, über das selbst der Gott nicht hinweggehen kann. In diesem Sinne heißt es ausdrücklich, dass die Gesetze bekanntgegeben werden, damit die Götter »an der späteren Schlechtigkeit eines Jeden unschuldig« seien (ibid). Daraus lassen sich Hinweise – nicht mehr, aber auch nicht weniger – für die Polis-Welt entnehmen. Die Analogien haben vor allem strukturelle Bedeutung: Die Polis-Welt beruht auf einer Vollkommenheit, die zugleich endlich ist. Das aber heißt, dass ihre Ordnung in eine Sphäre führt, die weder zu ergründen noch zu begründen ist, da sie auf einem Gesetz aufbaut, das einerseits auf die Ananke als All-Chaos, andererseits auf die Gegenwart des Göttlichen verweist. Die Polisgründung hat also mit der Endlichkeit zu rechnen; zugleich soll sie wie in einem Lobpreis als »Abbild des Schöpfers und sinnlich wahrnehmbare[r] Gott« in schönster und vollendster Gestalt gepriesen werden (92c). Unterhalb dieser Zusammenhänge verbirgt sich freilich eine Grundfrage, die in Platons Formulierungen nur angedeutet ist: ob denn im Urbild seelenhafte Lebendigkeit und Ewigkeitscharakter, Immer-Sein, zusammengehen, was unter den Voraussetzungen des Endlichen eigentlich nie der Fall sein kann. Damit ist an Sokrates’ Ausgangsfrage nach der Polis in Bewegung gerührt (19b). Denn erst unter den Voraussetzungen der Endlichkeit wird es zum Problem, lebendige Bewegung zu denken, die in der Ordnung der Idee bleibt; und wie von selbst wird die Frage nach der Bewegung zu einer Frage nach dem Agon, dem inneren Kampf darum, wie in der Polis die Idee das Maß bilden kann.

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Der platonische Text und zwei philosophiehistorische Fußnoten zum ›Timaios‹

II.

Der platonische Text und zwei philosophiehistorische Fußnoten zum ›Timaios‹

Einzigkeit und Zumutung des Naturdenkens im platonischen ›Timaios‹ sollen in einer Synopse unterstrichen werden, indem ein kurzer Blick auf den Timaios-Kommentar des jungen Schelling (1794) und auf den methodischen Zugriff der aristotelischen ›Physik‹ geworfen wird.

Schellings Interpretation (1794) als ein Schlüssel Das Interesse des jungen Schelling am ›Timaios‹ ist auf den sachlichen Fokus des »Werdens zum Sein« gerichtet. Deshalb interpretiert er in seiner 29 Blätter umfassenden Ausarbeitung in der ersten Manuskripthälfte Timaios 28–47e, in Konzentration auf das Verhältnis von Nous und Ananke; im zweiten Teil lenkt er sein besonderes Interesse auf die Chora. Dabei wendet er sich primär dem Ausschnitt Timaios 47e–53c zu. Die stereometrische Weltkonstruktion des ›Timaios‹ hingegen bleibt ihm durchgehend fremd. Wohl um ihrer Erörterung zu entgehen, zieht er als Ergänzungsstück Philebos 23c–27d heran, die Lehre von den vier Arten des Seienden, die er als ›Categorien‹ interpretiert und nicht zuletzt auf Kants ›Kritik der Urteilskraft‹ bezieht. Hermann Krings hat in seiner einleitenden Abhandlung darauf hingewiesen, 86 dass Schelling keineswegs nur das platonische Denken im Lichte Kants deute, wie die frühere Forschung weitgehend und unter oft unzureichender Kenntnis des Textkorpus annahm, 87 sondern auch umgekehrt die kantische Naturteleologie in der ›Kritik der Urteilskraft‹, die ihm seinerzeit bereits wohlbekannt war, platonisch deute. Von diesem Ausgangspunkt dringt Schelling in systematische Fragen des ›Timaios‹ ein. Die Sprache der ersten kantischen Kritik war dabei die maßgebliche Sprache philosophischer Verständigung, die Schelling zur Verfügung stand, und ihre Methodenlehre schien ihm hinreichend, um das sachliche Problem zu durchdenken. F. W. J. Schelling, Timaeus (1794). Siehe den ›Editorischen Bericht‹ ibid., S. 3 ff. und die Abhandlung von H. Krings, Genesis und Materie. Zur Bedeutung der ›Timaeus‹-Handschrift für Schellings Naturphilosophie, in: ibid., S. 105 ff. Die Seitenzahlen in Klammern nach den jeweiligen Zitaten beziehen sich auf diese Ausgabe. 87 Besonders zeigt sich diese Tendenz bei B. Sandkaulen-Bock, Ausgang vom Unbedingten. Über den Anfang in der Philosophie Schellings. Göttingen 1990. 86

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Der Logos oder Nous als das Paradigma, an das sich der Demiurg bei der Genesis der Welt hält, wird deshalb von Schelling als reine Verstandes- oder Vernunftform interpretiert. Umgekehrt aber macht sich der platonische Einfluss geltend, wenn Schelling zu bedenken gibt, dass die »reinen Begriffe« des menschlichen Verstandes nicht mit dem kantischen Apriori gleichzusetzen seien. Der platonische Nous ist vielmehr göttliches Vermögen. Nur auf das Göttliche als den »Ursprung aller Wesen« blickend, haben die Menschen an ihm teil. Die Ananke oder bildhaft gesprochen, die ›Hypodoche‹, das was aufnimmt, und sogar den platonischen Physisbegriff gibt Schelling in den Übersetzungen seines Kommentars durchgehend mit »Materie« wieder – ein Begriff, der bei Platon keine sprachliche Entsprechung hat. 88 Der Sache nach trifft Schelling allerdings den Kern, indem er die »Materie« als eine »Ur-Natur« bezeichnet, die vor aller Formgebung war, die also präexistiert. »Sie wird als etwas unruhiges ohne Ordnung u. Regelmäßigkeit bewegtes dargestellt, weil sie damals noch nicht der Form des Verstandes teilhaftig geworden war« (Tim. Kommentar, S. 27, vgl. auch S. 28). 89 Indem er sich die Entgegensetzung zwischen Nous und Physis bzw. Ananke vor Augen führt, kommt Schelling zu einer Problemsicht, die, wie er bemerkt, der kantischen Philosophie verschlossen geblieben sei. Er fragt, auf welche Weise der Idee Notwendigkeit zukommen kann. In ihrem ersten Teil konzentriert sich Schellings Platon-Auslegung deshalb auf die endliche Seele. Sie nimmt eine Mittelstellung zwischen Urbild und Abbild ein, hat sie doch an der Sterblichkeit und an der Unsterblichkeit Anteil. Die endliche Seele, Psyche, versteht Schelling näherhin mit dem zeitgenössischen Platon-Interpreten Plessing als »ursprüngliches Princip der Bewegung«, als ›arche kinesis‹. Dabei wird ihm ein leicht zu übersehender Passus zum Schlüssel für die erste Hälfte des Dialogs (Tim. 30b 6–c1): »Vernunft ist nur in der Seele möglich«, aus sich heraus könne sie nicht zur Erscheinung kommen. Da es hier um die Erscheinung des Nous in der Endlichkeit geht, ist es nicht verwunderlich, dass die Seele auch als Ort der erscheinenden Idee, der Schönheit, verstanden wird. Dass Schelling mit Platon gegen eine bei Dazu sehr detailliert M. Franz, Schelling. Tübinger Platon-Studien, a. a. O., S. 28 ff. Vgl. zum Ansatz auch die Sammelbände L. Hasler (Hg.), Schelling. Seine Bedeutung für eine Philosophie der Natur und der Geschichte. Referate und Kolloquien der Internationalen Schelling-Tagung Zürich 1979, Stuttgart 1981, sowie R. Heckmann, H. Krings und R. Meyer (Hg.), Natur und Subjektivität. Zur Auseinandersetzung mit der Naturphilosophie des jungen Schelling. Stuttgart 1985.

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Kant unthematisierte Problemlage denkt, wird an dieser Stelle noch einmal deutlich gemacht. Nur aufgrund ihrer Teilhabe am göttlichen Nous hat die endliche Seele an den transzendentalen Formprinzipien, als die die Ideen zu bestimmen sind, Anteil. Die Frage nach der Vermittlung von Nous und Notwendigkeit ist, wie der Blick auf die erscheinende Schönheit zeigt, zugleich eine Frage nach der Darstellung des Nicht-Darstellbaren: »das Abbild des Urbildes ist also primär die geordnete Bewegung und damit ein Lebendes [zoon hen], das ›in sich alles Lebende, sterbliches und unsterbliches, enthält‹ (Tim. 69c 2)«. Schelling geht also der Frage nach dieser Vermittlung nach, indem er ein anderes wesentliches Moment des ›Timaios‹ akzentuiert: das Verständnis der Seele als geordneter Bewegung. Obgleich so immer wieder der Widerstreit zum kantischen Denken ausgetragen wird, bleibt die Optik des ›Timaios‹-Kommentars des jungen Schelling insgesamt in einer bezeichnenden Schwebe zwischen kantischer und platonischer Perspektive. Erstere verhilft sogar dazu, Platons Ideenlehre gegen ihre zeitgenössischen Interpreten angemessener zu verstehen. Das platonische Ideendenken führt, wie Schelling zeigt, nicht auf eine Trennung zweier Welten, eine intelligible und eine sinnliche, wie es ein Vulgärplatonismus will; denn die Idee ist, wie Schelling mit Kant verdeutlicht, von ganz anderer Art als Seiendes. Sie ist reines ›noetón‹ (Timaios, S. 30 ff.). Ihr kommt Existenz zu, doch nur im Sinne der transzendentalen Logik, also »im Denken des Nous«. Erst indem dieser Zug an der Idee gewahrt ist, also erst dank der kantischen Perspektive, kann die Frage nach der Materie, einer vor aller Form präexistenten Natur, aufgeworfen werden. Es dürfte eben diese Einsicht sein, die es Schelling ermöglicht, den spezifischen Gedanken des platonischen ›Timaios‹ in der antiken Metaphysik, aber auch innerhalb des platonischen Werkes deutlicher zu erkennen als seine zeitgenössischen Erklärer (Tennemann, Tiedemann, Plessing). 90 Er weiß, dass der ›Timaios‹ zur präexistenten Natur, aber keineswegs zu einer allen Ideen vorgängigen ›Idee der Natur‹ führt. Dies anzunehmen, würde der Korrektur der Vernunft-

Vgl. die Einflüsse auf den jungen Schelling auch: Bubner, Innovationen des Idealismus, a. a. O., S. 19 ff., M. Franz, Schellings Tübinger Platon-Studien. Göttingen 1996 und J. Halfwassen, Idee, Dialektik und Transzendenz. Zur Platondeutung Hegels und Schellings am Beispiel ihrer Deutung des Timaios, in: Kobusch, Mojsisch (Hg.), Platon in der abendländischen Geistesgeschichte, a. a. O., S. 193 ff.

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ursachen durch die Ananke nicht gerecht werden. Deshalb kann man mit Krings und Buchheim zu Recht vermuten, dass »die Lektüre des ›Timaios‹ […] für Schelling zu einem Anstoß geworden [ist], das in einer reinen Vernunftwissenschaft nicht lösbare Problem aufzugreifen, wie nämlich das, was ohne Bestimmung und ohne Form als RealGrund der Welt gedacht werden muss, zum Gegenstand des Denkens und der Philosophie […] werden könne«. 91 Damit ist ein Impuls genannt, der auch in Schellings späterer Philosophie nachklingen wird: prominent in der Frage nach dem Bösen in der Freiheitsschrift (1809) und noch in der Unterscheidung zwischen ›negativer‹ und ›positiver‹ Philosophie – die Frage nach dem Verhältnis von Idee und Realität. Doch Kant, von dessen Vernunfttektonik ausgehend der junge Schelling Platon las, war noch in einer zweiten Hinsicht Vermittler. So nimmt Schelling zweimal im Zusammenhang seiner Erläuterung des idealen, doch gewordenen Lebewesens des Kosmos den § 65 aus Kants ›Kritik der Urteilskraft‹ auf: das Lehrstück von der Natur als ›organisiertem Wesen‹. Dieses zeige, dass sich der Zusammenhang zwischen Ganzem und Teilen in der Natur darin erweist, »dass [die Teile] voneinander wechselseitig Ursache und Wirkung ihrer Form sind« (KU S. 287). Ein Naturprodukt ist also nicht nach dem mechanischen Paradigma zu verstehen. In einer Uhr ist jedes Rädchen Teil der Einheit, doch die Rädchen ergänzen einander nicht gegenseitig zu einer sinnbestimmenden Form und sie bringen einander nicht wechselseitig hervor, »welches alles wir dagegen von der organisierten Natur erwarten können. Ein organisiertes Wesen ist also nicht bloß Maschine, sondern eine sich fortpflanzende, bildende Kraft« (ibid., S 289 f.). 92 Indes verdeutlicht Kant in dem zitierten Zusammenhang zugleich, dass dieses Vermögen der Natur unerforschlich ist. Es ist durch keine Analogie zu erfassen. 93 Der junge Schelling findet dagegen im ›Timaios‹ eine solche Analogie. Der Dialog sagt im Bild und im »wahrscheinlichen Logos«, dass sich das Ganze »durch die Harmonie der Teile« bilde, »die ihrerseits zweckhafte Ganzheiten sind und das heißt nicht nur Elemente eines sie übersteigenden FunkKrings, a. a. O., S. 127. Dazu sehr erhellend die Rezeptionsgeschichte. Vgl. H. F. Cherniss, Aristotle’s Criticism of Plato and the Academy. Baltimore 1944; im Blick auf die jüngere Forschung: A. Neschke-Hentschke (Hg.), Platos Timaios. Beiträge zu seiner Rezeptionsgeschichte. Louvain, Paris 2000. 93 Vgl. dazu die minutiöse Rekonstruktion bei Bubner, Innovationen, a. a. O., S. 29 ff. und Franz, Schellings Tübinger Platon-Studien, a. a. O., S. 29 f. 91 92

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tionszusammenhangs.« 94 Vor diesem sachlichen Fokus wird es nicht verwundern, dass Schelling zu einer ganz ähnlichen Deutung des Demiurgen gelangt, wie sie Gadamer notierte. Auch in Schellings Interpretation stellt dieser nicht her, noch konstruiert er – er formt vielmehr schon Geformtes, das aber noch im Schoß der Notwendigkeit verborgen ist. Es scheint dem jungen Interpreten sogar fraglich, wozu es des Demiurgen überhaupt bedürfe. 95 Doch wird an dieser Stelle seiner Auslegung bereits die Problematik erkennbar, die Schelling wenige Jahre später zur Abkehr von der Problemstellung des ›Timaios‹ und zu seiner absoluten Identitätsphilosophie führen wird: Der § 65 der KU und der ›Timaios‹ legen ihm gleichermaßen nahe, dass es keinen Übergang »vom Unbedingten zum Bedingten« geben könne (SW I, S. 367); denn allein der Versuch, einen solchen Übergang zu bestimmen, würde das Unbedingte zum Bedingten herabsetzen und seines wahren Ranges berauben. In unterschiedlicher Weise könnte sowohl Kants Hinweis auf das unerforschliche Vermögen der Natur wie das Verhältnis zwischen Urbild und Abbild, Nous und Physis zeigen, dass dieser Übergang zumindest nicht gedanklich aufzulösen ist. Wir können ihrer allenfalls immer wieder in Erfahrungszusammenhängen ansichtig werden. Vieles wird dabei im Dunkeln bleiben. Schon der junge Schelling begnügt sich damit nicht und tendiert deshalb über die Grenzen des ›eikos logos‹ und der mythischen Rede hinaus, in Orientierung auf die Spekulation eines in sich indifferenten Absoluten, das sich gleichermaßen natürlich wie auch noetisch manifestiert. Natur und Geist sind deshalb als seine beiden Bedingtheitsformen zu verstehen. Hier deutet sich ein spinozanischer Monismus an. Im ›Timaios‹-Kommentar äußert sich dieser Gedanke noch ganz verhalten darin, dass die Frage nach Urbild und Abbild mit jener nach dem Absoluten und dem Bedingten gleichgesetzt und der Unterschied zwischen platonisch-griechischer und neuzeitlicher Denkart nicht eigens betont wird. Dies zeigt sich auch in dem offensichtlichen Unverständnis, mit dem Schelling dem platonischen Bild von der Überredung der Ananke durch den göttlichen Nous begegnet. Denn zwar bestimmt Schelling den Topos der Überredung intuitiv zutreffend als zwischen Vernunft und Notwendigkeit situiert (Timaios-Kommentar, S. 50), 96 doch den Spielraum und die Ungewissheiten, 94 95 96

Dazu Krings, Genesis und Materie, a. a. O., S. 129. Ibid., S. 126. Vgl. dazu Krings, a. a. O., S. 122 ff.

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die sich daraus ergeben, mag er nicht zugestehen. In solchen Spuren deutet sich bereits der Weg zur Absolutheits-Spekulation an, der die Grundeinsichten verlieren muss, die aus dem ›Timaios‹-Studium zu gewinnen waren. Der Sache nach ist die Chora als drittes Genus zwischen Natur, Notwendigkeit und Nous bereits im ersten Teil von Schellings ›Timaios‹Abhandlung gegenwärtig. Dieser innere Zusammenhang wird aber erst in der Auslegung des zweiten Teils des ›Timaios‹ deutlich gemacht. Hier zeigt sich, dass Schellings Begriff der Materie ohne die Chora völlig blass bleiben würde. »Schon vorher hatte Platon in Bezug auf die Entstehung der Welt 1) das Urbild, das der Welt zu Grunde liegt […], und 2) die Nachahmung dieses Urbilds durch die sichtbare Welt […] unterschieden. Nun spricht er von dem 3ten, das durch das 2te vorausgesetzt wird, von der M a t e r i e d e r We l t « (Timaios-Kommentar, S. 51). 97

Für Schellings Gedankengang bedeutet dies nichts anderes, als dass sich durch die Chora erst die Dimension einer Welt vor jeder Genesis von Ordnung erschließt, einer Natur ›vor dem Entstehen des Kosmos‹ (vgl. Timaios 48b). Auch ist durch die Chora erst hinlänglich verständlich zu machen, was im ersten Teil des Kommentars über die vermittelnde Position der Seele angedeutet wurde: Die Seele bedarf als »ursprüngliches Princip der Bewegung« 98 eines Substrates. Dies eben ist das empfangende und aufnehmende Prinzip, in dem das All der Dinge zu einer Welt (Kosmos) gebildet werden kann. Das All der Dinge, eine Natur vor der Genesis der Welt, nimmt Schelling ganz im Sinn des ›Timaios‹ als gestaltlose und nicht-sichtbare Physis wahr, die in stetem Übergang begriffen ist. Er betont dabei das Wort aus dem ›Timaios‹, dass diese aller Bezeichnung entfliehenden Elemente (Timaios-Kommentar S. 53) ›ta pathé‹ seien (Timaios 48b 5), also Erleidnisse. Vor diesem Hintergrund hebt er hervor, dass es sich hier nicht um einen Siehe methodologisch auch: B. Witte, Der eikós logos in Platons Timaios. Beitrag zur Wissenschaftsmethode und Erkenntnistheorie des späten Platon, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 46 (1964), S. 1 ff. 98 Dazu in der Sache Brisson, Le même et l’autre, a. a. O., S. 125 ff., sowie die ältere Studie von J. B. Skemp, The Theory of Motion in Plato’s Later Dialogues. Cambridge, New York 1942, hier nach Amsterdam 21967. 97

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»We c h s e l an den Erscheinungen [handle], insofern er der Unveränderlichkeit i n t e l l i g i b l e r Gegenstände, sondern insofern er der B e h a r rl i c h k e i t der Substanz, deren A c c e d e n z e n wechseln, entgegengesetzt ist« (ibid., S. 53).

Hier kann sich die von Anfang an leitende Frage nach dem »Werden zum Sein« nun konkretisieren. Sie ist im Sinne von Schellings spekulativer Proto-Physik als ein Verhältnis von Kräften zu verstehen. Später, nach dem ›Ersten Entwurf eines Systems der Naturphilosophie‹ (1799), wird Schelling dann von »eine[r] unendliche[n] Mannigfaltigkeit ursprünglicher Aktionen« sprechen. Nicht nur in Bezug auf die Ananke, auch im Versuch, die aufnehmende Materie als Grund der Natur zu denken, trifft Schelling den Kern des platonischen Gedankens. Er weiß um die Zwiespältigkeit, die darin liegt, dass die Chora als ›aufnehmende Physis‹ der Vernunft entgegengesetzt ist und doch nur durch Vernunft erfasst werden kann. Schelling scheint zu erkennen, dass eben hier die geometrisch-stereometrische Weltkonstruktion des ›Timaios‹ ansetzt. Wenn er, wohl aus kritisch geschärften Bedenken, mittels raum-zeitlicher Anschauungsformen in die Sphäre der metaphysischen Frage nach der Urstiftung der Welt vorzudringen, diesem Weg nicht folgen konnte, so musste er in eine andere Denkmöglichkeit ausweichen. Diese schien ihm der ›Philebos‹ zu bieten. Schelling versteht die Zwiespältigkeit der Chora aus dem Verhältnis des Unbegrenzten (apeiron), der Grenze (peras), ihres Gemeinsamen (koinón) und der Ursache (aitía) (Philebos 23c– 27c). Den Kontext im ›Philebos‹, die Frage nach der Genesis von Lust und Unlust, lässt er konsequent außer Acht. Die vier Gattungen sind ihm vielmehr Weltbegriffe, im kantischen Sinne also Begriffe, »die unabhängig von der Erfahrung als transzendentale Prinzipien der Existenz einer sichtbaren Welt zugrunde liegen« 99 und diese erklären können. Insofern sind die vier platonischen Gattungen »Categorien für a l l e s real Seiende – bezeichnen also selbst nicht etwas Seiendes« (Schelling, Timaios-Kommentar, a. a. O., S. 61). Wie dies geschieht, sei unter Akzentuierung des zentralen Gedankens knapp aus Schellings Deutung hervorgehoben, die, wie jede konsequente Interpretation, auch wieder eine Seite des platonischen Textes klarer sehen lässt: Das Apeiron wird von Schelling ganz im Sinne Platons mit Physis, Urmaterie, gleichgesetzt. Eine nicht zu fi99

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xierende fluktuierende Bewegung ist ihm eigen. Zum Element kann es erst durch Begrenzung werden. Sie wird freilich durch ein Mittleres, zwischen Grenze und Unbegrenztheit, gegeben – könnte sich doch das ewige Eidos der Idee nach allem Gesagten nicht unmittelbar in der Natur manifestieren. Im Sinn des ›Timaios‹, der deutlich macht, dass es hier um ein Nachahmungsverhältnis »durch Gestalt und Zahl« (eidesi te kaì arithmois) geht (Tim. 53b 4–5), denkt Schelling ein Zusammenspiel der Qualität als der unbegrenzten Materie und des Quantums als des begrenzenden Prinzips alles Realen. »D. h. a l l e s in der Welt habe Gott (der Welturheber) als Q u a l i t ä t (Realität) bestimmt durch Q u a n t i t ä t dargestellt, d. h. nicht, Gott habe die Welt aus der unordentlich-bewegten u. den Ideen der Quantität hervorgebracht, sondern (insofern alle Realität ›apeiron ti‹ ist) habe Gott die Welt, ihrer M a t e r i e nach, als solcher, aus dem ›apeiron‹, u. ihrer F o r m nach, aus dem ›peras‹ zusammengesetzt« (Timaios-Kommentar S. 61 f.).

Es hat sich schon abgezeichnet, dass der Timaios-Kommentar auch durch die Ausgriffe auf den ›Philebos‹ hindurch einen durchgehenden systematischen Gedankengang verfolgt. Deshalb wird implizit schon im ersten Teil von Schellings Auslegung auf die Chora Bezug genommen. Die Kehrseite dieser Konsequenz ist, dass Nebenstimmen im ›Timaios‹-Dialog nicht zur Sprache kommen. So wird es nicht wunder nehmen, dass Schelling den tastenden methodischen Erwägungen Platons, der Besinnung auf den Wahrscheinlichkeitscharakter des Logos, dem zweiten Anfang, der Dunkelheit und Neuheit der naturphilosophischen Untersuchung mit vordergründigem philosophischen Unverständnis begegnet. Er deutet diese Motive in Platons Dialog als Zugeständnisse, die äußere Umstände, eine Art Zensur, dem Denken abgepresst haben. 100 Durch diesen Anachronismus wird, in einem Umschlag sachlicher Ferne in äußerste Affinität, der Denkgestus und Ton des ›Timaios‹ zum Ton des jungen Stiftlers und seiner nächsten Freunde Hölderlin und Hegel: »Er redet gerade in dem Tone, den noch jetzt der unterdrückte Freund der Wahrheit annehmen muss …« (Timaios-Kommentar, S. 50), notiert er sich, und schreibt an den Rand »C’est tout comme chez nous!«. Man wird also nicht einfach mit Hermann Krings sagen können, dass »das ›Hen kai pan‹ der Tübinger Damit klingt geradezu das von Leo Strauss im 20. Jahrhundert starkgemachte Moment der ›Persecution‹, also der zensurbedingten Verschweigung auf. Vermutlich war dies auch ein Moment, in dem die jungen Tübinger Philosophen ihre eigene Situation mit zur Artikulation brachten.

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[…] ein Auseinandernehmen des Einen und Alles offenbar nicht zulasse«. 101 Das Denksymbol des ›Hen kai pan‹ war ihnen vielmehr selbst Symbol einer Integrationswelt, um philosophischer und politischer Entzweiung begegnen zu können. 102 Es ist für den jungen Schelling eine Wegmarkierung und nicht ein theoretisch fassbares Prinzip. Deshalb findet er in der Naturphilosophie des ›Timaios‹, was er Jahre zuvor ahnte: Damals hatte er die Bemerkungen über den Dichter im ›Ion‹ und im ›Laches‹ auf die Grundstimmung einer anderen, poietischen Philosophie bezogen. Sie spreche die Sprache des wahrhaft philosophischen Enthusiasmus, die dem Mythos und der Dichtung verwandt bleibt und sich gerade nicht in Buchstabengelehrsamkeit verhärten darf. Dieser Ton macht sich auch durchgehend im ›Timaios‹ geltend, wenn er die Welt, die im Wechsel von ›eikos logos‹ und mythischer Erzählung Kosmos und Ouranos sich zeigt, als ›zoon‹, als Lebewesen, begreift. Darin konnte Schelling, der vielleicht in enger Symphilosophie und zusammen mit Hölderlin den ›Timaios‹ studierte, die Intention des ›Timaios‹ und jene des eigenen All-Einheitsdenkens miteinander übereinkommen sehen. In seinen naturphilosophischen Anfängen, die Goethe vor Augen hatte, als er die Berufung des 23-Jährigen an die Universität Jena förderte, konkretisierte sich die Frage nach dem All-Einen in diesem Sinn noch keineswegs wie dann ab 1797 – in der Weltseelen-Schrift, dem ›Ersten Entwurf‹, und abschließend im Dialog ›Bruno‹ (1802) – zu der Frage nach »der Einheit des göttlichen und natürlichen Princips, sondern [zum] Grundbegriff einer gegenüber der Transzendentalphilosophie selbständig sich konstituierenden spekulativen Physik«. 103 Diese Gedankenlinie kam durch den ›Timaios‹ überhaupt erst auf. Doch je mehr in den rasch aufeinanderfolgenden Entwürfen dieser frühe Impuls einem in sich differenzierten all-einen Absoluten Krings, a. a. O., S. 139. Vgl. dagegen treffend zu diesem Punkt: Bubner, Innovationen des Idealismus, a. a. O., S. 30 ff. 102 Dazu Krings, a. a. O., S. 144 ff., siehe auch W. Beierwaltes, Absolute Identität. Neuplatonische Implikationen in Schellings ›Bruno‹, in: Philosophisches Jahrbuch 80 (1973), S. 242 ff., sowie H. R. Schlette, Weltseele. Geschichte und Hermeneutik. Frankfurt/Main 1993, S. 182 ff. 103 Siehe im Blick auf das Verhältnis zu Boeckh und die Selbstkorrekturen Schellings auch Boeckh, Kleine Schriften. Band 3. Leipzig 1866, S. 249, FN 1; siehe auch die Ausführungen bei Krings, a. a. O., S. 149 f. und W. G. Jacobs, Zwischen Revolution und Orthodoxie? Schelling und seine Freunde im Stift und an der Universität Tübingen. Texte und Untersuchungen. Stuttgart 1989. 101

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wich, desto ausdrücklicher formuliert Schelling auch seine Distanz gegenüber dem platonischen ›Timaios‹. Er bestreitet später gar seine Echtheit, mit Argumenten, die ausschließlich aus der philosophischen Differenz geschöpft sind. Philologische Gründe ließen sich dafür, wie Schellings Auseinandersetzung mit August Boeckh zeigt, 104 nicht anbringen; und in seinem eigenen ›Bruno‹-Dialog nimmt Schelling im Zuge einer sachlichen Polemik gegen den ›Timaios‹ gar eine Konjektur wider besseres Wissen vor, wenn er die Chora als »hypokeimenon der Körperdinge« begreift. 105 Diese Position ist neuplatonische Tradition, sie findet sich im ›Timaios Lokros‹ (97e), doch, wie noch der junge Schelling so klarsichtig bemerkt hatte, keineswegs im platonischen ›Timaios‹. Umso bemerkenswerter ist es dann, dass Schelling in seiner in Würzburg entstandenen Freiheitsschrift (1809) tastend auf den ›Timaios‹ zurückkommt. Er scheint ihn nie ganz losgelassen zu haben. Platons Lehre von der Materie liege nach wie vor im Dunkeln, bemerkt Schelling dort, und solange dies der Fall sei, »ist ein bestimmtes Urtheil über den angegebenen Punkt [sc. also über die Materialität der Natur] unmöglich« (Schelling, Sämtliche Werke VII, S. 374). Es bleibt der historisch-philologischen Rekonstruktion unentscheidbar, ob in diesem Verweis auf das Dunkel ein Echo auf jene unumgängliche Dunkelheit mitzuhören ist, durch die Platon die naturphilosophischen Erwägungen des ›Timaios‹ ausgezeichnet sah. In der Sache entscheidender scheint es zu sein, dass mit Schellings identitätsphilosophischer Abkehr von den Fragen, die der ›Timaios‹ vorgibt, vor allem von einer eigenständigen spekulativen Naturphilosophie und einer philosophischen Erfassbarkeit der Natur, auch die Grundeinsicht vergessen zu werden droht, die er mit Hölderlin teilt: dass das ›Hen kai pan‹ ein Wegzeichen ist, das in eine verlorene Einheit führt, und dass der menschliche Geist, wenn er denn die Natur als Lebewesen denkt und sich im Verhältnis zu ihr und der göttlichen Vernunft zu verständigen versucht, immer beides erinnern muss – die Einheit und ihr unwiederbringliches Verlorensein. Dieser Gedanke kann nur bewahrt bleiben, wenn die Natur für sich gedacht wird und nicht einem all-einen Absoluten unterstellt wird, als »Natur in Gott« (Sämtliche Werke IV, S. 306 f.). 106 Vgl. dazu Krings, Genesis und Materie, a. a. O., S. 149 f., siehe auch Schelling, S VI, S. 36 f. 105 Vgl. auch zum Timaios Lokros: M. Baltes, Die Weltentstehung des platonischen Timaios nach den antiken Interpreten. Leiden 1976. 106 Vgl. zu den Einzelheiten auf dem seinerzeitigen Stand der Forschung: H. Seubert, 104

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Die aristotelische ›Physik‹ als anderer Schlüssel Das Spezifische der Naturlehre des ›Timaios‹ kann, nun vor einem antiken Spannungsbogen, auch zur Geltung gebracht werden, wenn sie auf die aristotelische ›Physik‹ bezogen wird. Dazu können hier nur einige knappe Überlegungen angestellt werden. Von ihrem wohl bis heute klarsichtigsten Interpreten Wolfgang Wieland ist die ›Physik‹ des Aristoteles treffend als eine »Reflexion auf das, was man bei aller Erfahrung der Natur und damit auch bei allem Reden über natürliche Dinge gewöhnlich schon undiskutiert vorausgesetzt hat«, verstanden worden. 107 Sie gibt Strukturbestimmungen einzelner seiender Dinge der natürlichen Welt, doch keineswegs eine ausgeführte Gesamtschau auf den Kosmos. Lediglich Ansätze zu einer Synopsis lassen sich nach Wieland namhaft machen. Es handelt sich um eine Orientierung der Vielheit von Prinzipien auf Einheit, bei der doch das Viele in seiner Geltung belassen bleibt. Wenn es Wielands Absicht war, Aristoteles’ ›Physik‹ von allen Überlagerungen und Verkürzungen der Tradition zu lösen und auf ihre Problemstellung hin neu zu interpretieren, so war er sich zugleich bewusst, dass damit auch das Platonbild berührt würde. Dies ist aus zwei Gründen unvermeidlich: Einerseits führt die Auseinandersetzung mit Platon in das Zentrum einiger zentraler aristotelischer Überlegungen, andererseits sind viele Platon-Lesarten der Überlieferung durch jene Akzentuierungen bedingt, die auf die aristotelische Platon-Auseinandersetzung, im letzten also auf Debatten innerhalb der Akademie zurückgehen. Man wird im Sinne einer Vorverständigung Wielands leitender These zustimmen wollen, dass allein das Unterfangen einer ›Physik‹ bei manchen Berührungen im Einzelnen 108 grundsätzlich in Widerstreit zur platonischen Philosophie geraten müsse. 109 Denn eine wirkliche Erkenntnis über die wechselnden sterblichen Dinge kann es nach Platon nicht geben. Dies deutet aber umgekehrt darauf hin, dass Vernunft und Ananke. Zu Schellings ›Timaios‹-Kommentar und seiner Bedeutung für Schellings Denkweg, in: E. Hahn (Hg.), Berliner Schelling-Studien, issue 1, 1999, S. 81 ff. 107 Dazu grundlegend: W. Wieland, Die aristotelische Physik. Untersuchungen über die Grundlegung der Naturwissenschaft und die sprachlichen Bedingungen der Prinzipienforschung bei Aristoteles. Göttingen 1970, S. 335 und S. 337. 108 Vgl. dazu auch W. Wieland, Das Problem der Prinzipienforschung und die aristotelische Physik, in: Kant-Studien 52 (1960/61), S. 206 ff. 109 Dazu Wieland, Die aristotelische Physik, a. a. O., S. 190.

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Aristoteles gerade in seiner ›Physik‹ eminent im eigenen Namen spricht. Dies hat weitgehende Folgen für die Architektur aristotelischen Denkens, denn die ›Metaphysik‹ beruht auf der ›Physik‹. Heidegger hat deshalb mit Recht bemerkt, die ›Physik‹ des Aristoteles sei ein Grundbuch europäischer Metaphysik. Ein näherer Blick auf den ›Timaios‹ bestätigt und modifiziert diese Auffassung. So zeigt der ›Timaios‹, dass vom Wesen der ›Physis‹ nur im Sinne des ›eikos logos‹ oder des ›eikos mythos‹ zu reden ist und dass der Physis die Notwendigkeit zugrunde liegt, die sich dem Ideendenken nie ganz erschließt. Darüber hinaus hat Platon die Natur nie um ihrer selbst willen untersucht: Auch der ›Timaios‹ verweist in einen politischen Zusammenhang und in eine Analogie mit der Idee des Guten. Nicht anders steht es mit dem Verhältnis von Natur und Seele im X. Buch der ›Nomoi‹. Allerdings wird man, gerade durch Wielands Interpretationen belehrt, den Bruch zwischen der Annahme einer Erkennbarkeit oder Nicht-Erkennbarkeit der natürlichen Dinge zwischen Platon und Aristoteles nicht überbetonen müssen. Auch Aristoteles hält sich im Umkreis des platonischen Wissens darum, dass eine Gesamtschau auf die Natur nicht gegeben werden kann, wenn er sich wesentlich mit dem Aufweis der Struktur von einzelnem naturhaftem Seienden begnügt. Versucht man den Unterschied zwischen platonischem und aristotelischem Ansatz der Frage nach der Physis auch in Sageweise und Denkart zu bezeichnen, so wird man erkennen, dass Aristoteles in seiner ›Physik‹ den Weg von der Betrachtung der Dinge, wie sie nach dem Zeugnis im ›Phaidon‹ die ionischen Naturphilosophen pflegten, zu den Logoi mitgeht, den Platon vorgezeichnet hat. Diese zweite Ausfahrt (deúteros plous) (Phaidon 99e) führt auf die Struktur des Sprachgebrauchs, insbesondere der Prädikationen. Der ›Kratylos‹ und der ›Theätet‹ lehren, dass die Prädikation keine Zuordnung von Wort (onoma) und Ding meint. Wenn die im ›Kratylos‹ verhandelte Streitfrage nach der Richtigkeit der Namen unentschieden bleibt, so verweist das auf die eigentliche Crux, dass nicht im Wort (onoma), sondern im Begriff (logos) über Wahrheit oder Unwahrheit zu entscheiden ist. 110 Der Logos aber ist Gespräch der Seele mit sich selbst Vgl. Wieland, a. a. O., siehe auch als klassischen Forschungsbeitrag I. Düring, Aristoteles. Darstellung und Interpretation seines Denkens, a. a. O., S. 591 ff.

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Der platonische Text und zwei philosophiehistorische Fußnoten zum ›Timaios‹

über das, was sie untersucht: »logon hon autè pròs hautèn he psychè dexérchetai perì hon an skopen« (Theätet 189e, Soph. 263e). Bei Aristoteles spezifiziert sich dieser Logosweg in die Methode einer Prüfung von Aussagestrukturen. Dabei stößt der Stagirit insbesondere auf das ›he‹, die Relation des »inwiefern – insofern«, die ihm die Unterscheidung zwischen Dingen und Eigenschaften an diesen Dingen angibt. Über ein und dasselbe Gemeinte können demgemäß Aussagen in verschiedenen Hinsichten getroffen werden. Aristoteles wendet gegen Platon ein, dass ihm, da er diese Differenzierung nicht treffe, immer wieder raumhafte Vergegenständlichungen des nur in Ideen zu Denkenden unterlaufen müssten. Das mag man mit Wieland bestätigt finden, wenn man auf einzelne der zentralen Begriffsbilder blickt, mit denen Platon Teilhabe und Trennung einsichtig zu machen sucht (méthexis, chorismos) oder mit denen noch im ›Sophistes‹ die seinshaften Verflechtungen umschrieben sind (symploké, mixis). Der Eindruck ist aber zu korrigieren, sobald man dem Gang eines platonischen Dialogs im Einzelnen folgt. Dann löst sich ein, was Platon unter dem Selbstgespräch der Seele mit sich eigentlich versteht. Dieses Gespräch manifestiert sich, wie zu zeigen war, immer wieder, gerade in den Tonwechseln des ›Timaios‹ : in jenem Dialog, der am Anfang Gespräch ist, der ›eikos mythos‹ bzw. ›eikos logos‹ wird, der aber auch ein kunstvoller Gesang ist, in dem die Geordnetheit des Kosmos zur Sprache kommen soll. Wenn die ›Physik‹ des Aristoteles, von einer Analyse der Sprachstrukturen getragen, zum Logos gelangt, so der ›Timaios‹ gleichsam durch einen ›Wechsel der Töne‹. Kann man die aristotelische Klärung der Sprachstrukturen so durchgängig bei Platon keinesfalls geleistet sehen, so geht mit dieser erhöhten analytischen Klärung doch umgekehrt auch ein Verlust der Vielstimmigkeit des Denkens einher – jener Polyphonie, in der man die verschiedenen Hinsichten auf Seiendes (die ›he‹-Struktur) kenntlich gemacht finden kann. Es ist daher mehr als eine inhaltliche Berührung, es ist ein aus dem anders gearteten eigenen Ansatz resultierendes Wissen um das Spezifikum der Frage nach der Natur, wenn auch Aristoteles eingesteht, dass »innerhalb der Natur streng genommen immer nur Wahrscheinlichkeitsaussagen möglich sind« (hos epì to polý) (Physik 196b 11). Aristoteles entfaltet diese Einsicht dann sprachanalytisch weiter. Der Zufall bleibt im Zusammenhang der Natur im Spiel. Es lässt sich daher »von keinem allgemeingültigen Satz vorhersagen, ob er im vorliegenden Einzelfall auch wirklich zutrifft. Man weiß immer nur, dass 583 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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er in den meisten Fällen zutrifft«. 111 Doch erfasst diese Eingrenzung auf das Wahrscheinliche nur die inhaltlichen Aussagen über die Natur. Die formale Aussage, dass es in der Natur Verursachungen und sie durchkreuzende Zufälle gebe, bleibt dagegen von strenger Allgemeingültigkeit. Mit dem Aufweis von Sprachstrukturen, der aus ihm zu gewinnenden Unterscheidung zwischen Sachverhalt (pragma) und seinen Hinsichten bzw. Eigenschaften und schließlich dem Phänomenbezug ist ein Schlüssel zu den eigenständigen Grundfragen der aristotelischen ›Physik‹ gefunden, die im ›Timaios‹ nicht einmal aufgeworfen werden. So weist Wieland darauf hin, dass Aristoteles’ Begriff des Kontinuums (syneches) dazu dient, die Kategorien Größe, Bewegung und Zeit nicht dinghaft, sondern als Grundstrukturen der anschaulichen Welt zu verstehen. Das Kontinuum soll diese Erfahrungsstrukturen daher noch ›durchgreifen‹ 112 und nicht mit ihnen in eine Reihe gerückt werden. Dem Kontinuum kommt weiterhin ein spezifisch ontologischer Status zu, der es mit Dingen nicht zu verwechseln erlaubt: Es ist nicht als Zusammensetzung von Elementen zu verstehen, sondern als unendliche Teilung. Wenn ein Kontinuum geteilt wird, entstehen wieder Kontinua. Sie sind es, die eine Bewegung erst fließend werden lassen (231b 10 f.). Damit ist nicht nur das Zenonische Paradoxon aufgelöst und die seinshafte Bedeutung von Kategorien einsichtig gemacht. Auch über die Unendlichkeit sind wichtige Aussagen getroffen. Aristoteles hält im platonischen Geist daran fest, dass die Struktur der Noesis Unendlichkeit sei (203b 24). Doch kann die so bestimmte Unendlichkeit nicht erfahren werden. Die Noesis nämlich kann nie »unabhängig von ihrer spezifischen Gegenstandsbeziehung« verstanden werden. 113 Erfahrbar ist das Unendliche, wenn sich das Denken auf Grundstrukturen der Wahrnehmung richtet, auf die Kontinuität eines spezifischen Gegenstandes in ihrer Teilbarkeit. Man kann erkennen, wie hier bei veränderter Methode eine Grunderfahrung der kosmogonischen Naturlehre aus dem ›Timaios‹ Wieland, ibid., S. 261. Ibid., S. 242. und S. 233. Vgl. dazu auch im Einzelnen die Bemerkungen in der kommentierten Ausgabe der aristotelischen ›Physik‹ von H. G. Zekl. Hamburg 1987 und 1988. 2 Bände. Vgl. auch ders., Topos. Die aristotelische Lehre vom Raum. Eine Interpretation von Physik, D 1–5. Hamburg 1990. Dazu auch die Vergleichsperspektiven bei R. Brague, Du temps chez Platon et Aristote. Quatre études, a. a. O. 113 So die Formulierung bei Wieland, a. a. O., S. 331. 111 112

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Der platonische Text und zwei philosophiehistorische Fußnoten zum ›Timaios‹

wiederkehrt, nämlich die gegenseitige Unzugänglichkeit von wahrnehmbarem Ding und Denken und die Nötigung, ein Mittleres zu exponieren. Wolfgang Wieland hat das zugrundeliegende Problem sehr treffend formuliert: »Die Kontinuität ist […] nicht ein schlichter Inhalt der Wahrnehmung, sondern eine Erfahrung, die das Denken an den Gegenständen der Wahrnehmung als solchen macht. Damit wird die Differenz zwischen Wahrnehmung und Denken nicht aufgehoben. Dadurch, daß sich die Noesis nicht auf Gegenstände ihres eigenen Bereichs, sondern auf die Grundformen der Wahrnehmungswelt richtet, werden diese noch nicht zu Denkinhalten.« 114

Dies geht mit der Klärung der sprachlichen Form von Grundstrukturen einher, die auch Aristoteles’ Begriff der Teleologie bestimmen. Wieland und ihm folgende Ansätze der Forschung haben gezeigt, dass Zweck (télos) und Worum-willen (hou heneka) nach Aristoteles keine universalen Prinzipien sind, sondern sich immer nur »auf einzelne Geschehenszusammenhänge innerhalb der Welt anwenden lassen«. 115 Das Telos ist ein analytisch gewonnener Begriff, der seine Kraft zunächst ex negativo, im Lichte einer Verständigung über den Zufall gewinnt. Wenn Aristoteles vom Zufall spricht, steht freilich nicht mehr, wie bei Platon, die Tyche als eine Macht am Grunde der Natur in Rede, sondern nur der alltägliche Sprachgebrauch. Es geht um die Frage, was wir voraussetzen müssen, wenn wir sagen, etwas sei aus Zufall geschehen. Aristoteles spricht davon, dass wir zur Annahme eines Telos greifen müssen, selbst wenn dies nur in der Form des ›als Ob‹ geschieht. Was ist das Ziel, das unterstellt werden muss, wenn angezeigt werden soll, was ihm nicht folgt? In einer solchen Formulierung macht sich, wenn auch nur in einem analytischen Sinn, die Unhintergehbarkeit von Teleologie namhaft: Aristoteles kann darauf hinweisen, dass der Zufall nicht eine sie durchkreuzende Gegenmacht ist. Allerdings wäre auch die aristotelische Lehre vom ›Telos‹ ohne das Gegenkonzept des Zufalls freischwebend und letztlich sinnlos. Der sprachanalytische und von daher phänomenologische Zugriff wird positiv in der Lehre von den vier Ursachen akzentuiert. Sie sind ausdrücklich als Topoi, also als ›Einteilungsgesichtspunkte‹ verstanden, die man beachten muss, wenn man die Warum-Frage (dia

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Wieland, a. a. O., S. 327. A. a. O., S. 328.

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ti) zu beantworten sucht. Auf sie ist das erste Buch der ›Physik‹ orientiert (vgl. 198a 14 ff. und 194b 19). Die Warum-Frage wird dort zur Frage nach den Prinzipien der Bewegung (archai) verdichtet. Eigens nach der Natur fragt dann erst das zweite Buch. Es richtet sich auf die Natur als Ursache, sprich: auf das Woraus der Dinge. Deshalb wird dieser Teil der Darlegungen durch die Unterscheidung eröffnet, dass die seienden Dinge (ton onton) »teils von Natur aus, teils aus anderen Ursachen existieren« (192b 8 f.). Das Auszeichnende der natürlichen Dinge (physei onta) soll sein, dass sie aus sich selbst bewegt sind. Wie eine genauere Lektüre der Aussagen zeigen kann, spricht Aristoteles allerdings nur davon, dass eine Bewegungsursache in den Naturdingen liegen müsse. Ihnen können sehr wohl von der Umwelt (periechon) Mitursachen (synaítiai) entgegenkommen. Selbst das Denken (noesis) wird nicht, wie es das Vorurteil will, als reine Selbstbewegung aufgefasst, sondern vielmehr als ein Zusammenhang von Tun und Erleiden (poiein und paschein). Dies kann gar nicht anders sein, da alles Denken, ebenso wie alle Wahrnehmung und alles Begehren, ›auf etwas‹ geht. Wie wir sahen, sind dieses Etwas im Falle des Denkens für Aristoteles die Gedanken. Dennoch denkt das Denken auch nicht am höchsten, göttlichen Punkt der Theoria, wie es das große Missverständnis von Hegels Aristoteles-Rezeption nahelegt, einfach sich selbst. Die ›noesis noéseos‹ (107 4b 34) verweist vielmehr auf eine Doppelnatur des Geistes. Er öffnet sich durch die Passivität der Wahrnehmung hindurch auf Wahrnehmungsstrukturen hin und gewinnt den Zusammenhang des Kontinuums. Die derart eingeschränkt verstandene Selbstbewegung ist bei Aristoteles auf das sich bewegende Seiende, die ›physei onta‹, ebenso bezogen wie auf die Vermögen der Seele. Dabei ist zu beachten, dass Aristoteles vom beseelten Wesen spricht, dass also nicht die Seele an sich selbst, sondern die Verbindung von Leib und Seele in Rede steht (412a 27 f.). Daraus resultiert eine doppelte Einschränkung gegenüber der Naturlehre Platons: Nicht die reine Selbstbewegung wird mehr gedacht, noch ist die Seele wesentlich vom göttlichen Nous her verstanden. Als Fluchtlinie dieser Einschränkungen kann man verstehen, dass Aristoteles dem »von selbst« und damit dem Physisbegriff jene abgründige Zweideutigkeit nimmt, die ihm bei Platon anhaftet. Für den Platon des ›Timaios‹ und des X. Buches der ›Nomoi‹ bezeichnet das »von selbst« die dunkel bleibende Grundkraft der Notwendigkeit. Sie wird, wie wir sahen, mit der ersten Natur zusammengedacht und 586 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

Der platonische Text und zwei philosophiehistorische Fußnoten zum ›Timaios‹

bedarf der an einem Urbild orientierten Überredung, eines Paradigmas jener Selbstbewegung, die einer kosmischen Ordnung folgt – und sich doch der blinden, vernunftlosen Notwendigkeit »einprägen« kann. Dieses grundlegende Paradigma ist das ordnungshafte und angemessene, von selbst bewegte Sein in der Seele: eine zweite Natur, die sich in der Orientierung auf das Urbild zu erkennen gibt. Die Entzogenheit dieses ›Paradigmas‹ wird wesentlich dadurch bewusst, dass, wie der ›Thrasymachos‹ und die ›Politeia‹ zeigen, die zweite Natur des Ethos der Frage nach dem Guten als ›gesetzt‹ verkannt werden kann. Dabei ist es aber doch immer das entzogene Urbild, nach dem das Abbild zu verstehen ist, nicht umgekehrt. Im Hinblick auf das Hergestellte lässt sich der Abgrund zwischen beiden positiv so formulieren, dass der Zusammenhang von Natur-Denken und der Frage nach dem Guten erkennbar wird: »Der Ursprung alles Künstlichen ist selbst nicht wieder etwas Künstliches, sondern existiert von Natur aus, ist aber andererseits insofern allen anderen natürlichen Dingen überlegen, als diese nicht die Fähigkeit des planenden Überlegens und Herstellens haben.« 116

Diese Verhältnisbestimmung zwischen aristotelischem und platonischem Naturdenken ist durch zwei weitere knappe Hinweise zu vertiefen: Zum einen spricht auch Aristoteles von unterschiedlichen Anfängen. Das erste Buch der ›Physik‹ schließt mit dem Hinweis, dass ein anderer Anfang gemacht werden müsse (192b4), der die Frage nach den »Prinzipien der Natur« durch die Untersuchung der »Natur als Ursache« ergänzt. Beide Fragen stehen komplementär zueinander. Jeweils für sich betrachtet sind sie gegensätzlicher Natur. Deshalb kann auch das zweite Buch der ›Physik‹ nicht einfach linear auf dem ersten aufbauen. Es ist gerade ein Spezifikum der aristotelischen Untersuchung des Natürlichen, einen Gegenstand in mehrfacher Hinsicht, also von verschiedenen Seiten ganz neu zu betrachten. Beide Hinsichten bleiben unverbunden nebeneinander stehen. In diesem Wissen um die Vieldeutigkeit des Seienden wird man einen Widerhall der Zweideutigkeit der Natur erahnen können. Doch ist Aristoteles’ Konzentration auf das einzelne Phänomen davor geschützt, sich

Vgl. Zu einer phänomenologischen Auslotung der Hintergrundprobleme auch E. Fink, Zur ontologischen Frühgeschichte von Raum, Zeit, Bewegung. Den Haag 1957.

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aus anderen als analytischen Gründen zu einem zweiten Anfang genötigt zu sehen. Der erste Anfang bricht deshalb auch nicht ab, um im Lichte des zweiten Anfangs verwandelt wiederaufgenommen zu werden, so wie dies im ›Timaios‹ der Fall ist. Dort nämlich stehen beide ›Archai‹ keineswegs unverbunden nebeneinander. Sie sind ineinander verflochten, nicht in analytischer Hinsicht, sondern in Rücksicht auf eine unbewältigte Notwendigkeit, die dem Nous angeglichen werden soll. Zum anderen hat Wolfgang Wieland darauf hingewiesen, dass »der Verflechtung von Seele und Idee bei Platon […] bei Aristoteles die Verflechtung von Seele und den Fundamentalkategorien der natürlichen Welt« entspreche. 117 Dies lässt sich besonders gut im Blick auf die Temporalitätsstrukturen verdeutlichen. Zeit ist für Aristoteles ein Erfahrungsbegriff, der freilich erst durch eine Handlung zustande kommt, nämlich durch Zählung in der Seele. »Das Einheitsmaß der Zeit ist nicht das Jetzt, sondern ein zwischen zwei Jetzten erstreckter Bewegungsabschnitt.« 118 Dies ist der Fall, weil die Jetztpunkte zusammenhanglos nebeneinander stehen. Da er um diese Teilwahrheit des Zenonischen Paradoxons weiß, nimmt Aristoteles die Metapher vom »Fluss der Zeit« nicht auf. Um Bewegung zu zählen, muss eine andere Bewegung, die das Bewegungsmaß liefert, angenommen und die durchlaufene Bewegung auf ihr abgetragen werden. Dadurch, dass die Seele Ort des Zählens ist, ist sie von Aristoteles als Mittleres namhaft gemacht – ausschließlich operational freilich und ohne dass im Hintergrund auf die Weltseele verwiesen werden würde. 119 Sie spielt als Paradeigma keine Rolle. Ebenso wenig ist die Zeit als endliche Verbildlichung ihres eigenen Urbildes, der Ewigkeit, exponiert. Sie ist aber ein Mittleres dadurch, dass sich Denken und Wahrnehmen und die Kontinuität der Bewegung mit der Diskontinuität der Jetzt-Punkte in ihr begegnen. Wielands zitierter Hinweis gibt also einerseits die Entsprechung zu verstehen, dass bei Platon wie bei

So zutreffend W. Wieland, a. a. O., S. 147. Vgl. demgegenüber auch die Thesen von H. Weiß, Kausalität und Zufall in der Philosophie des Aristoteles. Basel 1942. 118 Wieland, a. a. O., S. 142. Siehe dazu auch großflächig R. Sorabji, Matter, Space, and Motion, a. a. O., S. 200 ff. 119 Vgl. dazu großflächiger M. von Perger, Die Allseele in Platons Timaios, a. a. O. Siehe auch S. Sambursky, Das physikalische Weltbild der Antike. Zürich, Stuttgart 1965. 117

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Der platonische Text und zwei philosophiehistorische Fußnoten zum ›Timaios‹

Aristoteles die Sache, um die es geht und die das Denken trägt, in der Seele ihren Ort hat. Andererseits wird die fundamentale Differenz exponiert, ob die Seele als Inbegriff des Abbildes im Verhältnis zu dem göttlichen Urbild zur Sprache kommt oder sich erst an den Handlungen ausweist, die sie ausführt, damit Zeit als Erfahrungsbegriff konstituiert werden kann. Der Gedankengang hat, ausgehend von zentralen Topoi der aristotelischen Naturphilosophie und des platonischen ›Timaios‹, deren unterschiedliche Ansätze zu verdeutlichen gesucht. Damit sollte aus einem synkritischen Blick das Spezifikum des ›Timaios‹ hervorgehoben werden. Er erscheint in der Konfrontierung mit Aristoteles klarer als zuvor als mehrstimmiger, in sich dialogischer Versuch, in den Kosmos als Ganzes hinauszudenken. Dies geschieht, indem seine Phänomene von ihrer Genesis her erhellt werden, und dieser Weg führt notwendig auf die abgründige und zwiespältige Frage nach dem Wesen der Physis. Über dem verschwimmenden Grund der Notwendigkeit ist der ›Timaios‹ von einer mehrfachen Doppelnatur durchzogen, von der sich bei Aristoteles nichts mehr finden lässt: Er ist ›eikos logos‹ und Manifestation strenger geometrisch stereometrischer Wissenschaft, er ist Mythos im Zeichen des Götteranrufs und ›ernstes Spiel‹ zwischen blinder Notwendigkeit und göttlichem Nous. Allerdings hat sich auch gezeigt, dass die Erwägung von Wieland, von der wir ausgegangen waren und wonach manchen Entsprechungen im Einzelnen im Ansatz der ›Physik‹ eine grundsätzliche Differenz zugeordnet ist, durch eine von der klassischen deutschen Philosophie bis zu Gadamer immer wieder begegnende Auffassung zu ergänzen ist, wonach bei Platon und Aristoteles letztlich »das Selbe« verhandelt werde. Beide Erkenntnisse gehören zusammen. Die letztgenannte Identitätsthese hat im aristotelischen Denken sehr präzise zu bestimmende Orte. In den Bereich jener Identitätsthese gehört das Wissen, dass sich die Sache nur in den Logoi mitteilt, dass es also unsinnig wäre, an den Logoi vorbei zu der Sache vorstoßen zu wollen, 120 weiterhin gehört in diesen Zusammenhang die Einsicht, dass die Sache in und durch die Seele zu erkennen ist. Denn die Seele ist »in gewisser Weise die Dinge, mit denen sie zu tun hat« (vgl. Physik

Vgl. im Hintergrund auch J. Stenzel, Zahl und Gestalt bei Platon und Aristoteles. Leipzig 1924, S. 14 ff.

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431b 21, 1072b 21). 121 Und dazu gehört nicht zuletzt, dass bei Aristoteles und bei Platon dem Naturdenken ein zentrales Gewicht zukommt, sodass es, wenn auch in ganz unterschiedlicher Weise, vom innersten Kern der Ideendialektik bzw. der innersten Sphäre der Metaphysik nicht zu trennen ist. Hier wie dort verbindet sich damit indes die Einsicht, dass es eine umfassende Erkenntnis der Natur gar nicht geben kann.

III. Der ›Philebos‹ als Praktik gelingenden Lebens Gadamer hat zu Recht darauf hingewiesen, dass der ›Philebos‹ dem ›Timaios‹ am nächsten stehe, 122 denn auch in ihm geht es um die Einprägung des Urbildes in ein Abbild – um das Gute im menschlichen Leben, das nur ein aus Vernunft und Begierde gemischtes Leben sein kann. Dennoch sind die Unterschiede ebenso bemerkenswert: Anders als im ›Timaios‹, wird im ›Philebos‹ eine Lehre von großen Gattungen ausdrücklich exponiert, in einem mehrfachen Sinn und in unterschiedlichen Komplexitätsgraden. 123 Er setzt die Ideen ausdrücklich voraus. Seine methodische Differenziertheit hat allerdings auch dazu geführt, dass immer wieder nach seiner Einheit gefragt wurde. Für die Frage nach dem Guten im menschlichen Leben wird im ›Philebos‹ eine ähnliche Verfasstheit aufgewiesen wie für die Frage nach der Ordnung des Kosmos durch die vorgeordnete Notwendigkeit im ›Timaios‹. Hier wie dort geht es um Mischungsverhältnisse, in denen sich die Einprägung der Ordnung in ein nicht-bestimmtes und ungeordnetes Sein zeigt. Zugleich kann das Gute im menschlichen Leben nur aus begrenzten und vorbestimmten Möglichkeiten zur Geltung gebracht werden, nicht anders als der vom Demiurgen geschaffene Kosmos im ›Timaios‹. Dieser Anforderung trägt die Grundbestimmung Rechnung, dass das gute Leben nur ein Leben sein kann, das aus Lust (hedoné) und Einsicht (phronesis) gemischt ist. 124 Siehe hier die treffenden großflächigen Hinweise bei Gadamer, Der Anfang der Philosophie. Stuttgart 1996, S. 45 ff. u. ö. 122 Dazu H.-G. Gadamer, Platos dialektische Ethik, in: ders., Greichische Philosophie Band I, a. a. O., hier S. 78. 123 Ibid. 124 Ibid., S. 84. Heute ist im Hintergrund auch zu vergleichen G. Löhr, Das Problem des Einen und Vielen in Platons Philebos. Göttingen 1990. 121

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Der ›Philebos‹ als Praktik gelingenden Lebens

Mischung – vordialektisch Die Mischungsverhältnisse führen im ›Philebos‹ auf die dialektische Frage nach dem Verhältnis von Einem und Vielem. Protarchos, der die Verteidigung der Rede des ermüdeten Philebos übernimmt, muss der Lust ein Vermögen zur Einheit zusprechen. Philebos selbst hatte nämlich die Lust mit dem Guten selbst gleichgesetzt. Sie muss zumindest eine Einheit aufweisen. Anders könnte sich die Seele nicht ausformen. Doch dies tue sie – auf andere Art, doch strukturell der Weise vergleichbar, in der die Einsicht dies vermag. Auch könnte die Lust dann nicht als ein zusammenhängendes Phänomen und als Gut befunden werden. Und eben dies ist erforderlich, wenn sie mit der Einsicht in ein Mischungsverhältnis treten soll. Protarchos entledigt sich seiner Aufgabe durch einen Gewaltstreich, indem er die Lust als Gattung erklärt, unter die die Vielheit der Erscheinungen falle. Die Gattungszuschreibung bleibt auf der Ebene einer Nominaldefinition, im Sinn der Warnung aus dem ›Kratylos‹, dass die Zuordnung von Name und Sache das Gemeinte gar nicht treffen kann, da es sich erst im Zusammenhang eines Logos erschließt (435d). Erst im Zusammenhang des Logos kann die Position des Sokrates gehört werden, dass »generische Einheit […] sachhaltige Unterschiede« nicht ausschließt. 125 Sokrates knüpft an diese Einsicht im ›Philebos‹ an: »Wir sagen doch, dass Eines und Vieles unter der Rede dasselbe werdend überall herumlaufe, wo nur etwas geredet wird« (15d). Die Verknüpfungen innerhalb des Logos ermöglichen auszusagen, dass Eines zugleich Vieles sein kann – denn offensichtlich ist der Einwand des Protarchos nicht zwingend, Eines und Vieles könnten an den vergehenden Erscheinungen aufgewiesen und selbst wie seiende Dinge behandelt werden (14d). Vielmehr geht es um die aussagbare »Einheit als Selbigkeit des Seins von vielem Seienden« (ibid.). Die Feststellung der Gattung kann daher, ähnlich wie im VII. Brief, nur ein erster Schritt sein. 126 Die Gattung ihrerseits bleibt auf die unter sie fallenden Verschiedenheiten und deren Einheitssinn hin zu befragen. Dabei unterscheidet sich der Aufriss im ›Philebos‹ erkennbar Vgl. dazu u. a. zur Stelle J. C. B. Gosling, Platon. Philebus, hg. und kommentiert. Oxford 1975 und ders., Metaphysik oder Methodologie: Philebos, in: Kobusch, Mojsisch (Hg.), Platon, a. a. O., S. 213 ff. 126 Siehe auch K. M. Sayre, Plato’s Late Ontology. Princeton 1983, S. 59 ff. 125

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von den platonischen Spätdialogen, vor allem dem ›Parmenides‹. Die Frage im ›Philebos‹ zielt nicht, wie in der Dialektik des ›Parmenides‹, auf die Aporie, die Eines als Vieles erweist, sei es in seiner Beziehung auf Anderes – sodass, wie der ›Parmenides‹ namhaft macht, sogar entgegengesetzte Bestimmungen von einem und demselben Seienden ausgesagt werden können –, sei es, dass das ausgesagte Eine sich in sich als Vieles erweist, was umgekehrt in sich schließt, dass jedes der Glieder selbst das Eine ist. 127 Diesen letzten Schritt der Aufhebung aller Hypothesen geht der ›Philebos‹-Dialog gerade nicht. Seine Fragerichtung ist begrenzter. Es geht darum, dass die Mischung zwischen Phänomenvielfalt und Gattungsselbigkeit genau bestimmt wird; auf anderem Wege nämlich würde der Logos die nicht-logoshaft verfassten, seienden Dingen nicht treffen können. 128 Deshalb hat der ›Philebos‹ beides im Blick: die Bewahrung der phänomenalen Vielheit und ihre Einheit und Selbigkeit. Das Verhältnis von Einem und Vielem, das sich durch den Logos erschließt, wird als »theon mèn eis anthrópous dósis«, als »göttliches Geschenk an die Menschen« benannt (16c). Es sei eine zweite und bessere Schenkung des prometheischen Feuers. Damit ist die Untersuchung unter die Maßgabe der Götter gestellt und der philosophischen Debatte zugleich eine Grenze gesetzt. Protarchos und Philebos können dies zunächst weder erkennen noch anerkennen. Dies macht Sokrates ironisierend dadurch deutlich, dass er, an einer Stelle, an der die Anrufung der Göttin Aphrodite naheläge, bemerkt: »Das wollen wir versuchen, und zwar von der Göttin selbst anfangend, welche zwar Aphrodite genannt wird, wie dieser behauptet, ihr eigentlichster Name aber sei Lust« (12b). Protarchos willigt in dieses Verfahren ein. Doch Sokrates gibt ihm, im Sinn des ›Euthyphron‹-Dialogs zu verstehen, dass der Philosoph über die Natur der Götternamen kein Wissen haben könne. Sie geht seinem Denken voraus. An den Götternamen stößt er auf ein vorgängiges Gesetz. Dies muss er anerkennen und sich den Phänomenen und Indizien zuwenden. Dieser Gedanke lässt sich im Blick auf den Prometheus-Namen vertiefen: »PrometSiehe zu diesem Merismos-Problem, das eben nicht in Verhältnissen von einzelnen diskreten Dingen zu erfassen ist, auch Gosling, Metaphysik oder Methodologie, a. a. O. Siehe dazu auch die eigenständigen Überlegungen bei Schelling, Timaeus, a. a. O., S. 23 ff. 128 Eine Brücke zu den Spätdialogen zeigt sich freilich durchaus. Ansätze bei Sayre, Plato’s Late Ontology, a. a. O., S. 59 ff. 127

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Der ›Philebos‹ als Praktik gelingenden Lebens

hei« heißt das jede ›techné‹ anleitende vorgängige Wissen (vgl. auch Gorgias 501b), als das wir das Verhältnis von Einem und Vielem zu verstehen haben. 129 Die Grenze verweist jedoch zugleich auf eine Nachbarschaft zwischen der Philosophie und der Sphäre des Göttlichen. Deshalb nimmt die Argumentation von einem von den Alten überlieferten Mythos ihren Ausgang: »aus Einem und Vielem sei alles, wovon jedesmal gesagt wird, dass es ist, und habe Bestimmung und Unbestimmtheit (péras kai apeirían) in sich verbunden« (16d). Die Verhältnisbestimmung von Einheit und Vielheit erscheint zunächst als die Maxime, dass zu bestimmen sei, wieviel Eines das Viele sei. In diesem arithmetischen Grundverhältnis ist bereits der doppelte Weg vorgezeichnet, der für die Dialektik im ›Philebos‹ kennzeichnend sein wird: Diese Dialektik ist einerseits Gang nach dem Einen und andererseits Rückgang auf das Viele, um auch in ihm die Gegenwärtigkeit des Einheitssinnes zu erkennen. Sie hat aber selbst eine dienende Funktion, soll sie doch die innere Logik und den Grund der Mischungen anzeigen. Hier ist ein indirekter Anklang an den Zusammenhang von ›Dihairesis‹ und ›Synagoge‹, die beiden Vollzüge der Dialektik, zu erkennen, obgleich diese Begriffe selbst in dem Passus nicht fallen. Vielmehr wird die Argumentation durch die Verhältnisbestimmung von »apeiron« (Unbegrenztheit) und »peras« (Grenze) bestimmt. Begrenzungen werden gewonnen, wenn nach dem richtigen Maß Eines und Vieles aufeinander bezogen werden. »Die jetzigen Weisen unter den Menschen hingegen setzen Eines, wie sie es eben treffen, und Vieles schneller oder langsamer als es sich gehörte, nach dem Einen aber gleich Unendliches; das in der Mitte hingegen entgeht ihnen« (17a). An diesen Aufriss des Verhältnisses von Einheit und Vielheit schließt sich eine Verdeutlichung durch das Beispielsfeld von sprachlichem Laut und dem Ton an, der ihn materialisiert und übermittelt. Man wird, wie es erstmals Julius Stenzel getan hat, 130 aus dieser Passage entnehmen können, dass der Zahl eine zentrale Bedeutung bei dem Versuch zukommt, bestimmte Zwischenwerte zwischen dem Einen und dem Unbegrenzten, Vielen zu finden, also die Mitte zu gewinnen. Dennoch verfällt Sokrates in diesem Exkurs keinesfalls in den Traum der Mathematiker, der in der ›Politeia‹ charakterisiert Siehe dazu Gadamer, Platos dialektische Ethik, a. a. O., S. 108 f. Ferner R. Ferber, Platos Idee des Guten. St. Augustin 21989. 130 Stenzel, Zahl und Gestalt bei Platon und Aristoteles, a. a. O., S. 22 ff. 129

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ist: 131 Auch im ›Philebos‹ ist erkennbar, dass die Mathematik das Wesen und Sosein der Dinge nicht treffen kann. Diese Auffassung wurde dem Dialog allerdings, etwa von Paul Natorp, fälschlicherweise zugeschrieben. 132 Er bedient sich der Zahl nur als eines Mittels zur Bestimmung des Übergangs zwischen Einem und Vielem. Dieses Mittel kann keineswegs in allen Bereichen gleichermaßen angewandt werden; zwar lassen sich musikalische Intervalle in arithmetischen Verhältnissen ausdrücken – bei dem anderen Beispiel, den Buchstaben, ist die Anwendung von Zahlen aber nicht möglich. Das Prinzip einer Bestimmung des Vielen wird hier vielmehr in einem Modell eingelöst, das der Dialektik näher kommt: dadurch, dass im Zusammenspiel von Trennung (dihairesis) und Verbindung (synagoge) die Vielheit der Laute zu Einheiten zusammentritt. Nur dialektisch lässt sich überhaupt zeigen, dass die Schrift zur Repräsentation der Lautvielfalt geeignet ist. Die Schrift leistet ja weder eine mimetische, maßstabsgenaue Abbildung der vielen Sprachlaute, noch unterwirft sie diese einem Zeichen, das nichts mehr von der Vielheit erkennen lässt. Es geht ausschließlich um eine wohlproportionierte, wenn auch in Zahlen nicht ausdrückbare gattungs- und arthafte Verhältnisbestimmung. Erkennt man, dass die Verhältnisbestimmung von Einheit und Vielheit auf das Problem der Mischungsverhältnisse führt, so wird man die Differenz zwischen der Erörterung der Zahl und der Buchstabenschrift nicht als Hinweis auf den unzusammenhängenden Charakter der Argumentation des ›Philebos‹ zurückführen, wie dies die jüngere angelsächsische Forschung immer wieder tat. Man wird eher von einer durchgehaltenen Frage sprechen können, die in unterschiedliche phänomenale Hinsichten aufgefächert wird. Dies bedeutet, dass man nicht, wie eine andere Tendenz der angelsächsischen Exegese, genötigt ist, die Einheit dadurch herzustellen, dass man auf die »ungeschriebene Lehre« des späten Platon zurückgreift. 133 Es gehe, so merkt zum Beispiel K. Sayre an, in Philebos 16c 1 ff., der Umschreibung der Göttergabe, und in den Beispielen von Philebos 17a 1 ff. um das Begreifen von Form- und Strukturverhältnissen und Ibid. Vgl. Natorp, Die platonische Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus. Hamburg 1994, EA 1921. Solche Verzeichnungen rühren auch aus den transzendentalphilosophischen Anachronismen in Natorps Deutung. Siehe auch den Philebos-Kommentar von D. Frede, Göttingen 1997. Reihe: Platon, Dialoge. Übersetzung und Kommentar. Vol. III. 2. 133 Vgl. dazu G. Reale, Zu einer neuen Interpretation Platons, a. a. O., S. 255 ff. 131 132

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Der ›Philebos‹ als Praktik gelingenden Lebens

ihrer Einprägung in die Materie. Dies ist durchaus zutreffend. Sayre fährt aber fort, diese Formen würden durch mathematische Zahlenverhältnisse um die Pole von Eins und unbestimmter Zweiheit (das Unbegrenzte) konstituiert, die materiellen Dinge dagegen »durch die Einprägung der Form in das Unbegrenzte«. 134 Entscheidendes wird in dieser Erläuterung übersehen. Es geht im ›Philebos‹, anders als im ›Timaios‹, nicht in erster Linie um Fragen der Genesis, sondern um die Erschließung von Vielheit und Einheit im Logos. Deshalb führt Sayres Versuch in die Irre, zu bestimmen, ob im ›Philebos‹ ›methodologisch‹ oder aber ›ontologisch‹ argumentiert werde. Dies ist keine sinnvolle Unterscheidung; im Logos wird nämlich eine Methode angezeigt, die die Sache begreifbar machen soll. Zudem wird im ›Philebos‹, ganz anders als in den Testimonien der »ungeschriebenen Lehre«, von den Zwischenwerten her und nicht von den Prinzipien der Eins und Zwei aus argumentiert. Dies ist aus gutem Grund so, denn es steht von Anfang an die Frage der Mischung im Blick. Die Passage 17a–18e gehört eng zusammen. Sie gehört allerdings, anders als Goslings Kommentare nahelegen, 135 nicht in den Zusammenhang der Dialektik, sondern führt an deren Grenze und hält sich zugleich in einem Vorhof der Dialektik, der mathematischen Veranschaulichung, auf. Doch Sokrates’ Dialogpartner Protarchos ist bereits durch dieses Verfahren überfordert. Wie viel mehr wäre er es durch eine dialektische Argumentation! Um dem Verständnisvermögen des Protarchos Rechnung zu tragen, der das Bild von der zweitbesten Fahrt (deuteros plous) (vgl. Phaidon 99d) naiv aufnimmt und dafürhält, dass die im Streit stehende Frage des Verhältnisses von Einheit und Vielheit vielleicht ohne den peinvollen Umweg der Dialektik entschieden werden könne, geht Sokrates auf sein Ansinnen ein. Deshalb scheint dann (Philebos 20c) eine neue Gedankenrichtung eingeschlagen zu werden, mit dem Ziel, die dialektische Methode zu umschiffen. Gadamer hat zutreffend darauf hingewiesen, dass auch in anderen platonischen Dialogen auf den strengen Beweisweg verzichtet wird um des Gesprächsganges Sayre, Plato’s Late Ontology, a. a. O., S. 59 ff. Gosling, Metaphysik oder Methodologie, a. a. O., S. 220 f. Gosling kritisiert, dass situationsinvariante dialektische Nachweise im Sinn des ›atomon eidos‹ ausbleiben, und meint darin eine konstitutive Schwäche des ›Philebos‹ erkennen zu können. Hier scheint es mir viel sinnvoller, den andersgerichteten Charakter dieses Dialogs zu beachten.

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und der am Gespräch Beteiligten willen (vgl. u. a. ›Menon‹ 100b und ›Politeia‹ 435d). 136 Protarchos bedarf dieser Mäßigung der Ansprüche dringend: Er fühlt sich durch die Einweisung ins dialektische Denken in die Enge (eis aporían) getrieben. Die Methode, auf die ihn Sokrates gerade erst hingewiesen hat, erscheint ihm wie ein quälender Kreisgang. Indes darf man sich durch den Eindruck einer Richtungsänderung nicht täuschen lassen; es ist gerade ein Spezifikum im ›Philebos‹, dass jener Weg, der vermeintlich von der Dialektik wegführt, auf sie zurückzukommen nötigt. Dies deutet sich schon an, als Sokrates seine Lehre von den vier Gattungen entfaltet (23e), 137 und es wird unübersehbar, als er sich dem Zielpunkt der Erörterung, der Frage nach der Entstehung von Lust und Unlust nähert (31b). Im selbständigen, vorausgehenden Passus (20b–23c) tritt die dialektische Exposition ganz in den Hintergrund; dadurch kann das Mischungsphänomen, das sie zu bedenken sucht, besser umrissen werden. Es wird deutlich, dass im Phänomenbezug dialektische Verfahrensweisen in Anspruch genommen werden müssen, auch wenn explizit gar nicht von Dialektik die Rede ist. Dies ist die Kehrseite der Rettung der Phänomene gegen den definitorischen Gewaltstreich des wenig philosophischen Protarchos zu Beginn des Dialogs. Die dialektische Frage, welche Begriffe sich wie verbinden lassen, bleibt allerdings in Geltung. In der Sache vollzieht sich in dem vordergründig nicht dialektischen Passus 20b–23b die entscheidende innere Wendung des Gesprächs. Von hier aus wird erst klar, was es heißt, die Frage nach dem Guten im menschlichen Leben zu stellen. Das Gute ist, wie auch Protarchos eingestehen muss, hinreichend (hikanos). Das bedeutet: Es ist das vollkommene Seiende (20d), das sich selbst genügt und keiner Ergänzung bedarf. Da es derart Eines ist, kann es nicht mit einem einzelnen Vermögen oder Gut gleichgesetzt werden. Dass das Gute auch über das Sein »an Würde und Kraft« hinausgeht (Pol. 509b), die Anzeige dieser »daimonia hyerbolé« (Pol. 509c), wird allerdings im ›Philebos‹ vermieden. Dieser grundlegende Sachverhalt kann Protarchos allerdings nur Vgl. Gadamer, Platos dialektische Ethik, passim. Siehe auch M. van Ackeren, Das Wissen vom Guten. Bedeutung und Kontinuität des Tugendwissens in den Dialogen Platons. Amsterdam, Philadelphia 2003. 137 Gadamer, Platos dialektische Ethik, pass. Siehe auch ders., ›Platos dialektische Ethik‹ – beim Wort genommen, in: ders., Griechische Philosophie Band III, a. a. O., S. 121 ff. 136

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in der kleineren Münze der Phänomenbesinnung nahegebracht werden. Der These des Philebos entsprechend, muss er behaupten, dass es Vollkommenheit bedeute, aus der Lust (hedoné) zu leben. Diese Vollkommenheit wird sich allerdings in unterschiedlichen Steigerungsgraden zeigen (21b). Widerspricht dies nicht dem Begriff des Vollkommenen, das doch ›hikanos‹, schlechterdings genug, sein soll? Es kommt nun auf den folgenden Gedankenzug an: Im ›Philebos‹ wird keineswegs die Unterscheidung verschiedener Bedeutungen von ›gut‹ exponiert, von der aus eine Unterscheidung zwischen Lust und Erkenntnis getroffen werden könnte. Ausschließlich die Wesensbestimmung des Guten, Vollkommenheit zu sein, wird betrachtet. Sokrates gibt dem Protarchos deshalb zu bedenken, dass er ohne Erinnerung, richtige Meinung oder Zukunftserwartung (elpis), alles Arten der Einsicht, sich der empfundenen Lust überhaupt nicht bewusst werden könnte. Weder wüsste er, was ihm gegenüber anderen Lebensformen an Lustgewinn zuteil wird, noch könnte er sich bereits genossener Lustzustände entsinnen und sie mit anderen vergleichen (21c). Die immerhin mögliche Verteidigung, dass sich die Lust gerade in ihrer Augenblickshaftigkeit zeige und schon nicht mehr wirklich sei, wenn man sich ihrer erinnere, führt Protarchos nicht ins Feld. Er ist nicht überzeugt, er ist durch die Gegenrede überwältigt, sieht er sich doch durch Sokrates zum Verstummen (eis aphasían) gebracht (21d). Die methodische Maxime, die dem Untersuchungsgang vorausgeschickt wurde – dass Einsicht (phronesis) und Lust (hedoné) getrennt voneinander zu betrachten seien (20e) –, muss um einer angemessenen Erfassung der grundlegenden Phänomene willen also zurückgenommen werden. Wie sich zeigt, ist wahre Lust ohne Momente der Erkenntnis nicht möglich. Es liegt in der Konsequenz dieser Verständigung und ist überdies auch im Blick auf die Exposition der ›entos praxis‹ in der ›Politeia‹ nur stimmig, dass auch die gegenläufige Hypothese vorausgesetzt wird: ein Leben allein aus Einsicht sei ebenso einseitig und nicht gut (21e). 138 Der Gedanke, der den ›Timaios‹ durchgehend bestimmt hatte, geht untergründig, aber unüberhörbar auch in eine Passage des ›Philebos‹ ein: eben das Grundverhältnis von Urbild und Abbild. Der philosophisch noch ungeübte Protarchos hat eingesehen, dass nur eine aus Einsicht und Lust gemischte Lebensform gut genannt werden Vgl. im Blick auf die platonische Frage, wie man leben soll: T. Irwin, Plato’s Moral Theory. The Early and Middle Dialogues. Oxford 1977.

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könne (22a). Doch ihm springt der Urheber des Logos, der ermüdete Philebos, zur Seite, dem es eigentlich ziemte, jetzt zu schweigen (12c). 139 Er gibt Sokrates zu bedenken, dass weder die Vernunft (nous) noch die Lust im bisherigen Meinungsstreit den Preis davongetragen habe (22c). Sokrates erwidert ihm mit der Unterscheidung zwischen dem je eigenen, menschlich endlichen Nous, für den zutreffe, was Philebos gesagt habe, und der göttlichen Vernunft: »mit ihr wird es sich wohl ganz anders verhalten« (all’allos echein) (22c). Diese Stelle wird dadurch noch weitergehend akzentuiert, dass Sokrates unmittelbar zuvor ironisch von »des Philebos Göttin Hedoné« spricht. Alles, was bislang sowohl in der dialektischen wie in der phänomenhaften Überlegung entwickelt worden war, zeigt, dass kein irgend geartetes Gutes mit dem eidetisch Guten selbst gleichgesetzt werden darf, auch nicht die Götter. Wenn Sokrates die Differenz zwischen dem uns je eigenen endlichen Nous und dem göttlichen Nous anzeigt, verweist er also noch einmal auf das Gute. Nicht die einzelnen Götter mit ihren wechselnden Namen, sondern das Göttliche als Inbegriff des Noetischen und des Guten setzt nun die Grenze. 140 Das führt aber zu der den Dialog weiterhin tragenden Einsicht, dass jene Lebensform, der der erste Preis am ehesten gebührte – das durchmischte Leben –, auf den göttlichen Nous verweist, der auf das Gute selbst bezogen ist und über den Parteiungen des Agon steht. Diesen Zusammenhang von Urbild und Abbild zu erkennen ist die höchste Aufgabe der endlichen Vernunft. Sie konkretisiert sich auf die Findung des Guten im menschlichen Leben.

Wiederaufnahme der Dialektik – in zweierlei Gestalt Wenn man sich der Exposition der vier Gattungen (apeiron – peras – das Dritte aus beiden Gemischte und die Ursache der Mischung) zuwendet, hat man zuerst zwei Aussagen zu bedenken, die für alles Folgende leitend sind und die wir bislang bewusst ausgelassen haben. Zum ersten wird schon an einer frühen Stelle der Bestimmung des Verhältnisses von Einem und Vielem, noch ehe dieses als Gabe der Vgl. Gadamer, Platos dialektische Ethik, pass. Siehe auch Löhr, Das Problem des Einen und Vielen, pass. 140 Dies korrespondiert mit der Kritik an den Göttern und der herkömmlichen Dichtung im II. und III. Buch der ›Politeia‹. 139

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Götter an die Menschen ausgewiesen wurde, eine doppelte Frage entfaltet (vgl. 15b): Zunächst geht es darum, ob das Einssein im Vielen als wirklich seiend zu denken ist; sodann darum, wie sich dieses Einssein im Werden und Vergehen durchhält und wie es sich in der Zeit erkennen lässt. Eine dritte eigenständige Frage anzunehmen, wie dies Wortlaut und Grammatik der Stelle nahelegen könnten, ist in der Auslegungsgeschichte nicht überzeugend gelungen. 141 Die zuletzt genannte Linie wird, wie wir bereits sahen, im ›Philebos‹ nicht weiterverfolgt. Es ist das große Thema der aporetischen Spätdialoge. In nuce aber bietet unser Passus einen Durchblick durch jenes dialektische Vorgehen, das entfaltet wird, sobald die Dialektik als Formbestimmung im Blick auf die Entstehung von Lust und Unlust zur Anwendung kommt. Dabei deutet sich bereits an, dass Zerrissenheit und Einssein nicht auf einfache Weise dem Begrenzten und dem Unbegrenzten zuzuordnen sind; vielmehr sind beide, Begrenztes und Unbegrenztes, in sich selbst zugleich Eines und zerrissen, wenn auch in unterschiedlicher Weise. Am Ende der phänomenhaften Erwägung über Lust und Einsicht wird bemerkt, dass in keinem von beiden das Gute selbst sei (22a), sondern nur in der Mischung. Dies liegt daran, dass das Gute selbst nicht teilbar ist. Damit klingt auch im ›Philebos‹ die Frage von Methexis und Chorismos an, die die Spätdialoge durchziehen wird. Die Exposition der Mischung am Paradigma der Lust dient also der Frage, wie das selbst nicht Vollkommene »in das Begrenzte, Maßhafte eingeht«, 142 oder: wie das Gute selbst in dem nicht durchaus Guten zur Erscheinung kommen kann. Diese Frage zu durchdenken erfordert, die Genesis der Mischung zu erwägen, also einen Zustand zu betrachten, in dem die Mischung noch nicht vorausgesetzt werden darf. Wiederum zeigt sich hier, bei allem Unterschied der Gesichtspunkte, eine Ähnlichkeit zum ›Timaios‹ : Auch in diesem Dialog wird in die Sphäre vor der Entstehung der Elemente und Ordnungen hineingedacht, in den Zustand der Chora bzw. den Anfang aus Notwendigkeit. Die Lehre von den vier Gattungen (gené) soll, so wird in der Exposition gesagt, gegenüber den Grundlinien der Dialektik eine neue Veranstaltung (23b) bedeuten. Zwar sollen einige von den auf

Vgl. dazu die detaillierten Überlegungen bei Frede, a. a. O. Siehe auch Sayre, Plato’s Late Ontology, a. a. O. 142 Gadamer, a. a. O., S. 107. 141

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die Dialektik bezogenen Reden wiederaufgenommen werden (23c); es bedürfe aber im Folgenden »neuer Waffen« (23b). Bereits bei beiläufigem Hinsehen zeigt sich, dass das Leitmotiv der Dialektik-Explikation gewahrt bleibt: der Zusammenhang von Grenze und Unbegrenztem (24a). Außerdem bleibt die aus den nicht-dialektischen Phänomenanalysen (20b–23c) gewonnene Klärung der Frage nach dem Guten im menschlichen Leben bestimmend, und es geht nach wie vor um die Mischung. Näherhin aber zeigt sich ein spezifischeres Frageziel: Es soll erkannt werden, wie das Unbegrenzte in das Maß überführt werden kann. Vermutlich werden gerade dazu die neuen Waffen erforderlich sein. Sokrates beginnt seine Erläuterung mit dem Unbegrenzten und fügt hinzu, dass das Begrenzte »warten« könne (ménei) (24a). In den anschließenden genealogischen Phänomenanalysen kommt Warten und Erwarten noch größere Bedeutung zu. Unbegrenzt (apeiron) ist das ›Mehr‹ oder ›Weniger‹, alles, was durch Steigerung ausgedrückt wird (24a), oder durch Epitheta eines hohen Grades, wie ›sehr‹ oder ›gar‹. Im auf unbestimmte Zweiheiten bezogenen Vergleichen ist, wie man aus anderen Zusammenhängen wissen kann, 143 kein wahrheitsfinites und situationsinvariantes Maß zu erkennen. Auch das Ende eines jeweiligen Zustandes lässt sich dann nicht genau bestimmen. Im relativen Sinn vom »Wärmeren« oder »Kälteren« zu sprechen, heißt, nicht angeben zu können, wie weit die Steigerung des bezeichneten Zustandes führt. Ein Optimum als eigentlicher Maßstab fehlt. Das Begrenzte (peras) ist offenkundig die Gegengattung. Sie erlaubt es, ein Maß oder eine Zahl (25a) für Verhältnisse anzugeben: das Gleiche und die Gleichheit, das Zwiefache oder jede andere abgrenzbare Auszeichnung vieler Einer. Allerdings ist die Einheit der Gattung im Fall des Begrenzten schwerer zu gewinnen als im Fall des Unbegrenzten. Sokrates stellt dies ausdrücklich beim Übergang zur dritten Gattung, der Mischung zwischen beiden, fest. Man habe das Begrenzte nicht in der Weise zusammenbringen können wie das Unbegrenzte, Zerrissene (25d). Mit dem Übergang zur dritten Gattung entscheidet sich dann das Gelingen der Erörterung; auch die zweite Gattung wird sich als Gattung möglicherweise erst von der dritten her bestimmen lassen. Nicht umsonst steht hier am Anfang wiederum die verbürgende und zugleich ins Dies wäre eine Lesart, die sich deutlich der Prinzipienlehre von Platons »ungeschriebener Lehre« bedient.

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nicht mehr zu Denkende führende Götteranrufung (25b). Das nicht verstehende, mehrfach bohrende Nachfragen des Protarchos ist keineswegs nur ein Indiz seiner fehlenden philosophischen Natur. Es verweist auf ein sachliches Problem: Lässt sich die Grenze (peras) anders als in der Mischung, also dadurch, dass sie als Form am Unbegrenzten zur Geltung gebracht wird, überhaupt denken (25c)? Damit verbindet sich eine andere, gravierendere Frage: ob von einer Mischung zwischen Begrenzendem und Unbegrenztem überhaupt zu Recht gesprochen werden kann. Die Schwierigkeit ist zunächst grundsätzlicher Natur: Die Überlegung bewegt sich hier in der Sphäre der Gattungen, die Mischung aber konnte bislang nur an einzelnem phänomenal Seiendem aufgewiesen werden. Ein Gemischtes ist keineswegs eine Zusammenfügung zweier für sich bestehender Elemente, sondern ihre Konkreszenz, wie Hegel die Verbindung des Einzelnen mit dem Allgemeinen nennt, 144 sodass sie in das entstehende Dritte zwar je einzeln eingehen – jedoch in einem verwandelten Zustand. Wie aber soll sich das Bestimmte mit dem Unbestimmten verbinden? Da es auf das unteilbare Gute selbst bezogen ist, ist es doch unteilbar (vgl. 22b). Wie Maß und Zahl sind, wie das Bestimmende es selbst wird und sich in der Mischung durchhält, ist offensichtlich im bisherigen Verlauf des Dialogs nicht geklärt worden. Deshalb wendet sich die Exposition der Mischung als dritter Gattung nun vom Grundsätzlichen auf die Phänomenalität zurück. Diese erneute Metabolé bereitet sich bereits vor, als Sokrates die dritte Gattung umschreibt: Das Dritte ist das »aus diesen [apeiron und peras] gemischte und gewordene Sein« (27b). Vom Gewordenen und Vergehenden aber kann es nach der platonischen Grundlehre keine Ideenerkenntnis geben. 145 Vor diesem Hintergrund soll über den Zusammenhang von Lust und Einsicht »ein richtigeres Urteil« gefällt werden können als im bisherigen Verlauf des Gesprächs (27c). Das soll geschehen, indem die Einsicht als Prinzip zur Geltung gebracht wird, das der Lust Grenzen setzt (27e). Erstmals, und ohne dass Protarchos dies bemerkte – an-

G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik, Band 1. Theorie-Werkausgabe Band 5. Frankfurt/Main 1970, S. 125 ff. 145 Vgl. dazu u. a. J. Halfwassen, Der Aufstieg zum Einen. Untersuchungen zu Platon und Plotin. Stuttgart 1992. Siehe auch W. D. Ross, Plato’s Theory of Ideas (1935). Oxford 21953. 144

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dernfalls erführe die Ausgangsthese von Philebos eine erfahrungshafte Erschütterung –, wird die Lust damit in ihrem Widerstreit mit dem Schmerz (lype) vor Augen geführt. 146 Beide, Schmerz und Lust, gehören der Gattung des Unbegrenzten an, »sodass wir wohl auf etwas anderes sehen müssen, als auf die Natur des Unbegrenzten, um den Lüsten einen Anteil an dem Guten zu sichern« (28a). In Frageform also wird das Problem wiederaufgenommen, das in der Vorverständigung von Philebos 22b verneint worden war: ob die Lust als Nicht-Vollkommenes überhaupt am Guten teilhaben könne. In eben diesem Zusammenhang, in dem es auch fraglich erscheint, ob in phänomenaler Betrachtung die Gattung der Mischung angemessen verstanden werden kann, kommt nun die vierte Gattung ins Spiel: die ›aitia‹. Vernunft bzw. Einsicht gehören nicht der Gattung des Begrenzenden an, sondern einer vierten Gattung, die allen dreien insgesamt einwohnt (30b). Es ist die Gattung der beherrschenden, göttlichen Ursache, und es ist zugleich die Gattung des Verhältnisses von Begrenztem und Unbegrenztem (30a). Damit tritt erneut die Spannung zwischen Urbild und Abbild in den Vordergrund (vgl. 22a). Die Einsicht als endliches Vermögen könnte als Begrenzendes hinreichend erfasst werden. Gleichwohl würde auf diese Weise das Wesen des endlichen Nous verfehlt; ist er doch, wie wir sahen, aus der Spannung zu seinem Urbild zu verstehen (22c). Indem darauf die Rede kommt, verändert sich die Tonart, und das Gespräch verweist in vertiefender Fortsetzung der Unterscheidung zwischen Urbild und Abbild, göttlichem und menschlichem Nous (vgl. 22a ff.) auf die Genesis des Kosmos aus der königlichen Ursache, dem Einen als dem Urbild: »Also in der Natur des Zeus, wirst du sagen, wohne eine königliche Seele und königliche Vernunft von wegen der Kraft der Ursache« (30d). Die Sprechweise des Dialogs verändert sich auch insofern, als Protarchos dagegen nun nichts mehr einzuwenden hat, sondern vom Sog göttlicher Gegenwärtigkeit überwältigt wird. An diesem Wendepunkt werden die Schwierigkeiten, die zwischen zweiter und dritter Gattung namhaft zu machen waren, neu interpretiert. Es wird deutlich, dass sich die Gattungen, also das Ver-

Vgl. dazu u. a. G. Carone, Hedonism and the Pleasureless Life in Plato’s Philebus, in: Phronesis 45 (2000), S. 257 ff. Siehe auch D. Voigtländer, Die Lust und das Gute bei Platon. Würzburg 1960, sowie Chr. W. Taylor, Pleasure, Mind, and Soul. Selected Papers. Oxford 2008. Siehe auch die Gesamtübersicht bei J. C. B. Gosling und Chr. W. Taylor, The Greeks on Pleasure. Oxford 1982.

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hältnis von Grenze und Unbegrenztem, insgesamt erst von der Ursache der Mischung her klären und aufeinander beziehen lassen. Sokrates’ Explikation der Mischung nimmt also zwei Richtungen: Einerseits weist sie auf den zeitlichen Phänomenzusammenhang von Lust und Einsicht zurück, andererseits deutet sie auf die göttliche Sphäre hin. Der Eindruck, dass beide Richtungssinne, der des Nächsten und der des Fernsten, eng aufeinander bezogen sind, kann sich damit noch einmal bestätigen. Hierher gehört auch, dass sich die Einteilungsgesichtspunkte, die Sokrates im Vorhinein angegeben hatte, erst im Licht der ›aitia‹ verstehen lassen. Darauf ist in der formalen Exposition der Erörterungen an einer Stelle ausdrücklich vorausverwiesen: »Lass uns alles was jetzt ist in dem Ganzen (to panti), in zwei Teile teilen, oder lieber wenn du willst in dreie« (23c). »Zuerst nun lasse uns von diesen vieren die dreie aussondern, und versuchen, da wir die zweie von ihnen jedes gar vielfach zerspalten und zerrissen sehen, ob wir, wenn wir sie werden jedes in Eins zusammengebracht haben, bemerken können wie wohl jedes von ihnen Eins und Vieles war« (23e).

Das ist das Programm einer Dialektik, die sich zur Bestimmung des gemischten Zustandes einstellt. Nun kann angegeben werden, auf welche Weise dem Begrenzten und dem Unbegrenzten je für sich Einheit und unbestimmte Vielheit (Zerrissenheit) zukommt. Das Unbegrenzte lässt sich aufgrund seines Mangels an Maß leicht gattungsspezifisch definieren (24e–25a). Ungeachtet einer eidetischen Einheit bleibt es zerrissen. Das Begrenzte dagegen ist seinem Wesen nach Eins. Dennoch lässt es sich kaum als für sich bestehende Gattung verstehen, da es nur als formgebendes Prinzip des Unbegrenzten eigentlich zu denken ist, also auf das Viele bezogen sein muss. Dies wäre jedoch selbst ein Verhältnis unbestimmter Zweiheit. Die Einheit des Begrenzten kann erstmals erkannt werden, wenn sie auf das Urbild des Kosmos, die ›aitia‹ selbst, bezogen wird. Ebenso lässt sich von hier aus auch das Wesen der Mischung angeben und eine Antwort auf die Frage finden, wie Unbegrenztes und Begrenztes unterschieden sind und doch zusammengehören könnten. Gadamer hat im Blick auf Philebos 23e 4–5 angedeutet, dass die vier Gattungen nicht einfach als Strukturmomente des Seins vorausgesetzt würden, dass ihr Allgemeinheitscharakter also nicht einfach behauptet, sondern dass gezeigt werde, »wieso sie Gattungen 603 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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sind«. 147 Die bislang diskutierte Dialogpassage verfolgt nämlich bei näherer Betrachtung zwei Ziele: Sie benennt die Gattungen als Gattungen und zeigt, wie sie sich im Blick auf den leitenden Phänomenzusammenhang von ›Lust‹ und ›Einsicht‹ als solche erweisen, indem sie zu besserem Verständnis des phänomenal sich Zeigenden beitragen. Zwischen beiden Fragehinsichten trifft der platonische Dialog selbst keine Unterscheidung. Gadamer hat die erste Frage, anachronistisch, aber wohl nicht sachfremd, mit Heidegger als ontologisch, die letzte als ontisch gekennzeichnet. 148 Dass beide Frageziele bei Platon nicht unterschieden werden, hat wohl nicht zuletzt terminologische bzw. begriffsgeschichtliche Gründe. Darin spiegelt sich vielmehr das Oszillieren des Gedankenganges wider, das am prägnantesten hervortritt, wenn die Gattung der Mischung ihrerseits phänomenal erläutert werden soll. Diese doppelseitige Argumentation wird in hohem Maße dadurch fruchtbar, dass der Blick auf die göttliche ›aitia‹ mit der Zuwendung zu den Phänomenen einhergeht. Dennoch bleibt die fehlende Distinktion ein Mangel, denn die eigentliche Frage des Dialoges, wie das Gute als Sein der Vollkommenheit im Einzelnen, endlichen menschlichen Leben, und damit in der Phänomenwelt, zur Erscheinung kommen kann, legt es durchaus nahe, die Unterscheidung zu treffen. Auf eine solche Distinktion scheint die dialektische Verhältnisbestimmung von Einheit und Vielheit geradezu hinauszulaufen. 149 Indirekt bleibt die Lehre von den Gattungen von der Dialektik von Einem und Vielem abhängig: So wird in der Grundlegung der Dialektik bereits auf Begrenztes und Unbegrenztes verwiesen und damit eine vorbereitende Durchsicht auf den späteren Gedankengang gewonnen (16c). Indem die Dialektik indirekt weitergeführt wird, 150 kann in der Sache etwas gezeigt werden, das in ihrem begrifflichen Aufriss allein nicht erkennbar wäre: dass jede der Gattungen in sich Gadamer, Platos dialektische Ethik, a. a. O. Vgl. zu Heideggers ›ontologischer Differenz‹ : Sein und Zeit, a. a. O., S. 134 ff. Gegenüber seiner eigenen Grundthese verweist Heidegger in seinem ›Sophistes‹-Kommentar GA 19. Frankfurt/Main 1992, S. 466 ff. u. ö. darauf, dass der platonische Seinsbegriff eine ontologische Differenz zwischen ›Sein‹ und ›Seiendem‹ nicht kenne. Er betont die Übergänge, die Relation zu einer eidetischen Differenz lässt er jedoch weitgehend unberücksichtigt. 149 Dazu wieder die Hinweise bei Löhr, Problem des Einen und Vielen, a. a. O. Siehe auch Gadamer, Platos dialektische Ethik, a. a. O., S. 94. 150 Goslings Kennzeichnung dieser Passagen als ›verwirrende Zusätze‹ führt in die Irre. Vgl. pars pro toto Gosling, Metaphysik oder Methodologie?, a. a. O., S. 213. 147 148

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selbst das Verhältnis zwischen Vielem und Einem auszutragen hat. Eine genauere Bestimmung, wie dies geschieht, bleibt allerdings bislang aus. Der Logos von der göttlichen Aitia berührt zugleich das All, den Kosmos als einen Lebenszusammenhang: »to pan« (vgl. 23c). Diese weite Fragestellung wird im weiteren Fortgang des Dialoges weiterverfolgt, indem Lust und Schmerz auf ihr Entstehen hin (gignesthon) untersucht werden (31b). Erstmals spielen dabei Dialektik und Genealogie ineinander, und indem Protarchos – diesmal ohne dass er durch die ungewohnte Denkart abgeschreckt würde – an die Sache dialektischer Bestimmung herangeführt wird, wird deutlich, dass die Dialektik als Ausgriff auf das Sein des Alls zugleich an nächstliegenden Zusammenhängen sichtbar wird. Im Einzelnen wird dabei die Entstehung der Lust (hedoné) in ihren verschiedenen Arten (eide) aufgewiesen, und es wird gefragt, wie die Vielheiten, die sich dabei zeigen, zu Einheiten zusammentreten, ganz so wie es exemplarisch im Blick auf Tonkunst und das Verhältnis von Laut und Buchstabe bereits versucht worden war (vgl. 17a ff.). Diese Untersuchung 151 hat ein ganz spezifisches Ziel: Sie fragt, welche Lust unvermindert wünschenswert und annehmlich bleibt, obgleich ihr, da sie doch als Lust unter die einende Gattung des Unbegrenzten gehört, ihr Anteil am Guten nicht aus sich selbst, sondern nur aus den Grenzen, die ihr von außen gesetzt werden, zukommt. Anders gesagt: »Welche Lust ist es, ohne die das menschliche Leben nicht das wünschbar beste wäre?« Es ist diese engere Frage, auf die fokussiert das weitere Frageziel, wie das Unbegrenzte ein Maß finden kann, exponiert wird. Die Unterscheidungen beginnen mit dem Verständnis von Lust als dem elementaren Gegenphänomen zum Schmerz oder abgeschwächt zur Unlust (32e). Wenn wir Lust und Schmerz rein als Körperphänomene betrachten wollen, müssen wir uns Augenblicke vorstellen, in denen gegensätzliche körperliche Empfindungen miteinander kollidieren. Erinnerung, als Teil von Einsicht, kommt in dem rein körperlichen Lust- und Schmerzempfinden nicht vor. Sokrates bringt eine zweite Art von Lust ins Gespräch, die aus der Seele

Sie entwickelt also eine Art von ›Praktik‹. Dies war wohl auch das dezidierte Interesse Gadamers am ›Philebos‹.

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hervorgeht: sie entsteht durch Gedächtnis (mneme) und durch die Erwartung von Zukünftigem (33b). Hier ist eine Distanzierung von dem unmittelbaren leiblichen Widerfahrnis möglich. Der enge physische Zusammenhang von Lust und Unlust kann durchbrochen werden. Denn erinnernd und erwartend beziehen wir uns nicht auf raumzeitlich Gegebenes, sondern auf Abwesendes. Deshalb bedarf es eines bestimmten Zustandes, von dem aus Lust und Unlust erstmals in der Seele als das, was sie sind, betrachtet werden können. Dies ist ein mittlerer Zustand, »außer dem des Vergnügtseins und dem des Betrübtseins« (33a). Aus ihm heraus lässt sich auch erst fragen, was das Lebendige als Lebendiges »an sich haben muss«, wenn es dem Werden und dem Vergehen, der Lust und dem Schmerz unterworfen ist. Wenn auf diese Weise auch die Unterscheidung der rein seelischen von der rein leiblichen Lust exponiert werden kann, ist es doch für den dritten, mittleren Ort gerade charakteristisch, dass beide von ihm aus aufeinander bezogen werden müssen. Es ist das Gedächtnis, das den Zusammenhang herstellt. Es verweist auf Wahrnehmungen (aistheseis). Eingedenk sein bedeutet, Wahrnehmungen in sich zu behalten (vgl. 34a). Wahrnehmungen aber sind Leiden (pathemata) des Körpers, die in die Seele eingehen, sodass sie von ihnen Kenntnis hat. Sie sind deutlich zu unterscheiden von nur körperlichen Leiden, die der Wahrnehmung entzogen wären (anaistheseos). Die Genese von Lust und Unlust wird aber von einem ihnen vorausgehenden Phänomen her verdeutlicht: dem Wesen der Begierde (epithymía) (34d). Die Begierde wäre nicht angemessen verstanden, wenn man sie nur als körperliche Erscheinung deutete. Das Verlangen zielt nämlich, wie Sokrates zeigt, zumeist nicht auf etwas unmittelbar leibhaft Gegenwärtiges, sondern auf etwas gerade nicht Vorhandenes, z. B. auf die Aussicht, seinen Durst zu stillen. Und dabei ist das Verlangen konkret artikuliert: es ist Verlangen nach etwas Bestimmtem. Keineswegs also ist es nur negativ durch den gegenwärtig vorhandenen Zustand des Durstes bedingt (35a). Die Begierde ist deshalb das erschließende Urphänomen dieses Zusammenhanges, da ihre etwashafte Grundstruktur darauf hinweist, dass alle unterschiedenen Grundarten von Lust und Unlust sich zu einer weitergehenden Vielheit differenzieren werden. Dies hat Folgen auch für das Verständnis des dritten Zustandes zwischen Lust und Unlust. Zunächst wird deutlich, dass der dritte Zustand der Mischung auch bedeuten kann, dass der Mensch eine bestimmte Lust und einen bestimmten Schmerz zu606 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

Der ›Philebos‹ als Praktik gelingenden Lebens

gleich empfindet: erstere wird er aus seinem Andenken ziehen, letztere aus dem gegenwärtigen Zustand (36a). Doch im Grundsätzlichen heißt dies, dass der mittlere Zustand keineswegs immer harmonisch und in sich gut ist. Wir erfahren vielmehr, dass es schlechte mittlere Zustände gibt, wie die Empfindung des Lächerlichen beim Komödienbetrachter (49a), den Neid oder schließlich die Lust des Kranken, sich durch Kratzen seiner Ekzeme scheinbare Linderung zu verschaffen, obgleich sich dadurch sein Zustand dauerhaft verschlechtern wird (46d). Das Mittlere, Dritte ist also im ›Philebos‹, anders als die Chora im ›Timaios‹, nicht Ursprungsort – vielmehr ist es Ort des Widerstreits von Affekten. Gefragt wird aber nicht nur nach der empirischen Herkunft von Lust aus Begierde, sondern durch die überraschende Frage nach Wahrheit oder Falschheit von Empfindungen wie Lust und Schmerz. Die Empfindungen werden dabei synkritisch zur Doppeldeutigkeit der Meinung untersucht (38b). Wie die Meinung die Seele das sehen lassen kann, was ist und wie es ist, kann sie es auch verkehrt zeigen, so, wie es gerade nicht ist (vgl. weiter oben zum ›Theätet‹). Die Möglichkeit einer Untersuchung und dann Unterscheidung verdankt sich dem inneren Sprechen der Seele mit sich selbst (38e). Dieses Sprechen könnte man, auch wenn diese zentrale Formulierung aus der ›Politeia‹ hier nicht genannt ist, als eine Form der ›entos praxis‹ verstehen. Doch hat sie zugleich poietisch hervorbringende Züge. Es ist wie die Hervorbringung eines Buches: Das Selbstgespräch ist ein inneres Vergleichen; so sind der Seele Logoi eingeschrieben und ebenso innere Bilder (39a–b). Mit ihnen treffen die neuen Wahrnehmungen zusammen (39a) und werden verglichen. Die Wahrheit einer Meinung bemisst sich jedoch nicht allein nach diesem Vergleich (39a ff.), sonst wären inneres Sprechen und Sehen zwar für die Vergangenheit, nicht aber für den Erwartungshorizont der Zukunft einsichtig zu machen. Hier haben wir es mit schrifthaften und bildnerischen Vorentwürfen im Inneren zu tun, mit Zeithieroglyphen für das noch nicht Seiende (39e). Und auch für sie soll gelten, dass sie sowohl zutreffen wie auch uns täuschen können. 152 Die Genesis der Wahrheit muss also in unserem Argumentationszusammenhang vorausgesetzt, sie kann jedoch nicht eigentlich aufgehellt werden. Dies zeigt sich in dem unvermittelten Übergang in 39a: »und wenn sie richtig geschrie-

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Vgl. weiter oben, Sechstes Kapitel III. die Problematik zum ›Theätet‹.

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ben haben [kaì hotan mèn alethe grápse], dann ist dieses Widerfahrnis eine richtige Vorstellung«. Weiter ist zu bedenken, dass die Analogie zwischen Empfindungen und Meinungen eine klar gezogene Grenze hat: Elementare Empfindungen sind nämlich, anders als Meinungen, nicht hinreichend verstanden, wenn man sie als eine spezifische Ausprägung propositionalen Wissens denkt. Wenn ihnen ein propositionaler Gehalt aufgrund ihrer etwashaften Bezogenheit auch zumeist zukommt, ist dieser doch sehr schwach. Doch verbindet sich diese gnoseologische Ephemerität mit einer hohen praktischen Mächtigkeit. Gerade die Pathemata fordern Handlungen. Es bedarf vielmehr einer verdichteten Hinsicht auf den Lebenszusammenhang der Empfindungen. Auch deshalb werden Lust und Unlust bzw. Schmerz immer nach drei Hinsichten untersucht: in Bezug auf den Leib, auf die Seele und auf beider Zusammenhang (47d f.). Wie ein Leitfaden durchzieht den Gedankengang deshalb die Einsicht, dass nicht-gute, zerstörende Mischungen zwischen Lust und Schmerz dadurch zustande kommen, dass die Gegenstimmung, sei es die Lust, sei es die Unlust, in der Seele nicht treffend als das erkannt wird, was sie ist: dass also zum Beispiel vom Kranken als erfreulich genommen wird, was in Wahrheit gar nicht erfreulich ist (42a), oder dass die Bürgerwelt einer noch blühenden Polis die Gegen-Zeichen des Niedergangs nicht gewahrt und sich eine glänzende Zukunft vorhersagt. Der affekthaft-pathematische Aufweis (ab Philebos 41b) führt hingegen näher an die Phänomene heran als die Meinungen es tun. Er erlaubt es, eine andere Art von Täuschung in den Blick zu nehmen: zum Beispiel die Verkennung von Proportionen und Größenverhältnissen, eine übertriebene Vorfreude oder Erwartung (41e), die dazu veranlasst, dass Gegenstimmen und Gegengewichte nicht mehr wahrgenommen werden. Erst hier sind wir wieder im urphänomenalen Bereich der handlungsbestimmenden Begierde. Sokrates erreicht eine gewiss nicht minder gewichtige Vertiefung und Verfremdung der Frageexposition wie dadurch, dass er Lust und Schmerz auf ihre Wahrheit hin befragt, auch durch seine Auseinandersetzung mit der Grundthese der verdrossenen Wahrsager wider Willen, mag er damit nun Demokrit oder Antisthenes meinen. 153 Sie behaupten, dass Lust nur ein Entkommen vor dem Vgl. dazu wiederum Gosling und Taylor, The Greeks on Pleasure. Oxford 1982, a. a. O., sowie die Kommentierung zu verschiedenen Stellen bei Frede, Platon, Phile-

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Der ›Philebos‹ als Praktik gelingenden Lebens

Schmerz sei (44c). Diese Auffassung wird zumindest probeweise angenommen. Deshalb will Sokrates ihr ein Stück Weges folgen und den unerbetenen »Bundesgenossen auf den Spuren ihrer Verdrießlichkeit nachgehn« (44d). Die angezeigte These wird von einem extremen Blickwinkel her entwickelt, der bekanntlich auch im Schlussteil des ›Timaios‹ eine entscheidende Rolle spielt: der Krankheit (45a). Da die Krankheit sich zeigt, anders als die immer verborgene Gesundheit, 154 lässt sie sowohl den Schmerz wie die Lust größer und deutlicher hervortreten als dies gemeinhin der Fall ist. Dies zeigt sich, wenn Linderung nach langem Leiden eintritt. »Wie also? Scheinen wir nun wohl richtig zu sagen, dass wenn jemand die größte Lust sehen will, er nicht zur Gesundheit, sondern zur Krankheit gehn muss, um sie da zu betrachten? Sieh aber zu dass du nicht etwa glaubst, ich meinte mit meiner Frage, dass die Kranken mehr Vergnügen hätten als die Gesunden; sondern denke, ich suche nur die Größe der Lust, und das heftige derselben, wo sich das wohl jedesmal findet. Denn wir müssen einsehen, welche Natur sie hat, und was doch die von ihr meinen, welche behaupten, es gebe sie ganz und gar nicht« (45c).

Von den »Wahrsagern wider Willen« auf das Phänomen der Krankheit geführt, kann Sokrates’ Erörterung ihre Grundthese, dass Lust nur die Abwesenheit von Schmerz sei, erschüttern. Gerade die Heftigkeit der elementaren Empfindungen zwingt dazu, die Eigenmacht des Leidens, namentlich der Krankheit, zu untersuchen. Insofern bestimmt die Perspektive von der Krankheit die Darlegung bis in ihre Tiefen. Das Gute im menschlichen Leben ist ein wiederherzustellendes Gutes, ganz so, als sei die Krankheit für den ›Philebos‹ bereits das, was sie später für Schelling sein sollte: der Stachel, an dem das Philosophieren in Gang kommt. 155

bos. Übersetzung und Kommentar, a. a. O. – Siehe auch Gadamer, Platos dialektische Ethik, a. a. O., S. 128 ff. Bei allen Deutungsdifferenzen dürfte es wesentlich sein, im Zentrum des ›Philebos‹ die Verbindung einer dialektischen Matrix mit phänomenalen Aufweisen deutlich zu machen. 154 Vgl. dazu weiter oben, Siebtes Kapitel I, zum dritten, aus erstem und zweitem Anfang gemischten Leib-Seele-Mischungsverhältnissen im platonischen ›Timaios‹. 155 Siehe zur Sache auch R. Berlinger, Über den Schmerz und das Licht, in: L. Landgrebe (Hg.), Beispiele. Festschrift für Eugen Fink zum 60. Geburtstag. Den Haag 1965, S. 270 ff., und ders., Der Philosoph und die Schlange. Zur Philosophie des Bösen, in: Weite des Herzens, Weite des Lebens, a. a. O., S. 295 ff.

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»Zuerst nun lass uns dieses bedenken, dass wenn wirklich, wie wir sagten, Schmerz ist wenn das Lebende verdirbt, und wenn es sich wieder herstellt Lust, wir doch in Bezug auf die welche eben jetzt weder verderben noch sich wiederherstellen, überlegen müssen, was für eine Beschaffenheit wohl jedes Lebendige dann an sich haben muss, wenn es ihm auf diese Art ergeht« (32d).

Ganz in diesem Sinn wird auch der Weg der Physis in das ihr gemäße Sein nicht einfach als Entstehung, sondern als Anachoresis, als Rückkehr aus dem Widernatürlichen, verstanden (32b). Diese Rückkehr bedeute »in allen Dingen Lust«. Es ist überraschend, dass hier die reine unvermischte Lust, der sich der ›Philebos‹-Dialog sonst versagt, doch exponiert werden kann: eben als Wiederherstellung eines in der Krankheit verlorenen unversehrten Zustandes. Der Ausgang von der Krankheit trägt also weiter, als man zunächst vermuten mag. Die reine Lust ist allerdings nicht durch Größe und Heftigkeit ausgezeichnet, solche Auswüchse sind eher Symptome der Krankheit (vgl. 53b). Von der Heftigkeit zu Maß und Reinheit zu kommen, gerade dies ist als wesentlicher Zug der Wiedergewinnung der Gesundheit zu verstehen. Die Perspektive von der Krankheit her ist also eng mit der genetischen, am Werden sich orientierenden Betrachtungsart verknüpft (31b). 156 Wenn man den perspektivischen Schlüssel der Betrachtung von der Krankheit aus nicht anlegt, bleibt die Exposition einer letzten Art von Lust, jener, die von Unlust bzw. Schmerz frei sei (50e–52b), unverständlich. Gadamer spricht in seiner »phänomenologischen Interpretation« von der Freude am Erfreulichen. Teilweise trifft dies unstrittig Platons Absichten: Er nennt die Lust an schönen Farben, an Gerüchen, Tönen, die durch keine Schmerz- oder Unlustregung betroffen wird (51b). Auch die reine Lust ist allerdings intentional ausgerichtete Freude an Etwas. Sie stellt sich augenblickshaft (exaiphnes) ein und ist schlechterdings beglückend. Schöne Gestalten sind wie Töne, Farben oder Düfte »nicht in Beziehung auf etwas [pros ti] schön wie anderes [kat’haper alla], sondern immer an und für sich sind sie ihrer Natur nach schön, und haben eine eigentümliche Lust, die nichts mit der des Kitzels zu schaffen hat« (51c). Gadamer hat auch die Zeitstruktur dieser reinen Lust treffend beschrieben: So augenVgl. zur methodologischen Seite: M. Baltes, ›Gegnomen‹ (Platon, Tim 28b7). Ist die Welt real entstanden oder nicht?, a. a. O.

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blicklich sie sich einstellt, ist ihr eine Beständigkeit zu eigen, zu der die vermischten Arten der Lust nicht gelangen können. 157 Allerdings bleibt es unbefriedigend, wenn Gadamer hinzufügt, die reine Lust sei »in absoluter Parallele zum Anschauen gesehen […]. Wie das Anschauen ein leibhaft Gegenwärtiges enthüllt, so entdeckt auch die wahre Lust Seiendes, das leibhaft gegenwärtig ist. Alle Lust dagegen, die Nichtgegenwärtiges enthüllt, wie etwa die Vorfreude, die ein noch nicht Seiendes in seinem Werden zum Sein und Erfreulichsein vergegenwärtigt, bleibt an Reinheit und Wahrheit hinter dieser zurück.« 158

Träfe dies zu, dann wäre die reine Lust lediglich eine Fortsetzung und graduelle Verfestigung der körperlichen Lust. Es gingen nicht einmal die Bestimmungen des nicht sinnlich Gegenwärtigen, nur im Gedächtnis zu Erinnernden oder zu Erwartenden in sie ein (vgl. 40a). Gegen diese Verkürzung spricht ganz offenkundig, dass Platon als große Beispiele für die wahre Lust auch die Lust an Erkenntnissen (logismou) nennt (52b). Dass Gadamers phänomenologische Interpretationen nicht zu einer hinreichenden Klärung führen, zeigt sich schließlich an der künstlichen Unterscheidung zwischen einem ›Worauf‹ der Lust, das den Typus kennzeichnen soll, dem die unreinen Arten der Lust alle mehr oder minder unterstehen, und einem reinen ›Woran‹ der Lust an Etwas. 159 In phänomenalem Betracht wäre es wohl erhellender, die reine Lust als eine in sich und im erfüllten Augenblick vollendete Seinszustimmung – ein »Wie es sei, ist es gut« – zu denken, in dem sich die Natur der Dinge erschließt. Allerdings ist dies nicht die Sprache und Denkweise des ›Philebos‹. Der Dialog versteht auch die reine Lust als zielgerichtetes Begehren, die reine Freude ist dann Freude an einzelnen Erscheinungen, wie sie an und für sich selbst sind und an denen die integre Natur im Ganzen aufgeht. Wenn sie sich so erschließen, so sind sie im inneren Gespräch der Seele ganz gegenwärtig, auch wenn sie nur erinnert werden (vgl. 51c). Dennoch sind es in sich ruhende schöne Phänomene, nicht die Schönheit selbst. Aus diesem Grund ist es stimmig, wenn auf diese Exposition eine Auseinandersetzung mit dem – ungenannt bleibenden – Aristipp folgt. Aristipps Auffassung besagt nämlich, dass Lust Vgl. dazu Gadamer, Platos dialektische Ethik, a. a. O., S. 138 ff. Zu den Augenblicksgestalten auch: W. Beierwaltes, ›Exaiphnes‹ oder: Die Paradoxie des Augenblicks, in: Philosophisches Jahrbuch 74 (1966/67), S. 271 ff. 158 Gadamer, ibid., S. 140. 159 Ibid., S. 136 f. 157

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deshalb nichts Gutes sein kann, da sie nur Werdendes und nicht Seiendes ist (53c). Wir bemerkten am Ausgangspunkt der Überlegungen, dass die Lust ebenso wie die Einsicht für sich allein genommen keinen Anteil am Guten hat (22b). Nun erkennen wir, dass sie als Werdendes des Seins (ousias) wegen ist (hou heneka) (54a), so wie der Schiffsbau um der vollendeten Schiffe willen gut ist und nicht umgekehrt (54b). Aufgrund der Verbindung von Sein und Gutem, die zu Beginn des ›Philebos‹ festgehalten worden war, ergibt sich daraus ein Zusammenhang mit dem Guten. Diese ›hou heneka‹-Struktur (54a) beschreibt allerdings nur den Zustand der reinen Lust. Der dialektische und der phänomenale Explikationsweg haben nur eine vorläufige Bedeutung, denn sie und mit ihnen die Frage nach der Wahrheit von Lust und Schmerz bereiten vor, was dann als Ermöglichungsgrund einer geglückten Mischung begriffen werden wird: das Formgefüge von Schönheit, Verhältnismäßigkeit und Wahrheit. Die Arten der Lust sind damit in ihrer phänomenhaften Vieldeutigkeit durchsichtig gemacht worden. Dabei erwies sich die Frage der Mischung als der heimliche Mittelpunkt der Erörterung. Nun lässt sich überblicken, dass sie zumindest in dreifacher Bedeutung begegnete: einmal als kranke Mischung, der die erliegen, die nicht oder nicht genügend verstanden haben, dass Lust in unserem physischen Dasein, in Leib und Seele, von Unlust begleitet ist. Zum anderen als der Zustand des Weder-Noch, der gleichsam göttlichen, einsichtsvollen Lebensweise (32c ff.), jener Äquidistanz von Lust und Schmerz, die beide erst in der Seele zu erkennen erlaubt, und schließlich als phänomenaler Zustand der reinen Lust.

Gutes Leben in der Endlichkeit: Vom Wesen der Mischung Doch was ist die wahre und angemessene Mischung, aus der ein gutes menschliches Leben hervorgehen kann, das per se ein gemischtes Leben sein muss? Diese Frage wird den letzten Teil des ›Philebos‹ bestimmen. Zu erinnern ist zunächst an die Unterscheidung zwischen reinen und nicht-reinen Formen des Nous (vgl. 55a f.) und daran, dass sie eingeführt wird, um der agonalen Frage nach dem zweiten Preis in der Rangordnung des guten Lebens und danach, ob er der Lust oder der Einsicht gebührt, gerecht zu werden. Dies ist eine Frage, die Phi612 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

Der ›Philebos‹ als Praktik gelingenden Lebens

lebos und Protarchos an Sokrates herantragen. Man darf also nicht überhören, dass dem Philosophen die agonale Überlegung ferner liegt als seinen Hörern. Dies zeigt sich bezeichnenderweise, wenn im Anschluss an die Untersuchung der Lust und ihrer Spielarten die Einsicht dargelegt werden soll. So mahnt Sokrates, den Logos nicht über Gebühr in die Länge zu ziehen (zuletzt Phil. 67b). Immer wieder möchte er gehen und wird doch länger festgehalten. Die Arten und Stufungen der Einsicht werden, anders als jene der Lust, abkürzend markiert, in fast schulmäßigen Grenzziehungen. Es heißt nicht ohne Grund, dass heftig (gennaios) an die Pforten der Einsicht geklopft werden solle (55c). Die Verkürzung hat allerdings auch eine sachliche Ursache: Der Einsicht ist, wie wir wissen, eine gattungshafte Einheit eigen, anders als der Lust. Sie zerfällt nicht in verschiedene Arten. Dies wird schon an einer sehr frühen Stelle des Dialogs festgehalten (12b), und es wird gegen Ende des Gesprächs, in der Anzeige einer Rangfolge des Guten, wiederholt. Die Einsicht spezifiziert sich als Phronesis und als Nous. Eine Stufe unter ihr kommen Erkenntnisse und Künste (epistémai und téchnai) zu stehen (66b). Sie sind nicht Arten der Einsicht, sondern vielmehr Vorbereitungen auf sie; eine Unterscheidung, die auch im Liniengleichnis der ›Politeia‹ vorkommt. Im Einzelnen finden wir nun die Unterscheidung zwischen Wissenschaften, die der Ausbildung und inneren Erziehung dienen (55d), und solchen, die Herstellungswissen liefern. An anderer Stelle im platonischen Denken, im Abriss der zur Dialektik führenden Propädeutik, werden diese Unterscheidungen ausführlicher entfaltet (Politeia 525d ff.). Dort wird zudem zwischen Praktik und Gnostik unterschieden. Dieser Unterschied ist, wie der ›Politikos‹ lehrt, schwieriger zu treffen als es zunächst den Anschein hat. Denn gerade das reine Wissen kann unmittelbar in eine Handlung hinüberführen. Die gegebene Unterscheidung ist eine Differenz nach dem Maßstab der Genauigkeit von Erkenntnissen (57b ff.). Sie gewinnt durch eine zweite Unterscheidung an Schärfe: Könnerschaft (techné) kann durch Übung und Erfahrung oder durch methodischen Sachbezug gewonnen werden. Für den ersten Fall steht als Paradigma neben Medizin und Ackerbau die für gewöhnlich von den Spielleuten geübte Tonkunst: Hier mischt sich »viel unsicheres und wenig festes« in die Erkenntnisweisen ein (56a). Doch muss auch innerhalb einzelner ›technai‹ differenziert werden. So kennt Sokrates hier wie in der ›Politeia‹ eine gemeine und eine der reinen Einsicht gewidmete Art der Mathematik (56d). Erstere besteht im arithmetischen Zusammenzäh613 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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len von vorhandenem Seienden. Dagegen vermag nur die letztere zu erklären, was Zahlen und Zahlenverhältnisse – also Einheit und unbestimmte Zweiheit – ihrem Wesen nach sind. Sie betrachtet diese aus theoretischem Interesse für sich (56d). 160 So lakonisch diese Unterscheidungen sind, berühren sie sich doch an einem zentralen Punkt mit den Einteilungen der Arten von Lust; denn auch in Bezug auf die Einsicht tut die therapeutische Überprüfung der vordergründigen Ansicht not, dass das Stärkste, Nützlichste und Heftigste in besonders ausgezeichneter Weise am Guten teilhabe (58c, vgl. 52c ff.). Protarchos folgt dieser Auffassung und hält deshalb, in Anschluss ausgerechnet an Gorgias, 161 die Rhetorik für die höchste Form wissender Einsicht (58a–b). Zu seiner Verteidigung muss gesagt werden, dass er eine Überredungskunst vor Augen hat, die freiwillig und ohne dem Anderen Gewalt anzutun verfährt (58b). Es ist daher nicht der täuschende, sondern allein der zweckhafte Zug der Rhetorik, der sie disqualifiziert. Auch an einer zweiten Stelle wird subtil die Kontinuität zu dem dialektischen Aufweis von Arten der Lust und des Schmerzes namhaft gemacht: indem nach dem Ort der Naturerkenntnis im Aufriss der Wissenschaften gefragt wird. Die Lehre von den Dingen und Sachverhalten der Physis kann nicht Eigenständigkeit beanspruchen und sie ist nicht als eine der höchsten Erkenntnisarten zu verstehen, denn sie bezieht sich nicht auf das immer Seiende, sondern auf das Werdende bzw. das Gewordene und wieder Vergehende (59b). Diese Erwägungen können nicht für sich selbst stehen. Wir müssen ihnen zu Hilfe kommen. Alles in allem zeigt sich am Ende der Aufgliederung der Einsicht, dass es auch gute und weniger gute Arten von Erkenntnis gibt und dass die reine, methodengeleitete, um ihrer selbst willen geübte, also die eigentlich philosophische Erkenntnis allein die höchste Form guter Erkenntnis sein kann (57c).

Siehe die Übersichten bei Chr. Horn u. a. (Hg.), Platon-Handbuch, a. a. O., S. 92 f., und Erler, Philosophie der Antike 2.2., Platon, a. a. O., S. 513 ff. 161 Siehe Sh. Perleman, Rhetoric and Philosophy. A Chapter in Fourth-Century Literary Criticism, in: Scripta Classica Israelica 12 (1993), S. 86 ff., sowie die Detailstudie: H. Erbse, Platons Urteil über Isokrates, in: Hermes 99 (1971), S. 183 ff. Zum politischen Hintergrund insgesamt: Chr. Meier, Die Entstehung des Politischen bei den Griechen. Frankfurt/Main 1983. 160

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Der ›Philebos‹ als Praktik gelingenden Lebens

Von diesem Ergebnis her wird dann ein Grundriss des gemischten guten Lebens entworfen. Sokrates grenzt den ausstehenden Gedankengang deutlich von dem Dialog mit Protarchos und Philebos ab und spricht deshalb von einem »Nachzeugen« (diamartýrasthai) (59c). Später (66d) erscheint allerdings diese letzte, den Hauptgedanken des Dialoges gerüstartig noch einmal rekapitulierende Zusammenfassung (66d–67b) als abschließender und dritter Durchgang durch den in Rede stehenden Logos, der Aufriss des guten Lebens (59b–66c) aber als zweiter. Solche Wiederholungen bringen Sokrates’ Worten zufolge den Sachverhalt mit immer höherer Treffsicherheit ans Licht. In diesem Sinne rekapituliert er nun die bereits an früherer Stelle im Dialogverlauf (20b 6 ff.) kenntlich gemachte Einsicht in die auszeichnende Natur des Guten (tagathou physis) (60b). Sie war seinerzeit noch dunkel geblieben und besteht darin, »dass welchem Lebendigen dieses [sc. das Gute] beständig auf alle Weise und überall beiwohnt, dieses nichts anderes mehr bedürfe, sondern das hinreichende aufs vollständigste habe« (tò dè hikanòn teleótaton echein) (60c). Wir wissen mittlerweile aus der Erörterung von Einsicht und Lust, je für sich, dass beide in einer reinen Form vorkommen und so jeweils am Guten teilhaben können. Nun wird aber darüber hinaus behauptet, dass dies in vollkommener Weise möglich sei. Drei Formen des Guten – Schönheit, Maß und Wahrheit (64b ff.) – sollen sich zugleich als die Ursache (aitia) einer guten, also vollkommenen Mischung zeigen. Von Ursache ist hier im Sinne der vierten Gattung des Seienden die Rede: die Ursache ist die leitende, hegemonische Instanz des Mischungsgeschehens. 162 Die »Nachzeugung« nötigt gleichwohl noch dazu, einen beträchtlichen Denkweg zurückzulegen: Indem das Gute, im Sinn des zweiten Durchgangs, als Gemischtes erwiesen ist, ist zwar sein Wohnort gefunden; es selbst bleibt aber noch zu suchen (61b). Das Mittlere, die Mischung, ist nicht mit seinem Ort gleichzusetzen. Es entzieht sich der topischen Festlegung. Wenn man sich der Bestimmungen des atopischen Charakters der philosophischen Natur erinnert, ist damit auch auf den eigentlich philosophischen Charakter der Frage nach dem endlichen, guten menschlichen Leben hingewiesen. Vgl. Gadamer, Platos Ethik, a. a. O., siehe auch Th. Buchheim, Die Spekulation des Werdens in Platons ›Timaios‹, in: R. Löw (Hg.), Oikeiosis. Festschrift für Robert Spaemann. Weinheim 1987, S. 23 ff.

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Im Sinn eines Vorverständnisses könnte es naheliegen, nur die wahren Lustempfindungen zuzulassen. Protarchos bemerkt auch, dass dies der sicherste Weg wäre (62e), um zu einer möglichst idealen Mischung zu gelangen. Er ist aber nicht gangbar. Ähnlich wie im ›Timaios‹ ist es die Ananke, die gegenüber einer solchen Einengung ihr Recht fordert. Würde dies nicht erkannt, ergäbe sich gerade keine in sich stimmige Mischung. Zuerst ist nur wie nebenher von dieser Notwendigkeit die Rede: »Werden wir nicht, wenn nun einige notwendig sind, auch diese mit einmischen müssen?«, fragt Sokrates deshalb (62e). Und Protarchos gibt ihm zur Antwort: »Die notwendigen doch offenbar« (ibid.). Dass das Leben gut sei und das Chaos gebannt bleibe, sei eine Frage der Mischung, an der deshalb alles wirkliche Seiende beteiligt werden muss, auch die Krankheit als eine Erscheinungsform der Natur. Erst im Mischungsvollzug stellt sich das Gutsein ein, das dem je einzelnen Leben eigen ist. In guten Mischungen müssen deshalb Schönheit, Symmetrie und Wahrheit zur Erscheinung kommen – gleichsam abbildhaft, denn diese drei Eigenschaften sind dem Guten selbst eigen. Wie die Mischung in der Sphäre menschlicher abbildhafter Endlichkeit zustande kommt, wird in Worten angedeutet, die in der Sache eng an die Überredung der Ananke im ›Timaios‹ anschließen: Es kommt zu einem Zwiegespräch in der Seele zwischen allen Arten der Lust und der Einsicht (63a ff.), wobei die Einsicht nur jene Lüste zulässt, die eine Affinität zu ihr erkennen lassen (64a), die anderen abweist oder doch zügelt. Nicht zur Kenntnis nehmen kann die menschliche Seele freilich auch solche Arten von Lust nicht. »Nicht von uns, o Protarchos, müssen wir das erfragen, sondern von den Lüsten und Einsichten selbst, indem wir von ihnen gegenseitig dieses zu erkunden suchen« (63a). Ist man bis dahin vorgedrungen, so lassen sich die Mischungsverhältnisse im Einzelnen wie selbstverständlich angeben. Nicht zufällig ist dies der einzige Teil der Untersuchung, den Protarchos eigenständig leisten kann. Das Gute wird in seinen drei Grundformen einzeln auf seine Ähnlichkeit mit Hedoné bzw. Einsicht hin durchgesprochen, und es ergibt sich, dass die Einsicht eine notwendige Ähnlichkeit mit ihnen aufweist. Sie kann ihnen schlechterdings nicht widersprechen (66e), wohingegen bei den Arten von Lust (vgl. 41b– 55c) sich immer wieder Mischungsverhältnisse zwischen Ähnlichkeit und Unähnlichkeit zum Guten zeigen. Wie von selbst kann die Streitfrage nach dem Verhältnis des Guten zu Einsicht und Lust von diesem Punkt aus beantwortet werden: Es bestätigt sich, dass weder Einsicht 616 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

Der ›Philebos‹ als Praktik gelingenden Lebens

noch Lust für sich genommen das Gute sind. »Nachdem sich nun aber ein drittes trefflicheres als jegliches von diesen [nous und hedoné] gezeigt hatte, so zeigte sich doch nun wiederum die Vernunft tausendmal mehr als die Lust dem Wesen dieses siegenden verwandt und anhänglich« (67a). Wie wir wissen, erschöpft sich der Dialog keinesfalls in der Entscheidung der Streitfrage, was die wahre Mischung ihrem Wesen nach sei. Auf einem eigenen Pfad wird hier das Problem des ›Timaios‹, die Frage nach dem Verhältnis von Urbild und Abbild, zu einem Ende geführt, nachdem es bislang hintergründig immer wieder sichtbar geworden war. Denn Mischung heißt nichts weniger als ›Durchmischung‹ der drei Charaktere des Guten mit endlichen menschlichen Vermögen und Zuständen: den Extremen von Lust und Einsicht. Es ist jedoch noch ein weiterer Grundgedanke erforderlich, damit das Werdende und Vergehende der Lust mit dem bleibenden Sein überhaupt in Verbindung gebracht werden kann (vgl. 53c ff.): In der genealogischen Betrachtung zeigt sich die Mischung von Lust und Unlust in einem jähen Umschlag. Deshalb kann sie Proportion und Gesetze aus ihrem Immanenzzusammenhang heraus nicht gewinnen. »Denn eine solche kann man ja gar nicht eine ordentliche Mischung nennen, sondern sie ist jedesmal in Wahrheit nur ein unordentlich zusammengewehtes Wehe für Alle denen sie zukommt« (64e). 163 Sich dem Chaos und der Notwendigkeit auszusetzen und ihr standzuhalten, kann dann nur heißen, zu versuchen, eine unvermischte Lust zu gewinnen, die ihre Form einer Entsprechung zum Guten verdankt. Das zweite, wesentlichere Mischungsverhältnis, jenes von Lust und Einsicht, hat hier seinen Ort. Wir erkennen aber erst am Ende, dass auch ihm eine Aporie eignet; für sich genommen muss es nämlich formlos bleiben. Es kann zwischen Vernunft und Lust keine wechselseitige Mischung geben. Hier ist erneut die Verbindung zum ›Timaios‹ offenkundig: Das Gespräch der Seele mit sich selbst, das zu dieser Einsicht in das Gute gelangen kann, ist zugleich ein innerliches Gespräch mit der Weltseele. Es ist dieses Gespräch, das eine Hierarchie von Gütern (agatha) hervorbringt, deren Rang sich nach ihrer Nähe zum Eidos des Guten selbst bemisst. An erster Stelle stehen Maß und richtiger Zeitpunkt (kairion) 163

Vgl. dazu auch Gadamer, a. a. O., S. 150 und S. 157.

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sowie alles, was sich als Charakter des Guten erweist. An der zweiten Stelle wird das Schöne, Vollendete und Hinlängliche genannt, also das sich selbst Genügende, das jenem Seienden eignet, welches am Guten in reiner Weise Anteil hat (66a–b). An dritter Stelle gehen dann Nous und Phronesis aus der Mischung hervor. Es wird subtil deutlich gemacht, dass wir uns hier in einem Bezirk des Endlichen befinden, der dank der Mischung von der Wahrheit durchgriffen ist. Die Endlichkeit indiziert Sokrates, indem er der Vernunft ihren Ort nicht als Wissender, sondern auf eine Ahnung hin (manteía) zuweist. Es wird jedoch, um der Zweiseitigkeit der Mischung gerecht zu werden, hinzugefügt, dass die Ahnung Wahrheit erfordere. An vierter Stelle folgen jene Abschattungen der Einsicht, die sich nicht an das Eine halten, die Fertigkeiten (technai) und die richtigen Meinungen; schließlich folgen an fünfter Stelle die Arten der Lust. Die drei Charaktere des Guten indes sind ihrerseits nicht weiter herzuleiten. Gadamer hat darauf hingewiesen, 164 dass in sie die vier Gattungen des Seins (vgl. Phil. 23c 1 ff.) eingegangen sind und zugleich eine Verwandlung erfuhren. 165 Das ›apeiron‹ ist dabei nicht mehr eigens genannt. Dies ist nicht verwunderlich, geht es doch um die Relevanz von Mischungsverhältnissen für das gute Leben, die notwendigerweise der Begrenzung bedürfen. 166 Im Blick auf die Veränderungen gegenüber dem dialektischen Anfangsstück sollte davon gesprochen werden, dass im ersten Hinblick aus der dialektischen Denkmethode heraus argumentiert wird, dann aber im Blick auf die Form des Guten ein tieferer Untersuchungsgang angesetzt wird, der sich auf die Ermöglichung auch der Dialektik bezieht. Die Schwierigkeit liegt allerdings darin, dass diese Sphäre im ›Philebos‹ aufgrund seines bescheideneren Untersuchungszieles nicht aufgehellt wird, wie die ›Politeia‹ dies mit der Aufhebung der Hypothesen tut (vgl. Politeia 511b). Deshalb sind die Grundformen des Guten – Schönheit, symmetrisches Verhältnis und Wahrheit – nicht im strengen Sinn auseinander zu halten. Sie greifen ineinander, als, mit Gadamer gesagt,

Gadamer, ibid., S. 157. Vgl. hierzu M. L. Morgan, Plato and Greek Religion, in: R. Kraut (Hg.), The Cambridge Companion to Plato. Cambridge 1992, S. 227 ff. 166 Siehe auch nochmals H. Cherniss, The Relation of the Timaeus to Plato’s Later Dialogues, in: Studies in Plato’s Metaphysics, ed. R. E. Allen. London 1965, S. 339 ff. 164 165

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Der ›Philebos‹ als Praktik gelingenden Lebens

bewusstlose Umschreibungen der Idee des Guten, die sich ähnlich wie die Götternamen aller Festlegung entzieht. 167 Auch in der ›Politeia‹ ist ja bekanntlich nur der Sprössling (ekgonos) der Idee des Guten zur Darstellung zu bringen (vgl. Politeia 508a). Es kann nur in der Ähnlichkeitsrede der drei Gleichnisse benannt werden. Nicht auf diese Unsagbarkeit zielt allerdings die Explikation der Mischungsverhältnisse, sondern darauf, wie sich im Urbild das Abbild zeigt. Besonders prägnant ist dies im Topos von der »Flucht des Guten in das Schöne« ausgesagt: »Jetzt also entflieht uns wieder das Wesen des Guten in die Natur des Schönen. Denn Abgemessenheit und Verhältnismäßigkeit wird uns doch überall offenbar Schönheit und Tugend« (64e). Dies bedeutet zugleich, dass die drei Gestalten des Guten Versuche und Annäherungen sind, es zu umschreiben. Sie sind erforderlich, da »wir [es] nicht in Einer Form auffangen« können (65a). Mit dieser Exposition ist der Dialog vom Wissen um den Wohnort des Guten (vgl. 61b) bis an den Eingang seiner Wohnung gelangt (64c). Weiter zu kommen darf man, zumindest im verfolgten Fragezusammenhang, nicht hoffen. Doch dies ist auch nicht erforderlich, da der Dialog auf die Praktik, das Gute im menschlichen Leben, zielt. 168 Auf den Horizont einer Praktik wird an unserer Schlüsselstelle 64e ganz ausdrücklich hingewiesen, wenn, in einer auch in der ›Politeia‹ mehrfach unmittelbaren Ergänzung, der Schönheit die Tugend (Bestheit) an die Seite gestellt wird. In der Schönheit und in der ›areté‹ zeigt sich gleichermaßen das Gute in jeweiligen Konkretisierungen des guten Lebens. Gadamer hat diesen Zusammenhang in denkbar knapper Form erschlossen: »So zeigt sich die Eingestaltung des Guten als Ausgestaltung des Schönen.« 169 Das ist aus der Mitte des Urbild-Abbild-Verhältnisses heraus formuliert, so wie es sich im ›Philebos‹ darstellt. Der Dialog geht jedoch insofern weiter als die Kosmos-Lehre im ›Timaios‹ : Er fragt nämlich nicht nur, wie sich im Abbild das Urbild darstellt und er lenkt auch die Aufmerksamkeit nicht nur auf die Einsicht, dass die Welt des endlichen, sich am Guten orientierenden Menschen nur Abbild sei. Es ist unstrittig, dass, wenn »Mischungs-

Zum Götternamenproblem recht anregend: M. Janka und Chr. Schäfer (Hg.), Platon als Mythologe. Darmstadt 2002. 168 Dies die Betonung bei Gadamer, a. a. O., S. 150 ff., die gerade den ›Philebos‹ in den Zusammenhang der Frage, wie man leben soll, rückt. 169 Gadamer, Platos dialektische Ethik, ders., Griechische Philosophie I, a. a. O., S. 150. 167

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KOSMOS UND LEBENDIGKEIT

verhältnisse« in Rede stehen, auch danach zu fragen ist. Wie aber der Hinweis auf die entfliehende »Macht des Guten« (dynamis tou agathou) (64e) zeigt, wird am Ende des Dialogs der Akzent umgekehrt darauf gerichtet, wie im Urbild das Abbild zur Erscheinung kommt. Diese Umwendung nötigt dazu, beim Urbild zu verweilen. Ganz im Sinn des ›Timaios‹ wird an einer recht frühen Stelle des Aufrisses des guten Lebens, nachdem die Arten der Lust und die Gegensätzlichkeiten des Wissens zur Sprache gebracht wurden, gesagt: »Wohl. Wenn einer also sagte, dass jetzt, was Vernunft und Lust betrifft (in Bezug auf ihre) Mischung miteinander, uns gleichsam wie Künstlern das woraus oder worin sie etwas arbeiten sollen vorliege, so würde er die Sache ganz richtig bezeichnet haben« (59d f.). Zu mischen heißt, wie Platon wiederholt bemerkt, gerade nicht, Elemente nach einem Plan anzuordnen. Es bedeutet vielmehr, das einigende Band von Grundverhältnissen so zu exponieren, dass das einzelne Element als es selbst bewahrt bleibt und zugleich erst aus der Mischung neu hervorgeht. Als Schlüsselstelle erweist sich der zitierte Passus 64e auch insofern, als er die Frage nach der Physis in eine Entgegensetzung und zugleich Entsprechung zwischen dem Guten und dem Schönen überführt. Der Dynamis des Guten, also seiner Macht und Möglichkeit, wird die ›Physis tou kalou‹, die Natur des Schönen korreliert. Die Mächtigkeit, die sich der Darstellung entzieht, wird sichtbar in einem Schönen, das der Natur und damit dem Maß gerecht wird. Aus diesen in ihrer Prägnanz sicher nicht absichtslos gesetzten Worten wird man entnehmen können, dass sich die Physis und das in sich vollendete, maßhafte Schöne gegenseitig erhellen sollen. Indem neben die Schönheit die Bestheit tritt, erweitert sich dieses Verhältnis noch einmal. Der enge Bezug, den die Tugend, die sich im gelebten Leben zeigt, zur Natur des Seienden aufweist, wird damit als Komplement des inneren Zusammenhangs von Natur und Schönheit erwiesen. Die Stufenfolge der guten Mischungen des Lebens kann dann summierend angegeben werden; von dem guten gemischten Leben kann lediglich ein Umriss gezeichnet werden. Er fordert, nachdem wesentliche Einsichten des Dialogs noch einmal zusammengefasst wurden (59b–59d), eine Schrittfolge zu wählen, die von der größtmöglichen Reinheit sowohl bei der Lust wie auch bei der Erkenntnis ausgeht (60d). Sodann wird die Notwendigkeit konstatiert, auch die unreineren Erkenntnisformen (62a 1 ff.), also die Dimensionen der Doxa mit hineinzumischen. Bei den Lüsten wird hingegen eine sehr viel engere Kriteriologie angelegt. Lediglich die wahren und reinen 620 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

Der ›Philebos‹ als Praktik gelingenden Lebens

Mischungen sind zuzulassen (62e 1 ff.). Gesondert soll jedoch die Wahrheit hinzugefügt werden (64b). Offensichtlich ist nicht die jeweilige intrinsische Wahrheit hinreichend, sondern Wahrheit muss als eigenes Formprinzip beachtet werden, weil sich danach die Güte einer jeweiligen Mischung bestimmt (64b). Neben der Wahrheit werden bezeichnenderweise auch die Schönheit und nochmals gesondert die Verhältnismäßigkeit als Kriterien für die Güte einer Mischung (264b) mit namhaft gemacht. Die eigentliche Hierarchie artikuliert sich dann als eine Güterlehre; auch dies sollte in der weiteren Problemgeschichte vor allem des Mittelalters bis zur Aufgipfelung zum ›Summum bonum‹ eine entscheidende Rolle spielen. Der ›Philebos‹ legt kein Methexis-Modell zugrunde. Er exponiert die Frage nicht so, dass die einzelnen Güter nur Güter sind, weil das eidetisch Gute selbst ihnen innewohnt. Sie stellen vielmehr Ähnlichkeits- und Verwandtschaftsüberlegungen an. Vernunft sei dem Wahren am ähnlichsten, und damit dem Guten ähnlicher als die Lust. Hinzu kommt die noch dem Lehrgedicht des Parmenides nachgebildete Konzeption, wonach Vernunft und Einsicht (phronesis und nous) gleichsam göttlich sind. Sie schlafen nämlich nicht, sondern sind in einer konstanten Gegenwärtigkeit begriffen (65e). Die Lust hingegen kennt die Dunkelheit, sie scheut teilweise das Licht und erregt Beschämung. Deshalb sucht man mit ihr so umzugehen, dass sie nicht ans Tageslicht kommt (66a). Auf der ersten Stufe der Güter (agatha) erscheint dann das Maß und das Abgemessene (metron kai metrion), die richtige Zeit (kairion) und mit ihnen zusammenhängend jene Züge, die aus dem Gesetz der ewigen Natur hervorgehen (1). An zweiter Stelle werden ästhetische Vollkommenheitsformen genannt: das Symmetrische und in diesem Sinn gleichmäßig Schöne (66b). Explizit wird dabei auch das Charakteristikum des ›hikanon‹, des Vollkommenen, genannt, das im Beweisgang platonischer Dialoge eine prominente Rolle spielt: 170 Nur wo der aufsteigende mit dem absteigenden Begründungsgang verbunden ist, kann davon gesprochen werden (2). Erst an dritter Stelle werden die als menschliche Möglichkeiten und Fähigkeiten geltenden Güter, Nous und Phronesis, »nach meiner Ahndung« (manteia) expliziert (66b) (3).

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Vgl. dazu W. Wieland, Platon und die Formen des Wissens, a. a. O., S. 135 ff.

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An vierter Stelle firmieren die Bestandteile der Wissenschaftslehre: Erkenntnisse, Künste, wahre Meinungen (66c) (4). Die Lüste bezeichnen nur den fünften Rang (5). In weiter absteigende Bereiche bewegt sich der ›Philebos‹ nicht; endet doch im sechsten Genus »sein Gesang«. Er bekräftigt diesen Vorrang des guten gemischten Lebens in einer eindrücklichen Schlussparänese. So verhält es sich gegen allen Anschein, auch wenn Menschen und andere Tiere primär der Lust folgen (67b). Dreimal wird die »anfängliche Rede« wieder aufgenommen, die den Ausgangssatz des Philebos, dass die Lust das Gute sei, noch einmal überprüft. Der ›Philebos‹ ist zwar nicht so eindeutig wie der ›Timaios‹ vom Strukturprinzip eines dreifachen Anfangs bestimmt. Doch ist immerhin erkennbar, dass die Frage nach dem guten als einem gemischten Leben zunächst phänomenal exponiert wird (11a ff.), dann über die grundlegende kategoriale Bestimmung des Verhältnisses von Einem und Vielem geführt wird (15d 1, 20b 6 ff.) und schließlich in die Güterlehre mündet, die die Übergänge des Lebendigen zu begreifen sucht.

Praktik als Lebens- und Denkform Ähnlich wie der ›Timaios‹, ist auch der ›Philebos‹ ein sehr mehrstimmiger Dialog. Dies zeigt sich weniger in unterschiedlichen Genera der Darlegung zwischen Mythos, Dichtung und Theorie, als vielmehr, indem wiederholt verschiedene Denkformen und -methoden zusammengerufen werden. »Erinnerung, Erkenntnis, Vernünftigkeit, richtige Vorstellung« (60d) müssen in Eins zusammengefasst werden, um die Annäherung an das gute Leben zu sichern. Besonderes Gewicht kommt dabei Erinnerung und Gedächtnis zu, also Formen der Einsicht, deren Herkunft sich von der Ahnung ableitet (vgl. vor allem 39a ff.). Das Augenmerk gilt insbesondere dem Behaltenkönnen (mneme) von etwas jetzt nicht Gegenwärtigem. Ihr Sinnbild sind die innere Schrift und das innere Bild, die das Gespräch der Seele mit sich und insofern auch den äußerlichen Logos tragen. Von der Mneme wird die Anamnesis unterschieden (34b f.), ein Unterfangen, das Bruchstück bleibt. Denn weder wird die Unterscheidung konsequent durchgeführt, noch wird sie im weiteren Verlauf des Gesprächsganges aufrechterhalten. Wir 622 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

Der ›Philebos‹ als Praktik gelingenden Lebens

entnehmen der platonischen Disposition lediglich, dass der Anamnesis der umfassendere Gehalt zukommen soll. Sie ist Wiedererinnerung an etwas Nicht-Gegenwärtiges, zu dem wir – nach der Lehre des ›Philebos‹ – hindurchdringen können, auch wenn es kein physisches oder erscheinungshaftes Korrelat dazu gibt. Der Erinnerungs- und Gedächtnisbegriff des ›Philebos‹ hat eine dezidiert anthropologische Dimension: Er verdeutlicht den zeitlichen Charakter des Zusammenklangs von Leib und Seele, der paradigmatisch auf Zeitlichkeit und Endlichkeit bezogen ist: jene gegenstrebige Fügung, um die es im Zusammenhang der ›entos praxis‹ geht. Es ist nicht zufällig, dass das Gespräch der Seele mit sich selbst vor allem am Phänomen der Erinnerung fassbar wird, das nur existieren kann, da ihm die Dunkelheit des Vergessens vorausgeht. Damit gehört das Erinnern selbst in den Zusammenhang der Praktik: Sie führt die Ideendialektik auf die menschliche Endlichkeit zurück und ergänzt damit den aufsteigenden dialektischen Weg durch den Abstieg. Auch dies, dass die Natur des guten Lebens auf eine unproportionierte, kranke Natur mit all ihren Auswüchsen und Gefährdungen zurückbezogen ist, könnte man nicht wissen, wenn man sich nur an den Denkweg der Dialektik hielte. Diesen Aspekt trifft durchaus intuitiv Protarchos, wenn er an einer Stelle befindet, für den Menschen wäre es ungenügend, ja lächerlich, ein göttliches Wesen zu sein (62b). Es ist vielleicht gerade die Erinnerung als ›mneme‹ und als ›anamnesis‹, und es ist die Fragestellung des ›Philebos‹ als Ergänzung sowohl zur ›Politeia‹ wie zum ›Timaios‹, die den aristotelischen Einwand entkräften kann, dass eine »allgemeine, seinshafte Idee des Guten« nie zu dem je konkret Tunlichen der Praxis führt, da keine endliche Erfüllung sie wirklich treffen könnte (vgl. Eth. Nic. K 2, 1172b ff). 171

Gadamer, S. 157 scheint am Ende seiner frühen Habilitationsschrift diesen Einwänden noch zuzustimmen. Dies ist wohl dem Umstand geschuldet, dass er seinerzeit noch, in Übereinstimmung mit Heidegger, die Wahrheit Platons gleichsam bei Aristoteles suchte. Wenn er später (Gadamer, Gesammelte Werke Band 6, S. 269 f.), am Ende seiner ›Timaios‹-Interpretation den ›Philebos‹ als ›Praktik‹ interpretiert, hat er sich offensichtlich von dieser Auffassung weitgehend gelöst.

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ACHTES KAPITEL: WIRKUNGSGESCHICHTEN – EINE SKIZZE

Das eingangs zitierte Whitehead’sche Diktum hat zur Kehrseite, dass Philosophie ohne Rückgriff auf das platonische Dialogwerk nicht denkbar ist. Große Umformungen erfuhr das platonische Dialogrhizom schon im Neuplatonismus im Strukturzusammenhang eines Denkens des Einen. Fraglich ist, ob und inwieweit schon die unmittelbare Nachwelt den platonischen Ansatz verstehen konnte. Es zeigt sich, dass nicht nur divergierende Ansichten des platonischen Denkens in den späteren Wahrnehmungen zutage treten: Einmal sind es primär die Mythen, ein anderes Mal ist es das politische Denken in Zustimmung und Abkehr und dann wieder die kategoriale Arbeit an den Begriffen. Oftmals erweisen sich gerade Anti-Platoniker wie Nietzsche als die fruchtbareren Platoniker. Man kann aber davon ausgehen, dass letztlich jedes philosophische Denken, das sich Platon zuwendete, an ihm zur Kenntlichkeit kam – so wie vielleicht an keinem anderen Philosophen. Nur der platonische Text ist Thema dieses Buches. Die Fußnoten zu Platon können es nicht sein. Einige Grundlinien der platonischen Wirkungsgeschichte sind allerdings anzudeuten. 1 Um nur die wichtigsten Zäsuren zu nennen: Die platonische Wirkungsgeschichte spannt keineswegs einen harmonischen Verständigungshorizont auf, in dem die Potentiale der Texte und Probleme vor der Matrix des jeweiligen Zeitgeists entfaltet würden. Der Geist gräbt sich, Hegels Diktum im Epilog seiner ›Geschichte der Philosophie‹ zufolge, wie in einem Maulwurfsgang immer tiefer in die Flächendeckend doxographische Darstellungsversuche finden sich in: Platon-Handbuch, a. a. O., S. 387 ff. und in Erler, Platon, a. a. O., S. 520–550. Hier soll es demgegenüber stärker darum gehen, spezifische und neuralgische Punkte der Nachwirkung Platons sichtbar zu machen.

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Sachverhalte hinein. 2 Er bleibt bei denselben Fragen, nur die Plateaus verschieben sich. Manches wird vergessen, mancher Gedanke unterliegt auch dem Verrat und Vergessenwerdensollen. Hermeneutik des Verdachts und Hermeneutik des Vertrauens sind untrennbar voneinander. Jene »Hermeneutik des Verdachts« ist, auch unter dem Einfluss der Geschichte des 20. Jahrhunderts, vor allem in Frankreich von Jean Bollack und Paul Ricoeur entwickelt worden. Sie konnte sich mit der »Ideologiekritik« verbinden. Doch ohne das Antidotum der »Hermeneutik des Vertrauens« bliebe sie machtlos. Dabei lassen sich, darauf hat vor allem Werner Beierwaltes immer wieder hingewiesen, 3 Antike und neuzeitliche Philosophie nicht einfach wie Bild und Gegenbild fassen; auch systematische Sachklärung und der Rückgang in die Vergangenheit des Denkens verhalten sich nicht so, sondern vielmehr notwendigerweise komplementär. Um die subkutanen platonischen Wirkungen in der Stoa, in der Lehre von der Ataraxie und den in jüngster Zeit wiederbelebten Lebenskünsten der Parrhesia aufzuweisen, wäre eine Einflussgeschichte der antiken Philosophie insgesamt erforderlich. 4 Sie soll hier jedoch außer Acht bleiben. Ciceros Umschrift und Übertragung der platonischen Tektonik in die Fundierung der römischen Staatsphilosophie kann aber zumindest erwähnt werden. 5 Ich habe sie andernorts als ein Leitphänomen der europäischen Exzentrizität und interkulturellen Verfasstheit charakterisiert. 6 Dass die ciceronische ›Lex aeterna‹ und ›Lex divina‹ der platonischen Nomokratie nachgebildet ist und die Verbindung des Imperium Romanum mit dem Kosmos in Ciceros ›Somnium Scipionis‹ die Konstellation des ›Timaios‹ aufnimmt, ist unschwer zu erkennen. Die Matrix ist verändert: Die Ehre (hones-

Hegel, Vorlesungen über die Geschichte, in: Theorie-Werkausgabe Band 20, S. 461. Vgl. W. Beierwaltes, Bild und Gegenbild?, in: ders., Denken des Einen. Studien zur neuplatonischen Philosophie und ihrer Wirkungsgeschichte. Frankfurt/Main 1985, S. 436 ff. 4 Für den Neuplatonismus hat Beierwaltes dies in eingehenden Untersuchungen in der Differenziertheit geleistet, die hier für verschiedene Epochen erforderlich wäre. 5 Vgl. dazu Seubert, Weltphilosophie. Ein Entwurf. Baden-Baden 2016, S. 146 ff., vor allem über die Transfigurationen des griechischen in den lateinischen Denkbereich und damit über die Interkulturalität in der europäischen Philosophie. 6 H. Seubert, Weltphilosophie, a. a. O., S. 98–122. 2 3

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tum) markiert den höchsten Punkt der ciceronischen Philosophie. 7 Die Idee des Guten ist nur sein interpretierender Subtext. Die Pietas und die Vorbildlichkeit historisch herausragende Männer in ›Vita activa‹ und ›Vita contemplativa‹ bedingen immer wieder einen Wettstreit mit den Sokratesdialogen. Nicht für Jünglinge, sondern eben für die Erprobten wird in Ciceros Werk gedacht; die schon von Livius in ihrem Mischverfassungscharakter etablierte ›res publica‹ in ihrer legendarisch-historischen Kontinuität »ab urbe condita« und eben nicht die Ideenpolis der ›Politeia‹ bildet den Bezugspunkt. Daraus folgern manche der arrivierten Gesprächspartner in Ciceros Dialogen, dass die römische Realität der eidetischen überlegen sei. Die Rhetorik des »vir bonus dicendi peritus« nähert sich zwar einzelnen Paradoxien. Sie erreicht aber nicht die Dimension der platonischen Dialektik. Dennoch ist es nicht der Stoizismus, sondern es ist letztlich Platon, auf den Cicero seine beeindruckende Umschrift antiken Denkens gründet. Am eigentlichen Anfang dieser Durchsicht sollen einige Hinweise auf den Neuplatonismus, namentlich auf Plotin und Proklos und ihre spezifische Platon-Aneigungen genannt werden. Die Tektonik der neuplatonischen Denkform kann man, gleichsam avant la lettre, einer Bestimmung des Aristoteles über die platonische Ideenlehre ablesen: »To gar eide ton ti estin aitia tois allois, tois d’eidesi to hen.« – »Denn die Ideen sind Wesensursache des anderen Seienden, das Eine aber ist Wesensursache der Ideen« (Aristoteles, Metaphysik A 6 988a 11). Seinem Selbstverständnis nach wollte neuplatonisches Denken nichts sein als Interpretation der »Libri Platonicorum«. Die platonische Idee, namentlich die ›Idea tou agathou‹ wird aber in dieser Interpretation formal auf eine Henologie hin neu gefasst und radikalisiert, indem sie das Seiende auf seinen einen Grund zurückführt. Das Eins wird zum Denkprinzip. Dass die Idee das Eins wird, bedeutet auch, dass es sich als »überseiend« (hyperousias) manifestiert. Eines ist bereits die Seele. Sie ist aber selbst in der Zeit, dem endlichen Abbild der Ewigkeit aus dem ›Timaios‹. Dies führt die große Zeitabhandlung Plotins in Enneade III, 7 weiter aus. Zwar ist die Zeit das Leben der Seele. Wenn sie aber auf ihren einen Grund gelangen will, so muss sie sich entzeitlichen. Der Geist ist in sich schon Zeit überlegen. In ihm ist aber Vgl. dazu sehr prägnant F. Klingner, Cicero, in: ders., Römische Geisteswelt. Essays zur lateinischen Literatur. Stuttgart 1979, S. 160 ff.

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notwendig Differenz, er ist nicht bruchlos mit den Ideen eins, die er denkt. Vielmehr ergibt sich die Struktur einer Identität in der Differenz. Plotins Grundlehren zeigen den Anschluss an den Platonismus und zugleich die formale und begriffliche Umzeichnung: Das Eins selbst ist ohne innere Relationalität. Die platonische Dialektik ist für Plotin nur eine Einübung in das Heraussehenkönnen des Einen. Dabei zeichnet sich schon eine reduktive Wahrnehmung ab, denn es wird nur die dihairetische Dialektik legitimiert. Die anagogische, zum Aufstieg hinlenkende Kraft der Dialektik sei selbst nur vorläufig, weil das Eins eben aller Bestimmung entzogen ist. 8 Dies ist ein ersichtlicher Unterschied gegenüber Platon. Das Eins ist inneres Ziel jedweder Dialektik, die deshalb in ihm auch zur Ruhe (hesychia) kommt. 9 Die Anagogik setzt in drei Sphären an, von denen aus mittels der Dialektik zum bildlosen, reinen Gedanken des Einen aufgestiegen werden kann. Sie müssen die Faszination durch sinnliche Harmonie oder Schönheitssignaturen in eine Einübung in die wahre geistige Harmonie verwandeln. Im Geist vollzieht sich letztlich der Übergang zum Einen. Einerseits ist der Geist nämlich Unterscheidung, andererseits ist er Intuition. In der metaphorischen Sprache Plotins wirft er sich liebend in das Eins wie einen Abgrund (abyssos) hinein. Dies sind offensichtlich Radikalisierungen der Sinnbildlichkeit vom Eros im ›Symposion‹ : Ekstasis der Seele, die aufgrund der Vereinigung mit dem Einen in einer reinen Intelligibilität verlangt: »Die Seele verlangt [era], solange sie sich in ihrem wesensgemäßen Zustand befindet, nach dem Gott, will mit ihm geeint werden – in einem edlen Verlangen, wie ein junges Mädchen seinen Vater liebt« (VI, 9, 33–35). Dies bedeutet auch den Rückstieg der Seele in sich, die Zielsetzung, sich von aller Vielheit zu lösen. Die Reinigung kann nur das Denken vollziehen. Die Leidenschaften (pathemata) der Seele sind dazu nicht in der Lage. Die dialektische Propädeutik ist also in die Schau des Einen aufzuheben, die Vgl. dazu exemplarisch W. Beierwaltes, Dionysios Areopagites – ein christlicher Proklos?, in: Kobusch und Mojsisch (Hg.), Platon in der abendländischen Geistesgeschichte. Darmstadt 1997, S. 71 ff. Siehe auch J. Halfwassen, Der Aufstieg zum Einen. Untersuchungen zu Platon und Plotin. Stuttgart 1992. 9 Dazu die Beiträge in dem Sammelband W. Beierwaltes (Hg.), Platonismus in der Philosophie des Mittelalters. Darmstadt 1969; siehe auch ders., Denken des Einen, pass. 8

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gleichermaßen als reine erotische Vereinigung mit ihm wie als Rückgang in den Grund der eigenen Seele zu begreifen ist. Die Dialektik ist Teil dieser Reinigung, sie wird geradezu als ontologisches Grundverhältnis im Nous begriffen. Im Nous ist der Gegenstand des Denkens bereits zerlegt. Der Bildlogik kommt im neuplatonischen Denken eine zentrale Bedeutung zu, was mit dem Verständnis des sterblichen Gottes der Welt, als welcher der Kosmos begriffen wird, zusammenhängt. Diesen Akt des Einswerdens nennt der Neuplatonismus ›Henosis‹. ›Henosis‹ bedeutet dabei, in Bildern über alle Bilder hinauszudenken. Damit ist eine Verbindung zum ›Timaios‹ gegeben, wird doch in ihm die Welt selbst als Bild des Ur-Einen aufgefasst. Das Eins ist Ursprung und Quelle von allem Seienden, was zugleich bedeutet, dass es selbst überseiend ist. In ihm ist eingefaltet, was ausgefaltet sein Sein entwickeln kann. Das Verhältnis von Einfaltung (implicatio oder complicatio) zur Ausfaltung (explicatio) bleibt in der mittelalterlichen Mystik maßgeblich. 10 Man muss von einer absoluten, unbedingten Negativität des Einen ausgehen, die sich namentlich darin zeigt, dass es ›apeiron‹ ist, also keine Unterscheidung ihm letztlich eine Grenze gibt. Wenn die Seele ›im Einen‹ ist, ist sie nicht ›in einem Anderen‹. Sie gewinnt durch Verlust ihrer primären Identität ihren eidetischen Charakter, verliert also ihre konkrete Einzelgestalt und kommt zu einer grenzenlosen Identität durch den Weg nach innen. Im Archetypos, dem Urbild, findet sie erst ganz zu ihrem Selbst. Die Dimension der Schau, die auch Platon im Blick auf die Idee des Guten betonte, wird neuplatonisch zugleich Ziel und Ende allen Denkens. Denken ist daher nicht, wie doch zumeist in der Neuzeit und Moderne, als Selbstbegründung, sondern auf seiner höchsten Stufe als ein Sich-dem-Einen-Überlassen zu begreifen. Es zielt auf eine Kontinuation jener intellektualen Schau (syneches tes théas); eine Linie, die sich über den ›Liber de causis‹ bis zu Meister Eckhart hin weiterverfolgen lässt. Einzeln, allein, in einer selbstgewählten Abscheidung (Abgeschiedenheit), einer Einsamkeit, die als solche auch gewählt werden will, kann die Seele zur Schau des Einen eingehen.

Dazu Halfwassen, Der Aufstieg zum Einen, a. a. O., sowie Beierwaltes, Proklos. Grundzüge seiner Metaphysik. Frankfurt/Main 21979.

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Der zweite große Denker des Neuplatonismus, Proklos, unterscheidet sich von Plotins Architektur, indem ihm zufolge Differenzierung und Vermittlung (das ›meson‹, ›mesotes‹ als dynamischer Vermittlungsbegriff, ›metaxy‹) das Eins erst strukturieren: Die Vermittlungen und Hervorgänge des Seienden aus dem Einen präzise herauszuarbeiten wird für Plotin von zentraler Bedeutung. Es geht, gemäß der Vorbemerkung im ›Philebos‹, darum, im Einzelnen den Übergang vom Ausgedehnten zum Unausgedehnten, vom Geteilten zum Einen zu denken. Die Vermittlung im Grundverhältnis zwischen dem Einen und dem Seienden begegnet in der Trias von Verharren (mone) – Hervorgang (proshodos) und Rückkehr (epistrophè). 11 Insofern erweist die Methexislehre Platons wieder ihre zentrale Bedeutung, zugleich wird sie dynamisiert. Zudem sind Proklos’ Denkbewegungen stark theurgisch, mythisch gefasst. Das Eine, Göttliche, ist ›in‹ allem in irgendeiner Weise gegenwärtig. Proklos Diadochos – geboren 412 in Konstantinopel, gestorben 485 in Athen – war auch in unmittelbarem Sinn Erbe Platons: Im Jahr 447 etwa übernimmt er die Leitung der platonischen Akademie. Er löst sie dabei gewissermaßen aus einer Jahrhunderte dauernden stoischen Überlagerung. 12 Allerdings hat gerade Proklos in seiner ›Elementatio theologia‹ das platonische Denken reduktiv rezipiert. Dies zeigt sich vor allem in der negativ-theologischen Vertiefung. Proklos kommentiert den platonischen ›Parmenides‹ so, dass die erste Hypothesis letztlich als Zielund Angelpunkt negativer Theologie erscheint. Werner Beierwaltes, einer der besten Kenner dieses Überlieferungszusammenhangs, hat die Denktypik der beiden Meister des Neuplatonismus pointiert zu Protokoll gegeben. Sie unterscheiden sich vor allem im Sinn der Akzentuierung. Es zeigt sich dabei, dass bei aller begrifflichen und intellektuellen Schärfe Plotin primär meditativ verfährt, Proklos hingegen in erster Linie argumentativ, ohne das Ziel des Philosophierens, den ›mystischen Hafen‹ preiszugeben. 13 Auch ein christlicher Neuplatonismus, das Gefüge des »Plato Christianus«, 14 ist eigener Erinnerung wert. Sinnvoll scheint hier eine BeBeierwaltes, ibid. Zur Entwicklung der Akademie im Einzelnen siehe Platon-Handbuch, a. a. O., S. 387 ff. und S. 394 ff. 13 W. Beierwaltes, Fußnoten zu Plato. Frankfurt/Main 2011, vor allem S. 3–27. 14 Dazu noch immer hilfreich E. von Ivánka, Plato Christianus. Übernahme und Umgestaltung des Platonismus durch die Väter. Einsiedeln 1964. 11 12

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grenzung auf die westliche mittelalterliche Tradition von Augustinus her. Die Ostkirche behielt von ihren Kirchenvätern an und in einer Theologie, die wesentlich in den Gebeten orthodoxer Liturgie verankert war, einen viel unmittelbareren Zugang zu Platon. Die Platonrezeption des Mittelalters ist mit der Aristoteles-Aneignung verschränkt. Man hat, wohl nicht unzutreffend, festgehalten, dass der zentrale Gegenstand des Universalienstreits die Realität oder bloße nominelle Begrifflichkeit der platonischen Ideen betreffe. Wenn man sich die hochmittelalterliche Platonrezeption zu vergegenwärtigen sucht, so ist zunächst evident, dass man in einer unvollständigen lateinischen Übersetzung (Calcidius) Platons ›Timaios‹ studieren konnte, 15 der immer wieder vorgenommen und dessen arkaner Geheimsinn ans Licht gefördert werden sollte. Von diesem Neuplatonismus aus gibt es jedenfalls eine Brücke zu den Meistern von Chartres, gegebenenfalls bis in den Kathedralenbau hinein. 16 Grundsätzlich ist festzuhalten, dass im 12. Jahrhundert der Platonismus eher in den Hintergrund trat. Aristoteles war der ›philosophus‹. So kann man bei Abaelard etwa eine eindeutig antiplatonische Haltung sehen, die aber eher ein Zerrbild bietet. Erst in seiner späteren Zeit im Kloster von Saint Dénis ändert sich diese Haltung; wohl auch, weil er nun in der Lage war, einen Timaios-Codex in der dortigen Bibliothek eingehender in Augenschein zu nehmen. Die platonische Philosophen-›Politeia‹ wird als Ideal des Gemeinwesens und insbesondere der monastischen Lebensform rezipiert; der Blick auf die Neidlosigkeit der Götter hat christliche Prägekraft. Im Blick auf vorchristliche Antizipationen des christlichen Heilsereignisses gewinnt Platon exemplarische, einzigartige Bedeutung. Man spricht von einer nicht-christlichen Vorgestalt christlicher Offenbarung. Es beginnt freilich hier, im 12. Jahrhundert, eine vielfache Neuexegese des christlichen Platon, nach wie vor mit eindeutiger Präferenz des ›Timaios‹. Erwogen wird, ob Platon nach Ägypten gereist Dazu Baltes, Die Weltentstehung des platonischen Timaios nach den antiken Interpreten. Leiden 1976, ders., Der Platonismus in der Antike. Band 5: Die philosophische Lehre des Platonismus. Stuttgart, Bad Cannstatt 1998, ferner ders., Plato’s School, the Academy, in: Hermathena 155 (1993), S. 5 ff. 16 Dies war die These von O. von Simson, Die gotische Kathedrale. Beiträge zu ihrer Entstehung und Bedeutung. Darmstadt 1980. Ihr ist in jüngerer Zeit vermehrt widersprochen worden. Vgl. Chr. Markschies, Gibt es eine ›Theologie der gotischen Kathedrale?‹. Nochmals: Suger von Saint-Denis und Sankt Dionys vom Areopag. Heidelberg 1995. 15

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sein und dort auf den Propheten Jeremia getroffen sein könnte. 17 Auch Augustinus hatte in ›De civitate Dei‹ solche Erwägungen angestellt. 18 Grundzüge der Trinität werden im ›Timaios‹ vorgezeichnet gesehen: Wirkursache: Macht, Formursache: Weisheit, Zielursache: Güte – solche Zuordnungen fügen den ›eikos mythos‹ in ein scholastisches Netz ein. Von ihnen ausgehend ist es zur Trinität nicht mehr weit. Johannes von Salisbury, Thierry von Chartres und andere befassen sich auch mit den Analogien zwischen dem Weltschöpfungsbericht bei Platon und Moses, also im Buch Genesis. 19 Es entwickelt sich hier (man denke an ›De trinitate‹ von Boethius) eine Lehre davon, dass die eidetischen Form des Seienden aus der inneren Formung durch Gott hervorgehe (emanare). Der Grundsatz »anima forma corporis« (»die Seele ist Form des Körpers«) ist zwar ursprünglich aus Aristoteles’ Schrift ›De anima‹ entnommen, sie wird aber nun mit der Ideenlehre Platons verflochten. Von jeder der Formen Gottes fließt, diesem Verständnis nach, das Abbild in seine Geschöpfe. Seine eigene Form ist aber nur Eins. Daher muss man es so verstehen, dass die Wirkungen der Einen Form sich als Prägungen der Dinge der Welt zeigen. Es wird freilich strictu sensu in der aristotelischen Terminologie von ›substantia‹ und ›accidens‹ operiert. Man kann sagen, dass sich im 13. Jahrhundert ein genuin neuer, anderer Durchbruch zur platonischen Philosophie abzeichnete. Entscheidend ist hier die Übersetzung der ›Elementatio‹ des Proklos durch Wilhelm von Moerbeke im Jahr 1268. Nicht das platonische Philosophieren im Dialogwerk, aber immerhin ein genuiner Platonismus werden hier ins Auge gefasst. Eine strenge scientia divina meinte man bei Platon zu finden, die ihre eigenen Bewegungsprinzipien aufweisen könnte: Es entwickelt sich eine tiefdringende Tendenz, Aristoteles in Konkordanz mit Platon zu bringen; zu zeigen, dass beider Denken in Harmonie begriffen ist. Die Konkordanz meint auch, dass Vgl. den Überblicksaufsatz von C. Steel, Das neue Interesse für den Platonismus am Ende des 13. Jahrhunderts, in: Kobusch und Mojsisch (Hg.), Platon in der abendländischen Geistesgeschichte, a. a. O., S. 120 ff. 18 Grundsätzlich zur vermittelten Platon-Rezeption von Augustinus: W. Geerlings, Libri Platonicorum. Die philosophische Bildung Augustins, in: Kobusch, Mojsisch (Hg.), Platon in der abendländischen Geistesgeschichte, a. a. O., S. 60 ff. 19 Siehe zum Hintergrund auch J. Marenbon, Platonismus im 12. Jahrhundert: Alte und neue Zugangsweisen, in: Platon in der abendländischen Geistesgeschichte, a. a. O., S. 101 ff., mit weiterführenden Literaturverweisen. 17

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eine Philosophie nur dann zur Vollendung finden könne, wenn sie gleichermaßen aus Platon und Aristoteles schöpfe. Dies ist etwa die Aussage des Heinrich Bate von Mecheln, der nach allen überlieferten Zeugnissen ein Philosoph von bemerkenswerter begrifflicher Kraft gewesen ist. 20 Es gebe zwischen ihnen keinen wirklichen Widerspruch (realis contrarietas), hält Heinrich von Mecheln fest. Bemerkenswert ist auch, dass er sehr genau zwischen Platon und den Platonikern zu unterscheiden vermag. 21 Aristoteles’ Platonkritik ist bei aller Autorität des Philosophen kein Hinderungsgrund, um Platon selbst zu studieren. Denn nur die »Oberfläche der Ausdrücke« (superficies sermonum) habe Aristoteles in seiner Kritik angezielt und nur sie könne er treffen. Die aristotelische Argumentation sei höherentwickelt, weil er über eine ausgeführte Logik verfüge; eine Differenzanzeige, die sich bis heute immer wieder findet. 22 Doch die Größe Platons bleibt. Dies wird ein halbes Jahrtausend später der philosophische Kreis um Günther Patzig bestätigen: Aristoteles ist, wie in einer WM des Denkens, der beste, Platon der größte. 23 Platons Rede, so Heinrich von Mecheln weiter, sei metaphorisch und bildlich, gerade darin geht sie aber über nur menschliche Wissenschaft hinaus. ›Bewegung‹ der Seele und ihrer ›Teile‹ – solche Unterscheidungen dürfe man nicht wörtlich nehmen, und gerade die aristotelische Kritik sei hier hilfreich. So kommt es auf einer völlig unzureichenden Textkenntnis, die gerade das sokratisch-elenchtische fragende Medium platonischen Philosophierens heranzieht, dieses aber auf sein verborgenes Wesen hin befragt, zu einer Neunaneignung der Ideenlehre Platons. Die Ideenlehre kann und soll nicht mit einer physisch-physikalischen Erklärung konkurrieren. Auch hier ist das metaphysische Sachbewusstsein erstaunlich. 24 Die Formalursache – es wird auch gesagt: die ›causa exemplaris‹ – bleibe die Idee. Dies reicht so weit, dass sinnliche Substanzen nur als Schattenbilder (Idole) der Ideen begriffen werden. Heinrich von Mecheln sieht auch bereits, dass Aristoteles die Ideen als ein ›universale logicum‹, also abstrakt versteht und darum missverstehen muss. Möglich wäre es, dass Ich beziehe mich hier auf Steel, a. a. O., S. 120 ff. Ibid. Vgl. Speculum divinorum et quorundam naturalium, insbesondere I c 29. 22 Vgl. Welsch, Der Philosoph, a. a. O., S. 377 ff. 23 Diese Anekdote verdankt sich einer Vorlesungsstunde von Günther Patzig im Rahmen der Christian Wolff-Vorlesungen im Sommersemester 2002 in Halle. 24 Steel, a. a. O., insbes. S. 130 ff. 20 21

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er nicht Platon selbst, sondern einige Platoniker der späteren Akademie vor Augen hatte. ›Universale‹, ›species‹ und ›idea‹ werden von ihnen gleichgesetzt und eben darin verzeichnet. Die Ideen also sind die primordialen causae essendi, das Wesen der Dinge selbst, und gleichwohl von konkretem Seienden nicht abgelöst. Ihm wohnen sie inne. Die Formalursache (causa formalis) führt eigentlich genuin erst in die metaphysische Erkenntnis, Gott ist prima forma; er enthält in sich die exemplaria der Dinge, so wird weiter gesagt. Die Aneignung des Platonismus über Proklos und den ›Liber de causis‹ führte zu einer Reihe wirkmächtiger Disputationen, unter anderem unter Beteiligung Sigers von Brabant. Allerdings wirkt dies tiefer nach in der Mystik, insbesondere der der Dominikaner: »denn das EINE machet uns saelic« (Meister Eckhart). 25 In der Renaissance finden sich dann wieder völlig veränderte Relationen zwischen platonischem Text und Fußnoten. Sie kulminieren in der Tendenz zu einem »platonischen Philosophieren«, 26 dessen exponiertester Vertreter wohl Marsilio Ficino ist. Es beginnt eine große Welle der lateinischen Übersetzungen von ›Apologie‹, ›Phaidros‹, ›Symposion‹, auswahlweise der ›Politeia‹. In seiner ›Theologia Platonica‹ insistiert Ficino, dass Gott das erste Maß in allem einzelnen Seienden sei. Die Anknüpfung an Gott lässt die Dinge erst ›messen‹, und dies heißt: erkennen. 27 Es sei barbarisch, dies nicht wahrhaben zu wollen. Wahrheit und Wissen sind, so lehrt Ficino mit großer Konsequenz, allein in der Intelligibilität, also der Anmessung an Gott als reinen ›intellectus‹, nicht aus den Sinnen. Die Renaissancephilosophen wenden sich den Figurationen und der Darstellungsseite platonischen Denkens besonders zu. Hinzu kommt, dass die apagogische Bedeutung der Dialektik bei den Renaissancephilosophen deutlich relativiert wird. Die dialektische AufVgl. K. Ruh, Meister Eckhart. Theologe, Prediger, Mystiker. München 21989. Die wiederholte Evokation des »großen Pfaffen Platon« bei Eckhart zeigt die hohe Wertschätzung 26 Dazu E. P. Mahoney, Marsilio Ficino und der Platonismus der Renaissance, in: Kobusch und Mojsisch (Hg.), Platon in der abendländischen Geistesgeschichte, a. a. O. S. 142 ff. Vgl. auch J. Hankins, Plato in the Italian Renaissance, 2 Bde. Leiden 1990 und P. O. Kristeller, Die Philosophie des Marsilio Ficino. Frankfurt/Main 1972. 27 Vgl. die genannten Titel mit Einzelnachweisen. Siehe auch Kristeller, Il pensiero filosofico di Marsilio Ficino. Firenze 21988. 25

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stiegsbewegung bedarf zwingend der Ergänzung im Abstieg. Sie muss zum individuellen Einzelfall gelangen. So ist es bei der ›Theologia Platonica‹ – die einer neuen, vollständigen Übersetzung und Edition bedarf – entscheidend, dass die Konstellation des Parmenides mit seinem Aufstieg zum Einen dem Philebos als Linienführung auf ein ›gemischtes‹ und darin heiteres Leben zugeordnet wird. Ficino spricht mit Enthusiasmus von der Flucht des Arrheton, des unsagbaren Guten in das Schöne, in dem es sich wie selbstverständlich darstellt. Die platonischen Ideen werden auf angeborene Formen und Ideen (ideae innatae) hin ausgelegt, die jeweils im Geist erzeugt werden. Eine vierstufige Ordnung und Aufeinanderfolge im Kosmos wird dabei expliziert, die von Gott über den Geist (mens), die rationale Seele, die messbare Qualität hinunter zur Materie (materia) führt. Die Einsicht in Ideen ist aber nach Ficino so elementar, dass sie, so sagt er, sowohl von ungebildeten Jugendlichen als auch von Bauern wie selbstverständlich in Anspruch genommen wird, wenn sie, mehr oder weniger zufällig, Schönes zu Gesicht bekommen. 28 Die Entsprechung der vereinzelt wahrgenommenen schönen Figur mit dem schlechterdings Schönen sei im Sinn der »Flucht des Guten in das Schöne« so untrüglich, dass die Seele nicht anders kann, als auf den anagogischen Weg gebracht zu werden. Der Begründer des zeitlichen Gesetzes (so wird vom ›Timaios‹ der Weg zurück zur ›Politeia‹ eingeschlagen) muss das ›ewige Gesetz‹ berücksichtigen, um eine gerechte, dem guten Leben gemäße Welt hervorgehen zu lassen. Der göttliche Platon ist vor allem auch als Gesetzgeber (nomothetes) von Interesse. Daher kommt den ›Nomoi‹ herausragende Bedeutung und Aufmerksamkeit zu. Wesentlich ist es, auch im Bewusstsein zu haben, dass die Tendenz auf eine ›concordantia‹ zwischen Platon und Aristoteles gerade in der Renaissance leitend bleibt und weiter differenziert wird. Die Philosophie der Aufklärung, von der Kant bestimmt geblieben war, hatte Platon an einzelnen Stellen, Dialogen und Mythen, nicht aber als Korpus wahrgenommen. Im Zusammenhang der Urgenese der frühidealistischen und frühromantischen spekulativen Bewegung in der Philosophie kommt dann die Neigung auf, sich den

Nähere Belege bei Mahoney, a. a. O., S. 152 ff. Vgl. auch M. J. B. Allen, The Platonism of Marsilio Ficino. A Study of His ›Phaedrus‹-Commentary, its Sources and Genesis. Berkeley 1984.

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ganzen ›deutschen Platon‹ anzueignen, ähnlich wie man auch den ›ganzen Shakespeare‹ erinnert. Das Unterfangen wird gemeinsam von Friedrich Schlegel und Friedrich Schleiermacher in Angriff genommen, von Schleiermacher aber abgeschlossen. Ein Infinitismus, die Leidenschaft für das Unendliche und das Wissen, es nur im Fragment erreichen zu können, entzünden sich gerade an Platon. Inspirierend wirkte auch die Synopsis zwischen der großen Kunst und dem großen Gedanken. Platonische Philosophie ist kein System, sondern ein Organon der Gedankenerzeugung, so wie das Kunstwerk letztlich offen ist. 29 Dazu kommt die Einsicht – die, bei aller sonstigen tiefreichenden Differenz, von Hegel und Schleiermacher ähnlich gesehen wird –, dass das Esoterische und das Exoterische nicht zu trennen sind. Sie bilden einen Zusammenhang. Der ›Timaios‹, den er selbst nicht mehr übersetzen konnte, ebenso wie die ›Nomoi‹, markiert für Schleiermacher den Zielpunkt platonischen Denkens, weil er die Rückbindung der Ideen an die – in Werden und Vergehen – erscheinende Welt namhaft macht. Die Dialektik – hier liegt der gravierendste Unterscheidungspunkt zu Hegel – versteht Schleiermacher als »Spiegel« und damit immer auch als Inversion des Realen, Wirklichen. Sie ist um die Grundrelationen von ›kath’ auto‹ (für sich) und ›pros ti‹ (in Bezug auf Anderes) gebaut. In den ontologischen Kategorien kreist sie um die Grundbegriffe von ›tauton‹ und ›thateron‹. Dies ist trotz gravierender Abweichungen, die man heute gegenüber Schleiermacher festhalten müsste, aktuell – wird von ihm doch der ›Parmenides‹ frühdatiert, weil Schleiermacher fiktionale und relative Chronologie nicht hinreichend unterscheiden kann. Ungeachtet solcher gravierenden Fehlurteile zeigt sich bei Schleiermacher eine tiefreichende, untrügliche Platonkenntnis. Erst der ›eikos mythos‹ gelangt zum eidetischen Sein der bewegten Dinge; in ihm spielt sich die eidetische Ordnung der nicht-eidetischen Welt ab.30 Die platonische Esoterik habe Schleiermacher zu einer Beschaffenheit des Lesers gemacht, so hält ihm die Platoninterpretation der Dazu Kobusch, Die dialogische Philosophie Platons (nach Schlegel, Schleiermacher und Solger), in: Kobusch, Mojsisch (Hg.), Platon in der abendländischen Geistesgeschichte, a. a. O., S. 210 ff., siehe auch H. J. Krämer, Fichte, Schlegel und der Infinitismus in der Platondeutung, in: DVJS 62 (1988), S. 583 ff. 30 Vgl. auch E. Behler, Klassische Ironie, Romantische Ironie, Tragische Ironie. Darmstadt 1972. 29

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ungeschriebenen Lehre vor. 31 Gegen eine solche Diagnose ist grundsätzlich nichts einzuwenden. Zu fragen wäre nur, was das Philosophieren, folgt man seiner platonischen Bestimmung, eigentlich sonst bedeuten sollte. Geselligkeit, Gespräch, das die Gedanken erzeugt: Diese Bestimmungen gehen in den Kernbestand der Philosophie als freier Mitteilung ein. Wo immer man in dieses Sprechen eintritt, da fasst es einen und zieht in seine eigentliche Tiefe hinein. Sokratisches Nichtwissen wird von einem Interpreten wie Schleiermacher auf Platon angewandt. Darauf verweist die Maxime, einen Verfasser nicht besser verstehen zu sollen, als er sich selbst verstanden hat, sondern seine Intention und sein Selbstverstehen als Schlüssel zu gebrauchen. Um seine Versuche, en détail in platonische Denkbewegungen einzutreten, gruppiert sich bei Schleiermacher die Einsicht in das Grundmuster platonischer Philosophie: Dialektik – Ethik – Naturphilosophie. Hans Joachim Krämer meinte Schleiermacher in dieser Gewichtung grundsätzlich widersprechen zu müssen. 32 Dabei verwischt er seinerseits die höchst prekäre Text- und Forschungslage, die Schleiermacher vorfand, und negiert die große Leistung, die dessen PlatonWerk, mit Übersetzung und Kommentierung, gleichwohl darstellt. Dass das Exoterische zugleich das Esoterische ist, zeigt sich freilich nur denen, die vom Buchstaben zum Geist weitergehen und es in Gedanken zu erfassen suchen. Der doxographischen Trägheit erschließt sich dies nicht. Es ist ganz deutlich, dass für Hölderlin, Hegel und Schelling die Rückwendung zu Platon von größter Bedeutung auch für die Auffindung der eigenen Denk- und Dichtungsformen ist. Bei Hölderlin ist der göttliche Platon überdies im Zwischenbereich von Denken und Dichtung angesiedelt. Der frühe Schelling, geprägt durch die dritte kantische Kritik, widmet sich dem ›Timaios‹, vor allem dem »Werden zum Sein« (chora). Er kompiliert ihn aber mit den großen Gattungen des ›Philebos‹. In Schellings später Tektonik von positiver und negativer Philosophie bleibt Platon von größter Bedeutung: Negative Philosophie setzt seinem Urteil nach mit der Herauslösung des philosophischen Logos aus dem Mythos, also bei Heraklit und Parmenides ein, während Platon,

So Krämer, a. a. O. Ibid. Vgl. auch die abwägenderen Urteile von Kobusch, a. a. O. Damit schließt sich gleichsam der Kreis zu den methodischen Überlegungen in der ›Einleitung‹.

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in seiner Orientiertheit auf das Arrheton, das unsagbare Eins, zur positiven Philosophie zurückkehre. 33 Bei Hegel begegnet uns eine grundlegende Systemgliederung, die jener bei Schleiermacher nicht allzu fern zu sein scheint: Dialektik – Philosophie des Geistes – Naturphilosophie. 34 Die Durchführung und der Begründungsanspruch weisen dann aber in diametral entgegengesetzte Richtungen. Die Dialektik sieht Hegel auf den Widerspruch, das negative Herz des Dialektischen, bezogen. »Dieser Dialog ist eigentlich die reine Ideenlehre Platons«: 35 Ausgesprochen sei dies, aber nicht eigentlich ausgeführt, wohingegen Proklos, wie wir wissen, im ›Parmenides‹ »die wahrhafte Enthüllung aller Mysterien des göttlichen Wesens« findet. Immer wieder stellt sich so die Beobachtung ein, dass die Fußnoten zu gänzlich verschiedenen Lesarten des Textes führen oder verführen. Dem ›Timaios‹ kommt aufgrund der Vermittlung auf das naturale Andere der Vernunft eine herausragende Bedeutung zu. Die ›Identität von Identität und Nichtidentität‹ sieht Hegel mit bemerkenswerter Klarsichtiggkeit in diesem angelegt; er betont, der »Syndesmos«, das innere Band der Weltgenesis sei in ihm exponiert. Platon erkannte nach Hegel, »dass Gott ein Schluss ist, der sich mit sich selbst zusammenschließt. Das Höchste ist so in der Platonischen Philosophie enthalten«, 36 auch wenn es durch Jahrhunderte vergessen worden sei. Den Abschlusscharakter des Absoluten hatte auch Proklos schon erkannt. Die Prämisse (prostasis) entspricht der unentfalteten Einheit Gottes, der Beweis (apodeixis) der Selbstentfaltung, die Schlussfolgerung ist Rückkehr der Einheit in sich und ihr Selbstzusammenschluss. Zumindest in seiner Platon-Deutung folgt Hegel den Spuren des Proklos. Von hoher diagnostischer Kraft ist auch die hegelsche Einsicht, dass die ›Politeia‹ Philosophie des Geistes, nämlich des konkreten, sich Dazu Ansätze bei Halfwassen, Idee, Dialektik und Transzendenz. Zur Platondeutung Hegels und Schellings am Beispiel ihrer Deutung des Timaios, in: Platon in der abendländischen Geistesgeschichte, a. a. O., S. 193 ff. 34 Hegel, Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie, Theorie-Werkausgabe, Band 19. Das Platon-Korpus der Hegel’schen Vorlesungen ist immer wieder einzeln nachgedruckt worden. 35 Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie; Theorie-Werkausgabe 19, S. 81. 36 Hegel, Theorie-Werkausgabe, Band 19, a. a. O., S. 91. 33

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zeitigenden und gemeinsamen, bürgerschaftlichen Geistes sei. 37 Dem Wechselverhältnis zwischen großer und kleiner Schrift wendet Hegel alle nötige Sorgfalt zu. Als Hauptgedanken, »der nun Plato’s Republik zum Grunde liegt«, begreift er einen Zug, der als Prinzip griechischer Sittlichkeit überhaupt zu fassen sei: »dass nämlich das Sittliche das Verhältnis des Substantiellen habe«, sodass der einzelne Geist dies Substantielle und Allgemeine zu seinem Zweck haben solle. 38 Doch all jene Anklänge und Relationen können nicht in Vergessenheit geraten lassen, dass die platonische Philosophie selbst und nicht nur ihre neuplatonische Schulgestalt für Hegel formgebend wird: Initiatio, Aufstiegsbewegung, Abarbeitung an Dogmata, die durch den sich begreifenden Begriff übergriffen werden müssen, prägen durchgehend das Antlitz seines sich selbst bestimmenden Begriffs. Bei Schelling wird der Schritt über alle Fixierungen hinaus, das ›Gib alle Hoffnung dahin‹ – dies Wort sei über der platonischen Akademie und über aller Philosophie – an entscheidender Stelle zum Programm. ›Über-sein‹ der Idee des Guten muss man beim Wort nehmen. 39 Schwierig, prekär und zugleich hoch-produktiv ist Nietzsches PlatonVerhältnis. Nietzsche zeigt sich verwundert, wie sehr sein Zarathustra platonisiere, gerade auch in der Inversion der Aufstiegsbewegung: dem Abstieg in die Städte, zu menschlichen Behausungen. 40 Mitunter scheint er dabei übersehen zu haben, dass der Weg in die Höhle zurück essentiell für die Bewegung des Höhlengleichnisses ist. Zugleich lehrt Nietzsche die ›Herausdrehung aus dem Platonismus‹. Platon und den Platonismus sieht er als Erwiderung des Apollon-Dramas, nur zu ihm scheint Nietzsche hinuntergelangt zu sein. Die BedeuIbid., S. 270 ff. Ibid., S. 277. 39 Vgl. Halfwassen, Idee, Dialektik und Transzendenz, a. a. O., S. 193 ff. 40 Auf Einzelbelege muss hier verzichtet werden. Auffällig ist, dass in dem Sammelband Platon in der abendländischen Geistesgeschichte, a. a. O. auf den Anti-Platoniker Nietzsche nicht Bezug genommen wird. Orientierend ist zu konsultieren D. Bremer, Platonisches, Antiplatonisches, in: Nietzsche-Studien 8 (1979), S. 39 ff., ders., Nietzsches Dionysos und Platons Eros, in: Apophoreta. Uvo Hölscher zum 60. Geburtstag. Bonn 1975, S. 21 ff., sowie ders., Die Spannung von Nähe und Ferne in Nietzsches Auseinandersetzung mit Heraklit und Platon, in: M. Riedel (Hg.), ›Jedes Wort ist ein Vorurteil‹. Philologie und Philosophie in Nietzsches Denken. Köln, Weimar, Wien 1999, S. 191 ff. 37 38

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tung der Philosophie als des wahren Dramas war ihm wohlvertraut. Doch er wollte die eigentliche abgründige Tragödie dahinter wieder zur Erkennbarkeit bringen. Ideen sind für Nietzsche Teil einer schwindelnden Krankheit. Der Dialog blickt mitunter noch hinab, hinter die Begriffsdome. 41 Sokrates markiert für Nietzsche bekanntlich den Beginn des untragischen Zeitalters. Für Nietzsches Platonverständnis ist dies nur von bedingter Aussagekraft. Ahnte er doch zugleich, dass Platon, anders als der Sokratiker Xenophon, dem Sokrates wieder seinen Ort im tragischen Gesprächszusammenhang gab; auch wenn Nietzsche die Hoheit der »wahren Tragödie«, nach Platon eben der Philosophie, über das dionysische Gesamtkunstwerk nicht anerkannt haben würde. Als klassischer Philologe hielt der junge Nietzsche eine herausragende Platon-Vorlesung. »Das Werden und das Sein: es ergibt sich die volle Differenz«; diese Aussage zeigt, wie sehr Nietzsche in Formen der Dialektik und der platonischen Evidenz zu denken hatte. Mit dem Platonismus habe das Christentum und damit überhaupt der Ausgriff auf Hinterwelten begonnen, so konstatiert Nietzsche. Obwohl er von der anderen Seite dieses abendländischen Denkens her kommt, weist Nietzsche bemerkenswerte Affinitäten zu Platon auf. Vom Platonismus oder auch Antiplatonismus und beider Verschränkungen im 20. Jahrhundert ist hier nur in einigen groben Grundlinien zu handeln: Es wäre ein großes, weitgreifendes Unterfangen, die Wirkungen und Bedeutsamkeiten platonischen Philosophierens im 20. Jahrhundert nachzuzeichnen. Der späte Neukantianismus, vor allem Paul Natorps, 42 bahnt sich mit Platon einen Weg zurück zum kritischen Idealismus und zielt damit über Kant hinaus auf Fichte. Es ist die voraussetzungslose Grundlegung in der Idee des Guten, in einem ›anhypotheton‹, das alle Voraussetzungen einlöse. Der Grund des Einen ist nach Natorp reine Denksetzung (autos ho logos). 43 Hermann Cohen ging in derselben Zeit den Weg zurück zu den Quellen des Judentums. Die reinen Denksetzungen, die Idee selbst als Hypothesis, kann Diese Grundlinie kann man festhalten, auch wenn die Befunde im Einzelnen komplexer sind. 42 P. Natorp, Platos Ideenlehre. Einführung in den kritischen Idealismus. Leipzig 2 1921, ND Darmstadt 1961. 43 Vgl. dazu H. Holzhey, Platon im Neukantianismus, in: Platon in der abendländischen Geistesgeschichte, a. a. O., S. 226 ff. 41

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zu einem absoluten Idealismus führen. Natorp war sich sehr wohl darüber klar, dass sein Interesse immer auch systematischer Natur war. Er wisse nicht, ob ihm eher »das tiefere Durchdenken der Systemfragen« zum »reineren Verständnis« Platons verholfen habe oder umgekehrt, hat er ausdrücklich vermerkt. 44 Ihm zufolge ist jedenfalls das Innere der Phänomene ideehaft zu begreifen. Emil Lask, tragisch früh gefallener Rickertschüler, punktierte dagegen den noetischen Kosmos ohne Relation auf Erkennbarkeit der Welt und suchte damit dem expliziten Platonismus zu entgehen. Heidegger hat sich in einem eingehenden Kolleg aus dem Wintersemester 1924/25 mit der doppelten hermeneutischen Maxime, vom Helleren ins Dunkle, um das Dunkle aufzuhellen, aber auch die Verborgenheit des vermeintlich Hellen zu zeigen, 45 dem ›Sophistes‹ gewidmet. Von Interesse war für ihn letztlich, auch im Sinn der ›Inscriptio‹ zu ›Sein und Zeit‹, das Eintreten in die ›Gigantomacheia tes ousais‹ aus dem ›Sophistes‹ ; damit verbunden ist die grundlegende Einsicht, dass das Nichts in das Sein eingeht und auf diese Weise denkbar wird. 46 Der Philosophierende kann sich selbst nur im konkreten Vollzug des Philosophierens durchsichtig werden. Dialektik ist, so zeigt Heidegger, »die Aufweisung der Möglichkeiten des Miteinander-Anwesendseins im Seienden, sofern es im lógos erschlossen ist«. 47 Später verlor Heidegger diese Detailliertheit aus dem Blick. Er hat, von Gadamer gelegentlich und sehr zu Recht bedauert, nur noch einen seinsgeschichtlichen Schematismus verfolgt und die Idee als ersten Grundzug einer Gegenwärtigmachung der Seinserfahrung aufgewiesen. 48 In der platonischen Idee werde das immer-Sein, das »aei on«, als das Joch namhaft gemacht, das die frühe Lethe-Erfahrung von der Anfangsgeschichte der Metaphysik abtrennt. Platon Natorp, ibid., S. X f., vgl. Lembeck, Platon in Marburg. Platonrezeption und Philosophiegeschichtsphilosophie bei Cohen und Natorp. Würzburg 1994. 45 Heideggers Sophistes-Vorlesung GA 19, S. 11 u. ö. Dazu O. Pöggeler, Ein Streit um Platon: Heidegger und Gadamer, in: Platon in der abendländischen Geistesgeschichte, a. a. O., S. 241 ff. 46 Dass die ›Sophistes‹-Vorlesung gerade zur Zeit der Begegnung mit Hannah Arendt ausgearbeitet worden ist, ist eine nicht unwichtige biographische Reminiszenz. 47 Heidegger, GA 19, S. 500. 48 So insbesondere in der prominenten, in Freiburger Vorlesungen vorbereiteten Abhandlung: Platons Lehre von der Wahrheit (1931/32, 1940), in: Heidegger, Wegmarken. GA Band 9. Frankfurt/Main 1976, S. 203 ff. 44

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wurde ihm dann doch zur Urszene der Seinsvergessenheit und zu dem Philosophen, an dem sich zeigt, dass die Seinsvergessenheit ein »Geschick« ist. Hans-Georg Gadamer ist, mit einem Heideggerschen Zweitgutachten, 1931 bei Friedländer über den platonischen ›Philebos‹ habilitiert worden. Die Dialektik in ihrer Applikation auf das tunliche, dem Menschen förderliche schöne Leben, der Rückgang der Dialektik in den Dialog als Verstehensvollzug und die »Flucht des Guten in das Schöne« sind die Orientierungspunkte seiner Platoninterpretation. Gadamer sieht die Idee des Guten in ihrer Formalität auf ihre spezifischen Realisierungsbedingungen in concreto verwiesen; ein Zug, den erst die Phronesis-Lehre des Aristoteles ans Licht bringe. 49 Den aristotelischen dianoetischen Tugenden hat er sich noch in späten Jahren zugewandt. 50 Gadamers eigene Platon-Monographie blieb indes ungeschrieben, auch wenn mehrere Bände seiner Gesamtausgabe in diese Richtung deuten. Es gibt eigenständige Auslegungen, Aneignungen, Abarbeitungen am platonischen Philosophieren auch in anderen Richtungen und Tendenzen: in der französischen Philosophie etwa bei Derrida, der die ›Chora‹ als Gegenhalt zur Idee und eigentliches Differenzprinzip stärkt. Auch Bergson oder Whitehead haben je spezifisch das Verhältnis von Idee und Materie in platonischer Folge bewegt. Für die ganz großen Denker bleibt die Wirkungsgeschichte eine uneingeholte Annäherung an Knotenpunkte, Schürzungen ihrer eigenen Denkbewegung. Sie sind allem Abschied voran, als läge er hinter ihnen – mit Rilkes wundervollem Wort. Zum Ende kann eine Sentenz aus Brechts Buch ›Me-Ti‹, dem ›Buch der Wendungen‹, angeführt werden, das sehr nüchtern eine Maxime beschreibt, der man im Platonstudium nicht entgehen kann und die zeigt, dass es gar nicht abgeschlossen werden kann: »Meti sagte: Wenn man Bronze- und Eisenstücke im Schutt findet, fragt man: Was waren das in alter Zeit für Werkzeuge? Wozu dienten sie? Aus den Waffen schließt man auf Kämpfe; aus den Verzierungen auf Handel. Vgl. dazu die Darstellung bei Pöggeler, Ein Streit um Platon, a. a. O. Dazu Aristoteles. Nikomachische Ethik VI. Herausgegeben und eingeleitet von Hans-Georg Gadamer. Frankfurt/Main 1998.

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WIRKUNGSGESCHICHTEN – EINE SKIZZE

Man ersieht Verlegenheiten und Möglichkeiten aller Art. Warum macht man es mit den Gedanken aus alten Zeiten nicht auch so?« 51

Nicht ganz unbedeutend ist schließlich der west-östliche Weltdenker, Sri Aurobindo. 52 Aurobindo zielte auf yogischem Weg unter starkem Bezug auf die menschliche Personalität auf eine Integration aller Stufen bis hin zum Trans- und Supramentalen: einer Evidenz jenseits des denkenden Selbst, die ihn erhellt und begründet. Dabei spielte für ihn der Gedanke der ›Real-Idee‹ eine entscheidende Rolle. Er beschreibt sie als »eine Macht bewusster Kraft, die reales Sein zum Ausdruck bringt, entstanden aus realem Sein und teilhabend an seinem Wesen, wobei es weder ein Kind der Leere ist noch ein Weber von Fiktionen«. 53 Als eine Idee trete die Real-Idee hervor, wie er weiter ausführt, die durch das Bewusstsein ihrer selbst wirke, sich einpräge und durch ein Wissen, das jedem ihrer Impulse einwohne, »stets selbst-gewahr«, sich selbst entwickle. 54 Dieser Gedanke ist sehr nahe der platonischen Ideenverfassung, auch wenn Aurobindo-Exegeten in Verkennung der Kraft platonischen Denkens diese Affinität sogleich reduzieren möchten und ähnlich wie rechthaberische Offenbarungstheologen darauf bestehen, die platonische Idee sei »statisch«. 55 Eine implizit yogische Dimension des platonischen Denkkosmos wird man unschwer erkennen, wenn man beachtet, wie die Engpässe der Aporetik durchlaufen und erst aus ihnen eine Klarheit gewonnen wird, wie die Anamnesis, etwa im ›Theätet‹, erst aus dem Nicht-einnoch-aus-Wissen sich abbildet. In der vernetzten Welt des frühen 21. Jahrhunderts, in der sich Osten und Westen überschneiden, könnte Platon auf diese Weise auch nach Asien kommen und umgekehrt. Die Geschichte seiner Rezeption ist längst nicht abgeschlossen. Es ist zu erwarten, dass weitere Fußnoten zu seinem unendlichen Text geschrieben werden. B. Brecht, Me-ti. Buch der Wendungen. Werke in 20 Bänden. Prosa Band 5. Frankfurt/Main 1966, S. 175. 52 Leider ist Sri Aurobindo, der durchaus ein Denker west-östlicher Zusammenhänge sein kann, philosophisch kaum erschlossen. Vgl. vorläufig die Übersicht W. Huchzemeyer, Sri Aurobindo und die europäische Philosophie. Karlsruhe 2015, S. 31 ff. 53 Huchzemeyer, S. 24, Life Divine I, 138 f. 54 Aurobindo, Life Divine I, 153. 55 So Huchzemeyer, a. a. O., S. 39. Eine Schwierigkeit besteht, wie oft in ähnlichen Fällen, darin, dass die originären Texte und Autoren kaum bekannt sind und dass die yogische Philosophie des Meisters auf Kosten seiner Gesprächspartner profiliert werden soll. 51

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Einige Axiome platonischen Denkens Eine Rekonstruktion und Lesart, die sich auf Platons Denkpfade und die Verflechtung zwischen seinen Dialogen einzulassen versucht, wird nicht umhin können, zu konstatieren, dass ihnen selten die Gerechtigkeit zuteil wurde, die sie verdienen, und dass es keineswegs einfach ist, ihre Komplexität angemessen zu erfassen. Die Schwierigkeiten der Platon-Interpretation waren bereits im ›Vorwort‹ im Einzelnen zu skizzieren. Sie können nun auf ein übergreifendes doppeltes Problem zugespitzt werden: An keiner Stelle entwickelt Platon seine Lehre in einem doxographisch durchgehenden Zusammenhang. Dennoch greift es zu kurz, wenn Friedrich Schlegel nur von einem Philosophieren, einer unendlichen, asymptotischen Annäherung spricht. Der über die einzelnen Inseln und Differenzen hinausgehende Einheitszusammenhang der Idee ist in den verschiedenen Teileinsichten aufzuweisen. Insofern ist Platon für hochmoderne hermeneutische Verfahren der Dekonstruktion und Neukonstitution ebenso prädestiniert wie für eine kohärenztheoretische Rekonstruktion seiner »ungeschriebenen Lehre«; zugänglich ist er ihnen beiden nicht. Er verweist, auch darin für die Potentiale der Philosophie exemplarisch, auf das Spannungsfeld von Weisheit und Wissen. Die vielfachen Analogien, die in seinem Dialogwerk zu Kunst und Religion gezogen wurden, zeigen eine Nachbarschaft philosophischen Denkens, aus dem es sich nur um den Preis von Reduktionen lösen kann. Wolfgang Welsch hat zu Recht bemerkt, dass Aristoteles erstmals die Arbeitsweise der Philosophie, wie sie noch heute exemplarisch gelte, expliziert habe. 1 Es ist die Detailuntersuchung, die UnaufW. Welsch, Der Philosoph. Die Gedankenwelt des Aristoteles. München 2012, vor allem S. 377 ff.

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fälliges auffällig macht, die über Doxographie und Aporetik, über Analyse von Sprache und Logik Fragen durchnimmt und verhandelt. Das Nicht-aus-noch-ein-Wissen wird dabei nicht, wie beim frühen Platon, festgehalten. Es wird selbst verflüssigt und in plausible hypothetische Theoriebildungen überführt. Doch die Philosophie bleibt zugleich mit der umfassenden Seelenbewegung verbunden, in der die Seele aufgrund ihrer Intentionalität das wird, was sie untersucht. 2 Die ›Theoria‹, der höchste Punkt der Noesis, erfasst eine Totalität in einer Art denkender Anschauung wie mit einem Mal. 3 Bei Platon indes werden alle Saiten angeschlagen, deren sich ein umfassendes philosophisches Denken zuzuwenden hat – und dies unabhängig davon, ob es sich die Systemform gibt oder, wie bei Nietzsche, »System in Aphorismen« bleibt; ob es in sauberer disziplinärer Geschiedenheit oder in der Durchdringung der jeweiligen tektonischen Platten operiert. Über die epochale Bedeutung hinausgehend, die im platonischen Denken sich dadurch eröffnet, dass es die Gesamttektonik und die kategorialen Einzelfragen der Philosophie erstmals weitgehend vollständig kartographiert hat, sind hier sieben besonders markante Grundzüge hervorzuheben. 1. Am Anfang und am Ziel steht gleichermaßen die Frage, was Wissen ist. Sie impliziert die Suche nach einem situationsinvariant Wahren, auf das im Fluss der Meinungen und Veränderungen rekurriert werden kann. Schon mit dem Inzitament sokratischen Fragens, was etwas in Wahrheit und Wirklichkeit sei, wird dieser Ankerpunkt berührt. Er bindet die Erkenntnisfrage an die Struktur des Wissens, die nicht nur zweipolig ist, sodass jemand etwas weiß, sondern die dreipolig die Idee als Medium und Voraussetzung dieses Wissens mit in Rede stellt. Im Zentrum platonischen Denkens wird diese Idee in ihrem Transzendenzcharakter und in ihrer zugleich gnoseologischen und ontologischen Dimension erfasst: Sie ist Ankerpunkt des Seins und des Erkennens. Das parmenideische »Dasselbe aber ist Denken und Sein« 4 wird damit Teil der platonischen Idee. Die Frage Zur aristotelischen Seelenlehre, Welsch ibid., S. 173 ff. Siehe auch ders., Aisthesis, pass. 3 Vgl. hier die Strukturen, die Welsch, a. a. O. freilegt, insbesondere ibid., S. 43 ff. und S. 255 ff. 4 Dazu U. Hölscher, Parmenides. Vom Wesen des Seienden. Die Fragmente, herausgegeben, übersetzt und erläutert. Frankfurt/Main 1969. Ferner K. Rieler, Parmenides. Frankfurt/Main 1970 und als Einblick in die heutige Sicht und Forschungslage Chr. 2

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des Wissens macht die Selbstunterscheidung von der Meinung und von Täuschung aller Art nötig. Es ist zugleich eine Selbstunterscheidung des Philosophen von den ihn umgebenden und mit ihm konkurrierenden »Tausendkünstlern«, den Sophisten und Rhetoren. Diese Prinzipienfrage leitet bei Platon auch die Frage an, wie man leben soll und wie eine Polis verfasst sein muss, die nicht die Mittel mit dem letzten Zweck verwechselt. Deshalb führt die Frage nach dem an ihm selbst Wahren und seiner Erkenntnis auch zur Entfaltung einer Kategorienlehre, die zu klären hat, welche Begriffe sich verbinden können und welche nicht. Sie führt außerdem zu einer immanenten Methodologie des »Durchsprechens«, in der es nicht bei dem harten Kontrast zwischen dem Einen und dem Anderen, dem Einen und dem Vielen bleibt, sondern in der die Übergänge zwischen ihnen in Verflechtung und Unterscheidung evoziert werden. Die platonische Dialektik ist dabei aus dem Dialog heraus entwickelt. Sie meidet, wie zu erkennen war, den offenen Widerspruch, die Aufhebung eines Satzes durch einen anderen. Doch im ›Parmenides‹-Dialog, wie immer er zu verstehen sein mag, nähert sie sich dieser Dimension an; es ist deshalb nicht verwunderlich, dass Hegel gerade in ihm den Ansatz jener spekulativen, zu sich selbst kommenden Idee erkennt, die auf ein »Wissen des Wissens« führt. 5 Dass sich Ideen miteinander und ihren Akzidenzien verbinden, dass nur durch die mögliche Verbindung von Sein und Nichts auch Grundphänomene wie die Täuschung möglich sind, stellt zugleich den zeitenthobenen bildhaften Charakter der Idee in Frage, den Platon noch im ›Phaidon‹ festgehalten hatte. Was am Anfang intuitiv, durchaus auch im Medium der Sinnlichkeit in der Gestalt des Sokrates aufleuchtet, von dem zu ahnen ist, dass er der gerechteste Mann sei, kann erst nach dem Durchgang durch die vielgestaltige Landschaft von Begriff und Erfahrung in die Frage nach dem Philosophen als dem wahren Staatsmann überführt werden. Die platonische Dialektik sieht als ihren immanenten Zielpunkt, dass intuitiv und plötzlich, exaiphnes, in der Ideenschau das Ganze aufgeht. Doch das Vermögen zu dieser intellektualen Anschauung muss eingeübt werden, indem sich der Blick an die Überhelle gewöhnt. Fasst man das Ziel nicht nur immanent auf, sondern Rapp, Vorsokratiker. München 1997, S. 101 ff. und Th. Buchheim, Die Vorsokratiker. Ein philosophisches Porträt, a. a. O., S. 102 ff. 5 Hegel, Theorie-Werkausgabe III, S. 49 ff. Platon näherte sich, wie wir weiter oben im Dritten Kapitel sahen, schon im ›Charmides‹ dieser Perspektive an.

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zugleich in der Spannung des politisch-philosophischen Problems, so führt die Zielsetzung über die Ränder der Philosophie und auch über die Grenzen der platonischen Akademie noch hinaus: zur nötigen Rückkehr in die Realitäten des Politischen und zu der Frage nach dem, was im Strom von Werden und Vergehen Stabilität zeigt. 2. Ausgehend von Leo Strauss ist das politisch-philosophische Problem in jüngerer Zeit zu einem Kernbefund der Platon-Forschung erklärt worden. 6 Gegenüber der Stadt muss sich Sokrates ausweisen. Das wesentlichste der Erkenntnis ist ihr selbst ein »Einzelnes« im Weltlauf. Deshalb ist die Wendung zur »menschlichen Weisheit« keinesfalls eine Entschärfung der Konflikte, die bereits Zeitgenossen des Sokrates benannten. 7 Es ist unschwer zu erkennen, dass die Polisgründung in der ›Politeia‹ einen Totalitätsanspruch enthält, der mit den republikanischen Konzepten einer offenen Gesellschaft nicht vereinbar zu sein scheint. 8 Karl Popper hat diesen Zug mit unzulänglichen Mitteln, aber vor den Höllenkreisen des 20. Jahrhunderts nicht ohne Überzeugungskraft herausgearbeitet. Hannah Arendt hingegen hat das Anfangen-Können und den Augenaufschlag politischen Handelns in pluralisierter und demokratisierter Weise gegen dieselben Bande des Terrors gewendet. 9 Ihre Grundphilosophie ist gleichwohl eher dem platonisch-sokratischen Augenaufschlag als der aristotelischen ›politike koinonia‹ verpflichtet. Leo Strauss hat dagegen darauf hingewiesen, dass der Zusammenhang von Gerechtigkeit und Stadt auch in der ›Politeia‹ nicht gelöst werde. Auch sie ende mithin aporetisch. Doch gerade deshalb sei sie realistisch: »Socrates makes clear in the Republic of what character the city would have to be in order to satisfy the highest need of man. By letting us see that the city constructed in accordance with this requirement is not possible, he lets us see the essential limits, the nature of the city«. 10

Strauss deutet also in der Linie von Ciceros ›De republica II 52‹ die ›Politeia‹ im Kern nicht als Statuierung eines idealen Gemeinwesens, Dazu L. Strauss, The City and Man. Chicago and London 1978. Vgl. auch ders., Studies in Platonic Political Philosophy, S. 138. 7 Vgl. Strauss, The City and Man, S. 122 ff. 8 Karl R. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Band I, a. a. O., S. 104 ff. 9 H. Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben. München 61989, S. 164 ff. 10 Strauss, The City and Man, a. a. O., S. 138. 6

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sondern als Erhellung der faktischen Poliswelt und ihrer politischen Angelegenheiten. Platon verfolge nicht die Frage, wie sich Gerechtigkeit an sich selbst, sondern wie sie sich in den Verwicklungen der Politik zeigen kann. Deshalb richtet sich seine Aufmerksamkeit immer wieder auf die Polis in Bewegung. Das Alluvionsgebilde ist, wenn man Strauss’ Kritik folgt, aber keineswegs systematische Synthese. Die Gerechtigkeit in der Seele wird nicht entfaltet, ein weiterer größerer Erörterungsgang (504b und 506d) wird von Platon angekündigt. Ausgeführt wird er nicht; allenfalls könnte man dies in den Spätdialogen eingelöst sehen – dem ›Timaios‹ und ›Philebos‹ mit ihrer Frage nach dem gemischten Leben. Leo Strauss entfaltet eine doppelte Abstraktion in der ›Politeia‹ : Einerseits sehe sie von der Verflechtung mit dem Leib ab, in der sich jedes seelische Geschehen erst zuträgt, und andererseits abstrahiere sie von der Anziehungskraft des Eros. Weder die endliche Natur noch die Antriebskraft des ›Symposion‹ komme zur Sprache. Strauss geht so weit – und vermutlich zu weit –, dass er darin ein Zugeständnis an die Vertreter der Polisöffentlichkeit, an Sophisten und Rhetoren, sieht, die das Politische auf machtbedingte Festlegungen reduzieren. An diesem Punkt konnte Strauss in einem bemerkenswerten Brief Eric Voegelins Auffassung widersprechen, dass sich der platonische Begriff der Philosophie aus den Ordnungsvorstellungen der Polis herleite. 11 Die Philosophie gehe vielmehr aus der schweigenden Zwiesprache der Seele mit sich selbst hervor und gründe so die Polis, gibt Strauss Voegelin zu bedenken. Ob man Strauss’ zugegebenermaßen überspitzter Deutung in allem zustimmt oder nicht, sie verweist auf den Zusammenhang von Natur und Idee, Physis und gutem Ethos. Der Naturbegriff changiert dabei und kann nicht so sehr in Definitionen als vielmehr in den Verflechtungen deutlich werden. Strauss spricht von der ›Natur der Polis‹ und meint damit jene Willkür der Macht, die den Philosophen zum Fremden im Haus der eigenen Stadt werden lässt. Er ist im Sinne des Schiffsgleichnisses Ausgestoßener. Davon sind die Wesensnatur der Seele und der Gerechtigkeit, die sich im eminenten philosophischen

Vgl. E. Voegelin, Alfred Schütz, Leo Strauss und Aron Gurwitsch, Briefwechsel über ›Die neue Wissenschaft der Politik‹, hgg. von Peter J. Opitz. Freiburg/Br., München 1993, S. 27 ff. Dazu auch meinen Aufsatz: Gewalt und Gesetzeskraft. Leo Strauss oder die Wiederkehr eines großen Philologen, in: G. v. Graevenitz (Hg.), Jüdische Intellektualität im 20. Jahrhundert. Sonderheft der DVjs 1999, S. 181 ff.

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Selbstgespräch erschließen lassen, aber unterschieden. Der zentrale Schluss-Satz von Strauss’ ›Politeia‹-Interpretation, dass der platonische Polis-Entwurf wider die Natur sei (kata physin), nimmt sich von daher doppeldeutig aus. Dies ist einmal darin grundgelegt, dass die ›Politeia‹ diese erste Natur ausblendet. Ihren triebhaften Anforderungen ist sie aber dadurch nicht gewachsen. Es bleibt eine tiefe Bedrohung. Obgleich dieser Gedanke einer »Wiederkehr des Verdrängten« eher an moderne Theoreme, wie sie etwa die Psychoanalyse evozierte, denken lässt, ist das vielfach bewegte Problem, wie die ›Polis in Bewegung‹ verfasst sein kann, ein Indiz, dass Strauss’ Vermutung nicht ins Leere geht. Wider die Natur ist die ›Politeia‹ aber auch, da sie die philosophische Natur, die der Natur der Seele und der Gerechtigkeit angemessen wäre, nur im Grundriss, nicht in actu vor Augen führt. Es mag sein, dass Strauss damit der Denkbewegung der ›Politeia‹ zu wenig gerecht wird. Das erste Defizit sieht er indes in den ›Nomoi‹, der Konzentration des Blicks auf das »mögliche Beste«, korrigiert. 12 Auch die ›Nomoi‹ lassen sich freilich in einem nur vordergründigen Sinn verstehen. Dann entwickeln sie ein konventionelles, archaisch-herrscherliches Verständnis der politischen Sphäre. Wenn man von den Gesetzen im Sinn ihrer höchsten Achtung aufgrund göttlicher Urstiftung ausgeht, so ergibt sich eine strukturelle Nähe zur alttestamentarischen und rabbinischen Gesetzesauffassung 13 und ihrer Begründung auf ein göttlich sanktioniertes Gewissen: Athen und Jerusalem. Doch die aporetische Lesart operiert zu sehr mit scharfen Schnitten. Nicht zu verkennen ist, dass die politische Sphäre für Sokrates der Ort war, an dem er seine Gespräche führte, auf dem Markt, inmitten der Stadt, und dass erst Platon die Mauern der Akademie bezieht. Hier wird ein Öffentlichkeitscharakter der Philosophie deutlich, dem gemäß auch diejenigen, denen die tieferen arkanen Gründe nicht zugänglich sind, mit in das Gespräch gezogen werden. Heribert Boeder hat einmal zu Recht als Platons eigentliche Sorge dies beSiehe auch Strauss, The Argument and the Action of Plato’s Laws. Chicago, London 1975. 13 Diese Linien zieht Strauss nur annähernd aus. Vgl. aber ders., Philosophie und Gesetz. Beiträge zum Verständnis Maimunis und seiner Vorläufer (1935), in: Philosophie und Gesetz – Frühe Schriften. Unter Mitwirkung von Wiebke Meier hgg. von H. Meier. Stuttgart 1997, S. 3–125. Siehe auch die anderen Materialien in diesem Band. 12

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nannt, dass das Überzeugen seinerseits darauf befragt werde, ob es auf wirklichem Wissen oder auf Meinung beruhe. 14 Dies bedeute auch, dass der Weg des Überzeugens, den die Polisbürger gehen, die sich der ›richtigen Meinung‹ anvertrauen, vom Philosophen nicht verlassen wird. Hiervon ausgehend lässt sich eine eigene Funktion des Philosophenkönigs-Satzes erkennen: Die Gestalt des Philosophenkönigs ist als Stellvertreter gekennzeichnet, der die »partielle Verdunkelung des Guten an sich« aufbricht 15 und in seiner eigenen Gestalt appelliert, nicht in diesen Verdunkelungen befangen zu bleiben. Die ›Politeia‹ weist aber über sich hinaus. Eine disziplinär abgegrenzte politische Philosophie kann es deshalb nicht geben. 3. Im ›Timaios‹ und ›Philebos‹ wird in jedem Fall jene Naturbedingtheit eingeholt. Zu Recht ist daher formuliert worden: »Die Funktion der ›Utopie‹, die Plato zum allgemeinen Rahmenwerk macht, erhebt auch für die politisch-gesellschaftliche Aufgabe des Menschen keineswegs den Anspruch, die realen Bedingungen und Notwendigkeiten zu verleugnen. Auf die ›Politeia‹ folgt der ›Timaios‹.« 16 Nur die Kenntnis von Kosmologie und Kosmogonie, nur der Schritt von dem Anfang gemäß der Vernunft auf jenen gemäß der Notwendigkeit, und erst die Kenntnis des Guten für das menschliche Leben können zeigen, wie das eine Wahre in Werden und Vergehen manifestiert ist. Dem hat sich Platon nicht entzogen. Er hat vielmehr in der Struktur der Mischungsverhältnisse die Schrittfolge vom Hellen ins Dunkle sehr genau ausbuchstabiert. Obgleich dies mit den gängigen Platon-Bildern und -Klischees wenig zu tun hat und die moderne Nachwelt solche Spuren lieber den Stoikern zuwies, 17 betätigte sich doch gerade Platon in der Sphäre der Politik und der konkreten Lebensformen als Arzt, der eine verlorengegangene Gesundheit wiederherstellt. 18 H. Boeder, Der ›Weg des Überzeugens‹ oder Platons Sorge, in: ders., Das Bauzeug der Geschichte, a. a. O., S. 223 ff. 15 So treffend R. Bubner, Welche Rationalität bekommt der Gesellschaft? Vier Kapitel aus dem Naturrecht. Frankfurt/Main 1996, S. 47. 16 So Gadamer, Idee und Wirklichkeit in Platos ›Timaios‹, in: ders., Griechische Philosophie, Band II, a. a. O., hier S. 270. 17 Pierre Hadot, Philosophie als Lebensform. Geistige Übungen in der Antike. Berlin 1991 sei, pars pro toto, benannt. Auch Michel Foucaults später Ansatz bei der Parrhesia der Stoiker hat einen Weg der Rezeption antiker Philosophie eröffnet, der eher an Platon vorbeiführte. 18 Vom Philosophen bzw. dem wahren Staatsmann als Arzt handelt Platon, wie wir 14

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Ebenso wie der geordnete politische Zustand ist auch die Gesundheit keine Selbstverständlichkeit. Sie muss vielmehr als Verlorenes oder Verborgenes aus dem »Chaos« wiederhergestellt werden. Carl Friedrich von Weizsäcker, der ebenso wie Werner Heisenberg eine besonders tiefe Affinität zum ›Timaios‹ erkennen ließ, betont, dass die Kosmogonie auf unwandelbare, aber in der Zeit sich manifestierende Grundgesetze führt, »die das Gesetz der Wandlung, der möglichen Zustände« des Seienden angeben. 19 Naturdenken ist insofern die zeithafte Konkretisierung der Ontologie und zugleich die Voraussetzung für welthafte Ordnungsvorgaben im politischen Raum. Diese Verflechtung und damit auch die Gesetze der Mischungen fußen im Sinn der Seelenlehre darauf, dass die Seele »in gewisser Weise« schon bei dem sein muss, das sie untersucht. Oder noch mehr: In gewisser Weise ist sie selbst schon dieses Untersuchte. Die Methexis des Seienden an der Idee wird dabei nicht preisgegeben. Nicht zu verkennen ist gerade im Blick auf den biotischen Realismus der Spätdialoge, dass für Platon erst der konkrete Aufweis der Präsenz einer Idee im Einzelding die Voraussetzung der hinreichenden (hikanon) Präzision erfüllte. Man kann hier eine Maxime aus dem ›Parmenides‹-Dialog eingelöst finden, »dass jedes aus Gedanken besteht [einai] und dass sie mithin alle denken [panta noein] oder so dass sie Gedanken sind doch ohne Denken« (132c). Die Frage sei angedeutet, ob die platonische Naturkonzeption in der Neuzeit weitergewirkt hat – in der kantischen Teleologie der Urteilskraft, der Odyssee des Geistes in den Systemen der klassischen deutschen Philosophie oder gar in Nietzsches »Hören auf den Gesammtklang der Welt« und Heideggers Beschwörung der Physis. Arbogast Schmitts These von einem irreversiblen Bruch, 20 die durch die Einsicht in den Verlust einer Teleologie und der »Weisheit der Welt« 21 unterstrichen werden kann, trifft Wesentliches. Die cartesische Spaltung von Ich und Welt scheint dem kosmogonischen Blick des ›eikos mythos‹ nicht zugänglich zu sein. Doch die Fundierung auf ein Ich, das alle Vorstellungen muss begleiten können, hat ihrerseits nach einem Begriff der Welt fragen lassen und nach dem gemeinsamen göttlichen Ursprung von Natur sahen, sowohl in der ›Politeia‹ als auch in den ›Nomoi‹ und im ›Politikos‹. Das Arzt(hiatros-) Sinnbild wird bis zu Nietzsche wirksam bleiben. 19 C. F. von Weizsäcker, Ein Blick auf Platon. Stuttgart 21996, S. 113. 20 A. Schmitt, Die Moderne und Platon. Stuttgart 2003, insbesondere S. 35 ff. 21 Vgl. dazu die magistrale Monographie von R. Brague, Weisheit der Welt. Kosmos und Welterfahrung im westlichen Denken. München 2006.

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und Geist. Als der junge Kant über »das höchste Projekt der Vernunft« nachsann, widersprach er der Auffassung, »dass man die Natur als ein widerwärtiges Subjekt ansieht, welches nur durch eine Art von Zwange, der ihrem freien Betragen Schranken setzt, in dem Gleise der Ordnung und der gemeinschaftlichen Harmonie kann erhalten werden«. 22 Kant zielte bis in sein spätes ›Opus postumum‹ hinein gerade auf den Weltbegriff, jenen »Inbegriff aller Erscheinungen« (A 419, B 447), der auch »Inbegriff aller Gegenstände möglicher Erfahrung« sei. Diese durchgängige Einheit hat ihn nachhaltig als Tektonik des Ganzen der Vernunft beschäftigt. »Ich nenne alle transzendentalen Ideen, sofern sie die absolute Totalität in der Synthesis der Erscheinungen betreffen, Weltbegriffe« (A 407 f., B 434). Die nur sporadische Platon-Kenntnis Kants zugebilligt, ist doch deutlich, wie der Weltbegriff in der Sache mit der Verhältnisbestimmung von Kosmos und All konvergiert: »Wir haben zwei Ausdrücke: Welt und Natur, welche bisweilen ineinander laufen. Das erste bedeutet das mathematische Ganze aller Erscheinungen und die Totalität ihrer Synthesis, im Großen sowohl als im Kleinen, d. i. sowohl in dem Fortschritt derselben durch Zusammensetzung, als durch Teilung. Eben dieselbe Welt wird aber Natur genannt, sofern sie als ein dynamisches Ganzes betrachtet wird, und man nicht auf die Aggregation im Raume oder der Zeit, um sie als eine Größe zu Stande zu bringen, sondern auf die Einheit im Dasein der Erscheinungen siehe« (B 446, A 418).

Im ›Opus postumum‹ hat Kant dann besonders entschieden auf die »Einheit der Philosophie« gezielt, die sich nicht nur als »Kanon der Vernunft« darstellen lassen soll wie in der transzendentalen Methodenlehre. Sie soll vielmehr ein System bilden, das den Zusammenhang von theoretischer und praktischer Vernunft erstmals herstellt. Es ist dieser Zusammenhang, der im Rhizom platonischer Dialoge präsent ist. Die Philosophie ist damit die anspruchsvollste antike Ausformung jenes Hen kai pan, Eins und Alles, das bei Parmenides und Heraklit aufscheint und in der Philosophie um 1800 wieder entdeckt wurde. Im ›Timaios‹ hat Platon sie in eine proportionale Analogie gebracht. »Indem dann diese Mitte das Erste und Letzte geworAA I, S. 364, dazu auch Meyer-Abich, Praktische Naturphilosophie, a. a. O., S. 237 ff. Vgl. zu den naturphilosophischen Prämissen auch K. Gloy, Das Verständnis der Natur. 2 Bände. München 1995 und dieselbe, Einheit und Mannigfaltigkeit, a. a. O., S. 6 ff.

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den, und das Letzte und Erste umgekehrt beide zu Mittleren: so erfolgt, dass alles nach der Notwendigkeit das Selbe geworden, so wird alles Eins sein« (hen panta einai) (Timaios 31c 1 ff.). Nicht nur dieser Gedanke ist in späteren Weltbegriffen der Philosophie bewahrt worden, sondern auch sein letztlich theologisch-mythischer Ursprung. Wie Hegel in der Folge der eleusinischen Mysterienreligionen festhält, schulden wir den philosophischen Logos einer erhabenen Gottheit, »die alles ist, was ist, was war und was sein wird«. 23 Gerade auch die Einheit und der Zusammenhalt verschränkter Zeit und damit die »Gabe des Ganzen« sind also dieser Gottheit zuzuweisen. 4. Unverkennbar hat Platon am Anfang, in der eidetischen Mitte und an den Zielpunkten der Philosophie den Zusammenhang der Erkenntnis, des Ganzen und der Frage, wie man leben soll, miteinander verbunden. Sie ist, wie der zweite Teil des ›Timaios‹ zeigt, der Notwendigkeit (ananke) aufzuprägen. Ohne jene erste Naturwüchsigkeit der Bedürfnisnatur wird sich allerdings das eidetisch Gute, die wahre Natur, auch nicht gewinnen lassen. Die hohe, bei allen Begründungsdifferenzen unmittelbare Evidenz kann ein Diktum Adornos liefern, das umso schwerer wiegt, als er – anders als Walter Benjamin – keineswegs Platoniker gewesen ist: »Nun ist dieses Entragende, dieses kleine bisschen an unserer Natur, was nicht Natur ist – im Gegensatz zu der Verblendung, die die Kategorie der Naturbefangenheit schlechthin ist – eigentlich eins mit der Selbstbesinnung. Wir sind eigentlich in dem Augenblick nicht mehr ein Stück der Natur, in dem wir merken, in dem wir erkennen, dass wir ein Stück Natur sind«. 24

Kant seinerseits hat im Blick auf die Ethik emphatisch von »Gesetzen der Freiheit« gesprochen, die objektiv seien und sagen würden, was geschehen soll, »ob es gleich vielleicht nie geschieht«, und die sich von Naturgesetzen unterschieden, die benennen, was geschieht (B 831, A 803). Hier zeigt sich, philosophiehistorischen Antithesen durchaus gemäß, offensichtlich jener Hiat zwischen Sein und Sollen, den Hegel als Defizit der kantischen autonomen Ethik namhaft machte. Siehe dazu auch M. Riedel, Dialektik des Logos? Hegels Zugang zum ›ältesten Alten‹ der Philosophie, in: ders. (Hg.), Hegel und die antike Dialektik. Frankfurt/Main 1990, S. 13 ff. 24 Adorno, Probleme der Moralphilosophie. Nachgelassene Schriften, Abteilung IV. Vorlesungen, hgg. von Thomas Schröder. Frankfurt/Main 1996, S. 154. 23

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Doch die kosmomorphe Struktur reicht weiter. In der platonischen Philosophie macht sich bei der Orientierung des guten Lebens das Göttliche geltend. Es scheint im Denken auf und gibt ihm, in Fortsetzung der frühgriechischen Philosophie, sein Maß. Ein leiser Widerhall dieser Maßgabe findet sich bei Kant in der Tat. Ungeachtet dessen, dass die drei Fragen, die »alles Interesse der Vernunft (das spekulative sowohl als das praktische) in sich vereinigen: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?« (B 833 f., A 805 f.) lediglich regulativ und in praktischer Hinsicht zur Geltung gebracht werden sollen, findet sich der Zusatz, dass »ihre entferntere Absicht« darin liege, zu zeigen, »was zu tun sei, wenn der Wille frei, wenn ein Gott und eine künftige Welt ist« (B 829 f., A 801 f.). Diese Kondition weist komplementär und zugleich kontrapunktisch zur Rede vom nur regulativen, nicht aber produktiven oder begründenden Charakter des letzten Zwecks des reinen Vernunftgebrauchs darauf hin, dass eine Präsenz des Gottes und seiner Welt sein muss, zumindest im Gedanken, wenn denn die ethisch vernünftige Weltorientierung sein soll. Dieser Gedanke ist im Kanon der kantischen Moraltheologie verbunden mit der Ausklammerung der Frage nach der Gesamtheit des Wissens, der tatsächlich nur ›spekulatives‹, nicht aber ›praktisches‹ Interesse zukommt (B 833 f., A 805 f.). Von Gott und der intelligiblen Welt, auf die wir uns also zum Zweck eines freien, sittlichen Verhaltens beziehen müssen, können wir nicht wissen, so wie man von Gegenständen weiß. Kant unterstreicht dies: »Wir haben, wie ich mir schmeichele, alle möglichen Beantwortungen derselben [sc. der Frage: ›Was kann ich wissen?‹] erschöpft, und endlich diejenige gefunden, mit welcher sich die Vernunft zwar befriedigen muss, und, wenn sie nicht aufs Praktische sieht, auch Ursache hat, zufrieden zu sein« (ibid.).

Nur in einem postulatorischen Ausgriff kann deshalb im Sinn des Kritischen Denkens der Weltbegriff der Philosophie zum Abschluss kommen. Seine eigene Fragebewegung, bis in das ›Opus postumum‹ hinein, wollte sich damit aber nicht zufrieden geben – und die auf ihn folgenden Systeme erst recht nicht. Gerade hier zeigt sich ein dauerhafter platonischer Impuls. 5. Platon hat die Philosophie, von seiner Sokrates-Gestalt her, als eine Haltung und als eine Lebensform ausgewiesen. Dass er einen Bios, eben eine Lebensform hat, unterscheidet den Sokrates von den Sophisten und Tausendkünstlern. Dabei erweist sich das philosophi653 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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sche Inzitament zunächst als Bruch mit der Meinung, der Doxa: Der Bruch (chorismos) zwischen Idee und den seienden Dingen verlangt eine Umwendung (periagoge oder metabole) der Seele auf die Idee als Kern der Wirklichkeit. Dies eben wird im Höhlengleichnis, der vermutlich populärsten Mitteilung platonischer Philosophie, bild- und gleichnishaft vor Augen geführt. So sehr Platon die propädeutischen Fähigkeiten, die in der Lehre von den reinen Proportionen in Mathematik und Musik gipfeln, entwickelt, muss auch ihnen gegenüber eine Grenzlinie gezogen werden. Sie führen nicht an den Anfang. Der Philosoph muss am Ende die vorbereitenden Wissensformen (533d) verlassen und die propädeutischen Brücken hinter sich abbrechen. Sobald der Anfang selbst aufgesucht wird, müssen die vorausgehenden hypothetischen Bestimmungen »aufgehoben« werden. »Nun aber, sprach ich, geht die dialektische Methode allein auf diese Art alle Voraussetzungen aufhebend, gerade zum Anfang selbst, damit dieser fest werde« (533c–d). Alle vorbereitende Einzelerkenntnis kreist hingegen nur um eine unbestimmte Mitte. Anfang und Ende erschließen sich ihr nicht. Es kann zwar eine Vorbereitung auf dieses genuin eidetische Denken geben. Doch es selbst setzt unmittelbar ein und hat mit den ihm vorausgehenden Prämissen methodisch nichts zu tun. Die Umwendung (metabole, periagoge), die die ganze Seele erfährt, wenn sie zur Philosophie übergeht, führt zugleich im Sinne der Anamnesislehre auf jenes Vorwissen (proeidenai) zurück, das in die Seele jedes Menschen eingepflanzt ist. Im ›Menon‹ ist dieser Sachverhalt prägnant benannt: »Immer schon ist uns die Wahrheit des Seienden in der Seele« (aei he aletheian hemin ton onton estin en te psyche) (Menon 86b). Auf die vorgeburtliche Herkunft dieses Wissens, die Platon auch mythologisch evozierte, ist etwa im ›Phaidros‹ verwiesen: »Jede Seele eines Menschen hat ihrem Wesen nach immer schon geschaut das Seiende« (Phaidros 249e). Das bezeichnete Wissen ist nicht ein spezifisches propositionales Wissen. Es ist vielmehr die Einsicht in die menschlichen Dinge selbst, in die ›anthropine sophia‹, und damit ist es ein Mitwissen (synoida). Eben dieses Wissen, das seine Zielsetzung auch im Rückweg in die Höhle, in den menschlichen Dingen, findet, ist zugleich mit dem den Anfang festmachenden Meta-Wissen identifiziert. Im ›Charmides‹ ist es deshalb als ›episteme epistemes‹ bezeichnet. Es muss deshalb nicht notwendigerweise leer bleiben; doch verweist es auf die 654 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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Reichweite der Seele selbst und muss durch ein Ich-sagen bezeugt sein. In die Dimension dieses Wissens führt Platons Sokrates allerdings erst über die Aporetik des Nicht-Wissens, über jenen Punkt, an dem die Anamnesis in eine Aporetik geführt wird. Das Wissen des Nicht-Wissens bedeutet mithin zunächst eine Lähmung (Menon 80a). Indem Sokrates sie bewirkt, konnte er erst als »Zitterrochen« wahrgenommen werden. Die Anamnesis wird dabei im Sinn einer Ähnlichkeit begreifbar. Erkennen bedeutet, sich in dem Vergleich zwischen fassbarem Abbild und unfassbarem Urbild zu positionieren. Damit nimmt die Seele vergleichend und differenzierend auf die Abbildlichkeit ihrer selbst und der Welt Bezug und erschließt sich zugleich das Urbild, von dem her überhaupt nur von einem Abbild die Rede sein kann. Diese Dimension kommt gerade in den Spätdialogen, die dem gemischten Leben gelten, zu Wort: im ›Timaios‹ etwa und in den ›Nomoi‹. Dieser oftmals übersehende Zug platonischen Denkens bedeutet, dass sich die Seele eines Urbildes innewerden kann, das nur im Abbild zur Erscheinung kommt. Georg Picht hat diese Figuration zutreffend auf das »Wissen des Nicht-Wissens« bezogen. Es bezeichne jene ähnliche, abbildhafte Mitte, in der sich ein »Immer-schon-gewusst-Haben mit einem Immer-schon-vergessen-Haben begegnet«. 25 Wissen bedeutet dabei, sich durch die Aporetik hindurch seines Vergessens inne zu sein und über es hinauszudrängen. Es bildet sich damit als Mitte zwischen einem vollständigen Wissen, das der Philosophie entbehren könnte, und einem ebenso vollständigen Nichtwissen, das auch nicht auf sie angewiesen wäre. 26 Platon zeigt also, wohl als erster Denker, dass die Bedingung der Philosophie mit den Grenzen des Wissens aufs engste verbunden ist. 6. Platonische Philosophie ist mehrstimmig, auch wenn sie von der Einheit spricht. Die gestischen und affekthaften Resonanzen ergänzen, flankieren und vertiefen, wie im Einzelnen zu zeigen war, die Argumentation. Deshalb hängt die Wahrheit eines Gedankens und Sachverhaltes auch eng mit seiner Bezeugung zusammen. Der An-

G. Picht, Wissen des Nichtwissens und Anamnesis. Der Übergang von Sokrates zu Platon, in: ders., Wahrheit, Vernunft, Verantwortung. Stuttgart 1969, S. 87 ff., hier S. 88. 26 Vgl. dazu W. Schrader, Propädeutik der Philosophie – ›Vorhof‹ dieser Wissenschaft?, in: Perspektiven der Philosophie 19 (1993), hier S. 130. 25

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fang, die ti estin-Frage, vertieft sich zum Prinzip, das in Mitte und Zentrum jener philosophischen Bewegung entfaltet wird. Besonders eindrücklich zeigt sich dies an der höchsten Idee, der Idee des Guten, als ›epekeina tes ousias‹. Doch damit weist der philosophische Logos, wenn es um sein Ziel und Ende geht, zugleich über sich hinaus. Alle platonischen Dialoge, in besonders eindrücklicher Weise die späten Gespräche, die an die Grenzen der Dialektik führen, geben zu verstehen, dass der philosophische Logos, wie genau und abwägend er auch geführt werde, nicht Herr eines angemessenen Verständnisses seiner selbst sein kann. Denn wodurch er Wahrheit enthüllen kann, dadurch kann er sie auch wieder zum Verschwinden bringen. Im Logos verschränken sich deshalb Sein und Nichtsein, Wahrheit und Unwahrheit, was freilich erst die Spätdialoge ›Sophistes‹ und ›Parmenides‹ zeigen. Es ist ebenfalls nicht von ungefähr, dass sich damit eine Kontrapunktik zwischen ernstem Spiel und spielendem Ernst einstellt. Dies ist nicht zuletzt die Grundlage dafür, dass der platonische Sokrates eine Dichtkunst nahelegen kann, die gleichermaßen tragisch und komisch ist: die berühmten Tragödien, die lachen machen und die zum Weinen sind. 27 7. Platons Denken setzt die Herauslösung aus dem Mythos und den archaischen Verständigungsformen bereits voraus. Es setzt sich ja mit der Sophistik als wort- und begründungsmächtiger Aufklärungsbewegung der Antike auseinander. Dennoch sind bei Platon Tragödie, Kultus, Einweihung noch als Gegenüber der Philosophie präsent. Leo Strauss sprach davon, dass sich die platonische Philosophie noch unter ein Gesetz stelle. Eine solche vorausgehende ›sophia‹, wie immer man sich von ihr absetzen kann, kennt die neuzeitliche Philosophie nicht mehr als ihr Gegenüber. Was vordergründig als ein Atavismus erscheinen könnte, erweist sich im interkulturellen Verständnis geradezu als Indiz eines Zusammenhangs der freien Denkbewegung und der göttlichen Setzungen, die in der jüdischen und arabischen und den fernöstlichen Kulturen niemals ganz verlorengegangen sind, in der westlichen Welt aber an Relevanz und Sichtbarkeit einbüßten. Der platonische Mythos ist zumindest eine Katharsis überlieferter poetischer und kultischer Mythen. Er wiederholt keineswegs einfach die Konvention. Doch die Philosophie weiß um ihre Herkunft: So die Aufnahme eines vordergründig Shakespeare’schen, indirekt platonischen Topos in Ingeborg Bachmanns großem Gedicht ›Böhmen liegt am Meer‹, in: dieselbe, Werke Band 1. Gedichte, Hörspiele, Libretti, Übersetzungen. München 1978, S. 167 f.

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Besonders deutlich zeigen dies die Götterlehre und das philosophische Gebet in den platonischen ›Nomoi‹. Dabei hat der Mythos die besondere Fähigkeit, in das Arrheton, das im gedanklichen Argument allein nicht-Sagbare, doch auszusagen. So ergibt sich, dass der frei Philosophierende, wo er auf das Wissen des Nichtwissens trifft, darin zugleich auf das Göttliche stößt. Am Kosmos-Begriff zeigt sich dies wieder besonders klar: Ist doch die Rede vom ›Kosmos‹ dort, wo sie das erste Mal prägnant gebraucht wird, in den ›Katharmoi‹ des Empedokles, als Bestimmung des Ortes verstanden, an dem sich das Göttliche als noos (nous), als Ganzer, doch an verschiedenen Orten zeigt. Offensichtlich ist damit eine Grundfrage platonischen Philosophierens angerissen. Wie das Eins ungeteilt an verschiedenen Punkten des Vielen sichtbar wird, erweist sich etwa im ›Parmenides‹ als Grundproblem der Dialektik, dessen Reichweite der junge Sokrates zunächst nicht erfasst. Es erweist sich auch als Grundfrage der ›Politeia‹, wie die verbindende, die Polis durchdringende Idee in dem Ganzen sichtbar wird. Bei aller vordergründigen Dichterkritik der ›Politeia‹ kommt damit der musischen, ähnlich wie der religiösen Dimension eine ungewöhnliche Präsenz zu. ›Ethos‹ oder ›Nomos‹ bezeichnen auch musikalische Ordnungen. Eben deshalb kann die Paideia von so grundlegender Bedeutung für die Erkenntnis sein.

Die Gegenwärtigkeit Platons Schon die durchgehende, wenn auch gebrochene Rezeptionsgeschichte zeigt, dass Platon und die philosophischen Fragen, die sich heute wieder und unter Umständen auch vermehrt stellen, sich nicht einfach wie Bild und Gegenbild zueinander verhalten. Gewiss bleibt eine unmittelbare Aktualisierung versagt. Die Alteritäten sind allein durch den Zeitabstand und das auf den höchsten Punkt der Ideation zielende platonische Denken beträchtlich. Die gängigen, wenig kenntnisreichen Reden von einem Platonismus im Sinn einer starren Zwei-Welten-Konzeption, die überdies noch von einem wenig wünschenswerten politischen Elitismus flankiert wird, zeigen dies hinreichend an. Unterhalb dieser antiplatonischen Attitüden, eben dort, wo die platonische Denkbewegung sichtbar wird, zeichnet sich ab, dass platonisches Philosophieren die Tiefengrammatik einer auf Begründung und Konkretion zielenden Metaphysik selbst bezeichnet. Davon 657 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

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geben, im Ganzen, die Systeme oder Systembemühungen der klassischen deutschen Philosophie oder im Detail die Freilegungen eines Eigenrechts des Gedankens in seiner Geltung gegenüber der Erforschung seiner Genesis bei Frege oder Husserl Zeugnis. Diese platonische Tiefengrammatik ist diesseits spezifischer Auffassungen, Begründungs- und Strukturformen angesetzt. Sie verbindet sich aber eng mit einem Weltbegriff einer nicht-defaitistischen Philosophie, die ihren Ansatzpunkt nicht im Common sense sucht und gerade darum in die Welt hineinwirkt. 28 Auch Antiplatoniker sind von diesem strukturellen Platonismus nicht frei. Nicht zufällig ist daher Nietzsches verwunderte Feststellung, er staune, wie sehr sein Zarathustra platonisiere. Mithin reicht der platonische Text so weit, wie die Fußnoten einer Philosophie reichen, die »Meta ta physika« geht. Kaum überzeugend wird jene komplementäre Gegenwärtigkeit Platons in Imitationen einer Henologie geleistet werden – wohl dagegen in einem komplex verfassten systematischen Denken, das seiner Zeit Rechnung trägt und damit die platonische Tiefengrammatik weiter auslotet, das nach dem bleibend Wahren fragt und um sein Gesetz weiß. Eben auf diese Verflechtung einer jeden systematischen Philosophie, die Lebens- und Begründungsfragen, Metaphysik und das Ethos des gelebten Lebens miteinander verbindet, mit platonischem Denken und dessen paradigmatische Rolle für einen unreduzierten Philosophiebegriff verwies die vorliegende Gesamtdarstellung. Darin besteht ihr Proprium: Sie unternahm es, die platonische Textur von der Patina herkömmlicher Begriffe des ›Platonismus‹ oder ›Antiplatonismus‹ zu befreien und den genuinen Richtungssinn der platonischen dialogischen Wissenschaft freizulegen. Dabei zeigte sie die bleibende Distanz des vergangenen platonischen Denkens und zugleich dessen bleibend andauernde Präsenz. Dass diese Verbindung möglich ist, hat, wie gleichfalls zu zeigen war, mit der Struktur der Philosophie Platons zu tun: Platonische Denkform richtet sich auf das Eine Gute, sie ist aber Henologische Studien, wie E. A. Wyller mit großer Wirksamkeit deutlich gemacht hat, und Rekonstruktionen eines ›Denkens des Einen‹ sind deshalb indirekt durchaus von großer Bedeutung für einen solchen systematischen Ansatz. Er wird aber umso stärker sein, je weniger er epigonal ›platonisiert‹. Eine Skizze hoffe ich in den nächsten Jahren vorlegen zu können.

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keineswegs einstimmig, sondern vielstimmig. Sie zielt auf die situationsinvariante eine Wahrheit und Wirklichkeit und nimmt doch verschiedene, genealogisch zu unterscheidende, Anläufe von den aporetischen Frühdialogen über die ›Politeia‹, die dialektischen Spätdialoge bis zum großen Narrativ der ›Nomoi‹. Platon insinuiert den Aufstieg zum Einen, wovon her sich das different Vielfache artikuliert, und weist zugleich nach, dass die gesamte Erkenntnis nicht nur des Aufstiegs, sondern auch des komplementären Abstiegs bedarf. Erst dann kann sie »hikanon« (ausreichend) genannt werden. Der Teufel und Gott stecken, wie das Sprichwort will, im Detail. Deshalb wurde der Versuch unternommen, den übergreifenden Blick an den einzelnen Dialogen, ihren Argumenten und Problematisierungen zu bewähren. Nicht im Allgemeinen und von ungefähr, nicht von amorphen Traditionslinien her und keineswegs im Sinn einer Aktualisierung, die das Fremde tilgt, sondern im Licht der tatsächlich geführten Argumente und der vielfachen Erörterungen zeigt sich die Bedeutung des Denkens Platons, das deshalb für vielfache Richtungen der späteren philosophischen Wirkungs- und Denkgeschichte fruchtbar gemacht werden kann. Die Darstellung verfuhr dabei nicht doxographisch und sie verfolgte auch keineswegs ein nur historisches Interesse. Vielmehr wählte sie den Weg einer Konfrontation der gegenwärtigen Moderne und ihrer Denkgewohnheiten mit Platon, einer ›querelle des anciens et des modernes‹, in der gerade die andere, die nicht-moderne Seite recht haben kann oder zumindest weiterhin zu denken gibt, auch wenn der moderne Blick mancherorts zu anderen Lösungen und Differenzierungen kommen mag. Abstand und Aktualität halten sich die Waage. Dies hat wesentlich mit dem unverlierbaren platonischen Erbe zu tun, in dem Lebensfragen zugleich Erkenntnisfragen sind – in voller Differenzierung und ohne dass die eine oder die andere Seite dabei weniger bedeutsam würde. Die Reise in den platonischen Kosmos führt deshalb eine philosophische Selbstbestimmung und Selbstbesinnung immer auch auf den Kern ihrer selbst. Wie schon Sokrates, jedenfalls der platonische lehrt, unterzieht Philosophie unser Leben einem strengen begrifflichen Exerzitium, führt es aber eben dadurch zu seiner genuinen konkreten Würde und Lebendigkeit.

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Personenregister

Ackeren, M. van 486 Adkins, A. W. H. 349 Adorno, Th. W. 496, 652 Agathon 87 Aischylos 113, 253 Albert, K. 14 Alkibiades 54, 87, 103 ff., 121, 162 ff. Allen, R. E. 428, 634 Alt, K. 515 Anakreon 142 Anaxagoras 94, 125, 145, 379, 493 Anaximander 343 Angehrn, E. 252, 271 Annas, J. 178, 259, 289, 326, 469 Anscombe, G. E. M. 107, 108 Antiphon 172 Apasia 44 Apelt, O. 560 Aphrodite 113 Apollon 85 ff., 123 ff., 215, 297 Archytas 46, 530 Arendt, H. 646 Aristophanes 26, 55, 62, 74 ff., 117 ff., 123 f. Aristoteles 28, 32, 45, 102, 134, 148, 170, 221, 226, 272, 299, 315, 336, 354, 364 ff., 374, 382, 508, 520 ff., 529, 583, 585 ff., 623, 626, 631 ff., 641 Asklepios 272 Atropos 227 Aubenque, P. 362 Aurobindo, Sri 642 Augustinus, Aurelius 153

Bachmann, I. 656 Baltes, M. 545, 630 Barbarić, D. 337, 490 Barmeyer, E. 246 Barney, R. 490, 500 Baumgarten, H.-U. 244 Baumgartner, H. M. 124, 148 Baltes, M. 31, 535, 580, 610 Barrow, R. 272 Baselitz, G. 408 Becker, C. 201 Beeretz, F. L. 435 Behler, E. 635 Beierwaltes, W. 13, 40, 137, 409, 535, 579, 625, 627 Benardete, S. 21, 27, 28 , 55, 65, 75, 80, 103, 112, 116, 162, 268, 269, 279, 287, 332, 334, 341, 348, 364, 561, 564 Benitez, E. E. 470 Benjamin, W. 652 Berlinger, R. 40, 124, 507, 550, 609 Berti, E. 519 Bien, G. 280, 329, 362 Blößner, N. 20, 295 Bloom, A. 103 Blumenberg, H. 76 Boeckh, A. 579, 580 Boeder, H. 435, 537, 649 Boehme, G. 541 Bollack, J. 282, 625 Bordt, M. 283, 383, 430, 560 Borsche, T. 505 Brague, R. 363, 563, 584, 650 Brecht, B. 642 Bremer, D. 639

667 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

Personenregister Brisson, L. 50 f., 334 f., 526, 533, 543, 549, 554 f. Broadie, S. 560 Brown, L. 442 Bruno, G. 579 Bubner, R. 573, 649 Buchheim, Th. 145, 170, 172 f., 431, 615 Buchner, H. 517 Bühler, K. 502 Buffière, F. 119 Burckhardt, C. J. 15 Burkert, W. 126, 282, 380 Burnyeat, M. F. 480 Calcidius 630 Calogero, G. 402, 426 Calvo, Th. 533 Camassa, G. 80 Canart, P. 284 Carone, G. 602 Chairephon 192 Chanteur, J. 265 Chen, L. C. H. 272 Cherniss, H. 402, 426, 574, 618 Cicero, M. T. 29, 353, 625 ff., 646 Clay, D. 20, 32 Cleary, J. L. 365 Cornford, F. M. 428, 523 ff., 533, 537 Dahrendorf, R. 172 Damon 53 Dareios (Darius) 346 Davidson, J. N. 119 Deleuze, G. 441 Derrida, J. 543 Detel, W. 154, 452 Diels, H. 170 Dietz, K.- M. 171 Dilthey, W. 18 Diogenes Laertius 51, 56 Dion 47 Dionysodoros (Sophist) 174 Dionysios I. 46 f. Dionysios II. 47, 59 , 66 Dionysos 93, 123 ff.

Diotima 98 ff., 109 ff. Dodds, E. R. 114 Döring, K. 44, 56 Dörrie, H. 58 Dreher, M. 172 Droz, E. 135 Düsing, K. 402, 407, 416, 425, 426, 441, 451, 469 Dummett, M. 418 Ebert, Th. 20 f., 124, 128, 179, 298, 536 Eckhart, Meister 628, 633 Effe, B. 472 Enders, M. 161, 275, 282, 284, 377 Enskat, R. 359 Epimetheus 183 Erbse, H. 154, 614 Erler, M. 14, 44, 50, 53, 56, 77, 154, 161, 458, 545, 614, 624 Ferber, R. 60, 270, 298, 318 Ferguson, J. 271 Fichte, J. G. 639 Figal, G. 44, 143, 399, 401, 403, 406 ff., 411, 415 f., 419, 428, 515, 561, 565 Fink, E. 365, 587 Fischer, N. 515 Flasch, K. 153 Flashar, H. 44, 170 Fleischer, M. 102, 116 Foucault, M. 31 Franz, M. 572, 574 Frede, D. 53 Frede, M. 125, 433, 435 f., 441, 448 f. , 450 Frege, G. 419, 506 Freud, S. 171 Friedländer, P. 79, 641, Fritz, K. von 316 f., 530 Fuhrmann, M. 24 Gadamer, H.- G. 23, 30, 60, 128 f., 146, 149, 310, 410, 416 f., 431 ff., 435, 437 f. 447, 449, 514, 515 f., 518 ff., 522, 524 f., 530, 532, 540,

668 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

Personenregister 543 ff., 590, 593 ff., 604, 609, 611, 615 ff., 623, 641, 649 Gaiser, K. 24, 27, 30, 335, 491, 518, 520 Geerlings, W. 631 Gerhardt, V. 333 Gerson, L. P. 284 Gigon, O. 78 Gloy, K. 442, 544 Gomme, A. W. 48 Gorgias 54, 119, 173, 184 ff., 190 ff., 203 f. Gosling, J. C. B. 155, 591, 595, 604, 608 Graeser, A. 309, 400, 406, 418 Gregory, A. 536 Griswold, Ch. L. 476 Guardini, R. 245 Gundert, H. 192, 266, 288 Gurwitsch, A. 647 Guthrie, W. K. C. 413, 539 Gyges 351 Habermas, J. 454 Hadot, P. 121, 649 Hägler, R.- P. 409 Halfwassen, J. 314, 314, 409, 413, 537, 601, 627 f., 637 ff. Hager, F.- P. 550 Halliwell, S. 135 Hammacher, K. 517 Hankins, J. 633 Hardy, J. 452 Harth, H. 280 Hartmann, M. 271 Hartmann, N. 318 f. Hasler, L. 572 Hatzfeld, J. 163 Heckmann, R. 572 Heftner, H. 163 Hegel, G. W. F. 17, 28, 35, 44 f., 95 f., 169, 410, 413, 421, 454, 578, 586, 601, 624 f., 635 f., 645, 652 Hegenbarth, S. 337 Hegesandros 49 Heidegger, M. 31, 45, 436, 450, 451, 490, 508, 604, 640 f.

Heinamann, R. 442 Heisenberg, W. 527 Heitsch, E. 21, 25, 139, 141, 155, 156, 158, 179, 242, 500 Held, K. 126 Hennigfeld, J. 505 Henrich, D. 423 Hephaistos 565 Heraklit 53, 95, 116 f., 288, 362, 399, 435, 461, 636, 651 Herder, J. G. 36 Hermes 494 Herodot 44, 288, 350 Herter, H. 475 Hesiod 49, 52, 113, 261, 292, 435 Higgins, W. E. 44 Hirzel, R. 238 Hitler, A. 222 Höffe, O. 72, 265, 327 Hölderlin, F. 13, 578, 580 Hölscher, U. 644 Hösle, V. 29, 54 Hoffmann, K. F. 172 Hofmannsthal, H. von 17 Holzhey, H. 639 Homer 49, 52 f., 144, 246 f., 261, 282, 284, 288, 290, 292, 310 Horn, Chr. 45, 327, 477 f., 614 Huchzemeyer, W. 642 Humboldt, W. von 36 Husserl, E. 126, 506 Iber, Chr. 430 Ilting, K. – H. 186 Ion von Chios 246 ff. Isokrates 172 f. Irwin, T. H. 178, 292, 306, 597 Isokrates 614 v. Ivánka, E. 629 Jacobs, W. G. 579 Janka, M. 619 Jantzen, J. 24, 548 Johannes von Salisbury 631 Johansen, Th. K. 533, 561, 565

669 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

Personenregister Kagan, D. 163 Kahn, Ch. 145, 154, 187, 192, 225, 231 Kallikles 188 ff., 197 ff., 207 ff., 242 ff., 467 Kambyses 346 Kamlah, W. 444 Kant, I. 36, 420, 432, 441, 571 ff., 639, 651 ff. Kato, M. 242 Kauffmann, C. 244 Kerfred, G. B. 170 Kern, O. 285 Kierkegaard, S. 441 Klein, J. 19 Kleisthenes 220 Klingner, F. 626 Klosko, G. 253, 306 Klotho 227 Kobusch, Th. 186, 187, 190, 195, 635 f. Kodros 45 Krämer, H. J. 24, 27, 58, 141, 182, 198, 202, 203, 206, 232, 240, 249 ff., 256, 276, 297, 303, 317, 319, 326, 409, 479, 487, 489, 566, 635, 636 Kranz, W. 170, 479 Kraut, R. 65 f.. 71, 243, 402, 618 Kraus, M. 501 Krings, H. 526, 571, 572, 574 ff., 578 Kristeller, P. O. 633 Kritias 562 ff. Krüger, G. 98, 99, 106, 110, 112, 115, 118, 119 Kühn, W. 131 Künne, W. 406, 428 Kuhn, H. 52, 226, 230 Kullmann, W. 131 Kung, A. J. 515 Kurz, D. 345 Kutschera, F. von 156, 158, 403 Kyros 346 Lachesis 227 Lane, M. 280 Lasserre, F. 105 Leibniz, G. W. 505

Leinkauf, Th. 532 Lewis, F. A. 404 Lisi, F. 287, 331, 342 f., 472 Liske, M.- Th 175 Lloyd, G. E. R. 529 Locke, J. 505 Loehr, G. 590 Loriaux, R. 438 Lovibond, S. 259, 309 Ludwig, P. W. 105 Lüddecke, D. 355 Mackenzie, M. M. 278 Mahoney, E. P. 633 f. Mai, H. 370 Maier, H. 67 Mann, Th. 54 Markschies, Chr. 630 Marten, R. 63, 310, 449 Marx, K. 28 Maso, S. 544 Matuschek, S. 100 Mau, J. 372 Maurer, R. K. 303, 327, 372 McCabe M. 407 McKim, R. 184, 190, 195 Meier, Chr. 43, 52, 303, 375, 614 Meier, H. 26, 46, 648 Meier, W. 46 Meinwald,, C. 402, 404 Mejer, J. 51 Meyer, R. 572 Menzel, A. 199 Meyer, Th. 76 Meyer-Abich, K. M. 546, 651 Mignucci, M. 149 Miller, M. H. 482 Minos 206 Mittelstraß, J. 468, 542 Mohr, R. D. 528, 542, 544 Mojsisch, B. 465 Moline, J. 308 Moncada, J. E. 524, 528 Montesquieu, Charles de Secondat 334, 336 Moravčsik, J. M. 410, 426, 476 Morgan, M. L. 618

670 https://doi.org/10.5771/9783495813478 .

Personenregister Moses 631 Moss, J. 60 Most, G. W. 113 Müller, J. 339 f. Mueller-Goldingen, Chr. 44 Munk, E. 22, 70 Natali, C. 544 Natorp, P. 594, 639 f. Neanthes (v. Kyzikos) 50 Neschke-Hentschke, A. 193, 204, 239, 241, 256, 262, 334, 337, 348, 574 Neu, J. 297 Niehues-Pröbsting, H. 185 Nietzsche, F. 13, 15 , 29, 31, 33, 55, 82, 188, 208, 250, 561, 644, 650, 658 Nilsson, M. P. 556 Niobe 278 Norden, E. 139 Nussbaum, M. 106, 262 Nygren, A. 106 Oehler, K. 158, 519 f. Oesterle, H.- J. 472 O’Meara, D. J. 280 Ostenfeld, E. N. 25, 309 Ottmann, H. 52, 169, 172, 206, 345 Otto, R. 143 Otto, S. 40, 63 Owen, G. E. L. 407 Pangle, L. 26, 231 Parmenides 15, 32, 53, 322, 394, 400 ff., 408 f., 411 ff., 422 f., 434, 446 ff., 482, 507, 529, 636, 641, 651 Partee, M. H. 266 Patterson, R. A. 52 Patzer, H. 170 Patzig, G. 19, 32, 324, 632 Pépin, J. 227 Perger, M. von 588 Perikles 44, 48, 220 Perleman, Sh. 614 Perpeet, W. 262 Peterreins, H. 500

Philipp II. von Makedonien 47 Philostratos 171 Picht, G. 101, 108, 113, 140, 180, 261, 266, 285, 315, 335, 336, 429, 564, 655 Pieper, J. 59 Piérat, M. 383 Pietsch, Chr. 63 Plessing, F. 572 f. Plotin 409, 410, 626 f. Pöhlmann, E. 68, 246 Polanyi, M. 323 Polemarchos 248 ff. Popper, K. R. 217, 289, 370, 646 Proklos 409, 629 ff. Prometheus 183, 592 Protagoras von Abdera 54, 167 ff., 171, 180 ff., 457 ff., 460 ff., 553 Race, W. H. 184 Reale, G. 24, 27, 122, 128, 128, 319, 480, 594 ff. Rehn, R. 99, 548 Reeve, C. D. C. 75, 289 Reinhardt, K. 180, 200, 205, 229 Reinsberg, C. 49 Reshotko, N. 241 Reydams-Schils, G. 290, 535, 542 Rhadamanthys 206 Rickless, S. C. 459 Ricoeur, P. 60 Riedel, M. 40 , 54, 329, 468, 561, 652 Riginos, A. S. 49 Ritter, J. 325 Roberts, J. 278 Robinson, Th. M. 368 Robinson, R. 156, 309 Roloff, D. 459 Ross, D. 275 324, 601 Ruh, K. 633 Ruschenbusch, E. 206 Sambursky, S. 588 Sandkaulen-Bock, B. 571 Sandvoss, E. 328, 337, 342 Sappho 142

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Personenregister Saunders, T. J. 328, 331 Sayre, K. M. 591, 592, 594, 599 Schadewaldt, W. 52 Schäfer, Chr. 619 Schäfer, L. 531, 569 Schefer, Chr. 199, 314 Scheier, C.-A. 548 Schelling, F. W. J. 535, 571 ff., 636 ff. Schlaffer, H. 246 Schlegel, F. 13, 24 Schleiermacher, F. 13, 17, 18, 20, 22, 24, 28, 635 ff. Schlette, H. R. 579 Schmalzriedt, E. 566 Schmid, H. 290 Schmidt, E. G. 372 Schmitt, A. 30, 33, 650 Schmitt, C. 26, 329 Schmitz, H. G. 496 Schöpsdau, K. 342 ff., 359, 370 Schofield, M. 243, 485 Scholz, P. 47 Schrader, W. 76, 655 Schriefl, A. 372, 383 Schütrumpf, E. 373 ff. Schütz, A. 647 Schwegler, V. 408 Schwartz, M. 56, 58 Scolnicov, D. 334 Seel, G. 483 Seubert, H. 28, 33, 39, 62, 71, 78, 136, 242, 256, 267, 285, 288, 303, 329, 334, 337, 483, 486, 581 Shakespeare, W. 13, 656 Sharples, R. W. 548 Sheffield, F. C.C. 108, 110 Sheppard, A. 548 Shorey, P. 546 Sier, K. 111 Siger von Brabant 633 Simson, O. von 630 Silverman, A. 502 Skiadas, A. 246 Skemp, J. B. 378, 541, 576 Sokrates 15, 18, 20 ff., 26, 34 ff., 43 ff., 48, 53 ff., 62 f., 64 ff., 70 ff., 82, 85 ff., 108 ff., 120 ff., 145 ff., 159 ff., 165 ff.,

180 ff., 198 ff., 208 ff., 212 ff., 218, 283 ff., 291 ff., 305 ff., 314 ff., 328 f., 352 ff., 379, 397 ff., 399 ff., 405, 450, 452 ff., 494 ff., 510 ff., 529, 592 ff., 602 ff., 612 ff. Solmsen, F. 275 Solon 45, 220, 565 Sophokles 44 Sorabji, R. 542, 563 Soulez, A. 143, 493, 496, 503 f. Spaemann, R. 326 Stahl, M. 48 Stalin, J. 222 Stalley, R. F. 337, 348, 373 Steel, C. 532, 631 f. Steiner, G. 375 Steiner, P. M. 24, 283, 284, 308, 378 Stemmer, P. 20, 78, 195, 231 f., 241, 252 Stenzel, J. 589, 593 Stetter, Chr. 495 Strauss, L. 26 f., 28, 46, 55, 65, 71,74 ff., 336, 363, 578, 646 ff. Striker, G. 148 Strobel, B. 125, 438, 448 Szaif, J. 413 Szlezák, Th. 16, 26, 78 f., 139, 141, 156, 159, 182, 224 f., 231, 236, 238, 288. 314, 329 , 536 Tarán, L. 543 Taureck, B. H. F. 169 f. Taylor, A. E. 536, 608 f. Taylor, Chr. W. 602 Tennemann, W. G. 573 Theunissen, M. 238 Theuth 142 Tiedemann, D. 573 Thiel, D. 14, 144 Thiel, R. 111 Thierry von Chartres 631 Thrasymachos 172, 231 ff., 241 ff., 249 ff., 300, 314 Thukydides 173, 302 ff. Tieck, L. 13 Travlos, J. 48 Tsioli, H. 312

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Personenregister Van Camp, J. 284 Vico, G. 334 Vlastos, G. 25, 66, 106, 170, 271, 293, 312, 536, 563 Voegelin, E. 170, 647 Voigtländer, D. 602 Wagner, E. 308 Wagner, R. 54 Wallach, J. R. 25, 280, 482 Weizsäcker, C. F. von 650 Welsch, W. 315, 560, 632, 643 Westermann, H. 280, 295, Whitehead, A. N. 13, 52, 148, 624 Wieland, W. 18, 19 f., 25, 30, 70, 142, 152 f., 154, 293, 298, 308, 316, 319 f., 321, 323, 325, 354, 359, 401, 440, 456, 483, 545, 581, 582 ff., 588, 621

Wild, J. 312 Witte, B. 576 Wittgenstein, L. 502 Wolf, F. A. 24, 112 Wolf., U. 242 Woodruff, P. 174 Wyller, E. 412, 658 Xenophanes 213, 277 Xenophon 44, 55, 64, 353 Xerxes 346 Zakopoulos, A. 312 Zehnpfennig, B. 158, 324, 333 Zekl, H. G. 401 Zenon 405 Zeus 353 Zuckert, M. P. 72

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Sachregister

Affekte 261 ff., 268 ff. Agnostiker 381 Akademie 55 ff. Analogiebildung 419 ff. Anamnesis 125 Anderes – Andersheit (Differenz) 420 ff., 441 ff., 517 ff. Anfang 36 f. Anthropologie 558 ff. Apologie 70 ff., 243 ff. Aporetik (Aporie) 150 ff., 168 f., 231 ff., 451 ff. Argument 390 ff. Argumentationsanalyse 125 ff., 148 f., 200 ff., 390 ff. Aristokratie (Athens) 44 ff. Asebie (– Frevel gegenüber den Göttern) 75 ff., 161 ff., Atopie (Ortlosigkeit) 224 ff. Besonnenheit (sophrosyne) 155 f., 199 ff., 299 ff. Bewegung (– Werden und Vergehen) 200 ff., 378 ff., 415 ff., 553 f., 576 f., 580 ff. Beweis (apodeixis) 148 f. Bild (Ähnlichkeitsbild, Schattenbild) 290 ff., 453 ff., 480 ff., Urbild-Abbild-Relation 511 ff., 619 ff. Bürger, Bürgerlichkeit 369 ff. Chora 526 ff. Dämon (auch Daimonion) 76 ff., 86 ff. Denkdrama 14

Dialektik 18 f., 53 ff., 129 ff., 140 ff., 144 ff., 388 ff., 598 ff. Dialog 18 f., 53 ff., 62 ff., 139 ff., 200 f., 388 ff. Dichtung 92 ff., 232 ff., 247 f., 278 ff., Drama 139 ff. (– Philosophie als »wahres Drama«) 139 ff. Einheit 177 ff., 420 ff. Eins 420 ff. Eintracht (homonoia) 162 f. Eleaten 394 ff. Emigration 72 Entgegensetzung 406 ff. Erinnern 127 Erinnerungszeichen (mimemata) 142 ff. Erkenntnis (Erkenntnis der E.) 158 f., 358 ff., 460 ff. Eros 82 ff., 98 ff., 112 ff., 119 f., 140 ff., Eschatologie (platonisch) 205 ff. Esoterisch-exoterisch 15 ff., 26 ff. Euthynen 384 ff. Fiktion 289 ff. Frau 98 ff. Freundschaft (philia) 165 f. Gegensatz – Gegensätze 117 f. Geometrie (Stereometrie) 521 ff., 535 ff. Gerechtigkeit (dikaiosyne) 197 ff., 203 ff., 224 ff., 234 ff., 238 ff., 250 ff., 303 ff., 306 ff., 646 ff.

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Sachregister Gericht (eschatologische Gerichtsmythen bei Platon) 205 ff., 229 ff. Geschichte 333 ff., 339 ff. Gesetz (Nomos) 68 ff., 333 ff., 350 ff., 468 ff., 473 ff. Gesetzgebung (Nomothesie) 262 ff., 275 ff., 395 f. Gewalt 478 f. Gleichnisse (Linien-, Sonnen- Höhlengleichnis) 314 ff. Göttliches (theion) 56 ff., 384 ff. Gott 51, 56 ff., 115 f., 274 ff., 280 ff., 328 ff., 384 ff. Gottesdienst (therapeia) 159 ff. Grenze (Peras) 362 f. Güterlehre 154 ff., 618 ff. Gutes (Idee des Guten) 100 ff., 183 ff., 218 ff., 347 f. Gymnastik (– Harmonie in Bewegung) 214 ff., 272 ff., 311 ff., 365 ff. Haus, Hausgemeinschaft (oikos) 48 ff. Hebammenkunst (Maieutik) 178 ff. Henologie (Lehre vom Einen) 399 ff. Herrschaft (arché) 348 ff. Herrschaftsaxiome (Nomoi) 348 ff. Herrschaftsformenlehre 220 ff. Höhlengleichnis 320 ff. Homerische Gesellschaft 337 ff. Hypothesis (des Eidos) 391 f., 408 ff., 422 ff. Idee 145 ff., 208 ff., 289 ff., 314 ff., 432 ff., 501 ff., 573 ff., 640 ff. Idee des Guten (idea tou agathou) 208 ff., 218 ff., 289 ff., 314 ff. Identität (Selbigkeit) 33 ff., 441 ff., 517 f. Interpretation 14 ff. Ionische Naturphilosophie 94 ff. Kategorien – Kategorialität 437 ff., 504 ff. Katharsis (Reinigung) 60 ff.

Komödie 84 f. Konstellation 13 ff. Kosmologie – Kosmogonie 507 ff., 514 ff. Kosmos 507 ff. Krieg 375 ff. Kunst 230 ff., 293 ff., 544 ff. Kunstwerk (Welt als Kunstwerk) 544 ff. Leben (Lebendigkeit) 508 ff., 512 ff., 590 ff. Lebensform (Bios) 55 ff., 103 ff., 229 ff., 361 ff., 590 ff., 622 ff. Leib 606 ff. Liniengleichnis 315 ff. Logos 112 ff., 131 ff., 560 ff., 602 ff. Lüge 103 ff., 174 ff. Lust (hedone) 188 ff., 259 f. Maß 345 ff. Medizin 115 ff. Meinung (doxa) 43 ff., 340 ff. orthe doxa (richtige Meinung der Bürgerschaft) 371 ff. Metaphysik 31 ff., 136 f. Methode 23 f., 31 f. (Hypothese) Mischung 585 ff., 606 ff., 612 ff. Mitte 36 f., 522 ff. Musik (Musenkunst – mousiké) 80 f., 212 ff., 261 ff., 264 ff., 285 ff., 311 ff., 365 ff. Mysterien 52 ff. Mythen Platons 59 ff., 96 ff., 118 ff., 134 ff., 205 ff., 226 ff. Mythos 49 f., 52 ff., 59 ff., 118 ff., 226 ff., 270 ff. Nachahmung (Mimesis) 293 ff. Natur ( Physis) 128 ff., 184 ff., 257 ff., 581 ff., 608 ff. Negation – Negativiät 426 ff. Nicht (Nichts) 422 ff., 429 ff., 439 ff. ., 456 ff. Nichtseiendes 445 ff. Notwendigkeit (ananké) 542 f., 546 ff.

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Sachregister Ontologie (Lehre vom Sein) 399 ff., 492 ff. Ontologie (in der Sprache) 492 ff. Opfer 254 f. Paideia (Erziehung) 48 ff., 257 ff. Palinodie 131 f. Peloponnesischer Krieg 47 f. Phänomen (Phänomenalität) 190 ff., 425 ff. Philosophiebegriff 20 ff., 64 ff., 451 ff. Philosophenherrschaft 322 ff. Philosophenkönige 323 ff. Polis (Stadtstaat) 46 ff., 64 ff., 79 f., 203 ff., 210 ff., 295 ff., 305 ff. Politikbegriff 64 ff., 468 ff., 564 ff. Prooimion (Vorrede zu den Gesetzen) 355 ff. Protreptik 465 ff. Rat, Ratschlag (bouleuma) 298 f. Raum 580 ff. Recht (Rechtsgesetz) 472 ff. »Recht des Stärkeren« 240 ff. Regressargument (Platon, Parmenides) 402 ff. Rezeption (Rezeptionstheorie) 249 ff., 624 ff. Rhapsodie 246 ff. Rhetor 192 ff. Rhetorik 153 ff., 168 ff., 192 ff. Rhythmus 265 ff., 367 ff. Romantik 630 ff. Querelle des anciens et des modernes 26 ff. Satyrspiel 103 ff. Scham (aischyne) 186 ff. Schmerz 259 ff. Schönheit 91 f., 101 ff., 164 ff. Schrift 14 ff., 88 ff., 132 ff., 140 ff. Schriftkritik 14 ff., 88 ff., 132 ff. Schuld 373 ff. Seefahrt (zweitbeste S.) 128 ff. Seele (Seelenlehre) 122 ff., 144 ff., 237 ff., 295 ff., 308 ff.

Sein 429 ff., 439 ff., 448 ff., 459 ff. Sklaven (Rechtsstatus) 299 f. Sophistik 153 f., 167 ff. Sparta (Lakedaimonion) 336 ff. Sprache 489 ff. Sprachphilosophie 489 ff. Stand (Platonische Dreiständelehre) 212 ff. Stadt, Stadtstaat (Polis) 47 ff., 212 ff. Sterblichkeit 556 ff. Strafe, Strafrecht 373 ff. Täuschung (Tausendkünstlerei) 174 ff. Tapferkeit (andreia) 151 ff. Theodizee 230 f. Theologie (Platonische Th.) 328 ff. Tod (Thanatos) 82 ff., 120 ff., 207 Totenreich 207 Tragödie 84 f. Transzendentalphilosophie 572 ff., 651 ff. Transzendenzargument (Platon, Parmenides) 404 ff. Trieb 268 f. Tübinger Platoninterpretation 24 ff. Tugend (areté) 150 ff., 177 ff., 196 ff., 216 f., 248 f., 485 ff. Tyrann, Tyrannis 108 f. Unrechtleiden 352 ff. Unrechttun 352 ff. Unsterblichkeit 144 ff. Unwissenheit 180 ff. Vergehen 459 ff., 530 ff., 541 ff. Vergessen (Lethe) 127 f. Vernunft (nous) 50 ff., 350 ff., 500 ff., 546 ff. Wahn (mania) 106 f., 108 f. Wahrheit (aletheia) 91, 103 ff., 174 ff. Weiblichkeit 98 ff. Werden 459 ff., 530 ff., 541 ff. Widerspruch – Widersprüchlichkeit 412 ff., 425 ff. Wissen 67 ff., 180 ff.

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Sachregister Wort 501 ff. Zahl 416 ff., 588 ff. Zeit 416 ff., 580 ff.

Ziel (Telos) 36 ff. Zukunft 339 f. Zwischenwesen (metaxy) 86, 109 ff.

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