Physiognomien des Lebens: Physiognomik im Spannungsverhältnis zwischen Biopolitik und Ästhetik 9783110664645, 9783110665055, 9783110664683, 2020936216

The correspondence between physical features and the character of a person, which was the matrix for the natural science

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German Pages 282 [275] Year 2020

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Physiognomien des Lebens: Physiognomik im Spannungsverhältnis zwischen Biopolitik und Ästhetik
 9783110664645, 9783110665055, 9783110664683, 2020936216

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Physiognomien des Lebens

Mimesis

Romanische Literaturen der Welt Herausgegeben von Ottmar Ette

Band 81

Physiognomien des Lebens Physiognomik im Spannungsverhältnis zwischen Biopolitik und Ästhetik Herausgegeben von Vittoria Borsò, Sieglinde Borvitz und Luca Viglialoro

Die Publikation wurde durch den Deutschen Akademischen Austauschdienst im Rahmen der Programmlinie Hochschuldialog Südeuropa gefördert. Es handelt sich um ein Projekt der Forschungsgruppe Biopolitics, Onthology and Aestehtics of Media des internationalen Italian Thought Network.

ISBN 978-3-11-066464-5 e-ISBN (PDF) 978-3-11-066505-5 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-066468-3 ISSN 0178-7489 Library of Congress Control Number: 2020936216 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Integra Software Services Pvt. Ltd. Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Inhaltsverzeichnis Vittoria Borsò, Sieglinde Borvitz, Luca Viglialoro Einleitung 1

L’Autre Portrait der Physiognomik Jean-Luc Nancy Überschauen, durchschauen

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Aisthesis: Morphologien der Lebensformen Vittoria Borsò Physiognomie heute: zwischen Körperpolitiken und vitaler Politik des Körpers 29 Salvatore Tedesco Die Ästhetik und das Lebendige: Biologischer Akt, Bürde und Verantwortung 55 Andrea Pinotti Der Schnabel des Adlers und die Nase des Menschen. Können wir uns in einen Vogel einfühlen? 71 Martin Bartelmus Im Antlitz der Tiere lesen

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Medien und Dispositive (jenseits) der Physiognomik Luca Farulli Jacob Burckhardt: Physiognomiker der Dingwelt Luca Viglialoro Von der Physiognomik zur Ästhetik der Geste

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Inhaltsverzeichnis

Giovanni Gurisatti Die hyperreale Gemeinschaft. Physiognomik, Ästhetik und Ethik des Bildes im Zeitalter der Virtualisierung der Welt 147 Beate Ochsner «Die Zukunft smarten Hörens hat begonnen» (ReSound). Anmerkungen zu einer technosensorischen Regierungspraktik 161

Physiognomisch-biopolitische Kulturen zwischen Normierung und Typisierung Marie Guthmüller Stil als «Physiognomie des Geistes»? Überlegungen zu einer Denkfigur des 19. Jahrhunderts und ihrer Wegbereitung durch Jean-Jacques Rousseau 185 Antonio Lucci Die ‹positivistische Biopolitik› Paolo Mantegazzas. Ein archäologisches Fragment zu den ersten italienischen Kulturwissenschaften 205 Nicoletta Pireddu Physiognomien des Exzesses im neurotischen Zeitalter des Fin de Siècle 233 Lucia Rodler Anthropologie der Tätowierung bei Cesare Lombroso

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Dario Gentili Aura und Markt. Individuum und Masse ab Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit von Walter Benjamin 261

Vittoria Borsò, Sieglinde Borvitz, Luca Viglialoro

Einleitung 1 Physiognomik und Ästhetik Die Schwierigkeit, das physiognomische Denken kulturgeschichtlich zu verorten, lässt sich u.a. auf die von vielen Denkern hervorgehobene Tatsache zurückführen, dass es sich im Grunde um keine Wissenschaft handelt.1 Leonardo da Vincis bekanntes Urteil, dem zufolge die Physiognomik gemeinsam mit ihrer ebenfalls aus der Rhetorik stammenden und als Dechiffrierungskunst von somatischen Merkmalen und Bewegungen auftretenden Schwester, der Chirologie (bekannter als Chiromantie oder als Handlesekunst), keine wissenschaftliche Grundlage haben («non hanno fondamenti scientifici») und insofern nur Chimären («chimere») seien,2 erweist sich in dieser Hinsicht als wirkungsmächtig. Worauf beruht ein solches Urteil, das bereits lange vor der Prägung der Physiognomik als durch angeblich positive Befunde operierende Wissenschaft (wie etwa bei Lombroso)3 auftaucht? Es handelt sich natürlich nicht allein um ein Leonardo da Vincis erfahrungsorientiertem Wissenskonzept internes Problem,4 sondern um eines, das dem Stil, der Struktur sowie den theoretischen Zielsetzungen der Physiognomik (zumindest vor Anbruch der Moderne) zugrunde liegt. Das Problem der Typisierung mittels der Postulierung von Übereinstimmung zwischen Körperphysiognomien und (vermeintlicher) Innerlichkeit stößt eindeutig auf eine doppelte, vorrangig kulturelle Grenze:5 jene der Individualisierung und dabei der radikalen Kontingenz des Lebendigen. Kontingent und individualisiert sind nicht allein das leibliche Dasein der Lebensformen, sondern vor allem die Transformationen ihrer physischbewusstseinsbildenden Charaktere im Umgang mit den Wissenskonstrukten, sodass

1 Zu diesem problematischen Aspekt der geschichtlichen Entwicklung der Physiognomik vgl. Christoph Bouton/Valery Laurand/Layla Raïd (Hg.): La physiognomie: problèmes philosophiques d’une pseudo-science. Paris: Kimé 2005. 2 Leonardo da Vinci: Trattato della pittura [1489–1518]. In: Scritti. Herausgegeben von Jacopo Recupero. Mailand: Rusconi 2009, S. 134. 3 Vgl. dazu Giuseppe Antonini: I precursori di Cesare Lombroso. Turin: Bocca 1900, S. 3. 4 Roberto Esposito hat eine wichtige Interpretation des Themas Kontingenz und deren selbstreflexiven Potentials in Leonardo da Vincis Werk verfasst. Vgl. ders.: Pensiero vivente. Origine e attualità della filosofia italiana. Turin: Einaudi 2010, S. 87f. Den Hinweis auf diese Stelle Espositos verdanke ich Vittoria Borsò. 5 Hier setze ich mich mit Giovanni Gurisatti auseinander; ders.: Dizionario fisiognomico. Il volto, le forme, l’espressione. Macerata: Quodlibet 2006, S. 11–25. https://doi.org/10.1515/9783110665055-001

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die Physiognomik selbst als provisorisches bzw. variationsfähiges Wissen erscheint, das sich trotz seiner Absichten nicht spezialisieren kann. Es geht nicht um ein Auseinanderklaffen von zwei ansonsten komplementären Bereichen der Subjektivität – wie etwa jenem des Körpers und des Geistes und deren Artikulationen –,6 sondern um die nicht vollführbare Zusammensetzung der konstitutiven Heterogenität des Subjekts selbst. Genauer gesagt: Die (gesuchte) deskriptiv-normative Seite der Physiognomik birgt also einen nicht-fachwissenschaftlichen Kern (Leonardos ‹Chimärisches›), der unmittelbar mit der Frage nach der Erfassbarkeit sinnlichprozessualer Textur von Körperformen und Körperhandlungen zusammenhängt. In dieser nicht-fachwissenschaftlichen7 Hinsicht könnte die Physiognomik nicht allein als eine historisch sich selbst sanktionierende Lehre, sondern auch als eine Proto-Ästhetik oder zumindest als eine aesthetica in nuce verstanden werden, deren Ziel zunächst in der Erforschung und danach in der Kontrolle und Regulierung der Sinnlichkeitsdynamiken ausgehend von Körpermerkmalen und nichtverbalen Kommunikationsformen bestehe. Die Dialektik zwischen Klassifikation/ Steuerung und forschender Durchdringung der Sinnlichkeit, welche auch die Ästhetik v.a. im Gewand der Kunstphilosophie und der Kunsttheorie unternommen hat, hatte allerdings ihre Berechtigung in der Annahme eines Raumes der Subjektivität, der ein Spannungsverhältnis mit dem Logischen unterhält und eine eigenartige Produktivität in Gang setzt.8 Die gesuchte ‹Positivität› der Physiognomik scheint also mit der Hinterfragung der Ästhetik nicht vereinbar zu sein.

6 Zu einer Rekonstruktion des Begriffes ‹Ausdruck› in der westlichen Körper-Geist-Debatte verweise ich auf die tiefgreifenden philosophischen Reflexionen von Hans Ulrich Gumbrecht: Dimensionen und Grenzen der Begriffsgeschichte. München: Fink 2006, S. 210–230; ders.: Präsenz. Herausgegeben von Jürgen Klein. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2012, S. 195, 244f. 7 Zu dieser bestimmten Lesart des ästhetischen Denkens (von der Moderne bis zum Ende des zwanzigsten Jahrhunderts) verweise ich auf die Arbeit von Emilio Garroni: Senso e paradosso. Estetica, filosofia non speciale. Rom/Bari: Laterza 1986, vgl. u.a. S. 181f. Zur Nicht-Wissenschaftlichkeit der Physiognomik im Zusammenhang mit der Entstehung der Ästhetik vgl. Christoph Bouton/Valery Laurand/Layla Raïd: Avant-propos. In: dies. (Hg.): La physiognomie, S. 8. 8 Ausgesprochen interessant ist in dieser Hinsicht Rüdiger Campes und Manfred Schneiders Versuch, die Dialektik der rationalistischen Ästhetik zwischen «Transparenz oder Dunkelheit der Erkenntnis» mit dem physiognomischen Diskurs zusammen zu denken. Vgl. Rüdiger Campe/Manfred Schneider: Vorwort. In: dies. (Hg.): Geschichten der Physiognomik. Text. Bild. Wissen. Freiburg i. B.: Rombach 1996, S. 9f. Zur Beziehung zwischen moderner Ästhetik und Physiognomik vgl. auch folgenden Beitrag: Hans-Georg von Arburg/Benedikt Tremp/Elias Zimmermann: Einleitung. In: dies. (Hg.): Physiognomisches Schreiben. Stilistik, Rhetorik und Poetik einer gestaltdeutenden Kulturtechnik. Freiburg i. B.: Rombach 2016, S. 8.

Einleitung

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2 Sinnlichkeit als Projekt Kontingenz, Prozesshaftigkeit und Produktivität der Sinnlichkeit: Ausgehend von der Erarbeitung dieser drei Dimensionen und deren Verkörperungen lässt sich vielleicht ein möglicher ‒ im Grunde heuristischer ‒ trait d’union zwischen Physiognomik und Ästhetik bestimmen. Das dynamische Moment der Formgebung und der Organisation (oder, mit Shusterman, der «Stilisierung»9) des somatischen Selbst schafft die Basis für die Bildung einer operativen Ästhetik und einer operativen Physiognomik, welche sich in der Arbeit am Sinnlichen (genauer gesagt: an der Morphologie und am Ausdruck des Lebendigen)10 kundgeben. Die Performierung des Körperlichen ist in der Tradition des westlichen (und nicht allein des westlichen) Denkens tief verwurzelt. Die zentrale Stellung der Körperlichkeit und das Verständnis ihrer tätigen (Nach-)Erzeugung von Weltbezügen (sei es in Form von Bewusstseinsprozessen oder von komplexen Wahrnehmungsoperationen) werden vor allem aber in der Moderne11 zu notwendigen Voraussetzungen für die Auffassung der Sinnlichkeit als Projekt. Morphologie und Ausdrucksweisen – die offenkundigsten Akteure der Physiognomik und der Ästhetik – werden zu Designobjekten, welche die Wissenschaften und Künste in ihrer Singularität auszuloten und zu formen trachten. Das Sinnliche ist in dieser Hinsicht in der Moderne keine Gegebenheit, sondern das Produkt einer Modifikation und einer damit einhergehenden entwerfenden Bewegung. Das sinnliche Erscheinen in all seinen Ausprägungen wird zum Gegenstand «ästhetischer Aufmerksamkeit»,12 d.h. einer vollzugsorientierten Einstellung, welche die sinnliche Verfasstheit der Objekte, zunächst des Körpers, im Hinblick auf ihre Kontrolle hinterfragt. Physiognomik und Ästhetik finden also nicht in der Übereinstimmung zwischen oder in der Koimplikation von Innen und Außen, von Geist und Körper ihre gemeinsame Matrix, sondern in der Idee, dass sich die Welt der aísthesis als eine zu realisierende Gestalt bzw. als Gestaltung verhält. Es handelt sich hier also um ein operatives Verständnis von physiognomischen und ästhetischen Paradigmen, welches impliziert, dass Körper (und mithin Medien und Techniken 9 Richard Shusterman: Körper-Bewusstsein. Für eine Philosophie der Somästhetik. Hamburg: Meiner 2008, S. 13f. Der Ansatz von Shustermans Somästhetik wird im Rahmen dieser Einleitung und des gesamten Bandes nicht weiterverfolgt, da er die Notwendigkeit einer «verbessernden Kultivierung» der somatischen Fähigkeiten postuliert. Unser Ansatz setzt hingegen an einem analytischen Niveau an. Ebda., S. 10. 10 Christoph Bouton/Valery Laurand/Layla Raïd: Avant-propos, S. 8. 11 Hier folge ich Hans Ulrich Gumbrecht: Präsenz, S. 192. 12 Ich entnehme diesen Begriff der Reflexion von Martin Seel: Vor dem Schein kommt das Erscheinen. Bemerkungen zu einer Ästhetik der Medien. In: Merkur 47 (1993), S. 770–783, hier S. 772.

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ihrer Modifikation) Zonen von Ununterscheidbarkeit, unscharfe Grenzen aufweisen, über die physiognomische und ästhetische Denkweisen fortwährend neu verhandelt werden. Es gilt dabei die Frage, ob sich diese auf Kontrolle und Operativität hin gerichtete Verbindung von Physiognomik und Ästhetik als eine durchweg biopolitische erweist. Es ist nämlich evident, dass Sinnlichkeit als Projekt bzw. als eminent modernes Projekt eine teleologische und in politisch-pragmatischer Hinsicht gouvernamentale Relation aufzudecken vermag, indem die Subjektbildung eine diskursübergreifende (also auch: nicht-fachwissenschaftliche) Subjektivierung bedeutet. Der geistesgeschichtlich erlangten Autonomie des Subjekts entspricht eine progressive Vermehrung der Wissensdispositionen sowie der Entwurfscharakter ihrer Diskursivierungen, sodass der Körper zu einem «ensemble multilinéaire»13 von Zielsetzungen gemacht wird. Roberto Esposito fasst die biopolitische Seite der grundlegend physiognomischen Kondition moderner Subjektivierung von Körpern prägnant zusammen: «la ristrutturazione del potere passa, assai prima che per le ideologie, per la modificazione dei corpi di cui esse sono insieme causa ed effetto».14

3 Biopolitik, Physiognomik und Ästhetik heute Mit der ‹biopolitischen Lesart› der Physiognomik verbinden wir eine doppelte Richtung der Kritik, nämlich in Bezug auf die Physiognomik und auf die Biopolitik selbst. Die Frage zum Verhältnis von Biopolitik und Physiognomie hat deshalb eine doppelte Richtung: Was macht die Biopolitik mit der Physiognomie, aber auch umgekehrt: Was machen Reflexionen über die Physiognomie mit der Biopolitik? Welchen Ort des Denkens haben sie gemeinsam? So fokussiert dieser Band neben der historischen Analyse auch aktuelle Formen der Physiognomik – etwa in der hyperrealen Gemeinschaft ‒ und reflektiert die medialen und technisch-wissenschaftlichen Transformationen, die möglicherweise ein Umdenken sowohl in Physiognomie als auch in Biopolitik abverlangen. Was wird etwa aus Physiognomie und Biopolitik, wenn nicht die Subjektivierung (und der anthropos), sondern die Dinge zentriert werden? Welches Verhältnis verbinden

13 Gilles Deleuze: Qu’est-ce qu’un dispositif? In: Association pour le Centre Michel Foucault (Hg.): Michel Foucault philosophe. Rencontre internationale Paris 9, 10, 11 janvier 1988. Paris: Seuil 1989, S. 185–195, hier S. 185. 14 Roberto Esposito: Pensiero vivente: origine e attualità della filosofia italiana. Turin: Einaudi 2010, S. 198.

Einleitung

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Philosophie bzw. Kulturtheorie und Life Sciences bei der Frage der Physiognomie? Benötigten die Life Sciences und Life Technologies nicht eine Theorie, die Licht auf neuere Methoden der Normierung der Sinne wirft – etwa durch technosensorische Regierungspraktiken? Wie wird dabei das Anomale – etwa im Zusammenhang mit Affekten, Autismus, Depressionen und gar Suizid typisiert und normiert? Wenn nicht theoretisch reflektiert, führen neuere Technologien in den Life Sciences zu klassifizierenden Zwängen und ausschließenden Neurotypisierungen, gegen die etwa Brian Massumi und Erin Manning mit einer «Declaration of Independence from neuro-educationism for all»15 angetreten sind. Diese Fragen sind brennend, weil die heutigen Technologien in den Life Sciences dabei sind, die Physiognomie von einer Pseudo- zu einer harten Wissenschaft zu machen. Neuere wissenschaftliche Technologien (etwa das Imaging in Neurologie und experimenteller Psychologie) erlauben es zunehmend, das schon von Aristoteles’ Physiognomonica geforderte Postulat größerer Fallstudien epidemologisch auszuweiten, wie dies in der Stanford-Studie von 2017 geschah, nämlich in Form einer computergesteuerten Erkennung von Gesichtsausdrücken von Homosexuellen. Mit Darwin’s nose: The revival of physiognomy haben Yilum Wang und Michal Kosinski mehr als 35.000 Bilder von Homosexuellen durch einen speziellen DNN-Algorithmus analysiert.16 Neben einer ‹di-morphischen›, männlich-weiblichen Differenz kommt nun eine homosexuelle Physiognomie (weibliche Züge bei Männern, männliche bei Frauen) zum Vorschein, welche die pränatale Hormone Theory bestätigen soll. Die Lage ist also komplex, auch bei der gesellschaftlichen Anwendung der Physiognomik. Reicht heute eine biopolitische Kritik jener physiognomischen Techniken, die administrativ und edukativ Orientierungsaufgaben im Kontext schwer organisierbarer Massen von Flüchtlingen übernehmen? Etwa beim Einschätzen des Alters und anderer Merkmale aufgrund physiognomischer Daten bei der Aufnahme von Flüchtlingen ohne Ausweis? Und was die sogenannte ‹Mehrheitsgesellschaft› betrifft, muss die Frage gestellt werden, ob Physiognomie und Biopolitik bei den Techniken der Selbstoptimierung als Unternehmer seiner selbst nicht Hand in Hand gehen. Dient die Physiognomik, die schon bei Lavater als «Natursprache»

15 Erin Manning/Brian Massumi (Hg.): Thought in the Act: Passages in the Ecology of Experience. Minneapolis: University of Minnesota Press 2014, S. 23. 16 Michal Kosinski/Yilun Wang: Deep Neural Networks Are More Accurate Than Humans at Detecting Sexual Orientation From Facial Images. In: Journal of Personality and Social Psychology 114/2 (2018), S. 246–257. Zum Niederschlag in der deutschen Presse sei exemplarisch verwiesen auf Christina Berndt: Der Vermesser der Seele. In: Süddeutsche Zeitung 52 (2018), S. 51; Eva Wolfangel: Auf der falschen Spur. In: Süddeutsche Zeitung 80 (2018), S. 37.

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und «göttliches Alphabet»17 galt, nicht zur Naturalisierung selbstoptimierter Subjekte? Dies ließe sich bei Management-Seminaren und Personaldiagnostik und Schulungen in Psychophysiognomik beobachten, die sich in den sozialen Medien vermehren. Und schließlich: Wie ist das Verhältnis von Biopolitik, Physiognomik und Ästhetik in der evolutionspsychologischen Attraktivitätsforschung, die das Kapital der (westlich und weiß fundierten) Schönheit nachgewiesen hat und eine biogenetische Modernisierung der Galton’schen «Gute-Gene-Hypothese» darstellt? Die in diesem Band behandelte Frage nach der heutigen Zentrierung des Individuums und nach einer ästhetischen Funktion der Physiognomie muss ‹ästhetische› Praktiken auch als Dispositiv psychophysischer Selbstoptimierung kritisch fokussieren, ein Dispositiv, dessen heutige Macht die Fluchtlinien zum exercise de la liberté, die Foucault im souci de soi noch gegeben sah, fraglich werden lässt. Die Rolle der Ästhetik bei heutiger psychophysiognomischer Optimierung des Subjektes ist also auch eine Herausforderung für die Ästhetik. Denn die Ästhetik muss andere Zugänge zu den Sinnen suchen, wie dies Jean-Luc Nancy auch in diesem Band vorschlägt. Eine biopolitische Kritik der Physiognomie scheint ebenso dringend wie zunehmend schwer zu werden, hat doch das seit Aristoteles’ Physiognomonica angenommene isomorphe Korrespondenzverhältnis von Körper und Seele, Außen und Innen heute Hochkonjunktur im Sinne der Interaktion von Körper und Seele. Die Wirkung des Körpers als Ausgangspunkt psychischer Phänomene bei der Physiognomik kehrt mit umgekehrter Richtung bei der Somatisierung psychischer Leiden in Psychoanalyse und Psychophysiognomik wieder. Die Zentrierung des Körpers in Philosophie und Wissenschaft hat diese Entwicklung gefördert Die Orientierungsfunktion der Physiognomie im bedrohlich empfundenen, weil undurchsichtigen Szenario der Multiplizität der Ethnien im Migrationszeitalter soll Strukturen bilden, die unbekannte, fremde Körper sichtbar- bzw. rationalisierbar machen. Diese ‹Orientierung› ist indes ein immunitäres Dispositiv, das durch einschließende Ausschließung die vermeintliche Gefahr im Inneren einpflanzt, was zu den im heutigen Europa autoimmunitären Entgleisungen sozialpolitischer Diskurse und Verhaltensformen geführt hat. Mediale Diskurse darüber steigern dabei den Kreislauf einer autoimmunitären Bedrohung. Malabou zeigt zugleich die Fruchtbarkeit einer transdisziplinären Arbeit, bei der Ergebnisse der Life Sciences die Transzendenz raumzeitlicher Grenzziehungen in Philosophie und Kulturtheorie ent-werken und zum biomateriellen

17 Johann Caspar Lavater: Physiognomische Fragmente. Herausgegeben von Christoph Siegrist. Stuttgart: Reclam 2004, S. 10.

Einleitung

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Fließen öffnen.18 Wenn die Life Sciences helfen, Philosophie und Kulturtheorie zu öffnen, so müsste dies auch umgekehrt für Biologie und Neurologie gelten, die einer Theorie bedürfen, um die Leitfragen zu den empirischen Untersuchungen zu konstellieren und kritisch zu reflektieren. So dient die Physiognomie etwa bei empirischen Untersuchungen zu pleasure als Grundlage für die Typisierung der Gehirnareale, die mit den bei den Probanten im Labor als pleasure eingeschätzten Gesichtsausdrücken korrespondieren. Weder die philosophische Unterscheidung zwischen pleasure und sublime ‒ nach Edmund Burke «whatever is fitted in any sort to excite the ideas of pain and danger»19 ‒ noch die Frage nach der Transitorität der Affekte oder der Natur als (ökologische) Responsivität gegenüber dem Umfeld oder schließlich die eigene Heterogenität des Ausdruckes in verschiedenen Teilen des Gesichtes, die Balzac thematisiert und Francis Bacon zu extremen Formen der Defiguration führt, spielen bei dem Setting der empirischen Untersuchungen eine Rolle.20 Die Kontrolle und die Modifikation der Körper und ihrer sinnlich-technischen Konstitution erscheint aber v.a. in der heutigen Zeit als primäre Aufgabe im Hinblick auf die Planung und Ausführung biopolitischer Praktiken. Anpassung und Optimierung der Körperlichkeit der Singularitäten gehören zu den unmittelbaren, offenkundig (neu-)physiognomischen Zielen ebenjener unhintergehbaren Strategie von Regierung des Lebens und «mondialisation»,21 die sämtliche Bereiche der leiblich-affektiven sowie beruflichen Existenz zu inkludieren versucht.22 Von dieser allgemeinen Überzeugung aus wurde der Band in drei Teile gegliedert: 1) Aisthesis: Transformationsprozesse in den Morphologien der Lebensformen, 2) Medien und Dispositive (jenseits) der Physiognomik, 3) Physiognomischbiopolitische Kulturen zwischen Normierung und Typisierung. Unseren Band eröffnet Jean-Luc Nancy mit seinem Beitrag Überschauen, durchschauen, welcher die Flüchtigkeit der Physiognomik ‒ und somit die Hinfälligkeit des physiognomischen Paradigmas als Erkenntnisinstrument – zum Gegenstand hat. Die Torsionen, die das Innere beständig mannigfaltig falten 18 Vgl. Cathérine Malabou: La Plasticité au soir de l'écriture. Dialectique, destruction, déconstruction. Paris: Éditions Léo Scheer 2004. 19 Edmund Burke: A Philosophical Enquiry into the Origin of Our Ideas of the Sublime and Beautiful. London: Hailes 1824, S. 34. 20 Dies war etwa Gegenstand der Diskussion in einem Humboldt-Kolleg im Colegio Nacional von Mexiko City, das Vittoria Borsò 2016 zusammen mit der Medizinerin Alicia Ortega organisierte. 21 Jean-Luc Nancy: Note sur le terme de ‘biopolitique’. In: ders.: La création du monde. Paris: Galilée 2000, S. 143. 22 Vgl. zu diesen Themen Vittoria Borsò/Michele Cometa (Hg.): Die Kunst das Leben zu «bewirtschaften»: Biós zwischen Politik, Ökonomie und Ästhetik. Bielefeld: transcript 2013.

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und sich ephemer äußerlich ausdrücken, verweisen uns stets auf uns selbst zurück und damit auf die Tiefe, aus der sie aufsteigen, und letztlich auf das Inintelligible. Die bereits von Nancy ins Feld geführte Bedeutung der aisthesis vertieft die erste Sektion des Sammelbandes im Hinblick auf ihre Beziehung zu den Morphologien der Lebensformen. Vittoria Borsò bespricht die Bedeutung, aber zugleich auch die Grenzen eines biopolitischen Zugangs zur Physiognomik. Zum einen erlaube dieser Ansatz hinsichtlich der performativen Kraft des nomos eine Kritik an der Physiognomie zu artikulieren, also den Konstruktionscharakter der der Gesellschaft zugrundeliegenden Ontologie. Zum anderen jedoch findet die Biopolitik ihre Grenzen in der affirmativen Macht des Lebens selbst angesichts einer sich stets alterierenden Biomaterialität, die in ihrer komplexen Dynamik zur Ent-werkung jener Ontologie führt. Am Beispiel von Balzacs minutiösen physiognomischen Beschreibungen zeigt Borsò die ent-werkende Funktion der aisthesis: Dabei sind es gerade die Details, welche den physiognomischen Diskurs verunsichern und aushöhlen, lassen sie doch durch die erzeugten Widersprüche den Selektionscharakter der Physiognomik sichtbar werden, was zugleich eine Infragestellung des nomos bzw. Normbegriffs nach sich zieht. Schon bei Balzac zeigt sich, dass das Lebendige – in all seiner Materialität, Singularität und Zeitlichkeit – nicht durch Taxonomien fixierbar ist und sich entsprechend als excès, also als Überschuss, realisiert, der «mehr ist als nur eine Resistenz gegen politische Macht».23 Gerade die Beschreibbarkeit dieses plastischen und mobilen Lebendigen stellt für die Wissenschaften eine besondere Herausforderung dar, als dass Realitätserlebnis, Wahrnehmung und Beschreibbarkeit an eine kognitive Produktion gekoppelt sind. Salvatore Tedesco problematisiert verschiedene Ansätze der Morphologie, die er als «Bewusstsein für den Vorrang der Manifestation der Realität über ihre analytische Auflösung in Formen (Bilder, diskursive Strukturen, Institutionen) und Funktionen»24 definiert. Das Lebendige wird gemäß seiner Form, seiner Funktion und seines Gebrauchs letztlich als ‹Bild› perzipiert anstatt als biologischer Akt – ein Konzept, das Tedesco zufolge die Einheit des Lebendigen in dessen Handlung und Sein beschreibt. Vor allem die Kategorie des Gebrauchs erweist sich als nützliches Instrument, um die heterogenen Umweltbeziehungen zu analysieren, die das Lebendige eingeht, da ‹Gebrauch› letztlich auch den Einsatz der Formen des Lebendigen und ihre Funktionen zu 23 Vittoria Borsò: Physiognomie heute: zwischen Körperpolitiken und vitaler Politik des Körpers, S. 51. 24 Salvatore Tedesco: Die Ästhetik und das Lebendige: Biologischer Akt, Bürde und Verantwortung, S. 64.

Einleitung

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verstehen erlaubt – also unsere Verantwortung bei der Aneignung und Wahrnehmung des ‹Realen›. Mit dem Versuch der Aneignung und den physiognomischen Aspekten setzt sich Andrea Pinotti auseinander. Als Beispiel zieht er den Menschheitstraum vom Fliegen heran, wobei er zunächst die Etappen der visuellen Darstellung der Aufsicht, etwa auf Landschaften, trassiert, die sich in allen Kulturen und Epochen finden. Verbunden ist all dies mit der grundlegenden Frage, ob es möglich sei, sich als Mensch überhaupt in ein Tier hineinzuversetzen und ob dessen Wahrnehmungserlebnis für andere Spezies reproduzierbar sei, was Pinotti unter Rekurs auf Uexkülls Betrachtungen zu den artenspezifischen Wahrnehmungsblasen letztlich abschlägig bescheidet. Dennoch ist es dem modernen Ikarus durchaus möglich in die Lüfte zu steigen, jedoch nicht mithilfe von Flügeln aus Wachs wie in der Mythologie, sondern mittels von Virtual Reality Dispositiven. Diese generieren ein ganzkörperliches Erlebnis, indem sie die visuellen Eindrücke der Vogelperspektive mit Bewegungseffekten koppeln und so in der Tat den Eindruck vermitteln, selbst zu fliegen. Um Phänomenen wie der Cybersickness vorzubeugen, müssen VR-Dispositive jedoch der menschlichen Physiognomie Rechnung tragen, so unter anderem in Form eines Avatars im Bildfeld. Diese Verbindung von pleasure und zugleich des Sublimen einer imaginierten Gefahr der körperlichen Flugerfahrung, wie sie anhand der VR-Dispositive als Life Technologies möglich ist, ist eines von vielen Beispielen für Formen medial-physiognomischen Enhancements in unserer hyperrealen Welt, wie sie an anderer Stelle auch Beate Ochsner und Giovanni Gurisatti besprechen und ihrerseits die Verbindung von Physiognomie und Biopolitik problematisieren. Mit jener irreduziblen Distanz und Unmöglichkeit, die Welt mit den Augen der Tiere wahrzunehmen, beschäftigt sich auch Martin Bartelmus, wenn er nach dem Antlitz der Tiere als einer philosophisch-ethischen Kategorie fragt. Anhand von «Text- und Bildtieren»,25 in denen das opake Antlitz der Tiere verhandelt wird, trassiert Bartelmus den Wandel des zoobiopolitischen Physiognomie-Diskurses im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts und konstatiert, dass jenes Antlitz nicht als anthropologische Differenz verstanden werden kann, sondern allein durch einen Abstand und eine Achtungserweisung, in welcher das «Tier den Platz des Anderen in einer Ethik einnimmt und gleichzeitig das Schweigen einer Zoobiopolitik, die Gewalt, die Tiere zum Verstummen bringt»26, zum Vorschein treten lässt. Erst das so eröffnete Spannungsverhältnis zwischen

25 Martin Bartelmus: Im Antlitz der Tiere lesen, S. 92. 26 Ebda., S. 109.

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Mensch und Tier «verbindet Ästhetik und Ethik mittels eines ‹Dazwischen›»27 und lässt uns das Antlitz des Anderen, in dessen Blick wir uns begegnen, erkennen. Der Verhandlung von Physiognomik anhand verschiedener medialer Dispositive widmet sich auch Luca Farulli, wenn er den Kunsthistoriker Jacob Burckhardt als einen Physiognomiker der Dingwelt bespricht. Burkhardt (re-)konstruiert mithilfe seiner historiografisch-kompositorischen Methode ein kulturhistorisches Bild vergangener Epochen und ihren «color temporum»,28 also das ihnen typische, alltägliche Leben. «Das ‹Bild›», so Farulli, «ist ein auf die Stille reduziertes Leben, in dem lediglich die Formen sprechen».29 Dieses mittels der Formen der Geschichte geschaffene Bild eint das Faktuale mit dem Akt des Betrachtens, verbindet (projizierenden) Diskurs und Darstellung und zeigt ihre Verhandlung und somit nicht zuletzt unsere Selbstbegegnung auf. Auch Luca Viglialoro legt sein Augenmerk auf solch eine Relationalität, indem er sich mit der negativen Medientheorie, die in der Tradition der Physiognomik steht, auseinandersetzt. Im Spannungsverhältnis von Medium und Technik gelegen prozessiert die relationale Ästhetik der Geste, so Viglialoro, «Modifikationen und Neuorganisationen»30 der aisthesis. Der durch das Medium erzeugte Präsenzeffekt und der entsprechend hervorgebrachte Sinn stehen dabei im Zeichen dieser Ontologie, welche erst durch mediale Spannungsdynamiken, also mittels einer relationalen Ästhetik der Geste, sinnfällig wird. Giovanni Gurisatti betrachtet die Physiognomik, Ästhetik und Ethik des Bildes angesichts der digitalen Derealisierung der Welt. Ihre «ontologische Essenz» sei «im Grunde ‹post-fotografisch›»,31 als dass eine Wirklichkeit hervorgebracht werde, die nicht real sein müsse, um als wirklich zu gelten. Angesichts dieser Hyperrealität und Manipulierbarkeit von Bild und Sinn stelle sich, so Gurisatti, die Herausforderung, eine neue Ethik des Bildes zu denken, welche sowohl von einer «neuen Alphabetisierung des Visuellen»32 als auch von ästhetischen Praktiken begleitet wird, die sich der «Anästhetisierung [und An-Ethisierung] der Mediensphäre, Biosphäre und der Ikonosphäre»33 entgegenstellen – also die Gemeinschaft zu einem kritischen und verantwortungsvollen Umgang mit Bildern befähigen.

27 Ebda. 28 Jacob Burckhardt: Briefe. Vollständige und kritisch bearbeitete Ausgabe. Bd. 10. Herausgegeben von Max Burckhardt. Basel: Schwabe 1986, S. 247. 29 Luca Farulli: Jacob Burckhardt: Physiognomiker der Dingwelt, S. 126. 30 Luca Viglialoro: Von der Physiognomik zur Ästhetik der Geste, S. 132. 31 Giovanni Gurisatti: Die hyperreale Gemeinschaft, S. 154. 32 Veronica Neri: L’immagine nel web. Etica e ontologia. Rom: Carocci 2013, S. 64–73. 33 Giovanni Gurisatti: Die hyperreale Gemeinschaft, S. 159.

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Eine Verschränkung von Biopolitik, Technologie und Physiognomie erkennt auch Beate Ochsner in ihrer Untersuchung smarten Hörens im Sinne einer technosensorischen Regierungspraktik, denn zeitgenössische hearables, welche in Kooperation von Medizin- und Unterhaltungsindustrie entwickelt und produziert werden, sollen weit mehr als nur das ‹natürliche› Hören wiederherstellen. Geräte zur Höroptimierung seien heute salonfähig geworden, da sie als «self-customizable technology»34 sowohl eine Individualisierung von Hörerlebnissen als auch ein physiognomisches Enhancement versprechen, die im Zeichen neoliberaler Selbstoptimierung und Gouvernementalität stehen. Smartes Hören ließe sich insofern als «neuro-self-governance»35 bezeichnen, so dass sich das Lifestyle-Produkt Hörgerät bei genauerer Betrachtung als «medienkulturelle[s] Subjektivierungsdispositiv»36 erweist. Der dritte Abschnitt des Buches widmet sich den physiognomisch-biopolitischen Kulturen zwischen Normierung und Typisierung und legt hierbei sein Augenmerk insbesondere auf das 19. Jahrhundert, formulieren doch gerade in jener Epoche die positivistischen Wissenschaften Modelle für Normen und Devianz, womit eine ‹Verwissenschaftlichung› der Physiognomik bzw. ihre Erhebung zum wissenschaftlichen Kriterium einhergeht. So erörtert Marie Guthmüller den Einfluss von Textlektüren der positivistischen Psychiatrie auf den Bereich der literarischen Ästhetik, verbunden mit der Frage, ob sich dort eine Physiognomie des Geistes ablesen lasse. Anhand verschiedener Facetten der Rousseau-Rezeption in Frankreich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zeichnet Guthmüller die Debatte verschiedener Wissenschaftsdisziplinen nach: So entbrennt ein Streit zwischen Medizin und Psychiatrie auf der einen Seite und der Literaturwissenschaft auf der anderen, wem die Kompetenz und Deutungshoheit bezüglich der Schriften Rousseaus obliege, denn gerade er ist zu dieser Zeit eines der bevorzugten Untersuchungsobjekte der Psychopathologie. Dabei sind es insbesondere die «spezifische Authentizitätsrhetorik»37 Rousseaus und die Wirkmächtigkeit der psychopathologischen Diskurse, welche den Literaturkritiker Ferdinand Brunetière in den Fallstricken des positivistischen-stilphysiognomischen Diskurses straucheln und – trotz der ferventen Betonung des Eigenwerts von Literatur – Rousseau ein Gemütsleiden attestieren lassen.

34 Beate Ochsner: Die Zukunft smarten Hörens hat begonnen, S. 168. 35 Laura Mauldin: Precarious Plasticity. Neuropolitics, Cochlear Implants and the Redefinition of Deafness. In: Science, Technology & Human Values 39/1 (2014), S. 130–153, hier S. 133. 36 Beate Ochsner: Die Zukunft smarten Hörens hat begonnen, S. 171. 37 Marie Guthmüller: Stil als «Physiognomie des Geistes»?, S. 187.

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Mit dem Diskurs in Italien ab den 1880er Jahren setzt sich Antonio Lucci auseinander, wenn er die positivistische Biopolitik der italienischen Regierung in den Blick nimmt und eine zunehmende «étatisation du biologique»38 konstatiert. Exemplarisch betrachtet Lucci diese Verflechtung von Medizin und Politik anhand des Wirkens der Senatoren und Mediziner Paolo Mantegazza, Jacob Moleschott und Andrea Verga hinsichtlich einer «fortschreitende[n] Hygienisierung und Medikalisierung des sozialen, kulturellen und politischen Diskurses»,39 wobei Lucci die Hygiene als gouvernementale Regierungspraxis ausmacht. Einen Bruch mit dem physiognomischen Verständnis im Italien des ausgehenden 19. Jahrhunderts beleuchtet Nicoletta Pireddu und konstatiert angesichts einer zunehmenden Abweichung von der biopolitischen Norm eine Neukodifizierung der «Gesetze der Physiognomie [. . .], wobei die Grenzen der Körperlichkeit ausgetestet und die Grenzen des Körpers, der Materie, der Natur und des Selbst neu definiert werden».40 Das physiognomische Paradigma, so Pireddu in ihrer Analyse der Schriften von Paolo Mantegazza und Scipio Sighele, sei in jener Epoche angesichts der gesellschaftlichen und psychologischen Komplexität an seine Grenzen gestoßen, so dass der Begriff ‹Physiognomie› allenfalls als Metapher im Plural verwendet werden könne, jedoch aber stets einer Historisierung unterliegen müsse. Ergänzt wird dieses italienische Panorama durch die Betrachtungen Lucia Rodlers zu Cesare Lombrosos anthropologischen Studien, die sie am Beispiel der Tätowierung bespricht. Letztere seien als Zeichen zu verstehen, die die Physiognomie ergänzen und die Lombroso zum Zwecke der Typisierung im Zusammenhang mit anderen körperlichen Merkmalen stellt. Er differenziert Tätowierungen in dreierlei Hinsicht: erstens als Ausdruck von Atavismus, zweitens als Phänomen der Gruppenidentität oder Weltanschauung und drittens als Relation verschiedener Atavismen, insbesondere im Hinblick auf Sexualität. Bekanntlich schlagen sich Lombrosos physiognomische Studien auch in dessen Kriminalanthropologie nieder, wobei auch im Falle der Tätowierungen die Frage ungeklärt bleibt, ob sie aus der Wesensnatur der Untersuchten resultieren oder aber einzig als ein Resultat der Sozialisation anzusehen seien. Dario Gentili widmet sich den gegensätzlichen Positionen Walter Benjamins und Max Horkheimers hinsichtlich des Kunstwerks im Zeitalter von Massengesellschaft und Massenkultur entgegen seiner ökonomisch-gesellschaftlichen Verein-

38 Michel Foucault: «Il faut défendre la société». Cours au Collège de France (1975–1976). Herausgegeben von François Ewald/Alessandro Fontana. Paris: Gallimard 1997, S. 213. 39 Antonio Lucci: Die ‹positivistische Biopolitik› Paolo Mantegazzas, S. 229. 40 Nicoletta Pireddu: Physiognomien des Exzesses im neurotischen Zeitalter des Fin de Siècle, S. 235.

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nahmung. Sieht Horkheimer noch in dessen widerständigem Potential als autonome Kunst, die Möglichkeit, die Humanität des Menschen wiederzuerlangen und eine neue politische Gemeinschaft zu begründen, so nimmt Benjamin mit dem Konzept des Kunstwerks als «zweite[r] Technik»41 letztlich Entwicklungen vorweg, wie sie später die neoliberale Subjektivierung durchsetzt, indem sie das Individuum in den Kosmos des Marktes einschreibt und eine entsprechend konfigurierte Lebensform hervorbringt. Der vorliegende Band fasst die Ergebnisse der Tagung Physiognomien des Lebens: Anthropologie, Medizin, Kultur, welche im Rahmen des Italian Thought Network vom 12. bis 14. September 2018 in Düsseldorf abgehalten wurde. Für die großzügige Förderung der Tagung und der Publikationen danken wir dem Deutsch-Akademischen Austauschdienst. Gedankt sei zudem sowohl den Beiträgern, welche uns ihr Manuskript anvertraut haben, als auch den Übersetzerinnen Cristina Algranati, Barbara Engelmann, Martina Kollroß und Sainab Sandra Wildschütz-Omar. Ein besonderer Dank gilt Francesca Cavaliere für ihr tatkräftiges Engagement im Rahmen des Projekts.

Bibliographie Antonini, Giuseppe: I precursori di Cesare Lombroso. Turin: Bocca 1900. Arburg, Hans-Georg von/Tremp, Benedikt/Zimmermann, Elias: Einleitung. In: dies. (Hg.): Physiognomisches Schreiben. Stilistik, Rhetorik und Poetik einer gestaltdeutenden Kulturtechnik. Freiburg i. B.: Rombach 2016, S. 7–20. Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften. Bd. 7.1. Herausgegeben von Rolf Tiedemann/ Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991. Berndt, Christina: Der Vermesser der Seele. In: Süddeutsche Zeitung 52 (2018), S. 51. Borsò, Vittoria/Cometa, Michele (Hg.): Die Kunst das Leben zu «bewirtschaften»: Biós zwischen Politik, Ökonomie und Ästhetik. Bielefeld: transcript 2013. Bouton, Christoph/Laurand, Valery/Raïd, Layla (Hg.): La physiognomie: problèmes philosophiques d’une pseudo-science. Paris: Kimé 2005. Burckhardt, Jacob: Briefe. Vollständige und kritisch bearbeitete Ausgabe. Bd. 10. Herausgegeben von Max Burckhardt. Basel: Schwabe 1986. Burke, Edmund: A Philosophical Enquiry into the Origin of Our Ideas of the Sublime and Beautiful. London: Hailes 1824. Campe, Rüdiger/Schneider, Manfred: Vorwort. In: dies. (Hg.): Geschichten der Physiognomik. Text. Bild. Wissen. Freiburg i. B.: Rombach 1996, S. 9–13.

41 Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (Zweite Fassung). In: Gesammelte Schriften. Bd. 7.1. Herausgegeben von Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991, S. 360.

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Deleuze, Gilles: Qu’est-ce qu’un dispositif? In: Association pour le Centre Michel Foucault (Hg.): Michel Foucault philosophe. Rencontre internationale Paris 9, 10, 11 janvier 1988. Paris: Seuil 1989, S. 185–195. Esposito, Roberto: Pensiero vivente. Origine e attualità della filosofia italiana. Turin: Einaudi 2010. Foucault, Michel: «Il faut défendre la société». Cours au Collège de France (1975–1976). Herausgegeben von François Ewald/Alessandro Fontana. Paris: Gallimard 1997. Garroni, Emilio: Senso e paradosso. Estetica, filosofia non speciale. Rom/Bari: Laterza 1986. Gumbrecht, Hans Ulrich: Dimensionen und Grenzen der Begriffsgeschichte. München: Fink 2006. Gumbrecht, Hans Ulrich: Präsenz. Herausgegeben von Jürgen Klein. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2012. Gurisatti, Giovanni: Dizionario fisiognomico. Il volto, le forme, l’espressione. Macerata: Quodlibet 2006. Kosinski, Michal/Wang, Yilun: Deep Neural Networks Are More Accurate Than Humans at Detecting Sexual Orientation From Facial Images. In: Journal of Personality and Social Psychology 114/2 (2018), S. 246–257. Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente. Herausgegeben von Christoph Siegrist. Stuttgart: Reclam 2004. Malabou, Cathérine: La Plasticité au soir de l'écriture. Dialectique, destruction, déconstruction. Paris: Éditions Léo Scheer 2004. Manning, Erin/Massumi, Brian (Hg.): Thought in the Act: Passages in the Ecology of Experience. Minneapolis: University of Minnesota Press 2014. Mauldin, Laura: Precarious Plasticity. Neuropolitics, Cochlear Implants and the Redefinition of Deafness. In: Science, Technology & Human Values 39/1 (2014), S. 130–153. Nancy, Jean-Luc: Note sur le terme de ‹biopolitique›. In: La création du monde. Paris: Galilée 2000, S. 137–144. Neri, Veronica: L’immagine nel web. Etica e ontologia. Rom: Carocci 2013. Seel, Martin: Vor dem Schein kommt das Erscheinen. Bemerkungen zu einer Ästhetik der Medien. In: Merkur 47 (1993), S. 770–783. Shusterman, Richard: Körper-Bewusstsein. Für eine Philosophie der Somästhetik. Hamburg: Meiner 2008. Vinci, Leonardo da: Trattato della pittura [1489–1518]. In: Scritti. Herausgegeben von Jacopo Recupero. Mailand: Rusconi 2009, S. 3–372. Wolfangel, Eva: Auf der falschen Spur. In: Süddeutsche Zeitung 80 (2018), S. 37.

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Überschauen, durchschauen 1 «Das Tiefe, das der Geist von innen heraus [. . .] treibt».1 Um diese Formel organisiert sich Hegels Kommentar zur Physiognomik, zur Phrenologie sowie zu den anderen zeitgenössischen Versuchen, Gesetze für den physischen Ausdruck des Charakters, des Gefühls und des Verstandes zu schaffen. Hegel will solche Versuche jenseits ihres Anspruchs auf eine objektive Erkenntnis an einen Punkt bringen, wo das sinnliche Scheinen des Geistes nicht länger auf eine Positivität von Objekt reduziert werden kann. Denn das sinnliche Scheinen ist selbst der Druck des Tiefen in ein Äußeres, welches dieser Druck fortwährend in einer endlosen Desubjektivierung mit sich reißt. Diese letzte besteht jedoch nicht etwa in einer Subjektivierung, als ob das Subjekt das wahre Objekt werden müsse, weil das Wahre sich in keiner Weise aufzeigt, sondern sich begreift, d.h. es erfasst sich selbst als dieser Druck, der in allen seinen Stadien und Konfigurationen dem entspricht, was in den letzten Zeilen der Phänomenologie des Geistes als das Schäumen des absoluten Geistes in seiner Unendlichkeit bezeichnet wird und als solches nie aufhört, das «Selbst» in seinem Sich-Selbst-Sein zu überschäumen. In ihm übersteigt, erschöpft, pulverisiert sich die ganze Identität und die ganze Selbstheit des Absoluten in einem brodelnden Schaum wie eine gewaltige Welle, die gegen die Felsen schlägt. So verschwindet aber auch, umflutet vom perlmuttfarbenen Brodeln, der Fels selbst. Was bleibt also zu sehen? Nichts anderes als dichter und unruhiger Dunst. Nichts als das Unsichtbare einer Kraft, die sich durch die Sprengung und die Zerstreuung in unzählige Partikel ausdrückt, die sofort in das düstere Tiefe zurückkehren, dessen endlose Dissemination und Reproduktion sie gleichzeitig bilden. Die fehlende Auseinandersetzung mit diesem tiefen Druck des Geistes und die Suche nach seinen Erscheinungsformen gleicht für Hegel etwa der Berücksichtigung nur einer der zwei Funktionen des männlichen Gliedes, und zwar jener niedrigeren des Pissens, und dabei dem Vergessen jener des sich selbst erfassenden Lebens.

1 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes. In: Werke. Bd. 3. Herausgegeben von Eva Moldenauer und Karl Markus Michel. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1986, S. 262. https://doi.org/10.1515/9783110665055-002

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2 Einige Karikaturen und Zeichnungen haben sich einer Analogie zwischen dem Dispositiv der Augen und der Nase im Gesicht und jeweils jenem der Hoden und des Gliedes bedient. Auch Magritte hat an eine solche symmetrische Analogie zwischen den Brüsten und der weiblichen Schamgegend gedacht. Vielleicht lassen wir uns auch oft von dem Versuch verführen, das Gesicht und das Geschlecht sowie den Geist und den Körper in Verbindung zu setzen, aber eher mit dem Wunsch, das Erste auf das Zweite zu reduzieren, anstatt das Zweite mit der Würde und Macht des Ersten zu denken. Hegel löst diesen Gegensatz auf, indem er den Begriff – und selbst das Begreifen – als das Sich-Selbst-Begreifen des Lebens auffasst, das als Paradigma und als Moment des Sich-Selbst-Begreifens des Seins oder genauer des Seins selbst als das Sich-Selbst-Begreifen des ganzen Seienden gilt sowie der ganzen Existenz und des Existierens als Totalität – einer Totalität, die definitionsgemäß unendlich ist. Es ist nun möglich, in manchen sprachlichen Äußerungen zum Gesicht einige Zeugnisse zugunsten dieses gedachten – d.h. geprüften, erprobten – Sich-SelbstBegreifens zu finden, das sich schlichtweg nicht auf ein reines Konzipieren reduzieren lässt. Der Wortschatz der Sicht und der Sichtbarkeit (es geht gerade um die Einheit von beiden) bietet, zumindest in einigen Sprachen, bemerkenswerte Beispiele zu diesem Thema. Das griechische οψ bezeichnet die Sicht, im Sinne der Handlung und der Fähigkeit des Auges, kann aber auch in einigen Komposita (wie etwa bei χρυσωψ, golden) das Aussehen bedeuten. Unter der Form οπος bezeichnet es das Gesicht, wodurch ich die Doppelnatur des Sehenden und des Gesehenen hinterfragen möchte. Das lateinische visus drückt das Sehen und das Gesehene, d.i. das Bild, aus. Ähnlich bezeichnet das französische vision die optische Fähigkeit und das Objekt der Wahrnehmung. Der Ausdruck «der Anblick der Viktoriafälle» kann sowohl auf den Akt der Betrachtung des Wasserfalls als auch auf dessen Darbietung verweisen. Das italienische vista besitzt denselben Charakter. Auch das deutsche Sicht verweist auf das Sichtbare und auf die Modalität des Sehens. Gesicht bezeichnet das Gesicht, aber auch das Aussehen, manchmal selbst jenes einer nicht-humanen Realität, wenn man beispielsweise auf Französisch von der physionomie d’une contrée (Physiognomie einer Gegend) spricht. Aristoteles konstatiert, dass das Sinnliche in actu sich jenes Organ ähnlich macht, das es fühlt. Diese tendenzielle und dynamische Ähnlichkeit charakterisiert in der Tat die Empfindung in Bezug auf sämtliche weitere Formen

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des Aufeinandertreffens und des Austauschs zwischen Körpern. Man kann sie zweifellos in der Beziehung zwischen der theoria und dem von ihr betrachteten Göttlichen wiederfinden. Es handelt sich um bemerkenswerte Fälle eines allgemeinen Gesetzes, nach dem es keine mimesis ohne methexis, keine Reproduktion ohne Anteilnahme am reproduzierten Gegenstand, gibt. Diese Konstatierung allein, sofern nötig, reicht, um jede Darstellung der Nachahmung als Sekundarität, und insbesondere der Nachahmung der Natur durch die Kunst, zu zerstören, die im Endeffekt nichts anderes ist als die Anteilnahme an der erschaffenden oder originären Energie, d.h. an dem Nichts namens Sein. Was uns hier interessiert, ist allerdings die Tatsache, dass es keine Ähnlichkeit ohne Anteilnahme gibt.

3 Der Fall des Sehens erscheint in dieser Hinsicht als exemplarisch. Dies berücksichtigt keine etwaigen Hierarchien der Künste, da alle Hierarchien möglich sind, wenn man bedenkt, dass die Sinne – ob man sich nur auf die klassischen fünf Sinne beschränkt oder nicht – im selben Maße miteinander kommunizieren, wie sie sich voneinander unverwechselbar unterscheiden lassen. Vielmehr ist es eine Tatsache, dass das Sehen mit dem Aufrechtgang verbunden ist und mit dem direktionalen Charakter des Blickes, der gewissermaßen das Gesicht nach vorne, nach dem Gegenüber des Selbst ausrichtet – dieser letzte Charakter betrifft auf dezidiertere Art und Weise die höheren Säugetiere und nicht zuletzt den Menschen. Die Reversibilität des Sinns des visus ergibt sich aus der auf den Horizont ausgerichteten Sicht und der Exposition des Körpers, der die Sicht mit sich trägt. Sehend ist der Körper sichtbar nicht allein wegen seiner – in der Tat ziemlich bescheidenen – Statur, sondern eher aufgrund seines Aussehens, das das Anvisieren markiert. Diese Sichtbarkeit ist nun auch das, was das Sehen auf sich selbst bezieht und als solches konstituiert: Die Reversibilität des visus ist also ein Bestandteil des Sehens. So schreibt Merleau-Ponty: «il ne suffit pas, pour que je voie, que mon regard soit visible pour X, il faut qu’il soit visible pour lui-même par une sorte de torsion, de retournement ou de phénomène spéculaire».2 Das Anvisieren der Sicht erfasst sich selbst als ein Anvisieren: Es weiß um sich, es fühlt sich, es sieht sich vor sich selbst sehend oder vielmehr vom SichSelbst hin zum eigenen Draußen und zurück zur Innerlichkeit seines Anvisierens überführend. Das Anvisieren ist natürlich nicht dem menschlichen Blick

2 Maurice Merleau-Ponty: Le visible et l’invisible. Paris: Gallimard 1964, S. 199.

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eigen: Etliche Tiere visieren das Nahe und das weniger Nahe an, welche Hindernisse und Beute, Raubtiere und Partner, Schutz und Fallen verbergen. Das Beobachten und das Überwachen sind die wesentlichen Modi des Anvisierens. Das Draußen lässt sich dort in gewisser Weise als solches sehen, was bei anderen Regimen der Sinnlichkeit nicht genau der Fall ist, obgleich alle an einer ähnlichen «Torsion» teilhaben. Es ist aber eine Tatsache, dass sich das Anvisieren der Tiere genau so sehr, wenn nicht sogar mehr, durch das Gehör und den Geruch – durch den Tastsinn im Falle der Fühler – sowie durch eine elektrische oder magnetische Empfindlichkeit vollzieht und dass die Ausdrucksmodi dieser Empfindungsformen oft viel umfangreicher sind als jene des Menschen. Es trifft zu, dass der Sehsinn der Tiere – wie beispielsweise beim Adler oder bei der Fliege – viel empfindlicher als jener des Menschen sein kann, aber das menschliche Sehen visiert ostensiv das Jenseits des Sichtbaren an, was freilich nicht ohne Konsequenzen ist. Ich sage ostensiv, weil ich nicht behaupten möchte, dass sämtliche tierische und pflanzliche oder sogar intralebendige Empfindungen (d.h. alle Formen der Aktion und Reaktion) nicht am allgemeinen Verlauf des Sinns teilnehmen, welcher das bloße Sein bildet, dessen Nichtigkeit genau den gegenseitigen Verweis alles Seienden – im Sinne des «wilden Sinnes», wie es bei Merleau-Ponty manchmal heißt – impliziert. Außerdem formuliere ich es so, weil sich diese Art grenzenloser Kommunikation als solche im Menschen durch die Ostension dessen zeigt und exponiert, was die Sprache – oder zumindest einige Sprachen – das Gesicht nennen.

4 Der Aufrechtgang trägt den Blick nicht allein in die Ferne: Er verbindet diesen mit einem anderen Flüchtigen, dem Wort, das der Mund und sämtliche im Hals modellierte Stimmapparate artikulieren. Diese doppelte Flüchtigkeit weist einen gemeinsamen Nenner auf: die Rückkehr zu sich selbst. Dieser Sachverhalt wird von Merleau-Ponty genauer beschrieben: «si mes paroles ont un sens [. . .] c’est parce que cette organisation, comme le regard, se rapporte à elle-même».3 Man könnte sagen, dass ein solches Selbstverhältnis für eine Organisation, ein System oder einen Prozess konstitutiv und gleichzeitig nichts anderes ist als das, was den Sinn in allen seinen Sinnen bildet. Diese Verbindung von Sinnlichem und Intelligiblem im Wort Sinn wurde von Hegel

3 Ebda.

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gewürdigt – hinzukommt, dass sinnlich im Deutschen «feinsinnig» bedeutet, während das Verb sinnen «reflektieren», «nachdenken» meint. Le visage – um mit der französischen Sprache zu reflektieren, obwohl das deutsche Wort Gesicht eine vergleichbare Analyse zulässt – ist ein Wort und/ oder etwas, in dem sich gewissermaßen eine zusätzliche Torsion der Torsion vollzieht. Seiner Bildung nach setzt sich das Wort visage aus dem Präfix vis (das im Altfranzösischen das Sehen und das Gesicht bedeutete) und dem Suffix age zusammen, das in einer großen Anzahl an Worten mit unterschiedlichen Funktionen verwendet wird. Die häufigste dient der Bezeichnung der Aktion eines transitiven Verbs: Vidage (das Ausleeren) entspricht etwa dem Akt des Leerens. Weitere Funktionen sind die Bezeichnung des Ortes einer Aktion, wie z.B. mit dem Wort virage (Kurve), oder einer Form von Kollektiv, wie etwa bei village (Dorf), das eine Gruppe von villae bedeutet (im Lateinischen: Landhaus; hier findet man eine gewisse Nähe zum ge von Gesicht). Nichts zwingt uns dazu, eine unter den genannten Funktionen auszuwählen. Wir können denken, dass das Gesicht den Akt des Sehens substantiviert, auf seinen Vollzugsort hinweist oder sämtliche Züge dessen versammelt, wofür vis stand: Der Sitz des Sehens und simultan das Sehen, das Aussehen, das Erscheinen dieses einen Gesichts – welches ein weiterer Terminus ist, in dem die Torsion in Kraft tritt. Denn ein Gesicht hat nur dann einen Wert und existiert nur im Angesicht eines anderen, das den Blick erwidert. Das Gesicht ist das Sehen in actu und dieses stellt sich gerade durch einen solchen Akt heraus, lässt sich als ein Sehendes (oder eventuell ein NichtSehendes) sehen. Das Anvisieren des Sehens ist nun nur ausgehend von einem «Gesichtspunkt» möglich, dessen Anatomie nicht gekannt werden muss, um zu wissen, dass er nicht bzw. nur im Hinblick auf ein instrumentelles Anvisieren sichtbar ist, das in Form eines dunklen Punkts oder Flecks auftritt, welcher als blind bezeichnet wird.

5 Es ist an dieser Stelle überflüssig, daran zu erinnern, dass der blinde Fleck eine unerschöpfliche Quelle für jede Form von Reflexion darstellt. Vielmehr will ich darüber nachdenken, dass das Gesicht – der sichtbare Aspekt des Sehens – im Endeffekt diese tiefe Innenschau, oder besser: das Tiefe dieser Innenschau, entwickelt, die selbstverständlich in das Unsichtbare hinein schaut. Es ist sicherlich kein Zufall, dass das zeitgenössische Denken bemerkenswerte Reflexionen zum Thema Gesicht angestellt hat. Zu diesen gehört ein bekannter Satz von Foucault, in dem er von der möglichen Auslöschung

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des menschlichen Gesichts spricht, «comme à la limite de la mer s’efface un visage de sable».4 Es ist auch nicht überraschend, dass das Gesicht erscheint, sobald es Gefahr läuft, zu verschwinden. Die Physiognomik könnte ihr naturalistisches Projekt verloren haben und nichts sagt uns, dass keine Psycho-Sozio-Neurologie es ersetzen könnte. Sämtliche Fortschritte der positiven Wissenschaften lassen eher das weder positive noch negative Tiefe erblicken, das das Denken erfordert. Ohne mich auf Levinas’ und Deleuzes Konzeptionen des Gesichts konzentrieren zu wollen, möchte ich mich an einigen ihrer Züge aufhalten. Der markanteste Zug der Reflexion Levinas’ besteht darin, dass das Gesicht für ihn der Name des Unsichtbaren ist, was es natürlich nicht daran hindert, zu sprechen oder die Frage seiner andershaften Präsenz an sich selbst und an mich zu adressieren. Diese Präsenz wird bei Levinas als «refus d’être contenu» beschrieben, der das Gesicht definiert.5 Deleuzes Gedankenzüge bilden hingegen die Konturen eines Lochs: «Le visage creuse le trou dont la subjectivation a besoin pour percer».6 Die Subjektivierung spricht also erst, wenn sie durchdringt. In jedem Falle ist das Gesicht ein Rückzug, ein Ausheben, das den Zugang zu einer Ankündigung oder zu einer Signifikanz öffnet, die noch nicht auf eine Bedeutung reduziert werden kann und dennoch Zeichen möglich macht. Der Wert dieser Zeichen – d.h. deren Sinn – liegt letztendlich immer darin, dass sie sich von ihrem abwesenden Grund, von einer Öffnung abheben. Obwohl eine solche Kopplung die Singularität der Gedanken von Levinas und Deleuze herausfordert und ihren Theorien eine gewisse Gewalt antut, denke ich, dass sie, zumindest bezüglich dieser Öffnung, nicht illegitim ist. Man kann natürlich Derridas Kritik an Levinas in Bezug auf diese öffnende Präsenz wiederaufnehmen und dabei in ihr die Bestätigung des substantiellsten und metaphysischsten Wertes einer Präsenz sehen, die im Grunde (und hier geht es tatsächlich um den Grund) wie die originäre und letzte Bedeutung jeder Signifikanz funktioniert. Man könnte auch erwidern, dass die Öffnung als ein Sich-Selbst-NichtIdentisches, als ein Nicht-Erkennbares oder merkwürdigerweise als ein Analogon der différance oder zumindest als etwas betrachtet werden kann, das von dieser erarbeitet und somit jenseits etlicher Bezeichnungen ihrer Offenheit ausgehoben wird. (Ohne dabei auszuschließen, dass es sich hier ebenso um eine

4 Michel Foucault: Les mots et les choses. Paris: Gallimard 1969, S. 398. 5 Emmanuel Levinas: Totalité et infini. Essai sur l’extériorité. Den Haag: Nijhof 1961, S. 168. 6 Gilles Deleuze/Félix Guattari: Mille plateaux. Capitalisme et schizophrénie 2. Paris: Minuit 1980, S. 206.

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Schließung oder um die alternierende Kontraktion des einen und des anderen handelt.) Derrida behauptet, die «[différance] ne saurait se dissimuler dans un trou dont les bordures seraient déterminables».7 Diese Formel ist allerdings ambivalent: Spricht er vom absoluten Charakter des Lochs oder von der Eigenschaft gewisser Löcher? Ich werde dieser Thematik hier nicht nachgehen, dennoch muss ich anmerken, dass die umfassende und komplexe Problematik des Lochs – d.h. dessen Offenheit, dessen Aushebung, dessen Eigenschaften – eine der größten Besorgnisse unserer Zeit darstellt. Ich rede darum herum.

6 Das offene oder gefundene Gesicht – oder besser: die Offenheit, das Loch oder die Öffnung – als Wahrheit des Gesichts ist nicht zwangsläufig dem Verlust in einem Hintergrund von Präsenz oder Absenz, von Übermaß oder Mysterium (sei es im Sinne einer Alterität oder einer Subjektivierung) geweiht. Man darf nicht vergessen, dass sich das Anvisieren des Gesichts auf sich selbst bezieht. Das Gesicht sieht sich sehend. Was es dadurch – d.h. sowohl durch den Akt des Sehens als auch durch den Ort und die Zusammenstellung seiner Anschauungen – tut, hat nichts Spekulatives im üblichen Sinne. Die Torsion, die Merleau-Ponty als spekulativ bezeichnete, bietet diesen Charakter aller Spekulation: dass sie nicht zu sich selbst rückkehrt. Der Spiegel entzieht mich mir und das taumelhafte Denken des Sehens des Unsichtbaren entzieht sich seinem eigenen Begriff – zumindest im üblichen und nicht im Hegel’schen Sinne. Jetzt komme ich zum Titel meines Beitrags: envisager (planen, überschauen) und dévisager (durchschauen) sind zwei Verben, welche die französische Sprache erfunden hat, um das Gesicht in eben der Bewegung des Selbst-SehendSehens außerhalb von sich selbst zu treiben. Denn das Gesicht gesichtet sich nicht: Das Verb gesichten existiert nicht. Das Gesicht überschaut oder ‹durchschaut› sich. Envisager (überschauen) bedeutet: Möglichkeiten planen. Das ist ein ziemlich unentschlossener und ungenauer Terminus. Ich kann etwa planen (envisager), die Viktoriafälle eines Tages zu besichtigen. Überschauen (envisager) meint den Versuch, die Sicht in eine ungewisse und schwer wahrnehmbare Ferne zu treiben. Es ist ein schwebender Entwurf, der nicht auf die Fixierung einer Form zielt. Es ist ein Sehen, das dazu bereit ist, sich zu verirren oder als ein ungewisses und

7 Jacques Derrida: Marges de la philosophie. Paris: Minuit 1972, S. 6.

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verlorenes wieder zu sich zu kommen. Deshalb wird dieses Verb oft in der Vergangenheit verwendet: J’avais envisagé (ich hatte geplant). Dévisager (durchschauen) – das im Altfranzösischen «entstellen» bedeutete – bezeichnet hingegen die Aktion, seinem Gegenüber prüfend, kritisch oder gar aggressiv ins Gesicht zu schauen. Der, der durschaut wird, schaut ins Gesicht des Anderen, der ihn anstarrt, als wäre er kurz davor, sein Geheimnis zu enthüllen. Derjenige, der durchschaut, erhält im Gegenzug eine zerlegte Version des anderen Gesichts in einer geschlossenen Bedeutung. Es sei denn, der Durchschauende ist derjenigen Öffnung ausgesetzt, in der jede Bedeutung über sich hinausgeht. Überrascht und zitternd wird sein Blick umgeleitet. Der Durchschauende kann dann entweder den Blick abwenden oder das unerforschliche Tiefe durchschauen, das er erblickt hatte. Mittels der Kombination dieser zwei Sichtweisen – wodurch weder das Sichtbare noch das Unsichtbare, sondern eher der dunkle Grund der Schaulust (d.i. des Hineinschauens und des Selbstschauens) gesichtet wird – lässt sich der Druck nicht erkennen, sondern höchstens spüren, der das Innen nach Außen treibt. Es ist derselbe Druck vom Geist (im Sinne Hegels) bzw. des Geistes als Druck, als Trieb, als Begehren und als Angst davor, nicht in der Abstraktion des Selbst-Seins zu wohnen. Nicht Man-Selbst-Sein, sondern Sich-Wenden, Sich-Krümmen und dabei am Ende erkennen, dass der Geist selbst – ob durchschaut oder überschaut – kein Gesicht hat und für jede, wenn auch pneumatologische, Physiognomik unentzifferbar bleibt. Benommen oder erschüttert wie das schäumende Unendliche hatte Hegel übrigens nicht den Anspruch, zu entziffern, was er durchschaut oder überschaut hatte. In diesem Schaum schwimmt das Gesichtslose, der Wal von Moby Dick, der kein Gesicht, sondern bloß eine riesige Stirn hat, bedeckt von Meeresabfällen, eingewachsenen Muscheln, Algen und verworrenen Spuren, die – wie der Erzähler schreibt – kein Lavater zu entziffern vermag.

7 Der Erzähler lässt nichtsdestoweniger ausdrücklich dem Leser die Chance, zu einer Dechiffrierung zu gelangen. Der Leser, der diese Zeilen liest, fühlt sich von einer Seite zur anderen durchschaut und überschaut. Und selbstverständlich nimmt er die Herausforderung an. Er versucht, das gesichtslose Angesicht, das allzu sichtbare Angesicht zu überschauen, das seinen Blick verlagert, als würde es uns heimlich ausspionieren, indem es uns in mit unlesbaren Zeichen überschriebene Angesichter transformiert. Wir ahnen

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langsam, dass der Druck, der das umfangreiche Innen nach Außen drängt, unaufhörlich bis an den Punkt treibt – oder besser: sich in sich selbst zurückzieht, was auf dasselbe hinausläuft –, wo er das Sichtbare selbst überschwemmt. Das Sehen blendet sich selbst. Die Rückkehr seines Sinns zu sich selbst erfüllt und übersteigt es. All das, was sichtbar war, löst sich in verworrenen Spuren, in unbeschreibbaren Mischungen von Überresten auf. Hier bin ich also selbst als ein Gesichtsloses durchschaut und überschaut, eingesaugt in eine Öffnung, die meine Sicht öffnend mich selbst öffnet, oder auch mein Gesicht, ich selbst werde vom selben Druck weggerissen. Mein Gesicht wird als Maske entlarvt, aber jede Maske wird dermaßen weggerissen, dass nichts mehr maskiert, sichtbar oder sehend ist. Allein der Trieb des Geistes verschiebt sich und hebt den Unterschied zwischen Innen und Außen auf. Der Geist durchschaut und überschaut sich verloren in seinem eigenen Tiefen. Aus dem Französischen übersetzt von Luca Viglialoro

Bibliographie Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Mille plateaux. Capitalisme et schizophrénie 2. Paris: Minuit 1980. Derrida, Jacques: Marges de la philosophie. Paris: Minuit 1972. Foucault, Michel: Les mots et les choses. Paris: Gallimard 1969. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes. In: Werke. Bd. 3. Herausgegeben von Eva Moldenauer und Karl Markus Michel. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1986. Levinas, Emmanuel: Totalité et infini. Essai sur l’extériorité. Den Haag: Nijhof 1961. Merleau-Ponty, Maurice: Le visible et l’invisible. Paris: Gallimard 1964.

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Physiognomie heute: zwischen Körperpolitiken und vitaler Politik des Körpers 1 Einleitung Wenn man das Verhältnis von Biopolitik und Physiognomie aus Sicht der aisthesis betrachtet, so erkennt man die kritischen Dimensionen beider, insofern aisthesis die Logik der Sinne in Bezug auf singuläre Ereignisse des Sensiblen meint, die das Subjekt affizieren, während die Epistemologie beider Paradigmen selbst bei Zentrierung des Individuums die Ordnung des Sozialen als Rahmen hat. Die Notwendigkeit einer solchen doppelten Kritik wird schon in aktuellen Formen der Allianz von Biopolitik und Physiognomie deutlich – eine Allianz, die die biopolitische Optimierung des Selbst naturalisiert. Im Bereich der Selbstoptimierung gehen physiognomische Normierung und disziplinäre Normativität Hand in Hand: Die performative Kraft des nómos, d.h. des Gesetzes der Selbstoptimierung, bedarf der Autonomie des Individuums und zwingt zugleich den Menschen normativ zur Anpassung an die Physio- und Vestignomie des unternehmerischen Subjekts, das sich durch cooles Gesichtsstyling und trendige Kleidung authentifiziert. Roberto Esposito zufolge trifft dies auch für den Begriff der Person zu, ein Dispositiv, das den Hiat zwischen nómos und bíos deshalb nicht versöhnen kann, weil es diesen gerade hervorbringt.1 Gewiss können und sollen anhand von Biopolitik und Bioökonomie die hohen Kosten der Selbstoptimierung beleuchtet werden: Es sind atomisierte Interessensubjekte mit einer narzisstischen Absorption des Selbst und mit deso-

1 Weit davon entfernt die Singularität zu indizieren, ist die Person vielmehr ein Oberbegriff, der alle Hierarchien konstituiert, beinhaltet und bekräftigt und der auf dem «asymmetrischen Verhältnis» basiert, das «Einheit und Separation aneinander bindet», wie es bereits für das christliche Personen-Konzept der Fall war. Roberto Esposito: Due. La macchina della teologia politica e il posto del pensiero. Turin: Einaudi 2013, S. 142. Die Typologie der Person «verläuft kontinuierlich weiter, indem sie immer neue Unterscheidungen hervorbringt». Ebda., S. 101, Übersetzung von mir. Dazu vgl. Vittoria Borsò: Persona oeconomica in der Medienkommunikation. Wider die Anästhetisierung für neue Räume der Medialität. In: Sieglinde Borvitz (Hg.): Prekäres Leben. Das Politische und die Gemeinschaft in Zeiten der Krise. Bielefeld: transcript 2020a, S. 335–354. https://doi.org/10.1515/9783110665055-003

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zialisierender Wirkung, weil ohne Bindung zum Anderen,2 d.h. aber auch ohne die Ressourcen des Anderen.3 Es sind aporetische Subjeke, die ex post, nämlich erst durch die Strategien des Marktes reguliert werden – so auch Laura Bazzicalupos an Deleuze orientierte Kritik der vom Markt disziplinierten Libido neoliberaler Subjekte.4 Das Subjekt begehrt, was von der Ökonomie und ihren symbolischen Fetischen suggeriert wird, beobachtet auch der Genfer Philosoph Gilles Lipovetsky.5 Eine biopolitische und bioökonomische Analyse muss deshalb die Paradoxien oder gar Aporien des Subjekts ins Visier nehmen, ein Subjekt, das sich im Kapitalismus essentiell konstituiert und transformiert. Es ist, sagt Slavoj Žižek, ein perverses Ich, das sich in das Gesetz des Vaters nicht mehr integriert und als «Interessensubjekt allein dem Gesetz des Genusses untersteht».6 Die Biopolitik erlaubt es, die Physiognomik kritisch zu betrachten. Denn die Physiognomie naturalisiert die Disziplinierung der Körper, indem sie eine biologische (heute biogenetische) Korrespondenz symbolischer Topographien des Körpers begründet. Sie bringt also den biologischen und den symbolischen Körper zur Deckung und macht aus dem symbolischen Körper einen natürlichen Körper. Das, was metaphysisch geteilt wird, Körper und Seele, Außen und Innen, wird nachträglich angeglichen. Darüber hinaus macht die topographische oder gar kartographische Methode der Physiognomie ein statisches System aus dem, was Werden und Fließen ist. Es sind die topologischen Bewegungen sinnlich-psychischer Vorgänge des Körperlichen und ihre Relationalität zur Umwelt, die seit der Biologie von Uexküells oder von Maturana und Varela über Michel Serres’ Philosophie der gemischten Sinne und ihrer coenästetischen bzw. propioceptiven Dynamik7 bis

2 Das Subjekt findet in dieser Konstellation nur das, was das Ich ‹begehrt›. Vgl. Gilles Lipovetsky: L’ère du vide. Essais sur l’individualisme contemporain. Paris: Gallimard 1993, S. 102. 3 Jean-Luc Nancy betont, dass «l’individualisme oublie que l’enjeu de l’atome est celui d’un monde». Ders.: La communauté désœuvrée. Paris: Christian Bourgois 1986, S. 17f. 4 Laura Bazzicalupo: Die Gespenster der Bioökonomie und das Phantasma der Krise. In: Vittoria Borsò/Michele Cometa (Hg.): Die Kunst, das Leben zu «bewirtschaften». Bíos zwischen Politik, Ökonomie und Ästhetik. Bielefeld: transcript 2013, S. 53–68. 5 Das Kapital der eigenen Libido dient schließlich dazu, sich dem Imperativ individueller Personalisierungen entsprechend öffentlicher Symbole zu unterwerfen. Vgl. Gilles Lipovetsky: L’ère du vide, S. 43. 6 Slavoj Žižek: The Tickish Subject. The Absent Centre of Political Ontology. London/New York: Verso 1999b, S. 265. Vgl. auch Slavoj Žižek: Der neue Klassenkampf. Die wahren Gründe für Flucht und Terror. Berlin: Ullstein 2015 sowie Vittoria Borsò: Persona oeconomica in der Medienkommunikation. Wider die Anästhetisierung für neue Räume der Medialität. 7 Vgl. Michel Serres: Die fünf Sinne. Eine Philosophie der Gemenge und Gemische. Übersetzt von Michael Bischof. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1994 [1985].

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hin zur heutigen Ökologie der Affekte die Komplexität des Lebenden beschreiben,8 um nur einige Beispiele zu nennen. In anderen Worten: Die Physiognomie arretiert die zeiträumliche, topologische Relationalität des lebendigen Körpers. Die von der Physiognomie geleistete ‹Orientierung› sind Segmentierungen und Grenzziehungen von Raum und Zeit. Räumlich wird der ‹Körper› in hierarchischen Relationen von Hoch und Tief segmentiert – die Nähe des Gesichts zum Kopf begründet den höheren Wert des Ausdrucks des Rationalen mit der entsprechenden Unterordnung der Animalisierung in der Tiefe des Körpers und des Wertesystems; der Körper wird räumlich von seinem Umfeld getrennt und damit von der Responsivität gegenüber der humanen und nicht-humanen Umgebung isoliert. Die Zeit wird ebenfalls räumlich segmentiert und dies verleiht der Physiognomie oder verwandten Ansätzen auch eine prognostische Funktion – etwa glaubte man mit den phrenologischen und kraniologischen Untersuchungen von Franz Joseph Gall bis hin zu Cesare Lombroso auch Deliktprävention durchführen zu können. Naturalisierung erfolgt durch rhetorische Figuren, die die Identität oder bestenfalls die Analogie des Heteronomen begründen, wie etwa die Metapher, eine Trope, die die metonymischen Sprünge zwischen dem Differenten verdeckt.9 Dabei entwickelt die Geschichte der Ästhetik komplexe Techniken der Verähnlichung. So schließt die Physiognomik ihrerseits eine Allianz mit der normativen Ästhetik und ihrer Orientierung an die im Abendland moralisch und ökonomisch begründete rationale Konstitution des Individuums als das Nicht-Teilbare, d.h. als in sich abschlossene Einheit. Die Atomisierung des Individuums im heutigen neoliberalen und kapitalistischen Kontext kann als die Kulmination einer Entwicklung jener Konstellation gesehen werden, die in der Renaissance mit der Zentrierung des dominanten Weltbilds auf den Menschen in Subjekt-Position und mit der Institutionalisierung des Anthropozentrismus begonnen hat.10 Darauf macht Hans Ulrich Gumbrecht am Schluß seines Aufsatzes zur historischen Semantik des Begriffs ‹Ausdruck› mit dem Hinweis auf den Slogan von Toyota «For every expression, there’s a Toyota» aus dem Jahr 1999 aufmerksam: Neben dem Firmenemblem von Toyota zeigt das Plakat etwa siebzig Gesichter von Personen verschiedenen Geschlechts, Alters und ethnischer Zugehörigkeit. Mit dem Konformismus eines auferlegten Lächelns soll dies ein Manifest für den Alltags-Individualismus sein («Toyota everyday»), wobei verschiedene Toyotas in verschiedenen Farben und Perspektiven das Individualismus-Bedürfnis stillen sollen. Die Ausdruck-Religion

8 Vgl. Brian Massumi: Ontomacht. Kunst, Affekt und das Ereignis des Politischen. Übersetzt von Claudia Weigel. Berlin: Merve 2010. 9 Vgl. Paul De Man: The Epistemology of Metaphor. In: Critical inquiry 5/1 (1978), S. 13–30. 10 Hans Ulrich Gumbrecht: Ausdruck. In: Dimensionen und Grenzen der Begriffsgeschichte. München: Fink 2006, S. 211f.

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ist heute zum Ausdruck-Shopping geworden.11 Die epistemischen Konstellationen der Ausdrucksästhetik zeigt eine Strukturanalogie zu jener der Physiognomie, worauf im Folgenden anhand von Gumbrechts Beitrag eingegangen werden soll. In den historisch-semantischen Transformationen des Begriffs ‹Ausdruck› überlappen sich zum einen das sprachlich-kommunikative Handeln, zum anderen die metaphorische Objektivierung von Bewußtseinsinhalten vermittels verschiedener ‹Ausdrucksmedien› (Gesicht oder Kleidung) in unterschiedlichen Formationen. Mit ihrer Zentrierung auf das Ich-Subjekt in der Renaissance entwickelt die Semantik des Ausdrucks den Grundstein dessen, was im späten 18. Jahrhundert zur Blüte der Physiognomik führen wird. Die gemeinsame Konstellation von ästhetischem ‹Ausdruck› und (pseudo-)wissenschaftlicher Physiognomie umfasst darüber hinaus: 1) die von Subjekten erbrachte Deutungsleistung, welche 2) zwischen Vernunft und Gefühlen sowie zwischen Innen und Außen vermittelt, wobei 3) deren Nicht-Kongruenz ab dem 18. Jahrhundert die Verschiebung des Ausdrucks vom Feld der Ästhetik auf das der Psychologie bewirkt und das Verhältnis von Charakter und Gesicht verkompliziert, das nun «der inspirierten Interpretation» (oder der physiognomischen Methode) bedarf, um den Verweis des Charakters von Personen in ihren Gesichtern «in Gewißheit zu überführen».12 4) Die Zeitlichkeit macht die Vermittlung von Sein und Erscheinung inkongruent und dies fördert Kompensationsmechanismen zu Tage. Die mit dem Laokoon von Lessing Über die Grenzen der Mahlerey und Poesie13 aus dem Jahre 1766 in die Ästhetik eingeschlagene Temporalitätslücke verlangt nach medialen Techniken, die in der Ästhetik einen Paragonenstreit entfachen. Zur Kompensation der Lücke bekommt die metaphorische Vermittlung eine mächtige Funktion und begründet zugleich die Faszination, die die Physiognomie Ende des 18. Jahrhunderts ausübt, so auch Gumbrecht.14 Goethe besucht Lavater in Zürich wegen seiner Sammlung von Silhouettes, jenen Schattenbildern, die Menschen von sich anfertigen lassen, um ihren Charakter zu erkennen.15 Diese Konstellation, deren metaphysische Basis die Dualität von Subjekt und Objekt und die Leistung von Objektivierungen ist, begründet ein Paradigma, das nach der Sprachkritik des Poststrukturalismus und mit der Psychoanalyse notwendigerweise in der These des Objektverlustes

11 Ebda., S. 230. 12 Ebda., S. 214. 13 Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie. Mit beiläufigen Erläuterungen verschiedener Punkte der alten Kunstgeschichte. Stuttgart: Reclam 1994. 14 Hans Ulrich Gumbrecht: Ausdruck, S. 215. 15 Nach einer ersten Faszination für die Physiognomik wendet sich Goethe später der von Lichtenberg favorisierten Pathognomik zu.

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kulminieren wird.16 Diese Dualität bewirkt, dass das Sinnliche des Ausdrucks nur «Objektivität [hat,] wenn es sich wieder in Geistiges zurücktransponieren lasse»,17 so Gumbrecht, der hier das zentrale Problem der Entkörperung und Entmaterialisierung von Denken und Ästhetik mit der Einverleibung der Materialität durch das Primat der Form, des Geistes, der Psyche, des Unbewussten in Zusammenhang bringt. Die subjektzentrierte Ästhetik, die in der Moderne die antike Dualität und Dissoziation von lógos und Körper übernimmt, kann nur ergänzende Formen der Sinnlichkeit konzipieren, in denen der Körper lediglich als Resistenz eine eigene Wirkung haben kann.18 Die Geschichte des Ausdrucks ist, wie die der Physiognomie, gewiss diskontinuierlich. Zwei Momente sind weiterführend: zum einen die prozessuale Ontologie und das ontologische Verständnis von Ausdruck im 16. und 17. Jahrhundert, zum anderen die Temporalität, die im späten 18. Jahrhundert zur Pathognomik (Lichtenberg) sowie zu Darwins Kritik der Physiognomie in Expression of the Emotions in Man and Animals19 führt. Die Inkongruenz von Metaphysik und Konsistenz der physischen Welt, die sich auch in der Renaissance am Rande der klassischen Episteme entfaltet, lässt sich als prozessontologische Konfiguration bezeichnen, die in Anlehnung an die littérature mineure von Deleuze und Guattari als renaissance mineure gelten kann. Entgegen dem orthodoxen Verständnis der Renaissance ist bei bestimmten Autoren das Verhältnis vom Universellen und Partikulären, vom Makro- und Mikrokosmos, also die Korrespondenzlehre und ihre Hierarchie von Oben und Unten, Gott/Engel/Mensch vs. Tier brüchig, wie es auch Roberto Esposito in Pensiero vivente feststellt.20 Im Zentrum steht nicht das Sein, sondern das Werden des Menschen. Bei Pico della Mirandola ist z.B. der Mensch ein indiscretae opus imaginis, ein «Werk mit undefiniertem Bild»,21 d.h. der Beginn einer Form, die der Mensch selbst transformieren kann und soll. Und bei

16 So partizipiert die Psychoanalyse an der transzendental-metaphysischen Dualität, die in der Moderne (seit dem Poststrukturalismus) nicht mehr als Korrelation, sondern als Riss gedeutet wird. 17 Hans Ulrich Gumbrecht: Ausdruck, S. 220. 18 Ähnliches trifft für den Entzug in Form der aristotelischen Negation des Aktes (auch des politischen Aktes) zu wie bei Agambens Interpretation von Bartleblys I would prefer not to. Agambens Verständnis von inoperosità weicht gründlich vom französischen désœuvrement ab, das nicht die aristotelische Negation des Aktes, sondern konkrete Operationen meint, die das Werk «ent-werken». Dazu vgl. Vittoria Borsò: Giorgio Agamben – tra disastro e catastrofe. Ontologia e estetica. In: Antonio Lucci/Luca Viglialoro (Hg.): Giorgio Agamben. La vita delle forme. Genua: Il melangolo 2016, S. 102–120. 19 Charles Darwin: Expression of the Emotions in Man and Animals. London: John Murray 1872. 20 Roberto Esposito: Pensiero vivente. Turin: Einaudi 2010. 21 Ebda., S. 43.

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Giordano Bruno gilt Substanz als eine dynamische Prozessualität – so meine Analyse der Metamorphose von Aktaion in De gli eroici furori.22 Dies umfasst auch die Medien, die dagegen in der Ästhetik des Ausdrucks und in der Physiognomie die statischen Klassifizierungen lediglich illustrieren (sollten).23 Im 17. Jahrhundert meint ‹Ausdruck› bei Spinoza und Leibniz auch Charakter, was allein auf ontologische Relationen und nicht auf eine geistige oder psychische Leistung des Menschen verweist. Bei Spinoza gilt dies sogar für das Verständnis des Attributs als Substanz – darauf ist Deleuze eingangen.24 Diese Verschiebung vom deutenden Subjekt zu einem von diesem unabhängigen Sein ist für die heutige Wende zu den (pluralen) Ontologien ausschlaggebend. Was die Zeitlichkeit im 18. Jahrhundert betrifft, so meint Lichtenbergs Pathognomik das Studium transitorischer Affekte, die die Körper in unterschiedlichen Lebenssituationen auf verschiedene Art und Weise verändern. Mit der Modulierung des Verhältnisses von Leib und Seele durch die Zeitlichtkeit hinterfragt Lichtenberg die Lesbarkeit des Körpers durch die Physiognomik, die schon in Anbetracht von Maskierung und Dissimulation physischer und psychischer Schwächen scheitern muss. Zugleich bleibt die Pathognomik eine schon bei Aristoteles und Giambattista Della Porta unerreichbare Vision, denn die Komplexität der Pathognomik versperrt sich gegen jedweden Regelapparat, wo selbst die Unterscheidung zwischen nachgeahmten und natürlichen Affekten unmöglich ist. Lichtenberg stellt sich eindeutig gegen die Doxa des 18. Jahrhunderts, die selbst bei Affekten klassifikatorische Ordnungen erstellen. Die Zeitlichkeit ist dabei

22 Dazu verweise ich auf Vittoria Borsò: Das Bindeglied von Mythos und Metamorphose. Reflexionen zu einem transformativen Potential. Zu Giordano Brunos prozessualer Ontologie. In: Federico Italiano u.a. (Hg.): Mythos, Paradies, Translation. Kulturwissenschaftliche Perspektiven. Bielefeld: transcript 2018, S. 49–66. 23 Die Ästhetik der Moderne hat immer noch eine platonische Grundlage, wenn auch in Form von Kritik dualistischer Weltanschauungen. So definiert Pierre Klossowski das Bild mit Bezug auf den Aktaion-Mythos als simulierende Verdoppelung der Spielmetaphorik. Vgl. Pierre Klossowski: Le Bain de Diane. Paris: Gallimard 1956. Daran schließt auch Foucaults Besprechung des Mythos als literarische Veranschaulichung des Simulakrums und als Gegenentwurf zum christlichen Dualismus an. Vgl. Michel Foucault: Die Prosa des Aktaions [1964]. In: Schriften in vier Bänden. Bd. I: 1954–1969. Herausgegeben von Daniel Defert/François Ewald. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001, S. 434–449. Zu einer prozeßontologischen Leseart des Aktaion-Mythos bei Giordano Bruno vgl. Vittoria Borsò: Das Bindeglied von Mythos und Metamorphose. 24 Gumbrecht sieht hier die Veranschaulichung der von Foucault in Les mots et les choses beschriebenen Episteme des XVII. Jahrhunderts, nämlich der Repräsentation als Verhältnis. Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht: Ausdruck, S. 213. Vgl. Gilles Deleuze: Spinoza et le problème de l’expression. Paris: Minuit 1969.

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entscheidend, steht doch die Pathognomik als Zeichenlehre «vorübergehender Handlungen» in Opposition zur Lehre des «stehenden Charakters».25 Lavater integriert die Pathognomik in das Kassifizierungswerk seiner Physiognomischen Fragmente und unterstellt die Pathognomik den Analogieschlüssen der Physiognomik. Lichtenberg zufolge beziehen aber Analogieschlüsse alle Transformationen und Vorgänge einseitig auf ‹Kopf und Herz› des Menschen. Sie sind deshalb in politischer und ethischer Hinsicht gefährlich, ja eine «an Wahnsinn grenzende Vermessenheit».26 Bereits Lichtenberg kritisiert das physiognomische Werk, das man biopolitisch nennen kann: Wenn die Physiognomik das wird, was Lavater von ihr erwartet, so wird man die Kinder aufhängen ehe sie die Taten getan haben, die den Galgen verdienen, es wird also eine neue Art von Firmelung jedes Jahr vorgenommen werden. Ein physiognomisches Auto da Fe.27

Blumenberg wird bei Lavater von physiognomischem Vorurteil sprechen.28 Gombrich wiederholt diese Kritik im Zusammenhang mit der Deutung von Bildern. Auch in Darwins Kritik der Physiognomik spielt die Temporalität eine entscheidende Rolle. So beginnt The Expression of the Emotions in Man and Animals mit einer Kritik an Lavaters Edition von Moreau aus dem Jahr 1807, in der die exzellenten Beschreibungen der Bewegung von Gesichtsmuskeln die philosophische Seite des Problems eher verbergen. Denn eine Philosophie des physiognomischen Ausdrucks sollte, so Darwin, die Permutationen zwischen dem Angeborenen und dem (kulturell) Erlernten beschreiben können. Dementsprechend ist das Ziel einer Theory of Expression zu zeigen, «that man is derived from some lower animal form, and supports the belief of the specific or subspecific unity of the several races»,29 und die Deutung des Ausdrucks, insbesondere von Gesten und Gebärden, «doubtful; for they are not universal, yet seem too general to have been independently acquired by all the individuals of so

25 Georg Christoph Lichtenberg: Über Physiognomik. In: Schriften und Briefe. Bd. 3. Herausgegeben von Wolfgang Promies. München: Hanser 1994, S. 278. Lichtenberg wollte nur eine «Physiognomik des Stils» in Bezug auf die Eigenarten des Sprachgebrauchs gelten lassen, die er allerdings nicht entwickelt hat. Lichtenbergʼsche Konjunktive seien in dieser Hinsicht eine «Aufklärung aus dem Geist der Experimentalphysik». Vgl. Albrecht Schöne: Aufklärung aus dem Geist der Experimentalphysik: Lichtenbergsche Konjunktive. München: Beck 1993, S. 10. 26 Georg Christoph Lichtenberg: Über Physiognomik, S. 268. 27 Georg Christoph Lichtenberg: Sudelbücher. In: Schriften und Briefe. Bd. 1. Herausgegeben von Wolfgang Promies. München: Hanser 1994, S. 532. 28 Johann Caspar Lavater: Physiognomische Fragmente. Zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe. 4 Bde. Leipzig/Winterthur: Weidmann und Reich/Steiner 1775–1778, Kap. 14. 29 Zitiert nach Hans Ulrich Gumbrecht: Ausdruck, S. 222.

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many races».30 Dieser Skepsis zum Trotz wurde später die These der Spannung von Angeborenem und Erlerntem (oder auch unwillkürlich/willkürlich) eher zur Basis der Etablierung von Taxonomien ‹elementarer Gefühle› und komplementär dazu der Morphologie von Sprache und Gebärden, etwa in Wilhelm Wundts Völkerpsychologie.31 Ähnliches gilt für Klages Graphologie, basierend auf der Einheit von Körper und Seele. Was aber bei Darwin mit der Zeitlichkeit und den Variationen durch die evolutiven Transformationen in den Blick gerät, ist bereits das ontogenetische Problem der Fixierung von Phänotypen, was eine Absage an den Universalismus und zugleich eine frühe Affirmation der Eigenkraft der Biomaterie ist. Wir sehen, wie weitreichend die biopolitische Kritik an der Physiognomik sein kann. Doch gerade das ontogenetische Problem der Fixierung von Phänotypen führt uns zur Frage, wie es in der Biopolitik um die Zeitlichkeit und Singularität des Lebenden bestellt ist. Die Biopolitik kritisiert zwar das in der Physiognomik bestehende Problem der Angleichung von biologischem und symbolischem Körper und betont die Resistenz gegen die Domestizierung des Lebens, doch hält sie das Lebendige in einer heteronomen Position gefangen, nämlich in Abhängigkeit von der epistemologischen und politischen Ordnung. Sie kommt nicht aus der Dualität von Biologischem und Transzendental-Symbolischem heraus, so auch Cathérine Malabou, wenn sie fragt: Will Sovereignty Ever Be Deconstructed?32 In Foucaults Analyse der Macht des Lebens sowie in Agambens oder Derridas Reflexionen zum Tier und zur Souveränität wird die Dualität von biologischem und symbolischem Körper weitergeführt, ohne die Singularität des Lebendigen in den Blick zu nehmen.33 Noch klarer und umfassender gilt es kritisch festzustellen, dass trotz der von Foucault analysierten Komplexität von historisch-institutionellen, ökonomischen, sozialen und produktiven Artikulationen der epistemologische Status des Lebens ungeklärt bleibt. Gibt es einen Ort des Denkens, der die Macht des Lebens in dessen eigener Kraft fassen kann?, fragt Roberto Esposito am Anfang von Bíos.34 Dieser Ort ist nicht die Politik über den Körper, sondern die Singularität des (hu-

30 Zitiert nach ebda., S. 353. 31 Wilhelm Wundt: Völkerpsychologie. Eine Untersuchung der Entwicklungsgesetze von Sprache, Mythos und Sitte. Bd. 1. Leipzig: Engelmann 1900. 32 Cathérine Malabou: Will Sovereignty Ever Be Deconstructed? In: Brenna Bhandar/Jonathan Goldberg-Hiller (Hg.): Plastic Materialities: Politics, Legality, and Metamorphosis in the Work of Catherine Malabou. Duke: UP 2015, S. 35–46. 33 «The rigid separation it has always maintained between the biological, hence the material, and the symbolic, that is the nonmaterial or the transcendental.» Ebda., S. 42. 34 Roberto Esposito: Bíos. Biopolitica e filosofia. Turin: Einaudi 2004.

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manen und nicht-humanen) Lebendigen.35 Gilles Deleuze und Félix Guattari haben das Ereignis der Singularität des Lebens in dessen Immanenz hineingeführt und ‒ mit Rückgriff auf Duns Scotus und Simondon ‒ eccéité genannt und das Leben auf diese Weise ‹diesseits, nahe zu uns› geführt. Zugleich haben sie das Ungeplante, den Umständen Unangepasste und damit auch das Unbequeme betont: l’Intempestif, un autre nom pour l’eccéité, le devenir, l’innocence du devenir (c’est-à-dire l’oubli contre la mémoire, la géographie contre l’histoire, la carte contre la calque, le rhizome contre l’arborescence).36

Singularität und Temporalität des Lebendigen ent-werken das Werk der Biopolitik und zeigen auch die metaphorisch verdeckte Lücke im Zentrum der Physiognomik auf. Diese Lücke entzieht der metaphysischen Ordnung ihre Grundlage.37 Sie ist eine ‹insurrection›, ein ‹Aufstand›, der eine instituierende ‒ aber nicht revolutionierende, sondern ‹ent-werkende› ‒ Kraft hat. Die Lücke darf nicht verwechselt werden mit der Abwesenheit eines sich entziehenden Seins. Es sind vielmehr Operationen des désœuvrément, der «Ent-werkung» im Spiel. Mit diesem von Blanchot entliehenen Begriff meint Nancy in La communauté désœuvrée «le mouvement de l’œuvre [. . .] qui ne la laisse pas s’accomplir en un sens achevé mais l’ouvre à l’absentement de son sens ou du sens en général. Le désœuvrement est ce par quoi l’œuvre n’appartient pas à l’œuvre de l’achevé, ni d’ailleurs à l’inachevé».38 Das, was die Gemeinschaft begründet, ist nicht ein Projekt, sondern eine Ontologie. Der Horizont des Denkens ist damit nicht das Werk, etwa einer gelungenen Korrespondenz von Seele und Körper. Vielmehr sind es die Operationen des Ins-Werk-Setzens als Öffnung einer Existenz in Abwesenheit eines vom Menschen

35 Esposito fragt, ob das Leben ursprünglich ein nacktes Leben oder «eine Lebensform ist, die das Leben jenseits dessen führt, was es ist». Ebda., S. 39. Zur Relevanz der epistemologischen Frage zum Verhältnis von ‹Wahrheit› und ‹Leben› im Denken Espositos verweise ich auf Laura Bazzicalupo: Die Gespenster der Bioökonomie, S. 57, 64 und auf Vittoria Borsò: Biopolitik – Bioökonomie – Bio-Poetik im Zeichen der Krisis. Über die Kunst, das Leben zu «bewirtschaften». In: dies./Michele Cometa (Hg.): Die Kunst, das Leben zu «bewirtschaften», S. 13–38. 36 Gilles Deleuze/Félix Guattari: Mille Plateaux. Paris: Minuit 1980, S. 363. 37 Nancy leitet den Gedanken aus einer Betrachtung des deus sive natura bei Spinoza ab. In monistischen (oder auch modernen pantheistischen) Modellen findet keine Trennung von Immanenz und Transzendenz statt. «Es sagt vielmehr, dass diese Sache selbst ihr Draußen drinnen hat. Damit ist Spinoza der erste Denker der Welt». Jean-Luc Nancy: Der Sinn der Welt. Übersetzt von Esther von der Osten. Berlin/Zürich: diaphanes 2014 [1993], S. 82. Die moderne Form der Welt nennt Nancy insoweit Transimmanenz, als es sich um eine Welt handelt, die durch den Wahrnehmungsmodus einer intensiven Präsenz den Außerort des Sinns in sich enthält. Ebda., S. 83. 38 Jean-Luc Nancy: La communauté désœuvrée. Paris: Christian Bourgois 1986, S. 27.

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gegebenen Sinns und damit die Emergenz einer eigenen Ontologie.39 Dies gilt auch für das, was Deleuze und Guattari corps-sans-organes nennen, nämlich die Singularität und die kleinsten vitalen Kräfte, Moleküle der Multiplizität und Potenz des Werdens jenseits organischen Denkens, das das Leben gefangen hält.40 Mit dem Fokus auf die Singularität machte Georges Canguilhem klar, dass das Anomale das Normale ist, denn wenn man die Singularität betrachtet, zeigt sich die Relativität des Normalen (des Mittelwerts als normativer Wert): «En matière de normes biologiques, c’est toujours à l’individu qu’il faut se référer».41 Wir haben also hier das Problem der Physiognomie und der Medizin vor ihrer Hinwendung zur Singularität des Phänotyps, z.B. in Forschungen mit Tiermodellen und in der personalisierten Medizin. Problematisch ist nämlich die Betrachtung des Biologischen ausgehend von einem im Universellen basierten oder mit diesem korrespondierenden nómos. Und dies haben die traditionelle Medizin und die Physiognomie gemeinsam, aber auch die thanatologisch orientierte, negative Biopolitik, die in ihrer kritischen Haltung verharrt, ohne einen Weg zu suchen, der das Denken über das Leben jenseits der Ordnung verschieben könnte. Die Norm der Biomaterialität wird vielmehr von der politischen oder symbolischen Norm gefangengenommen.42 Lavater fixierte das Leben mit den Silhouetten, Cesare Lombroso mit den Totenmasken und den Schädeln, die er sammelte, u.a. dem Schädel von Giuseppe Villela aus Kalabrien, den er als Briefbeschwerer benutzte. Die Biomaterialität avancierte zum toten Gegenstand, den man nutzen oder vernichten konnte. Genau hier liegen die Grenzen der Biopolitik. Obwohl die biopolitische Kritik notwendig war und ist, sind mit ihr keine Fluchtlinien aus der Körpermatrix möglich; nur ein supplementärer Überschuss der Materalität kann Resistenz leisten. So denkt etwa Judith Butler in Körper von Gewicht,43 Foucault mit Derrida weiterführend, die Eigenständigkeit des Körpers. Karen Barad hat dagegen in Agentieller Realismus die Grenzen des immer noch von der Konstellation des Politischen her gedachten Ansatzes von Foucault und Butler zur Diskussion gestellt und für eine materiell-semiotische Analyse der radikalen ontologischen Intrarelation plädiert,

39 Jean-Luc Nancy: Corpus. Paris: Métailié 22006, S. 19. 40 Gilles Deleuze: L’image mouvement. Paris: Minuit 1983, S. 33. 41 Georges Canguilhem: Le normal et le pathologique. Paris: PUF 1999 [1943], S. 165. 42 Mit Bezug auf Canguilhem differenziert Esposito zwischen gesetzlicher und biologischer Norm: Bei ersterer ist die Norm, beim Biologischen aber die Anormalität vorgängig. Die Norm hält das Lebende gefangen, während das Lebende für die unendlichen Möglichkeiten offenbleibt. 43 Judith Butler: Körper von Gewicht. Berlin: Berlin-Verlag 1995.

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also für eine originäre Relationalität, die den Relata vorangeht.44 Derartige prozeßontologische Positionen gewinnen Konsistenz im 20. Jahrhundert im Denken von Whitehead und Bergson, über Simondon und Deleuze bis hin zu Serres, Nancy und Esposito. Die Wirkung der anderen Dimension, nämlich der Temporalität, die von Lichtenberg, Darwin und heute von der Biogenetik als unhintergehbare Transitorität des Phänotyps fokussiert wurde, wird von Cathérine Malabou mit dem neurologischen Konzept der Plastizität des Körpers aufgegriffen. Eine weitere Perspektive finden wir in der sogenannten affirmativen Biopolitik von Roberto Esposito. Im Anschluss an Merleau-Pontys Konzept von chaire, dem Fleisch als Metonymie der Überschüssigkeit des Lebenden, sollte das Konzept des Lebenden anstelle des topographischen und klassifikatorischen Körperbegriffs herangezogen werden, was Roberto Esposito tut, wenn er das ‹Fleisch der Welt› für die Konzeption einer biomateriellen Basis gemeinschaftlicher Solidarität vorschlägt.45 Der Weg geht hier von der materiellen Relationalität singulärer Leben zur Politik des Lebens und nicht umgekehrt. Plastizität fasst Cathérine Malabou als eine von der biogenetischen und epigenetischen Forschung gewonnene «Plastizität der Differenz», d.h. als eine aktive Kraft des Lebens, die nichts mit einer passiven Flexibität gemein hat.46 Plastizität ist eine Warnung gegenüber allen Taxonomien, die, wie die Physiognomie, das Fluide fixieren. Die Grundlage der Plastizität ist die ‹natürliche Drift›, nämlich der Prozess des Abdriftens mit der Entstehung vieler möglicher Pfade im Prozeß des Werdens. Hier wäre auf literarische Erkundungen von Plastizität als topologischem Raum von Potentialitäten hinzuweisen, etwa bei Jorge Luis Borges’ El jardín de senderos que se bifurcan (1941) oder auch bezüglich der Plastizität der Erinnerung und der Labilität des kulturellen Gedächtnisses, weil die Erinnerung, ähnlich der neuronalen Plastizität, fehler- und deformationsanfällig ist.47 Die neurowissenschaftlich und literarisch belegte Prekarität der Speicher-

44 Mit «Intraaktion» bezeichnet Barad die Dynamik von Relationen, durch die aus der vorgegebenen ontologischen Unbestimmtheit Relata erst entstehen: «Somit stellt der Begriff der Intraaktion eine Neubearbeitung des traditionellen Begriffs der Kausalität dar». Karen Barad: Agentieller Realismus. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2012, S. 20. Intraaktionen bringen die Materialisierung von Phänomenen hervor, woraus Barad folgert: «Die Welt ist Intraaktivität in ihrer je verschiedenen Materialisierung und Relevanzbildung». Ebda., S. 22. 45 Roberto Esposito: Bíos. 46 «Recent biological discoveries reveal the plasticity of difference: that is, the plasticity of the genome, of cells, of brain development . . . elements that challenge the idea of a strict genetic determinism [. . .]». Catherine Malabou: Will Sovereignty Ever Be Deconstructed?, S. 42. 47 Gedächtnisspur heißt also nicht Festigung, sondern Plastizität der Differenz. Besonders wichtig ist die Tatsache, dass die Einschreibungen aus der jüngsten Vergangenheit modifikationsanfällig sind, weil sie durch aktuell Erlebtes überformt werden.

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funktion des Gedächtnisses ist hingegen auch ein Hinweis auf die Kraft des Lebendigen im Sinne von Temporalität, Fließen und Transformation. Drift, die Kraft der Plastizität, bedeutet etymologisch ‹vom Wind bewirkte Strömung›, ‹Abtreiben des Schiffes vom Kurs›.48 Dieses Vom-Kurs-Abkommen ist dem Organismus inhärent. Es ist eine ständige Alterierung und damit eine transformierende Produktion der eigenen, dem Leben immanenten Norm, das wissen wir seit Canguilhems Le normal et le pathologique (1943) und La science de la vie (1952) bis hin zur heutigen Biogenetik. Alterierung ist die Potentialität des Lebens, nämlich der Exzess der sich selbst nach außen öffnenden Norm, etwa in Form von molekularen Iterationen, Variationen und Übersetzungen. Dieser Prozeß der Exteriorisation, des Sichnach-außen-Öffnens, des Durchquerens der Grenzen des Selbsts sind die Normen des lebenden Organismus.49 Dieses nicht vitalistische, aber vitale Konzept des materiellen Lebens war der Fokus von Roberto Esposito, als er in Bíos eine affirmative ‹Macht des Lebens› im Sinne von Kräften vorschlug, die dem Leben inhärent sind. Genau dieses Prinzip der Alterierung, das Esposito mit munus, der Pflicht zur Gabe, fasst, hat auch in der Politik eine vitale Kraft. Es löst das bei Nietzsche bestehende Dilemma der Dialektik zwischen der Expansion des Lebens und der Notwendigkeit einer externen politischen Regulierung, was zur nazistischen Entgleisung führte.50 Ein Feld, in dem die Singularität vitaler Kräfte – und mit Canguilhem gesprochen: das Anomale ‒ der Einsatz des Denkens sein kann, sind Affekte, die zunehmend von den Kulturwissenschaften, aber auch von der experimentellen Psychologie und den Neurowissenschaften erforscht werden, um über Neurotypisierung und Pathologisierung (Autismus, Depression etc.) hinauskommen. Als Aktivisten gegen «neuro-educationism»51 zeigen Brian Massumi und Erin Manning anhand von sogenannten Autisten, dass diese nicht – wie die Neurotypisierung meint – zu wenig, sondern zu viel Aufmerksamheit entwickeln. Sie reagieren auf die minimalsten «environmental affordances» mit einer molekularen Komplexität und Intensität von Affekten,52 die als emergente Erfahrung 48 Vgl. Duden: Herkunftswörterbuch. Die Etymologie der deutschen Sprache. Berlin: Bibliographisches Institut 2015, S. 231. 49 Vgl. Helga Nowotny/Giuseppe Testa: Die gläsernen Gene. Die Erfindung des Individuums im molekularen Zeitalter. Frankfurt a. M./Berlin: Suhrkamp 2009. 50 Vgl. Vittoria Borsò: Biopolitik ‒ Bioökonomie ‒ Biopoetik. 51 Erin Manning/Brian Massumi (Hg.): Thought in the Act: Passages in the Ecology of Experience. Minneapolis: University of Minnesota Press 2014, S. 20. 52 Manning und Massumi beziehen die Sprache der Patientenberichte auf die «perception pure» entsprechend «William James’ sense of being neither subjective nor objective». «Unpremeditated attention is ‘co-motion’ with the environment». Es handelt sich um eine Form von «environmental mode of awareness», um die Mediation einer «dance of attention», die zum

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vor der Selektion durch das Bewußtsein zu beschreiben sind. Auch dies betrifft direkt das Feld der Physiognomie, denn Selektion ist eine Operation, die physiognomische Klassifikationen ermöglicht. Die Krankenakten von Autisten, deren Sprache eine verblüffende Affinität mit poetischen Texten aufweist, zeigen eine Nähe zu der perception pure oder pure perception im Sinne von Henri Bergson oder William James.53 Demgegenüber erweisen sich neurologische Typisierungen als Selektionen und damit als eine Operation, die Massumi und Manning als «emphasis-by-subtraction»54 bezeichnen, also als eine Subtraktion der Relationalität. Neurotypische Modi entstehen als neuronale Korrelate, d.h. als Äquivalenzen zwischen angenommenen Erfahrungsereignissen und Zuständen im Gehirn.55 Die Frage wäre also nicht die therapeutische Behandlung von Pathologien wie Autismus oder Depression, sondern die Situierung der multiplen Existenzmodi innerhalb der von ihnen ins Werk gesetzten Denkweise und als eine von ihnen geformte, expressive Varietät. Massumi und Mannig verbinden die Kritik an den Neurowissenschaften mit einer ökologischen Frage: «how diversities co-inhabit the same field of becoming-human, and co-compose»? Die Varitäten von affektiven und emotionalen Tonalitäten, wie etwa Staunen, Lieben oder Schmerzempfinden, sind Gilles Deleuze entsprechend die Domäne des Sensiblen und der Intensität56 – eine Form von aisthesis, die Nähe, Relationalität und Prozessualität an der materiellen Oberfläche von Text und Bild sucht und konträr zu den physiognomischen Tableaus ist.57 Die Physiognomie umfasst zudem

Stillstand kommt, wenn ein anderes Subjekt das eigene «entrainement» erzwingt. Es handle sich nicht um «attentiveness of the human to the environment», sondern um «attentiveness of the environment to its flowering, at the very limit where experience and imagination, immediacy and cross-checking, overlap [. . .] emphasizing [. . .] an immediacy of mutual action, an associated milieu of their emergent relation». Ebda., S. 19, 5, 6. 53 William James: A World of pure experience. In: Journal of Philosophy, Psychology and Scientific Methods 1, 20/21 (1904); Henri Bergson: Matière et mémoire. Paris: Félix Alcan 1896. Bergson definiert die «perception pure» als reine Materie: «Or, nous l’avons montré, la perception pure, qui serait le plus bas degré de l’esprit – l’esprit sans mémoire – ferait véritablement partie de la matière telle que nous l’entendons». Henri Bergson: Matière et mémoire. Paris: PUF 2012, S. 250. 54 Erin Manning/Brian Massumi (Hg.): Thought in the Act: Passages in the Ecology of Experience, S. 17. 55 Gehirnzustände sind das Resultat der Subtraktion emergenter Kognitionen, die reicher sind und das Feld emergenter Erfahrungen einschließen. Erin Manning/Brian Massumi: Thought in the Act: Passages in the Ecology of Experience, S. 20. 56 Intensität umfasst nach Deleuze Phänomene an der Grenze der Perzeption. Vgl. Gilles Deleuze: Différence et répétition. Paris: PUF 1968, S. 228–247. 57 Unter Ästhetik werden hier künstlerische Techniken verstanden, die u.a. das überschüssige Potential des Lebendigen manifestieren, auch gegen die Strukturierung von Lebensformen

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die Grundprobleme von Visualität und Epistemologie (z.B. Nähe vs. Ferne des Betrachtens).58 Diese aisthesis der Nähe, Temporalität und Singularität, der subtilen Aufmerksamkeit59 und des ‹Zuhörens› als körperlicher ganzheitlicher Hinwendung zur écriture, bei der uns À l’écoute von Jean-Luc Nancy inspiriert, führt uns näher zur Dynamik des Lebenden in dessen eigenem ontologischen Recht. Auf diese Weise erhält der Text selbst ebenfalls sein eigenes Recht, ohne zur Projektion der ontotheologischen Lücke des Risses zwischen lógos und Körper (Agamben),60 zwischen Innen und Außen, Blick und Welt oder zu ihrer metaphorischen Kompensation in der klassischen Ästhetik, wie aber auch in der Physiognomie zu werden.

2 Die sonderbare Sprache des Körperlichen in literarischen Physiognomien des 19. Jahrhunderts Eine derartige epistemologische und methodologische Perspektivierung öffnet heute diese Kraftfelder auch in historischen Texten aus der Blütezeit der Physiognomik. In Viktorianischen Romanen wurde am Beispiel von George Eliots Middlemarch das Unterlaufen der binären Trennung zwischen Charakter und Biologie gezeigt.61 Eliots Romane generieren eine materialistische Charakteriologie, wodurch Charakterzüge und Verhalten weder die Entfaltung einer präformierten Natur noch die Expression eines individuellen Willens sind, sondern als relationales Vermögen des Körpers und als responsive Kräfte gegenüber den

durch Wissen und Diskurse. Entsprechend Hans-Jörg Rheinbergers Analyse von Experimentalsystemen kreuzen sich Kontingenzen des Lebendigen mit technischen Dingen des Labors, was Rheinberger durch Derridas écriture-Begriff beschreibt. Vgl. Hans-Jörg Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas. Göttingen: Wallsteinverlag 2001. 58 Vgl. Georges Didi-Huberman: Devant l’image. Question posée aux fins d’une histoire de l’art. Paris: Minuit 1990. 59 Sinnliche Offenheit unterscheidet sich von ‹Aufmerksamkeit›, die – so Lyotard mit Bezug auf Freud – psychoanalytisch in der Logik von Schuld und Schulden eines «starken Subjektes» verbleiben würde. Vgl. Jean-François Lyotard: Streifzüge. Gesetz Form Ereignis. Herausgegeben von Peter Engelmann, übersetzt von Hans-Walter Schmidt. Wien: Passagen 1989, S. 44. Die Erstveröffentlichung erfolgte 1988 auf Englisch bei Columbia Press. 60 Vgl. Vittoria Borsò: Giorgio Agamben ‒ tra disastro e catastrofe. 61 Pearl S. Brilmyer: Plasticity, Form, and the Matter of Character in Middlemarch. In: Representation 130/1 (2015), S. 60–83. https://arcade.stanford.edu/content/plasticity-form-andmatter-character-middlemarch#_ednref17 (letzter Zugriff: 26.12.2019).

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environmental affordances gesehen werden sollten. Insofern nimmt Eliot die zentrale These von William James’ Laws of Habit über die Plastizität als grundsätzliches Vermögen der Materie vorweg: «phenomena of habit in living beings are due to the plasticity of the organic materials of which their bodies are composed».62 In diesem Licht ist eine neue Lektüre von Balzac verblüffend, nimmt doch dieser Schriftsteller der französischen Restauration im Avant-Propos seiner Comédie humaine explizit kritisch Bezug auf Lavaters Physiognomie, im 19. Jahrhundert ein gewichtiges Dispositiv der wissenschaftlichen und sozialen Normierung.63 Gewiss hat Balzac, wie Charles Grivel betont,64 durch die Physiognomik eine Grundlage für semiotische Theorien des Gesichts geliefert, die als Identitätsakte bezeichnet werden können. Die Physiognomik betrifft aber in seiner Comédie gesellschaftlich kodifizierte Ausdrücke, also jene Seite des Werkes, die das System beschreibt, um aber immer wieder zur Vorlage von Abweichungen zu werden, denen sich Balzac mit Vorliebe zuwendet. Es sind jene Abweichungen, die sich ergeben, wenn die Äquivalenz zwischen dem Inneren und dem Äußeren des Menschen, die das physiognomische System zusammenhält, zerbricht. Bei näherer Betrachtung der Quelle, aus der Balzac wahrscheinlich die Physiognomischen Fragmente Lavaters rezipiert hat, wundert Balzacs Interesse an Physiognomie nicht: Denn von den zwei französischen Ausgaben der Physiognomik kennt Balzac die von Moreau,65 die weit mehr ist als nur die Übertragung der Physiognomischen Fragmente. Moreau versammelt und kommentiert nämlich das Gesagte (oder Sagbare) über Physiognomik und schließt auch die Pathognomik von Lichtenberg mit ein, was Balzac insofern näher liegt,66 als dass Lichtenbergs Pathognomik die Individualität

62 William James: Laws of Habit, 1877, zit. nach Pearl S. Brilmyer: Plasticity, Form, and the Matter of Character in Middlemarch, S. 70. 63 So z.B. Richard Sennett: The Fall of Public Man. New York: Alfred A. Knopf 1977, S. 131, 156. 64 Charles Grivel: Die Identitätsakte bei Balzac. In: Hans Ulrich Gumbrecht/Karlheinz Stierle/ Rainer Warning (Hg.): Honoré de Balzac. München: Fink 1980, S. 81–141. 65 Im Brief an seine Schwester vom 20. August 1822 spricht Balzac von einem «superben Lavater». Es handelt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um die Edition von M. Moreau (de la Sarthe) aus dem Jahr 1820. Vgl. hierzu Fernand Baldensperger: Les théories de Lavater dans la littérature française. Études d’histoire littéraire. Paris: Hachette 1910, S. 71 und Régine Borderie: Balzac. Peintre de corps. La Comédie Humaine ou le sens du détail. Paris: SEDES-VUEF 2002, S. 18. Zur Identifizierung der von Balzac benutzten Ausgabe vgl. Alain Montandon: Balzac et Lavater. In: Revue de littérature comparée 4 (2000), S. 471–491. 66 Zum Verhältnis von Lavater und Lichtenberg vgl. Hans-Georg von Arburg: Konsensus im Dissensus? Der Physiognomikstreit zwischen Lavater und Lichtenberg im Lichte der französischen Psychiatrie des frühen 19. Jahrhunderts. Heft 2. Bern: Akademievorträge Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften 2000.

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und Veränderbarkeit des Ausdrucks durch transitorische Affekte fokussiert, die den Körper in verschiedenen Lebenssituationen unterschiedlich verändern. Deshalb nimmt Balzac eine Zwischenstellung zwischen Physiognomie und Pathognomik ein. Für ihn ist beides relevant: Die Physiognomie gilt für das System der Gesellschaft, die Pathognomik für das Leben. Bei der Analyse des Gehens in seiner Théorie de la demarche67 werden beide miteinander verbunden und transformiert. Die Bewegung verweist nämlich auf das «unsichtbare[] Fluidum», zugleich Lebenskraft und Organisationsprinzip des Körpers,68 über das der Mensch verfügt und das er ‹aufbraucht›. Die Bewegung bestimmt das Denken, das Wort die Gebärde, welche bei Balzac noch als mehr oder weniger lebendige Ergänzung des Wortes gilt.69 Mit der Bewegung wendet sich Balzac der Flüchtigkeit der Pathognomik zu und verlässt die statische Anatomie der Physiognomik, da das individuelle Gehen der Klassifizierung zum Opfer fiele. Statistik und physiologische Messungen sind, so Balzac ausdrücklich, keine hinreichenden Methoden zur Beschreibung von Bewegung als vitalistischem Prinzip des Körpers.70 Der Beobachter selbst muss ein Flaneur sein, so die explizite Aussage auch in der Physiologie du mariage, die den Pariser Flaneur von Charles Baudelaire und Walter Benjamin vorwegnimmt, denn auch Balzac zufolge interagiert die eigene Bewegung mit jener anderer Menschen. Die Menschen beobachtet Balzac wie durch ein Mikroskop, das die kleinsten Momente des Alltagslebens und ihre Mikrobewegungen sichtbar macht. So bezeichnet Balzac das Flanieren als die «wissenschaftliche Gastronomie des Auges»: une science, c’est la gastronomie de l’œil. Se promener, c’est végéter; flâner c’est vivre [. . .] Flâner, c’est jouir, c’est recueillir des traits d’esprit [. . .] c’est plonger ses regards sur fond de milles existences.71

Mit dem Gang widerspricht Balzac der Zentralität von Gesicht und Kopf in der Physiognomik und bezieht Stellung zu dem zentralen ‒ etwa durch Lichtenberg

67 Honoré de Balzac: Théorie de la démarche. Paris: Didier 1853. 68 Balzac lässt sich von Fluidalkonzepten des Mesmerismus, von der unsichtbaren Wirkmacht der Elektrizität und der Erfindung des Telegrafs inspirieren. Dieser Spur geht Petra Löffler systematisch nach. Vgl. Petra Löffler: Affektbilder: Eine Mediengeschichte der Mimik. Bielefeld: transcript 2004, S. 81–91. Für die folgende Analyse der Théorie de la démarche vgl. Vittoria Borsò: Relationale Intensitäten im Schatten emergenter Narrative des Sozialen. Zur Archäologie von ‹Paragesellschaften› im französischen Realismus (Honoré de Balzac). In: Benjamin Loy/Simona Oberto/Paul Strohmeier (Hg.): Imaginationen des Sozialen. Heidelberg: Winter 2020b (im Druck). 69 Honoré de Balzac: Théorie de la démarche, S. 86. 70 Messungen und Kurven können nur den gesetzmäßigen Bau und das automatische Funktionieren des menschlichen Bewegungsapparats umfassen. 71 Honoré de Balzac: Théorie de la démarche, S. 52.

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formulierten ‒ Vorwurf, dass die Physiognomie das Problem der Verstellung nicht lösen könne. Nur der Gang sei in dieser Hinsicht ‹natürlich›, wenn er nicht seine Unschuld durch die Normierung seitens sozialer Gruppen verliert.72 Ein unbewusster Willen präge dem Körper die Art der Bewegung ein; er drücke ihm ‹Krümmungen› auf. Auf der Suche nach den kleinsten Indizien für die individuelle force vitale zielt Balzac auf die elementarsten Kräfte des Individuums, die sich etwa durch ein «frémissement des lèvres»73 äußern. Dies ist etwas, das Deleuze und Guattari später molekulare Intensitäten und materielle Relationen nennen werden.74 Für die kleinsten Nuancen der individuellen Bewegung benötigt Balzac die Pathognomik.75 Zusammenfassend gilt es zu betonen: Bei Balzac koexistieren die normierten Körperbewegungen eines 19. Jahrhunderts, das den Körper unter Observanz stellt ‒ so zum Beispiel mit der Psychopathologie und Psychiatrie ‒, mit den unwillkürlichen, kleinsten Bewegungen, auf die sich die Beobachtung des Künstlers richtet. Neben einer Semiotik der französischen Gesellschaft und ihrer Posen, für welche Physiologie und Physiognomie als Referenzmodelle fungieren, sucht Balzac auch nach den endlosen Abweichungen: «Autant d’hommes autant de démarches!»76 Physiognomie und Physiologie dienen Balzac zur Darstellung der Gesetzmäßigkeiten der société. 72 Zwecks der Absetzung vom Bürgertum kultivieren Höflinge, Kurtisanen und Schauspieler beim Gehen eine Kunst der Verstellung: «L’inclination plus ou moins vive d’un de nos membres; la forme télégraphique dont il a contracté, malgré nous, l’habitude; l’angle ou le contour que nous lui faisons décrire, sont empreints de notre vouloir, et sont d’une effrayante signification. C’est plus que la parole, c’est la pensée en action. Un simple geste, un involontaire frémissement des lèvres peut devenir le terrible dénoûment d’un drame caché longtemps entre deux cœurs». Ebda., S. 49. 73 Ebda. 74 «Un étai précis de mélange de corps dans une société, comprenant toutes les attractions et répulsions, les sympathies et les antipathies les altérations, les alliages, les pénétrations et expansions qui affectent les corps de toutes sortes les uns par rapport aux autres.» Gilles Deleuze/Félix Guattari: Mille Plateaux, S. 114. 75 Die Théorie de la demarche ist eine Methode zur Entzifferung des Flüchtigen. Sucht die Physiognomie den Ausdruck des Inneren, sind dagegen die flüchtigen Nuancen des Ganges Einprägungen, Eindrücke, Spuren des Einschreibens des Denkens, Willens, der Sprache und des Unbewußten in den Körper. Diese Spuren tendieren zum Transitorischen, ist doch die Bewegung von Temporalität durchzogen. Honoré de Balzac: Théorie de la démarche, S. 63. Balzac fokussiert damit die von Lichtenberg, Darwin und heute von der Biogenetik als unhintergehbar erkannte Transitorität des Phänotyps und die Plastizität des Körpers. Mit dem dynamischen ‹Eindruck› der Bewegung wird die binäre Logik der Physiognomik, die eine Entsprechung von Innen und Außen voraussetzt, geschwächt oder gar außer Kraft gesetzt. 76 Ebda., S. 81. «Tenter de les décrire complètement, ce serait vouloir rechercher toutes les désinences du vice, tous les ridicules de la société, parcourir le monde dans ses sphères basses, moyennes, élevées. J’y renonce. Sur deux cent cinquante-quatre personnes et demie (car je

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Für die Performanz von Leben greift er auf die Pathognomik zurück. Obwohl die Bewegung das vitalistische Gleichgewicht bedroht und auch für Balzac zu gefährlichen Transformationen der Gesellschaft führen kann, ist das Leben wegen der chaleur vitale, der Affekte und der Bewegung begehrenswert. So verweist Balzac in der Physiologie du mariage auf die unterschiedlichen Lebensformen und die verschiedenen Modi des Verwaltens der énergie vitale77 und richtet in seiner écriture sein Auge auf die affektive Färbung der Körperbewegung, auf das besondere Detail. Dabei ist es gerade das Detail, das die Physiognomie und Anatomie aus den Fugen geraten lässt, wie das Gesicht des Chevaliers de Valois im sogenannten physiognomischen ‹Manifest› von Balzacs La vieille fille – so z.B. das Detail eines nez prodigieux, welches das Gesicht in zwei Teile zerfallen lässt: Après, je vis un homme qui avait l’air d'être composé de deux compartiments. Il ne risquait sa jambe gauche, et tout ce qui en dépendait, qu’après avoir assuré la droite et tout son système. Il appartenait à la faction des binaires. Évidemment son corps devait avoir été primitivement fendu en deux par une révolution quelconque, et il s’est miraculeusement mais imparfaitement ressoudé. Il avait deux axes, sans avoir plus d’un cerveau.78

Bereits der Beginn von La vieille fille ist insgesamt ein Angriff auf die Physiognomie: 1) Physiognomische Prinzipien werden als Selektion aus der Fülle der möglichen charakteriologischen Ausdruckmodi dekonstruiert. 2) Die Taxonomie wird durch Temporalität und Transitorität der Formen durchkreuzt; das Anomale wird zur Norm. 3) Das Vertrauen in die Sichtbarmachung (im Körper) des Unsichtbaren (Psyche, Seele, Charakter) wird angesichts der Enigmata in der biographischen Komplexität und in der Heterogenität von Habitus und Verhalten erschüttert. 4) Zoomorphische Grundlagen der Physiognomie, die Balzac explizit aus der Physiologie der Tiere in der Histoire naturelle von Buffon

compte un monsieur sans jambes pour une fraction) dont j’analysai la démarche, je ne trouvai pas une personne qui eût des mouvements gracieux et naturels.» Ebda., S. 81f. 77 «L’homme a une somme donnée d'énergie. Tel homme ou telle femme est à tel autre, comme dix est à trente, comme un est à cinq, et il est un degré que chacun de nous ne dépasse pas. La quantité d’énergie ou de volonté, que chacun de nous possède, se déploie comme le son: elle est tantôt faible, tantôt forte; elle se modifie selon les octaves qu’il lui est permis de parcourir. Cette force est unique, et bien qu’elle se résolve en désirs, en passions, en labeurs d’intelligence ou en travaux corporels, elle accourt là où l’homme l’appelle. Un boxeur la dépense en coups de poing, le boulanger à pétrir son pain, le poète dans une exaltation qui en absorbe et en demande une énorme quantité, le danseur la fait passer dans ses pieds ; enfin, chacun la distribue à sa fantaisie [. . .]. Presque tous les hommes consument en des travaux nécessaires ou dans les angoisses de passions funestes, cette belle somme d’énergie et de volonté dont leur a fait présent la nature.» Honoré de Balzac: Physiologie du mariage. Paris: Livre de poche 1971, S. 174. 78 Honoré de Balzac: Théorie de la démarche, S. 63.

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übernimmt, werden hypostasiert und gleichzeitig mobilisiert. Dies belegt der Anfang von La vieille fille: Tous ces chevaliers, parmi lesquels il en est sans doute qui sont valois comme Louis XIV était bourbon, se connaissaient si peu, qu’il ne fallait point leur parler des uns aux autres. Tous, ils laissaient d’ailleurs les Bourbons en parfaite tranquillité sur le trône de France, car il est un peu trop avéré que Henri IV devint roi faute d’un héritier mâle dans la première branche d’Orléans, dite de Valois. S’il existe des Valois, ils proviennent de Charles de Valois, duc d’Angoulême, fils de Charles IX et de Marie Touchet, de qui la postérité mâle s’est éteinte, jusqu’à preuve contraire [. . .]. Chacun de ces chevaliers, si les renseignements sont exacts, fut, comme celui d’Alençon, un vieux gentilhomme, long, sec et sans fortune.79

Die Beschreibung des Chevaliers de Valois beginnt mit wiederholten Hinweisen auf den Typus, hier des «vieux gentilhomme, long, sec et sans fortune» – der Typus ist nach Lukács der Grundstein von Balzacs Realismus.80 Doch just in diesem Moment wird die Typologie des Chevaliers zugleich ironisiert; Balzac vollzieht damit eine indirekte politische Kritik am Royalismus der französischen Bourgeoisie, die als Akteur der Revolution in die Geschichte eingegangen ist. Die Physiognomie wird als «physiologie [qui] s’occupe tant du cœur humain»81 gleich danach ironisch angesprochen und ent-werkt: Alors âgé d’environ cinquante-huit ans, n’en avouait que cinquante, et pouvait se permettre cette innocente tromperie; car, parmi les avantages dévolus aux gens secs et blonds, il conservait cette taille encore juvénile qui sauve aux hommes aussi bien qu’aux femmes les apparences de la vieillesse. Oui, sachez-le, toute la vie, ou toute l’élégance qui est l’expression de la vie, réside dans la taille. Au nombre des propriétés du chevalier, il faut compter le nez prodigieux dont l’avait doué la Nature. Ce nez partageait vigoureusement sa figure pâle en deux sections qui semblaient ne pas se connaître, et dont une seule rougissait pendant le travail de la digestion. Ce fait est digne de remarque par un temps où la physiologie s’occupe tant du cœur humain. Cette incandescence se plaçait à gauche.82

Der Text betont die Selektion eines Körperteils, nämlich hier der Taille, die die gelungene Objektivation des Stils und des Lebenssinns zu sein scheint: «toute l’élégance qui est l’expression de la vie, réside dans la taille»83. Doch ein Detail des Gesichts, nämlich die Nase, die das Gesicht in zwei sich fremd gegenüber

79 Honoré de Balzac: La vieille fille. In: La Comédie humaine. Bd. IV. Paris: Gallimard 1976, S. 811–936, hier S. 811f. 80 Vgl. Georg Lukacs: Balzac und der französische Realismus. Berlin: Aufbau-Verlag 1952. 81 Honoré de Balzac: La vieille fille, S. 813. 82 Ebda., S. 812f. 83 Ebda., S. 812.

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stehende Teile trennt und die Geometrie des Gesichtes sprengt, lässt das physiognomische Werk scheitern, denn nur die linke Seite des Gesichts glüht während der Verdauung rot. Das Scheitern des physiognomischen Werkes ist ein Ent-Werken, das auf die Ontologie des Körpers hin öffnet: Mit Bezug auf die galenische Medizin und die Theorie der Körpersäfte, rückt in diesen und späteren Passagen statt der Tableaus der Physiognomie die biomaterielle Aktivität des Bluts ins Zentrum. So folgt gleich die Ironie gegen physiognomische Theoreme der Medizin: «Selon quelques médecins, cette chaleur placée à gauche dénote un cœur prodigue. La vie galante du chevalier confirmait ces assertions scientifiques».84 Das Zerfallen des Gesichts in zwei fremde Teile ist der Beginn einer Serie von Anomalien: Die schwächelnde, blasse Figur, das ungesunde Aussehen widersprechen dem exzessiven Appetit des Chevaliers (der allerdings das Resultat der guten Küche von Alençon sein könnte!). Weiterhin passt der Habitus eines «ladie’s man»85 nicht zu den femininen Händen, das natürliche «parfum de jeunesse»86 nicht zur minutiösen Selbstsorge des Chevaliers, der das Alter verschleiern möchte. Seine adlige, weisse Haut passt nicht zu den Ohrringen mit Negerköpfen aus Diamanten.87 Die akribische Selbstsorge, die auf Foucaults souci de soi vorausweist, kann die Materialität des Körpers des alternden Chevaliers nicht bändigen: [Le coquet chevalier] était si minutieux dans ses ablutions que ses joues faisaient plaisir à voir, elles semblaient brossées avec une eau merveilleuse. La partie du crâne que ses cheveux se refusaient à couvrir brillait comme de l’ivoire. Ses sourcils comme ses cheveux jouaient la jeunesse par la régularité que leur imprimait le peigne. [. . .] Le chevalier mettait du coton dans ses oreilles.88

Schließlich wird die physiognomische Klassifikation, wie so oft bei Balzac, durch die Zeichen der Vergänglichkeit, der Termporalität durchkreuzt: Cette fraîcheur de toilette, ce soin seyait bien aux yeux bleus, aux dents d’ivoire et à la blonde personne du chevalier. Seulement, cet Adonis en retraite n’avait rien de mâle

84 Ebda., S. 813. 85 Ebda. 86 Ebda. 87 «Sa peau déjà si blanche semblait encore extrablanchie par quelque secret. Sans porter d’odeur, le chevalier exhalait comme un parfum de jeunesse qui rafraîchissait son aire. Ses mains de gentilhomme, soignées comme celles d’une petite maîtresse, attiraient le regard sur des ongles roses et bien coupés. Enfin, sans son nez magistral et superlatif, il eût été poupin. Il faut se résoudre à gâter ce portrait par l’aveu d’une petitesse. Le chevalier mettait du coton dans ses oreilles et y gardait encore deux petites boucles représentant des têtes de nègre en diamants, admirablement faites d’ailleurs [. . .].» Ebda. 88 Ebda.

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dans son air, et semblait employer le fard de la toilette pour cacher les ruines occasionnées par le service militaire de la galanterie.89

Obwohl Balzac auch eine Semiotik der Mode und sogar eine Vestignomie konstruiert, verrät die Kleidung des Chevaliers eine Übergangspersönlichkeit, ein «costume de transition qui unissait deux siècles l’un à l’autre».90 Alles ist beim Chevalier Übergang und «antithèse»:91 Von der lauten Stimme im schrecklichem Kontrast zur «blonde délicatesse», wie das Appartment, das er bei einer «blanchisseuse», einer Weißwäscherin, mit dem ‹speckigen› Namen Madame Lardot in der rue du Cours zur Miete bewohnt.92 Die Kritik am aufsteigenden Bürgertum und an der korrupten Gesellschaft des beginnenden Kapitalismus erfolgt mittels grotesker, kranker Körper. Ein herausragendes Beispiel hierfür ist die Pension Vauquer in Le Père Goriot, jener Mikrokosmos, der die wichtigsten Repräsentanten einer verfallenden Gesellschaft einschließt. In der dichten Materialität der Sprache Balzacs ist die Pension aber ein Mikrokosmos voll wimmelnder Biomaterialität. So etwa die Beschreibung von Körper und Kleidung der Madame Vauquer, der Pensionsinhaberin: Bientôt la veuve se montre, attifée de son bonnet de tulle sous lequel pend un tour de faux cheveux mal mis, elle marche en traînassant ses pantoufles grimacées. Sa face vieillotte, grassouillette, du milieu de laquelle sort un nez à bec de perroquet, ses petites mains potelées, sa personne dodue comme un rat d’église, son corsage trop plein et qui flotte, sont en harmonie avec cette salle où suinte le malheur, où s’est blottie la spéculation, et dont Mme Vauquer respire l’air chaudement fétide sans en être écœurée. Sa figure fraîche comme une première gelée d’automne, ses yeux ridés, dont l’expression passe du sourire prescrit aux danseuses à l’amer renfrognement de l’escompteur, enfin toute sa personne explique la pension, comme la pension implique sa personne. [. . .] L’embonpoint blafard de cette petite femme est le produit de cette vie, comme le typhus est la conséquence des exhalaisons d’un hôpital.93

Der Satz «toute sa personne explique la pension, comme la pension implique sa personne» scheint auf die Korrespondenzlehre der Physiologen hinzudeuten. Doch bald darauf wird das dicke, ja feiste Aussehen von Madame Vauquer metaphorisch als Produkt ihres Lebens bezeichnet, so wie der Typhus das Ergebnis von Krankenhaus-Ausdünstungen sei. Mit diesem indirekten Verweis auf

89 Ebda., S. 814. 90 Ebda., S. 815. 91 Ebda., S. 814. 92 Ebda., S. 815. 93 Honoré de Balzac: Le père Goriot. In: La Comédie humaine. Bd. III. Paris: Gallimard 1976, S. 51–290, hier S. 54f.

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die Topographie médicale de Paris von Claude Lachaise, 94 einer frühen hygienischen Abhandlung über die Korrelation von Armut, Schmutz und Krankheit, wird aus der physiognomischen Korrelation ein Transformationsprozeß. Es ist ein Werden und eine Relationalität, in denen wir heute ökologische Zusammenhänge erkennen. Diese ständigen Übersetzungsketten sind auch das Prinzip von Balzacs wechselseitiger Kontamination und metonymischer Verschiebung der metaphorischen Felder (Krankheit ‒ Essen ‒ Schmutz ‒ Begehren). Die dichte heterogene Biomaterialität ‹wimmelt› von Bewegungen, die nicht in einem Bild gefasst werden können.95 Die Kohärenz zwischen den Körperteilen ist nicht mehr gegeben, das tableau bricht auseinander und der Blick verweilt auf dem Detail. So die nahezu kinematographische Großaufnahme96 der Pantoffeln Madame Vauquers mit einem Gesichtsausdruck, bei dem man geneigt ist, Affektbilder im Sinne von Deleuzes Bewegungsbild zu erkennen. Ähnliches trifft für den Vergleich mit der vollgefressenen Kirchenratte zu. Die organische Kohärenz der Körperteile ist instabil; die Bilder haben Spuren einer nicht assimilierbaren lebendigen Materie, die in allen ‒ humanen, wie auch nichthumanen ‒ Entitäten, eine äußert vitale Agentialität aufweist. In der geradezu molekularen Varietät und Plastizität der Sinne, insbesondere des von Balzac priviligierten Geruchssinns, könnte man einen Vorgriff auf heutige Forschungen sehen. Entsprechende Untersuchungen zur Wirkung von Pheromonen in der humanen und nicht-humanen Kommunikation97 haben z.B. gezeigt, dass Tiere Interesse daran haben, ihre chemische Kommunikation zu schützen, damit Feinde sie nicht aufspüren. Jede Spezies kommuniziert in ihrer chemischen Geheimsprache. Moleküle können bei verschiedenen Arten eine je eigene 94 Während der Restauration und der Monarchie Louis-Philippes sind die hygienischen Verhältnisse in Paris katastrophal. Epidemien zerstören das Leben von fünfhunderttausend Menschen. In seiner Topographie médicale de Paris thematisiert Claude Lachaise die gesundheitlichen Schäden der Emanationen und der Akkumulation und Kontiguität von Abfall und Menschen. Erstmalig werden Belange des sogenannten public health thematisiert und offene Abwasserkanäle gebaut, die noch heute gebräuchlich sind. Vgl. Claude Lachaise: Topographie médicale de Paris. Paris: Baillière 1822. 95 Dies ist die Hauptthese meiner Analyse der Metaphorik bei Balzac. Vgl. Vittoria Borsò: Metapher: Erfahrungs- und Erkenntnismittel. Die metaphorische Wirklichkeitskonstitution im französischen Roman des 19. Jahrhunderts. Tübingen: Narr 1984, S. 91–145. 96 Man kann hier von einer Vorwegnahme der Wirkung von Nahaufnahmen der Photographie und des Films sprechen, die gerade durch die Herauslösung aus dem natürlichen oder gewohnten Kontext eine beunruhigende und intensive Nähe des Realen ausdrücken. Roland Barthes nennt diese Wirkung «le grain de réel». Vgl. Roland Barthes: La chambre claire. Paris: Seuil 1980. Vgl. auch Pascal Bonitzer: Décadrage. Peinture et Cinéma. Paris: Éditions de l'Étoile 1985. 97 Vgl. z.B. Bettina M. Pause/Michaela S. Seul: Alles Geruchssache. München: Piper 2020.

Physiognomie heute: zwischen Körperpolitiken und vitaler Politik des Körpers

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Bedeutung haben und in unterschiedlichen Mischungen auftreten. Dabei basiert die biomaterielle Ökonomie des Zusammenlebens auf der molekularen Komplexität der Relationen innerhalb der chemischen Kommunikation. Spätestens hier erfahren wir, dass die Singularität, Dynamik und Relationalität des Lebenden durch Taxonomien oder physiognomische Analogieschlüsse nicht klassifizierbar sind und dass das Lebende mehr als nur eine Resistenz gegen die biopolitische Macht darstellt. Zusammenfassend gilt zu betonen, dass Biopolitik, Physiognomie und klassische Ästhetik die Zentrierung auf das Subjekt im anthropozentrischen Sinne als kritischen bzw. affirmativen Ort des Denkens haben. Die Trennung von Innen und Außen sowie die nachträgliche Festlegung der Korrespondenz im symbolischen Körper sind die Gegenstände ihrer Lehre bzw. ihrer kritischen Analyse. Physiognomie und Ästhetik naturalisieren die Disziplinierung des Körpers, also die Körperpolitiken, auf die die Biopolitik ihre kritische Aufmerksamkeit lenkt. Doch fragt man nach dem Ort des Denkens und verschiebt man den Blick von der Macht zum Lebenden hin, so zeigt die Mikroanalyse selbst jener historischen Texte, die wie die von Balzac als modellhafte Umsetzung physiognomischer Prinzipien gelten, Operationen der Verschiebung diesseits einer transzendierenden Macht, hin zu Immanenz, Singularität und zu einer Ästhetik des Sensiblen. Spätens hier relativiert sich die Geltung von Physiognomie und klassischer Ästhetik, aber auch von biopolitischer Macht über das Leben. Es bedarf Verfahren der aisthesis, damit eine Ontologie des Lebenden aufscheinen kann.

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Salvatore Tedesco

Die Ästhetik und das Lebendige: Biologischer Akt, Bürde und Verantwortung 1 Einleitung Wenn es wahr ist, dass dem Projekt der Morphologie im Laufe des 20. Jahrhunderts eine wirkliche Verfinsterung zuteil wird,1 die seine heuristische Fähigkeit sowohl im Bereich der Lebenswissenschaften als auch in der ästhetischen und historisch-künstlerischen Reflexion zu verdunkeln scheint, dann wird nur in dieser neuen Situation der produktiven Marginalität Raum geboten, um einige Konzepte zu diskutieren, die heute in der Lage sein können, eine Brücke zwischen den Wissensbereichen zu schlagen und eine neue disziplinäre Synthese zutage zu fördern. Dazu gehören das Konzept des «Biologischen Aktes»,2 das die Einheit von Handlung und Leiden des Lebewesens postulieren soll, und die gegensätzliche Beziehung zwischen «Bürde» und «Verantwortung»,3 die in gewisser Weise die Bedingung und den Wirkungsbereich dieser Einheit des Lebendigen ausmacht.

2 ‹Krise› der Morphologie: Die Morphologie und die ‹Krise der lebendigen Form› Ab den ersten Entwürfen, in denen die Perspektive einer Morphologie Platz findet, betont Goethe den dualen Charakter des erforschten theoretischen Systems: einerseits eine «neue Wissenschaft», die den Ansatz zu organischen Formen des modernen Wissenssystems methodisch neu definiert,4 was der Theorie eine neue

1 Vgl. Rupert Riedl: Der Verlust der Morphologie. Wien: Seifert 2006. 2 Viktor von Weizsäcker: Der Gestaltkreis. Theorie der Einheit von Wahrnehmen und Bewegen (1940). In: Gesammelte Schriften. Bd. 4. Herausgegeben von Dieter Janz u.a. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1997, S. 110–127. 3 Vgl. Rupert Riedl: Die Ordnung des Lebendigen. Systembedingungen der Evolution. Hamburg/ Berlin: Paul Parey 1975, passim. 4 «Organische Gestalten». Johann Wolfgang von Goethe: Hypothese. In: Sämtliche Werke. Bd. 16. Leipzig 1920, S. 653. https://doi.org/10.1515/9783110665055-004

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und eigentümliche Gestalt verleiht,5 und andererseits eine «Hilfswissenschaft» der Physiologie, die ihre Phänomene zweifellos aus der Naturkunde und Anatomie bezieht. Weiterhin von Goethes Gedankengebäude ausgehend kommt zu diesem kritischen Moment jenes von der Natur der Gestalt selbst hinzu, was zum einen Ausdruck der Konfiguration des Organismus sowie seiner Erscheinung und seines Sich-in-Beziehung-Setzens zu anderen Wesenheiten6 meint, und zum anderen sich als flüchtiges, zu Beständigkeit unfähiges Gebilde darstellt.7 Es erscheint hier bereits eine Dynamik vorgezeichnet, die zyklisch zur Geschichte des morphologischen Denkens und seiner Beziehungen zum Komplex der Biowissenschaften sowie zur Artikulation der Geisteswissenschaften zurückkehren wird: Der gängige Vorwurf über die Inkonsistenz eines Ansatzes, der weder wissenschaftliche Relevanz noch den Wert eines disziplinären Gegenstands zu haben scheint,8 wird durch die Aufwertung einer Disziplin ausgeglichen, der es gelingt, durch die Entwicklung einer an sie angepassten Methodik wissenschaftlich Rechenschaft darüber abzulegen, was seiner Natur nach mobil und plastisch ist.9 Dieser theoretische Ansatz ist bereits in einigen Strömungen der Morphologie innerhalb der theoretischen Biologie des frühen 20. Jahrhunderts vorhanden10 und führt zur Entwicklung eines «methodischen Indeterminismus»,11 der in der Lage ist, den lebenswissenschaftlichen Dialog mit der modernen Physik aufzunehmen. Vor allem aber führt die Aufmerksamkeit für die Metamorphosen der lebendigen Form dazu, die ‹Krise› der Morphologie als Ressource eines theoretischen Ansatzes zu verstehen, der die Veränderung der funktionalen Beziehungen im Organismus und die Öffnung für die Kontingenz des Werdens zu den wichtigsten Elementen der durchzuführenden Analyse macht. Tatsächlich liegt der Grund für das besondere Interesse an diesem Prozess und dessen Aktualität (der ‹immanenten Krise›, wenn man so will) in dem von

5 «eine eigne Gestalt». Ebda., S. 184. 6 Diese Themen werden im 20. Jahrhundert von Adolf Portmann beispielhaft aufgegriffen. Vgl. Adolf Portmann: Die Tiergestalt. Basel: Reinhardt 1960; ders.: Licht und Leben. Basel: Reinhardt 1963; ders.: Aufbruch der Lebensforschung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1965. 7 Vgl. Johann Wolfgang von Goethe: Morphologie. In: Werke (Hamburger Ausgabe). Bd. 13.I. München: dtv 2000, S. 55f. 8 Vgl. z.B. Jakob Johann von Uexküll: Theoretische Biologie. Berlin: Springer 1928, S. 135. 9 Johann Wolfgang von Goethe: Morphologie, S. 56. 10 Vgl. exemplarisch Viktor von Weizsäcker: Der Gestaltkreis; Gestalt und Zeit (1942). In: Gesammelte Schriften. Bd. 4. Herausgegeben von Dieter Janz u.a. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1997, S. 83–337, 339–382. 11 Viktor von Weizsäcker: Der Gestaltkreis, S. 273.

Die Ästhetik und das Lebendige: Biologischer Akt, Bürde und Verantwortung

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Viktor von Weizsäcker praktizierten Umdenken in der theoretischen Biologie, welches gekennzeichnet ist durch die Abwendung von der Linie der Zoosemiotik eines Jakob von Uexküll zugunsten einer Hinwendung zur Formenkunde Goethes. Bei Weizsäcker heißt es: Wie mannigfaltig man sich auch die Sinnlichkeit der verschiedenen Lebewesen denken möge, wie verschieden die Grade und Stufen der Bewußtheit – immer wird man daran festhalten müssen, daß Sinnlichkeit nur da vorliegt, wo das materielle Geschehen in seiner Gesamtheit für ein Lebewesen ein Eindruck, eine Gegenwart wird [. . .]. Das sinnliche Erlebnis ist wesensmäßig ein Realitätserlebnis und besitzt als solches stets den Gehalt einer Transzendenz.12

Um das Wort «Realitätserlebnis» dreht sich in der Tat die gesamte Bandbreite vom Funktionalismus bis zur Morphologie. Wo sich in Uexkülls Lesart die Wissenschaft von der Wahrnehmung in der Analyse von sinnlichen Eigenschaften entfaltete, die der Artikulation von Funktionskreisen immanent ist, wird es für Weizsäcker umgekehrt immer darum gehen, Wahrnehmung als Akt der Transzendenz zu verstehen: Die Empfindungen sind nicht grün, sondern die Bäume sehen wir grün [. . .]. Es besteht nun einmal kein Recht, die «Empfindungen» grün zu nennen, es ist und bleibt eine Empfindung, ein Akt der Transzendenz. Ein Reiz ist etwas, aber eine Empfindung ist nie ein Etwas, sondern es ist und bleibt nun einmal Empfindung von etwas; wir haben durch sie etwas, aber eben darum ist sie nicht etwas. Man kann dies auch so ausdrücken, daß jede Empfindung eine Wahrnehmung sei, daß es also Empfindungen überhaupt nicht «gibt», weil es auch keine Wahrnehmungen «gibt», sondern durch die Wahrnehmung etwas gegeben wird.13

Werden Uexkülls Auffassung zufolge die Immanenz der Wahrnehmung und die deskriptive Irrelevanz der lebendigen Form sowie deren totale Substitution durch die Funktionsanalyse entgegengesetzt, so tritt in Weizsäckers Lesart im Gegenzug die Einheit des lebendigen Organismus, der lebendigen Form, verstärkt in den Vordergrund. Der Akt der Transzendenz sagt uns sowohl etwas über die Transzendenz der Wahrnehmung, also den Bezug der Wahrnehmung zu einem irreduziblen ‹Realen›, als auch über die ebenso irreduzible Einheit des biologischen Agenten. Der Vorrang von biologischem Akt und Handlung bringt eine außerordentliche theoretische Revolution mit sich, die dazu führt, die funktionalen Zusammenhänge und den Standpunkt der Gnoseologie als

12 Viktor von Weizsäcker: Einleitung zur Physiologie der Sinne (1926). In: Gesammelte Schriften. Bd. 3. Herausgegeben von Dieter Janz u.a. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1990, S. 331f. 13 Ebda., S. 408ff.

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eine der Artikulationen des Phänomens Leben und der sinnlichen Erfahrung selbst zu verstehen. Nicht die Zirkularität der Funktion, sondern die Spannung der lebendigen und sich im Werden befindlichen Form (die Zirkularität des Gestaltkreises, aber im eigentlichen Sinne ist es jetzt eine spiralförmige Spannung), steht daher nun im Mittelpunkt der Untersuchung. Es handelt sich um eine Erforschung, die die Dynamik der Entwicklung14 der lebendigen Form mit dem Prinzip der naturgesetzlichen Bestimmung in Verbindung bringen kann. Eine biologische Perspektive auf die Form des Lebendigen wird daher nicht in der Analyse einer Reihe von Funktionen Ausdruck finden, sondern vielmehr in der Untersuchung ihrer phänomenalen Essenz und ihres Lebenswertes15 und somit in einer qualitativen Betrachtung der sinnlichen Erfahrung. Weizsäcker gelangt auf den letzten Seiten seines Buches Einleitung zur Physiologie der Sinne zu der Erkenntnis: Die «Anschauung, der Zweck und die Einrichtung der Sinnesorgane sei auf die Erkenntnis der Umwelt abgestellt, läßt sich [. . .] mit nicht mehr, wenn auch mit nicht weniger Recht durchführen wie eine andere, die etwa von ihrer Brauchbarkeit für den Genuß, für den Trieb, also für irgendeine nichterkenntnisartige Seite des Lebens».16 Der Übergang von Uexkülls Funktionskreis zu Weizsäckers Verständnis der Form bietet uns daher letztendlich die beiden folgenden Sichtweisen: einerseits den Übergang von einer Betrachtung des Lebewesens, die die Einheit des lebendigen Organismus in einem Funktionsnetzwerk auflöst, hin zu einer Betrachtung, die im Gegensatz dazu den Gesamtsinn in der Einheit eines Aktes sieht, nämlich dem Akt, durch den die Form des Lebendigen phänomenologisch auftritt. Andererseits ist es jedoch auch der Übergang von einer auf der Grundlage eines semiotischen Modells artikulierten Betrachtung (kurz gesagt: vom Merkmal zur Artikulation von Wahrnehmungs- und Operationswelten) hin zum Primat der aisthesis, der irreduziblen sinnlichen Erfahrung. Einen herausragenden Schritt wird es etwas später geben, der all dies mit außergewöhnlicher Klarheit veranschaulicht: Gestaltkreis heißt: die biologische Erscheinung erklärt sich nicht aus einer ihr zugrundeliegenden kausalen Reihe von Funktionen, aus denen die Erscheinung stammte; sondern sie ist Bestandteil eines in sich geschlossenen Aktes. Seine Einheit ist von der Analyse der Krise aus darstellbar. Sein eigentümliches Attribut ist das dem Ontischen gegenübergestellte Pathische. Seine Struktur ergibt sich aus der dialektischen Zerlegung der kritischen Entscheidung in die subjektiven Kategorien des ich will, muß, kann, soll, darf. Die

14 Vgl. Viktor von Weizsäcker: Gestalt und Zeit. 15 Vgl. Viktor von Weizsäcker: Einleitung zur Physiologie der Sinne. 16 Ebda., S. 427.

Die Ästhetik und das Lebendige: Biologischer Akt, Bürde und Verantwortung

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Ordnung dieser Kategorien untereinander ist wiederum nicht durch eine ontische Kategorie wie Raum, Zeit, Kausalität darzustellen, sondern durch die gesellige Ordnung des Ich und Du, Er und Es usw. Jeder biologische Akt ist, als Gestaltkreis begriffen, kein Glied in einer Kette, keine Ziffer in einer Reihe, sondern gegenüber dem Vorher eine Wandlung zu einem Nachher, eine revolutio.17

Eine ununterbrochene Verbindung zur Goethe’schen Tradition – gerade in der Öffnung des morphologischen Ansatzes hin zu einem Überdenken der Einheit der Wissenschaft – scheint in den von Konrad Lorenz und Rupert Riedl begründeten Gedankenlinien sehr präsent zu sein.18 Diese zielen nicht nur darauf ab, die Zusammenhänge zwischen den komplexen Strukturen der Realität und einer Morphologie des Wissens explizit zu verfolgen, sondern den Organismus in seiner Singularität und jene theoretischen Aspekte (Innovation, Plastizität, physikalisch-chemische Bürden) zum wesentlichen Gegenstand der Analyse zu machen, die sonst im Sinne eines biologischen Ansatzes besonders schwierig wären.19 Im Goethe’schen Morphologieprojekt erkennt man daher einige theoretische Grundzüge, die die Weiterentwicklung der methodischen Reflexion über die Formen des Lebendigen und deren Werden sowie über die Beziehungen zwischen Form und Bild und nicht zuletzt über die Konfigurationen des Wissens im Lichte der entscheidenden Begegnung mit Form und Bild beeinflussen.

3 Phänomenologie und Ontologie In einem nicht datierten programmatischen Fragment schreibt Goethe, die Morphologie «ruht auf der Überzeugung daß alles was sei sich auch andeuten und zeigen müsse».20 Auf diese Weise ist die Morphologie zweifellos gleichzeitig als Phänomenologie und Ontologie konfiguriert: «Das unorganische, das vegeta-

17 Viktor von Weizsäcker: Der Gestaltkreis, S. 316f. 18 Vgl. dazu Konrad Lorenz: Das Wirkungsgefüge der Natur und das Schicksal des Menschen. München: Piper 1978; Rupert Riedl: Die Ordnung des Lebendigen; ders.: Der Verlust der Morphologie; ders.: Strukturen der Komplexität. Eine Morphologie des Erkennens und Erklärens. Berlin/Heidelberg/New York: Springer 2000. 19 Vgl. Gerd B. Müller/Massimo Pigliucci: Evolution. The Extended Synthesis. Cambridge (Mass.): MIT Press 2010. 20 Johann Wolfgang von Goethe: Morphologie. In: Sämtliche Werke. Bd. 24.2. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 1987, S. 349. Vgl. auch Rosa Maria Lupo: Materia e metamorfosi. A partire dalla morfologia goethiana. In: Andrea Le Moli/Angelo Cicatello (Hg.): Understanding Matter. Bd. 1. Palermo: New Digital Press 2015, S. 125–141, v.a. S. 125.

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tive, das animale, das menschliche deutet sich alles selbst an, es erscheint als das was es ist unserm äußern, unserm inneren Sinn».21 Erscheinungsbild, Konstruktion und Wahrnehmung der Form sowie Reflexion über die Form sind daher intrinsisch miteinander verbunden. Nach Goethes Auffassung stehen wir vor einem Grundsatz, der als solcher die Realität selbst und unsere ästhetische und kognitive Beziehung zu ihr charakterisiert. Die Relationalität der Form entfaltet ihre Potenzialität wahlweise innerhalb der lebendigen Form, denn in ihr manifestiert sich die Bewegung der Form im eigentlichen Sinne des Werdens, das sich zusammen als Motilität, d.h. als Fähigkeit zur Selbstbewegung und Wahrnehmung, oder auch als Warnung vor dem Werden manifestiert. Das Ergebnis sind jene Besonderheiten des Objekts und der Untersuchungsmethode der Morphologie, die weiter als treibendes Element wirken und die gleichzeitig die Wurzel einer ungelösten und immer wieder auftretenden Problematik bilden: «Die Gestalt ist ein bewegliches, ein werdendes, ein vergehendes. Gestaltlehre ist Verwandlungslehre. Die Lehre der Metamorphose ist der Schlüßel zu allen Zeichen der Natur».22

4 Form und Funktion Die Alternative zwischen dem Primat der Form und dem Primat der Funktion reicht in der Moderne von der philosophischen Reflexion und der Debatte innerhalb der Lebenswissenschaften, von der bekannten Auseinandersetzung zwischen Cuvier und Geoffroy de Saint-Hilaire,23 über Schopenhauers Über den Willen in der Natur (1836) bis zum Triumph des adaptationistischen Programms in der sogenannten evolutionären, modernen Synthese und ihrer radikalen Krise in der zeitgenössischen Debatte.24 Seit Goethes Notizen zu Geoffroy de Saint-Hilaires Principes de philosophie zoologique25 geht der morphologische Ansatz – der darauf abzielt, jede einseitige Betrachtung zu überwinden – von der Untersuchung als einer Analyse von Strukturebenen (im Sinne von

21 Johann Wolfgang von Goethe: Morphologie, Bd. II, S. 349. 22 Ebda. 23 Vgl. Johann Wolfgang von Goethe: Morphologie, Bd. I, S. 219–250; Edward Stuart Russell: Form and Function. A Contribution to the History of Animal Morphology. London: John Murray 1916. 24 Vgl. Stephen Jay Gould: Ontogeny and Phylogeny. Cambridge (Mass.): Belknap Press of the Harvard University Press 1977. 25 Vgl. Johann Wolfgang von Goethe: Morphologie, Bd. I.

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Bauplänen) aus, in die sich Formen und Funktionen integrieren und die die Artikulation und Entwicklung der Form des Lebendigen garantieren. Es handelt sich um ein Forschungsprogramm, das transversal zur gleichen Unterscheidung zwischen der Goethe’schen morphologischen Linie und der mit Darwin ausgereiften Tradition ist. Es drückt sich über das Konstrukt eines Morphologiewortschatzes aus, das auf dem Studium modularer Elemente des gebildeten Ganzen basiert,26 auf der Identifizierung hierarchischer Kriterien, die für die Artikulation der Form relevant sind,27 und auf einem Überdenken des Funktionsbegriffs: «Modularity provides the long-sought nexus between form and function (where function is a particular instantiation that is environmentally dependent of the ability of a form to interact with other forms)».28 Stephen Jay Gould29 erkennt sehr treffend zwei genetische Prinzipien, die Goethe auf der Basis der Konstruktion der Organismen in Die Metamorphose der Pflanzen vorgestellt hat: die Lymphverfeinerung und der Kreislauf der Expansions- und Kontraktionsphasen. Die beiden Prinzipien artikulieren eine theoretische Option, die aktueller denn je ist, indem sie einen Vorrang vor den internen Gesetzen der Form beansprucht und die Gründe für eine sehr ungleiche und diskontinuierliche Besetzung des Raums der Formen in der Geschichte des Lebens aufzeigt. Der zentrale Moment eines Gedankengebäudes der Morphologie ist in diesem Sinne die Konstruktion des Homologiebegriffs, der seine kanonische Definition in der Mitte des 19. Jahrhunderts mit Richard Owen30 am Ende eines langen Weges finden wird, der von der vergleichenden Anatomie in der zweiten Hälfte des

26 Vgl. Rudolf A. Raff: The Shape of Life: Genes, Development and the Evolution of Animal Form. Chicago: University of Chicago Press 1996; Gerhard Schlosser/Günter P. Wagner: Modularity in development and evolution. Chicago: University of Chicago Press 2004; Werner Callebaut/Diego Rasskin-Gutman: Modularity. Understanding the Development and Evolution of Natural Complex Systems. Cambridge (Mass.): MIT 2005. 27 Vgl. Rupert Riedl: Die Ordnung des Lebendigen; Marc Ereshefsky: Homology: Integrating Phylogeny and Development. In: Biological Theory 4.3 (2009), S. 225–229. 28 Diego Rasskin-Gutman: Modularity: Jumping forms within morphospace. In: Werner Callebaut/ders.: Modularity, S. 207–219, v.a. S. 217. Siehe auch Arno Wouters: Four notions of biological function. In: Studies in History and Philosophy of Biological and Biomedical Sciences 34 (2003), S. 633–668. 29 Stephen Jay Gould: The Structure of the Evolutionary Theory. Cambridge (Mass.): Belknap Press of the Harvard University Press 2002, S. 281–291. 30 Vgl. Richard Owen: Lectures on the Comparative Anatomy and Physiology of the invertebrate Animals. London: Longman/Brown/Green/Longmans 1843; ders.: On the Nature of Limbs. London: John van Voorst 1849.

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18. Jahrhunderts bis zur Abschaffung des Begriffs des élément anatomique31 reicht und auch hier über Goethe32 führt. Nun zur Homologie, die eine Identität postuliert, die sich mit der Variation der beteiligten Formen und Funktionen äußert. Sie ist auf einer anderen hierarchischen Ebene zu verorten als die Alternative Form/Funktion. Als «Attraktoren im evolutionären Design» agierend, so beschreibt es Gerd B. Müller33 in einer wirksamen Synthese, identifizieren die Homologen die strukturellen Grundlagen des natürlichen Systems (nach der noch aktuellen Definition von Adolf Remane)34 und die erkennbaren Regelmäßigkeiten auf der Grundlage der Innovationsfähigkeit.35 Anstatt sie als ‹Ergebnis› bestimmter genetischer Programme zu präsentieren, lenken und beschränken die Homologen in dieser Vorstellung die Strukturierung des lebendigen Organismus und stabilisieren «bestimmte, epigenetisch hervorgerufene Merkmalskombinationen».36 Somit wird augenscheinlich, wie fernab von jeglicher Form genetischen Determinismus’ ‹Bürde› und ‹hierarchische Autonomie› in der Beziehung von strukturellen Homologien auf allen Ebenen – von morphologisch-architektonisch bis verhaltenskognitiv – interagieren. Wir können uns in dieser Hinsicht von einer eher plastisch evidenten Intuition lösen, auf deren Grundlage wir, ausgehend von der Hypothese der Existenz von Wechselwirkungen zwischen Merkmalen jeglicher Art (jedwede Entität, wie etwa Strukturen und anatomische Elemente, Prozesse, Verhaltensweisen), auf eine Verteilung stoßen, die weit entfernt ist von einer homogenen Verteilung des ‹Gewichts› der zwischen den einzelnen Merkmalen bestehenden Bürden. Diese werden innerhalb der Ketten von Wechselwirkungen hierarchisch unterschiedlich positioniert: Je ‹höher› also die Elemente platziert sind, desto schwieriger ist es einerseits, sie zu modifizieren, und desto größer sind andererseits die Auswirkungen, die sich aus dem Erfolg jeglicher evolutionärer Veränderungen ergeben – oder mit anderen Worten: umso größer ist die Verantwortung bestimmter Merkmale, das Spiel der gesamten Struktur hierarchisch zu binden. Hieraus resultiert

31 Vgl. Étienne Geoffroy de Saint-Hilaire: Principes de philosophie zoologique, discutés in mars 1830, au sein de l’Académie royale des sciences. Paris: Pichon & Didier 1830. 32 Johann Wolfgang von Goethe: Morphologie, Bd. I, S. 100. 33 Gerd B. Müller: Homologie und Analogie: Die vergleichende Grundlage von Morphologie und Ethologie. In: Kurt Kotrschal/ders. u.a. (Hg.): Konrad Lorenz und seine verhaltensbiologischen Konzepte aus heutiger Sicht. Fürth: Filander 2001, S. 133. 34 Vgl. Adolf Remane: Grundlagen des natürlichen Systems, der vergleichenden Anatomie und der Phylogenetik. Theoretische Morphologie und Systematik. Leipzig: Geert & Portig 1952. 35 Vgl. Gerd B. Müller: Homology: The Evolution of Morphological Organization. In: ders./ Stuart A. Newman (Hg.): Origination of Organismal Form. Beyond the Gene in Developmental and Evolutionary Biology. Cambridge (Mass.): MIT Press 2003, S. 51–69. 36 Gerd B. Müller: Homologie und Analogie, S. 133f.

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ein drastischer Abbruch der Zufälligkeit des Wandels und eine stark ungleiche Besetzung des morphologischen Raums. Das bereits von Rupert Riedl erarbeitete Konzept der Verantwortung der Bürde und das von William Wimsatt vorgeschlagene und in vielerlei Hinsicht ähnliche Konzept des generative entrenchment stellen meiner Meinung nach den großen Vorteil dar, die ethische Verantwortung der Form nicht als mehr oder weniger pathetischen Appell, sondern als nüchternen, deskriptiven Begriff zu fassen, dessen Relevanz auf den verschiedenen hierarchischen Ebenen des biologischen Aktes der lebendigen Form/Erfahrung schließlich diskutiert werden kann.

5 Morphologie und Bild (die Frage des Gebrauchs) Innovation, Variation, Entwicklung und Plastizität der Form sind Eigenschaften, über deren Interpretation dieselbe morphologische Perspektive historisch konfiguriert wurde, wobei die methodologischen Alternativen gemäß der gegenseitigen Wechselwirkung der beteiligten Konzepte determiniert werden. Dies galt im 18. Jahrhundert bis hin zum Konzept der ‹inneren Matrix›, welches sowohl einen Interpretationshorizont für die inneren Prinzipien der Form als auch für die Zusammenhänge zwischen der Entwicklung des einzelnen Organismus und den Varietäten der Spezies zu liefern versucht. Im 19. Jahrhundert führten die Auffassungen der Biologie zur noch nicht sehr ausgereiften Begegnung zwischen Morphologie und Evolutionstheorie bei Ernst Haeckel.37 Aus heutiger Sicht verdient hier mehr als die sehr bekannte wie problematische Lösung, die Haeckel zum Verhältnis von Ontogenese und Phylogenese bereitstellt, die herausstechende Arbeit zur Beziehung von Form und Bild Aufmerksamkeit. So schrieb Olaf Breidbach in seinem bedauerlicherweise vorzeitig letzten Werk: «Haeckels Weltsicht, in der eine Vielfalt von Naturformen in einer Art von Naturdesign produziert wurde, ist für uns heute als solch ein Stil des Wahrnehmens und Produzierens verständlich».38

37 Ernst Haeckel: Generelle Morphologie der Organismen. Berlin: Georg Reimer 1866. Siehe auch Stephen Jay Gould: Ontogeny and Phylogeny; Olaf Breidbach: Ernst Haeckel. Bildwelten der Natur. München: Prestel 2006. 38 Olaf Breidbach: Neuronale Ästhetik. München: Fink 2013, S. 216.

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Für einige gegenwärtige Forschungsströmungen zur Morphologie ist dieses Motiv zentral.39 Historisch betrachtet bewegt es sich einerseits hin zur Erforschung der dem Bild eigenen zeitlichen Form40 und andererseits in Richtung einer Erforschung des Verhältnisses von embodiment und Bild. Dieser Gedanke, der seine morphologischen Ursprünge in der Schule Warburgs und vor allem in den Untersuchungen Edgar Winds41 hat, durchlief in der zeitgenössischen Anthropologie des Bildes wichtige Entwicklungen.42 Versuchen wir zunächst rein provisorisch, die Ergebnisse unserer bisherigen Analyse thesenhaft zusammenzufassen, so lässt sich festhalten: Die Morphologie ist diejenige Wissenschaft, mit der eine Minderheitskomponente, obschon sie in der Moderne sehr gut vertreten ist, weiterhin ein Bewusstsein für den Vorrang der Manifestation der Realität über ihre analytische Auflösung in Formen (Bilder, diskursive Strukturen, Institutionen) und Funktionen aufrechterhält. Die Morphologie geht von der Einheit der Wissenschaft in der lebendigen Form als Objekt der Biologie in solch abgründiger Weise aus – und manifestiert sich entsprechend in der Literatur –, wie sie von Zeit zu Zeit die Einheit des Imaginären im Realen erfasst. Weit davon entfernt, nur vereinzelt und instrumentalisiert in Relation zu stehen, bilden Form und Funktion vielmehr ein konzeptionelles Paar, dessen Nutzen bei der Erforschung des Denkens – bzw. spezifischer: des ästhetischen Denkens – auf eine eigentümliche Weise gerade in der Interaktion auftaucht, die es im Laufe der Zeit erlaubt, Sachverhalte, Gründe, Gebrauch und Zusammenhänge unterschiedlicher theoretischer Konfigurationen zu erproben, die ansonsten einer einseitigen Untersuchung verwehrt blieben. Auf der Suche nach einem konzeptionellen Werkzeug, das es uns erlaubt, die Implikationen des Verhältnisses von Form und Funktion adäquat zu ergründen, können wir uns in aller Kürze auf die moderne Debatte in den Lebenswissenschaften und insbesondere – in der morphologischen Tradition Goethe’scher

39 Vgl. Olaf Breidbach/Federico Vercellone: Pensare per immagini. Tra scienza e arte. Mailand: Mondadori 2010. 40 Hier beziehe ich mich weiterhin auf Viktor von Weizsäcker: Gestalt und Zeit ebenso auf Erich Rothacker: Zur Genealogie des menschlichen Bewusstseins, Bonn: Bouvier 1966 und auf die Überblicksdarstellung von Lorenz Dittmann: Überlegungen und Beobachtungen zur Zeitgestalt des Gemäldes. In: Rüdiger Bubner (Hg.): Anschauung als ästhetische Kategorie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1980, S. 133–150. 41 Vgl. Edgar Wind: Ästhetischer und kunstwissenschaftlicher Gegenstand. Hamburg: Philo 2011 [1922] und Edgar Wind: Das Experiment und die Metaphysik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001 [1934]. 42 Vgl. Hans Belting: Bild-Anthropologie. München: Fink 2001; Horst Bredekamp: Theorie des Bildakts. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2010.

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Prägung – auf die Ausarbeitung eines ausgefeilten Systems von Ähnlichkeitsmodellen beziehen, welches sein entscheidendes Moment in der Distinktion und Beziehung zwischen dem Konzept der Analogie (auf funktionaler Basis etabliert) und dem strukturellen Konzept der Homologie hat. Dies betrifft eher die Anerkennung einer Identität, die «under every variety of form and function»43 beibehalten wird. Während das Analogieprinzip letztlich auf die Ähnlichkeit zwischen zwei Phänomenen der «same function»44 zurückzuführen ist, die sie in verschiedenen Kontexten ausübt, sieht die Homologie eher eine Identität (und nicht nur eine Ähnlichkeit), die in der Lage ist, sich selbst zu erhalten, auch wenn die formalen Konfigurationen und funktionalen Investitionen in verschiedenen Kontexten variieren. Es handelt sich daher um ein Konzept, das letztlich der Unterscheidung zwischen Form und Funktion übergeordnet und imstande ist, ihre Beziehung untereinander zu regeln, indem sie die gegenseitigen Zusammenhänge systemisch untersucht. Wenn man sich die Frage nach der Bedeutung der systemischen Beziehung stellt, ermöglicht es der Bezug auf die Homologie, das Problem der Beziehung zwischen den Konzepten auf innovative Grundlagen zu stellen. Es ist vor allem der Begriff der Funktion selbst, der hinterfragt wird, und dies im Wesentlichen aus dem einfachen Grund, weil seine Beschränkung auf den Bereich der funktionalen Anpassung nicht ausreichend erscheint, um Wechselwirkungen zwischen den Phänomenen zu berücksichtigen, die ich als der ‹Umwelt› angehörig bezeichnen würde und die sich der traditionellen Unterteilung in Subjekte und Objekte entziehen. Arno Wouters45 hat zu Recht vier verschiedene Bedeutungen von Funktion in den Lebenswissenschaften identifiziert: Aktivität, kausale Rolle (als Beitrag zu einer Kapazität), Vorteil für die Anpassung und schließlich selected effect.46 Dem entspricht das in der neodarwinistischen Debatte vorherrschende Konzept der funktionalen Anpassung. In einem Beitrag von großer philosophischer Relevanz fragte Alan Love,47 welche dieser Bedeutungen angemessen sein können, um die Art der Beziehungen

43 Nach der erfolgreichen Definition von Richard Owen in Lectures on the Comparative Anatomy and Physiology of the invertebrate Animals, S. 379. 44 Ebda., S. 374. 45 Vgl. Arno Wouters: Four notions of biological function; ders.: The function debate in philosophy. In: Acta Biotheoretica 53 (2005), S. 123–151. 46 Arno Wouters: Four notions of biological function, S. 649. 47 Vgl. Alan Love: Functional homology and homology of function: Biological concepts and philosophical consequences. In: Biology and Philosophy 22 (2007), S. 691–708.

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zu verstehen, die die Homologie, aus Sicht der systemischen Bedeutung, zum Leben erweckt. Darüber hinaus stellt Love sich die Frage, auf welche Weise es möglich sei, über eine Homologie der Funktion zu sprechen, ohne einerseits in einem unlösbaren Widerspruch mit dem Konzept der Homologie selbst zu verharren und auf der anderen Seite ein nützliches heuristisches Werkzeug für das Lesen der systemischen Beziehungen zwischen Phänomenen bereitzustellen. Im Sinne der zitierten Definition von Richard Owen geht es eindeutig darum, keine weitere funktionale Investition in irgendeine Richtung vorwegzunehmen und gleichzeitig dem anerkannten Primat der Homologie einen aktiv konstruktiven Wert zuzuschreiben. Nur eine Interpretation im Sinne von bloßer Aktivität und von der Funktionsweise im Allgemeinen accents the «function» itself, apart from its specific contribution to a systemic capacity and position in a larger context. Therefore, the appropriate meaning for «homology of function» is activity not causal role, since activity can remain constant «under every variety of form and function».48

Wenn die funktionale Bedeutung ein bestimmtes Merkmal ausschließlich an einen spezifischen operativen Zweck bindet, führt der Begriff der Aktivität dazu, dass die Modalität und die Beziehungen betont werden. Die Homologie der Funktion kann daher definiert werden als «the same activity-function [. . .] under every variety of form and use-function».49 Das Primat gehört daher zu einer Betrachtung der Gesamtheit der Organisation und nicht zu den einzelnen Funktionen und Formen, zu denen es Anlass gibt – gemäß Love vor allem in dem Sinne, dass «multiple activities might underlie a particular use and one activity may be in the service of multiple uses; the terms do not have equivalent extensions».50 Ein solch organisatorisches Kriterium zum Verständnis der Homologie wird daher zu einer besonderen Verbesserung der vielfältigen Möglichkeiten hierarchischer Interaktionen führen, d.h. sowohl solcher, die auf derselben deskriptiven Ebene vorhanden sind, als auch derjenigen, die zwischen verschiedenen Ebenen liegen. In diese Richtung, die derjenigen sehr nahe kommt, die uns durch diese Errungenschaften innerhalb der Debatten der Biowissenschaften aufgezeigt wer-

48 Alan Love: Functional homology and homology of function: Biological concepts and philosophical consequences, S. 695. Im Sinne der zitierten Definition von Richard Owen (1843) geht es eindeutig darum, keine weitere funktionale Investition in irgendeine Richtung vorwegzunehmen und gleichzeitig dem anerkannten Primat der Homologie einen aktiv konstruktiven Wert zuzuschreiben. 49 Ebda, S. 696 (Hervorhebungen im Original). 50 Ebda.

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den, führt uns auch die Reflexion des italienischen Philosophen Paolo Virno, der mithilfe eines von Kant und Wittgenstein stark beeinflussten Vokabulars von einem Gebrauchsbegriff spricht, der der eigentlichen Spezifikation zwischen den verschiedenen operativen und investigativen Modalitäten vorausgeht und in gewisser Weise auf Kant’sche Art die Möglichkeitsbedingung darstellt. Virno spricht vom Gebrauch als «comune premessa» von poiesis und praxis und hebt dabei hervor, wie im Gebrauch – besser noch: «nel modo di essere delle cose usabili» – eine andere traditionelle Unterscheidung des philosophischen Diskurses entfällt, nämlich «quella tra potenza e atto».51 Der Gebrauch, so schlägt Virno zudem vor, «non ha mai a che fare con qualcosa che sta di fronte, quindi con un oggetto in senso stretto, contrapposto all’Io [. . .]. Quel che si usa è adiacente, collaterale, capace di attrito. La cosa utilizzata retroagisce sul vivente che la utilizza, trasformandone la condotta».52 Sowohl der Begriff potenza der systemischen Homologie als auch die Begriffe «Funktion-Aktivität» (Love) und «Gebrauch» (Virno) – die nominell miteinander konkurrieren, aber tatsächlich weitgehend kompatibel sind – führen uns, so scheint es mir, zu den gleichen theoretischen Konsequenzen: Das zusammenhängende Konzept Form/Funktion bildet eine Polarität, die ihre Zugehörigkeit sowohl im Bereich der lebendigen Formen als auch im Bereich des ästhetischen Verhaltens und der menschlichen symbolischen Produktionen beibehält und auf eindrucksvolle Weise dazu beiträgt, die innere Logik von Bewegung, Konstruktion und Transformation von Phänomenen zu verstehen. Es soll betont werden, dass hier nicht der ‹Ursprung› ästhetischer Einstellungen und künstlerischer Praktiken im evolutionären (und ebenso wenig im adaptionistischen) Sinne diskutiert wird. Vielmehr geht es um Folgendes: Der im Bereich der Lebenswissenschaften erarbeitete Diskurs führt in erster Linie dazu, die systemischen Beziehungen zu untersuchen, in die die Verhältnisse zwischen Form und Funktion eingeschrieben sind. Auf diese Weise können wir sowohl die Struktur der Phänomene als auch die gegenseitigen Wechselwirkungen zwischen den Phänomenen selbst und denen, die diese mit der Referenzumgebung pflegen, überdenken. Der Begriff des Gebrauchs im Sinne Virnos unterstreicht zudem den Wert der ‹Umweltbeziehungen› («relazioni ambientali»), in denen Formen und ihre (funktionale) Aktivität gegeben sind. Dabei werden eine essentialistische Konzeption infrage gestellt und die Praktiken der

51 Paolo Virno: L’idea di mondo. Intelletto pubblico e uso della vita. Macerata: Quodlibet 2015, S. 158. 52 Ebda., S. 155.

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‹Handhabung› betont, in denen von Zeit zu Zeit bestimmte Formen und Funktionen ihre operativen Vereinbarungen finden. Das Bild – das in der Vielzahl seiner Erscheinungsformen und Bedeutungen das eigentümliche Objekt einer ästhetischen Morphologie darstellt – ist zuweilen ein treibendes Element in einem System von Beziehungen und Transformationen, in dem Formen und Funktionen bestimmt werden. Der Begriff des Gebrauchs im Allgemeinen, der einer solch effektiven Bestimmung vorausgeht, muss daher durch den Gebrauch von Bildern materiell artikuliert werden – und zwar als unerschöpfliche «realtà del possibile»,53 die ihnen inne wohnt. Aus dem Italienischen übersetzt von Sainab Sandra Wildschütz-Omar

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53 Paolo Virno: L’idea di mondo, S. 158.

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Andrea Pinotti

Der Schnabel des Adlers und die Nase des Menschen. Können wir uns in einen Vogel einfühlen? 1 Vogel-Werden Die Geschichte der Tierphysiognomik1 ist reich an zoomorphischen Analogien, die Mensch und Tier aus einer ästhetischen und ethischen Perspektive vergleichen. Schon in der Historia animalium (1, 9, 491b 25) meint Aristoteles, dass langgeschlitzte Augenwinkel ein Zeichen von Bosheit seien, während an der Nase anliegende Augenwinkel mit einer fleischigen Falte (wie im Fall der Milane: οἱ ἰκτῖνες) auf Niederträchtigkeit hindeuten.2 Auch in der pseudo-aristotelischen Abhandlung Physiognomik (ungefähr 300 v. Chr.)3 werden zahlreiche Parallelen zwischen Mensch und Vogel gezogen: So erkennt man zum Beispiel eine Ähnlichkeit zwischen den weichen und borstigen Haaren des Menschen und den harten und weichen Flügeln von Vögeln und leitet daraus einen Bezug auf deren tapferen bzw. ängstlichen Charakter ab (806b). Menschen mit einer Hakennase seien frech wie Krähen, jene mit einer Adlernase seien von großer Seele und jene mit einer hahnartigen Nase hätten einen Hang zum Luxus (811a). Diejenigen, die sehr bewegliche und lebhafte Augen haben, seien hingegen so gierig wie Sperber (813a). In der Moderne ließe sich eine durchgehende tierphysiognomische Linie entwerfen, die von Giambattista Della Portas Studie De humana physiognomonia

1 Vgl. Jurgis Baltrušaitis: Tierphysiognomik. In: Imaginäre Realitäten. Fiktion und Illusion als produktive Kraft. Übersetzt von Henning Ritter. Köln: DuMont 1984 [1957], S. 9–53; Dietmar Schmidt: Die Physiognomie der Tiere. Von der Poetik der Fauna zur Kenntnis des Menschen. München: Fink 2011. 2 Aristoteles: Historia animalium. Bücher 1 und 2. In: Zoologische Schriften I. Bd. 16/1.1–2. Übersetzt von Stephan Zierlein. Berlin: De Gruyter 2014. 3 Aristoteles: Physiognomik. Der Zusammenhang zwischen Körper und Seele und der Ausdruck der Seele durch den Körper. Übersetzt von Fritz Aerni. Zürich: Carl-Huter-Verlag 2006. Anmerkung: Dieses Projekt wurde vom Europäischen Forschungsrat (European Research Council, ERC) im Rahmen des Forschungs- und Innovationsprogramms Horizon 2020 gefördert (Projektnummer 834033 AN-ICON). https://doi.org/10.1515/9783110665055-005

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(1586)4 über Charles Le Bruns Vortrag zur Physiognomie5 und Grandvilles karikaturale ombres portées6 bis hin zu Max Ernsts surrealistischen Vogel-MenschHybriden7 reicht. Die Beziehung zwischen Mensch und Vogel wurde jedoch auch jenseits physiognomischer Analogien weiterentwickelt. Die Faszination, die von der Fähigkeit zu Fliegen ausgeht (einer der ältesten Wünsche der Menschheit, versinnbildlicht im Mythos des Ikarus), hat sogar einen Identifikationsprozess des Menschen mit dem Vogel begünstigt. Um Deleuzes ‹Tier-Werden› zu paraphrasieren, ließe sich von einem ‹Vogel-Werden› sprechen, das auch in Literatur und Kino Eingang gefunden hat: Man denke etwa an William Whartons Roman Birdy (1978), den Alan Parker im Jahre 1984 verfilmte, wo sich der Protagonist psychisch und körperlich vollkommen mit einem Vogel identifiziert. Eine solche Empathie ließe sich idiomatisch weniger als ein In-die Haut-eines-Anderen-Schlüpfen beschreiben, sondern vielmehr als ein Sich-die-Flügel-des-Anderen-Leihen. Selbstverständlich schließt eine solche Identifikation auch den Versuch mit ein, die Welt vom Standpunkt eines Vogels aus wahrzunehmen. In diesem Zusammenhang ist die sogenannte Vogelperspektive von besonderem Interesse: die Ansicht eines Objekts oder einer Landschaft von oben, ganz so, als ob der Betrachter ein Vogel wäre. Diese Art der Perspektive wird häufig bei der Erstellung von Plänen und Karten sowohl für natürliche als auch für städtische Räume verwendet. Bemerkenswerte Beispiele sind Leonardos Vogelperspektive auf die Küste südlich von Rom (um 1515) oder Jan Mickers Vogelvlucht (um 1652), das Amsterdam aus der Vogelperspektive zeigt. Eine solche Ansicht ist komplementär zu der entgegengesetzten sogenannten Froschperspektive (auf Englisch worm’s eye view, also Wurmperspektive): die Ansicht eines Objekts von unten, als wäre der Betrachter ein Wurm. Ein unheimliches Paradebeispiel hierfür ist die Eröffnungssequenz von David Lynchs Film Blue Velvet (1986), in der die Kamera sich im Gras zu bewegen und die subjektive Perspektive eines Insekts zu verkörpern scheint.

4 Giambattista Della Porta: Die Physiognomie des Menschen: 4 Bücher. Übersetzt und herausgegeben von Will Rink. Radebeul/Dresden: Madaus 1930 [1586]. 5 Madeleine Pinault Sørensen (Hg.): De la physionomie humaine et animale: dessins de Charles Le Brun gravés pour la Chalcographie du Musée Napoléon en 1806 (Ausstellungskatalog). Paris: Réunion des Musées Nationaux 2000. 6 Martial Guédron: L’ombre révélatrice. Caricature, personnification, allégorie. In: Romantisme 2 (2011), S. 61–74. 7 Rainer Zuch: Max Ernst, der König der Vögel und die mythischen Tiere des Surrealismus. In: Kunsttexte.de 2 (2004), S. 1–13. https://edoc.hu-berlin.de/handle/18452/8068 (letzter Zugriff am: 28. Mai 2019).

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Es ist schwierig, den genauen Ursprung dieser Repräsentationsgattung zu bestimmen. Einige Forscher behaupten, dass sie sogar bis in archaische Zeiten zurückverfolgt werden kann – dies ist etwa der Fall einer topografischen petroglyphischen Darstellung, die nördlich von Prescott (Arizona) liegt und dem Volk der Hohokam zugeschrieben wird.8 In der Kulturgeschichte ist jedenfalls ein zunehmender Aufwand bei der Luftdarstellung erkennbar: beginnend mit der Frühen Neuzeit9 über die militärischen Ballonfahrten in den napoleonischen und französisch-preußischen Kriegen bis hin zum heutigen Flugzeug10 oder dem Satelliten- und Drohnenblick.11 Auch wenn diesen verschiedenen Perspektiven ‹von oben› eine Familienähnlichkeit attestiert werden kann, so ist dennoch zu betonen, dass der Begriff ‹Vogelperspektive› in Zeiten des nicht bemannten technischen Fluges einen imaginären Standpunkt bezeichnet, der sich von einem bloß hoch gelegenen Standpunkt unterscheidet, der eine direkte und tatsächliche Beobachtung ermöglicht, wie etwa von einem Berg oder von einem Turm aus: Mittels dieser imaginären Operation haben die Menschen versucht, die Perspektive des Fliegens einzunehmen. Der Zusammenhang zwischen der imaginären Vorstellung der Vogelperspektive und der Luftbildfotografie oder der Videoaufnahme von bemannten oder unbemannten Flugkörpern konnte in Experimenten, wie denen von Julius Neubronner mit seiner 1907 patentierten Vogelfotografie, identifiziert werden. Neubronner entwarf eine Kamera, die am Körper einer Taube befestigt werden konnte und während des Flugs automatisch fotografierte.12 Wenig überraschend wurde diese Tier-Maschine-Kombination sowohl im 8 Dazu vgl. James A. Dockal/Michael S. Smith: Evidence for a Prehistoric Petroglyph Map in Central Arizona. In: Kiva: The Journal of Southwestern Archaeology and History 4 (2005), S. 413–420. 9 Vgl. Andrew J. Martin: Das Bild vom Fliegen, dokumentierte Flugversuche und das Aufkommen von Ansichten aus der Vogelschau zu Beginn der frühen Neuzeit. In: Dieter R. Bauer/Wolfgang Behringer (Hg.): Fliegen und Schweben. Annäherung an eine menschliche Sensation. München: dtv 1997, S. 223–240; Daniela Stroffolino: L’Europa «a volo d’uccello»: dal Cinquecento ad Alfred Guesdon. Neapel: Edizioni Scientifiche Italiane 2012. 10 Wolfgang Sonne: Weisungen der Vogelschau: Luftbild und Ästhetik der Gesamtstadt im frühen 20. Jahrhundert. In: Hubert Locher/Rolf Sachsse (Hg.): Architektur Fotografie. Darstellung – Verwendung – Gestaltung. Berlin: Deutscher Kunstverlag 2016, S. 84–96. 11 Andreas F. Beitin: Imagination, Elevation, Battlefield Automation. From the Elevated View to Battle Drones. In: Ulrike Gehring/Peter Weibel (Hg.): Mapping Spaces. Networks of Knowledge in 17th Century Landscape Painting. München: Hirmer 2014, S. 460–471. 12 Julius G. Neubronner: The Pigeon Photographer. Bozen: Rorhof 2017. Dazu vgl. Franziska Brons: Bilder im Fluge: Julius Neubronners Brieftaubenfotografie. In: Fotogeschichte 100 (2006), S. 17–36.

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Ersten als auch im Zweiten Weltkrieg als Aufklärungsflugzeug eingesetzt. Überwachungsexperimente der CIA mit Taubenkameras dauerten bis in die siebziger Jahre: Pigeon imagery was taken within hundreds of feet of the target so it was much more detailed than imagery from other collection platforms. (Aircraft took photos from tens of thousands of feet and satellites from hundreds of miles above the target). [. . .] Details of pigeon missions are still classified.13

Neubronners Integration von Tierflug und Maschinenauge kann als Vorläufer der jüngsten visuellen Praktiken betrachtet werden. Ein Beispiel hierfür ist der Dubai World Record Eagle Flight aus dem Jahr 2015, der als höchster Vogelflug von einem Gebäude aus gilt: Majestätisch segelte Darshan, ein männlicher Kaiseradler, mit einer Kamera auf dem Rücken, die 830 Meter des Burj KhalifaWolkenkratzers hinunter bis auf den Arm seines Trainers, des Falkners JacquesOlivier Travers.14

2 Unmögliche Einfühlung Aus Sicht der Phänomenologie der Wahrnehmung ist die menschliche Imagination der Vogelperspektive nicht unproblematisch. In einem berühmten Artikel aus dem Jahr 1974 fragte der amerikanische Philosoph Thomas Nagel: «Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?». Ist es den Menschen tatsächlich möglich, die Erlebniswelt dieser faszinierenden Geschöpfe zu verstehen? Seine Antwort war definitiv negativ. Im Rahmen seiner radikalen Kritik an den reduktionistischen Ansätzen des Mind-Body-Problems, die darauf abzielen, psychische Phänomene als Auswirkungen körperlicher Ursachen zu erklären, konzentriert sich Nagel auf die Vorstellung des «subjektiven Charakters der Erfahrung»15 als Zeichen des Bewusstseins: Grundsätzlich «hat ein Organismus bewußte mentale Zustände dann und nur dann, wenn es irgendwie ist, dieser Organismus zu sein – wenn es irgendwie für diesen Organismus ist».16

13 Vgl. die virtuelle Animation auf der offiziellen Website des CIA Museums: https://www.cia.gov/ about-cia/cia-museum/experience-the-collection/#!/artifact/24 (letzter Zugriff am: 28. Mai 2019). 14 Vgl. folgendes Video: https://www.youtube.com/watch?v=um8M9azpmb4 (letzter Zugriff am: 29. Mai 2019). 15 Thomas Nagel: Wie ist es, eine Fledermaus zu sein? [1974]. In: Peter Bieri (Hg.): Analytische Philosophie des Geistes. Weinheim/Basel: Beltz 2007, S. 262. 16 Ebda.

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Bei der Entwicklung seiner Überlegungen greift Nagel auf den allgemein verständlichen Fall der Fledermaus zurück: «Jeder, der einige Zeit in einem geschlossenen Raum mit einer aufgeregten Fledermaus verbracht hat, weiß auch ohne die Hilfe philosophischer Reflexion, was es heißt, einer grundsätzlich fremden Form von Leben zu begegnen».17 Ein solch fremdes Wesen wird durch eine vergleichende Beschreibung der ‹Lokalisation›, wie sie auch von Menschen ausgeführt wird, deutlich veranschaulicht: Verglichen werden dabei die Vorgänge der Unterscheidung von Größe, Entfernung, Form, Bewegung und Textur von Objekten im Raum. Während Menschen Objekte vorwiegend durch das Sehen lokalisieren, orten Fledermäuse diese per Ultraschall. Durch ihre Schreie geben sie hochfrequente Schallimpulse ab und erkennen Objekte, indem sie deren Echo messen. Ihre Art der Ortung ist eine Echolotortung: «Obwohl das Fledermaus-Radar klarerweise eine Form von Wahrnehmung ist, ist es in seinem Funktionieren keinem der Sinne ähnlich, die wir besitzen. Auch gibt es keinen Grund zu der Annahme, dass es subjektiv so wie irgendetwas ist, das wir erleben oder das wir uns vorstellen können».18 Aus dieser einleitenden Darstellung des Problems geht hervor, dass das Subjektive im obigen Ausdruck ‹subjektiver Charakter der Erfahrung› sich weniger auf den individuellen Aspekt der Erfahrung bezieht (wie er von einer besonderen Fledermaus oder einem bestimmten Menschen gelebt wird), sondern vielmehr auf den spezifischen Zugang zur Erfahrung selbst: nämlich auf die Erfahrung, wie sie von Fledermäusen gelebt wird und nicht von Menschen, da sie verschiedene Spezies darstellen. Mit dem Begriff ‹Typ› bezeichnet Nagel die Möglichkeit, von einem Dritten gemachte Erfahrungen objektiv zuzuschreiben, vorausgesetzt, dieser Dritte ist uns hinreichend ähnlich, sodass wir seinen Standpunkt einzunehmen vermögen. Natürlich können individuelle Variationen innerhalb eines Typs von Bedeutung sein: Innerhalb der menschlichen Spezies lösen blinde Subjekte Lokalisationsaufgaben durch taktile oder auditive Reize. Das Verständnis solcher Praktiken wirft aus der Sicht von Nicht-Sehbehinderten ähnliche Schwierigkeiten auf wie das menschliche Verständnis des Fledermaus-Sonars. Gibt es praktikable Wege, diese Schwierigkeit zu lösen, vorausgesetzt, wir haben als Menschen kein mit dem Fledermaus-Sonar vergleichbares Gefühl? Die wissenschaftliche Erklärung des nervösen, sensorischen und motorischen Systems von Fledermäusen bietet uns offensichtlich nicht das ‹Erlebnis› einer Fledermaus. Ein möglicher Weg könnte der Rückgriff auf die Vorstellungskraft sein. Wir könnten uns vorstellen, was es heißt, eine interdigitale Membran zu haben,

17 Ebda., S. 263. 18 Ebda.

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die uns befähigt zu fliegen, Insekten mit dem Mund zu fangen, an den Füßen von der Decke zu hängen und sogar die Umgebung mittels Echo wahrzunehmen. Dennoch bestreitet Nagel: «Insoweit ich mir dies vorstellen kann (was nicht sehr weit ist), sagt es mir nur, wie es für mich wäre, mich so zu verhalten, wie sich eine Fledermaus verhält. Das aber ist nicht die Frage. Ich möchte wissen, wie es für eine Fledermaus ist, eine Fledermaus zu sein».19 Da die Vorstellungskraft eine Fähigkeit ist, die an Material arbeitet, das aus früheren Erfahrungen durch Vorgänge von Additionen, Subtraktionen und Modifikationen bereitgestellt wurde, und da unsere vorherigen Erfahrungen nichts mit sich bringen, wie etwa jene der Fledermaus, erlaubt uns die Vorstellung entsprechend auch nicht zu verstehen, wie ist es, eine Fledermaus zu sein. Aufgrund der artenspezifischen Konstitution des menschlichen Erlebens sind wir nicht imstande, uns vorzustellen, wie es ist, eine Fledermaus zu sein. Selbst wenn man sich imaginär in eine Fledermaus verwandelte, kann man sich «überhaupt nicht vorstellen, wie die Erlebnisse in einem solchen zukünftigen Stadium nach [der] Verwandlung beschaffen wären».20 Gibt es Alternativen zur Imagination, die sich verfolgen lassen? Nagel denkt an einen Wissenschaftler vom Mars, der über kein Sehvermögen verfügt und dennoch zu verstehen versucht, was ein Regenbogen ist: Der Regenbogen ist ein Phänomen, das nicht auf seine Visualität vom menschlichen Standpunkt aus reduziert werden kann und das in seinen physikalischen Eigenschaften untersucht werden könnte. Wenn wir jedoch von ‹Erlebnis› sprechen, müssen solche ‹objektiven› Merkmale zwangsläufig in ‹subjektives› Erleben sowohl für den Marsmenschen als auch für den irdischen Menschen übersetzt werden, die einander letztendlich fremd bleiben: Individuen radikal verschiedener Gattungen können beide dieselben physikalischen Ereignisse in einer objektiven Begrifflichkeit verstehen. Dazu brauchen sie nicht die phänomenalen Formen zu verstehen, in denen diese Ereignisse den Sinnen von Individuen anderer Gattungen erscheinen. Somit ist es eine Bedingung für ihre Bezugnahme auf eine gemeinsame Realität, dass ihre mehr partikulären Betrachtungsweisen [viewpoints] nicht Teile der gemeinsamen Realität sind, die sie beide erfassen. Die Reduktion kann nur gelingen, wenn die artspezifische Betrachtungsweise von dem, was reduziert werden soll, ausgeklammert wird.21

«Viewpoints» meint hier offenbar nicht die bloße visuelle Erfassung, sondern vielmehr die sinnvolle, ganzheitliche, durch artenspezifische Bestimmungen

19 Ebda., S. 264. 20 Ebda. 21 Ebda., S. 269.

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konfigurierte Gesamtauffassung. In dieser Hinsicht ist es nicht möglich, sich in eine Spezies hineinzuversetzen. Keine Perspektive, kein Einfühlungsvermögen ist hier möglich. Das Überschreiten von Barrieren zwischen den Arten ist ausgeschlossen, wenn man auf einer subjektiven phänomenologischen Haltung besteht. Trotzdem lässt Nagel eine, wenn auch problematische, Möglichkeit offen: Wenn er seinen Artikel mit einem «spekulativen Vorschlag» abschließt, fordert er die Ausarbeitung einer «objektiven Phänomenologie, die von Einfühlung oder Phantasie unabhängig ist» und deren Ziel es wäre, «Erlebnisse wenigstens teilweise in einer Form zu beschreiben, die für Wesen verständlich ist, die solche Erlebnisse nicht haben können».22 Eine solche Phänomenologie sollte es beispielsweise einem Blinden ermöglichen, zu beschreiben, was Sehen ist, ohne auf konventionelle intermodale Analogien zurückgreifen zu müssen, wie etwa ‹Rot ist wie der Klang einer Trompete›. In einem weiteren Schritt könnten objektive phänomenologische Konzepte, die durch diese Art der non-first-person-Analyse von strukturellen Merkmalen der Wahrnehmung erlangt werden, sogar ein interspezifisches Verständnis hervorbringen, wie im Falle der Erfahrung der Fledermaus-Echoortung. Leider ist eine solche spekulative Hypothese nur auf einer negativen Basis skizziert (sprich: sie sollte nicht subjektiv sein, sie sollte nicht in der ersten Person sein) und es gibt auch keine Hinweise darauf, wie und welche ersten Schritte überhaupt zu unternehmen sind. Obwohl Fledermäuse notorisch keine Vögel, sondern Säugetiere sind, kann Nagels Argument hier für jedes Tier gelten, das aus eigener Muskelkraft fliegen kann. Und da der Mensch nicht zu einem solchen Flug fähig ist, wird er aus phänomenologischer Sicht nie wirklich verstehen können, wie es ist, ein fliegendes Tier zu sein und als solches die Welt wahrzunehmen. Daher würde schon der Ausdruck ‹Vogelperspektive› – der bird’s eye view, der ja unser Ausgangspunkt war – einen grundlegenden Trugschluss darstellen. Im Hinblick auf die strenge Einschränkung von Nagel aus dem Jahr 1974 möchte ich jetzt chronologisch einen Schritt zurück und sodann einen Schritt nach vorne machen.

3 Seifenblasen Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte der Zoologe Jakob von Uexküll ein Forschungsprogramm zum Thema «subjektive Biologie»23 im doppelten Sinne

22 Ebda., S. 271. 23 Jakob von Uexküll: Die Umrisse einer kommenden Weltanschauung [1907]. In: Bausteine zu einer biologischen Weltanschauung. Gesammelte Aufsätze. München: Bruckmann 1913, S. 143.

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einer Wissenschaft unternommen, die von Subjekten ausgeübt wird, die Subjekte erforschen. In seiner monadologischen Auffassung von Organismen (nach Leibniz’schem Geschmack) ging er davon aus, dass jede Art gemäß ihrer Wahrnehmungsmöglichkeiten in einer «Seifenblase» eingeschlossen ist: «Deshalb dürfen wir uns alle Tiere, die die Natur um uns beleben, seien es Käfer, Schmetterlinge, Fliegen, Mücken und Libellen, die eine Wiese bevölkern, mit einer ringsum geschlossenen Seifenblase vorstellen, die ihren Sehraum abschließt und in der alles für das Subjekt Sichtbare beschlossen ist».24 Das Feld dieser subjektiven Biologie sollte die ‹Innenwelt› von Tieren sein, die im Wesentlichen die Domäne ihres Nervensystems bedeutet.25 Ausgehend von Kants Eingeständnis der fundamentalen Rolle der Subjektivität bei der transzendentalen Konstitution von Erfahrung, erkennt Uexküll jedoch zugleich die Notwendigkeit, Kants transzendentale Ästhetik zu erweitern, weil sie sich ausschließlich auf den Menschen im Allgemeinen konzentriert. Deswegen initiiert der Zoologe einen Vermehrungsprozess der Formen a priori von Raum und Zeit, die ebenso vielfältig sind wie die Tierarten. In Abhängigkeit von den Einschränkungen, die der jeweilige Bauplan jedem Organismus auferlegt, ist dieser mit Rezeptoren ausgestattet, die unzählige Reize aus der Umgebung filtern und nur den für den Organismus selbst bedeutsamen Teil auswählen. Dieser Teil wird dann nach der Art der Rezeptoren analysiert (derselbe Lichtreiz kann bei manchen Tieren chromatische Effekte erzeugen, bei anderen nur HelldunkelNuancen) und schließlich in eine nervöse Erregung umgewandelt.26 Obwohl verschiedene Tierarten in derselben Welt zusammenleben, existiert jede von ihnen in ihrer ‹Umwelt› auf eine bestimmte Art und Weise, die allen anderen nicht zugänglich ist, da sie durch ihre spezifische Organisation bedingt ist. Der aufnahmefähige Moment ist jedoch nur eine Seite der Interaktion mit der Umwelt: nämlich die der Merkwelt entsprechende Seite (die dem Merken angebotene Wahrnehmungswelt, das Feststellen von etwas, das als ‹Wahrnehmungszeichen› für die Rezeptororgane im Phänomenbereich fungiert). Die andere Seite ist die Wirkwelt: die durch das Wirken veränderte Operationswelt, die durch die Wirkorgane des Lebewesens auf seine Umgebung beeinflusst wird.

24 Jakob von Uexküll: Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen. Hamburg: Rowohlt 1956 [1934], S. 46. 25 Jakob von Uexküll: Umwelt und Innenwelt der Tiere. Berlin: Springer 1909, S. 6. 26 Ebda., S. 251.

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Die Beziehung zwischen Subjekt und Umwelt nimmt also im Sinne der Wechselwirkung Gestalt an, in Form eines einheitlichen Funktionskreises;27 es ist eine Korrelation, in der wir sozusagen so viel aufnehmen, wie wir geben: Nachdem ein Tier eine Wirkung durch ein Wahrnehmungszeichen erfahren hat, übt jedes Tier einen Gegeneffekt auf seine Umgebung aus. Die Subjekt-Umwelt-Interaktion ist als unaufhörliche Interpretation hervorstechender und bedeutungsvoller Zeichen konfiguriert, die empfangen und gesendet werden: Die Zeichentheorie der Sensation (bereits von Lotze und Helmholtz festgelegt) dehnt sich in Richtung einer echten ökologischen Zoosemiotik aus.28 Es ist der spezifische Bauplan eines Tieres, der die Möglichkeit einer perfekten ‹Einpassung› von Rezeptororganen und Wahrnehmungsmarken einerseits und von Effektororganen und Operationsmarken andererseits gewährleistet: Die Wespe trifft in ihrer Umgebung auf Dinge für Wespen und der Hund auf solche für Hunde. Ein Hund sitzt nicht auf einem Stuhl, weil der Stuhl ein menschliches Ding und nicht ein ‹hundartiges› ist (eine affordance, wie Gibson sagen würde).29 Während der gesamten Entwicklung seiner zoologischen Überlegungen kämpfte Uexküll gegen anthropozentrische Vorurteile, die das richtige Verständnis der Tierwelt behindern. In seiner Jugend hatte er zusammen mit seinen Kollegen Beer und Bethe eine «objektive biologische Nomenklatur» vorgeschlagen,30 die beispielsweise ‹Sehen› und ‹Riechen› durch die neutraleren Begriffe «PhotoReception» und «Stibo-Reception» ersetzte. Später kehrte er zu diesem Punkt zurück31 und entschied sich im Gegensatz dazu für eine Terminologie, die sich auf das betreffende Subjekt und auf dessen spezifische Organisation bezieht: Objektivität ist keine (wenn auch unerreichbare) Neutralität, sondern die Anerkennung der Pluralität von Subjektivitäten und ihrer jeweiligen Organisationen. In den frühen 1870er Jahren hatte Nietzsche sein perspektivistisches Programm in der Perzeptologie formuliert:

27 Jakob von Uexküll: Streifzüge, S. 27. 28 Vgl. dazu Thomas A. Sebeok: Biosemiotics. Its Roots, Proliferation, and Prospects. In: Semiotica 1.4 (2001), S. 61–78. 29 James J. Gibson: Wahrnehmung und Umwelt: der ökologische Ansatz in der visuellen Wahrnehmung. Übersetzt von Gerhard Lücke und Ivo Kohler. München/Wien/Baltimore: Urban und Schwarzenberg 1982 [1979]. 30 Jakob von Uexküll/Theodor Beer/Albrecht Bethe: Vorschläge zu einer objectivierenden Nomenklatur in der Physiologie des Nervensystems [1899]. In: Jakob von Uexküll: Kompositionslehre der Natur. Biologie als undogmatische Naturwissenschaft. Ausgewählte Schriften. Frankfurt a. M.: Ullstein 1980, S. 92–100. 31 Jakob von Uexküll/Friedrich Brock: Vorschläge zu einer subjektbezogenen Nomenklatur in der Biologie [1935]. In: ebda., S. 129–142.

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Schon dies kostet ihm [scil. dem Menschen] Mühe, sich einzugestehen, wie das Insekt oder der Vogel eine ganz andere Welt percipiren als der Mensch, und dass die Frage, welche von beiden Weltperceptionen richtiger ist, eine ganz sinnlose ist, da hierzu bereits mit dem Maassstabe der richtigen Perception d. h. mit einem nicht vorhandenen Maassstabe gemessen werden müsste. Ueberhaupt aber scheint mir die richtige Perception – das würde heissen der adäquate Ausdruck eines Objekts im Subjekt – ein widerspruchsvolles Unding.32

Uexküll hat einen solchen transzendentalen Perspektivismus mit einer biologischen Basis versehen. Der von Uexküll verabschiedete Anthropozentrismus scheint jedoch subtil hindurch. Wenn jedes Tier, einschließlich des Menschen, in seiner eigenen Seifenblase eingeschlossen ist und es keinen Weg gibt, mit dem verschiedene Spezies darauf zugreifen können, wie können sie dann interagieren, beispielsweise in der Beziehung zwischen Raubtier und Beute? Es ist die Natur selbst, die harmonisch die Wahrnehmungsmarke und die operative Marke verschiedener Welten umfasst:33 So avanciert die Natur zu einer Art metatierischer oder immanenter und allwissender Gottheit, die alles sehen und wissen kann, einschließlich der artenspezifischen Grenzen, die der entsprechende Bauplan vorschreibt. Es ist jedoch schwer vermeidbar, dass Uexküll diesen synoptischen Standpunkt manchmal mit dem des Zoologen und letztendlich mit seiner eigenen Person in Einklang bringt. Uexküll scheint zuzugeben, dass der Mensch als höchstes Tier irgendwie Zugang zu den Umgebungen einer Fliege, einer Schnecke, einer Muschel hat, deren spezifische ‹Weltanschauungen› durch die fortschreitende Verarmung eines fotografischen Bildes – als gleichwertig betrachtet zum menschlichen Weltbild – und durch die progressive Überlagerung einer Reihe von Rastern erreicht werden (Abbildung 1).34 Es besteht daher eine besondere Spannung zwischen einem streng monadologischen, anti-anthropozentrischen Ansatz und einer anthropozentrischen Versuchung: Gemäß ersterem Ansatz erlebt jede Tierart – einschließlich des Menschen – ihren eigenen Raum, ihre Zeit, ihre Bewegung in einer Weise, die für andere Arten nicht zugänglich ist; dem zweiten zufolge kann der Mensch dank technologischer Prothesen (wie Mikroskop oder Kamera) seine Seifen-

32 Friedrich Nietzsche: Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne. In: Kritische Studienausgabe. Bd. 1. Herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München: dtv 1988 [1873], S. 884. 33 Vgl. Jakob von Uexküll: Wie sehen wir die Natur und wie sieht sie sich selber? [1922]. In: Kompositionslehre der Natur, S. 179–213. 34 Jakob von Uexküll: Streifzüge, S. 40f.

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Abbildung 1: Dorfstraße a) fotografiert, b) durch ein Gitter aufgenommen, c) für ein Fliegenauge, d) für ein Moluskenauge.35

blase irgendwie zerstechen, um wie ein Spion in die Blase anderer Organismen zu blicken und sich in ihre Perspektiven einzufühlen. In jedem Fall ist Uexkülls Verdienst unbestritten: Er stellte die interaktive Beziehung zwischen Organismus und Umwelt in den Mittelpunkt der biologischen Forschung, auf die Lamarck bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts aufmerksam gemacht hatte. Seine Ideen haben die Reflexionen von Philosophen wie Max Scheler, Martin Heidegger, Ernst Cassirer, Gilles Deleuze, Giorgio Agamben und Peter Sloterdijk angeregt. Sein Umweltbegriff hat sich in der zeitgenössischen Biologie im Terminus «Nische» niedergeschlagen.36

35 Alle Illustrationen aus: Jakob von Uexküll/Georg Kriszat: Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen: ein Bilderbuch unsichtbarer Welten. Berlin: Springer 1934, S. 22–25. 36 John F. Odling-Smee/Kevin N. Laland/Marcus W. Feldman: Niche Construction. The Neglected Process in Evolution. Princeton: Princeton University Press 2003.

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4 Der ultimative Traum Der von Uexküll entwickelte paradoxe und doch sehr anregende Ansatz, der einerseits eine biologische Monadologie der «Seifenblasen» theoretisiert und andererseits die Möglichkeit einräumt, dass die Menschen als eine Art ‹Peeping Tom› in die Blasen anderer Spezies schauen, scheint von den zeitgenössischen immersiven virtuellen Systemen aufgegriffen zu werden. In den letzten Jahren verbreiten sich zunehmend Virtual-Reality-Helme (Head-Mounted Displays: HMD) als Schnittstellen für PCs (Oculus Rift und HTC Vive) und Videospielkonsolen (Sony PlayStation VR). Diese Geräte werden auch von günstigen Wearables für Smartphones (Google Cardboard und Samsung Gear VR) imitiert. Virtual Retina-Displays (VRD, wie Magic Leap One) und zunehmend preisgünstigere Stand-alone-Geräte (Oculus Go) kamen bereits 2018 auf den Markt. In der Art der Bilderfahrung, die solche Geräte bieten, erscheint eine grundlegende Freiheit, die die pre-immersive Bildrezeption charakterisiert, definitiv negiert zu werden: nämlich die Möglichkeit, den Blick über das Bild hinaus zu bewegen und sich auf nicht-ikonische Teile des Gesichtsfeldes zu konzentrieren. Sobald man den Helm aufgesetzt hat, erlebt man einen Bildraum von 360°. Dieses elementare und zugleich entscheidende Merkmal impliziert eine Reihe experimenteller Konsequenzen, die sich in drei Hauptkategorien zusammenfassen lassen: Entrahmung (unframedness): Im Gegensatz zum pre-immersiven Bilderlebnis (das durch Rahmendispositive wie den Bildrahmen, den Sockel von Statuen oder durch Bildschirmumrandungen gekennzeichnet ist) erscheint das VRImmersionsbild in einem räumlich-zeitlichen Kontinuum mit der realen räumlichzeitlichen Umgebung des Benutzers, was zu einer wahrhaften environmentalization des ikonischen Feldes führt. Unmittelbarkeit (immediateness): Während pre-immersive Bilder die doppelte Möglichkeit der Fokussierung entweder auf das dargestellte Bild oder auf das Bildmedium ermöglichen, so neigt das immersive VR-Bild dazu, seine Medialität zu verwischen (und idealerweise zu unterdrücken), um Illusions- und Transparenzeffekte zu erzielen, die paradoxerweise durch hochmediatisierte technologische Lösungen hervorgebracht werden. Gegenwärtigkeit (presentness): Während Bilder in den westlichen Mainstream-Bildtheorien traditionell als Bezug auf eine extra-ikonische Dimension (als repräsentatives ‹Bild-von›) interpretiert werden, erzeugen VR-Bilder einen derart starken Präsenzeffekt, wie ihn paradigmatisch hyperrealistische und multisensorische Umwelten hervorrufen, die von der Simulation der Realität in Fleisch und Blut übergehen.

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Aufgrund dieser dreiteiligen Herausforderung für das konventionelle Bilderlebnis können VR-Immersive-Bilder als «An-Icons» bezeichnet werden, also als Bilder, die dazu tendieren, ihren eigenen Bildstatus zu negieren.37 In diesem zeitgenössischen Panorama an Bildtypen ist die Entwicklung von Vogelflug-Simulatoren besonders interessant, wenn man an die Vogelperspektive denkt. Betrachten wir drei aktuelle Beispiele. Der von Graeme Scott entwickelt und lancierte Aquila Bird Flight Simulator ist eine VR-App aus dem Jahr 2017. Ursprünglich für den Oculus Rift konzipiert und anschließend für OpenVR verfügbar gemacht, bietet Aquila dem Benutzer die Möglichkeit, zwischen der dritten Person und der ersten Person zu wechseln: Im ersten Fall kann der Körper des fliegenden Adlers in seiner Gesamtheit gesehen werden, als ob er aus der Sicht eines anderen, neben ihm fliegenden Vogels wahrgenommen würde. Im zweiten Fall nimmt der Benutzer den subjektiven Standpunkt des Adlers selbst ein: Im Gesichtsfeld sind dann nur die eigenen Flügelenden sichtbar.38 Im Einführungstext zur Simulationssoftware heißt es: «Have you dreamed of what it would be . . . to soar like an eagle? Aquila Bird Flight Simulator lets you experience soaring bird flight using the Oculus Rift headset. This is a soaring simulation, so you can make use of ridge lift and thermals like any other soarer in the skies . . .».39 Eagle Flight ist ein VR-Simulations-Videospiel, das von Ubisoft entwickelt und lanciert wurde und Ende 2016 für Microsoft Windows und PlayStation 4 auf den Markt kam. Im Gegensatz zu Aquila ist hier nur die Perspektive der ersten Person möglich. Im Gegenzug kann jedoch zwischen dem Einzel- und dem Mehrspielermodus entschieden werden. Die Flugrichtung wird durch die Kopfneigungen des Spielers angegeben. In der ersten Einführung zu diesem Simulator lesen wir: Humans can’t fly on their own in real life, but we can at least experience the sensation thanks to Eagle Flight. The first VR game to come out of Ubisoft’s Fun House studio, Eagle Fight lets you soar as an eagle above the streets of an abandoned Paris. Vegetation has overtaken its most popular monuments. Its human population has been replaced with all manner of creatures. But as it turns out, there’s still plenty for an eagle to do.40

37 Andrea Pinotti: Self-Negating Images: Towards An-Iconology. In: Proceedings 856 (2017), S. 1–9. http://www.mdpi.com/2504-3900/1/9/856 (letzter Zugriff am: 28. Mai 2019). 38 https://www.youtube.com/watch?v=1U1NV4NhsWU (letzter Zugriff am: 28. Mai 2019). 39 https://www.metacritic.com/game/pc/aquila-bird-flight-simulator/details (letzter Zugriff am: 28. Mai 2019). 40 https://news.ubisoft.com/en-us/article/313278/eagle-flight-everything-need-know (letzter Zugriff am: 28. Mai 2019).

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VR immersive dispositifs lösen oft die sogenannte Cybersickness aus, die sich in Übelkeit, Schwindel, Gleichgewichtsstörungen oder auch verschwommenem Sehen äußern kann.41 Hervorgerufen wird die VR-Krankheit durch die widersprüchlichen Informationen, die das Gehirn von drei verschiedenen Systemen erhält: dem vestibulären, dem visuellen und dem propriozeptiven System. Es handelt sich um ein Missverhältnis zweier Zustände: etwa, wenn man Bewegung spürt, ohne sie zu sehen (wie beim Lesen während der Autofahrt), und wenn man Bewegung sieht, ohne sie zu spüren (wie bei der Schwerelosigkeit im Weltall). Im Fall der Flugsimulation kommt es zu einer Diskrepanz zwischen widersprüchlichen Informationen, die von den Ohren (der Körper sitzt auf einem Sessel) und von den Augen (der Körper fliegt über eine Stadt- oder Naturlandschaft) an das Gehirn gesendet werden. Um die unangenehmen Nebenwirkungen zu reduzieren, verfolgt Ubisoft zwei Strategien: die Einführung von «dynamic blinders», die die Sicht während intensiver Bewegungen einschränken, und (am wichtigsten für meine hiesige Argumentation) eines Adlerschnabels im unteren Bereich des Gesichtsfeldes.42 Der Schnabel fungiert als partieller Avatar für den Spieler, er ist in den Körper des Adlers inkorporiert und somit ein Ersatz für die menschliche Nasenspitze, die sich ständig in unserem Gesichtsfeld befindet (auch wenn sie normalerweise nicht explizit wahrgenommen wird) und die bei einem VR-Erlebnis durch den Helm außen vor bleibt. Ein weiterer Schritt in der Flugsimulation wurde mit Birdly (Abbildung 2) unternommen, ursprünglich von Max Rheiner, Fabian Troxler und Thomas Tobler an der Zürcher Hochschule der Künste im Jahr 2013 entworfen und anschließend von Somniacs entwickelt.43 In der offiziellen Präsentation wird darauf hingewiesen, dass letztendlich nichts Geringeres als «The Ultimate Dream of Flying» erfüllt werden kann: For millennia, humans have longed to fly like a bird, to take to the sky, arms outstretched, with the power and innate grace of the avian masters. While human biomechanics will never allow for the facility of unfettered flight, today’s virtual reality (VR), coupled with robotics and simulation technology, can deliver an experience like never before . . . fulfilling our ultimate dream of flying like a bird.44

41 Alireza Mazloumi Gavgani: A comparative study of cybersickness during exposure to virtual reality and ‹classic› motion sickness: are they different? In: Journal of Applied Physiology 6 (2018), S. 1670–1680. 42 Ashley Whitlatch: Tunnel Vision: How Ubisoft Created ‹Eagle Flight›. A VR Flying Game With No Nausea (2006). https://uploadvr.com/how-ubisoft-created-eagle-flight-sickness/ (letzter Zugriff am: 28. Mai 2019). 43 http://www.somniacs.co/about.php (letzter Zugriff am: 28. Mai 2019). 44 http://birdlyvr.com/ (letzter Zugriff am: 28. Mai 2019).

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Abbildung 2: Flugsimulator Somniacs – Birdly.45

Im Gegensatz zu anderen Flugsimulatoren benötigt Birdly weder einen Joystick noch eine Maus, sondern wird direkt über eine Reihe von full-bodyOperationen befohlen, die instinktive Bewegungen beider Arme und Hände umfassen, welche die Geschwindigkeit, Höhe und Navigation steuern. Hierbei liegt der Spieler horizontal und mit ausgestreckten Armen, an denen Flügel befestigt sind, auf einer Vorrichtung. Die von ihm ausgehenden Inputs werden von einem virtuellen Flugprozessor übersetzt und als körperliches Feedback an den User zurückgegeben. Ein Ventilator vor dem Gesicht des Users erzeugt Wind und das Surround-Audio, das von den in das Headset integrierten Ohrhörern ausgestrahlt wird, trägt zum Realitätseffekt der gesamten Erfahrung bei. Man hat die Wahl zwischen einer New York Experience und dem Jurassic Flight: Im ersten Fall fliegt man zwischen der Skyline von Manhattan hindurch und trifft King Kong auf dem Empire State Building;46 im zweiten Fall steigt man als Pterosaurier in die prähistorischen Himmel.47

45 Foto von Giacomo Mercuriali auf der Messe Paris Virtuality 2018. 46 https://vimeo.com/158664105 (letzter Zugriff am: 28. Mai 2019). 47 https://vimeo.com/268133291 (letzter Zugriff am: 28. Mai 2019).

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5 Ein paradoxer Trend Solche virtuell immersiven Simulationsversuche sollten im weiteren Kontext eines anti-anthropozentrischen Trends betrachtet werden, der derzeit nicht nur die VRWelt, sondern allgemeiner die aktuelle visuelle Kultur in verschiedenen Medien charakterisiert. Diese Tendenz wurde als nonhuman turn bezeichnet: «A turn toward and concern for the nonhuman, understood variously in terms of animals, affectivity, bodies, organic and geophysical systems, materiality, or technologies».48 In diesem Zusammenhang ist es für unseren Diskurs relevant, dass dem ‹nicht-menschlichen Sehen› besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird und dass dieses nicht nur als maschinelle und prothetische Sehkraft gedacht ist (z.B. die von CCTV-Kameras, teleskopischen, mikroskopischen und endoskopischen Geräten, von Google Earth, von Satelliten und Drohnen), sondern auch in Begriffen eines makroskopischen Sehens, welches das menschliche Sehen als Teil eines weiteren Wahrnehmungskomplexes konzipiert, «in which various organic and machinic agents come together − and apart − for functional, political, or aesthetic reasons».49 In diesem Kontext kommt tierischer Wahrnehmung offenbar große Bedeutung zu: Als das nächste Andere des Menschen bietet das Tier vielfältige Erkundungsmöglichkeiten, die auf verschiedene Art und Weise untersucht werden, sowohl in fiktionalen als auch in nicht-fiktionalen Genres. Paradigmatisch unter den nicht-fiktionalen Ansätzen ist der ethnografische Dokumentarfilm Leviathan aus dem Jahr 2012, der von Lucien Castaing-Taylor und Verena Paravel inszeniert wurde. Sie haben GoPro-Kameras auf verschiedenen Körpern und Gegenständen (an Fischern, Fischen und Booten) an Bord eines kommerziellen Fischereifahrzeuges im Nordatlantik installiert, um die entsprechenden heterogenen Perspektiven wiederzugeben.50 YouTube hostet bereits Kompilationen von GoProVideos, die mit einem tierischen POV (Point of View) aufgenommen wurden.51 Im Bereich der Fiktion existiert eine reiche Tradition von Tier-Horrorfilmen,52 in denen Tier-POVs verwendet werden, um die subjektive theriomorphische 48 Richard Grusin (Hg.): The Nonhuman Turn. Minneapolis: University of Minnesota Press 2015, S. VII. 49 Joanna Zylinska: Nonhuman Photography. Cambridge: MIT Press 2017, S. 14. 50 Michael A. Unger: Castaing-Taylor and Paravel’s GoPro Sensorium: Leviathan (2012), Experimental Documentary, and Subjective Sounds. In: Journal of Film and Video 3 (2017), S. 3–18. 51 Vgl. u.a. https://www.youtube.com/watch?v=bjtxmwZTkIE (letzter Zugriff am: 28. Mai 2019). 52 Vgl. Lee Gambin: Massacred by Mother Nature: Exploring the Natural Horror Film. Baltimore: Midnight Marquee Press 2012; Katarina Gregersdotter/Johan Höglund/Nicklas Hållén (Hg.): Animal Horror Cinema. Genre, History and Criticism. Houndmills/Basingstoke: Palgrave Macmillan 2015.

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Wahrnehmung darzustellen: In Empire of the Ants (deutscher Titel: In der Gewalt der Riesenameisen), ein Science-Fiction-Horrorfilm von 1977, der von Bert I. Gordon inszeniert und von Herbert G. Wells gleichnamiger Kurzgeschichte inspiriert wurde, hat man durch eine Multiplikation desselben Perzeptes die iterierte Sicht der Insekten reproduziert, die für das aus vielen kleinen Linsen bestehende Facettenauge charakteristisch ist. Ein ähnlicher Ansatz hat vor Kurzem das EYEsect-Projekt inspiriert, das 2013 vom Berliner Künstlerkollektiv The Constitute entwickelt wurde.53 Zwei abnehmbare Kameras, die an einem Oculus Rift-Helm installiert sind, bieten rechts und links unterschiedliche visuelle Informationen, die radikal über das herkömmliche stereoskopische menschliche Sichtfeld hinausgehen: «It allows users to take the perspective of a horse, chameleon or a totally out of body point of view», sagt Christian Zöllner, ein Mitglied des Kollektivs.54 Analoge Bestrebungen bestehen auch im Bereich der Science-Fiction. Dort versucht man, die Perzeption fremder Lebensformen für menschliche Sinnesorgane wahrnehmbar zu machen. Einen besonders zum Nachdenken anregenden Fall bietet die erfolgreiche Predator-Horrorsaga, die 1987 mit dem gleichnamigen Film unter der Regie von John McTiernan begann und mit Predator 2 (1990), Predators (2010), The Predator (2018) fortgesetzt wurde, und die man auch mit der Alien-Saga in den Filmen Alien vs. Predator (2004) und Alien vs. Predator: Requiem (2007) gekreuzt hat. Der tödliche außerirdische Yautja-Jäger ist mit einem Helm (der ‹Bio-Maske›) ausgestattet, der nicht nur die Möglichkeit bietet, ein Spektrum zu sehen, das vom hohen ultravioletten Bereich bis zur niedrigen Infrarot-Wärmesicht (modelliert nach der Wärmesicht von Schlangen) reicht, sondern auch die Detektion elektromagnetischer Felder zur Visualisierung von Xenomorphen (Aliens) mit einschließt. Solche Versuche verstärken einerseits die Anstrengung, anthropozentrische Grenzen zu überschreiten; andererseits können sie nicht offenkundig hoffen, Nagels Einschränkung zu entgehen: Soweit sie visuell auf einem Bildschirm wiedergegeben werden, wird ein Komplexauge-Sichtfeld oder ein Infrarot-Sichtfeld immer nur eine Sicht sein, die von einem menschlichen Auge-Gehirn-System verarbeitet werden muss. Die artenspezifische Organisation des Menschen fungiert als physiologisches und phänomenologisches Apriori, das nicht einfach umgangen werden kann. Doch das Paradox, das wir in Uexkülls oxymoronischer Haltung verkörpert sehen – nämlich einerseits die Theoretisierung von undurchdringlichen Seifen-

53 http://theconstitute.org/eyesect/ (letzter Zugriff am: 28. Mai 2019). 54 https://vimeo.com/83762484 (letzter Zugriff am: 28. Mai 2019).

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blasen und andererseits der Versuch, sie zu überwinden –, erfordert die Anerkennung eines artenspezifischen menschlichen Merkmals: das unvermeidliche Drängen, durch die gemeinsame Aktion von Imagination und Technologie jene Einschränkungen hinter sich zu lassen, die uns unsere physiologische Konstitution auferlegt. Wie Nietzsche es im obigen Zitat über die Unmöglichkeit einer angemessenen Wahrnehmung formuliert hat, handelt es sich um aisthesis und Erfindung: Denn zwischen zwei absolut verschiedenen Sphären wie zwischen Subjekt und Objekt giebt es keine Causalität, keine Richtigkeit, keinen Ausdruck, sondern höchstens ein ästhetisches Verhalten, ich meine eine andeutende Uebertragung, eine nachstammelnde Uebersetzung in eine ganz fremde Sprache. Wozu es aber jedenfalls einer frei dichtenden und frei erfindenden Mittel-Sphäre und Mittelkraft bedarf.55

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55 Friedrich Nietzsche: Ueber Wahrheit und Lüge, S. 884.

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Martin Bartelmus

Im Antlitz der Tiere lesen 1 Wie vom Antlitz der Tiere sprechen? «Im Antlitz der Tiere lesen»: ein Titel, der mindestens drei Probleme markiert. Zuerst, was ist mit Antlitz gemeint? Warum steht ‹Antlitz› im Singular? Gibt es ein Antlitz, das alle Tiere teilen? Der Begriff Antlitz im Singular verweist auf einen Diskurs, der zwischen der zoobiopolitischen Sphäre der Physiognomie am Anfang des 20. Jahrhunderts und der philosophisch-ethischen Sphäre des Humanismus’ und der Frage des Anderen des Menschen in der Mitte desselben Jahrhunderts changiert. Antlitz meint damit nicht einfach das Gesicht des Anderen, nicht nur die Begegnung mit dem Blick des Anderen, sondern auch dessen Aura, dessen Anschein und seine Ansicht. Antlitz ist zudem ein Wort, das dem Menschen vorbehalten ist und diesen mit der Sphäre des Heiligen verbindet. Vom Antlitz der Tiere zu sprechen, führt zu einer zweiten Problemkonstellation und zu einer zweiten Frage: Kann ein Tier überhaupt ein Antlitz haben? Haben verschiedene Tiere verschiedene Antlitze? Es scheint eine Frage der Ästhetik zu sein und tatsächlich konvergieren der Physiognomie-Diskurs und der Begriff des Antlitzes mit zwei hinsichtlich ihrer Medialität und Materialität unterschiedlichen künstlerischen Darstellungsweisen, die sich mit dem Sujet ‹Tier› beschäftigen: Tierbildhauerei und Fotografie. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts suchen Tierbildhauerinnen1 im Sujet ‹Tier› die abstrakte Form. Fotografien von Tieren dagegen suggerieren eine authentische Wildheit und Natürlichkeit. Dabei handelt es sich um zwei Beobachtungsmodi, die sich am Paradigma der Physiognomie und ihren zoobiopolitischen Implikationen messen lassen müssen, die das Verhältnis von Anderem und Fremden zum Eigenen, das Verhältnis des Antlitzes eben, durchkreuzen. Drittens stellt sich die Frage, warum ein Antlitz und vor allem das Antlitz von Tieren gelesen werden soll, wenn es doch vielmehr betrachtet oder gesehen wird, sei es durch das hermeneutische Auge der Künstlerin, den sezierenden Blick der Zoologin oder die objektivierende Linse der Kamera? Der Umstand des Lesens hat etwas mit meiner methodologischen Determinierung zu tun, aber auch damit, dass die Rede vom Antlitz und die anthropologische Differenz2 der

1 Ich verwende im Folgenden das generische Femininum. Wo die maskuline Bezeichnung zu lesen ist, bezieht sich diese auf einen bestimmten Namen. 2 Vgl. Markus Wild: Tierphilosophie. Zur Einführung. Hamburg: Junius 2013, S. 25ff. https://doi.org/10.1515/9783110665055-006

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Frage nach der Existenz eines grundlegenden Unterschieds zwischen Mensch und Tier im Physiognomie-Diskurs im Medium Text erfahrbar werden. Zudem werde ich im Folgenden nicht von tatsächlichen Tieren im zoologischen Sinn sprechen, sie nicht unübersetzt betrachten, sondern von Text-3 und Bildtieren. Denn dort – zwischen Text und Bild, in Texten und auf Bildern – wird das Antlitz verhandelt. Dabei beziehe ich mich auf drei Autoren: Für den Physiognomie-Diskurs des frühen 20. Jahrhunderts wende ich mich Rudolf Kassner zu. Kassners Arbeiten zu einer modernen Physiognomie setzen sich an den entscheidenden Stellen mit der Differenz von Mensch und Tier auseinander. Der Physiognomie, der Lehre von der Gestaltung und dem Aussehen, der Form von Gesicht und Körper, ist hier immer noch oder schon wieder die anthropologische Differenz eingeschrieben, die es zu lesen gilt. Ferner gehe ich auf Emmanuel Levinas und Jacques Derrida ein, spezieller auf Derridas Kritik an Levinas’ Haltung, dem Menschen das Antlitz vorzubehalten. Kurz: «Im Antlitz der Tiere lesen» heißt, die medialen und diskursiven Verschränkungen nachzuvollziehen, die Tiere sichtbar machen und gleichzeitig verdecken. Bei der Tierbildhauerei geht es um die Form, nicht um das Tier. Die Fotografie zeigt das Tier aber nur, um die Fremdheit bzw. die mit dieser Erfahrung verbundene Natürlichkeit zu verifizieren. Kassner thematisiert die moderne Physiognomie des Menschen in Abgrenzung von der des Tieres, während Levinas die humanistische Ethik des Antlitzes, den Anderen, der kein Tier sein darf, verhandelt. Tiere sind das Andere und das Fremde. Dennoch verkörpern sie das Gemeinsame, Vertraute. Am Horizont erscheinen folglich die zoobiopolitischen Regeln, die Mensch und Tier trennen und in der letzten Konsequenz die Tötbarkeit der Tiere erlauben, aber die Tötbarkeit des Menschen verbieten. Im Antlitz der Tiere lesen zu wollen, meint – oder besser folgt, – «vom animot/TierWort [. . .] angeblickt»4 zu werden. Meine Analyse beabsichtigt, auch wenn der Blick vermittelt, von der Seite kommt, von einer Skulptur, einem Bild oder einem Text ausgeht, die Gemeinsamkeiten von Mensch und Tier im richtigen Abstand zu erfassen.

3 Susan McHugh: Animal Farm’s Lessons for Literary (and) Animal Studies. In: Humanimalia. A journal of human/animal interface studies 1.1 (2009), S. 24–39. Vgl. Roland Borgards: Tiere und Literatur. In: ders. (Hg.): Tiere. Ein kulturwissenschaftliches Handbuch. Stuttgart: Metzler 2016, S. 225–244. 4 Jacques Derrida: Das Tier, das ich also bin. Übersetzt von Markus Sedlaczek. Wien: Passagen 2010, S. 157.

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2 Wie nicht vom Antlitz der Tiere sprechen? ‹Antlitz› ist vielleicht der entscheidende Begriff für Emmanuel Levinas’ Ethik. Denn der Mensch wird sich mittels des Antlitz’ des Anderen über sein Menschsein gewahr, wird sich in aller äußerster Konsequenz dessen bewusst, dass er den anderen Menschen, weil er selbst Mensch ist, nicht töten darf. Die humanistische Verantwortung ist an das Gesicht des Anderen gekoppelt. Tiere dagegen werden ständig getötet: industriell oder für die Kunst, auf der Jagd, der Safari, langsam im Zoo oder Zirkus. Die Frage, ob auch ein Tier ein Antlitz habe, setzt die Erfahrung des Anderen, die ethische Erfahrung des Anderen aufs Spiel, mithin das Gebot «Du sollst nicht töten».5 Dazu ist bei Levinas nur ein Schweigen zu vernehmen, ein Schweigen allerdings, das, wie Derrida deutlich macht, an zwei Aussagen Levinas’ bemerkbar wird und ein Nachdenken darüber provoziert. Die erste Aussage, wie Derrida in seinem Text Das Tier, das ich also bin berichtet, äußert Levinas 1992. John Llewelyn hatte ihn in einem Interview gefragt: «Hat das Tier ein Antlitz? Kann man das ‹Du sollst nicht töten!› in den Augen des Tieres lesen?»6 Levinas antwortet, wie Derrida zitiert: Das menschliche Antlitz ist absolut verschieden, und das Antlitz eines Tiers entdecken wir erst nachträglich. Ich weiß nicht, ob die Schlange ein Antlitz hat. Ich kann diese Frage nicht beantworten. Dazu ist eine spezifischere Analyse nötig.7

Der Philosoph kann oder will die Frage nicht beantworten, aber er betont, dass das Antlitz eines Tieres absolut verschieden ist von dem des Menschen. Ferner meint er, dass das Antlitz des Tieres nur «nachträglich» erkannt werden kann, sich mittels einer, wie Derrida erklärt, «analogen Transponierung oder eines Anthropomorphismus vollzieht».8 Somit ist das Antlitz des Menschen vorgängig, es forciert den «ursprünglichen, paradigmatischen, ‹prototypischen› Charakter der Ethik als menschliche, als Raum der Beziehung zwischen Menschen, ausschließlich Menschen, die eben darin Menschen sind».9 Letztendlich sind Tiere dem Menschen ähnlich, haben aber nichts mit dem Antlitz des Menschen gemein. Derrida erkennt in dieser Hinsicht in Levinas’ Antwort ein Problem:

5 Ebda., S. 164. 6 Llewelyn zitiert nach Jacques Derrida: Das Tier, S. 160. Vgl. ferner John Llewelyn: The Middle Voice of Ecological Conscience. A Chiasmic Reading of Responsibility in the Neighborhood of Levinas, Heidegger and Others. Basingstoke: Palgrave Macmillan 1991, S. 49–67. 7 Jacques Derrida: Das Tier, S. 160. 8 Ebda. 9 Ebda.

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Denn zu erklären, nicht zu wissen, wo das Recht «Antlitz» genannt zu werden, beginnt, heißt zu bekennen, dass man im Grunde nicht weiß, was ein Antlitz ist, was dieses Wort bedeutet, was seinen Gebrauch regelt.10

Das Antlitz zu beschreiben ist reglementiert, codiert, eingeschränkt. Weil auf den Menschen fixiert, zeigt die Frage nach dem Antlitz eines Tieres, dass der Diskurs über das Antlitz gar nicht weiß oder zu erklären vermag, was ‹Antlitz› bedeutet. Die distinkte Unterscheidung ist unmöglich, obwohl sie ständig und überall – in der Ästhetik, in der Ethik und in der Physiognomie – Verwendung findet.

3 Darwins Tierbilder Die Auseinandersetzung mit dem tierischen Antlitz und damit vor allem mit dem Blick eines Tieres, dem der Mensch begegnen kann, beginnt bei Derrida mit dem Blick einer Katze. Genealogisch aber ist diese Blickkonstellation spätestens seit Charles Darwin von Bedeutung. Darwins Abhandlung Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei dem Menschen und den Tieren von 1872 geht weniger der Unterscheidung von Mensch (im Singular) und den Tieren (im Plural) als der Beschreibung ihrer Gesichtsausdrücke, der Mimik und den Blicken sowie ihrer medialen Darstellungsweise nach: Die menschlichen Gesichter werden fotografiert, die Tiere gezeichnet.11 Aus der Perspektive des Zoologen verhandelt Darwin die Relationen von Mensch und Tier, die sich im Vergleich der körperlichen Gemütsäußerungen zeigen und die Evolutionsthese bestärken. Der Begriff Emotionsausdruck beinhaltet drei Komponenten: eine körperliche Reaktion, eine Emotion und eine Beobachterin. Die Betrachterin, der eine körperliche Änderung aufgrund einer Emotion auffällt bzw. eine Emotion aufgrund einer körperlichen Äußerung, ordnet der Emotion die körperliche (Re-)Aktion und vice versa zu. Dabei liest sie das Gesicht, die Gesten oder auch andere Körpermerkmale, wie ein Zittern, Haaraufstellen oder die erweiterten Pupillen. Für Darwin sind Mensch und Tier hinsichtlich ihrer Emotionen und der darauffolgenden körperlichen Regungen vergleichbar: Die Gemeinsamkeit gewisser Ausdrucksweisen bei verschiedenen, aber verwandten Species, so die Bewegungen derselben Gesichtsmuskeln während des Lachens beim Men-

10 Ebda., S. 162. 11 Charles Darwin: Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei dem Menschen und den Tieren. In: Gesammelte Werke. Bd. 7. Übersetzt von Julius Victor Carus. Stuttgart: Schweizerbart’sche Verlagshandlung 1877.

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schen und bei verschiedenen Affen, wird etwas verständlicher, wenn wir an deren Abstammung von einem gemeinsamen Urerzeuger glauben.12

Mensch und Tier teilen die Lesbarkeit ihrer Gesichter. Das Gesicht eines Tieres sagt etwas über die Evolutionsgeschichte der Emotionen des Menschen aus, woher sie stammen und wie sie sich entwickelt haben. Das Antlitz hat eine biologische Geschichte, die Mensch und Tier verbindet. Zur Darstellung nutzt er die Momentfotografie,13 um die Gemütsäußerungen zu studieren und in seinem Buch als Beweise vorzulegen. Die Momentfotografie ist allerdings dem Menschen vorbehalten, Tiere werden in einem der menschlichen Hand unterworfenen Medium dargestellt.14 Der Unterschied von Mensch und Tier liegt in der Materialität und Medialität der Bilder. Warum werden Menschen fotografiert und Tiere nicht? Liegt es daran, dass sich aufgrund der technischen Verfasstheit der Fotografie Tiere nicht stillstellen lassen, sie eben nicht still dem Fotografen Portrait sitzen können? Die Debatte um die Authentizität der Fotografie, die Authentizität des tierischen Gesichts, scheint unbeachtet. Der blinde Fleck des Antlitzes, auch der naturwissenschaftlichen Auseinandersetzung, die im Text Mensch und Tier evolutionsbiologisch eng führt und in ein Verwandtschaftsverhältnis stellt, wird auf der Bildebene wieder getrennt. Bilder und Text laufen auseinander. In seiner Analyse unterhält Darwin durchgängig eine enge wechselseitige Beziehung zwischen Mensch und Tier und macht keine fundamentalen, nur graduelle Unterschiede bei der Äußerung der Emotionen. Er liest im Gesicht der Tiere wie im Gesicht der Menschen, wobei nicht die Unterscheidung oder Charakterisierung der Arten im Vordergrund steht, sondern die gemeinsame evolutionäre Entwicklung biologischer Zeichen für Emotionen und ihre Zweckhaftigkeit. Aus Darwins Perspektive verbindet Mensch und Tier das Gesicht, über das sie Emotionen äußern. Er stellt aber auch heraus, dass Mensch und Tier nicht nur über das Gesicht, sondern über den ganzen Körper kommunizieren. Dennoch ist dem Menschen die Fotografie vorbehalten, das wissenschaftliche Medium scheinbarer Wahrheit und der Authentizität, während die Tiere – kontraintuitiv – dem künstlerischen Bildgebungsverfahren überlassen werden: der Zeichnung. Darwins Text und die Evolutionsthese der Emotionen, mitsamt ihrer sichtbaren Zeichen im Gesicht der Tiere und Menschen, gibt den Tieren zum ersten Mal ein Gesicht, das mit dem des Menschen korreliert.

12 Ebda., S. 12. 13 Ebda., S. 134. 14 Vgl. Julia Voss: Darwins Bilder. Ansichten der Evolutionstheorie 1837–1874. Berlin: Fischer 2007, S. 240–323.

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Der evolutionsbiologische Diskurs eröffnet eine andere Sichtweise auf das Tier, das sich prompt in den künstlerischen Artefakten, vor allem in der bildenden Kunst – der Tierbildhauerei – äußern wird.

4 Tierbildhauerei um 1900 Obschon die französischen animaliers um 1800 begonnen haben, Tiere als eigenes Sujet zu bestimmen, wird die Tierplastik erst mit der Evolutionstheorie aus dem Bereich einer Untergattung der Bildhauerei und einer Fingerübung, die mehr zu Reiterstandbildern tendiert, zu einem eigenständigen Ausdrucksfeld von diskursiven Ressentiments, mithin zu einer Verschiebung der anthropologischen Differenz in der Ästhetik. Nicht mehr die symbolische Funktion, Tiere als Emblem einer Souveränität oder als mythologisches Zeichen einer Ikonographie zu verwenden, sondern das Tier selbst, seine Eigenarten – im Konflikt mit dem Menschen – darzustellen, tritt um 1900 in den Vordergrund. Was Künstler wie Emmanuel Frémiet – der ein Gegner Darwins ist15 – zeigen, sind vor allem in Bezug auf Menschenaffen, Orang-Utan und Gorilla zwar anatomisch und morphologisch weitestgehend korrekte,16 aber durchaus eurozentrische Sichtweisen auf die Evolutionsthese und das Tier-Mensch-Verhältnis, das vor allem dem weißen männlichen Subjekt den Vorrang gibt. Der wilde Affe – die Geburtsstunde King Kongs17 – unterscheidet sich vom kulturellen Europäer. Er wird zum Beispiel in der Skulptur Gorille enlevant une femme (1887) als wildes, gewalttätiges Biest, Räuber und Monster dargestellt. Sein Gesicht ist verzerrt, mit aufgerissenem Maul zeigt er seine Zähne, seine Wildheit und vor allem seine Grausamkeit, die ihn vom weißen, kultivierten Europäer unterscheidet. Letzterer muss die Frauen, zumeist die exotisierten Frauen, nicht mehr rauben. Er hat andere Ausdrucksformen der Gewalt gefunden, um seinem Trieb und seiner Begierde bzw. Lust Ausdruck zu verleihen. In den Tierskulpturen Frémiets lagert sich diese Dichotomie, dieses Unterbewusste immer noch ab. Franz Marcs Diktum vom Tier als neuem Sujet zur Entdeckung neuer Formen für die Kunst,18 vor allem der Malerei, schreibt die Unterscheidung von 15 Kai Artinger: Von der Tierbude zum Turm der blauen Pferde. Die künstlerische Wahrnehmung der wilden Tiere im Zeitalter der zoologischen Gärten. Berlin: Reimer 1995, S. 98f. 16 Vgl. Petra Lange-Berndt: Animal Art. Präparierte Tiere in der Kunst 1850–2000. München: Schreiber 2009, S. 15. 17 Kai Artinger: Von der Tierbude, S. 97–101. 18 Franz Marc: Briefe an die Frau und die Mutter. In: Briefe, Schriften, Aufzeichnungen. Leipzig: Kiepenheuer 1989, S. 140: «Ich empfand schon sehr früh den Menschen als ‹häßlich›; das

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Mensch und Tier fort. Denn, näher betrachtet, geht es nicht um die Erwiderung oder das Anerkennen des tierischen Blicks, des Antlitzes, sondern um die künstlerische Ausbeutung der Ressource ‹Tier›. Die Erkundung des ‹Wesens des Tieres› sagt kaum etwas über die Tiere, sondern mehr über das Selbstverständnis des kunstschaffenden, männlichen Subjekts. Dennoch löst die künstlerische Aufmerksamkeit für das Tier eine weitere Verschiebung in der bildenden Kunst aus: Künstlerinnen wie Renée Sintenis und Künstler wie August Gaul, Ewald Mataré, Rembrandt Bugatti, Fritz Behn oder Josef Pallenberg arbeiten sich an Tieren beinahe ausschließlich ab.19 Für die plastische Ausgestaltung der Tiere in Gips, Ton und Bronze ist ein dezidiert zoologisches Wissen von der Morphologie wie der Anatomie vonnöten. Dieses allerdings ist um 1900 kein neues, sondern ein durch das 19. Jahrhundert hindurch entwickeltes und an den Kunstakademien institutionalisiertes spezifisches Wissen vom Aufbau und Bewegungsapparat bestimmter Säugetiere, von ihrer Oberfläche respektive Haut/Fell/Gefieder. Neu ist dabei die Kenntnis der Bewegungsabläufe, die vermittelt durch die technischen Neuerungen – Fotografie und Film – von Eadweard Muybridge, Étienne-Jules Marey oder Ottomar Anschütz zum ersten Mal sichtbar werden.20 Die Skulpturen wiederum sind Stillstellungen jener Bewegungen, die die neuen Medien erst produzieren. Am Körper der Tiere erscheinen symbolische und biologische Verschiebungen. Sie werden wieder zu Zeichen und im Zentrum steht die genaue Beobachtung, der Blick der Künstlerin und der Wissenschaftlerin, und wie Wissen ineinander gefaltet ist. Zudem erscheint am Horizont der Zoologie die Frage, ob Tiere – zumeist dem Menschen nahestehende Spezies wie Affen – denken können. Mit Wolfgang Köhlers Studien zur Kognition,21 dem Problemlösen bei Schimpansen, sind Tiere nicht mehr Automaten wie noch bei Descartes. Ferner werden die Ansätze des Behaviorismus durch Studien in den 1930er und 1940er Jahren zum Verhalten, von Wissenschaftlern wie Konrad Lorenz,22 unterlaufen.

Tier schien mir schöner, reiner; aber auch an ihm entdeckte ich so viel gefühlswidriges und häßliches, so daß meine Darstellungen instinktiv, aus einem inneren Zwang, immer schematischer, abstrakter wurden». 19 Bezüglich Letztem verweise ich auf die von mir kuratierte Dauerausstellung Wie Menschen Tiere sehen. Die Tierskulpturen Josef Pallenbergs im Naturkundemuseum der Stiftung Schloss und Park Benrath. 20 Vgl. Eadweard Muybridge: Animals in Motion. New York: Dover 1957 [1899]. 21 Vgl. Wolfgang Köhler: Intelligenzprüfungen an Menschenaffen. Berlin/New York/Heidelberg: Springer 1973 [1917]. 22 Vgl. Konrad Lorenz: Der Kumpan in der Umwelt des Vogels. Der Artgenosse als auslösendes Moment sozialer Verhaltensweisen. In: Journal für Ornithologie 83 (1935), S. 137–213, 289–413.

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Die Formierung des Wissens über das ‹Wesen des Tieres›, wie es Franz Marc für die Kunst formuliert, findet ihre Entsprechung in den Naturwissenschaften. Darin spielt die Physiognomie um 1900 eine einzigartige Rolle. Während das Tierische als Metapher in den biopolitischen Debatten der Verbrechensprävention und Taxonomie sowie der Rassenlehre dazu dienen, bestimmte Menschen ihrem Aussehen nach als degeneriert, gefährlich und asozial zu kennzeichnen,23 verfolgt Rudolf Kassner eine andere physiognomische These von Mensch und Tier. Implizit schließt er an Darwins Ansichten an, obschon er sich als Kritiker der Evolutionstheorie inszeniert.

5 Kassners Physiognomik Seine Überlegungen zu einer Physiognomie der Moderne, die er 1919 in Zahl und Gesicht nebst einer Einleitung, der Umriss einer Universalen Physiognomik, 1922 in Die Grundlagen der Physiognomik und zuletzt 1932 in Physiognomik ausbreitete, funktionieren nicht ohne Tiere. Denn es sind Tiere, über die er das Problem der Physiognomie des Menschen in der Moderne abgrenzt, diskutiert. Interessanterweise erzeugen seine Texte eine eigenwillige Genealogie: Seine Ausführungen inspirierten Rainer Maria Rilke zu seiner prominenten achten Duineser Elegie24 (die Kassner zugleich zugeeignet ist),25 in der der Dichter das Offene, das Kreatürliche, aber auch die Mensch-Tier-Differenz verhandelt. Die Elegie ist wiederum bekanntlich für Heideggers Seins-Philosophie, für seine Unterscheidung von Mensch (weltschaffend) und Tier (weltarm) ausschlaggebend.26 Darauf bezieht sich wiederum Agamben mit seiner These zur anthropologischen Maschine27 und auch Derridas Tierphilosophie arbeitet sich kritisch

23 Vgl. Jutta Person: Der pathographische Blick. Physiognomik, Atavismustheorien und Kulturkritik 1870–1930. Würzburg: Könighausen & Neumann 2006, S. 87ff. 24 Rainer Maria Rilke: Duineser Elegien. Stuttgart: Reclam 2007 [1923], S. 35. 25 Vgl. Manfred Schneider: Intertextuelles Bestiarium. Rilkes Tiere. In: Adrian Stevens/Fred Wagner (Hg.): Rilke und die Moderne. München: Iudicum 2000, S. 28. 26 Vgl. Martin Heidegger: Wozu Dichter? In: Gesamtausgabe, 1 Abt.: Veröffentlichte Schriften 1914–1970, Bd. 5: Holzwege. Frankfurt a. M.: Klostermann 1977, S. 269–320. Siehe auch Heideggers Parmenides-Vorlesung. Vgl. Simona Venezia: Die unerwartete Nähe der Ferne. Zum Verhältnis zwischen Heidegger und Rilke. In: Alfred Denker/Holger Zaborowski/Jens Zimmermann (Hg.): Heidegger und die Dichtung. Heidegger Jahrbuch 8. Freiburg/München: Karl Alber 2014, S. 146–149. 27 Giorgio Agamben: Das Offene. Der Mensch und das Tier. Übersetzt von Davide Giuriato. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003.

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an Heideggers Unterscheidung von Mensch und Tier ab.28 Rilkes Elegie verdichtet das Problem, das das Antlitz des Tieres stellt: Mit allen Augen sieht die Kreatur das Offene. Nur unsre Augen sind wie umgekehrt und ganz um sie gestellt als Fallen, rings um ihren freien Ausgang. Was draußen ist, wir wissens aus des Tiers Antlitz allein.29

Während «die Kreatur» «das Offene» «mit allen Augen» «sieht», sind die Augen des Menschen – das Personalpronomen «unsre» schließt die Leserin ein, markiert die Leserin eines Gedichts als ausschließlich menschlich, kein anderes Lebewesen hat Zugang zum gesprochenen oder geschriebenen Wort des Dichters «Rilke» – «umgekehrt und ganz um sie gestellt». Das «sie» scheint sich auf die Mehrzahl der kreatürlichen Augen zu beziehen, während «unsre Augen» zu «Fallen» werden, um den «freien Ausgang» zu markieren und gleichzeitig einzuhegen. Die observierende Konstellation, ein Panoptikon par excellence, ermöglicht den Spiegeleffekt einer Erkenntnis: «Was draußen ist, wir wissens aus des Tiers Antlitz allein». Im Antlitz spiegelt sich das Außen und wird dem Menschen zur medial und materiell vermittelten Information. Nicht das Medium ist die Message, das Antlitz des Tieres sagt nichts, darin ist nichts Tierisches zu lesen. Was von außen sich spiegelt, kann aber erkannt werden. Offen bleibt, ob sich «das Offene» spiegelt oder «unsere Augen», das Antlitz des Menschen. Kassners physiognomische Theorie, die der Elegie als Folie dient, bezieht sich immer wieder auf das Gesicht der Tiere und auf die Blickkonstellationen. So schreibt Kassner, die traditionelle Physiognomie als Wissenschaft reflektierend, «[d]ie antike Physiognomik [. . .] [erkennt] eine bestimmte Eigenschaft einem bestimmten Gesichtsteil [zu]».30 Sogleich fährt er fort: «Und dann dadurch, dass sie den Menschen mit eben dem Tier vergleicht, den Menschen auf ihm gründen oder von ihm bestätigen lässt, indem sie das Gemeinsame zwischen beiden heraushebt».31 Dieses alte physiognomische Paradigma, das von Aristoteles bis Johann Casper Lavater verläuft, will Kassner bewusst hinter sich lassen. «Ich habe es nie unterlassen», schreibt er,

28 Vgl. Jacques Derrida: Das Tier, S. 220. 29 Rainer Maria Rilke: Duineser Elegien, S. 35. 30 Rudolf Kassner: Physiognomik. Wiesbaden: Insel 1951, S. 100. 31 Ebda.

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in meinen physiognomischen Schriften darauf hinzuweisen, dass diese Art von Relation zwischen Mensch und Tier der statischen Raum- und Ursachenwelt der Antike mit deren Vorliebe für das Typische und dem Außerachtlassen des Individuellen und Bewegten entspreche, und ich habe allemal hinzugefügt, dass, wenn wir zu deuten hätten, wir die Dinge in der Bewegung, wie ich mich ausgedrückt habe, deuten müssten. Es ist leicht einzusehen, dass unter dem Bewegten oder in Bewegung Befindlichem immer nur das Individuelle verstanden werden könne.32

Worauf Kassner zielt, ist eine auf ein Werden, Rhythmus und Bewegung orientierte Physiognomie, die dem individuellen Geist der Moderne entspricht. Dagegen ist die Welt der Antike eine Welt der Herrschaft, die antike Weltansicht geht durchaus von der Idee und dem Begriff der Herrschaft aus. [. . .] Der Mensch wurde solange vom Tier beherrscht oder gefährdet, bis es ihm mit dem Anfang der Zivilisation oder Kultur gelang, das Verhältnis umzukehren und seinerseits das Tier zu zähmen, zu beherrschen. Und im Vergleich zwischen Mensch und Tier, im Suchen nach Ähnlichkeit zwischen beiden besitzen wir nichts anderes oder nicht mehr und nicht weniger als einen Niederschlag dieser Beziehung zwischen Herrschen und Beherrschtsein.33

Das alte physiognomische Paradigma folgt einer einfachen Herrschaftslogik, die sich mit Michel Foucaults biopolitischem Ansatz kurzschließen lässt, und Kassner schreibt: «Man kann sagen, alle Herrschaft sei letztlich auf Analogie gegründet oder beruhe auf dem Prinzip derselben».34 Will man das Gesicht, den Blick, das Antlitz von Mensch und Tier verstehen oder besser lesen lernen, so darf man sich nicht allein, wie die klassische Physiognomie, auf Analogien beziehen. In Levinas’ Zögern, dem Tier ein Antlitz zu geben, scheint vielleicht das Problem der einfachen Analogie, ihre Macht und Gewalt, sichtbar zu werden, die im Antlitz der Tiere nur das Ähnliche, aber nicht das Gemeinsame erkennt.35 Auch Derridas Kritik, die Sorge um die Begegnung des tierischen Blicks, unterliegt der Gefahr jener Blickkonstellation, die Kassner, wie folgt, beschreibt: So oft heute Menschen der Großstadt in einen zoologischen Garten gehen, um die Tiere durch die Gitterstäbe der Käfige hindurch zu besichtigen und darüber ihre Bemerkungen zu machen, treiben sie in den meisten Fällen Physiognomik im Sinne des Aristoteles und der Antike, denn der Käfig oder Zwinger sind sozusagen nur das äußere Symbol für die Herrschaft des Menschen über das eingefangene Tier, und aus eben dieser Herrschaft her-

32 Ebda. 33 Ebda., S. 101. 34 Ebda. 35 Zu den Begriffen Ähnlich- und Gemeinsamkeit vgl. François Jullien: Es gibt keine kulturelle Identität. Übersetzt von Erwin Landrichter. Berlin: Suhrkamp 2017, S. 16.

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aus ergeben sich dann ganz von selber die einzelnen, mit Worten hervorzuhebenden und gegeneinander abzugrenzenden Eigenschaften. Man könnte es dreist so sagen, dass hinter den Stäben des Käfigs nicht so sehr das lebendige Tier stäke, wie eben das, was wir davon haben wollen: das Bild, die Ähnlichkeit oder Unähnlichkeit des Tieres mit uns Menschen.36

Man wird kaum eine Tierbildhauerin von Format finden, kaum eine Dichterin, die ein Gedicht über Tiere geschrieben hat, die nicht kontinuierlich im Zoo Tiere beobachtete. Der künstlerische Blick, der das Wesen der Tiere ergründen wollte, wird durch die Tiere dekonstruiert. Alle Skulpturen, so scheint es, sind Ausdruck einer Herrschaft des Menschen über das Tier – das Wesen des Tiers zu ergründen also, ist nichts anderes als das Ergründen des künstlerischen Egos selbst, die souveräne Geste des Subjekts, das Tier zu deuten: ein hermeneutischer Zirkelschluss. Zwar hängt der Umstand, dass Künstler Tiere im Zoo betrachten, einerseits schlicht damit zusammen, dass man in Europa eben nur im Zoo Löwen, Elefanten, Tiger, Gazellen und dergleichen mehr zu Gesicht bekommt. So aber zeigt sich der Blick der europäischen Künstlerin auf die Tiere als prekär: exotisierend, aber auch abhängig von einer Gewalt und einer Ökonomie, ein Blick, der den Handel mit Tieren als ästhetische Ware übersieht. Die Tierskulpturen bilden nicht einfach ein Tier-Mensch-Verhältnis ab, das das Wesen der Tiere zu ergründen sucht, sondern ein Machtkalkül, das Künstler, Zoo und Tier in Gefangenschaft verknüpft und den Körper der Tiere zur Ware werden lässt – mit einem Wort: Zoobiopolitik. Kassner dagegen schlägt einen alternativen Blick auf die Tiere vor, der sich vom Sehen im Zoo unterscheidet. Sogleich passiert etwas mit der Physiognomie der Tiere (und Menschen) in Freiheit: Was geschieht aber, lautet nun die Frage, wenn das Gitter, der Käfig, die Wand wegfallen und das lebendige Wesen (Mensch oder Tier) frei wird, wie es dann lautet? Das geschieht, dass sich die Eigenschaften immer dichter an die Gestalt anlegen, bis beide, Eigenschaften und Gestalt zusammenfließen und eines werden, welches Zusammenfließen und welche Einigung wir dann Rhythmus nennen.37

In der Wildnis verschmelzen Umwelt, Tier, dessen Fähigkeiten und Gestalt. Dieser Physiognomie der Wildnis entspricht auf der menschlichen Seite, wie Kassner erklärt, ein anderes Sehen: «Bei dieser entfallen augenblicklich der Käfig oder Zwinger oder die Wand aus Glas, statt derer tritt aber zwischen Mensch und Tier die Flinte».38 Für Kassner hat der Blick des Jägers nichts mit Herrschaft und Analogie zu tun, ganz im Gegenteil. Er betont das Andere und Fremde im Tier:

36 Rudolf Kassner: Physiognomik, S. 103. 37 Ebda., S. 104. 38 Ebda., S. 105.

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Und dementsprechend sucht der Jäger nun nicht mehr die Ähnlichkeit oder Analogie, sondern das Andere, das Fremde, in seiner Fremdheit Eigene, und zwar um des Todes willen, den die Kugel der Flinte oder des Stutzens dem Tier zu bringen hat.39

Die Jägerperspektive ist nicht einfach schamanische Metaphysik: Sie hängt wiederum mit der Ästhetik um 1900 und der Tierbildhauerei im Speziellen zusammen. Denn um 1900 wird der Blick des Jägers modifiziert, der imperiale Diskurs der Jagd und der Safari, der mit dem Kolonialismus in Afrika zusammenhängt, tauscht Flinte gegen Fotoapparat. Der technische Apparat erzeugt ein neues Sehen der Tiere. Carl Georg Schillings 1904 publizierte Reisebeschreibung mit ca. 300 Tag- und Nachtaufnahmen von Tieren in Afrika,40 die der Berliner Zoodirektor Ludwig Heck als «Natururkunden»41 bezeichnete, markiert diese technische (Re-)Produktion von Authentizität, Wildheit und Natur. Das Buch trägt den vielsagenden Titel Mit Blitzlicht und Büchse und verbindet Jagen und Fotografieren, zwei Blickregime, die sich ergänzen. Der Blick des Jägers, übersetzt durch die Fotografie, erreicht die europäischen Künstlerinnen. Nicht nur der Zoobesuch, auch die Fotografien aus der Wildnis hinterlassen ihre Spuren in den Tierskulpturen, die wiederum ein Produkt dieser Konfiguration sind. Zudem muss sich die Künstlerin entscheiden: entweder im analogischen Paradigma der Herrschaft Tiere im Zoo porträtieren oder dem Blick des Jägers folgen und zum Fotoapparat oder Gewehr greifen und nach Afrika, spezieller in die deutschen, französischen, belgischen, britischen, etc. Kolonien reisen. Diese Konstruktion von Afrika42 erscheint als Mekka der Bildhauerei, wie zum Beispiel Fritz Behn tönt.43 Der Blick des Künstlers ist wie der Blick des Jägers an den Tod des Tieres geknüpft. Das Tier und das Fremde werden kurzgeschlossen. Kassner erklärt: denn wie könnte er das töten, in dem er sich selber sieht – oder weil sein Sehen kein Sehen des Sehenden, sondern das des Zielenden ist. Daher das sehr Bestimmte, Fremde, Trennende, Andere, Gespreizte der Sprache.44

39 Ebda. 40 Carl Georg Schillings: Mit Blitzlicht und Büchse. Leipzig: Voigtländer 1905. 41 Ebda. 42 Afrika als Kollektivsingular ist ein ähnlich prekärer Begriff wie ‹das Tier›. ‹Afrika› gibt es nicht und Fritz Behns Vorstellung markiert die eurozentrische Konstruktion eines Sehnsuchtsortes, der allein durch Gewalt in Existenz gehalten wird. Vgl. Achille Mbembe: Kritik der schwarzen Vernunft. Übersetzt von Michael Bischoff. Berlin: Suhrkamp 2014, S. 100–107. 43 Vgl. Hugo Schmidt (Hg.): Fritz Behn als Tierplastiker. München: Schmidt 1922. 44 Rudolf Kassner: Physiognomik, S. 105.

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Gemeint ist die Sprache des Jägers. Durch die Sprache ist dem Blick eine Distanz eingeschrieben, der es dem Jäger erlaubt zu töten. Er sieht kein Antlitz, nur ein Ziel. Jäger und Tier werden bezüglich eines bestimmten Modus unterschieden: Die Tötbarkeit macht den Unterschied aus, «weil», wie Kassner schreibt, «der Jäger sich selbst im Wilde nicht sehen kann oder darf oder weil er es nicht zu töten vermöchte, wenn er sich selber darin sehen müsste».45 So unterscheidet sich der Jäger vom Menschen: «Das Töten des Tieres geht einzig und allein vom Jäger aus, nicht vom Menschen. Damit ist dem Töten gewissermaßen die Grausamkeit genommen».46 Die Schlussfolgerung liegt nahe, dass das Antlitz dem Menschen vorbehalten ist, und die Frage nach der Tötbarkeit des Lebens gründet sich in diesem Merkmal, das den Menschen ausmacht und ihn konstituiert. Der Mensch ist schlichtweg nicht tötbar, das Tier aber schon. Die Tötung des Menschen erfolgt durch den Ausschluss seines Menschseins, die Ausstellung des nackten Lebens, wie Giorgio Agamben formuliert,47 das die Überschreitung erlaubt: Trotzdem bleibt die Tötung des Menschen eine Übertretung der ethischen, sozialen und juridischen Normen. Ein Tier zu töten, mag zwar bestimmte Gesetze übertreten, gilt allerdings nicht als Verstoß gegen die Heiligkeit des Lebens.48 Die Tötbarkeit des Tieres wird bei Kassner vom menschlichen Blick entkoppelt und dem Blick des Jägers zugeordnet. Und doch ist es immer ein Mensch, der blickt, wenn das Leben eines Tieres tötbar gemacht wird. Der zoobiopolitische Diskurs der Physiognomie reglementiert: Ein Tier darf nicht blicken und darf schon gar nicht den Blick des Jägers/Menschen erwidern.

6 Der Blick eines Tieres Ich komme damit zurück auf Llewelyns Frage: «Hat das Tier ein Antlitz? Kann man das ‘Du sollst nicht töten!’ in den Augen des Tieres lesen?»49 Die Tötbarkeit des Tieres und das Antlitz hängen unmittelbar zusammen. Wenn Kassner schreibt, dass «das Andere, das Fremde, in seiner Fremdheit Eigene, und zwar

45 Ebda. 46 Ebda. 47 Giorgio Agamben: Homo Sacer. Die Souveränität der Macht und das nackte Leben. Übersetzt von Hubert Thüring. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2002. 48 Donna Haraway: When Species meet. Minneapolis/London: University of Minnesota Press 2008, S. 80. 49 Llewelyn zitiert nach Jacques Derrida: Das Tier, S. 160.

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um des Todes willen»,50 das Tier gejagt wird, so verweist er auf die anthropologische Differenz im Tod. Dem klassischen Verständnis nach stirbt das Tier nicht, es verendet.51 Derrida erklärt, dass das «Tötungsverbot» Levinas’ oberste Maxime sei.52 Dieses gilt allerdings nicht für Tiere. Es ist die genuine Frage nach der Möglichkeit, «Ich bin» zu sagen, die in dieser Unterscheidung zum Ausdruck kommt: «Ich bin» ist und sagt das Antlitz des Menschen im Grunde nur vor/gegenüber (devant) dem Anderen und nach (après) dem Anderen, gewiss, aber das ist stets der andere Mensch, und dieser kommt vor (avant) einem Tier, das ihn nie anblickt, um ihm zu sagen «Du sollst [mich] nicht töten», selbst wenn es ihn vernehmen lässt «Zu Hilfe, ich leide!», worunter mit zu verstehen ist «wie du»[.]53

Ferner fügt Derrida hinzu: «Denn ein Antlitz zu haben heißt, antworten können, im ‹Hier bin ich›, vor dem Anderen und für den Anderen, heißt, für den Anderen die Verantwortung für sich übernehmen zu können».54 Wenn das Tier getötet werden kann, ohne es zu ermorden, «dann liegt das darin begründet, dass das Tier allem, was die Heiligkeit, die Trennung und also die Ethik der Person als Antlitz definiert, fremd bleibt».55 Ähnliches scheint sich auch in Kassners Blick des Jägers abzuspielen. Lyrisch äußert sich die Teilnahmslosigkeit des Tieres am Tod bei Rilke zudem so: denn schon das frühe Kind wenden wir um und zwingens, daß es rückwärts Gestaltung sehe, nicht das Offne, das im Tiergesicht so tief ist. Frei von Tod. Ihn sehen wir allein; das freie Tier hat seinen Untergang stets hinter sich und vor sich Gott, und wenn es geht, so gehts in Ewigkeit, so wie die Brunnen gehen.56

50 Rudolf Kassner: Physiognomik, S. 105. 51 Vgl. Jacques Derrida: Aporien. Sterben – Auf die ‹Grenzen der Wahrheit› gefasst sein. Übersetzt von Michael Wetzel. München: Fink 1998, S. 64f. Vgl. auch Jacques Derrida: Das Tier, S. 165. 52 Ebda., S. 163. 53 Ebda., S. 161. 54 Ebda., S. 162. 55 Ebda. 56 Rainer Maria Rilke: Duineser Elegien, S. 35.

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Egal wie eindrücklich der Blick des Tieres aus evolutionsbiologischer Perspektive Leid ausdrückt, egal wie viele Tierskulpturen ein «Hier bin ich» der Tiere formulieren, [n]un scheint aber in der Tradition, deren Spur wir hier verfolgen, das Tier, Levinas zufolge, aller Möglichkeit, in Wahrheit allen Vermögens des «Hier bin ich» und der Antwort, also aller Verantwortung beraubt zu sein.57

Nicht nur Levinas, auch Rilkes Gedicht verhandelt nicht die Responsabilität des animalischen Antlitzes. Dabei blickt jede Tierskulptur, jede Fotografie eines Tieres auf den Betrachter zurück und damit jene Tiere, die in und für die künstlerischen Artefakte verdichtet worden sind, indem sie gejagt, gequält, getötet werden und/oder in Gefangenschaft leben. Medial und materiell – vorausgesetzt, man interessiert sich für die diskursive Figuration der Tierskulpturen um 1900 und die zoobiopolitischen Implikationen der Physiognomie – beinhalten die Antlitze der Tiere jene Spur des Tötens, jene Tötbarkeit, die den Tieren abgesprochen, an ihnen aber mit dem Blick des Jägers erst zugesprochen wird. Dann wirken die Zeilen anders: Denn nah am Tod sieht man den Tod nicht mehr und starrt hinaus, vielleicht mit großem Tierblick.58

bzw. Oder daß ein Tier, ein stummes, aufschaut, ruhig durch uns durch.59

Denn die Tiere sind nicht «nah am Tod», sie sind tötbar. Sie sind nicht stumme Zeugen, die durch den Menschen hindurchschauen, sondern sie blicken die Menschen direkt an. Und Derrida fragt sich: Warum überrascht uns diese Leugnung, diese Ausschließung oder diese Vermeidung des animot/Tierwort bei Lévinas mehr als bei anderen Denkern des «ich denke», Descartes oder Kant zum Beispiel? Weil das Prinzip des Lebens (torat haïm) ein großes und unantastbares Prinzip des Judentums bleibt (obwohl es das Tieropfer im Judentum nie verhindert hat – ein enormes Problem, das ich hier beiseite lassen muss).60

Das Antlitz, wie Derrida erklärt, scheint vom Leben entkoppelt, so wie die Skulpturen und Plastiken von den lebendigen Tieren entkoppelt sind und dennoch

57 Jacques Derrida: Das Tier, S. 165. 58 Rainer Maria Rilke: Duineser Elegien, S. 35. 59 Ebda. 60 Jacques Derrida: Das Tier, S. 166f.

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ihre Spuren in sich tragen. Jenseits oder vielmehr diesseits des heiligen Lebens, der Heiligkeit des Lebens, das unmittelbar mit dem Begriff ‹Opfer› verwoben ist, erscheint eine Tötbarkeit: «Im Zentrum all dieser Schwierigkeiten gibt es stets das Ungedachte eines Denkens des Lebens (genau damit, mit der Frage des Lebens und der ‹lebendigen Gegenwart›, [. . .])».61 Anstatt der Heiligkeit des Lebens wäre es somit seine Tötbarkeit, die als ethische Grundlage der animalischen Antlitze das Andere des Menschen fundiert.62

7 Signifikant ohne Signifikat Doch der Blick scheint, wie in Rilkes Elegie, stets hindurchzugehen, unbeachtet zu bleiben, jedenfalls bloß zitiert als Referenz der Ausnahmesituation ‹Mensch›. Was ist im tierlichen Antlitz zu lesen? Das, was in den Gesichtern von Menschen ohnehin zu lesen wäre? Ähnlich wie bei Levinas so findet sich auch bei Kassner ein Problem, das mit Lesbarkeit zusammenhängt: Ich nenne das Tier physiognomisch eindeutig, muss aber bemerken, dass Eindeutigkeit nicht so viel bedeutet wie Durchsichtigkeit, denn hinter der physiognomischen Eindeutigkeit des Tiergesichts steckt des Tieres große und ergreifende Undurchsichtigkeit, welche sich nicht auf das Individuum, sondern auf die Gattung bezieht.63

Das Tier ist eindeutig und gleichzeitig undurchsichtig, weil sich alles stets ausschließlich um den Menschen dreht, der sieht, der blickt, nie um Tiere, die zurückblicken, oder darum, dass ein Tier als Anderes ebenbürtig zu betrachten sei. Das Antlitz der Tiere wirkt opak. Tiere avancieren zu, wie Levinas sagen würde, «Signifikanten ohne Signifikate»,64 wie der Hund Bobby in seiner berühmten Anekdote über seine Kriegsgefangenschaft. Levinas befindet sich in einem Kriegsgefangenenlager der Nazis und erzählt, wie ein Hund, der Hund Bobby, den Gefangenen ihre Menschlichkeit zurückgab, weil er sie als Menschen er- und anerkannte: «als Zeuge der Menschlichkeit des Menschen».65 Derrida fragt an dieser Stelle nach der Bedeutung des Wortes, des Begriffs, des Namens ‹Mensch›. Zwar soll Levinas’ Geschichte zeigen, dass die Nazis versucht haben und es tatsächlich geschafft haben, Menschen ihres Menschseins zu berauben, es ihnen absprechen, um sie zu töten. Aber ein Tier

61 62 63 64 65

Ebda., S. 164. Ebda., S. 167. Rudolf Kassner: Physiognomik, S. 138. Levinas zitiert nach Jacques Derrida: Das Tier, S. 174. Ebda., S. 173.

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wird Zeuge des Menschseins. Der Mensch verliert sein Menschsein nicht und das bezeugt sogar ein Tier. Zum zweiten Mal gilt ein Tier nicht als der Andere, besitzt kein Antlitz, nur eine Funktion.66 Levinas nennt diesen Hund den «letzten Kantianer Nazideutschlands».67 Zugleich spricht er davon, dass dieser Hund «nicht das Hirn hat, das es braucht, um die Maximen seiner Triebe zu verallgemeinern»,68 und dass er «ein Nachkomme der Hunde Ägyptens war».69 Bobby ist weder vernünftig genug, noch steht er in der Genealogie der Hunde, die wie Odysseus’ Hund, den Freund erkennen, sondern in der, die den Verbrechern angehört: War der Hund, der Odysseus bei dessen Rückkehr von der Odyssee trotz seiner Verkleidung erkannte, ein Verwandter des unseren? Aber nein! Aber nein! Dort war Ithaka, Heimat. Hier war Nirgendwo. Als letzte Kantianer Nazideutschlands, [. . .], war er ein Nachkomme der Hunde Ägyptens.70

In Levinas’ Geschichte gibt es folglich mindestens zwei Hunde. Der tatsächliche Hund und der kantianische Hund. Aus diesem Spannungsverhältnis heraus erhält der Hund, das Tier, eine Transzendenz, eine Transzendenz ohne Logos oder Ethik, die allein dazu da ist, «Zeuge der Menschlichkeit des Menschen» zu sein.71 Das Tier sieht scheinbar nichts. Es zeigt an, bezeugt oder markiert, was ihm nie zugestanden wird: die Menschlichkeit, das Subjektsein für eine Ethik, die an andere menschliche Subjekte mit Gesichtern, Antlitz und Blick gekoppelt ist. Darin taucht die opake Dialektik von Tötbarkeit und Heiligkeit des Lebens auf. Tiere werden zu «Signifikanten ohne Signifikat»,72 der doppelte Hund behält allein seine bezeichnende Aufgabe, weder seinen biologischen Körper, den Referenten, noch den Inhalt, die Menschlichkeit. Diese verschwinden für die und bei der Deixis der Humanität. In diesem Sinne scheinen Levinas’ Tiere und TierWorte zu funktionieren. Auch die Tierskulpturen könnten als Signifikanten ohne Signifikat erscheinen. Was zeigt sich im Gesicht der Tierskulpturen? Der Ausdruck des Künstlers, das menschliche Genie, oder das wie auch immer gestaltete Wesen des Tiers?

66 Vgl. ebda., S. 159. 67 Emmanuel Levinas: Nom d’un chien oder das Naturrecht. In: Roland Borgards/Esther Köhring/Alexander Kling (Hg.): Texte zur Tiertheorie. Stuttgart: Reclam 2015, S. 133. 68 Ebda. 69 Ebda. 70 Ebda. 71 Jacques Derrida: Das Tier, S. 173. 72 Ebda., S. 174.

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8 Das TierWort ‹Schlange› Schon in Levinas’ erster Antwort kam ein Tier vor, eine Schlange. Levinas wählt diese, wie Derrida erklärt, nicht ohne Grund, denn sie ist Repräsentant des Bösen, ein Zeichen für die Versuchung und dieser kann man schwer ein Antlitz zuschreiben.73 Die Schlange erfüllt als Tier wieder nur eine bezeichnende Aufgabe, ist Metapher, Symbol und Medium des Bösen. Auch bei Kassner gibt es eine Schlange. Diese allerdings verhandelt als Schlange und aufgrund ihrer Physiognomie, «das Tier aller Tiere oder den Inbegriff alles Tierhaften, weil die Bewegung ihres Körpers wie keine andere die Idee des Rhythmus zum Ausdruck bringt».74 Die Schlange wird zum UniversalZeichen der Tiere und der Physiognomie der Moderne. Wenn die Schlange kein Symbol ist, sondern ein Antlitz hätte, dann würden dies alle Tiere haben, weil sich aus ihr alle anderen ableiten ließen. Wieder ist es die Schlange, die den Menschen in Gefahr bringt, nicht den tatsächlichen, biologischen Menschen, sondern das menschliche Subjekt des ‹Ich denke›, des cogito, das Mensch und Tier unterscheidet und nur dank und aufgrund dieser Unterscheidung existiert. Dabei ist diese Schlange auch ein TierWort/animot, nicht tatsächlich vorhanden, nur im mündlichen Gespräch geäußert (Levinas) und niedergeschrieben (Kassner). Und doch schlängelt es sich schon lange durch die Diskurse und konstituiert diese: eben ein Signifikant ohne Signifikat, das plötzlich den Blick umkehrt, die Unterscheidung zu nivellieren scheint – so in Disneys Dschungelbuch. Im Zeichentrickfilm versucht die Schlange Kaa, den Menschenjungen Mogli zu hypnotisieren. In konzentrischen schwarz-weißen Kreisen pulsierend starren ihre Augen Mogli an, während sie ihm zuflüstert. Hier, in Disneys Film, wird die Schlange wieder zum Symbol des Bösen, wenn ihr Körper, ihre Stimme und ihre Augen eine eigene Sprache, eine eigene Medialität und Materialität aufweisen. Disneys Schlange spielt dank ihrer Physiognomie mit der Tötbarkeit des Menschen. Sie kann töten, ihr Blick macht Mogli tötbar. Dabei handelt es sich aber wieder um das Problem der anthropologischen Differenz, die sich hier nochmals körperlich in Nähe und Distanz und vor allem in einer «mise en tension»75 äußert. Nähe und Distanz spielen in der Fotografie, der Physiognomie, der Tierbildhauerei und der Philosophie eine entscheidende Rolle.

73 Ebda., S. 163. 74 Rudolf Kassner: Physiognomik, S. 114. 75 François Jullien: Nah bei ihr. Opake Gegenwart, vertraute Präsenz. Herausgegeben von Peter Engelmann. Übersetzt von Christian Leitner. Wien: Passagen 2018, S. 77.

Im Antlitz der Tiere lesen

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Denn das Antlitz der Tiere kann nicht über den Unterschied, die anthropologische Differenz, verstanden werden, sondern nur über einen «Abstand»,76 der Mensch und Tier «in ein Spannungsverhältnis» setzt.77 Tierskulpturen, Fotografien und Filme – jede mediale und materielle Vermittlung der Physiognomie eines Tieres – zeigen zugleich die Tötbarkeit und viele Antlitze, die nicht nur auf ein zoologisches Wissen verweisen, nicht nur ein Exemplar einer Gattung oder Art repräsentieren. Sie können ein Antlitz zeigen, das uns anblickt, in dessen Gesicht die einzigartige Geschichte des Körpers und des Leidens zu lesen ist. Ein solches Tier, das den Platz des Anderen in einer Ethik einnimmt und gleichzeitig das Schweigen einer Zoobiopolitik, die Gewalt, die Tiere zum Verstummen bringt, bezeichnet, verbindet Ästhetik und Ethik mittels eines «Dazwischen».78 Das Antlitz eines Tieres macht lesbar, was Mensch und Tier gemeinsam (nicht ähnlich) erleiden und erdulden: Ausbeutung, Schmerz und Tod, aber auch das Leben. Allerdings werden die Antlitze der Tiere nur in der «Achtung», im «Achtung erweisen», sichtbar,79 dann, wenn sie nicht durch die anthropologische Differenz, sondern durch den animalischen Abstand gewonnen werden. Kaas Blick ist nicht der Blick des Offenen, die Öffnung,80 die Rilke besingt, sondern verstellt den menschlichen Blick, die Anschauung, hält sogar fest, hypnotisiert, nur um den Abstand einzufordern, der erst ein Antlitz der Tiere erkennen lässt.

Bibliographie Agamben, Giorgio: Homo Sacer. Die Souveränität der Macht und das nackte Leben. Übersetzt von Hubert Thüring. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2002. Agamben, Giorgio: Das Offene. Der Mensch und das Tier. Übersetzt von Davide Giuriato. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003. Artinger, Kai: Von der Tierbude zum Turm der blauen Pferde. Die künstlerische Wahrnehmung der wilden Tiere im Zeitalter der zoologischen Gärten. Berlin: Reimer 1995. Borgards, Roland/Köhring, Esther/Kling, Alexander (Hg.): Texte zur Tiertheorie. Stuttgart: Reclam 2015. Borgards, Roland (Hg.): Tiere. Ein kulturwissenschaftliches Handbuch. Stuttgart: Metzler 2016. Darwin, Charles: Gesammelte Werke. Bd. 7. Übersetzt von Julius Victor Carus. Stuttgart: Schweizerbart’sche Verlagshandlung 1877.

76 Ebda., S. 80. 77 Ebda., S. 81. 78 Ebda. 79 Ebda., S. 98. 80 Vgl. ebda., S. 99.

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Derrida, Jacques: Aporien. Sterben – Auf die ‹Grenzen der Wahrheit› gefasst sein. Übersetzt von Michael Wetzel. München: Fink 1998. Derrida, Jacques: Das Tier, das ich also bin. Übersetzt von Markus Sedlaczek. Wien: Passagen 2010. Haraway, Donna: When Species meet. Minneapolis/London: University of Minnesota Press 2008. Heidegger, Martin: Wozu Dichter? In: Gesamtausgabe, 1. Abteilung: Veröffentlichte Schriften 1914–1970, Bd. 5: Holzwege. Frankfurt a. M.: Klostermann 1977. Jullien, François: Es gibt keine kulturelle Identität. Übersetzt von Erwin Landrichter. Berlin: Suhrkamp 2017. Jullien, François: Nah bei ihr. Opake Gegenwart, vertraute Präsenz. Herausgegeben von Peter Engelmann. Übersetzt von Christian Leitner. Wien: Passagen 2018. Kassner, Rudolf: Physiognomik. Wiesbaden: Verlag 1951. Köhler, Wolfgang: Intelligenzprüfungen an Menschenaffen. Berlin/New York/Heidelberg: Springer 1973 [1917]. Lange-Berndt, Petra: Animal Art. Präparierte Tiere in der Kunst 1850–2000. München: Schreiber 2009. Levinas, Emmanuel: Nom d’un chien oder das Naturrecht. In: Roland Borgards/Esther Köhring/Alexander Kling (Hg.): Texte zur Tiertheorie. Stuttgart: Reclam 2015, S. 129–135. Llewelyn, John: The Middle Voice of Ecological Conscience. A Chiasmic Reading of Responsibility in the Neighborhood of Levinas, Heidegger and Others. Basingstoke: Palgrave Macmillan 1991. Lorenz, Konrad: Der Kumpan in der Umwelt des Vogels. Der Artgenosse als auslösendes Moment sozialer Verhaltensweisen. In: Journal für Ornithologie 83 (1935), S. 137–213, 289–413. Marc, Franz: Briefe, Schriften, Aufzeichnungen. Leipzig: Kiepenheuer 1989. Mbembe, Achille: Kritik der schwarzen Vernunft. Übersetzt von Michael Bischoff. Berlin: Suhrkamp 2014. McHugh, Susan: Animal Farm’s Lessons for Literary (and) Animal Studies. In: Humanimalia. A journal of human/animal interface studies 1.1 (2009), S. 24–39. Muybridge, Eadweard: Animals in Motion. New York: Dover 1957 [1899]. Person, Jutta: Der pathographische Blick. Physiognomik, Atavismustheorien und Kulturkritik 1870–1930. Würzburg: Könighausen & Neumann 2006. Rilke, Rainer Maria: Duineser Elegien. Stuttgart: Reclam 2007 [1923]. Schillings, Carl Georg: Mit Blitzlicht und Büchse. Leipzig: Voigtländer 1905. Schmidt, Hugo (Hg.): Fritz Behn als Tierplastiker. München: Schmidt 1922. Schneider, Manfred: Intertextuelles Bestiarium. Rilkes Tiere. In: Adrian Stevens/Fred Wagner (Hg.): Rilke und die Moderne. München: Iudicum 2000, S. 25–37. Venezia, Simona: Die unerwartete Nähe der Ferne. Zum Verhältnis zwischen Heidegger und Rilke. In: Alfred Denker/Holger Zaborowski/Jens Zimmermann (Hg.): Heidegger und die Dichtung. Heidegger Jahrbuch 8. Freiburg/München: Karl Alber 2014, S. 146–149. Voss, Julia: Darwins Bilder. Ansichten der Evolutionstheorie 1837–1874. Berlin: Fischer 2007. Wild, Markus: Tierphilosophie. Zur Einführung. Hamburg: Junius 2013.

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Jacob Burckhardt: Physiognomiker der Dingwelt 1 Einleitung «Dem Sammler ist in jedem seiner Gegenstände die Welt präsent und zwar geordnet. [. . .] Man hat nur einen Sammler zu verfolgen, der die Gegenstände seiner Vitrine handhabt. Kaum hält er sie in Händen, so scheint er inspiriert durch sie, scheint wie ein Magier durch sie hindurch in ihre Ferne zu schauen».1 Diese Überlegung, die Walter Benjamin in seinem Passagen-Werk anstellt, gilt als Hilfestellung, um grundlegende Elemente der historiografischen Methode Jacob Burckhardts und seiner Beziehung zu den historischen Quellen, zu erhellen. Ähnlich dem Sammler Walter Benjamins gleicht seine Vorgehensweise bei der Auslegung kulturhistorischer Epochen zu jeder Gelegenheit und unabhängig davon, ob sie der antiken oder modernen Welt angehören, der eines «Physiognomikers der Dingwelt».2 Physiognomiker ist Burckhardt insofern, als er in den Formen der Geschichte – d.h. in der historischen Entwicklung von Gesellschaftsleben, Staat, aber auch Kunstsprachen und Bauwerken – das eigentliche Ereignis ihrer Verhandlung (im Sinne ihres Besitzes und Erwerbs) ähnlich wie bei einem Negativbild herauszulesen weiß. Die geschichtsträchtigen Dinge, die von dem Sammler Burckhardt auserwählt wurden, sind also in der Lage, die

1 Walter Benjamin: Das Passagen-Werk. In: Gesammelte Schriften. Bd. 5.1. Herausgegeben von Rolf Tiedemann. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1982, S. 274–275. Der Rolle des Sammlers Walter Benjamin als Schlüsselfigur für die Interpretation der Geschichtsschreibung Jacob Burckhardts habe ich bereits aus einem anderen Blickwinkel heraus einen Aufsatz gewidmet, auf den hier verwiesen werden soll: Burckhardts Italienbild als Urzelle seiner historischen Darstellung. In: Giulia Cantarutti/Hans Schumacher (Hg.): Germania – Romania. Studien zur Begegnung der deutschen und romanischen Kultur. Frankfurt a. M. u.a.: Peter Lang 1990, S. 73–100. Im Zentrum dieser Untersuchung stand die konstitutive Rolle der historischen Sichtweise des schweizerischen Denkers, die sich mit den ersten Erfahrungen in Italien (1839) entwickelte. Eine Erwähnung von Benjamins Sammler in Bezug auf Burckhardt findet sich zudem in einer Studie Heinz Schlaffers: Jacob Burckhardt oder das Asyl der Kulturgeschichte. In: Hannelore Schlaffer/ders. (Hg.): Studien zum ästhetischen Historismus. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1975, S. 72–111. Schlaffer orientiert sich hier an der Problematik, inwiefern «sich historische und ästhetische Fragenstellungen [. . .] am Ursprung des historischen Bewußtseins» durchdringen. Ebda., S. 8. 2 Walter Benjamin: Das Passagen-Werk, S. 274. https://doi.org/10.1515/9783110665055-007

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Welt aus der Sicht eines Menschen einer bestimmten Epoche wieder zu vergegenwärtigen. Um schließlich die Burckhardt’schen Termini zu verwenden, ließe sich also sagen, dass jedes dieser ‹Dinge› in präziser, charakteristischer und unverwechselbarer Weise zeigt, wie oder was die Menschheit einer Epoche, «war, wollte, dachte, schaute und vermochte».3 Doch worum handelt es sich nun genau bei diesen ‹Dingen›, die Burckhardt so akribisch sammelte? Sie konstituieren sich aus den Formen, die sich aus einer bestimmten, produktiven Phase der Menschheitsgeschichte, welche in «Wort und Schrift» ihre genuinen Eigenschaften und Werte ausdrückte, herauskristallisiert bzw. -geformt haben.4 Zu den Formen jenes Lebens zählen die Konfigurationen des Vergesellschaftungsprozesses, der Kunst und des «bewegte[n] Lebens» sowie die Feste. In diesem Sinne stellen die Werke der Literatur ebenso wie die des künstlerischen Schaffens für Burckhardt Quellen von größter Bedeutung dar und sind unabdingbar für seine Betrachtungsweise kulturhistorischer Sachverhalte. Sie repräsentieren die Welt der Imagination, des Ersehnten und damit also erneut des Sehens, welches die wirksamen ‹Kräfte› in einer Epoche der Zivilisation, in ihrer mal konstruktiven, mal destruktiven Valenz lenkte und somit wieder ins Licht rücken. Für Burckhardt haben jedoch insbesondere literarische Werke sowie die unterschiedlichen Formen des menschlichen Schaffens den Vorteil, dass sie in der Lange sind, den «color temporum»5 wiederherzustellen – ein Kolorit, das eine gewisse Ähnlichkeit mit Goethes Auffassung von Farbe aufweist. Diese detaillierten, charakteristischen und signifikanten Gestalten der Geschichte sind in der Lage, die einschlägig definierte Anschauung des Histori-

3 Jacob Burckhardt: Griechische Kulturgeschichte. In: Werke. Kritische Ausgabe. Bd. 19.1. Herausgegeben von Leonhard Burckhardt/Barbara von Reibnitz/Jürgen von Ungern-Sternberg. München/Basel: Beck/Schwabe 2002, S. 363. 4 Jacob Burckhardt: Die Kultur der Renaissance in Italien. Stuttgart: Kröner 1976, S. 263. 5 Der Ausdruck «color temporum» taucht in einem von Burckhardt an Otto Markwart adressierten Brief, datiert auf den 3. Dezember 1895, auf und beinhaltet wichtige Hinweise zur Methode der Geschichtsforschung: «Für Sie», so schreibt Burckhardt, «kann ich nun nur Ihre eigene Überzeugung bestätigen: es gilt, historische Quellen aus verschiedenen Zeiten und Literaturen zu lesen, nicht nur für eigene große Arbeiten zu sammeln, sondern um den color temporum inne zu werden». Jacob Burckhardt: Briefe. Vollständige und kritisch bearbeitete Ausgabe. Bd. 10. Herausgegeben von Max Burckhardt. Basel: Schwabe 1986, S. 247. Eine ähnliche Anmerkung findet sich in einem vorherigen Brief, den Burckhardt am 25. Mai 1893 an Otto Markwart adressierte: «Ein Lehrer, welcher immer mit einigen Quellen der verschiedenen Zeiten gut Freund bleibt und sich beständig der Farben der Vergangenheit durch irgend einen raschen Anblick von Neuem versichert, wird stets im Stande sein, sich und die Schüler frisch zu erhalten und darauf kommt es an». Ebda., S. 106.

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kers anzuregen. Als «Aktionen und Passionen des Lichts»6 stellen Farben für Goethe die Objekte in ihrer unmittelbar bedeutenden Präsenz, aber auch in einer Weise dar, die ihre individuelle Geschichte, also das eigentliche Ereignis ihres Wirkens und Widerstrebens sowie ihres Tuns und Leidens visualisieren.7 Das Gesetz, das den Produktionsprozess dieser Objekte leitet, lässt sich an der Oberfläche jener Farbformen erkennen, die diese Phänomene erzeugt haben. In diesem Sinne ist die Farbe der Zeit, von der Burckhardt spricht, das Antlitz oder das Bildnis des Objekts selbst bzw. des Phänomens. Im letzten Abschnitt des Vorworts zur Farbenlehre verdeutlicht Goethe die morphologische und individualisierende Bedeutung der Farbe: Denn eigentlich unternehmen wir umsonst, das Wesen eines Dinges auszudrücken. Wirkungen werden wir gewahr, und eine vollständige Geschichte dieser Wirkungen umfaßte wohl allenfalls das Wesen jenes Dinges. Vergebens bemühen wir uns, den Charakter eines Menschen zu schildern; man stelle dagegen seine Handlungen, seine Taten zusammen, und ein Bild des Charakters wird uns entgegentreten.8

Angewandt auf das Burckhardt’sche Konzept des «color temporum» erklärt dieser Hinweis Goethes die für den schweizerischen Denker bestehende Verbindung zwischen «äußerer Geschichte»9 und dem Akt des Betrachtens, welche sich – ausgehend von einer Auseinandersetzung mit den Konfigurationen des historischen Lebens – in ihren für Vergangenes typischen Stärken und Schwächen auf und ab bewegt: in den Formen und der Farbe, aus denen sie bestehen. 6 Johann Wolfgang Goethe: Zur Farbenlehre. In: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Bd. 23.1. Herausgegeben von Manfred Wenzel. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verband 1991, S. 12. 7 Ebda., S. 13. 8 Ebda., S. 12. 9 Der Ausdruck «äußere Geschichte» stammt aus Burckhardts frühem Brief vom 16. März 1840 an Friedrich von Tschudi. Darin erklärt der schweizerische Denker die Gründe, die ihn zum Geschichtsstudium bewegt haben. In den genannten Motivationen scheint noch seine vorherige Entscheidung für das Studium der Theologie durch. Diese Sensibilität für die Religion sollte noch lange eine orientierende Rolle in Burckhardts Beziehung zu Formen spielen. «Meine Poesie», so ist in Burckhardts Brief zu lesen, «der du schöne Zeiten weissagst, schwebt in Gefahr, den Abschied zu erhalten, seit ich die höchste Poesie in der Geschichte finde. Es gab eine Zeit, wo ich das Spiel der Phantasie als das höchste Erforderniß der Poesie betrachtete; seit ich aber die Entwicklung geistiger, oder überhaupt innerer Zustände noch höher stellen muß, finde ich meine Befriedigung schon in der Geschichte, die uns diese Entwicklung in zweierlei parallel laufend und sich immerfort durchzweigend ja identischer Phasen aufweist, ich meine die Entwicklung des Einzelnen und die Entwicklung des Ganzen; – rechne ich noch die brillante äußere Geschichte hinzu als das glänzendbunte Kleid der eigentlichen Weltlenkung, so komme ich auf den alten, oft nicht verstandenen Satz: daß unser Herrgott der größte Dichter sei». Jacob Burckhardt: Briefe, Bd. 1, S. 145.

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Begründet wird die Ordnung von Burckhardts Sammlung, in der er das mannigfaltige, durch jene ‹Dinge› und ‹Taten› bestimmte Universum zusammenführt, durch das kulturhistorische Bild, das den Kernpunkt seiner historiografischen Methode bildet.

2 Burckhardts ‹Bild› Mit der Entwicklung des Bildes als Darstellungsform historischer Ereignisse beschäftigt sich Burckhardt 1842 in einer Reihe von Briefen. In diesen wird das ‹Bild› als Konstrukt oder Wiederverarbeitung ex post der Primärquellen angesehen, die aus der anschaulichen Auseinandersetzung des Historikers mit diesen Quellen resultiert: «Was ich historisch aufbaue, ist nicht Resultat der Critik und Speculation, sondern der Phantasie, welche die Lücke der Anschauung ausfüllen will»,10 heißt es in Burckhardts auf den 14. Juni 1842 datierten Brief, in dem er das ‹Bild› als unmittelbarste, seiner Natur am nächsten kommenden Möglichkeit einer Darstellung herausstellt. Ihm zufolge entwickelt sich die Darstellung ‹von unten›, d.h. von der ‹äußeren Geschichte› heraus, sie geht also von ‹sinnlichen Manifestationen› aus. In einem weiteren Abschnitt desselben Briefes heißt es dann: «Ich habe mein Lebenlang noch nie philosophisch gedacht, und überhaupt noch keinen einzigen Gedanken gehabt, der sich nicht an ein Aeußeres angeschlossen hätte».11 Um die Darstellung ebenjener «Correlate»12 des Geistes, dessen Leben in der ‹sichtbaren› Geschichte eingeprägt ist, dreht sich das Doppelregister von Burckhardts historiografischem Bild, sprich einerseits um das Bild, das den Geist im Prozess seiner «Verpuppung»13 darstellt, andererseits um jenes, das ihm zufolge die Vermittlung historischer Erkenntnisse ermöglicht. «Meine historische Darstellung», so heißt es weiter in dem erwähnten Brief, «kann vielleicht mit der Zeit lesbar, ja angenehm

10 Ebda., S. 204. Unter den zahlreichen Studien, die sich mit der zentralen und spezifischen Rolle von Burckhardts Anschauung des historischen Quellenmaterials beschäftigen, sind vor allem die wichtigen Überlegungen John R. Hindes hervorzuheben: John R. Hinde: Jacob Burckhardt and the Crisis of Modernity. Montreal/London/Ithaca: McGrill-Queen’s University Press 2000, bes. S. 201. Ebenso sei auf die kühnen Betrachtungen Andrea Pinottis verwiesen, denen in aller Gänze zuzustimmen ist: Andrea Pinotti: Quadro e tipo. L’estetico in Burckhardt. Mailand: Il Castoro 2004, bes. S. 169–199. 11 Jacob Burckhardt: Briefe, Bd. 1, S. 204. 12 Ebda., S. 207. 13 Ebda., S. 208.

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werden, aber wo nicht ein Bild aus meinem Innern auf das Papier zu bringen sein wird, muß sie insolvent dastehen».14 Doch wie muss ein solches ‹Bild› gestaltet sein, um Geschichte zu vermitteln? In einem weiteren Brief vom 21. März 1842 führt Burckhardt seine Methode eingehender aus und definiert den «Hintergrund» als wichtigstes Element seines Vorgehens: «[U]nd ihn [den Hintergrund] bildet die Culturgeschichte, der ich auch hauptsächlich meine Kräfte widmen will. Selbst in meiner stümperhaften Zeichnerei geht mir’s ganz ähnlich; ich sudle Ansichten und Landschaften, selten Figuren».15 Das ‹Bild› hat demnach seine unmittelbare Entsprechung in der Landschaftsmalerei. Dank seiner panoramaähnlichen Ordnung vereint es die vielfältigen Phänomene der «äußere[n] Geschichte» zu einer koordinierten, visuellen Einheit, die jene erstarrten Lebensformen und Details als Figuren vor einem sich weiter entfernenden Hintergrund erscheinen lässt. Eine besondere Gattung ist die der Burckhardt’schen kulturgeschichtlichen Bilder. Bei genauerem Hinsehen lädt nämlich die visuelle Ordnung des Bildes den Betrachter oder Leser dazu ein, die historische Zeit räumlich zu durchlaufen und sich in dieser zurechtzufinden, als würde er einen eigenen Raum betreten. Burckhardts Bild liegt damit eine immersive, in bestimmten Aspekten geradezu architektonische Dimension zugrunde, die in vielerlei Hinsicht die Medienkultur seiner Zeit aktualisiert. Wie in einem Pano- oder Diorama durchwandert der Leser bzw. Betrachter die Geschichte und deren erstarrte Lebensformen, als könne er sie mit eigenen Augen sehen und erfahren.16 Die in der «Kunst der Geschichtsschreibung»17 entwickelten Auseinandersetzungen Burckhardts

14 Ebda., S. 204. 15 Ebda., S. 196. 16 In Bezug auf die ambivalente Auseinandersetzung mit der Medienkultur seiner Epoche, die Jacob Burckhardt angestoßen hat, ist die Studie von Kathrin Maurer, in der die Autorin die Rolle der visual culture im deutschen Historismus seit Leopold von Ranke untersucht, von Bedeutung: «In my book I do not intend to once again debate the issue of fictionality of historical discourses of nineteenth century German. [. . .] It is time to shift the attention to the realm of visual culture and to analyse the role of images (photographs, panoramas, and maps), textimage relationships, as well as the ‘culture of seeing’». Kathrin Maurer: Visualizing the Past. The Power of the Image in German Historicism. Berlin: De Gruyter 2013, S. 18. Zur Verbindung, die Burckhardt zur Fotografie herstellte, vgl. Nikolaus Meier: Der Mann mit der Mappe. Jacob Burckhardt und die Reproduktionsphotographie. In: Maurizio Ghelardi/Max Seidel (Hg.): Jacob Burckhardt. Storia della cultura, storia dell’arte. Venedig: Marsilio 2002, S. 259–297. Burckhardts Interesse am fotografischen Bild entwickelt sich jedoch erst in seiner späten Schaffensphase zu einem signifikanten Element. Eine zu starke Konzentration auf diesen Aspekt würde seiner vielfältigen Konfrontation mit der Medienkultur und den Sinneswandlungen seiner Zeit nicht gerecht werden. 17 Jacob Burckhardt: Briefe, Bd. 1, S. 197.

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mit dem Erwartungshorizont seiner Epoche sowie sein kritischer Umgang mit den tiefgreifenden Transformationen der Wahrnehmung und die beschleunigte Erfahrung durch seine den Prozess der Vergesellschaftung durchlaufenden Zeitgenossen kommen hier in vollkommener Weise zum Ausdruck. In diesem Zusammenhang liefert ein Brief Burckhardts vom 2. Oktober 1842 wichtige Anknüpfungspunkte: «Einen Fortschritt hat die Zeit wohl gemacht. Für die Geschichte beginnt sich die Kluft zwischen Wissenschaft und Leben langsam zu füllen».18 Die Geschichte lenkt die Aufmerksamkeit der einzelnen Individuen. Dies birgt jedoch auch ein Risiko, nämlich jenes einer fortwährenden Aktualisierung des Erwartungshorizontes, der sich den ‹Tendenzen› der Epoche anpasst. Doch nicht nur das. Die Distanz zum Leben, welche die Geschichte als Fachwissenschaft geschaffen hat, wurde nach und nach vom ‹novellistischen Jahrzehnt› Walter Scotts überbrückt, das die unmittelbaren Bedürfnisse des Publikums mit den ‹pikanten› und ‹novellistischen› Aspekten der Geschichte – jeden Bezug zu historischen Zeugnissen und Quellen ausklammernd – gelenkt und so Letzteres gefesselt hat. Ausgehend von diesem Prozess als offenem Ausgangspunkt stellte sich die Wissenschaft erneut der Aufgabe der Geschichtsschreibung, welche sich primär um «kulturgeschichtliche»19 Aspekte drehte.

18 Ebda., S. 217. 19 Ebda., S. 216. Die Beziehung, welche der Historiker mit dem durch das Publikum gesetzten Erwartungshorizont eingehen muss, thematisiert Burckhardt im Verlauf seiner 1842 verfassten Briefe mehrfach. In dem am 21. März 1842 an Gottfried Kinkel versendeten Brief berichtet Burckhardt seinem Freund von einer «Reihe von historischen Unternehmungen», die sein «Gemüth» beschäftigen und die in einem «lesbaren Styl» beschrieben werden müssten. «Es ist der Schande werth», so Burckhardt, «daß die Werke der meisten deutschen Historiker nur von Gelehrten gelesen werden [. . .]. Man spricht immer von einer Kunst der Geschichtsschreibung, und manche glauben genug gethan zu haben, wenn sie an die Stelle der Schlosser’schen Labyrinthperioden eine spröde Nebeneinanderstellung der facta setzen. Nein, ihr guten Leute, es handelt sich jetzt um Sichtung der facta, um Ausscheidung dessen was den Menschen interessieren kann; thut ihr darin was großes, so wird Euch auch der Büchermensch danken müssen». Ebda., S. 197. Die Frage nach dem Erwartungshorizont des Publikums findet sich erneut in einem bedeutsamen Brief, den Burckhardt am 2. Oktober 1842 an Heinrich Schreiber richtet. Dort wird die Absicht, die Geschichte dem Publikum näher zu bringen, als Berichtigung von und als Gegensatz zur eigentlichen Nachfrage des Publikums zum Ausdruck gebracht. Wenn einerseits, so das Urteil Burckhardts, das Aufgreifen des öffentlichen Interesses an der Geschichte nötig werde, so ist auch eine Art Widerstand gegen ein solches ‹kurzfristige›, sich den Bedürfnissen der Gegenwart angepasste Interesse unentbehrlich. Hier setzt die Kritik an, die Burckhardt im Verlauf seines Briefes an der «Einseitigkeit der Gegenwart» übt, welche «nur eine Tendenz-Geschichte», eine «Tendenz-Poesie» und eine «Tendenz-Kunst» fordere. Ebda., S. 217.

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3 Bild und Physiognomik des Großstadtlebens Die dichteste und direkteste Auseinandersetzung Burckhardts mit dem ihm zeitgenössischen Erwartungshorizont fand im Sommer 1843 in Paris statt. Über diese Erfahrung berichtet Burckhardt nicht allein in einigen Briefen aus derselben Zeit, sondern auch in zwei Artikeln für das Feuilleton der Kölnischen Zeitung. Diese beiden Artikel – Die französische Literatur und das Geld und Die königliche Bibliothek in Paris – lassen sich als echte physiognomische Bilder zeitgenössischen Lebens auffassen. Im ersten Artikel konzentriert sich Burckhardt auf die Beziehung von Geld und Geistesleben. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist in erster Linie nicht die wachsende und unmittelbare Bedeutung, die Geld in der Moderne zukommt oder dessen belanglose zeitliche Dimension. Vielmehr ist es das Verhältnis des erfolgreichen Kulturmenschen zum Geld sowie die Implikationen, die dies in Bezug auf die Imagination und den Affekt aufweist, was für Burckhardt von Relevanz ist. Denn der Großstadtmensch «liebt» das Geld und er liebt es, das Geld «auf[zu]brauchen». Der «Kredit des Schriftstellernamens» und des Künstlers dienen nicht allein als Basis «kaufmännischer Negociationen» und damit als Mittel zum Zweck, sondern «um Schulden machen zu können, wenn die Einkünfte zum Luxus nicht ausreichen».20 Der Mechanismus bzw. die Modalität des Verhältnisses, welches das Zusammenspiel von Affekt und Geld reguliert, transformiert Letzteres in eine Art Souverän der Großstadt, was eine Nivellierung etlicher Geistesbereiche zur Folge hat. Tiefe, Distanzen und Differentiationsebenen werden zugunsten dieser bedingungslosen Herrschaft negiert. Geld wird Burckhardt zufolge also zum Pulsschlag und Bewegungsgesetz der Zeit in der Pariser Metropole. Dabei ist die Zeit nicht bloß ein Beschleunigungsfaktor, der die sofortige Anerkennung von Erfolg mit all seinen Auswirkungen, die dieser Prozess auf der Ebene der menschlichen Kräfte – die des Verlangens, der Vorstellung und der Schöpfung – mit sich bringt. Das Geld als Bewegungsgesetz der Zeit bedeutet auch, dass es in seiner absoluten Souveränität bis zum Kern der Sprache und damit seiner Struktur durchdringt. Diese Interaktion zwischen Geld und Sprache ist in Bezug auf den Menschen und seine Fähigkeiten, mit – um den Begriff Herders zu verwenden, den Burckhardt zu aktualisieren scheint – ‹Besonnenheit› zu handeln, ausschlaggebend.21

20 Jacob Burckhardt: Die französische Literatur und das Geld. In: Werke. Bd. 9 (Kleine Schriften III). Herausgegeben von Elisabeth Oeggerli/Marc Sieber/Katia von Arx. München/Basel: Beck/Schwabe 2008, S. 377. 21 In Bezug auf die Spuren dieser Sichtweise Herders vgl. Maurizio Ghelardi: Le stanchezze della modernità. Una biografia intellettuale di Jacob Burckhardt. Rom: Edizioni di Storia e Letteratura 2016, S. 209–213.

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Diese Sichtweise im Hinterkopf behaltend muss die Bemerkung des jungen Historikers über den Stil und die «sonderbare Art von Satzbildung und Interpunction», mit der Eugène Sue seinen Fortsetzungsroman Les Mystères de Paris im Feuilleton des Journal des débats politiques et littéraires verfasste, gelesen werden: «Alle paar Worte folgt eine Reihe von Puncten, alle drei Zeilen ein Absatz, so daß der Styl ganz kleingehackt dem Leser unter die Augen kommt. Da nach der Zeilenzahl honorirt wird, so macht das immer schon ein paar Procente aus».22 Burckhardts Irritation ist nicht zuletzt der Tatsache geschuldet, dass diese ‹Geldsprache› niederträchtig mimetischer Art ist, welche das fragmentarische und hektische Leben in der zentralisierenden Hauptstadt Paris widerspiegelt, deren analogon die Beschaffenheit der Stadt, die unruhige urbane Architektur – die Existenzbedingung des zeitgenössischen Menschen – bildet. Diese «Zerstreuung», «Aufregung» und gesteigerte Empfindsamkeit sind erneut Gegenstand eines Briefes vom August 1843 – und kurz vor der Veröffentlichung von Die französische Literatur und das Geld –, den Burckhardt an Johanna Kinkel adressierte: [Ich habe] jetzt die Erfahrung gemacht, daß man auch beim emsigsten Arbeiten nicht so vom poetischen Producieren abkömmt wie bei dieser heillosen Zerstreuung, deren Inbegriff man Paris nennt. [. . .] Man muß hier in einer und derselben Stunde einem Possenreißer und Wahrsager zusehen, die Asphaltpflasterung betrachten, 100 Laden aller Art angucken, 10 Journale durchfliegen, ein paar Gebäude betrachten und einen Gang im Louvre machen können, und zwar Alles mit Andacht.23

Das, was Burckhardt in dieser Schrift am Rande der Physiognomik der Metropole gelingt, ist in gewisser Hinsicht eine ‹unzeitgemäße› Beschreibung eines sich vollziehenden Substitutions- und Verlagerungsprozesses der Orientierungswerte des «duldenden, strebenden und handelnden»24 Menschen des Großstadtlebens oder aber der Übergangsebene von Glück zu Freiheit und Wohlbefinden. Damit vertritt er eine exzentrische Ansicht, die im direkten Gegensatz zur Jetztzeit steht. Die Krise des Glücks, die sich im frühen 19. Jahrhundert zugunsten der Freiheit vollzieht, wird hier zu einer Stafette von Werten oder zu einem Umschlagplatz für Freiheit und Wohlbefinden. Der Burckhardt’sche allmähliche Argwohn gegenüber dem progressiven Vertrauen in den Fortschritt der Geschichte spielt mit in diese Konstellation hinein: «Ich glaube, es kann nicht mehr sehr lange dauern

22 Jacob Burckhardt: Die französische Literatur und das Geld, Bd. 1, S. 378. 23 Jacob Burckhardt: Briefe, Bd. 2, S. 41. Der Brief ist auf den 23. August 1843 datiert. 24 Jacob Burckhardt: Über das Studium der Geschichte. Herausgegeben von Peter Ganz. München: Beck 1982, S. 226.

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bis zu einer neuen Explosion».25 Der Einschlagpunkt einer solchen Explosion wird in einem weiteren physiognomischen Bild beschrieben, das Burckhardt in seinem Aufsatz Die königliche Bibliothek in Paris im Feuilleton der Kölnischen Zeitung veröffentlicht. Als Wallfahrtsort des «stillen Arbeitens»26 der Menschen, die die königliche Bibliothek zum Lesen und Studieren aufsuchen, erscheint Letztere in den Augen Burckhardts als architektonische Zwischenzone zwischen der Ewigkeit und der Gegenwart: «Es ist einer der merkwürdigen Contraste dieser an Gegensätzen so überreichen Stadt, daß dieses Heiligthum der stillen Arbeit zwischen die leichtsinnigsten, lebhaftesten Straßen eingeklemmt ist».27 Als Depot ewiger Werte ist die königliche Bibliothek – eingepfercht in das laute Leben der Metropole – ein stummes Zeichen der Transformationen, die die durch ein Versäumnis der Vergangenheit charakterisierten Entwicklungen der zeitgenössischen Kultur gekennzeichnet sind. In einem zeitgleich zum Artikel über die königliche Bibliothek verfassten Brief schreibt Burckhardt: «Über der Stadt schwebt im Ganzen vielmehr eine bange Sorge für die Zukunft als eine Erinnerung des Vergangenen, obwohl der speziellen Denkmäler eine Legion ist».28 An eben jener Stelle kommt das zum Vorschein, was mit den reifen Worten Burckhardts als die Welt des Sehens, des Ersehnens und der «lebendigen Kräfte»29 beschrieben wird, welche ihre Gestalt durch die Menschen annehmen, die augenblicklich «dulden, streben, handeln».30 Beispiel des zwiespältigen Großstadtlebens ist die in der königlichen Bibliothek verbrachte Lebenszeit oder der wöchentlich erscheinende Besucher, der sich dort zwischen geistigem Genuss und Amüsement, zwischen feiner Müßigkeit und zerstreutem Zeitvertreib bewegt. «Ich hörte eine junge hübsche Frau zu ihrem Gemahl sagen: Voyez vous, je m’étais figurée que c’était quelque chose comme le Diorama!».31 Die Bibliothek ist ein eigenartiger Unterhaltungsort, eine Passage, die mit ihren aufbewahrten Kuriositäten wie Teppichen, Manuskripten, Raritäten und Artefakten der Vergangenheit das Interesse ihrer gängigen Besucher, der «Flaneurs»32, aufrecht zu erhalten versteht. Das oberflächlich Interessante, also das, was die Sinne und die Aufmerksamkeit in

25 Jacob Burckhardt: Briefe, Bd. 2, S. 17. Der an Willibald Beyschlag adressierte Brief ist auf den 19. Juni 1843 datiert. 26 Ebda., S. 382. 27 Jacob Burckhardt: Die königliche Bibliothek in Paris. In: Werke, Bd. 9, S. 382. 28 Jacob Burckhardt: Briefe, Bd. 2, S. 17. 29 Jacob Burckhardt: Griechische Kulturgeschichte, S. 361. 30 Jacob Burckhardt: Über das Studium der Geschichte, S. 226. 31 Jacob Burckhardt: Die königliche Bibliothek in Paris, S. 383. 32 Ebda.

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Übereinstimmung mit dem Nervenleben aktiv hält, konstituiert eine Austauschebene zwischen Glück und Begeisterung für das Neue. Dies verbindet sich in der 1843 von Burckhardt entwickelten mikrologischen Physiognomie des modernen Lebens mit der von Tempo dominierten Dimension sowie mit der eng an Erfolg geknüpften dauerlosen Zeitlichkeit des Geldes, also mit der Akzeptanz des Gegebenen und des sich unmittelbar Aufdrängenden. Dabei handelt es sich um eine Existenzdimension, in der das Geld regulierendes Prinzip eines sich in ständiger Bewegung befindlichen Lebens ist. Die von Burckhardt in seinen Briefen entwickelten Denkfiguren der Militarisierung der Existenz und der Maschinenräder zur Charakterisierung der Gegenwart erhalten hier ihre Daseinsberechtigung, die wiederum Grund zur Sorge ist.33 Sie sind die zu ermittelnden Lebenskräfte, die zwischen ihren zweideutigen und wechselhaften, konstruktiven und destruktiven Komponenten hin- und herschwanken. Das bedeutende Element, das Burckhardt in seinen frühen historiografischen Forschungen ausgearbeitet hat, liegt im – von uns als aktiv definierten – Pessimismus, der seine (ästhetisch-)anthropologisch ausgelegte Kulturgeschichte antreibt. Die Frage nach dem von Burckhardt in jenen Jahren entwickelten Pessimismus ist an seine – sicherlich vom Konservatismus geprägte – Überzeugung gekuppelt, dass durch die sichtbaren Anzeichen des modernen Großstadtlebens kein Prozess des Voranschreitens, sondern eher langsam ein regressives Moment zutage tritt. Auf diese Tendenzen und plastischen Lebenskräfte, welche Burckhardt zwischen 1843 und 1845 entdeckt hatte, versuchte er mit seinem historiografischen Gegenbild zu reagieren. Um diesen Aspekt in seiner Tiefe nachvollziehen zu können, muss eine Brücke zwischen der Verfeinerung der physiognomischen Sichtweise Burckhardts auf das Großstadtleben, den Ereignissen der Jahre 1843 bis 1845, die das moderne Individuum betreffen, und den Vorlesungen zur Griechischen Kulturgeschichte geschlagen werden – eine Brücke, die infolge der Aktualität von Burckhardts Denken auch über das Nervenleben der zeitgenössischen Gesellschaft verläuft. «Freilich», so schreibt Burckhardt, «muß man nicht bereits völlig der jetzigen Literatur (die so viel unmittelbarer zu unsern Nerven spricht) verfallen sein».34 Wie bezüglich der Eigenschaften, Zielgruppe und Austragungsorte der Literatur sowie – im Allgemeinen – auch im Hinblick auf das spirituelle Schaffen der Metropole Paris deutlich wurde, verzichtet die Literatur zunehmend auf Distanz. Doch ist dieser Verzicht nicht als bloßer Verlust der Aura zu verstehen; vielmehr läuft eine Interpretation des Burckhardt’schen Konzepts der Distanz mittels dieser Termini Ge33 Diese Begriffe werden von Burckhardt in den Briefen an Friedrich von Preen vom 26. April 1872 sowie an Albert Brenner vom 17. Oktober 1855 verwendet. Jacob Burckhardt: Briefe, Bd. 5, S. 160–161; Bd. 3, S. 225. 34 Jacob Burckhardt: Griechische Kulturgeschichte, S. 367.

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fahr, einen wichtigen Aspekt seiner Theorie außer Acht zu lassen. Als auf schnellem Wege erworbenes Vergnügen lässt das Amüsement eine sensorielle und mentale Revolution zu, zumal – um den Begriff Georg Simmels zu entlehnen – die Augen «kurzsichtig» werden.35 Innerhalb seiner zeitgenössischen Gesellschaft, in der sich nach und nach allerorts das französische Lebensmodell durchsetzt, bemerkt Burckhardt einen schleichenden Prozess der Entfernung von der Vernunft sowie von der Fähigkeit zur Ausübung plastischer und produktiver Kräfte. Für Burckhardt geht es dabei um die besondere Verfasstheit des Bestrebens des Menschen, also seiner Vorstellungskraft und seines Verlangens. In diesem Zusammenhang registriert er ganz klar einen sich vollziehenden Umbruch, eine Art Paradigmenwechsel in der Organisation der Kräfte und Triebe des Menschen. Auf dieser Ebene verspürte Burckhardt mit seiner ‹Kunst der Geschichtsschreibung› die Notwendigkeit, auf die kulturellen Fragen der Erkenntnis, der Ästhetik und der Anthropologie zu antworten, um den menschlichen Sinnesorganen in ihrer kritischen Phase der Vergesellschaftung wieder einen Sinn für Distanz und Tiefe sowie einen Durch- und Überblick zu verleihen. Dementsprechend wird der Zauber, den der Historiker in den als Traummaschinen ausgelegten Dioramen und Fotografien zu erkennen vermag, mittels seiner kulturhistorischen Bilder, die aus seiner Sammlertätigkeit herrühren, auf originelle Art und Weise in einen Antriebsfaktor der Vorstellungskraft oder ein kulturelles Enzym verwandelt, um die Fähigkeit zu entwickeln, Aspekte vergangener Zeiten miteinander zu vergleichen und zu vertiefen.

35 Der Begriff «kurzsichtig» erscheint parallel zum Begriff «kurzsinnig» im Exkurs über die Soziologie der Sinne in Georg Simmel: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. In: Gesamtausgabe. Bd. II. Herausgegeben von Otthein Rammstedt. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1992, S. 735. Den Terminus trifft man erneut in Bezug auf den Wiedererlangungsprozess der Funktionalität menschlicher Sinnesorgane an, welcher besonders durch den Aspekt der Vergesellschaftung im Großstadtleben bestimmt wird. In eben diesem Sinn ist er in dem hiesigen Zusammenhang von Bedeutung: Der von Burckhardt in den beiden besagten Artikeln der Kölnischen Zeitung skizzierte Grundgedanke bietet sich als Beobachtung von Veränderungsprozessen des menschlichen Empfindungsvermögens dar, die durch das Durchdringen der spezifischen urbanen und kulturellen Ordnung der Großstadt Paris bestimmt und durch Beschleunigung, Aufspaltung von Wahrnehmungsprozessen und dem Verschwinden eines Gefühls für Distanz gekennzeichnet werden. Eine vergleichende Lesart von Simmels ästhetischer Soziologie und Burckhardts mikrologischen Betrachtungen des kulturellen, metropolitanen Lebens, die hier nur kurz angerissen werden kann, ist aus unserer Sicht imstande, neues Licht auf die Art der durch den schweizerischen Historiker entwickelten Beziehung zu den historischen Lebensformen, zu den prägenden Prozessen der Kultur, deren sichtbaren Gesetzte sowie den Wandlungs- und Ausrichtungsprozessen der Welt der menschlichen Sinne zu werfen.

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4 Renaissancebilder Beschleunigung, Geld, Großstadtleben, Wegbröckeln des historischen Bodens als Folge der Französischen Revolution, Tabula rasa als Chiffre des 19. Jahrhunderts: Dies sind für Jacob Burckhardt einerseits Anzeichen einer Krise, andererseits aber auch fordernde Faktoren für die Herausbildung eines Geschichtssinns. Hier wird ein weiterer Aspekt des Verweises auf das geschulte Auge des Sammlers deutlich. Die Vergangenheit ruht in Trümmern zerstreut. In diesem Zusammenhang kommen einem die Worte in den Sinn, mit denen Alfonso de Valdès in seinem Diálogo de las cosas acaecidas en Roma die Plünderung Roms beschreibt, bei der «frevelhafte Hände» Reliquien erbeuteten und weit verstreuten, welche jahrhundertelang in Rom gesammelt worden waren.36 Laut Burckhardt gilt es, ebenjene Spuren der Vergangenheit, die in Trümmern zerstreut daliegen, in einem Bilddepot zu sammeln und in einem künstlich konstruierten, historischen Bild, das als Mittel zur Visualisierung der Vergangenheit fungiert, zu vereinen. In dieser Sichtweise ist das ‹Bild› ein Ausschnitt oder eine «nicht gleichgültige Natur», um einen Begriff Sergej Ėjzenštejns aufzugreifen. Walter Benjamin schreibt hierzu: «Vielleicht läßt sich das verborgenste Motiv des Sammelnden so umschreiben: er nimmt den Kampf gegen die Zerstreuung auf. Der große Sammler wird ganz ursprünglich von der Verworrenheit, von der Zerstreutheit angerührt, in dem die Dinge sich in der Welt vorfinden».37 Um diesen «Kampf» führen zu können, «vereint [er] das Zueinandergehörige».38 Nach Benjamin erkennt das Auge des Sammlers die Bedeutung des Objekts, d.h. das, was «dessen ganze Vergangenheit»39 ausmacht. Bei ihm heißt es dazu weiter: «Man erinnere doch nur, von welchem Belang für einen jeden Sammler nicht nur sein Objekt sondern auch dessen ganze Vergangenheit ist, ebensowohl die zu dessen Entstehung und sachlicher Qualifizierung gehört wie die Details aus dessen scheinbar äußerlicher Geschichte: Vorbesitzer, Erstehungspreis, Wert etc.».40 Ihrem eigentlichen Gebrauchszweck entzogen sind diese von Spuren des Lebens geprägten Objekte dem kritischen Blick des «großen Physiognomikers» ausgesetzt.41 Um sie «gegenwärtig zu machen», präsentiert der Sammler die ‹Dinge› «in unserem Raum» und lässt «sie in unser Leben

36 Alfonso de Valdès: Diálogo de la cosas acaecidas en Roma. Herausgegeben von Rosa Navarro Durán. Madrid: Catedra 1993, S. 197. 37 Walter Benjamin: Das Passagen-Werk, S. 279. 38 Ebda. 39 Ebda., S. 274. 40 Ebda. 41 Ebda.

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[treten]».42 Die Überlegungen Walter Benjamins verdeutlichen einige Unternehmungen, die Burckhardt mit der Erarbeitung des eigenen kulturhistorischen Bildes anstellte und in denen die physiognomische Sichtweise, die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts durch die Auseinandersetzung mit den sozialen und medialen Kontexten und Prozessen herausgebildet hatte, erneut zu Trage kommt. Darum geht es in der Kunst der Geschichtsschreibung: um das Zusammenfügen des ‹Bildes›. Letzteres steht nicht bloß für das Ferne oder die Kontemplation auf Distanz, sondern für die Fähigkeit, vor den eigenen Augen den Querschnitt einer vergangenen Zeit, die aus ihrer Stille heraus spricht und ihren Betrachter berührt, erscheinen zu lassen. Dabei handelt es sich jedoch nicht um eine Ansicht aus der Entfernung heraus, sondern aus einer mittleren Distanz, sozusagen in greifbarer Nähe; ähnlich der inneren, runden Struktur eines Dioramas oder eines privaten Raumes, in dem die Vergangenheit wie ein Hologramm erscheint. Dem Burckhardt’schen Bild liegt weder eine bloße illustrative oder deskriptive Natur zugrunde, noch ist es eine bloß chronologisch geordnete Sammlung von Daten. Vielmehr will es historische Fakten oder eine bestimmte Phase der sich entwickelnden Menschheitsgeschichte darlegen, indem es diese auf ihre Gesten und ihre Leistungen zurückführt, in der die ganze gestalterische Stärke einer Epoche in all ihren vielfältigen Handlungsformen zum Ausdruck kommt. In dieser Hinsicht stellt das Bild – wie ein Standbild – ein Segment einer vergangenen Zeit dar, als würde diese noch weiter vor Leben und Energie vibrieren. Das Bild ist somit ein indirektes und – um aus Italo Calvinos Harvard-Vorlesungen zu zitieren – in der Lage, «das unendlich Kleine, Mobile und Leichte»43 zu perzipieren; es ist sozusagen eine Gestaltung der Morphogenese, deren Entwicklung in jegliche Richtung prinzipiell möglich ist. Aus diesem Grunde «berührt»44 es uns, um auf den Ausdruck Benjamins zurückzukommen. In einem solchen Gemälde nehmen die Dinge und Phänomene des vergangenen Lebens eine magische Ordnung an. Die Formen vergangenen Lebens sprechen aus der Stille des Bildes heraus in einer Zusammenkunft von Dingen und Personen; Objekte, Phänomene, plastische Konstruktionen des menschlichen Schaffens sind sozusagen wahre Lebens- statt bloße Blickpunkte. Dies gilt bereits für das Kapitel Der Staat als Kunstwerk in Burckhardts Kultur der Renaissance, wird jedoch besonders in seinem Diskurs über das Festwesen deutlich. Eine passende Einleitung in Bezug auf Burckhardts Bildkonzept bietet ein Abschnitt aus Aby Warburgs Aufsatz über Sandro Botticellis Die Geburt der Venus: 42 Ebda., S. 273. 43 Italo Calvino: Sechs Vorschläge für das nächste Jahrtausend. Harvard-Vorlesungen. Übersetzt von Burkhart Kroeber. München/Wien: Hanser 1991, S. 23. 44 Walter Benjamin: Das Passagen-Werk, S. 272.

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Darf man annehmen, dass das Festwesen dem Künstler jene Figuren körperlich vor Augen führte, als Glieder wirklich bewegten Lebens, so erscheint der künstlerisch gestaltende Prozess naheliegend. Das Programm des gelehrten Rathgebers verliert alsdann den pedantischen Beigeschmack; der Inspirator legte nicht den Gegenstand der Nachahmung nahe, sondern erleichterte nur dessen Aussprache. Man erkennt hier, was Jacob Burckhard, auch hier unfehlbar im Gesammturtheil vorgreifend, gesagt hat: «Das italienische Festwesen in seiner höheren Form ist ein wahrer Übergang aus dem Leben in die Kunst».45

Warburgs Reflexion hebt ein entscheidendes Element der Beziehung zwischen der Bildenden Kunst und dem Theater in der italienischen Renaissance hervor und deckt gleichzeitig einen wichtigen Aspekt des historiografischen Bildes bei Burckhardt auf: Ein Großteil der bildlichen Darstellungen des 15. Jahrhunderts ist gemaltes Theater. Damit gibt es, wie Pierre Francastel festhielt, einen unmittelbaren Bezug zwischen der Montage der Malerei des 15. Jahrhunderts und der Entwicklung des Theaters.46 Das panoramaähnliche Bild Jacob Burckhardts ist im Sinne Francastels eine Verlagerung, ein Ausschnitt, der das vergangene Leben darstellen und schildern will. Ausgehend von den Darbietungen seiner stillen Zeichen offenbart es eine Vorstellungsart des für eine bestimmte Phase der Gesellschaft eloquenten und typischen Lebens. Das ‹Bild› ist ein auf die Stille reduziertes Leben, in dem lediglich die Formen sprechen. Dieser Burckhardt’schen Denkart entspringt der Begriff des «Aufhorchens», den er in seiner Einleitung zu den Vorlesungen über die Griechische Kulturgeschichte benutzt: «Woher weiß er [der Forscher], was konstant und charakteristisch, was eine Kraft gewesen ist und was nicht? [. . .] Gerade mit heftiger Anstrengung ist hier das Resultat am wenigsten zu erzwingen: ein leises Aufhorchen bei gleichmäßigem Fleiß führt weiter».47 Demzufolge strebt der Kulturhistoriker, der statt den groben Fakten die Lebensarten darzustellen beabsichtigt – also danach, die für eine Epoche charakteristischen menschlichen Anstrengungen zu «dulden, streben und [zu] handeln» und die Art und Weise, wie jene Epoche die Welt und ihre wechselseitigen Beziehungen wahrnimmt –, in seinem Unterfangen nach Erfolg, wenn er dabei visuell vorgeht, ohne dabei seine auditiven Fähigkeiten, durch die die Zeugen der Vergangenheit zur Sprache kommen, außer Acht zu

45 Aby Warburg: Sandro Botticellis «Geburt der Venus» und «Frühling». In: Werke in einem Band. Herausgegeben und kommentiert von Martin Treml/Sigrid Weigel/Perdita Ladwig. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2010, S. 85. 46 Pierre Francastel: Imagination plastique, vision théâtrale et signification humaine (1953). In: La réalité figurative. Éléments structurels de sociologie de l’art. Paris: Gonthier 1965, S. 224. 47 Jacob Burckhardt: Griechische Kulturgeschichte, S. 364.

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lassen. Hier wird die Bedeutung von Burckhardts Beschäftigung mit dem Festwesen deutlich und mit den im Rahmen der Feste manifestierten Bestrebungen und Absichten, die sich wie ein «Übergang vom Leben zur Kunst»48 darbieten. In seiner Überzeugung, dass «die Dinge ein großenteils gleichzeitiges, gewaltiges Eins gewesen sind»,49 also ein Spiel synchronisch wirkender Kräfte, führt Burckhardt eine Reihe von signifikanten italienischen Renaissancefesten an, die wie Strahlen einer Linse koordiniert in einem Zentrum zusammenlaufen, welches von unten her, d.h. ausgehend von den untereinander abhängigen Prozessen, dargestellt wird: Das Zentrum wird vom Individuum und dessen Kräften gebildet. Jenes Individuum konkretisiert sich durch seinen Körper, durch Handeln und «die ersinnlichste Pracht»,50 mittels der es seine persönliche Art definiert, sich selbst und das Leben – die Natur und die sozialen Beziehungen – zu sehen. Zu diesem Ergebnis kommt die von Burckhardts panoramaähnlich ausgelegte Historiografie der Gesellschaft, die den Überblick sowie das weitblickende Auge, das in der Lage ist, die Vielfältigkeit der Fakten in eine umfassende Ordnung zu bringen, in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung stellt. Eben darum geht es beim Burckhardt’schen Sammlungsprinzip, das den Objekten ihre ursprüngliche Ordnung entzieht und sie in ein zweites Leben versetzt, angereichert durch zahlreiche, stille Bilder. In dieser Stille leben die kulturellen Objekte, die Burckhardt regelrecht zu seinem ‹Bild› zusammenfügt, weiter: Die volle Blüte des Festwesens tritt erst mit dem entschiedenen Siege des Modernen, mit dem 15. Jahrhundert ein, wenn nicht etwa Florenz dem übrigen Italien auch hierin vorangegangen war. Wenigstens war man hier schon früh quartierweise organisiert für öffentliche Aufführungen, welche einen sehr großen künstlerischen Aufwand voraussetzen. So jene Darstellung der Hölle auf einem Gerüst und auf Barken im Arno, 1. Mai 1304, wobei unter den Zuschauern die Brücke alla Carraja zusammenbrach. Auch daß später Florentiner als Festkünstler, festaiuoli, im übrigen Italien reisen konnten, beweist eine frühe Vervollkommnung zu Hause.51

Dies hielt Burckhardt in Die Kultur der Renaissance fest, in der er anschließend dazu übergeht, kulturelle Objekte vorzustellen. Hierzu zählen etwa Kleidung und Mode, die den Prozess der Vergesellschaftung widerspiegeln, sowie Maschinen, die für Theateraufführungen im städtischen Raum genutzt wurden und die Malerei aufgriffen:

48 Jacob Burckhardt: Die Kultur der Renaissance in Italien, S. 378. 49 Jacob Burckhardt: Griechische Kulturgeschichte, S. 365. 50 Jacob Burckhardt: Die Kultur der Renaissance in Italien, S. 384. 51 Ebda., S. 379.

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Für das Auf- und Niederschweben auf künstlichen Maschinen, einen Hauptreiz aller Schaulust, war in Italien wahrscheinlich die Übung viel größer als anderswo, und bei den Florentinern gab es schon im 14. Jahrhundert spöttische Reden, wenn die Sache nicht ganz geschickt ging. Bald darauf erfand Brunellesco für das Annunziatenfest auf Piazza S. Felice jenen unbeschreiblich kunstreichen Apparat einer von zwei Engelkreisen umschwebten Himmelskugel, von welcher Gabriel in einer mandelförmigen Maschine niederflog.52

Mit diesem ‹Bild›, in dem kulturelle Objekte und Erzeugnisse der plastischen Kraft des gebildeten Renaissancemenschen wie in einer Sammlung zusammengestellt werden, gibt Burckhardt ein Beispiel einer Schilderung, also einer typisierten Darstellung des Lebens in einer bestimmten Kulturepoche, die dadurch les- und sichtbar gemacht wird. Letztendlich geht es hierbei um die Darstellung der panoramatischen Geschichte der Objekte und ihrer Entstehung, als habe der Leser den gesamten Szenenverlauf ihres Auftretens in greifbarer Nähe und könne sich daraus ein einheitliches Bild machen. Auf diese Weise betritt die Vergangenheit den Raum der Gegenwart und löst so ein Gefühl der Nähe und Teilnahme aus. Der emotionale Nutzen von Burckhardts kulturhistorischem ‹Bild›, welcher mit dem herabgesetzten Erwartungshorizont eines nach Attraktionen verlangenden Publikums wie dem seiner Zeit übereinstimmt, kommt u.a. durch dessen kompositorischer Charakter zum Ausdruck. In Die Kultur der Renaissance als bewusst für die Publikation vorgesehener Text sind vor allem zwei Elemente von Relevanz: Das erste besteht darin, dass das ‹Bild› als stetige Einladung zum Vergleich gedacht ist. Im Verlauf seiner Rekonstruktion der Bilder der italienischen Renaissancefeste stellt Burckhardt den für das italienische Phänomen charakteristischen, konstruktiven Prozessen stets die Geschehnisse im restlichen Europa gegenüber: «Im Norden hatten die Klöster, die Höfe und die Bürgerschaften ihre besonderen Feste und Aufführungen wie in Italien, allein dort waren dieselben nach Stil und Inhalt getrennt, hier dagegen durch eine allgemeine Bildung und Kunst zu einer gemeinsamen Höhe entwickelt».53 Das, was vor allem die italienischen Feste im Vergleich zum Rest Europas antreibt, ist «der Sinn des entwickelten Individuums» und seine «Fähigkeit, eine vollständige Maske zu erfinden», diese gebührend zu tragen und mit ihr zu agieren.54 Die gegenüberstellende Natur des ‹Bildes› zeigt sich außerdem im Vergleich der Epochen sowie des Gestern und Heute. Dieser Vergleich lädt den Leser zu einer differenzierten Rezeption der Zeiten und der wechselseitigen Auslegung ihrer Beziehungen zueinander ein: «Auch die übrigen Völker verlangten bei solchen

52 Ebda., S. 383. 53 Ebda., S. 377. 54 Ebda., S. 379.

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Gelegenheiten bisweilen den größten Aufwand, in Italien allein aber bildete sich eine kunstgerechte Behandlungsweise, die den Zug als sinnvolles ganzes komponierte und ausstattete. Was von diesen Dingen heute noch in Übung ist, kann nur ein armer Überrest heißen».55 Ein weiterer, oft vernachlässigter Aspekt von Burckhardts kompositorischem ‹Bild› besteht in dem Umstand, dass der in seinen Schriften entwickelte Diskurs immerzu von Verweisen auf vorherige Schritte der ‹Darstellung› und des Diskurses heimgesucht wird, als handle es sich um einen hypertextuellen Schreibstil, der dazu dient, das «großenteils gleichzeitig gewaltige Eins»56 der Geschehnisse wiederzugeben, das den Leser dazu einlädt, zurückzukehren und aus seinen eigenen Kräften heraus das gewaltige Netz des Lebens einer bestimmten Epoche zu spannen und dieses so in einem umfassenden Gemälde les- und anschaubar werden zu lassen. In dieser Vorgehensweise liegen Burckhardts letzte Zielsetzung und Hoffnung als Historiker. Der zentrale Schritt, den er in seinem an Friedrich Nietzsche adressierten Brief vom 25. Februar 1874 geht, ist in diesem Sinne eine eloquente, regelrechte Bekenntnis zu seiner eigenen Arbeit: «Als Lehrer und Docent [. . .] habe ich das mir Mögliche gethan, um sie [die Leute] zur eigenen Aneignung des Vergangenen – irgend einer Art – anzuleiten und ihnen dieselbe wenigstens nicht zu verleiden; ich wünschte daß sie aus eigener Kraft möchten die Früchte pflücken lernen [. . .]».57

Bibliographie Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk. In: Gesammelte Schriften. Bd. 5.1. Herausgegeben von Rolf Tiedemann. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1982. Burckhardt, Jacob: Die Kultur der Renaissance in Italien. Stuttgart: Kröner 1976. Burckhardt, Jacob: Über das Studium der Geschichte. Herausgegeben von Peter Ganz. München: Beck 1982. Burckhardt, Jacob: Briefe. Vollständige und kritisch bearbeitete Ausgabe. 10 Bde. Herausgegeben von Max Burckhardt. Basel: Schwabe 1949–1986. Burckhardt, Jacob: Griechische Kulturgeschichte. In: Werke. Kritische Ausgabe. Bd. 19.1. Herausgegeben von Leonhard Burckhardt/Barbara von Reibnitz/Jürgen von UngernSternberg. München/Basel: Beck/Schwabe 2002. Burckhardt, Jacob: Werke. Bd. 9: Kleine Schriften III. Herausgegeben von Elisabeth Oeggerli/ Marc Sieber/Katia von Arx. München/Basel: Beck/Schwabe 2008.

55 Ebda., S. 378. 56 Jacob Burckhardt: Griechische Kulturgeschichte, S. 365. 57 Jacob Burckhardt: Briefe, Bd. 5, S. 222.

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Calvino, Italo: Sechs Vorschläge für das nächste Jahrtausend. Harvard-Vorlesungen. Übersetzt von Burkhart Kroeber. München/Wien: Hanser 1991. Farulli, Luca: Burckhardts Italienbild als Urzelle seiner historischen Darstellung. In: Giulia Cantarutti/Hans Schumacher (Hg.): Germania – Romania. Studien zur Begegnung der deutschen und romanischen Kultur. Frankfurt a. M./Bern/New York/Paris: Peter Lang 1990, S. 73–100. Francastel, Pierre: Imagination plastique, vision théâtrale et signification humaine (1953). In: La réalité figurative. Éléments structurels de sociologie de l’art. Paris: Gonthier 1965, S. 211–238. Ghelardi, Maurizio/Seidel, Max (Hg.): Jacob Burckhardt. Storia della cultura, storia dell’arte. Venedig: Marsilio 2002. Ghelardi, Maurizio: Le stanchezze della modernità. Una biografia intellettuale di Jacob Burckhardt. Rom: Edizioni di Storia e Letteratura 2016. Goethe, Johann Wolfgang: Zur Farbenlehre. In: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Bd. 23.1. Herausgegeben von Manfred Wenzel. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verband 1991. Hinde, John R.: Jacob Burckhardt and the Crisis of Modernity. Montreal/London/Ithaca: McGrill-Queen’s University Press 2000. Maurer, Kathrin: Visualizing the Past. The Power of the Image in German Historicism. Berlin: De Gruyter 2013. Pinotti, Andrea: Quadro e tipo. L’estetico in Burckhardt. Mailand: Il Castoro 2004. Schlaffer, Heinz: Jacob Burckhardt oder das Asyl der Kulturgeschichte. In: Hannelore Schlaffer/ders. (Hg.): Studien zum ästhetischen Historismus. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1975, S. 72–111. Simmel, Georg: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. In: Gesamtausgabe. Bd. II. Herausgegeben von Otthein Rammstedt. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1992. Valdès, Alfonso de: Diálogo de la cosas acaecidas en Roma. Herausgegeben von Rosa Navarro Durán. Madrid: Catedra 1993. Warburg, Aby: Sandro Botticellis «Geburt der Venus» und «Frühling». In: Werke in einem Band. Herausgegeben und kommentiert von Martin Treml/Sigrid Weigel/Perdita Ladwig. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2010, S. 39–123.

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Von der Physiognomik zur Ästhetik der Geste 1 Einleitung Folgender Beitrag zielt darauf ab, die Grundlagen einer möglichen relationalen Ästhetik der Geste mittels einer Kritik des auf die Tradition der Physiognomik zurückführbaren negativen medientheoretischen Ansatzes zu entwerfen. Aus Sicht einer negativen Medientheorie im Sinne Merschs lässt sich nämlich die Geste als eine Praxis verstehen, mittels derer die Negativität des Mediums – d.h. seine «Indetermination» und «Unerfülltheit»,1 die aus seinem Einsatz resultieren – das ontologische Fundament des Im-Medium-Seins offenlegt. Diese theoretische Position, die in einem bestimmten Segment der rhetorisch-physiognomischen Geschichte der Geste verwurzelt zu sein scheint und kürzlich durch Agambens medienphilosophisches Konzept der «medialità pura»2 aktualisiert wurde, bedarf, so die These meines Beitrags, einer Erweiterung. Diese lässt sich durch Nancys Ästhetik der Geste umreißen und setzt eine Hinwendung zu den Prozessen von Sinnerzeugung und deren Relationalität voraus. Die Interaktion einer negativen und einer relationalen Auffassung der Geste bedeutet aber auch, dass die Geste im Spannungsverhältnis zwischen Medium (im Sinne von Vermittlungsmechanismus und potentiellem Sinnraum) und Technik (als Produktionsverfahren, das Transformationen und unerwartete Modellierungen der aísthesis hervorbringt) verortet werden kann, was aber auf dem Terrain der Sinnproduktion eine Art Verdoppelung des Mediumbegriffs zu bewirken scheint. Der technischen Seite der Geste entspricht nämlich im Gegensatz zu deren Negativität ein gänzlich stofflich-wahrnehmbares, präsentifiziertes Medium, dessen Produktion-Erfassung «Effekt[e] der Greifbarkeit»3 generiert,

1 Vgl. Dieter Mersch: Wozu Medienphilosophie. Eine programmatische Einleitung. In: Internationales Jahrbuch für Medienphilosophie 1.1 (2015), S. 17; vgl. auch ders.: Medialität und Undarstellbarkeit. Einleitung in eine ‹negative› Medientheorie. In: Sybille Krämer (Hg.): Performativität und Medialität. München: Fink 2004, S. 75–96. Zur metaphysischen Verfasstheit der negativen Medientheorie, auf die ich später eingehen werde, vgl. Sybille Kramer: Medium Bote Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008, S. 20–40. 2 Giorgio Agamben: Mezzi senza fine. Note sulla politica. Turin: Bollati Boringhieri 1996, S. 51. 3 Hans Ulrich Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004, S. 32. https://doi.org/10.1515/9783110665055-008

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die Modifikationen und Neuorganisationen prozessieren.4 Prozessieren bedeutet hier, dass die Produktion einem Kriterium gehorcht, kraft dessen die präsentifizierende Leistung des Mediums dynamische mediale Übergänge in Form von Spannungsverhältnissen begünstigt. Im Rahmen meiner Argumentation werde ich einige Termini verwenden, die auf das Wissenschaftsgebiet der sogenannten Gesture Studies zurückgeführt werden können. Meine Reflexionen verstehen sich aber nicht als Beitrag im Fahrwasser der Gesture Studies, da diese zwar die Autonomie des Gestischen vom Gesprochenen und von der Sprache postulieren, ohne jedoch dieses als Dynamik von Sinnproduktion durch materielle Praktiken (wie etwa das Schreiben) zu begreifen. Mein Ansatz beabsichtigt, ohne die Interaktion mit der Sprache auszuklammern, den Fokus auf den operativen Charakter der Geste zu verlagern.5 Nach einem kurzen, hypothetischen Abriss einer physiognomisch-rhetorischen Geschichte der Geste auf der Grundlage eines unausgewogenen Spannungsverhältnisses von Medium und Technik (Teil 1) werde ich in meinem Beitrag Agambens negative Medientheorie (Teil 2) sowie Nancys Körperontologie (Teil 3) erörtern. Paradigmatischer Anwendungsgegenstand meiner Ästhetik der Geste wird am Ende (Teil 4) ein Ausschnitt aus Henri Michaux’ Émergences – Résurgences sein. Michaux entwickelt nämlich eine in ihrer Gänze noch zu erforschende transmediale Ästhetik der Geste, die gleichzeitig eine Poetik enthält und ausgehend von Kunsterprobungen des Autors mit der tachistischen Malerei eine relationale Medienproduktion theoretisiert und gleichzeitig in Form von Schrift- und Zeichenverflechtungen prozessiert. Im Rahmen meines Beitrags wird also eine solche sich zwischen Malerei/ Zeichnung und Literatur/Graphismus auslotende Seite der Ästhetik der Geste von Michaux berücksichtigt.

4 Zur produktionsorientierten Auffassung des Prozessierens setze ich mich mit der umfassenden Studie von Hartmut Winkler: Prozessieren. Die dritte, vernachlässigte Medienfunktion. München: Fink 2015, v.a. S. 17–21 auseinander. 5 Hier schließe ich mich an die jüngste medienphilosophische Forschung an, insbesondere an Barbara Formis, welche den operationellen, kontextbezogenen und interaktiven Charakter der Geste hervorhebt: «C’est comme si pour identifier le sens des gestes, il fallait prendre en compte non pas seulement les nombres (les choses telles qu’elles sont), mais aussi leur valeur opérationnelle (les choses telles qu’elles agissent dans un contexte donné)». Vgl. Barbara Formis’ Einleitung in: dies. (Hg.): Gestes à l’œuvre. Paris: de l’incidence 2015, S. 11.

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2 Kleine (physiognomische) Geschichte der Geste Sucht man in der jahrhundertlangen, an sich heterogenen und konstitutiv transdisziplinären Geschichte des physiognomischen Denkens – als die «(Kunst-)Lehre, bei Lebewesen – vor allem beim Menschen – von äußeren Zeichen und Merkmalen [. . .] auf seelische Eigenschaften [. . .] zu schließen»6– nach einer Theorie der Geste, so lässt sich bereits ab der (pseudo-)aristotelischen Physiognomik eine beträchtliche Reihe an Überlegungen zur Lesbarkeit und Klassifizierbarkeit der Geste anführen,7 welche den Eintritt der Geste in die komplexe Geschichte der Physiognomik markieren könnten. Die Notwendigkeit, den kommunikativen Gehalt der Geste aus der Perspektive einer semiotischen Lesart zu determinieren, expliziert sich durch die physiognomische Rubrizierung und unermüdliche Auflistung von expressiven Körperbewegungen, jenen der Gestik, die Ausdruck von und Zugang zu den (vermeintlichen) inneren Zuständen (seien sie kognitiver oder affektiver Art) eines Individuums ermöglichen.8 Die Gestik wird zum Objekt der Physiognomik, weil sich ihre kommunikative Leistung somatisch und mittels kommunikativer Absicht9 als ein bewegtes Zeugnis der Innerlichkeit ereignet. Die Dialektik zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem zugunsten der Vergeistigung des Sinnlichen – d.h. durch die kommunikationszentrierte Negation dessen Materialität – scheint zumindest zu Beginn der Physiognomik auf die Ausbildung eines diaphanen10 Mittels zu zielen, das den infolge der angenommenen Trennung von Vernunft/Affekt und Sinnlichkeit produzierten Hiatus zwischen Kommunikation und

6 Martin Blankenburg: Physiognomik, Physiognomie. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 7. Herausgegeben von Joachim Ritter und Karlfried Gründer. Basel: Schwabe 1989, S. 955. 7 Aristoteles: Physiognomica. In: Werke, Bd. 18.6. Übersetzt und kommentiert von Sabine Vogt. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1999, v.a. S. 456 (813a9–11) sowie die wertvolle Rekonstruktion der Herausgeberin hinsichtlich der Beziehung zwischen Rhetorik und Physiognomik auf S. 92f. 8 Vgl. Giovanni Gurisattti: Dizionario fisiognomico. Il volto, le forme, l’espressione. Macerata: Quodlibet 2006, S. 168f. 9 Vgl. Winfried Nöth: Handbuch der Semiotik. Stuttgart/Weimar: Metzler 2000, neu bearbeitete u. erweiterte Auflage, S. 298f. 10 Hier arbeite ich mit einigen Gedanken von Rüdiger Campe/Manfred Schneider: Vorwort. In: dies. (Hg.): Geschichten der Physiognomik. Text. Bild. Wissen. Freiburg i. B.: Rombach 1996, S. 10 aus. Vgl. auch die Einleitung zu diesem Band, S. 2. Zum Diaphanen in medienphilosophischer Hinsicht verweise ich auf die tiefgreifende Abhandlung von Emmanuel Alloa: Das durchscheinende Bild. Konturen einer medialen Phänomenologie. Berlin/Zürich: diaphanes 2011.

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Darstellung reduziert und diesen im Hinblick auf die Fundierung einer das Individuum normierenden Menschenkunde neu verhandelt. Eine weitere wichtige ausführliche Konturierung der Verfasstheit von Gesten wird aber auch von der römischen Rhetorik versucht, deren Unterricht gerade aufgrund der Dialektik von Kommunikation und Darstellung und der damit einher gehenden Vergeistigung des Sinnlichen eine der ersten heuristischen Physiognomiken der Gestik repräsentieren kann.11 Im elften Buch seiner Institutio oratoria (90–96 n. Chr.) beschreibt Quintilian12 die Geste unter Rückgriff auf Ciceros De oratore als «quasi sermonem» oder «eloquentia[m] [. . .] corporis»,13 d.h. als Körpersprache, die ohne den Rekurs auf Worte mitteilungsfähig ist. «Gestus» ist hier Bewegung, «actio»,14 welche die Rede begleitet und deren Überzeugungskraft intensiviert. Die Natur der Geste ist in der Rhetorik von Quintilian eine, streng genommen, kommunikative und manifestiert sich als eine sinnliche und zugleich über die Materialität der expressiven Bewegung hinaus gehende Erweiterung des Sprachinstrumentariums, die sich am Erfolg der rednerischen Leistung messen lässt. Wegen einer solchen dem persuasiven Effekt unterworfenen Funktionalität produziert die Geste der Rhetorik eine «chronische Lücke»,15 welche das Sinnliche absorbiert und dadurch negiert. Somit gehört die rhetorische Geste zu einer Ästhetik des Gebärdenausdrucks, deren Wurzeln auf die bisher skizzierte Seite der Physiognomik zurückzugreifen scheinen.16 Das Oszillieren der Geste zwischen Sprachgestaltung und Körperpraxis erhält bereits bei Quintilian darüber hinaus die Konturen einer anthropologischen Selbstperformierung, die auf die Produktion eines Effekts zielt, den keine Syntax herbeizuführen vermag: das ars est celare artem, «Kunst ist, was Kunst verbirgt». 11 Meine Auffassung der Geschichte der Geste beabsichtigt insofern eine kritische Revision von Rüdiger Campes Meinung, nach der «Rhetorik und Physiognomik sich erst um 1700 [. . .] überkreuzten und überlagerten», als die Rhetorik der actio – bereits in der (pseudo-)aristotelischen Physiognomica – nicht allein kommunikative Zwecke erfüllt, sondern auch physiognomische Ansprüche erhebt, die u.a. darin bestehen, Körperbewegungen als Mittel zur Auslotung des Geistigen zu betrachten. Ders.: Rhetorik und Physiognomik oder Die Zeichen der Literatur. In: Rhetorik 9 (1990), S. 68. 12 Zu Quintilian und der Gestik vgl. Cordula Neis: Gebärdensprache vs. Lautsprache. In: Gerda Haßler/dies.: Lexikon sprachtheoretischer Grundbegriffe des 17. und 18. Jahrhunderts. Bd. 1. BerlinNew York: De Gruyter 2009, S. 610. 13 Quintilian: Institutio oratoria/Institution oratoire, Bd. 6 (Bücher 10–11). Herausgegeben von Jean Cousin. Paris: Les belles lettres 1979, S. 222. 14 Ebd. 15 Dieter Mersch: Wozu Medienphilosophie, S. 17. 16 Ein wichtiger kulturwissenschaftlicher Exkurs über die Ästhetiken des Ausdrucks findet sich in: Hans Ulrich Gumbrecht: Dimensionen und Grenzen der Begriffsgeschichte. München: Fink 2006, S. 201–230.

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Diese Formel – die oft v.a. auf das dritte Buch von Aristoteles’ Rhetorik zurückgeführt wurde und deren Ursprung, trotz ihrer Anwendung in einigen mittelalterlichen Traktaten, unbekannt ist – bezeichnet einen Medialisierungsprozess, der auf einer doppelten Negation beruht, welche sich hauptsächlich als (i) Ausschlussmechanismus und (ii) Verhüllungsstrategie kundtut. Beispielhaft ist in dieser Hinsicht auch eine Stelle aus Castigliones Il Libro del Cortegiano (1528), in der das Prinzip des ars est celare artem und die damit verbundenen Negationen durch die fiktionale Rede von Lodovico da Canossa über die Fähigkeiten des perfekten Hofmannes illustriert werden: «usar in ogni cosa una certa sprezzatura che nasconda l’arte e dimostri ciò che si fa e dice venir fatto senza fatica e quasi senza pensarvi».17 Die Rhetorik der actio erlebt hier eine merkwürdige Entstellung, die für die Beschreibung der Geste von Belang ist. Die Kunst der sprezzatura – d.h. die körperlich-geistigen Eigenschaften, welche den perfekten Hofmann ausmachen – ereignet sich für Castiglione erst dann, wenn der Körper (i) den Ausdruck von intensiven Gefühlen und Intentionen meidet und (ii) den Prozess seiner Selbstperformierung kaschiert. Die aus einem Ausschluss («fuggir quanto più si po», «senza fatica», «senza pensarvi»18) und einer Verhüllung («poner studio che nel nasconderla»19) bestehende doppelte Negation des ars est celare artem speist sich bei Castiglione aus einer Strategie, welche durch die Gestik eine Simulation zu generieren scheint. Die Geste wird aber dadurch nicht allein zu einem Diskursmarker, der «im Erscheinen [. . .] verschwinde[t]»,20 sondern auch zu einer medialen Übergangsstruktur, die den Sinn aufschiebt. Dieser letzte Aspekt, der oft auf eine Poetik der dissimulatio reduziert wird, öffnet die Geste für eine neue Funktionsweise, die nicht auf die Darstellung oder den Ausdruck gerichtet ist, also: nicht der Adressierung dient und eine sinnstiftende Dynamik prozessiert. «Kunst ist, was Kunst verbirgt» bedeutet, dass der Körper eine Kunst, eine (im etymologischen

17 Baldassarre Castiglione: Il Libro del Cortegiano. Herausgegeben von Amedeo Quondam. Mailand: Garzanti 172015 [1528], S. 59f. Zu einer kunsttheoretisch-kulturgeschichtlichen Rekonstruktion des aus der Rhetorik stammenden Begriffes ars est celare artem vgl. Paolo D’Angelo: Ars est celare artem. Macerata: Quodlibet 2004, S. 123–136; Valeska von Rosen: Celare artem. Die Ästhetisierung eines rhetorischen Topos in der Malerei mit sichtbarer Pinselschrift. In: Ulrich Pfisterer/Max Seidel (Hg.): Visuelle Topoi: Erfindung und tradiertes Wissen in den Künsten der italienischen Renaissance. München: Deutscher Kunstverlag 2003, S. 323–350. 18 Baldassarre Castiglione: Il Libro del Cortegiano, S. 59. 19 Ebda. 20 Dieter Mersch: Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2002, S. 56.

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Sinne der lateinischen ars)21 Technik inkarniert, die sich selbst reflektiert, indem sie die Geste des Sich-Verhüllens immer aufs Neue zur Schau stellt. Annulliert bzw. negiert die Geste der ars ihr Erscheinen, so produziert sich eine mediale Sinnverschiebung, die erst durch die Koordinationsübung der Akteure, die an der Szene der Geste beteiligt sind, ihre Selbstreflexivität im Gewand einer sich auslotenden Dialektik zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem aufkommen lässt. Die Umsetzung dieser selbstreflexiven Dialektik kann der Rhetorik nach allein durch die kritische Kunst des verhüllenden Enthüllens vollführt werden, das in dieser Hinsicht als Dispositiv sowohl für die Produktion des ars est celare artem als auch für dessen Rezipierbarkeit fungiert. Das gestische celare ist also eine körperliche Reflexionsform, die sich sowohl mediennegativ als auch medienprozessierend auslotet. Besitzt die Geste mediengeschichtlich neben einer kommunikativen auch eine den Sinn prozessierende Verfasstheit, die mit den physiognomischen Kategorien einer Ästhetik des Gebärdenausdrucks und der Gestik nicht immer vereinbar ist, so lässt sich eine weitere, jener vom ars est celare artem scheinbar diametral entgegengesetzte Ästhetik der Geste analysieren. Diese werde ich im Folgenden am Beispiel einiger Reflexionen Giorgio Agambens illustrieren.

3 «Medialità pura»: Eine neue Metaphysik der Geste? Possiamo dire [. . .] che il gesto, come mezzo puro, spezza la falsa alternativa tra il fare che è sempre un mezzo rivolto a un fine – la produzione – e l’azione che ha in se stessa il suo fine – la prassi. Ma anche e innanzi tutto quella tra un’azione senz’opera e un’azione necessariamente operosa. Il gesto non è, infatti, semplicemente privo di opera, ma definisce piuttosto la propria speciale attività attraverso la neutralizzazione delle opere cui era legato in quanto mezzo. [. . .] Esso è, cioè, un’attività o una potenza che consiste nel disattivare e rendere inoperose le opere umane e, in questo modo, le apre a un nuovo, possibile uso. [. . .] Il gesto espone e contempla la sensazione nella sensazione, l’arte nell’arte, la parola nella parola, l’azione nell’azione.22

21 Über die Ambivalenz und Instabilität des Begriffes ars von der Antike bis zur Renaissance vgl. Paul O. Kristeller: Renaissance Thought and the Arts. Princeton (New Jersey): Princeton University Press 1990, S. 165. 22 Giorgio Agamben: Karman. Breve trattato sull’azione, la colpa e il gesto. Turin: Bollati Boringhieri 2017, S. 138 (Hervorhebung von mir).

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Im kürzlich erschienenen Karman. Breve trattato sull’azione, la colpa e il gesto erkundet Agamben das Potential der Geste ausgehend von deren Medium-Sein. Die Geste ist hier «mezzo puro», «reines Mittel» für die Sichtbarmachung der «Kunst in der Kunst» und nicht mehr eines ars est celare artem. Signalisiert eine solche Fokusverlagerung einen bloß geistesgeschichtlich sanktionierbaren postmetaphysischen Wechsel vom sich-selbst-negierenden ars est celare artem zum technischen Prozessieren des «arte nell’arte»? Oder bedeutet «arte nell’arte» eine Fortsetzung der Rhetorik des Gebärdenausdrucks mit anderen Mitteln? Agamben begreift die Geste zunächst als ein körperliches Medium, d.h. als einen Vermittlungsmechanismus, der die Zweck-Mittel-Relation hemmt bzw. unterbricht, indem es den ontologischen Zustand des In-der-Sprache-Seins bzw. Im-Medium-Seins sichtbar macht: «Il gesto è l’esibizione di una medialità, il render visibile un mezzo come tale»,23 schreibt Agamben in Mezzi senza fine. Die Terminologie von Agamben ist hier sehr prägnant und zugleich anspielungsreich. Definiert er die Geste als «esibizione», so verweist er eindeutig auf die Symbolisierungsmechanismen der Hypotypose, auf die «exhibitiones» des Paragraphen 59 von Kants Kritik der Urteilskraft (1790),24 die ein analogisches Verhältnis zwischen Darstellungsmittel und -gegenstand stiften. Meint Agamben damit, dass die Geste auch eine symbolische, d.h. kommunikative, Funktion ausführt, wie etwa eine Metapher? Es lohnt sich an der Stelle eine längere Passage aus Mezzi senza fine zu lesen: Nel gesto è la sfera non di un fine in sé, ma di una medialità pura e senza fine che si comunica agli uomini. [. . .] Il gesto è, in questo senso, comunicazione di una comunicabilità. Esso non ha propriamente nulla da dire, perché ciò che mostra è l’essere-nellinguaggio dell’uomo come pura medialità.25

Der Geste kommt bei Agamben in gewisser Weise die Abstraktionsfähigkeit zu, die Möglichkeit der Kommunikation, d.h. die Medialität als potentiellen Sinnraum, zur Sprache kommen zu lassen. Die Sichtbarmachung des ontologischen Zustandes der Geste erfolgt nicht durch jene Negation, die aus dem Einsatz des Mediums entsteht und dieses zu einem transparenten Filter für die Mitteilung macht – was meines Erachtens der physiognomisch-rhetorischen, kommunikativen und negativen Funktion der Geste entspricht. Die «medialità pura» kündigt sich hingegen durch die Negation zweckmäßiger Funktionsweisen an, so dass die Geste zum Korrektiv nicht allein jedes zweckgerichteten Mediums, sondern auch operativer Seinsformen

23 Giorgio Agamben: Mezzi senza fine, S. 51. 24 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft [1790]. In: Werkausgabe, Bd. 10. Herausgegeben von Wilhelm Weischedel. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1974, S. 294f. 25 Giorgio Agamben: Mezzi senza fine, S. 52.

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und dadurch zu einer (mit Blumenberg) «absoluten Metapher»26 eines unhintergehbaren Im-Medium-Seins wird. Daraus ergibt sich notwendigerweise die Frage, ob Agambens Konzeption der Geste in eine Metaphysik des Mediums gleitet, die seine impliziten postmetaphysischen Absichten geradezu entschärft. Während nämlich die physiognomisch-rhetorische Tradition der Geste, die bislang am Beispiel von Quintilian und Castiglione kurz skizziert wurde, eine kommunikationsorientierte Geste theoretisiert, versucht Agamben, die Geste zu ontologisieren und zur Praxis schlechthin der um sich selbst kreisenden medialen Subjektivierung des Seins zu erheben. Agambens Geste scheint also nicht imstande zu sein, «Erfahrungen von Amedialität zu restituieren»27 und sich vom im Grunde biopolitischen Mechanismus ihrer ontologischen Selbstbestimmung loszulösen.28 Ein solche, durch die Aufhebung des Amedialen verursachte Gleichsetzung von Medium und Sein veranlasst überdies eine lediglich negative Bestimmung der Geste, die ihren Totalitätsanspruch erfüllt, ja unweigerlich erfüllen muss, indem sie ein Jenseits-des-Medialen auszuschließen scheint. Die Geste ist also bei Agamben das transparente Medium einer noch transparenteren und ungreifbaren Botschaft: jener des Seins. Macht das scheinbare metaphysische Gegebensein der Geste bei Agamben eine Grenze der negativen Medientheorie sichtbar, so scheint Agambens Theorie dennoch eine nicht-eliminierbare Komponente der Geste ans Licht gebracht zu haben: die mediale Bedingung der Erfahrung. Die Überwindung der Tradition der Rhetorik der actio und der Ästhetik des Gebärdenausdrucks, in die sich Agambens negative Medientheorie der Geste letztendlich einzuschreiben scheint, kann nur durch eine Untersuchung des operativen Charakters der besagten medialen Erfahrungsbedingung erfolgen. Diese möchte ich durch Nancys Abhandlung Corpus vornehmen.

26 «Daß diese Metaphern absolut genannt werden, bedeutet nur, dass sie sich gegenüber dem terminologischen Anspruch als resistent erweisen, nicht in Begrifflichkeit aufgelöst werden können, nicht aber, daß nicht eine Metapher durch eine andere ersetzt bzw. vertreten oder durch eine genauere korrigiert werden kann.» Hans Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1998 [1960], S. 11. 27 Dieter Mersch: Ereignis und Aura, S. 69. 28 In ihrer Studie unterstreicht Vittoria Borsò auch den desubjektivierenden Charakter von Agambens Medienauffassung; vgl. dies.: Benjamin – Agamben. Biopolitik und Geste des Lebens. In: dies. u.a. (Hg.): Benjamin – Agamben. Politik, Messianismus, Kabbala. Würzburg: Königshausen & Neumann 2010, S. 35–48, v.a. S. 47. Zu einer Lesart von Agambens Auseinandersetzung mit Foucaults Biopolitik in Bezug auf das Konzept Geste erlaube ich mir auf meine Studie zu verweisen: Die Geste des Autors: Autorenkonzepte bei Agamben und Foucault. In: Sven Th. Kilian u.a. (Hg): Kaleidoskop Literatur. Zur Ästhetik literarischer Texte von Dante bis zur Gegenwart. Berlin: Frank & Timme 2018, S. 649–662.

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4 Gesten der Relation Im 2000 erschienenen Corpus entspricht die Geste einer besonderen Schreibtechnik. In Form von flüchtigen Notizen, die vielleicht jene gestische Schreibtechnik stilistisch prozessieren, schreibt Nancy Folgendes: «Écriture» veut dire : non la monstration, ni la démonstration, d’une signification, mais un geste pour toucher au sens. Un toucher, un tact qui est comme une adresse : celui qui écrit ne touche pas sur le mode de la saisie, de la prise en main (du begreifen = saisir, s’emparer de, qui est le mot allemand pour «concevoir»), mais il touche sur le mode de s’adresser, de s’envoyer à la touche d’un dehors, d’un dérobé, d’un écarté, d’un espacé. [. . .] («Écriture» est encore un mot trompeur. Ce qui s’adresse ainsi au corps-dehors s’excrit, comme j’essaie de l’écrire, à même ce dehors, ou comme ce dehors.) «Ontologie du corps» = excription de l’être. Existence adressée au-dehors (là, il n’y a pas d’adresse, pas de destination ; et pourtant (mais comment ?) il y a destinataire : moi, toi, nous, le corps enfin). [. . .] (Si j’écris, je fais des effets de sens – je place tête, ventre et queue – et je m’écarte donc des corps. [. . .] Si j’écris, cette main étrangère est déjà glissée dans ma main qui écrit.)29

In Nancys Jargon bedeutet die mediale Bedingung der Erfahrung, die «excription», eine Exposition, d.h. eine (Selbst-)Entfremdung und Distanzierung des Sinns, der sich in «einem unendlichen Verweisen» («un renvoi infini»30) verdichtet. Im Gegensatz zu jener Agambens ist Nancys Geste keine korrektive und negierende, sondern eine relationale Technik. Mehr noch: Gesten sind für Nancy, wie ich im Folgenden zeigen möchte, dynamische und produktive Sinnnetze, welche Transformationen und Formungen des Sinns und der Sinne herbeiführen. Spricht Nancy von Entschreibung, d.i. von «excription», so will er aber seine Ontologie des Körpers als ein besonderes Schriftkonzept verstanden wissen. Nancy begreift die «excription» nicht als ein sich durch das Spiel der Differenzen gestaltendes semiotisches Verfahren, d.h. als ein Gewebe von textuellen Relationen. Nicht von ungefähr spricht Nancy von der Entschreibung als einer «mise hors-texte».31 Damit weist er nicht zuletzt auf eine Zweitrangigkeit der semiotischen Koordinationsstrategien der Signifikanten im Lichte der das ganze Spektrum der ästhetischen Praktiken einschließenden Operativität der Entschreibung hin. Unter Nancys Konzept von «excription» sammelt sich also die Gesamtheit der kommunikativen und distanzschaffenden Techniken des Seins. Um diesen Punkt auf eine einfache Formel zu bringen: Die Entschreibung ist

29 Jean-Luc Nancy: Corpus. Paris: Métailié 22006, S. 19f. 30 Jean-Luc Nancy: L’Adoration (Déconstruction du christianisme, 2). Paris: Galilée 2010, S. 78. 31 Jean-Luc Nancy: Corpus, S. 14.

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für Nancy ein Schreiben, das sich auch ohne Schrift und ohne Schreiben verkörpert und eine Textur sinnlich-sinnhafter Relationen aufkommen lässt: «Ce qui, d’une écriture et proprement d’elle, n’est pas à lire».32 Nancy scheint allerdings zu ahnen, dass eine so konzipierte Idee der Geste des Entschreibens angesichts der Unkontrollierbarkeit hermeneutischer oder bloß sinngebender Prozesse, die im Bereich der Produktion und Rezeption literarischer und nicht-literarischer Texte auch unbewusst stattfinden, stark beeinträchtigt ist, weshalb er sich selber in Corpus die Frage stellt: «Y a-t-il en littérature des corps qui ne fassent pas signe»?33 Mit anderen Worten: Die Literatur stellt Nancy vor das Problem einer Geste, die Kommunikation durch eine in der Schwebe gehaltene Referenz prozessiert. Die «excription» ermöglicht in dieser Hinsicht die Fundierung einer Ästhetik der Geste, indem sie deren von der Rhetorik der actio bis einschließlich Agambens «medialità pura» theoretisierten negativen medialen Charakter durch die Unterbrechung des Sinns ausklammert. Die zuvor durch Agamben definierte mediale Erfahrungsbedingung kommt nun in Nancys «excription» als ein Spannungsverhältnis zum Vorschein: S’il y a autre chose, un autre corps de la littérature que ce corps signifié/signifiant, il ne fera ni signe, ni sens, et en cela il ne sera pas même écrit. [. . .] L’excription se produit dans le jeu d’un espacement in-signifiant.34

Hier scheint Nancy seine «excription» wieder als ein Schreiben ohne Schreiben auszudeuten und für eine Literatur jenseits der expliziten und unausgesprochen reglementierten Grenzen ihres Medium-Seins zu plädieren. Das Zeichen und seine Bedeutung bilden weder allein noch zusammen Nancys «Körper der Literatur». Der «Körper der Literatur» steht hier für sämtliche Übergangssphären und Zwischenräume, in denen sich der Sinn produziert und somit auch ereignet. Dieser Körper ist das Resultat von Spannungen zwischen Körpern, d.i. beispielsweise zwischen den literarischen Medien, wie etwa den Wörtern und ihrer Materialität. Eine solche Spannung ist das, was Nancy die «suspension du sens»35 nennt. Es handelt sich um eine nicht-intentionale, auf eine mögliche Sinngebung hin gerichtete Unterbrechung-Enthaltung des Sinns − das bedeu-

32 33 34 35

Ebda., S. 76. Ebda., S. 62. Ebda., S. 63. Ebda., S. 112.

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tet: um ein Schweben zwischen unterschiedlichen Dimensionen der aísthesis: «Le corps expose l’effraction de sens que l’existence constitue, absolumment et simplement».36 Infolge dieser Ambivalenz ist die von Spannung durchquerte Unterbrechung-Enthaltung des Sinns, die den «Körper der Literatur» erschafft, eine prozessual-transformative. «Suspension» und «interruption» konstituieren für Nancy die dynamische Physiognomie eines Sinns, der jede Determinierung und Individualisierung umgeht, indem er seine Beweglichkeit und Vernetzbarkeit sichtbar macht und somit präsentifiziert. In Nancys «Ontologie des Körpers» gibt es, anders als bei Agamben, keine Transparenz oder Neutralität: Die «excription» ist ein Modus der Technik, welcher die Prozesshaftigkeit des Sinns zum Ausdruck bringt. Insofern ist Nancys «Ontologie des Körpers» nicht als absolute Metapher auszulegen, sondern als ein situiertes, rundum konkretes Bündel sinnlicher Verhältnisse, die verschiedene mediale Realisierungen zulassen. Nancys Ästhetik der Geste wird nun als theoretische Folie für die Auslotung eines Bildes aus Michaux’ zweiter Fassung des 1972 veröffentlichten Émergences – Résurgences verwendet, um die «excription» mit konkreten Formen der Kunstpraxis und des Figurativen interagieren zu lassen.

5 Der «monde physionomique» von Henri Michaux Mit Émergences – Résurgences will Michaux eine künstlerisch vermittelte Reflexion über sein langjähriges Œuvre anstellen und dadurch, wie der Literatur- und Medienwissenschaftler Raymond Bellour unterstreicht, ein «autoportrait»37 zeichnen. Dieser Text lässt sich allerdings nicht allein als eine Poetik sui generis auslegen, da er gewissermaßen eine neue Phase von Michaux’ Schaffensweise attestiert. Das u.a. mit Connaissance par les gouffres (1961–1967) und Misérable miracle. La mescaline (1956) verfolgte Ziel einer «redistribution de la sensibilité»38 mittels der Transkription der durch Meskalin herbeigeführten Visionen wird in Émergences – Résurgences einem umfassenderen Projekt einer Ästhetik der «Geste-Bewegung» zugeführt, die in späteren Werken wie Idéogrammes en Chine

36 Ebda., S. 24. 37 Raymond Bellour: Lire Michaux. Paris: Gallimard 2011, S. 517. 38 Henri Michaux: Connaissance par les gouffres [1961–1967]. In: Œuvres complètes, Bd. 3. Herausgegeben von Raymond Bellour/Ysé Tran, in Zusammenarbeit mit Mireille Cardot. Paris: Gallimard 2004, S. 5.

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(1975), Saisir (1979) und Par des traits (1984) im Gewand einer künstlerischen Erkundung39 des typographischen Potentials der Schrift ausgearbeitet wird. An der Stelle möchte ich mich hauptsächlich auf die Interaktionen zwischen Schriftlichem und Figurativem in Émergences – Résurgences konzentrieren: Je désire plus que des gestes-mouvements. Je les voudrais non pas seulement faits de rage et d’emportement, ou d’espoirs d’en sortir, mais représentatifs de mouvements réels, et de toutes sortes de mouvements encore inimaginés.40

In seinem «monde physionomique»41 bedient sich Michaux sinnstiftender «gestesmouvements», welche im Zwischenraum von Realem und Vorstellbarem, von Faktischem und Antizipatorischem anzusiedeln sind. Das Bild Dessin de réagrégation (Abbildung 1), auf das sich Michaux’ Reflexion zu beziehen scheint, schlägt in diesem Zusammenhang den selbstreflexiven Mittelweg zwischen Figurativem

Abbildung 1: Henri Michaux: «Dessin de réagrégation» (1966), in: Émergences – Résurgences, S. 641.

39 Serge Chamchinov spricht in dieser Hinsicht von einer transmedialen «experimentellen Ästhetik», vgl. Serge Chamchinov: Le corporel et l’incorporel chez Henri Michaux. In: Alain Milon/Marc Perelman (Hg.): Le livre au corps. Nanterre: Presses universitaires de Paris Nanterre 2012, S. 236. 40 Henri Michaux: Émergences – Résurgences [1972]. In: Œuvres complètes, Bd. 3, S. 641. 41 Jean Starobinski: Le monde physionomique. In: Le Magazine Littéraire – Henri Michaux: Écrire et peindre 364 (1998), S. 53–55.

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und Nicht-Figurativem ein und vollzieht durch den Kurzschluss von Bild und Text ihre körperliche «excription». Die kritzelartigen Gesten, welche die Komposition geradezu teppichhaft verflechten und die Genese42 von graphischen Formen erblicken lassen, sollen nicht stellvertretend für eine zu darstellende Körperlichkeit43 stehen: Sie sind die Selbstfiguration eines schrankenlosen Spannungsverhältnisses und dadurch die unverkennbare Signatur jener Körperlichkeit, die sich erst als Bild kenntlich macht. Der Körper geht in Michaux’ Bild nicht dem «geste-mouvement» voraus, sondern bildet sich erst durch den entschreibenden Akt des «geste-mouvement» aus. Auch der Zuschauer nimmt an diesem Moment der Gestaltung teil, indem er die komplexe Textur des Bildes optisch abtastet. Das Auge schmiegt sich an die unterbrochenen Linien und gebrochenen Zeichen an, in dem Versuch, die perzeptive Fragmentierung zu überwinden, so dass sich der Rhythmus der optischen Wahrnehmung im augenblickshaften Taumel steigert. Das Resultat einer solchen prozessualen Dynamik ist eine Wahrnehmung, die sich fortwährend in vielfältige Richtungen ausbreitet und über neue Fragmente und Farbflecken erstreckt. Die Wahrnehmung des Rezipienten gestaltet sich in dieser Hinsicht auch gestisch, da sie eine spannungsreiche Beziehung zur Linearität des Schriftlichen und zur Nicht-Linearität des Bildlichen unterhält. In Émergences – Résurgences nennt Michaux diese Beziehung «tonus»: L’art est ce qui aide à tirer de l’inertie. Ce qui compte n’est pas le repoussement, ou le sentiment générateur, mais le tonus. C’est pour en arriver là qu’on se dirige [. . .] vers un état au maximum d’être, maximum d’actualisation [. . .] [L’art] est le plus énergétique moyen intérieur dont je dispose contre le proche ou le lointain entourage [. . .].44

Diese die körperliche Trägheit bekämpfende Kunst ist,45 ähnlich wie in Nancys Körperverständnis, eine Technik sinnlicher Spannung, die Transformationen im Schreib- und Leseakt produziert. In einem Interview von 1966 mit David Sylvester definiert der Künstler Francis Bacon Henri Michaux als «the best tachiste of free marks that have been made»; sein Zeichnen ist «totally outside an illustrational mark but yet always conveys you back to [. . .] a human image generally 42 Hier schließe ich mich an Christian Driesens Theorie der Kritzelei. Wien: Turia + Kant 2016, S. 11 an. 43 Hier distanziere ich mich von Karl Kürtös’ Interpretation in Henri Michaux et le visuel. Ekphrasis, mimésis, énergie. Frankfurt a. M.: Lang 2009, S. 13. 44 Henri Michaux: Émergences – Résurgences, S. 594. 45 Zur Dialektik zwischen Trägheit und Bewegung in Michaux’ Poetik der Geste vgl. Bei Huang: Henri Michaux et l’aventure du geste. In: Littérature 175 (2014), S. 106–122.

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dragging and trudging through deep ploughed fields, or something like that».46 Ordnet Bacon Michaux’ Kompositionen dem künstlerischen Gebiet des Tachismus, d.h. des informellen Action-Painting zu, so erkennt er deren der Darstellung widerstrebenden, an sich dynamischen Charakter. Das «human image», das aus Michaux’ Bildern hervorströmt, setzt sich aus Körperbewegungen und deren Spuren zusammen, die sich miteinander kreuzen und ein unauflösliches Energiebündel bilden. Menschen und Medium sind die sinnlichen Operatoren einer einzigen expressiven Bewegung,47 die sich im Hier und Jetzt der zeichenhaften Spuren vollzieht. Durch die Koexistenz von Schriftlichem und Bildlichem sowie von heterogenen graphischen Regimen entwickelt Michaux in Émergences – Résurgences eine eigenartige Ästhetik der Geste, die nicht auf Simulation und Verstellung gerichtet ist und die Bewegungen einer Sinnlichkeit im Entstehen durch das Zusammenspiel von Form und Gestaltlosigkeit sowie von Produktion und Rezeption hervorruft. Michaux’ «geste» gilt also als ein dynamisches Schreib- und Leseparadigma, welches eine prozesshafte Sinnstiftung zum Ausdruck bringt.

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46 David Sylvester: The Brutality of Fact. Interviews with Francis Bacon. New York: Thames & Hudson 21999, S. 61. 47 Zur Poetik der Bewegung im literarisch-figurativen Werk Michaux’ vgl. Laurie Edson: Henri Michaux and the Poetics of Movement. Saratoga (CA): Anma libri 1985, S. 91–113.

Von der Physiognomik zur Ästhetik der Geste

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Die hyperreale Gemeinschaft Physiognomik, Ästhetik und Ethik des Bildes im Zeitalter der Virtualisierung der Welt Vom physiognomisch-hermeneutischen Standpunkt aus1 kann das Bild als historischer Ausdruck entscheidender Transformationen betrachtet werden, die nicht nur unser Verhältnis zur Wirklichkeit betreffen, sondern diese selbst. Bereits in den achtziger Jahren begann der Übergang von der analogen zur digitalen Technologie, die in den letzten zwanzig Jahren zum Massenphänomen avancierte,2 sodass heute von einer verstärkten Derealisierung der Welt die Rede ist.3 Das Bild hat gänzlich und ohne Spuren zu hinterlassen die Welt ersetzt, sodass man von der Hyperrealität des Bildes sprechen kann: Das Bild ist realer als die Wirklichkeit selbst und von dieser nicht mehr zu unterscheiden. Es handelt sich, wie bereits Baudrillard bemerkt hat, um ein «perfektes Verbrechen» der Realität gegenüber.4 Das hyperreale Bild hat zwei Effekte: Zum einen anästhetisiert es die Realität in dem Sinne, dass es die Sichtbarkeit aller Dinge (Ästhetisierung) in Echtzeit übersteigert, was anstatt zur Entwicklung unseres Sehvermögens und unserer Fähigkeit, uns kritisch mit der Realität auseinanderzusetzen, zu Atrophie führen kann (Anästhetisierung, Desensibilisierung, Narkose, Lähmung). Zum anderen anethisiert das hyperreale Bild unsere Beziehung zur Realität, da es die Interaktivität mit allen Dingen (Ethisierung) in Echtzeit übersteigert, was zur Atrophie unserer Fähigkeit führen kann, eine tatsächliche Ethik der Kommunikation in der virtuellen Gemeinschaft zu praktizieren (An-Ethisierung). Im Umfeld der digitalen Derealisierung (Hyperrealisierung), d.h. in der Mediensphäre, verschmelzen hyperreales Bild und hyperreale Gemeinschaft und bedingen eine neue (ästhetische und ethische) Physiognomik, sowohl was die

1 Vgl. Giovanni Gurisatti: Dizionario fisiognomico. Il volto, le forme, l’espressione. Macerata: Quodlibet 2006. 2 Vgl. Quentin Bajac: Après la photographie? De l’argentique à la révolution numérique. Paris: Gallimard 2010; André Gunthert: L’image partagé. La photographie numérique. Paris: Textuel 2015. 3 Vgl. Giovanni Gurisatti: Scacco alla realtà. Estetica e dialettica della derealizzazione mediatica. Macerata: Quodlibet 2012. 4 Vgl. Jean Baudrillard: Le crime parfait. Paris: Galilée 1995; ders.: Le Pacte de lucidité ou l’intelligence du Mal. Paris: Galilée 2004. https://doi.org/10.1515/9783110665055-009

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Bilder selbst betrifft (Ikonosphäre) als auch das Leben in den Bildern und mit den Bildern (Biosphäre). Um nachvollziehen zu können, worin die epochale Bedeutung des Übergangs vom Analogen zum Digitalen besteht, also der zweiten Bildrevolution in den 1980er Jahren, ist es hilfreich, einen Schritt zurück zu gehen: zum Übergang vom Mimetischen zum Analogen, vom Malerischen zum Fotografischen, also zur ersten Bildrevolution Mitte des 19. Jahrhunderts.5 Die Malerei, verstanden als Chromographie oder Farb-Schrift, hat ihren Ursprung im Mimetischen. Diese Mimesis besteht allerdings nicht in der direkten Nachahmung oder in der schlichten Reproduktion der Wirklichkeit, wie etwa der fotografische Abzug, sondern in einer expressiven und schöpferischen Mimesis von Seiten des Subjekts. In Wahrheit und Methode bezeichnet Gadamer sie als ein In-die-Form-Setzen bzw. als ein Ins-Bild-Setzen: eine Darstellung, ein ‹unähnliches› Bild, das, je nach künstlerischer Vermittlung, nicht kopiert, sondern das jeweilige Objekt enthüllt, ins Licht setzt und mit Sinn auflädt. Die malerische Mimesis hat einen ikonischen Status: Da sie sich auf Einbildungskraft gründet, ist sie im ontologischen Sinne immer irreal, nicht unmittelbar referenziell, verhältnismäßig autonom, nicht an eine konkrete und dauerhafte figürliche Präsenz gebunden. Aufgrund des Fehlens einer referentiellen Kontiguität zum jeweiligen Objekt, verweist das gemalte Bild auf die Idee eines vermittelten Zugangs zur Realität durch den selektiven Blick des Künstlers. Das bedeutet, die Kompetenz, das meisterhafte Können des Künstlers und seine subjektive Sensibilität befähigen ihn, die Realität wahrzunehmen, ihr Form zu verleihen und sie in ein Bild zu verwandeln – mit allen Risiken, die ein solches Verfahren bezüglich der Interferenzen und Alterationen mit sich bringt, die die u.a. narrativen, konstruktiven, ästhetischen Intentionen des Künstlers im Verhältnis zwischen Bild und Wirklichkeit bedingen können. Im Wesentlichen ist das gemalte Bild, wie ähnlich es auch sein mag, immer ein fakultatives, optionales, diskretionäres Bild. Der epochale Wandel vom Mimetischen zum Analogen, von der Malerei zur Fotografie bzw. von der Chromographie zur Photographie (Licht-Schrift) ist bezüglich des ontologischen Status’ des Bildes entscheidend: Das Analoge setzt eine Identitätsbeziehung, eine unmittelbare Gleichheit zwischen zwei Dingen

5 Zu dieser geschichtlichen Medienkonstellation vgl. Walter Benjamin: Kleine Geschichte der Photographie. In: Gesammelte Schriften. Bd. 2.1. Herausgegeben von Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1980, S. 368–385; Rosalind Krauss: Le photographique. Paris: Macula 1990; Pierre Sorlin: Les fils de Nadar. Le ‹siècle› de l’image analogique. Paris: Nathan 1997. Für eine Überblicksdarstellung verweise ich auf Michel Frizot (Hg.): Neue Geschichte der Fotografie. Köln: Könemann 1998.

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voraus; es verweist auf die Idee der Konformität und Kontinuität. Die Fotografie ist eine kontinuierliche Schrift des Lichts, welches durch die Belichtung des Objekts eine direkte Spur auf dem Film hinterlässt, mit einem unmittelbaren chemischen Abdruck, der (auf molekularer Ebene) in einer materiellen Kontinuität zwischen zwei physischen Medien erfolgt. Das Fotografische ist ontologisch gesehen semiotisch (von semeion, ‹Zeichen›). Es handelt sich dabei um ein Zeichen, das notwendigerweise Spur, Abdruck, Indiz und unmittelbarer ‹Index› des Objekts sein muss.6 Während sich das Ikon einer eindeutigen Fixierung entzieht, selektiv und eingebildet ist, setzt der Index eine Kontinuität, Identität und Stabilität zwischen Referenten und Zeichen voraus. Das analoge Bild, das auf der referentiellen Kontiguität zu seinem jeweiligen Objekt basiert, ist unwiderlegbares und notwendiges Zeugnis und Dokument einer Präsenz, Probe sowie Attest eines Etwas, das da ist oder zumindest da war. Roland Barthes schreibt in Die helle Kammer: «Photographischen Referenten» nenne ich nicht die möglicherweise reale Sache, auf die ein Bild oder ein Zeichen verweist, sondern die notwendig reale Sache, die vor dem Objektiv platziert war und ohne die es keine Photographie gäbe. [. . .] [I]n der Photographie [läßt sich] [. . .] nicht leugnen, daß die Sache dagewesen ist. [. . .] die Referenz [stellt] das Grundprinzip der Photographie [dar]. Der Name des Noemas der Photographie sei also: «Es-ist-so-gewesen» oder auch: das Unveränderliche. [. . .] wenn ich ein Foto betrachte, so schließe ich unweigerlich in meine Betrachtung den Gedanken an jenen Augenblick, so kurz er auch gewesen sein mag, mit ein, als sich etwas Reales unbeweglich vor dem Auge befand. [. . .] Die Photographie ist, wörtlich verstanden, eine Emanation des Referenten. Von einem realen Objekt, das einmal da war, sind Strahlen ausgegangen, die mich erreichen, der ich hier bin.7

Von einem historisch-hermeneutischen Blickwinkel aus evoziert das Analoge die moderne Dimension der Technik und der Naturwissenschaft, des Realismus, Naturalismus und Positivismus: die Idee von Objektivität, Gegebenheit, Gegenständlichkeit und Referentialität, in der der Fotograf eher als passiver (objektiver) Voyeur, Betrachter, Entdecker, Empfänger, Analytiker und Dokumentarist denn als aktiver (subjektiver) genialer Schöpfer verstanden wird. Ontologisch betrachtet ist die von der Fotografie dargebotene Realität nicht fakultativ, optional, eingebildet – wie die von der Malerei dargebotene Wirklichkeit –, sondern attestierend, bezeugend, dokumentarisch, unveränderlich (es handelt sich um den berühmten

6 Vgl. Rosalind Krauss: Teoria e storia della fotografia. Herausgegeben von Elio Grazioli. Mailand: Mondadori 2000, S. 73f., 143f.; Charles S. Peirce: Semiotica. Herausgegeben von Massimo A. Bonfantini u.a. Turin: Einaudi 1980 [1931–1935], S. 151, 158f. 7 Roland Barthes: Die helle Kammer: Bemerkungen zur Photographie. Übersetzt von Dietrich Leube. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1985, S. 86–88, 90–91 (Hervorhebungen im Original).

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entscheidenden Moment, in dem man auf den Auslöser drückt, was bei Autoren wie etwa Henri Cartier-Bresson oder Robert Capa eine zentrale Rolle spielt). Natürlich gründen theoretische Überlegungen zu Fotografie und fotografischer Praxis in ästhetischer Hinsicht oft auf der Notwendigkeit,8 der Idee zu widersprechen, nach der die Rolle der Fotografie jene sei, die realistische indexikale Objektivität des Mediums zu respektieren, welche aber die kreative und perspektivische, konstruktive und qualitative, subjektive und expressive Geste des Fotografen tendenziell verdunkeln würde. Sowohl in regressiver (wie es bei der sogenannten ‹malerischen› Fotografie der Fall ist) als auch progressiver Hinsicht (Avantgarde-Fotografie, Fotomontage, Konzeptfotografie) war der indexikale Abdruck ein Objekt der Kritik, sei es im Produktionsakt (Auswahl des Objekts, Apparatur, Objektiv, Einstellung, Bildausschnitt, Film usf.), sei es in der Nachbearbeitung (Montage, Retusche, Manipulation, Simulation). Der fotografische Realismus ist im Grunde ein Missverständnis.9 Noch mehr gilt das im Bereich der Ethik, man denke etwa an die dokumentarische Fotografie im Nachrichtenbereich, der Reportage und des Fotojournalismus,10 wo die theoretische Auseinandersetzung mit dem Analogen und die metalinguistische Praxis des analogen Bildes sich auf die Notwendigkeit gründet, der irreführenden Idee zu widersprechen, die realistische, indexikale Objektivität des Mediums (die reine Lehre der Fotografie als Dokument, Abdruck und Spur) sei unanfechtbar. Dies würde tendenziell – sei es bei der Produktion, sei es bei der Nachbearbeitung – die kreative und perspektivische, subjektive und aktive Rolle des Subjekts, das sie einnimmt, auslöschen. Die Geschichte des Fotojournalismus ist durch verschiedene Entscheidungen hinsichtlich der Perspektiven, Montagen, Retuschen, Konstruktionen, Inter-Ikonisierungen, Simulationen, Fälschungen usw. gekennzeichnet – also durch die Präsenz der bewussten Manipulation sowohl des realen Ereignisses (Subjekte und fotografierte Fakten) als auch des FotografieObjekts (das Negativ, die materielle Spur) mit narrativen (d.i. formativen und performativen) Derealisations-, Ästhetisierungs- und Anästhesierungseffekten.11

8 Vgl. Charlotte Cotton: The Photography as Contemporary Art. London: Thames & Hudson 2004. 9 Vgl. Giacomo D. Fragapane: Punto di fuga. Il realismo fotografico e l’immagine digitale. Rom: Bulzoni 2005, S. 11f. 10 Vgl. Michele Smargiassi: Un’autentica bugia. La fotografia, il vero, il falso. Rom: Contrasto 2009. 11 Vgl. Susan Sontag: Sulla fotografia. Realtà e immagine nella nostra società. Übersetzt von Ettore Capriolo. Turin: Einaudi 2004, S. 19f., 36–37, 96–98; Clément Chéroux: Diplopie. L’image photographique à l’ère des médias globalisés. Paris: Le Point du Jour 2009; Michele Smargiassi: Un’autentica bugia, S. 179–189; Emanuele Crescimanno: Dall’analogico al digitale. Fotografia, esperienza e progresso tecnologico. Palermo: Centro Internazionale Studi di Estetica 2013, S. 70f.

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Nichtsdestoweniger stößt die Idee, dass auch das analoge Bild fakultativ, optional, diskretionär, perspektivisch ist, an Grenzen, wenn es um die zwingende Materialität des Mediums und seines Objekts geht: Wenn man den Auslöser drückt, muss jedenfalls notwendigerweise ein Etwas da sein, das – wie Barthes schreibt – notwendigerweise vor dem Objektiv ist und dazu führt, dass das Fotografieren stattfindet. Dem Auslösen folgt die chemische Entwicklung, die Manipulation des Negativs, der Druck auf Papier, die Übertragung und Verbreitung (in diachronischer Zeitlichkeit: Es gibt immer einen großen Abstand zwischen dem Auslösen und der finalen ‹Veröffentlichung›). Die physische Wirklichkeit des analogen Bildes ist in Echtzeit weder manipulierbar noch übertragbar. Außerdem sind all diese Verfahren von Produktion, Manipulierbarkeit und Übertragbarkeit nur Fachkräften mit spezieller technischer Kompetenz zugänglich. Das dokumentarische und indexikal-bezeugende Wesen des analogen Bildes bleibt als sein ontologisches «Noema»12 und drückt – auch jenseits der ikonischen Absichten von Seiten des Fotografen – in jedem Fall eine Idee von Wirklichkeit als etwas Stabiles, Präsentes, objektiv Feststellbares und Reproduzierbares oder Manipulierbares aus. Die endgültige Durchsetzung der Digitaltechnologien im Bereich der Bildproduktion Anfang der 1990er Jahre markiert die zweite Bildrevolution, den epochalen Übergang vom Analogen zum Digitalen, vom Realen zum Virtuellen, von der Fotografie zur Digitografie (aus dem Englischen digit, Ziffer, Zahl; aus dem Lateinischen digitalis, digitus, ‹Fingerzählen, Ziffer, Nummer›): das Bild als Schrift der Ziffern, Nummernschrift.13 Während das Analoge auf der Idee von Kontinuität und Abdruck in Beziehung zur Realität beruht, fußt das Digitale auf der Idee von Diskontinuität, der Unterbrechung, der ‹diskreten› (aus dem Lateinischen discretus von discernere, ‹trennen, teilen, unterscheiden›) Beziehung zur Wirklichkeit. Die Digitaltechnik ist diskret, indem die Variationen des Lichtsignals gesammelt (diskretisiert) und in eine binäre Sequenz von eins und null übersetzt werden; sie ist der Ursprung der kleinsten Einheiten des Bildes, der Pixel. Diese sind immateriell, da sie rein numerischer Natur sind und erscheinen unvermittelt auf einem ebenso immateriellen Träger, dem Monitor. Das ist die ontologische Revolution der Digitografie: Während im Analogen jedes kleinste Element der Körnung von seiner Notwendigkeit als materielle, fixierte Spur zeugt, erhält im Digitalen jedes Pixel die numerische Möglichkeit unendlicher Permutationen. Das analoge Bild ist kontinuierlich-zwingend (physisch, 12 Zum diesem Konzept vgl. Roland Barthes: Die helle Kammer. 13 Hier setze ich mich mit folgenden Studien auseinander: Erika D’Amico: Digitografie. La fotografia digitale nelle pratiche comunicative. Neapel: Liguori 2008, S. 22f., 48f.; Veronica Neri: L’immagine nel web. Etica e ontologia. Rom: Carocci 2013, S. 94f.

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konkret, real), das digitale Bild ist diskontinuierlich-möglich (numerisch, immateriell, virtuell). Das Digitografische ist virtuell, d.h. es ist als Potenzial möglich, es ist etwas, das sich verwirklichen kann, wohingegen das Reale gegeben, faktisch, bereits geschehen ist. Konzeptuell setzt die Digitografie dem Regime von Realität, Referenz und Präsenz, wie es für die Fotografie noch maßgeblich war, ein Ende. Das synthetische Bild ist also autonom (es braucht keine Realität außerhalb seiner selbst), selbstbildend (es braucht keinen Referenten) und abwesend (es braucht keine Präsenz).14 Aus physiognomischem Blickwinkel stellt sich der epochale Übergang vom Analogen zum Digitalen als Übergang vom Dokumentierenden zum Fiktionalen dar, vom Faktischen zum Virtuellen, vom Bezeugenden zum Simulierten.15 Die Digitografie ist also sowohl derealisiert (sie besteht aus Impulsen, Energien, Ziffern, Nummern, Pixel, Bit, Codes; ihre ‹Realität› wird durch Algorithmen gebildet, durch Software; plastische Sichtbarkeit wird ihr durch Monitor, elektronischen Speicher, digitales Archiv, Netz, Datenstrom verliehen) als auch derealisierend (ihre Haupteigenschaften sind Flexibilität, Duktilität, Formbarkeit, Fluidität). Wenn die Malerei (Einbildung) mit der Prämoderne identifiziert wird und die Fotografie (Indexikalisierung) mit der Moderne, sind in der Digitografie (Virtualisierung) alle Charakteristiken der postmodernen (postfotografischen) Epoche gebündelt, die Baudrillard als «Ordnung der Simulakren» und «Hyperrealismus der Simulation» begreift,16 also der referenzlosen Bilder, die jedoch ununterscheidbar von jenen sind, die sich auf einen Referenten beziehen. Eine Gesellschaft, in der sich das Reale und das Fiktionale unauflöslich vermischen und so eine diffuse Ungewissheit und Unentschiedenheit gegenüber dem Sichtbaren schaffen: Einer maximalen Ästhetisierung der Welt (maximale Sichtbarkeit) entspricht eine diffuse Anästhetisierung unserer Beziehung zur Welt (Betäubung der Erfahrung).

14 Mario Costa: Della fotografia senza soggetto. Per una teoria dell’oggetto tecnologico. Mailand: Costa & Nolan 1997, S. 92 und 102; vgl. auch Veronica Neri: L’immagine nel web, S. 97. 15 Giacomo D. Fragapane: Punto di fuga, S. 23f. 16 Jean Baudrillard: Lo scambio simbolico e la morte. Übersetzt von Girolamo Mancuso. Mailand: Feltrinelli 1984, S. 84–90. Simulieren bedeutet «nachahmen, darstellen, kopieren», aber auch «vortäuschen, vorgeben, lügen»; Kunst der Simulation als Kunst, etwas auszuführen, aber auch zu täuschen und zu überlisten. Außerdem bringt die zeitliche Komponente simul (zusammen, simultan) auch die Vorstellung von Gleichzeitigkeit und Gleichwertigkeit mit sich. Das Simulakrum, verstanden als fiktionale/virtuelle Konstruktion der Wirklichkeit, scheint ebenso viel oder mehr als die Realität selbst zu gelten: «Hyperrealität» und «Ultra-Realität».

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Nun könnte man einwenden, dass es im Übergang vom Analogen zum Digitalen aus zwei Gründen keine wirkliche (d.h. eine falsche) Revolution gegeben habe:17 a) Es könnte entgegnet werden, dass die Digitografie in ihrer Virtualität, Manipulierbarkeit und Schöpferkraft das Bild im Sinne einer retroaktiven Aufnahme auf sein mimetisch-malerisches Wesen lediglich zurückführt, wenn sich die Digitaltechnik in den Dienst jeder möglichen Form von künstlerischer und schöpferischer Produktion stellt und so den subjektiven Ausdruck und die subjektive Einbildungskraft derart potenziert, dass sie über jede plastische Grenze hinausreichen.18 Die Digitografie erscheint hier also als eine hypertechnologische, virtuelle Chromografie. b) Oder umgekehrt könnte eingewendet werden, dass die Digitografie das fotografische Bild im Sinne der progressiven Kontinuität in seinem analog-indexikalischen Status lediglich weiterentwickelt, wenn sich die Digitaltechnik in den Dienst jeder möglichen Form von Zeugenschaft und Dokumentation in Echtzeit stellt und so die Befähigung eines jeden ins Extreme steigert, den Augenblick festzuhalten und ihn unmittelbar in einem Bild zu fixieren. Die Digitaltechnik würde so nichts Anderes bewirken, als Elemente zu hyperentwickeln, die bereits in der analogen Technologie angelegt sind (u.a. Auslösung, Produktion, Reproduktion, Manipulation, Montage, Archivierung, Übertragung, Verbreitung). Die Tatsache, dass sich all dies ohne chronotopische Begrenzungen ereignet – man denke nur an die neusten Smartphones – und für jeden zu jedem Zeitpunkt möglich ist, würde grundsätzlich nichts daran ändern, dass es sich um Digitalfotografien handelt, die eine Realität aufnehmen, die vor das Objektiv des Mediums gebracht wird.19 Hier haben wir es also mit einer Digitografie als hypertechnologischer, virtueller Fotografie zu tun. Beide Einwände berühren einen Kernpunkt der Fragestellung – und zwar die mimetisch-malerische und die analog-indexikalische Nutzung des Virtuellen –, aber nicht ihren konzeptuellen Kern bzw. ihre ontologische Essenz,20 die im

17 Claudio Marra: L’immagine infedele. La falsa rivoluzione della fotografia digitale. Mailand: Mondadori 2006, S. 2–6, 21–41, 86–94; André Gunther: L’immagine condivisa, S. 16, 26–33. 18 Vgl. Stefania Garassini/Barbara Gasparini: Rappresentare con i new media. In: Gianfranco Bettetini/Fausto Colombo (Hg.): Le nuove tecnologie della comunicazione. Mailand: Bompiani 1993, S. 96; Claudio Marra: L’immagine infedele, S. 106. 19 Ebda. Vgl. dazu auch André Gunther: L’immagine condivisa. 20 Mario Costa: Immagine e fotografia digitale. In: La disumanizzazione tecnologica. Il destino dell’arte nell’epoca delle nuove tecnologie. Mailand: Costa & Nolan 2007, S. 89–95.

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Grunde ‹post-fotografisch› ist.21 Es geht mit anderen Worten um die Tatsache, dass die Digitaltechnik (potenziell allen) erlaubt, Bilder zu erschaffen, die von der objektiven Realität vollkommen ununterscheidbar sind (was für die Malerei unmöglich ist) und zwar ohne, dass dafür eine solche Realität faktisch existieren muss, die als Objekt vor dem Objektiv liegt oder auf die unser Blick fällt (was für die Fotografie unmöglich ist). Wird die Digitografie ihrer Essenz entsprechend (d.h. ihrem ‹Noema›, also ihrem referenzlosen Bildsein, vollkommen ununterscheidbar von einem Bild mit Objekt) eingesetzt, sodass sie weder wie die Malerei noch wie die Fotografie operiert, so setzt die Digitografie weder eine fiktive, einbildende Wirklichkeit ins Bild (wie bei der Malerei) noch reproduziert oder manipuliert sie eine reale Wirklichkeit (wie die Fotografie), sondern ersetzt die Realität durch eine Hyperrealität, welche ihre simulierte Wahrhaftigkeit beibehält. Die perfekte Digitografie (der Akteur des «perfekten Verbrechens» der Realität gegenüber, da er weder Spur ist, noch eine solche hinterlässt) braucht keine Wirklichkeit, um als real zu erscheinen bzw. real zu sein. Sie lässt sich durch Rückgriff auf jegliche Art von virtuellem ikonischem Archiv erzeugen, welches selbst das Ergebnis virtueller Ikonisierungen ist. Statt wie ein Maler ein einbildungsvoller Schöpfer oder wie ein Fotograf ein semiotischer Zeuge zu sein, zeichnet sich der Digitograf dadurch aus, dass er im Grunde dekonstruiert, nachbearbeitet und manipuliert. Er ist ein verwandlungsfähiger Monteur von bereits existierenden, gespeicherten und archivierten (digitalen) Daten und Datenfragmenten. Die Digitalfotografie eines realen Objekts, das vor ein digitales Objektiv gebracht wird, ist nur die analoge Nutzung der Digitaltechnik, ohne dabei ihr Wesen zu erfassen, welches in der Möglichkeit besteht, ‹reale› Bilder der Realität zu erschaffen, ohne den eigenen Schreibtisch oder das Arbeitszimmer dafür verlassen zu müssen: Digitografie erzeugt in dieser Hinsicht eine hypertechnologische, virtuelle Realität. Die Ära des Digitalen bringt nicht nur eine unbegrenzte Steigerung der Schöpferkraft und diffusen malerischen Einbildungskraft mit sich und erlaubt nicht nur jedem, die Welt in Echtzeit zu dokumentieren und zu manipulieren, sondern sie gibt auch jedem die Möglichkeit, hyperreale Irrealitäten zu kreieren, die von der realen Realität nicht mehr unterscheidbar sind. Meines Erachtens nach besteht genau darin die tatsächliche, physiognomische Neuigkeit des digitalen Bildes: Von einem physiognomischen Blickpunkt aus betrachtet ist

21 Joan Fontcuberta: La cámara de Pandora. La fotografi@ después de la fotografia. Barcelona: Gili 2010.

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die irreale Hyperrealität die neue Dimension der medialen Derealisierung. Sie schließt eine radikale Modifikation von Zeit und Raum virtueller Bilder ein: – Der Raum des Virtuellen ist ein offener-geschlossener Hyperraum (und gleichzeitig ein Pseudoraum): geschlossen und begrenzt, weil sich alles im Bereich eines Zimmers (die Website) abspielen kann – offen und unbegrenzt, weil sich im Netz alles (wie eine Epidemie) in einem Augenblick ausbreiten kann und weil man es weder einen spezifischen Ort noch einen spezifischen Träger (außer den Monitor) braucht, um rezipiert zu werden. Maximale Nähe (Sichtbarkeit = Ästhetik) und maximale Distanz (Unsichtbarkeit = Anästhesie) sind im Netz auf untrennbare Art miteinander verwoben, so dass von einer anästhetisierenden Derealisierung des Raumes gesprochen werden kann. – Die Zeit des Virtuellen ist eine Hyperzeit (Pseudozeit), einerseits augenblicklich und simultan, andrerseits unveränderlich und verewigend: augenblicklich/simultan, da alles – Produktion, Manipulation, Übertragung, Verbreitung des Bildes – in Echtzeit ablaufen kann; unveränderlich/verewigend, da fast jedes Bild, das einmal ins Netz gestellt wurde, sich kapillarisch ausbreitet, in einer immer aktuellen Gegenwart existiert, die theoretisch ewig andauert. Dieses Bild operiert wie eine unveränderliche, unauflösliche Spur, so dass man von einer simultanisierenden-verewigenden Derealisierung der Zeit gesprochen werden kann. Diese chronotopischen Merkmale der Virtualität des Bildes erwecken die ‹surmoderne› Dimension der medialen Derealisierung, also die Idee, dass die Gesamtheit der Realität in der netzartigen, flüchtigen, fließenden Dynamik der Telekommunikation und der autonomen Operativität künstlicher Intelligenz aufgeht. Die Virtualität ihrerseits bedingt die Viralität des Bildes bzw. seine epidemische Beschaffenheit; ohne Unterscheidungen vorzunehmen, kann es sich überall mit einem unmittelbaren und irreversiblen Ansteckungseffekt ausbreiten. Im Netz erfolgen Produktion, Übertragung und Empfang von Bildern im Zeichen diffuser Unmittelbarkeit von Konsum, Mit-Teilung, dynamischer Interaktion und simultaner Vielseitigkeit22 – die sind alle epidemische Faktoren, die die Möglichkeiten ansteckender Ausbreitung bis in die kleinsten Zellen des sozialen Körpers (in die Digital Natives beispielsweise), vor allem innerhalb sozialer Netzwerke und virtueller Gemeinschaften ins Übermaß steigern.23

22 Fred Ritchin: After Photography. New York: Norton 2009; Emanuele Crescimanno: Dall’analogico al digitale, S. 78f. 23 Erika D’Amico: Digitografie, S. 91f.; vgl. dazu auch André Gunther: L’immagine condivisa.

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Dies alles wirft die Frage einer neuen Ethik des Bildes, besonders im Netz,24 hinsichtlich seiner unbegrenzten Manipulierbarkeit auf, mehr noch aber hinsichtlich seines hyperrealen Formats (siehe z.B. das Phänomen der fake news).25 Diese Perspektive könnte man in drei Bereiche unterteilen: a) den juristischen: Rechtsnormen und Vorschriften hinsichtlich u.a. Sicherheit, Privatsphäre, Urheberrecht, irreführende Werbung, Betrug, Schutz Minderjähriger;26 b) den deontologischen: ethische Kodizes, Regeln der Berufspraxis, gemeinsame Selbstregulierungen, die, da sie keinen juridisch bindenden Wert besitzen, durch professionelle Vertreter verschiedener Einsatzbereiche von Bildern (journalistische, informative, wissenschaftliche, kommerzielle, werbetechnische usw.) selbstverwaltet werden;27 c) den ethischen: gewinnt dort an Wert und Aktualität, wo weder die rechtlichen Normen noch die professionelle Selbstregulierung hinreichen können, wo also tatsächlich nichts sanktionierbar ist, aber alles in der Fähigkeit zur ethischen Selbstregierung des einzelnen, im Netz agierenden Subjekts angelegt ist: Selbstbewusstsein, Verantwortungssinn, Respekt, Anstand, Kontrolle, Abstand, Kritik; Netiquette bzw. Governance, Ethik der visuellen Kommunikation und der Online-Kommunikation.28 Auf das agierende Subjekt in der virtuellen Gemeinschaft (hyperrealen Gemeinschaft) würden sich an diesem Punkt die Ergebnisse der Studien des späten Foucault anwenden lassen, die sich mit der «Sorge um Sich» und der «Ästhetik der Existenz» in den Bereich der hellenistisch-römischen Schulen, Gemeinschaften und Kulturen beschäftigen, wo die ästhetisch-ethische Regierung des Selbst (Selbstwelt) die Voraussetzung sowohl für die Regierung der Anderen (Mitwelt) als auch für die Regierung des medium vitale (Umwelt) ist.29 Die Regeln der askesis und der Weisheit für das konkrete Leben, im Privaten wie im Öffentlichen, könnten auch in der Biosphäre (dem Leben jedes Einzelnen in der virtuellen Realität), der Mediensphäre (dem Leben innerhalb der virtuellen Ge24 Veronica Neri: L’immagine nel web, S. 57f. 25 Michele Smargiassi: Un’autentica bugia, S. 45–55, 202–203, 271f., 294f.; vgl. auch Veronica Neri: L’immagine nel web, S. 135f. 26 Vgl. Veronica Neri: L’immagine nel web, S. 118f. 27 Vgl. ebda., S. 122f., 135f. 28 Dazu vgl. Emanuele Crescimanno: Dall’analogico al digitale, S. 50–58; Veronica Neri: L’immagine nel web, S. 88f., 116f., 124–131, 161f. 29 Zu diesem Punkt verweise ich auf Michel Foucault: L’usage des plaisirs. Paris: Gallimard 1984a; ders.: Le souci de soi. Paris: Gallimard 1984b; ders.: L’herméneutique du sujet. Cours au Collège de France 1981–1982. Herausgegeben von Frédéric Gros. Paris: Seuil/Gallimard 2001.

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meinschaft) und der Ikonosphäre (dem Leben im Bereich der Bilder) wirksam gemacht werden.30 In anderen Worten bedeutet das, dass die ethopoietische Selbst-Bildung, die von Foucault entwickelt wurde,31 angemessen bearbeitet, einen aktuellen Anschluss in der hyperrealen Gemeinschaft finden könnte und sich so in den Subjekten eine kritisch-dialektische Ästhetik und Ethik hinsichtlich der Qualität, der Wahrhaftigkeit und der Mitteilbarkeit der Bilder entwickeln könnte, die sich gegen die inflatorische, kontaminierende, epidemische, virale Tendenz wendet, die aus der Ästhetisierung (totale Sichtbarkeit in Echtzeit) eine Anästhetisierung (Atrophie der kritischen Erfahrung des Sichtbaren) macht sowie aus der Ethisierung (Interaktion mit allen in Echtzeit) eine An-Ethisierung (Fehlen von Ethik der Interaktion). Zum Zweck einer derartigen ästhetisch-ethischen Bildung eines OnlineSelbst (das Selbst in der Biosphäre der hyperrealen Gemeinschaft) lassen sich zwei komplementäre Hypothesen aufstellen. Erstens eine pädagogische Hypothese: Es bedarf einer «neuen Alphabetisierung des Visuellen»32 und zwar muss sich diese auf verschiedenen Ebenen vollziehen: – ontologisch im Hinblick auf Wesen und Technik des Bildes: Was ist das Bild? – phänomenologisch hinsichtlich der Formen des Bildes: Wie zeigt sich das Bild? – hermeneutisch in Bezug auf die historische Wahrheit des Bildes: Was ist der historische Sinn des Bildes? – ästhetisch im Hinblick auf das Bild und sein Leben: Wie verhält sich das Bild? – ethisch in Bezug auf das Bild und unser Leben mit dem Bild: Wie verhalten wir uns (wie sollten wir uns verhalten) dem Bild gegenüber? Diese Pädagogik des Mediums (eikon), des Blickes (aisthesis) und des Verhaltens (ethos) zielt – gegen jegliche emphatische, akritische Naivität in der Beziehung mit den Bildern – auf die Ausbildung der Fähigkeit zur Dekodierung, Dekonstruktion und kritischen Interpretation unter einem kognitiven und emotionalen Gesichtspunkt zur Erforschung der Intention des Bildes (besonders im Netz), seiner expliziten (das Was) und impliziten (das Wie) Strategie

30 Giovanni Gurisatti: Scacco alla realtà, S. 314f. 31 Vgl. Giovanni Gurisatti: L’animale che dunque non sono. Filosofia pratica e pratica della filosofia come est-etica dell’esistenza. Mailand/Udine: Mimesis 2016, S. 229–285. 32 Veronica Neri: L’immagine nel web, S. 64–73.

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sowie seiner Effekte ab.33 Es handelt sich um eine Ethik des Blickes, «als Gegenmittel zur Diktatur des Bildes, um der Idolatrie des Bildes als solcher abzuschwören und um zu lernen, die Ikonosphäre mit einem gesteigerten Bewusstsein zu interpretieren».34 Zweitens möchte ich eine ästhetologische Hypothese aufstellen betreffs der Möglichkeit, dass das Bild selbst auf technisch-künstlerische Art zu einer (in ontologischer, phänomenologischer, hermeneutischer, ästhetischer und nicht zuletzt ethischer Hinsicht) neuen Alphabetisierung des Visuellen und des Bildes beitragen könnte.35 Jenseits von imaginativen und formativen Effekten («schön», «glänzend», «lustig», «vergnüglich», «aus intelligenter Unterhaltung», «morphologisch von Qualität»), könnte die digitale Kunst (web art, software art, computer art, Videokunst) auch performative Effekte hervorbringen, d.h. Effekte, die imstande sind, zu ästhetisch-ethischen Verhaltensweisen anzuregen, sowohl von Seiten der Produzenten als auch der Nutzer. Es geht nicht nur um formale (kommunikative), sondern auch um meta-formale (meta-kommunikative) Kunst, die sich als Werkstatt für kollektive Experimente anbietet, neue kritische Anwendungen der digital-virtuellen Realität erschafft sowie neue praktische Beziehungen in ihrem Inneren. Denkbar wären Projekte und künstlerische Experimente, welche die Technologien des Internets und seine virtuell-digitalen Produkte dekonstruieren, die ästhetisch-ethischen Möglichkeiten des Internets untersuchen oder/ und sich mit den praktischen Folgen des digitalen Wandels auseinandersetzen.36 Eine hacktivistische (hacker + activism) Kunst seitens eines (einzelnen oder kollektiven) Subjekts, das Bilder produziert und verbreitet und als Subjekt nicht nur Schöpfer (u.a. Produktion, Ausdruck, Einbildungskraft, Vergnügen, Experimentieren, Spiel), Zeuge (im Sinne der Dokumentierung, Attestierung, Information und Gegeninformation) und Verbreiter (Interaktion, Austausch, Kommunikation, Mit-Teilung, Demokratisierung usf.), sondern auch Dekonstrukteur von Bildern (Überarbeitung, Manipulation, Komposition, Vermischung, meta-linguistische und metakommunikative Montage von gespeicherten und archivierten Daten oder Datenfragmenten) ist. Dieses schöpferische Subjekt soll in der Lage sein, intermediale Produkte zu erschaffen,37 die zu einem kritischen Verständnis der Bilder, zu einer

33 Vgl. Michele Smargiassi: Un’autentica bugia, S. 271f.; Pietro Montani: L’immaginazione intermediale. Perlustrare, rifigurare, testimoniare il mondo visibile. Rom/Bari: Laterza 2010, S. XIf., 9, 13, 23f.; Emanuele Crescimanno: Dall’analogico al digitale, S. 66–69; Veronica Neri: L’immagine nel web, S. 78–84; 106–109; 113f. 34 Veronica Neri: L’immagine nel web, S. 106. 35 Ebda., S. 146f. 36 Ebda., S. 148. 37 Dazu vgl. Pietro Montani: L’immaginazione intermediale.

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bewussten Interaktion mit ihnen und ihrer verantwortungsvollen Mit-Teilung aktivieren kann.38 Zusammenfassend besteht sowohl aus pädagogischer sowie aus ästhesiologischer Sicht die Notwendigkeit für eine ‹politisierte› digitale Technokunst – wie sie Benjamin seinerzeit für die Fotografie und das Kino theoretisch formulierte –, die darauf hinarbeitet, die Anästhetisierung der Mediensphäre, Biosphäre und der Ikonosphäre zu disanästhetisieren und ihre An-Ethisierung zu reethisieren und zwar aus ihrem Inneren heraus mit den eigenen Mitteln der Mediensphäre, Biosphäre und Ikonosphäre. Es handelt sich also um eine digitale Technokunst höchsten Niveaus, was Qualität, Wahrhaftigkeit und Mit-Teilung des Bildes betrifft, das (obgleich in paroxysmaler, parodistischer und ironischer Weise – wie Baudrillard vorschlägt) als phármakon (Gift und Gegengift), anti-epidemisch und antiviral fungiert und imstande ist, die Körper zu verändern und ihr Immunsystem gegenüber der anästhetisierenden und an-ethisierenden Krankheit des Netzes und ihrer «hyperrealen Gemeinschaften» zu stärken und das aus dem Inneren des Internets selbst. Eine metakommunikative, intermediale, interaktive Kunst, die gleichzeitig giftig und heilend ist: ein hypertechnologisches Bild als phármakon, das die ‹Neuronen› der Kritik ausbildet, anstatt sie zu atrophieren. Aus dem Italienischen übersetzt von Martina Kollroß

Bibliographie Bajac, Quentin: Après la photographie? De l’argentique à la révolution numérique. Paris: Gallimard 2010. Barthes, Roland: Die helle Kammer: Bemerkungen zur Photographie. Übersetzt von Dietrich Leube. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1985. Baudrillard, Jean: L’échange symbolique et la mort. Paris: Gallimard 1976. Baudrillard, Jean: Le crime parfait. Paris: Galilée 1995. Baudrillard, Jean: Le Pacte de lucidité ou l’intelligence du Mal. Paris: Galilée 2004. Benjamin, Walter: Kleine Geschichte der Photographie. In: Gesammelte Schriften. Bd. 2.1. Herausgegeben von Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1980, S. 368–385. Chéroux, Clément: Diplopie. L’image photographique à l’ère des médias globalisés. Paris: Le Point du Jour 2009. Costa, Mario: Della fotografia senza soggetto. Per una teoria dell’oggetto tecnologico. Mailand: Costa & Nolan 1997.

38 Veronica Neri: L’immagine nel web, S. 152f.

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Costa, Mario: La disumanizzazione tecnologica. Il destino dell’arte nell’epoca delle nuove tecnologie. Mailand: Costa & Nolan 2007. Cotton, Charlotte: The Photography as Contemporary Art. London: Thames & Hudson 2004. Crescimanno, Emanuele: Dall’analogico al digitale. Fotografia, esperienza e progresso tecnologico, Palermo: Centro Internazionale Studi di Estetica 2013. D’Amico, Erika: Digitografie. La fotografia digitale nelle pratiche comunicative. Neapel: Liguori 2008. Fontcuberta, Joan: La cámara de Pandora. La fotografi@ después de la fotografia. Barcelona: Gili 2010. Foucault, Michel: L’usage des plaisirs. Paris: Gallimard 1984a. Foucault Michel: Le souci de soi. Paris: Gallimard 1984b. Foucault, Michel: L’herméneutique du sujet. Cours au Collège de France 1981–1982. Herausgegeben von Frédéric Gros. Paris: Seuil/Gallimard 2001. Fragapane, Giacomo Daniele: Punto di fuga. Il realismo fotografico e l’immagine digitale. Rom: Bulzoni 2005. Frizot, Michel (Hg.): Neue Geschichte der Fotografie. Köln: Könemann 1998. Garassini, Stefania/Gasparini, Barbara: Rappresentare con i new media. In: Gianfranco Bettetini/Fausto Colombo (Hg.): Le nuove tecnologie della comunicazione. Mailand: Bompiani 1993, S. 43–115. Gunthert, André: L’image partagé. La photographie numérique. Paris: Textuel 2015. Gurisatti, Giovanni: Dizionario fisiognomico. Il volto, le forme, l’espressione. Macerata: Quodlibet 2006. Gurisatti, Giovanni: Scacco alla realtà. Estetica e dialettica della derealizzazione mediatica. Macerata: Quodlibet 2012. Gurisatti, Giovanni: L’animale che dunque non sono. Filosofia pratica e pratica della filosofia come est-etica dell’esistenza. Mailand/Udine: Mimesis 2016. Krauss, Rosalind: Le photographique. Paris: Macula 1990. Krauss, Rosalind: Teoria e storia della fotografia. Herausgegeben von Elio Grazioli. Mailand: Mondadori 2000. Marra, Claudio: L’immagine infedele. La falsa rivoluzione della fotografia digitale. Mailand: Mondadori 2006. Montani, Pietro: L’immaginazione intermediale. Perlustrare, rifigurare, testimoniare il mondo visibile. Rom/Bari: Laterza 2010. Neri, Veronica: L’immagine nel web. Etica e ontologia. Rom: Carocci 2013. Peirce, Charles S.: Semiotica. Herausgegeben von Massimo A. Bonfantini u.a. Turin: Einaudi 1980 [1931–1935]. Ritchin, Fred: After Photography. New York: Norton 2009. Smargiassi, Michele: Un’autentica bugia. La fotografia, il vero, il falso. Rom: Contrasto 2009. Sontag, Susan: Sulla fotografia. Realtà e immagine nella nostra società. Übersetzt von Ettore Capriolo. Turin: Einaudi 2004. Sorlin, Pierre: Les fils de Nadar. Le ‹siècle› de l’image analogique. Paris: Nathan 1997.

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«Die Zukunft smarten Hörens hat begonnen» (ReSound) Anmerkungen zu einer technosensorischen Regierungspraktik

1 Einleitung «Die Zukunft smarten Hörens hat begonnen», so der Werbeslogan, mit dem der Hörgerätehersteller ReSound1 seine digitalen Hörgeräte ReSound LiNX2 und ReSound LiNX 3D schriftlich wie auch im Rahmen eines ästhetisch ansprechenden Werbeclips anpreist.2 Weiche Übergänge verbinden anfängliche Close-ups auf Ohren, Münder und Hörgeräte mit Halbtotalen, um die Hörgeräteträger*innen in ihrer Nahumgebung zu situieren, und enden in Totalen, die die akustische Eroberung des Raumes übersetzen. Gerahmt von einschmeichelnder Musik fokussiert das Video das scheinbar natürliche Beziehungsgeflecht zwischen einem stetig zu optimierenden, environmental adaptiven und adaptierten Hören, steigender Konnektivität sowie zunehmender Personalisierung und Individualisierung der Hörpraktiken. Die komplexen Verschaltungen von Technologie, Sozialität und Umgebung werden durch kleine Piktogramme visualisiert, die in die filmtechnische Einstellung eingefügt werden, um Personen, Dinge und ihr jeweiliges Umfeld durch zarte, gleichwohl richtungsweisende Punktlinien miteinander zu verbinden. Der Clip schließt mit der Aufforderung, das «smart hearing» mit ReSound zu begrüßen – «Embrace smart hearing.»3 – und auf diese Weise Hören wieder zu entdecken. Diese Botschaft richtet sich offensichtlich an alle Menschen, denn ob diejenigen, die sich im harmonischen audiovisuellen Setting der digitalen Hörtechnologie bedienen, gehörlos oder schwerhörig sind, oder ob es sich um sogenannte ‹normal› Hörende handelt, die ihr Hören verbessern wollen, ist ebenso wenig entscheidbar wie die Differenzierung zwischen medizinischen Hörgeräten und elektronischer Unterhaltungstechnologie. Forscher*innen des

1 ReSound ist Teil der GN Gruppe, die ihren Hauptsitz in Ballerup in Dänemark hat. Vgl. https://www.resound.com/de-de (letzter Zugriff am: 29. Juli 2019). 2 Vgl. hierzu die Beschreibung unter https://www.resoundpro.com/de-DE/hearing-aids (letzter Zugriff am: 17. Juli 2019), den Werbeclip unter https://www.youtube.com/watch?v= TNzM6jCuZGI (letzter Zugriff am: 17. Juli 2019). 3 https://www.resound.com/de-de (letzter Zugriff am: 29. Juli 2019). https://doi.org/10.1515/9783110665055-010

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Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) überrascht dies nicht, stellen sie doch in einer Studie aus dem Jahr 2018 fest, dass «alle Technologien assistiv»4 sind. Digitale Hörsysteme sind durch ihre smarte Konnektivität darüber hinaus ‹cool›, wie eine im Jahr 2016 vom Hörgerätehersteller ReSound im Rahmen der Internationalen Funkausstellung (IFA) in Auftrag gegebene und von Forsa durchgeführte Umfrage konstatiert, wobei der Coolness-Faktor Vernetzung vor allem die männlichen Befragten nachhaltig zu beeindrucken scheint. Der mittlerweile allgegenwärtige Begriff des ‹smart› bezieht sich auf die Vernetzungsmöglichkeiten jener kleinen und komfortablen neuen Hörgeräte, die nicht nur über eine immer bessere Rechnerleistung verfügen, sondern – so zumindest das Versprechen – auch individuell auf die jeweiligen Träger*innen abgestimmt werden können. Zahlreiche Zusatzfunktionen, wie z.B. mobiles Soundstreaming, die Steuerung und Intensivierung individueller Hörerlebnisse inklusive Soundenhancer und Speicherung von Favoriten-Hörsituationen sowie audiologische Eigenfeinabstimmung über intuitiv zu bedienende Apps, die mit den persönlichen Hörgeräteakustiker*innen verschaltet werden, gehören mittlerweile zur Grundausstattung eines prosperierenden Marktes, auf dem sich digitale Hörsysteme und hearables, eine Wortneuschöpfung aus wearables und headphones, in Funktionalität und Design immer mehr annähern.5 So werden z.B. Siemens Binax-Hörgeräte mit binauraler Synchronisation oder Audiodatenübertragung, mit denen die Hörgeräteträger*innen «in manchen Situationen sogar besser [hören] als Menschen ohne Hörminderung» (Siemens BinaxHörgeräte 2016), über eine drahtlose Verbindung mit dem Smartphone oder externen Audioquellen zu HD-Stereo-Kopfhörern. Damit alle FavoritenEinstellungen und personalisierten Hörmodi sowie die Hörsystem-Suchfunktion optimal genutzt werden können, sollte die entsprechende App das sogenannte Geotagging verwenden, um – automatisch – eine persönliche Dokumentation zu erstellen und/oder die Informationen über soziale Netzwerke zu veröffentlichen. Dies ist freilich kein Zwang, gleichwohl funktionieren die Hörsystem-Suche wie auch das automatische Wechseln der Präferenzen beim Erreichen favorisierter Orte nur mit dieser Einstellung, denn die auf diese Weise gewonnenen Daten

4 Linda Nierling u.a.: Assistive technologies for people with disabilities. Part III: Perspectives on assistive technologies. In: Panel for the Future of Science and Technology (STOA) (2018), S. 4. http://www.europarl.europa.eu/stoa/cms/cache/offonce/home/studies?page=2 (letzter Zugriff am: 23. Juli 2019). 5 Vgl. Mack Hagood: Here: Active Listening System. Sound Technologies and the Personalization of Listening. In: Jeremy Wade Morris/Sarah Murray (Hg.): Appified. Culture in the Age of Apps. Ann Arbor: Michigan State University Press 2018, S. 277–285, hier S. 278, der das System HERE als «sonic wearable» bezeichnet.

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(wie z. B. Aktivität verfolgen, biometrische Identifikationsmöglichkeiten, usw.) sind nicht nur für die Träger*innen von Interesse.6 An der Schnittstelle von Media und Dis/Ability Studies7 mobilisiert smarte Hörtechnologie auf diese Weise eine neue Ökologie wie auch Ökonomie des Hörens, wobei weniger die Restituierung des sogenannten ‹normalen›, sondern stets «bestes Hören und Verstehen» visiert wird. Mit dem Versprechen, «mehr zu tun, als Klänge hörbar zu machen» und den «Klängen eine Lebendigkeit zu verleihen, die Sie vergessen lässt, dass Sie einen Hörverlust haben»,8 werden medizinische und soziale Aspekte zunehmend an ökonomisch verwertbare Zusatzleistungen gekoppelt. Diese auf Basis weitreichender Vernetzungsmöglichkeiten entwickelten neuen Funktionen verschieben die Grenzen zwischen medizinischer Hörgerätetechnik und Consumer Electronics, was die Akzeptanz für die Hörhilfen vor allem in der jüngeren Generation spürbar steigert und mit dem Zusatz ‹smart› eine lange Zeit sozial negativ besetztes medizinisches Gerät wie auch seine Träger*innen zu zeitgemäßen Lifestyle-Objekten und -Subjekten macht.9 Vor diesem Hintergrund werde ich mich im Folgenden nicht erwartbaren Fragen wie «Wer hört?» oder «Was wird gehört?» widmen, vielmehr richtet sich meine Aufmerksamkeit darauf, womit gehört wird bzw. in welcher Weise digitale Hörsysteme smartes Hören ermöglichen und zugleich bedingen. So geht es nicht darum zu beurteilen, ob oder wie gut bzw. schlecht mit neuen Hörtechnologien gehört bzw. verstanden werden kann, vielmehr stehen die relationalen Verschaltungen unterschiedlicher Akteur*innen eines erweiterten «Hörereignisses»10 im Mittelpunkt, das jene Erfahrung

6 Partner auf dem Smartphonesektor ist vor allem das geschlossene System von Apple mit Fokus auf barrierefreier Bedienung im systemeigenen Standardhörgerätemenü. 7 Elisabeth Ellcessor/Bill Kirkpatrick (Hg.): Disability Media studies. New York: New York University Press 2017; Mara Mills/Jonathan Sterne: Afterword II: Dismediation – Three Proposals, Six Tactics. In: Elisabeth Ellcessor/Bill Kirkpatrick (Hg.): Disability Media studies. New York: New York University Press 2017, S. 365–378; Ingunn Moser: Disability and the Promises of Technology: Technology, Subjectivity and Embodiment within an order of the Normal. In: Information, Communication & Society 9.3 (2006), S. 373–395. 8 https://www.resoundpro.com/de-AT/about-resound/smart-hearing (letzter Zugriff am: 20.5.2020). 9 Interessant in diesem Zusammenhang ist auch die wachsende soziale Akzeptanz, die das lange Zeit prioritär bearbeitete Ziel der Miniaturisierung von Hörgeräten in den Hintergrund treten lässt. Vgl. Mara Mills: Hearing Aids and the History of Electronics Miniaturization. In: IEEE Annals of the History of Computing 33.2 (2001), S. 24–45. 10 Mit dem Begriff ‹Hörereignis› bezeichnet Jens Blauert die subjektive Wahrnehmung eines physikalischen Schallereignisses, das durch subjektive Empfindungsgrößen wie Klangfarbe, Durchsichtigkeit, Raumeindruck usw. beschrieben wird. Der von Blauert unter psychoakustischen Aspekten beschriebene auditive Wahrnehmungsgegenstand wird in unserer Betrachtung durch weitere Akteur*innen des Dispositivs Hören bzw. Hören mit Hörgerät erweitert. Vgl. Jens Blauert: Räumliches Hören. Stuttgart: Hirzel 1974.

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oder das Produkt hervorbringt, die bzw. das wir als Hören bezeichnen. Wie, so wird u.a. zu fragen sein, bringen digitale Hör/Körper/Technologien individuelle und environmentale Hörpraktiken hervor und in welcher Weise werden diese Technologien ihrerseits durch den Gebrauch und die Wünsche der Träger*innen sowie die wechselseitige Verfertigung zwischen Hörer*innen und auditorischen Umwelten geprägt?11 Dabei stehen die im Hintergrund ablaufenden, häufig unsichtbar gemachten Interfacing- und Übersetzungsprozesse zur Debatte, die zum einen die Beziehung zwischen bereits existierenden Relata, wie z.B. Hörgeräteträger*in und Hörgerät, konfigurieren und zum anderen (mit-)bestimmen, wie und welche Relata (wie z.B. spezifische Umgebungen, Sozialverhalten, individuelle Aktivitäten, Hörgerätefirmen, Unterhaltungselektronik, persönlicher Live-Style, usf.) als zu verschaltende auftauchen.12 Hören ist mithin als Effekt eines spezifischen soziotechnischen Dispositivs oder Technosensoriums13 im Sinne einer historischen Emergenz spezifischer Verschaltungen zu begreifen, im Rahmen derer es nicht von seiner technomedialen Produktion gelöst werden kann.14 Der versprochene Zuwachs an individualisierten Hörerlebnissen und Autonomie verlangt jedoch ein erhöhtes Maß an Disziplin, Eigenverantwortung und

11 In ihrem Aufsatz «The Body Multiple» zeigt Annemarie Mol auf, in welcher Weise ‹Krankheit› nicht allein von Medizinern, sondern gleichermaßen von soziologischen, anthropologischen und philosophischen Diskursen hergestellt wird: «Thinking along with this [in diesem Fall mit Haraways Ansatz, B.O.], in an activist mode, one might say that leaving ‹disease› in the hands of physicians alone is a political weakness. For whatever one may say about the social shaping of the former sick role, whatever one may say about ‹illness›, as long as ‹disease› is accepted as a natural category and left unanalyzed, those who talk in its name will always have the last word. It would be better to mix with them, move among them, study them, engage with them in serious discussion. By relating to it, I may try to import the work of Barker, Strathern, and Haraway into the fields of medical sociology, anthropology, or philosophy. lmporting texts from other fields tends to be a good way to say ‹new› things. But where are these texts coming from. Not from a clear-cut discipline, but from an interdisciplinary slightly undisciplined field. A flow of theory moving across boundaries. The boundaries of disciplines, of nature and culture, of theory and politics. Maybe relating to them is a good way to give this text a place in that nondisciplinary fluid space as well». Annemarie Mol: The Body Multiple. Ontology in Medical Practice. Durham/London: Duke University Press 2002, S. 22. 12 Benjamin Lipps: Analytik des Interfacing. Zur Materialität technologischer Verschaltung in prototypischen Milieus robotisierter Pflege. In: Behemoth. A Journal on Civilisation 10.1 (2017), S. 107–129. 13 Elisabeth Stephens: Techno-Sensoria. The Technologies of Sensation, 2017, S. 3. https:// www.academia.edu/3609318/Techno-Sensoria_The_Technologies_of_Sensation (letzter Zugriff am 2.1.2020). 14 Beate Ochsner/Markus Spöhrer/Robert Stock: Human, Non-Human, and Beyond: Cochlear Implants in Socio-Technological Environments. In: Nanoethics 93 (2015), S. 237–250.

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Kontrolle, um den (selbst-)gewählten Einstellungen zu entsprechen. Diese Ambivalenz, mit der zahlreiche Subjekte sich ohne Zwang durch eine Verinnerlichung der Normen und Wertevorstellungen in dieses Dispositiv einfügen und anpassen, bezeichnet Foucault als Selbstregierung, in deren Kontext Macht als ein Handeln zu verstehen ist, dass das Handeln anderer beeinflusst. Ziel der folgenden Überlegungen ist es, zum einen aufzuzeigen, dass smartes Hören keine simple Verstärkung eines sogenannten ‹natürlichen› Hörens darstellt, sondern als medienkulturelle Technik (1) aus und in heterogenen Dispositiven aus menschlichen, technischen, sozialen, sensorischen, politischen und kulturellen Akteur*innen hervorgebracht wird: von digitalen Hörgeräten und Kopfhörern bis zu hybriden Hearables, von Hörgerätehersteller*innen und Unterhaltungstechnologie bis zu medizinischen Diskursen über das Hören, von Werbeversprechen und Testimonials oder Blogs bis zu Videoclips. In diesem Handlungsfeld entstehen machtbesetzte, asymmetrische Relationen, deren Ambivalenz zwischen Selbstund Fremdführung (2) ebenso zu untersuchen ist wie die mit den neuen auditorischen Ökologien verbundenen Ökonomien des Hörens (3).

2 Hören als kulturelle Technik Was heute als Wahrnehmung möglich ist, ist durch die Wahrnehmungstechnologie geprägt. Wie schon seit Langem die Kategorien des Sehens durch die Fotografie geprägt sind – gut sehen, heißt scharf sehen –, so werden neuerdings auch die Hörgewohnheiten durch die akustische Technologie geprägt.15

Basis der vorgeschlagenen Herangehensweise ist es zum einen, Hören weder als reine Sinnes- noch kognitive Leistung zu untersuchen, und zum anderen Hörgeräte von einer einengenden instrumentellen Logik zu lösen. Tatsächlich führen zahlreiche Arbeiten zu Klang- und Hörkulturen die kulturellen Bedeutungen des Auditiven immer noch auf ‹natürliche› Gegebenheiten zurück, ein Ansatz, gegen den Jonathan Sterne seinen Begriff des «Audible Past»16 als das Andere einer primär visuell orientierten Philosophiegeschichte entwickelt hat. Eine solchermaßen mediale Sichtweise in Bezug auf das Hören einzunehmen, bedeutet, dass erst das Hörgerät in einem bestimmten soziotechnischen Dispositiv die Sinnesleistung der Ohren definiert, beschreibbar macht und Fertigkei-

15 Gernot Böhme: Invasive Technisierung. Technikphilosophie und Technikkritik. Zug: Graue Edition 2008, S. 20. 16 Jonathan Sterne: The Audible Past: Cultural Origins of Sound Reproduction. Durham: Duke University Press 2003.

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ten des Hörens ausbildet, die als Techniken des Hörens bezeichnet werden können. Smarte Hörgeräte und -systeme sind mithin keine reinen Instrumente, Verstärker oder restaurative Prothesen, sondern Mittler oder Intermediäre in Operationsketten, im Rahmen derer die Technik bzw. Technologie nicht als (künstliche) Reproduktion sogenannten ‹natürlichen› Hörens, sondern der Prozess (smarten) Hörens selbst als Produktionstechnik17 verstanden wird. Die Technizität des Hörens kann dabei nicht von ihren medialen Dispositiven, von digitalen Devices oder Software losgelöst untersucht werden, sondern verweist vielmehr auf das Potenzial, Verbindungen einzugehen und neues Hören bzw. Wissen über Hören zu generieren. Die Analyse komplexer Dispositive aus Hörenden, Hörgeräten und ihren jeweiligen Umwelten macht mithin nicht nur die Subjekt-Objekt-Dichotomie obsolet, zugleich können jene medialen Übersetzungsprozesse und environmentale Machtstrukturen18 sichtbar gemacht werden, aus denen Hörpraktiken erwachsen, die rekursiv wiederum die Dispositive prägen: Für technische Erfindungen, Domestizierungen und Mediengeschichte gilt gleichermassen, dass jede Exteriorisierung auf die Exteriorisierenden zurückschlägt und eine weitverzweigte Serie kontingenter Verflechtungen – zwischen Menschen, Tieren, Artefakten und Medien – auslöst. Exteriorisierung geschieht rekursiv oder gar nicht; und ihre Konsequenzen können – und zwar auch und gerade im Nachweisen akkumulierender Erfindungsschritte – in keiner Geschichte von Evolutionsstufen erfasst werden.19

Joseph Vogl hat diesen Vorgang in Bezug auf die Telegraphie und die Erfindungsgeschichte des Sehens untersucht und eine Transformation vom reinen Instrument (Telegraph) zum Medium dadurch bestimmt, dass es eine veränderte Bestimmung des Sehens und mithin des Verhältnisses von Auge, Blick und gesehenem Ding wie auch die Produktion gerätespezifischer Daten geben müsse.20 Dabei han17 Vgl. Jens Gerrit Papenburg: Hörgeräte. Technisierung der Wahrnehmung durch Rock- und Popmusik, S. 28. Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades Dr. phil., Philosophische Fakultät III, Humboldt Universität Berlin 2011 (publiziert am 21. März 2012, edoc); Antoine Hennion/Bruno Latour: How to Make Mistakes on so Many Things at Once – and Become Famous for it. In: Hans Ulrich Gumbrecht (Hg.): Mapping Benjamin. The Work of Art in the Digital Age. Stanford: Stanford University Press 2003, S. 91–97. 18 Vgl. Erich Hörl/Luciana Parisi: Was heißt Medienästhetik? Ein Gespräch über algorithmische Ästhetik, automatisches Denken und die postkybernetische Logik der Komputation. In: Zeitschrift für Medienwissenschaft 5.1 (2013), S. 35–51, hier S. 41. 19 Erhard Schüttpelz: Die medienanthropologische Kehre der Kulturtechniken. In: Lorenz Engell/Bernhard Siegert/Joseph Vogl (Hg.): Mediengeschichte als Kulturgeschichte (oder vice versa?). Weimar: VDG 2006, S. 87–110, hier S. 94. 20 Vgl. Joseph Vogl: Medien-Werden. Galileos Fernrohr. In: Lorenz Engell/ders. (Hg.): Archiv für Mediengeschichte. Mediale Historiographien. Weimar: VDG 2001, S. 115–123.

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delt es sich um eine Denaturierung der Sinne, der Gebrauch des Fernrohrs ist als Experimentalanordnung des Sehens zu begreifen, das im Gegensatz zu einer Erweiterung des Sehsinnes, jegliche Naturdifferenz löscht und mit jedem Blick die Konstruktionsweise dieses Blickes neu erschafft. Auf diese Weise gerät das sogenannte natürliche Sehen zu einem Fall unter anderen, d.h. die Unterscheidung von Primär- (natürlich) und Sekundärerfahrung (technisch, künstlich) wird aufgehoben. Analog zu diesem Ansatz sind es die smarten Hörgeräte, die die Unterscheidung zwischen Primär- und Sekundärhören aufheben, (rekursiv) neues Wissen produzieren, bestimmte Hörpraktiken erproben und neue Aufzeichnungsund Darstellungsweisen mit sich bringen. Smartes Hören (als Kultur- und Körpertechnik) emergiert mithin aus einem bestimmten soziotechnischen Dispositiv, zu dem entsprechende Apparaturen, Symboliken, Unternehmen, Wissensformen und Normen gehören. Der Argumentation von Gerrit Papenburg, der in seiner beeindruckenden Arbeit über Musik-Hörgeräte konstatiert, dass bei medizinischen Hörgeräten nicht von Denaturierung gesprochen werden könne,21 möchte ich widersprechen. Womöglich wird das Hören durch klassische, rein klangverstärkende Geräte auf ein normiertes, natürliches oder standardisiertes Hören zurückgeführt und mithin renaturiert bzw. diszipliniert. Doch die rekursive Exteriorisierung und Wahrnehmung, wie Erhard Schüttpelz sie im Kontext von Kultur- und Medientechniken beschrieben hat,22 umgeht die Ontologisierung des Körpers und verweist darauf, dass technische Erfindungen wie smarte Hörtechnologien die Existenzweise des Körpers wesentlich (mit-)bestimmen. «Ein technisiertes Hören (Wahrnehmung) ist also ein denaturiertes Hören, welches in einem rekursiven Verhältnis zu einer Technologie steht».23 Und so ist es weniger das sogenannte ‹natürliche› Hören, das als wiederherzustellendes Vorbild eingesetzt wird, vielmehr sind es die technologischen Möglichkeiten der Produktion individueller Hörerlebnisse, wie sie etwa in Form der Vernetzung von smarten Hörgeräten mit z.B. der ReSound Smart App 3D in Form persönlicher Hörsituationen und -regime mit verschiedenen Angeboten zur Einstellung von 21 Vgl. Jens Gerrit Papenburg: Hörgeräte. Technisierung der Wahrnehmung durch Rock- und Popmusik, S. 17. 22 Vgl. Erhard Schüttpelz: Die medienanthropologische Kehre der Kulturtechniken, S. 87–110. 23 Jens Gerrit Papenburg: Hörgeräte, S. 102. Vgl. dazu: «Klangphänomene und die um diese organisierten kulturellen Praktiken und Diskurse verdanken ihre Bedeutung und Wirkmächtigkeit tatsächlich nur zu einem – und möglicherweise sogar äußerst geringen – Teil vermeintlich ontologischen Gegebenheiten, sondern entfalten diese wesentlich durch das komplexe Zusammenwirken diverser soziokultureller, technischer, epistemischer und ästhetischer Kontexte, die historisch gewachsen und kontingent sind.» Jens Schröter/Axel Vollmar: Einleitung: Auditive Medienkulturen. In: dies. (Hg.): Auditive Medienkulturen. Techniken des Hörens und Praktiken der Klanggestaltung. Bielefeld: transcript 2013, S. 9–34, hier S. 14.

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Umgebungsgeräuschen, zur Frequenzauswahl oder zum Richtungshören zur Auswahl stehen. Dies bedeutet freilich im Gegenzug, dass sich auch die Hörenden (an die Technologien) anpassen müssen, d.h. damit die Verschaltung funktioniert, müssen Hörtechnologien wie auch die Träger*innen mit- und füreinander disponibel gemacht werden – und dies gleichermaßen in einem technischen wie auch soziokulturellen Sinn. Die von Papenburg angemerkte Zurichtung auf ein normiertes Hören ist mithin nicht der smarten Hörgerätetechnologie eingeschrieben, sondern muss dem komplexen Netzwerk aus Herstellerfirmen, audiologischer Forschung, Hörgeräteakustiker*innen wie auch den Erfahrungen von Hörgeräteträger*innen usw. zugeschrieben werden. Um defizitäres Hören bzw. Hörverlust zu erforschen (und zu beheben) setzt die medizinische Forschung häufig voraus, was ‹normales› Hören (= Verstehen) ist bzw. sein soll. Dieses Wissen bzw. die Erwartung, es zu (re-)konstituieren, geht dann in die medizinischen Geräte ein. Die (Unterhaltungs-)Industrie propagiert einen anderen Diskurs und lässt den Eindruck entstehen, man antizipiere bzw. ergründe in Zusammenarbeit mit den künftigen Kund*innen deren individuelle Hörwünsche und realisiere diese in Form einer self-customizable technology. Freilich wird hier – wie im Übrigen auch in der Medizin – die Technologie weitestgehend geblackboxt und letztlich werden auch diese Formen personalisierten Hörens im Rahmen eines bestimmten Wissens sowie entsprechender Apparaturen und Materialien hergestellt und damit auch in gewisser Weise normiert. Technisiertes smartes Hören ist damit stets als – in Analogie zu Vogls Sehen – denaturiertes Hören zu verstehen, da es in einem rekursiven Verhältnis zur Technologie steht, die sich auf Basis der gesammelten Daten, Erfahrungen und Gebrauchs der Hörer*innen immer wieder verändert. Wie für den von Papenburg analysierten Musikbereich heißt dies, dass mögliche Freiheitsgrade, die das individuelle Handling oder die personalisierten Einstellungen betreffen, das System gerade nicht unterlaufen, sondern es aufgreifen und in der Neubearbeitung reproduzieren. Wenn nun klassische Hörgeräte, die letztlich rein verstärkend operieren, als «technisierte Organe»24 beschrieben werden können, die ein normiertes Hörvermögen für ein Individuum wiederherstellen sollen, so lässt sich für die wachsende Anzahl smarter Hörsysteme sagen, dass sie das Hören in einer produktiven Verkreuzung von Ökologie und (Unterhaltungs-)Ökonomie ‹bewirtschaften›.25

24 Jens Gerrit Papenburg: Hörgeräte, S. 17. 25 Ebda.

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Die lange technologische Trajektorie26 von Hörgeräten und -hilfen entfaltet sich somit innerhalb eines dynamischen Dispositivs, das in stabilisierenden Momenten Eingang in das Denken und Handeln der Akteure findet. So ist auch der Weg von Ohrtrompeten aus dem 17. Jahrhundert über die in durchaus streitbarem Beige daherkommenden medizinischen Hörgeräte aus dem letzten Jahrhundert bis hin zu zeitgenössischer digitaler Hörtechnologie keine teleologische Erfolgsgeschichte, sondern Resultat eines Beziehungsgeflechts verschiedener Akteur*innen, Praktiken und Diskurse. Während Hörgeräte bzw. ihre Träger*innen lange Zeit stigmatisiert wurden, produzieren zeitgenössische Technologien stylische und affektorientierte hearables, d.h. drahtlose, im oder hinter dem Ohr zu tragende Computerinterfaces, die viel weniger ‹normales› Hören (wieder) ermöglichen, als ubiquitäres, immer besser adaptiertes und adaptives, individualisiertes und (einfach) besseres Hören produzieren. Der britische Blogger Geoffrey Cooling konstatiert bereits 2015, dass hearables aufgrund ihrer Form, ihrer Gebrauchsweisen und technologischen Möglichkeiten dramatische Auswirkungen «on the cultural acceptability of hearing aids»27 zeitigen, obgleich diese Geräte nicht primär als medizinisches Korrektiv für Hörverlust konstruiert sind. Unter der Signatur einer progressiven Inklusionspolitik wird diese hoch kompetitive Marktnische – «The Future is EAR.»28 – zum Ausgangspunkt für immer neue und zusätzliche HörFeatures, Regulierungs-Apps29 und alternativer Geschäftsmodelle,30 im Rahmen derer die Grenzen zwischen digitalen Alltagsassistenten, assistiver und/oder Unterhaltungstechnologie zu verschwimmen scheinen. Doch in dem Maße, in dem

26 Ross Knox Bassett: To the Digital Age: Research Labs, Start-up Companies, and the Rise of MOS Technology. Baltimore: John Hopkins UP 2002, S. 284. 27 Geoffrey Cooling: Hearing Healthcare, What Effect Hearables? In: Just Audiology Stuff (2015). https://www.google.com/amp/s/justaudiologystuff.com/hearing-healthcare-effecthearables/amp/ (letzter Zugriff am: 29. Juli 2019). 28 Nick Hunn: The Market for Hearable Devices 2016–2020. In: Creative Connectivity (2016). http://www.nickhunn.com/wp-content/uploads/downloads/2016/11/The-Market-for-HearableDevices-2016-2020.pdf (letzter Zugriff am: 29. Juli 2019); ders.: Hearables-The New Wearables. In: Creative Connectivity (2014). http://www.nickhunn.com/hearables-thenew-wearables (letzter Zugriff am: 29. Juli 2019). Zur Konjunktur assistiver Technologien im Bereich des Hörens vgl. auch Linda Nierling u.a.: Assistive technologies for people with disabilities, S. 8ff. 29 Vgl. Katie Ellis/Mike Kent: Disability and Social Media Global Perspectives. London: Routledge 2017; Gerard Goggin/Christopher Newell: Disabling Cell Phones: Mobilizing and Regulating the Body. In: Anandam Kavoori/Noah Arceneaux (Hg.): The Cell Phone Reader: Essays in Social Transformation. New York: Peter Lang 2006, S. 155–172. 30 So bietet der Hersteller Sonava in den USA Hörgeräte zu einer Monatsmiete von 50–60 $ für Kunden an, die keine Hörgeräte kaufen, aber dennoch besser hören wollen. Vgl. https:// www.nzz.ch/wirtschaft/hoergeraete-werden-intelligenter-und-werden-kuenftig-vermehrtgemietet-ld.1438215 (letzter Zugriff am: 29. Juli 2019).

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digitale hearables und medizinische Hörsysteme zunehmend konvergieren,31 nehmen die Regulierungserfordernisse im Kontext einer neuen Ökonomie des Hörens in Bezug auf die Kostenübernahme durch Gesundheitsorganisationen und/oder Krankenkassen zu. Obgleich nur bedingt vergleichbar, zeigt sich die Annäherung z.B. darin, dass es in den USA seit 2017 möglich ist, over the counter-Geräte ohne Rezeptpflicht als Hörgeräte bzw. -hilfen zu vermarkten und zu verkaufen.32 Diese Regelung bestätigt existierende und ermutigt zukünftige Kooperationen zwischen traditionellen Kopfhörerhersteller*innen, der Unterhaltungselektronik und Hörtechnologieproduzent*innen, um mit zunehmend verschiedenen hybriden Hörsystemen die eigene Zielgruppe zu diversifizieren und zugleich zu vergrößern.33 Auf Bedarf oder auch Wunsch bieten diese Hörgeräte zusätzliche Affordanzen,34 wie z.B. umfassende Konnektivität mit allen technologischen Geräten des modernen Alltags, d.h. Sprachübersetzung, Fitnesscoach, mobiles Soundstreaming, individualisierte Hörerfahrungen und Favoriten, Online-Chats mit Audiologen, Lärmreduktion oder auch biometrisches Monitoring usw. Features dieser Art rangieren weit oben auf der Prioritätenliste, denn – und auch dies markiert einen wesentlichen Punkt in der Leistungsskala – «[s]mart connectivity makes hearing aids cool», wie die eingangs erwähnte Umfrage von ReSound ergab.

31 Vgl. Anja Hübel: Hearables und Hörsysteme – zwei Welten? In: Spektrum Hören 1 (2019), S. 20–21. 32 Der vollständige Text findet sich unter https://www.congress.gov/bill/115th-congress/se nate-bill/670/text (letzter Zugriff am: 29. Juli 2019). Damit wird die Food and Drug Administration (FDA) dazu verpflichtet, in den folgenden drei Jahren eine neue Kategorie von OTC-Hörgeräten für Erwachsene mit geringem bis mäßigem Hörverlust zu etablieren, die den gleichen Standards entspricht wie bei anderen Medizinprodukten. Für Interesse sorgte eine Meldung der FDA Mitte 2018, der zufolge dem Audioproduktehersteller Bose die Zulassung für den Verkauf eines Hörgerätes erteilt wurde – diese aber bezog sich nicht auf ein bestimmtes Hörgerät, sondern auf die Kategorie der OTC-Geräte, die, wie zuvor ausgeführt, noch auszuarbeiten ist. Vgl. Anja Hübel: Hearables und Hörsysteme – zwei Welten?, S. 20. Zum deutschen System s. Anm. 17. 33 Dies betrifft auch Kooperationen wie diejenige zwischen der European Hearing Instrument Manufacturers Association (EHIMA), d.h. dem europäischen Verband der Hörgerätehersteller, und der Bluetooth Special Interest Group (SIG). Vgl. https://www.pressebox.de/inaktiv/blue tooth-wireless-technology/Bluetooth-und-EHIMA-schliessen-Partnerschaft/boxid/664414 (letzter Zugriff am: 20. Juli 2019). Die Europäische Kommission startete Mitte 2013 das Projekt Augmented Hearing Experience and Assistance for Daily life (AAL Joint Programme) mit einer Laufzeit bis zum Sommer 2016. http://www.aal-europe.eu/projects/ahead/ (letzter Zugriff am: 20. Juli 2019). 34 Vgl. Joseph Plazak/Marta Kersten-Oertel: A Survey on the Affordances of Hearables. In: Inventions 3.3 (2018), S. 48; Nick Hunn: Hearables – The New Wearables.

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In diesem Zusammenhang aber muss zum einen darauf aufmerksam gemacht werden, dass die Einschreibung von Hörhilfen in ein wachsendes ökologisches System konnektiver Medien mit immer neuen Möglichkeiten, die persönliche Usability und Partizipation zu steigern, nicht automatisch den sozialen Wert erhöht. Konnektivität, so José van Dijck, bezieht sich auf die im Vorfeld programmierten Lösungen, die schnellstmöglich in Einkommen aufgehen sollen,35 und ist daher nicht automatisch mit sozialer ‹connectedness› gleichzusetzen. Darüber hinaus sollte man nicht vergessen, dass Verhaltensdaten, biometrische Informationen oder Aktivitätsprotokolle für spätere Anpassungen der Geräte an die User wie auch dieser an jene gesammelt werden.36 Über die Instrumentalisierbarkeit digitaler Hörgeräte hinausgehend sollte auch nach deren eigener Medialität und «evokativem Potential»37 gefragt werden. Mit dem Verschmelzen von assistiver Hörtechnologie mit Unterhaltungselektronik steht nicht mehr ‹nur› die Wiederherstellung (und Befragung!) sogenannten ‹normalen› Hörens im Fokus. Digitale Hörtechnologien operationalisieren und normieren bestimmte Formen eines gesunden, individuell angepassten und kontinuierlich zu verbessernden Hörens. Die intime Verbindung zu anderen Nahkörpertechnologien wie Kopfhörern, Smartphone oder dem Internet der Dinge38 übersteigt dabei die reine Funktionalisierung oder assistive Aneignung eines technischen Objektes39 und avanciert mit ihren vielfältigen Services und Funktionen zu einem medienkul-

35 Vgl. José van Dijck: The Culture of Connectivity. A Critical History of Social Media. New York: Oxford University Press 2013, S. 4. 36 Vgl. Benjamin Johansen u.a.: Hearables in Hearing Care: Discovering Usage Patterns through IoT Devices. In: Margherita Antona/Constantine Stephanidis (Hg.): Universal Access in Human–Computer Interaction. Human and Technological Environments. Bd. 3. Cham: Springer 2017, S. 39–50. 37 Vgl. Sherry Turkle: Evocative objects: Things we think with. Cambridge: MIT Press 2007. 38 Hörgerätehersteller*innen, Unterhaltungsindustrie wie auch Soft- und Hardwarefirmen arbeiten derzeit an einer Steigerung der Batterieleistung (z.B. Apple), am weiteren Ausbau der Konnektivität und unterstützen u.a. Plattformen wie IFTT (If this, then that): So sendet die Türglocke z.B. ein Signal an das Hörgerät und erinnert zugleich an den nächsten Termin. Das Hörgerät wird so zum Teil des Internets der Dinge und Hörgeräteträger*innen können – ganz im Trend eines DIY – einfache If-this-then-that-Skripte selbst programmieren. Damit haben wir uns vom Phänomen des Hörverlusts zwar nicht entfernt, dieses jedoch in ein wesentlich größeres Feld technifizierter Formierung (und Normierung) smarter Hörökologien eingelassen. 39 Vgl. Daniel Miller: Stuff. Cambridge: Polity Press 2010; Daniel Miller: The Comfort of Things. Cambridge: Polity Press 2008; Judy Wajcman/Michael Bittman/Jude Brown: Intimate Connections. The impact of the Mobile phone on Work/Life Boundaries. Mobile Technologies. In: Gerard Goggin/Larissa Hjorth (Hg.): From Telecommunications to Media. New York: Routledge 2009, S. 9–22.

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turellen Subjektivierungsdispositiv.40 Der Mediensoziologe David Beer schlägt darum vor, genauer über die Verkörperung mobiler Medien als in unsere täglichen körperlichen Praktiken eingesickerte Objekte nachzudenken und die materielle Verbundenheit mit jenen Geräten zu reflektieren, die (zunehmend) unser Denken und unsere Denkfähigkeit generieren und verhandeln.41 Ein grundlegendes Verständnis der «affordances» oder des Aufforderungscharakters,42 auf die «Dinge zu hören»,43 in denen und durch die wir hören (und sprechen), vermag die wechselseitigen Verfertigungsprozesse zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Akteur*innen im Dispositiv des Hörens entsprechend auszuloten.44 Welche Ambivalenzen in diesen Subjektivierungsprozessen produziert werden, ist Thema des folgenden Abschnitts.

3 Von Selbsttechnologien zu Selbst-Regierung? Die Produktion smarten Hörens ist als körperlich-sensorische, technische und kulturelle Praktik zu verstehen. Aufgrund rekursiver Verbindungen zur Technologie wird sich ein Hören, das auf den gesammelten Daten, Erfahrungen und Gebrauchsweisen der User*innen beruht, ständig verändern und damit produktiv bleiben. Die Programmierung neuer Einstellungen sowie eine zunehmende Personalisierung wird durch ein Produktionssystem unterstützt, das ständig auf der Suche nach neuen Trends, Wünschen oder Bedürfnissen ist und in die-

40 Vgl. Timo Kaerlein: Smartphones als digitale Nahkörpertechnologien: Zur Kybernetisierung des Alltags. Bielefeld: transcript 2018, S. 36; Ulrich Bröckling: Das unternehmerische Selbst. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2007; Friedrich Balke: Selbstsorge/Selbsttechnologie. In: Clemens Kammler/Rolf Parr/Ulrich Johannes Schneider/Elke Reinhardt-Becker (Hg.): Foucault-Handbuch. Stuttgart: Metzler 2014, S. 186–291; Michel Foucault: Technologien des Selbst. In: Martin H. Luther/Huck Gutman/Patrick H. Hutton (Hg.): Technologien des Selbst. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1993, S. 24–62; ders.: Dits et écrits, Bd. IV: 1980–88. Paris: Gallimard 1994. 41 Vgl. David Beer: The comfort of mobile media: Uncovering personal attachments with everyday devices. In: The International Journal of Research into New Media Technologies 18.4 (2012), S. 361–67, hier S. 362; Benjamin Lipps: Analytik des Interfacing, S. 107–129; Antoine Hennion: Vous avez dit attachements? In: Madeleine Akrich (Hg.): Débordements: Mélanges offerts à Michel Callon. Paris: Presses des Mines 2010, S. 179–190. 42 James J. Gibson: A Theory of Affordances. In: ders.: The Ecological Approach to Visual Perception (1977). London: Lawrence Earlbaum Associates 1986, S. 127–147; vgl. auch Joseph Plazak/Marta Kersten-Oertel: A Survey on the Affordances of ‹Hearables›, S. 48; Nick Hunn: Hearables – The New Wearables. 43 Daniel Miller: The Comfort of Things, S. 6. 44 Vgl. Sherry Turkle: Evocative objects, S. 6.

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sem Bestreben (mehr oder weniger freiwillig) von den Hörer*innen und ihren Daten unterstützt wird. Die versprochene Diversifikation von Hörerlebnissen erweist sich dabei als Set kommerzialisierbarer technologischer Einstellungen (oder Reparaturen), das die Hörer*innen dazu herausfordert, sich in ein spezifisches Verhältnis zum Klanggeschehen zu setzen45 und sich dessen möglicher Sedimentierung in den Einstellungen auch im Hinblick auf eine zunehmende Mitbestimmung zu unterwerfen.46 Dem in Aussicht gestellten Autonomiegewinn – freie Einstellungswahl, volle Konnektivität, Personalisierung usw. – entspricht dabei eine zunehmende Selbstdisziplinierung, die dadurch entsteht, dass die Nutzer*innen ihr neues ‹Hören› zunehmend selbst kontrollieren können, dies aber auch verantworten müssen. Dies bezieht sich dann auch auf ein mögliches Scheitern, das als Versagen bzw. (eigenes) Verschulden gewertet werden kann.47 Insofern sind smarte Hörtechnologien nicht nur Dinge, mit denen wir hören; sie sind, in einer leichten Abwandlung Sherry Turkles, «things we [have to] think [and work] with».48 In einem ReSound LiNX2 Testimonial beschreibt der schwerhörige Steve De Luca seine Erfahrungen mit dem neuen Gerät: Während er sich früher darauf konzentrieren musste, was die Menschen um ihn herum sagen, empfindet er Hören nun als eine Art «second nature».49 Die verbesserte Konnektivität, z.B. mit dem Smartphone oder der Apple Watch, erleichtere es, Einstellungen, beispielsweise während Arbeitstreffen, zu ändern, ohne dabei abgelenkt zu werden. Am wichtigsten aber sei die Möglichkeit, Störgeräusche auszublenden. Aus diesen Aussagen ist zu erschließen, dass das Hörgerät nicht nur ‹normales› Hören ermöglicht, es ist – und dies in steigendem Maße – auf akustische Interferenzen oder Irritationen vorbereitet, die von der Technologie eliminiert werden. Hörgeräte wie das ReSound LiNX2 machen mithin erst deutlich, was Hörverlust bedeutet. In anderen Worten, sie stellen die Dimension des Hörverlustes und zugleich ihre Lösung erst her: «I

45 Vgl. Jens Gerrit Papenburg: Hörgeräte. 46 Vgl. Beate Ochsner: AudioVisual Accessibility (AVA) oder: Zur Herstellung prekärer Kommunikationsgemeinschaften. In: Johannes Bennke/Johanna Seifert/Martin Siegler/Christina Terberl (Hg.): Das Mitsein der Medien: Prekäre Koexistenzen von Menschen, Maschinen und Algorithmen. Paderborn: Fink 2018a, S. 121–146; dies.: Oikos und Oikonomia oder: SelbstsorgeApps als Technologien der Haushaltung. In: Internationales Jahrbuch für Medienphilosophie 4.1 (2018b), S. 123–146. 47 Vgl. Beate Ochsner: AudioVisual Accessibility (AVA), S. 121–146; Annemarie Mol: The Body Multiple. 48 Sherry Turkle: Evocative objects, S. 36. Ergänzungen von mir. 49 ReSound Smart Hearing aid wearer Steve DeLuca: «A whole new world», TC 0:52–0:55. https://www.youtube.com/watch?v=da50kfrsk9E (letzter Zugriff am 02. Januar 2020).

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never realized how much of a hearing loss I had before I put these hearing aids in».50 So ist Hörverlust nicht nur eine medizinische Diagnose, sondern steht in direktem Verhältnis zu den technischen Geräten, den Situationen und Anordnungen, mit denen und durch die es produziert wird.51 In einem anderen Testimonial erzählt ein passionierter Ruderer, dass er mit der ReSound App die störenden Windgeräusche auf dem Wasser kontrolliere, und ein leidenschaftlicher Radfahrer stellt seine Hörgeräte nach dem Café-Besuch via App auf seinen individuell programmierten Radfahrer-Modus ein, bevor er, Zuhause angekommen, in den Heim-Modus wechselt. So bestimmen die voreingestellten Präferenzen sowie in Kooperation mit dem Gerät zunehmend personalisierte Hörsituationen, was und wie und – vor allem – was nicht gehört wird, werden muss oder soll. Mit der – mehr oder weniger – freien Auswahl verschiedener und mit Hilfe einer Geotagging-App automatisch den Umgebungen anzupassenden Hörprogrammen gerät die Vorstellung eines ‹normalen› oder ‹natürlichen› Hörens zu einer Einstellung unter anderen, was im Sinne des Dis/Ability-Diskurses bzw. einer «aural diversity»52 mit unterschiedlichen Hör/Un/Fähigkeiten und damit einer größeren Hörvielfalt als durchaus positiv gewertet werden kann. Im Gegensatz zu den meisten medizinischen Hilfen, die ein auditorisches Defizit oder eine Schädigung des Gehörorgans ausgleichen sollen, verfolgt die Unterhaltungsindustrie aber ein anderes Skript,53 das kooperative Räume mit den zukünftigen Hörer*innen rahmt, um individuelle Hörbedürfnisse durch und mit einer anpassungsfähigen Hörtechnologie für ein selbstverantwortliches Individuum umzusetzen. Hörer*innen werden dabei nicht nur zum Hören befähigt, sondern gegebenenfalls auch zu unterschiedlichen Möglichkeiten personalisierten Hörens (oder Nicht-Hörens), Self-Trackings und der Selbstkontrolle: Hörgeräte geraten auf diese Weise zu einer selbsttechnologischen Praxis, die eine Verpflichtung zur

50 Ebda., TC 02:42–02:46. 51 Vgl. Jeffrey Bussolini: What is a Dispositive? In: Foucault Studies 10 (2010), S. 85–107, hier S. 95. 52 Im Juni 2019 fand das erste von GN ReSound gesponserte Konzert Aural Diversity statt. Im Zusammenhang damit stand die für November 2019 angekündigte ebenfalls von GN ReSound gesponserte Konferenz zum gleichen Thema. GN ReSound unterstützt damit das Projekt von Andrew Hugill, einem Komponisten und Musikprofessor, der aufgrund seiner Ménière-Erkrankung an schwerem Hörverlust leidet. Seine Erfahrung mit ReSound LiNX Quattro™ Hörhilfen inspirierte ihn zu seinem Projekt Aural Diversity, das Musiker unterschiedlicher Richtungen und mit individuellem Hörverlust zu gemeinsamem Musizieren zusammenbringt. Vgl. http://auraldiversity.org/confe rences.html (letzter Zugriff am: 29. Juli 2019). 53 Vgl. Madeleine Akrich: The De-Scription of Technical Objects. In: Wiebe E. Bijker/John Law (Hg.): Shaping Technology/Building Society. Studies in Sociotechnical Change. Cambridge/London: MIT Press 1997, S. 205–224, hier S. 208.

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Selbstsorge54 in den allgemeinen Prozess der Ökonomisierung des Sozialen einschreibt.55 Wer aber sind die perfekten Hörer*innen aus den Werbeclips, die gleichermaßen von der Hörtechnologie wie auch der Unterhaltungsindustrie in Anspruch genommen Entwicklung? Menschen mit altersbedingtem Hörverlust? Menschen mit Schwerhörigkeit oder anderen Hörproblemen? Durchschnittliche Hörer*innen? Digital Natives? Und welche Ansprüche entstehen aus dieser Entwicklung? Der Wissenschaftsjournalist und Hörgeräteträger Frank Swain äußert Bedenken gegenüber der neuen Hörtechnologie.56 Die Mehrheit der Entwickler*innen und Designer*innen habe noch nie ein Hörgerät benutzt. Tatsächlich fordere eine Verwendung über den ganzen Tag hinweg nicht nur die Batteriekapazität heraus,57 vollokklusive Kopfhörer – und die meisten hearables sind vollokklusiv – gelten nicht nur als häufige Verursacher von Ohrinfektionen, sondern produzieren auch den problematischen Okklusions-Effekt – d.h. Schallblockierung bei In-OhrGeräten sowie Quellung der Haut durch Feuchtigkeitsstau – und sind letztlich nur dann hervorragend, wenn man nur auf dem Gerät (d.h. z.B. Musik) hören will. Für komplexere auditorische Aufgaben sind sie, so zumindest Swain, kaum zu ertragen.58 Doch diese eher kritische Haltung Swains in 2015 scheint in seinem nur drei Jahre später erschienenen Artikel Hearables are on the brink of making us all top polyglots59 nahezu vergessen. Der Prognose Jason Galsters, Senior-Manager der audiologischen Forschung beim Hörgerätehersteller Starkey, pflichtet Swain zumin-

54 Vgl. Nikolas Rose/Joelle Abi-Rached: Governing through the Brain: Neuropolitics, Neuroscience and Subjectivity. In: Cambridge Anthropology 32.1 (2014), S. 3–23, hier S. 15. 55 Vgl. Ulrich Bröckling/Susanne Krasmann/Thomas Lemke: Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2000. 56 Zusammen mit Daniel Jones hat Frank Swain das Projekt Phantom Terrains entwickelt: Phantom Terrains ist eine experimentelle Plattform, die die Charakteristika drahtloser Netzwerke in Sound umwandelt. Indem Swain diese Signale an die Hörhilfen streamed, kann er die ihn umgebenden wechselnden Datenlandschaften ‹hören›. Das Projekt fordert damit den Begriff assistiver Hörtechnologie heraus und stellt es in den Kontext von Enhancement und Augmented Reality. Vgl. http://phantomterrains.com (letzter Zugriff am: 29. Juli 2019). 57 Hier hat Apple bereits einen Weg gefunden, um komprimierte Audiofiles über eine Bluetooth Low Energy-Verbindung zu streamen, wie sie u.a. von Geräten wie der FitBit genutzt wird. Die Technik fand zunächst Anwendung in den Halo Hörgeräten von Starkey Hearing Technologies (2014), später dann in den AirPods, deren Lautsprecheröffnungen nicht im Gehörgang, sondern davorliegen. 58 Frank Swain: What to think about when you think about hearables, 14. Juli 2015. https:// medium.com/@sciencepunk/what-to-think-about-when-you-think-about-hearables-131d847125a (letzter Zugriff am: 29. Juli 2019). 59 Frank Swain: Hearables are on the brink of making us all top polyglots. In: Wired (5. Januar 2018). https://www.wired.co.uk/article/hearing-aids-apple-airpods-bragi-here-one-hearables (letzter Zugriff am: 29. Juli 2019).

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dest 2018 mit den Fortschritten im Kontext der Bluetooth Low Energy (BLE)Verbindung bei: «There will be a convergence between what we view as a hearing aid and what we view as a hearable».60 Die zunehmende Konvergenz medizinischer Hörhilfen mit den aus dem Bereich der Unterhaltungselektronik stammenden hearables ruft zugleich die die Abschlußüberlegungen leitende Frage nach der wirtschaftlichen Verwertbarkeit besseren Hörens auf den Plan.

4 Ausblick: Ökonomie des Hörens Die im vorangegangenen Kapitel aufgezeigte Ambivalenz zwischen einem Autonomiegewinn bei zunehmender (Verpflichtung zur) Selbstkontrolle spielt den auf Gewinn bzw. Kundenzuwachs zielenden Kooperationen zwischen Medizin- und Unterhaltungsindustrie in die Hände.61 Die aus der Verbindung von Technologien der Beherrschung z.B. des eigenen Hörens und neoliberalen Technologien des Selbst hervorgehende (Selbst-)Kontrollmentalität zeichnet gleichermaßen smarte Hörgeräte, Zusatzapps wie auch Träger*innen aus. Die dem medialen Dispositiv eingeschriebene Rekursivität lässt dabei eine gewisse unternehmerische Freiheit und Freiwilligkeit erkennen, eine – wie Laura Mauldin dies im Kontext der Neuroprothese Cochlea-Implantat bezeichnet – «neuro-self-governance»,62 die (erfolgreiches) Hören als neurotechnologischen Prozess erscheinen lässt, in dem die Frage nach somatischer Ethik und Selbstsorge63 (selbst-)unternehmerisch verwertet werden kann. Trotz freiheitsgenerierender Personalisierung und Autonomie ist das Erfolgsversprechen dabei gerade nicht mit einer Befreiung von

60 Ebda. 61 Dabei geht es nicht darum, Letztere zu brandmarken, deutsche Krankenkassen zahlen – so der Stand 2017 – einen Maximalzuschuss von 784,94 Euro, wobei dieser beim zweiten Hörgerät deutlich geringer ausfällt. Beratung, Programmierung und Anpassung werden ebenso übernommen wie Nachbetreuung und etwaige notwendige Reparaturen; Batterien jedoch nur bis zum 18. Lebensjahr des/der Versicherten. Je nach Hörschwäche und individuellem Bedarf sind zahlreiche Hörgeräte jedoch unter Umständen drei- bis viermal so teuer. Die Mehrkosten müssen die Patient*innen in der Regel selbst übernehmen. Vgl. https://www.verbraucherzentrale.de/wissen/ gesundheit-pflege/krankenversicherung/hoergeraete-uebernahme-der-kosten-11470 (letzter Zugriff am: 29. Juli 2019). 62 Laura Mauldin: Precarious Plasticity. Neuropolitics, Cochlear Implants and the Redefinition of Deafness. In: Science, Technology & Human Values 39.1 (2014), S. 130–153, hier S. 133. Vgl. auch Beate Ochsner: Das Cochlea-Implantat. Versprechen und Zumutungen sozialer Teilhabe. In: Karin Harrasser/Susanne Rößiger (Hg.): Parahuman. Neue Perspektiven auf das Leben mit Technik. Kassel/Wien/Weimar: Böhlau 2016, S. 78–91. 63 Vgl. Nikolas Rose/Joëlle Abi-Rached: Governing through the Brain, S. 3–23, hier S. 15.

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sozialen Hörregimen verbunden: Die Zurichtung auf eine bestimmte Norm ist, so Michael Mayer, bereits dem Begriff des Dispositivs eingeschrieben, der mit demjenigen der griechischen oikonomia verwandt sei.64 Dazu gehöre eine unterschwellige «Präjustierung von Denk-, Handlungs- und Wahrnehmungsweisen, die in Richtung auf ein Gegenstandsfeld orientiert und irreversibel daraufhin eingestellt werden».65 Madeleine Akrich bestätigt, dass die Verteilung von Ursachen in soziotechnischen Dispositiven, d.h. die Entscheidung darüber, was wann an wen oder was delegiert werden soll, in die «Geographie (oder Ökologie) der Verantwortlichkeiten»66 eingeschrieben ist. Im Rahmen der «Ökonomisierung des Sozialen»67 sowie einer freiwilligen Selbstunterwerfung unter eine Medientechnologie werden Erfolg wie auch Glück zunehmend an das Erreichen vorgegebener (Mess-)Werte bzw. an eine optimale Verwertbarkeit des Selbst in einer neoliberalistischen Unternehmens- und Gesellschaftskultur gebunden. Wann, so ist zu fragen, stabilisieren sich die Selbsttechnologien in Form präemptiver Regierungstechniken, die Potentialiäten wie bestimmte Hörsituationen ‹vorspuren›? Welche Folgen sind einer Hör-Bewegung eingeschrieben, die sich nicht mehr in die Lautumgebung einfügt, sondern personalisierte Situationen environmentalen Hörens technisch produziert? Welche Rolle spielt dabei die wachsende Relevanz, die lautliche Umgebung zu unterdrücken, weghören zu können und nicht mehr hören zu müssen, wie sie oben im Rahmen der Testimonials beschrieben wurde und im Kontext effektiven Noise-Cancellings, d.h. dem aktiven Unterdrücken von Umgebungsgeräuschen wie Verkehrslärm, Wind o.ä., kontinuierlich optimiert wird. Dies – so das Versprechen – ermöglicht ein stressfreies Hören, das – paradoxerweise – in einer Art hochtechnisiertem WegHören oder Nicht-Hören besteht.68 Eine immer smarter werdende Hörtechnologie verwandelt das Hörgerät in ein modernes Lifestyle-Produkt, das, während es eine neue Vielfalt des Hörens

64 Ein im Kontext der Relation von Biopolitik und oikonomia zu empfehlendes Buch ist Angela Mitropolous: Contract and Contagion: From Biopolitics to Oikonomia. Wivenhoe/New York/Port Watson: Minor Compositions 2012. 65 Michael Mayer: Kapital als Medium. Zu einer Kritischen Theorie des Medialen. In: Jahrbuch für Medienphilosophie 2.1 (2016), S. 125–147, hier S. 141. 66 Madeleine Akrich: Die De-Skription technischer Objekte. In: Andréa Belliger/David J. Krieger (Hg.): ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie. Bielefeld: transcript 2006, S. 407–428, hier S. 410. 67 Zur Ökonomisierung des Sozialen vgl. Ulrich Bröckling/Susanne Krasmann/Thomas Lemke (Hg.): Gouvernementalität der Gegenwart. 68 Vgl. hierzu auch einen Videoclip der Firma Loley aus dem Jahr 2015, in dem das Abschalten des Hörgerätes Beziehungsstreit verhindert, unter https://www.youtube.com/watch?v=oT FaRKTQxbU (letzter Zugriff am: 29. Juli 2019).

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verspricht, in gleichem Maße dem Anspruch unserer zeitgenössischen Leistungsgesellschaft gehorcht und neue Normen des Hörens durch technologische und wirtschaftliche Standards einführt. Dies zeigt, dass sich Technologisierung vor allem im Rahmen einer immer intimeren Verschaltung menschlicher Sinne, menschlichen Denkens und Lebens mit technischen Apparaten und Umwelten vollzieht.69 Damit einhergeht eine techno-ökologische Dezentrierung menschlicher Subjektivität bis hin zu deren «Umgehung»70 bzw. ihrer Isolierung von Außengeräuschen. Digitale Hörsysteme «perkolieren»71 in unsere Umwelt. Emergiert ein neues Netzwerk, erscheint das vorausgehende (zumindest im Nachhinein) als organisatorische Voraussetzung bzw. Teil einer teleologischen Geschichte, in deren Entstehung Prozesse eines wechselseitigen und momentanen Vollzugs von Re(gu)lationen, die von den Medien selbst prozessiert werden, unsichtbar gemacht werden. ‹Der Mensch›, so eine häufig zu vernehmende Befürchtung, wird in diesem Zuge zunehmend als multiple Oberfläche im Rahmen einer neo-kybernetischen «Logik der Verwaltung und Verschaltung»72 regiert und kalibriert. In der wechselseitigen Einstellung von Technik und User*innen scheint die Unterscheidung zwischen alltäglichen Assistenten und assistiver Technologie zunächst zu verschwinden, wird jedoch im Zwischenraum von Unterhaltungs- und Medizinindustrie als Frage nach dem geeigneten Gerät sowie der eigenen (digitalen, sozialen, aber auch sensorischen und finanziellen) Leistungsfähigkeit neu verhandelt. Auf diesem Wege verschwinden Hörunterschiede nicht, im Spannungsfeld moderner Technologien aber werden sie zunehmend zwischen zwei Polen neu verhandelt: Zum einen als heterogene Hör/Un/Fähigkeiten integriert, unterstützt oder verändert durch ständige technische Begleiter oder Agenturen

69 Vgl. Robert Häußling: Techniksoziologie. Opladen: Budrich 2019; Dirk Baecker: Wie verändert die Digitalisierung unser Denken und unseren Umgang mit der Welt? Ausgangspunkte einer Theorie der Digitalisierung. In: Rainer Gläß/Bernd Leukert (Hg.): Handel 4.0. Berlin/Heidelberg: Springer 2017, S. 3–24; Donna Haraway: A Cyborg Manifesto: Science, Technology, and Socialist-Feminism in the Late Twentieth Century. In: dies. (Hg.): Simians, Cyborgs, and Women. The Reinvention of Nature. New York: Routledge 1991, S. 149–182. 70 Erich Hörl: Die technologische Bedingung. Zur Einführung. In: ders. (Hg.): Die technologische Bedingung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2011, S. 7–53, hier S. 12. 71 Michel Serres/Bruno Latour: Eclaircissements. Cinq entretiens avec Bruno Latour. Paris: Éditions François Bourin 1992, S. 90. Vgl. Beate Ochsner: Das Denken des Dazwischen. In: Frank Haase/Till A. Heilmann (Hg.): Interventionen. Festschrift für Georg Christoph Tholen. Marburg: Schüren 2013, S. 59–269, hier S. 267. 72 Alexander Galloway: Black Box, Schwarzer Block. In: Erich Hörl (Hg.): Die technologische Bedingung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2011, S. 267–281, hier S. 268.

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und zum anderen als Hörverlust, der auf eine selbsttechnologisch zu behebende Problemlage und Aufforderung zum Self-Enhancement reduziert wird.

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Marie Guthmüller

Stil als «Physiognomie des Geistes»? Überlegungen zu einer Denkfigur des 19. Jahrhunderts und ihrer Wegbereitung durch Jean-Jacques Rousseau

1 Einleitung Im zweiten Teil der 1851 erschienenen Parerga und Paralipomena von Arthur Schopenhauer findet sich seine bekannte Abhandlung Über Schriftstellerei und Stil. In Paragraph 282 entwickelt der Philosoph dort die Denkfigur vom «Stil» als «Physiognomie des Geistes»: Der Stil ist die Physiognomie des Geistes. Sie ist untrüglicher, als die des Leibes. Fremden Stil nachahmen heißt eine Maske tragen. Wäre diese auch noch so schön, so wird sie durch das Leblose, bald insipid und unerträglich; so daß selbst das hässlichste lebendige Gesicht besser ist.1

Schopenhauer arbeitet hier mit einem Begriff, den Johann Caspar Lavaters Schriften in den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts populär gemacht hatten. In den Physiognomischen Fragmenten (1775) definiert dieser die «Physiognomie» bekanntlich als «[i]m weitesten Verstand» «das Aeußere, die Oberflaͤche des Menschen in Ruhe oder Bewegung» und «[i]m engern Verstand» als «die Gesichtsbildung». Die Physiognomik wiederum definiert Lavater als «das Wissen, die Kenntnisse des Verhaͤltnisses des Aeußern mit dem Innern; der sichtbaren Oberflaͤche mit dem unsichtbaren Innhalt».2 Schopenhauer schließt an die weitere Definition an und stellt der «Physiognomie des Leibes» eine «Physiognomie des Geistes» an die Seite. Letztere drücke sich im Stil eines Menschen aus und sei «untrüglicher» als die Physiognomie des Leibes. Die Art und Weise, wie ein Mensch spricht und schreibt, wird hier zu dessen «Aeußerem» gezählt und Schopenhauer scheint davon auszugehen, dass der Stil eines Menschen sicherere Schlüsse auf sein Inneres zulässt, als es seine Gesichtszüge tun. Lavater selbst dagegen hatte Sprache und Schrift aus den Physiognomischen Fragmenten nicht nur ausgeklammert, er hatte sie geradezu in einen Gegensatz

1 Arthur Schopenhauer: Parerga und Paralipomena: kleine philosophische Schriften, § 282 [«Ueber Schriftstellerei und Stil»]. In: Werke in zehn Bänden. Bd. 10.2. Herausgegeben von Arthur Hübscher. Zürich: Diogenes 2017 [1977], S. 563. 2 Johann Caspar Lavater: Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a.: Weidmann 1775, S. 13. https://doi.org/10.1515/9783110665055-011

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zur Physiognomie gestellt: Während er die Gesichtszüge hier als unmittelbaren Ausdruck der Natur eines Menschen behandelt, erscheint die Sprache als trügerisches Medium. Da sie es dem Menschen erlaubt, sich zu verstellen, bezeichnet Lavater die Willkür der Sprache, schon 1772 in Von der Physiognomik, als «Pest der gesunden Naturlehre».3 Für Lavater selbst wäre es daher paradox, vom Stil als Physiognomie zu sprechen. Anders verhält es sich mit dessen Landsmann Jean-Jacques Rousseau: Der von Lavater bewunderte Genfer Philosoph und Schriftsteller hatte die Sprache in seinen literarischen wie in seinen theoretischen Schriften zwei Jahrzehnte zuvor bekanntlich als potentiell unmittelbares und transparentes Ausdrucksmittel entworfen – und zugleich eingeklagt, dass jeder Autor für die von ihm publizierten Schriften einstehen solle. Kann es also ein Zufall sein, dass gerade Jean-Jacques Rousseau in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum bevorzugten Untersuchungsobjekt all derjenigen wird, die anhand literarischer Texte Stilphysiognomik betreiben?4 Im Folgenden möchte ich nach der Geschichte der Denkfigur vom Stil als «Physiognomie des Geistes» fragen und dabei einen Bogen vom 18. Jahrhundert, also von Rousseau und Lavater, bis ins 19. Jahrhundert spannen, einerseits zu Schopenhauer und andererseits zu den Textlektüren der positivistischen Psychiatrie. Damit soll ein Beitrag zur historischen Kontextualisierung des physiognomischen Denkens geleistet werden, das in diesem Band im Fokus steht. Ich werde in drei Schritten vorgehen: Zunächst werde ich einige Beispiele für das durchaus heterogene Zusammendenken von Physiognomie und Stil zwischen der Mitte des 18. und dem ausgehenden 19. Jahrhundert vorstellen (1). Dann werde ich nachzeichnen, wie Jean-Jacques Rousseau und seine Schriften in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als bevorzugte Untersuchungsobjekte der Psychopathologie einer physiognomischen Lektüre unterzogen werden. Dabei frage ich auch danach, in welchem Verhältnis diese Untersuchungen zum ästhetischen und didaktischen Programm seiner eigenen Schriften stehen (2). In einem dritten Schritt werfe ich einen Blick auf die agonalen Auseinandersetzungen, die Psychiatrie und Literaturkritik Ende des Jahrhunderts um die Deutungshoheit für literarische Texte und ihre Autoren führen. Im Mittelpunkt steht hier eine Rezension, die der französische Literaturkritiker Ferdinand Brunetière über eine

3 Johann Caspar Lavater: Von der Physiognomik. Leipzig: Weidmann 1772, S. 14; zur Sprache bei Lavater vgl. Ursula Gleitner: Klartext. Zur Physiognomik Johann Caspar Lavaters. In: Rüdiger Campe/Manfred Schneider (Hg.): Geschichten der Physiognomik. Text, Bild, Wissen. Freiburg: Rombach 1995, S. 357–385. 4 Zu den zahlreichen Pathologisierungen Jean-Jacques Rousseaus vom 18. bis in 20. Jahrhundert vgl. Claude Wacjman: Fous de Rousseau. Le cas Rousseau dans l’histoire de la psychopathologie. Paris: L’Harmattan 1992.

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psychiatrische Rousseau-Studie des deutschen Nervenarztes Paul Julius Möbius verfasst hat (3). Wie zu zeigen sein wird, verliert die vonseiten der lettrés betriebene Literaturkritik ihren argumentativen Kampf gegen die Stilphysiognomiker aus der Medizin gerade in dem Moment, als auch sie sich mit Jean-Jacques Rousseau auseinandersetzt. Zurückzuführen ist dies, so meine These, auf die spezifische Authentizitätsrhetorik, die Rousseau in seinen Schriften entwickelt – und die dazu beigetragen hat, die Denkfigur vom Stil als Physiognomie des Geistes möglich und dabei zugleich so attraktiv zu machen.

2 Stil als Physiognomie des Geistes Schopenhauer selbst ist es in Über Schriftstellerei und Stil gar nicht darum zu tun, «das Wissen, die Kenntnisse des Verhaͤltnisses des Aeußern mit dem Innern»5 zu vertiefen. Vielmehr wettert er hier gegen die «gewissenlose Tintenklexerei unserer Zeit»,6 gegen «geistlose Kompilator[en]» und «Abschreiber aus fremden Büchern».7 In Verbindung mit der «in Deutschland endlich erlangte[n] und sogleich auf das Ehrloseste mißbrauchte[n] Preßfreiheit» fordert er für den Schriftsteller «ein Verbot aller und jeder Anonymität und Pseudonymität».8 Jeder Schriftsteller müsse die Verantwortung für das von ihm Geschriebene übernehmen und für seine Texte mit seinem Namen einstehen. Nur so lasse sich das Verbreiten von Lügen in der Presse eindämmen und zugleich verhindern, dass das schriftstellerische Niveau immer weiter absinke. Ein eigener Stil zeichne einen Schriftsteller aus, der tatsächlich etwas zu sagen habe und der sich durch Originalität und Individualität von der Masse der «geistlose[n] Kompilator[en]» abhebe. Wenn Schopenhauer vom Stil als «Physiognomie des Geistes» spricht, schließt er zum einen an Lavaters Begrifflichkeit an. Zum anderen nimmt er aber auch Überlegungen zum Zusammenhang zwischen dem Stil eines Menschen und der Gesamtheit seiner intellektuellen Fähigkeiten auf, die seit Georges-Louis Leclerc de Buffons berühmten Diktum «le style c’est l’homme même»9 – «der Stil ist der Mensch selber» – in Frankreich wie in Deutschland breit diskutiert werden. 1753

5 Johann Caspar Lavater: Physiognomische Fragmente, S. 13. 6 Arthur Schopenhauer: Parerga und Paralipomena, § 281, S. 557. 7 Ebda., S. 558. 8 Ebda., S. 561. 9 Georges-Louis Leclerc de Buffon: Discours prononcé à l’Académie française [1753]. In: Œuvres philosophiques. Herausgegeben von Jean Piveteau. Paris: P.U.F. 1954, S. 503.

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hatte der Naturhistoriker Buffon den Stil ins Zentrum seiner Antrittsrede vor der Académie française gestellt und die Notwendigkeit eines guten Stils in den Wissenschaften betont. Dabei hatte er weniger dessen formale Virtuosität als vielmehr dessen kognitive Dimensionen im Blick.10 Nur in diesem Sinne ‹gut› geschriebene Werke könnten ihrem Autor zu Nachruhm verhelfen. Auch hier wird also eine enge Verbindung zwischen Stil und Autor postuliert, wobei der Fokus, anders als bei Lavater und durchaus ähnlich wie später bei Schopenhauer, gerade nicht darauf liegt, den Stil als sichtbare Oberfläche zu denken, die auf ein verborgenes Inneres des Schreibers verweist. Vielmehr liegt der Fokus darauf, dass die kognitiven Fähigkeiten eines Autors ‒ und damit natürlich auch seine eventuelle Genialität ‒ sich nicht nur im Inhalt, sondern auch am Stil seiner Schriften manifestieren, da dieser dem verhandelten Gegenstand in seiner Spezifik und Komplexität jeweils angemessen sein muss.11 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aber wird Buffons berühmter Satz, von Charles-Augustin Sainte-Beuve bis zu Cesare Lombroso, im oben genannten Sinn umgedeutet. Denn «Le style c’est l’homme même» lässt sich, wie Schopenhauers Diktum vom Stil als «Physiognomie des Geistes», eben auch so verstehen, dass der Stil eines Menschen, ebenso wie seine Gesichtszüge, Aufschlüsse über sein Inneres liefern und deswegen für physiognomische Charakterstudien herangezogen werden kann. Tatsächlich ist die Verwandlung von «Le style c’est l’homme même»

10 «Bien écrire, c’est tout à la fois bien penser, bien sentir et bien rendre ; c’est avoir en même temps de l’esprit, de l’âme et du goût. Le style suppose la réunion et l’exercice de toutes les facultés intellectuelles. [. . .] Le style c’est l’homme même». Ebda., S. 502ff. Vgl. dazu z.B. Elisabetta Orsini: L’ordre et le mouvement des pensées. Buffon et l’exercice scientifique du style. In: Revue italienne d’études françaises 3 (2013), S. 1–12, online seit dem 5. Dezember 2013. https://journals.openedition.org/rief/228 (letzter Zugriff am: 24.09.2019). 11 Auch Jean Paul schließt 1809 in der Vorschule der Ästhetik in diesem Sinn an Buffon an, wobei bei ihm der Aspekt der Individualität stärker hervortritt: «Der Stil ist der Mensch selber, sagt Buffon mit Recht. Wie jedes Volk sich in seiner Sprache, so malt jeder Autor sich in seinem Stile; die geheimste Eigentümlichkeit mit ihren feinen Erhebungen und Vertiefungen formt sich im Stile, diesem zweiten, biegsamen Leibe des Geistes, lebend ab». Jean Paul: Vorschule der Ästhetik. Herausgegeben von Wolfhart Henckmann. Hamburg: Meiner 1990, S. 276. Der Stil wird hier nicht mit dem körperlichen Erscheinungsbild des Menschen gleichgesetzt, sondern mit dem «zarten, biegsamem Leibe» des Geistes selbst, wodurch dessen Beweglichkeit und Fähigkeit zur komplexen Nuancierung hervorgehoben werden. Wie vor ihm Buffon und nach ihm Schopenhauer, so redet auch Jean Paul einer Originalität und Individualität des Stils das Wort. Auch ihm geht es nicht darum, «die Kenntnisse des Verhaͤltnisses des Aeußern mit dem Innern» (Johann Caspar Lavater: Physiognomische Fragmente, S. 13) zu vertiefen. Vielmehr sollen Schriftsteller – und das in der Schönen Literatur wie in den Naturwissenschaften – dazu ermuntert werden, auf ihre eigene Weise zu schreiben, anstatt fremde Stile nachzuahmen.

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(«Der Stil ist der Mensch selber») zu «Le style est tout l’homme» («Der Stil ist der ganze Mensch»), die sich um die Wende zum 19. Jahrhundert vollzieht, dem wachsenden Einfluss der in Frankreich äußerst populären Schriften Lavaters geschuldet.12 In physiognomischen Abhandlungen in französischer Sprache, die in Anschluss an Lavater verfasst werden, wird der Stil dann auch explizit zu einer sichtbaren Oberflächen des Menschen erklärt, anhand derer Schlüsse auf sein Inneres möglich werden. So schreibt etwa Jean-Marie Plane 1797 in Physiologie, ou l’Art de connaître les hommes sur leur physionomie: Si jamais chose au monde peut servir à faire connaître l’homme, c’est son style. Tels nous sommes, tels nous parlons et tels nous écrivons. Le physionomiste dira un jour, à la vue d’un orateur, d’un homme de lettres : c’est ainsi qu’il parle, c’est ainsi qu’il écrit. Il dira un jour sur le son de la voix d’un homme qu’il n’a pas vu, sur le style d’un ouvrage dont il ignore l’auteur : cet inconnu doit avoir tels et tels traits, une autre physionomie n’est pas faite pour lui. Chaque ouvrage porte le caractère de son ouvrier. Un homme dont le front est allongé et presque perpendiculaire, aura toujours le style sec et dur.13

Während Lavater selbst Sprache und Schrift aus den Physiognomischen Fragmenten ausklammert, beziehen nicht wenige seiner französischen Anhänger, die im Anschluss an ihn Physiognomik betreiben, Sprache und Schrift in ihre Abhandlungen ein. Auch die frühe französische Psychiatrie greift, als sie sich Mitte des 19. Jahrhunderts für die Art und Weise zu interessieren beginnt, in der ihre Patienten sprechen und schreiben, in ihrer physiognomischen Lesart auf Buffons Diktum zurück. Im Zuge der organizistischen Wende, die sich in der französischen Psychiatrie um die Jahrhundertmitte vollzieht, sind die aliénistes genannten Nervenärzte generell darum bemüht, am Körper orientierte, objektive Symptomatologien des Wahnsinns zu entwickeln. Ärzte wie Jean-Baptiste Parchappe und Louis-Victor Marcé arbeiten daran, auch die Sprache in diese Symptomtableaus zu integrieren.14 Ihr Ziel ist es, an der Art und Weise, in der der Kranke spricht oder schreibt, ablesen zu können, ob er wahnsinnig ist und wenn ja, unter welcher Form von Geisteskrankheit er leidet. Tatsächlich betrachten auch die Psychiater den Stil ihrer Kranken als eine sichtbare Oberfläche, die Schlüsse auf ein verborgenes Inneres zulässt.

12 Vgl. dazu auch Jacques Dürrenmatt: «Le style c’est l’homme même». Destin d’une bouffonnerie à l’âge romantique. In: Romantisme 148 (2010), S. 63–76. 13 Jean-Marie Plane: Physiologie, ou l’Art de connaître les hommes sur leur physionomie. Bd. 1. Meudon: Demailly 1797, S. 263–264. 14 Vgl. Jean-Baptiste Parchappe: Symptomatologie de la folie. In: Annales Médico Psychologiques 2.2 (1850), S. 1–54 und S. 232–267; Bd. 3 (1851), S. 40–97 und S. 236–290; vgl. Louis-Victor Marcé: De la valeur des écrits des aliénés au point de vue de la séméiologie et de la médecine légale. In: Congrès médico-chirurgical de France 1 (1863), S. 189–209.

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Sprachliche Symptomatologien des Wahnsinns werden besonders in der Gerichtsmedizin wichtig, etwa bei der Frage, ob Briefe oder Testamente von geistig zurechnungsfähigen Personen verfasst wurden. Diese Lektüren des Wahnsinns sind von Juan Rigoli in seinem 2001 erschienenen Buch Lire le délire untersucht worden.15 Rigoli hat nachgewiesen, dass die Psychiater, die versuchen, die Symptomatologie des Wahnsinns anhand der Sprache zu bestimmen, auf die Leidenschaftslehre der klassischen Rhetorik zurückgreifen. Als Steigerung der Leidenschaften soll sich der Wahnsinn an den grammatischen und rhetorischen Figuren ablesen lassen, die die Patienten verwendeten. Mit deren Hilfe lassen sich Übertreibungen, Abweichungen und Umstellungen eines Normsystems bestimmen, so sind die Figuren des Wahnsinns entweder Figuren des Mangels, des Bruchs oder der Verstreuung (also Ellipse, Unterbrechung, Inversion) oder aber Figuren der Emphase (Hyperbel, Exklamation, Wiederholung). Die sprachlichen Symptomatologien, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelt werden, gehen somit zurück auf ein rhetorisches Stilideal der Vollständigkeit, Angemessenheit, Gleichmäßigkeit und Harmonie, wie es im 17. Jahrhundert etwa Boileau formuliert hat.16 Es dauert nicht lange, bis diese um die Jahrhundertmitte anhand der Texte und Aussagen von Psychiatriepatienten entwickelten Kategorien auf literarische Texte und ihre Autoren zurückbezogen werden. Besonders im Rahmen des Degenerationsparadigmas, das seinen Höhepunkt im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts erreicht, geraten zahlreiche literarische Autoren unter Verdacht, geisteskrank zu sein. Der Arzt Max Nordau klassifiziert 1892/93 in seiner zweibändigen Studie Entartung bekanntlich einen Großteil der avantgardistischen Literatur seiner Zeit als Produkt «entarteter Geister».17 Und nicht nur zeitgenössische Autoren geraten in den Fokus der Psychiatrie. Auch zahlreiche Autoren früherer Jahrhunderte werden anhand ihrer Texte retrospektiv zu Geisteskranken erklärt. Unter den acht exemplarischen wahnsinnigen Genies, die der italienische Anthropologe und Gerichtsmediziner Cesare Lombroso bereits 1872 im vierten Kapitel von Genio e follia in rapporto alla psichiatria, alla storia ed all’estetica nennt, befinden sich vier literarische Autoren: Torquato Tasso, Jonathan Swift, Nikolaus Lenau – und eben Jean-Jacques Rousseau.18 Bei ihnen allen bezieht

15 Juan Rigoli: Lire le délire. Aliénisme, rhétorique et littérature en France au XIXe siècle. Paris: Fayard 2001, besonders das Kapitel «Langage et symptomatologie», S. 91–246. 16 Vgl. ebda., S. 223–233. 17 Max Nordau: Entartung. 2 Bde. Berlin: Duncker 1892–1893. 18 Eine erste, noch sehr schmale Ausgabe von Genio e follia erscheint bereits 1864, ich beziehe mich hier auf die 2. Auflage: Cesare Lombroso: Genio e follia in rapporto alla psichiatria, alla storia ed all’estetica. Mailand: Brigola 1872 (Kap. IV, zu Rousseau S. 43–49), weitere, jeweils

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sich Lombroso, der wenige Jahre später, 1876 in L’uomo delinquente, physiognomische Verfahren zur genauen Vermessung und Bestimmung geborener Verbrechers entwickeln wird (so die bekannte Schädelmessung), zum Nachweis ihres Wahnsinns in umfangreicher Form auf Zitate aus ihren Werken. In späteren Ausgaben von Genio e follia wird neben körperlichen Merkmalen etwa der «stile colorito»,19 der «farbige Stil», als Krankheitszeichen genannt. Diese Gleichsetzung von Körper- und Textoberfläche weist Cesare Lombroso als einen der überzeugtesten Stilphysiognomiker der positivistischen zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus. Den engen Zusammenhang zwischen der geistigen Verfassung und dem Schreibverhalten eines Menschen stellt Lombroso auch dadurch her, dass er zwischen die Gruppen der Genies ohne Wahnsinn, der geisteskranken Genies und der genialen Geisteskranken, die in Genio e follia im Zentrum stehen, als eigene Untergruppe die grafomani, also die Schreibwütigen, positioniert.

3 Intùs, et in Cute: Jean-Jacques Rousseau und seine Leser Eines der von Cesare Lombroso bevorzugten wahnsinnigen Genies, wenn nicht sogar sein Favorit, ist der Vielschreiber Jean-Jacques Rousseau. Das fünfseitige Unterkapitel über den Genfer Philosophen und Literaten in Genio e follia (1872) beginnt wie folgt: Chi, senza frequentare un Manicomio, voglia formarsi una completa idea delle torture interne d’un lipemaniaco, non ha che a percorrere le opere di Rousseau, le ultime inspecie, cioè le Confessioni, i Dialoghi e gli Strambotti (Rêveries) del passeggiero.20

Wer sich, ohne ins Irrenasyl zu gehen, eine Vorstellung davon machen wolle, welche inneren Qualen ein Lymphomane, also ein Melancholiker erleidet, müsse, so Lombroso, nur die Schriften Rousseaus durchsehen. Insbesondere in seinem Spätwerk, in den Bekenntnissen, Dialogen und Rêverien werde er fündig werden. In den weiteren Ausgaben von Genio e follia ebenso wie seinen späteren Werken baut der italienische Gerichtsmediziner und Anthropologe seine Bezüge auf Rousseau und

stark erweiterte Auflagen erscheinen in 1877 und 1882, die fünfte und sechste Ausgabe erscheinen dann unter den Titel L’uomo di genio. 19 Cesare Lombroso: Genio e follia, S. 117. Über zwei Briefe Newtons etwa heißt es: «nello stile loro confuso ed oscuro, attestano doppiamente come anche più tardi male fosse ristabilito dal delirio di persecuzione». Ebda., S. 42. 20 Ebda., S. 43.

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seine Schriften stetig aus. In L’uomo delinquente etwa rechnet Lombroso den Verfasser der Confessions, ohne dass er diese Zuordnung erläutern zu müssen glaubt, selbstverständlich zu den geborenen Verbrechern.21 Und Cesare Lombroso ist bei Weitem nicht der einzige Stilphysiognomiker, der ein ausgeprägtes Interesse an Jean-Jacques Rousseau zeigt. Claude Wacjman hat 1992 in Fous de Rousseau. Le cas Rousseau dans l’histoire de la psychopathologie nachgezeichnet, wie Rousseau im 18., 19. und auch noch im frühen 20. Jahrhundert zum paradigmatischen Untersuchungsobjekt unterschiedlicher psychopathologischer Schulen wurde: Neben Chirurgen, Urologen und Spezialisten für Geschlechtskrankheiten (Louis-Auguste Mercier, Henri-Marie-Joseph Desruelles, später auch Richard von Krafft-Ebing) interessieren sich auch Psychopathologen wie Alfred Binet und der Charcotschüler Emmanuel Régis für ihn.22 Auch wenn bei Wacjman nicht die Diagnostik von Rousseaus Stil selbst im Mittelpunkt steht, wird an dem gesammelten Material bereits deutlich, dass die Schriften des französischen Aufklärers nicht nur in besonderer Weise im Fokus der Psychopathologie, sondern eben auch spezifischer im Fokus der Stilphysiognomik des 19. Jahrhunderts gestanden haben. In diesem Kontext situiert sich auch Jean-Jacques Rousseauʼs Krankengeschichte, die 1889 erschienene pathographische Studie des deutschen Neurologen und Psychiaters Paul Julius Möbius.23 Möbius arbeitete mit Emil Kraeplin, seinem zeitweiligen Kollegen an der Leipziger Psychiatrischen- und Nervenklinik, an einer umfassenden Klassifikation der Geisteskrankheiten, die noch heute für die Differenzierung und Systematisierung psychischer Krankheiten Relevanz hat. Möbius’ Rousseau-Studie ist nicht nur aufgrund ihres für die Stilphysiognomik und im weiteren Sinne für das physiognomische Denken des 19. Jahrhunderts typischen Vorgehens von Interesse. Ihr kommt hier auch deswegen eine zentrale Rolle zu, da sie zu einer Polemik mit dem französischen Literaturkritiker und Rhetorikprofessor Ferdinand Brunetière führte, im Rahmen derer er die Ende des Jahrhunderts innerhalb der Psychiatrie weit verbreitete, an literarischen Texten betriebene ‹Stilphysiognomik› generell in Frage stellte. Darauf wird gleich noch einzugehen sein.

21 Cesare Lombroso: L’uomo delinquente studiato in rapporto all’antropologia, alla medicina legale ed alle discipline carcerarie. Mailand: Hoepli 1876, S. 95. 22 Wacjman zeigt, wie sich, angefangen mit Tissot, zahlreiche Ärzte seit dem 18. Jahrhundert (Daquin, Pinel, Cabanis, Esquirol) mit Rousseaus Krankheitsbild auseinandersetzen und auf seinen ‹Fall› referieren, um ihre oftmals neuen nosologischen Tableaus zu legitimieren. Die Geschichte des cas Rousseau wird so lesbar als Teil der Geschichte der Psychopathologie. 23 Paul Julius Möbius: J-J. Rousseau’s Krankheitsgeschichte. Leipzig: Vogel 1889.

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Bereits im Vorwort zu Jean-Jacques Rousseauʼs Krankengeschichte nennt Möbius, indem er die zahlreichen medizinischen Studien aufzählt, die sich vor ihm mit Rousseau auseinandergesetzt haben, seine Diagnose: «Rousseau war eine neuropathische Natur und litt in der zweiten Hälfte seines Lebens an der als combinatorischen Verfolgungswahn zu bezeichnenden Form der Paranoia».24 In enger Orientierung am Text der ersten Bücher der Confessions schildert Möbius zunächst Rousseaus Kindheit und Jugend, in der sich die pathologische Veranlagung des Autors bereits zeige: an einem Blasenleiden, das am Anfang einer späteren Prostataerkrankung stehe, an einer Abnormität des Geschlechtstriebs, die an seiner Lust am Geschlagenwerden und an seinem Exhibitionismus deutlich werde sowie an einer erhöhten Empfindsamkeit. Schließlich kommt Möbius, anhand seiner Lektüre des zweiten Teils der Confessions, der Dialogues und der Rêveries, auf den Ausbruch von Rousseaus eigentlichem Krankheitsbild, den «combinatorischen Verfolgungswahn»,25 zu sprechen. In seiner Verbindung mit einer stark ausgeprägten Megalomanie entspräche «Rousseaus Irresein»26 diesem von Kraeplin beschriebenen Krankheitsbild so perfekt, dass es als nosologisches Beispiel dienen könne. Dass sich im 19. Jahrhundert nicht nur Psychiater für Jean-Jacques Rousseau und die Physiognomik interessieren, sondern auch Philosophen und Literaturkritiker, zeigt die Tatsache, dass Schopenhauer selbst 1851 in Über Schriftstellerei und Stil im Rahmen seiner Ausführungen zum Stil als Physiognomie des Geistes auf den Aufklärer referiert. Wie gesehen geht es Schopenhauer hier, anders als Lombroso oder Möbius, nicht darum, den Stil als Oberfläche zu denken, die auf ein Inneres des Schreibers verweist.27 Vielmehr nennt er Rousseau in seinem Plädoyer für einen eigenen Stil und gegen Anonymität und Pseudonymität im Journalismus und in der Schönen Literatur als Gewährsmann: Schon Rousseau hat, in der Vorrede zur Neuen Héloise, gesagt: tout honnête homme doit avouer les livres qu’il publie. [. . .] Ueberhaupt aber gilt Rousseau’s Regel von jeder Zeile,

24 Ebda., S. III. 25 Ebda., S. 187. 26 Ebda. 27 Wie sehr Schopenhauers Interesse an der Physiognomie generell von dem Lombrosos und anderer Psychiater der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts abweicht, zeigt sich an seinen Ausführungen Zur Physiognomik. Ohne hier auf die Frage nach dem Stil einzugehen, ruft er zur Vorsicht vor schnellen Schlüssen vom Äußeren auf das Innere auf. Die Physiognomik sei eine «große und schwere Kunst» (Arthur Schopenhauer: Parerga und Paralipomena, § 377 [«Zur Physiognomik»], S. 690), sie beruhe wesentlich auf Intuition und gebe leicht Anlass zu Täuschung. Schopenhauer bezeichnet das Menschengesicht als «Hieroglyphe» (ebda., S. 689) und erklärt, die Prinzipien der Physiognomik als Deutungskunst seien dem Menschen «theils angeboren, theils aus der Erfahrung zu gewinnen» und «nie in abstracto zu erlernen». Ebda.

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die zum Drucke gegeben wird. Würde man es leiden, wenn ein maskirter Mensch das Volk harrangieren, oder sonst vor einer Versammlung reden wollte?28

Jean-Jacques Rousseau hat die Nachwelt also offensichtlich geradezu dazu aufgefordert, eine Verbindung zwischen seinen Schriften und seiner Person herzustellen. Tatsächlich ist er einer der ersten Schriftsteller, der Mitte des 18. Jahrhunderts nachdrücklich für eine enge Verbindung von Text und Autor plädiert – und das gleich in mehrfacher Hinsicht: Er fordert nicht nur, wie 1752 bzw. 1761 in der von Schopenhauer zitierten Vorrede zu seinem Briefroman Julie ou La Nouvelle Héloïse, eine Verantwortlichkeit des Autors für die von ihm publizierten Bücher,29 er lädt auch den Leser seiner eigenen Schriften geradezu dazu ein, Hinweise auf seine, Jean-Jacquesʼ, psychophysiologische Disposition zu suchen. In den Confessions beklagt Rousseau, dass Schein und Sein in der Welt fatal auseinanderklaffen und setzt dagegen ein autobiographisches Schreiben, das dieser Entzweiung entgegenarbeitet, indem das Ich sich dem Leser in seiner ganzen Wahrheit zeigt: «Je veux montrer à mes semblables un homme dans toute la vérité de la nature; et cet homme ce sera moi»,30 heißt es zu Beginn des ersten Buchs. In Abgrenzung zur Verstellung der anderen verspricht Rousseaus schreibendes Ich, alles zu sagen, und das in unmittelbarer, ungekünstelter Form. Was Rousseau in den Confessions entwickelt, ist eine vorgebliche ‹Anti-Rhetorik› – vielmehr aber eine ‹Rhetorik der Authentizität›, oder, wie Jean Starobinski es in La transparence et l’obstacle beschrieben hat, eine Rhetorik der «Transparenz».31 Sie besteht darin, das Schreiben als direkten Ausdruck des gegenwärtigen sentiment und der psychischen Verfassung des Schreibers zu erklären. So schreibt Jean-Jacques Rousseau am Ende des vierten Buchs der Confessions, er wolle seine Seele für die Augen des Lesers «durchsichtig» werden lassen:

28 Ebda., § 282 [«Über Schriftstellerei und Stil»], S. 559. 29 Die von Schopenhauer anzitierte berühmte Textstelle aus der Préface liest sich wie folgt: «Tout honnête homme doit avouer les livres qu’il publie. Je me nomme donc à la tête de ce recueil, non pour me l’approprier, mais pour en répondre. S’il y a du mal, qu’on me l’impute ; s’il y a du bien, je n’entends point m’en faire honneur». Jean-Jacques Rousseau: Préface. In: Julie ou La nouvelles Héloïse. Lettres de deux amants habitants d’une petite ville aux pieds des Alpes. In: Œuvres Complètes. Bd. 2. Herausgegeben von Henri Coulet. Paris: Gallimard 1964, S. 1–794, hier S. 5. 30 Jean-Jacques Rousseau: Les Confessions. In: Œuvres Complètes. Bd. 1. Herausgegeben von Bernard Gagnebin/Marcel Raymond. Paris: Gallimard 1959, S. 5. 31 Vgl. Jean Starobinski: Jean-Jacques Rousseau. La transparence et l’obstacle. Paris: Gallimard 1971, bes. Kap. VII: «Les problèmes de l’autobiographie», S. 216–239.

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Je voudrais pouvoir en quelque façon rendre mon âme transparente aux yeux du lecteur ; et pour cela je cherche à la lui montrer sous tous les points de vue, à l’éclairer par tous les jours, à faire en sorte qu’il ne s’y passe pas un mouvement qu’il n’aperçoive, afin qu’il puisse juger par lui-même du principe qui les produit.32

Das Sichtbarmachen des eigenen Inneren wird somit zum Ziel des Schreibens selbst.33 Nicht nur in den Confessions, auch in seinen Romanen lenkt Rousseau die Aufmerksamkeit des Lesers über die Texte auf das Innere ihrer Verfasser. So steht in Julie ou La nouvelle Héloise die Herzensschrift der Protagonisten Julie und SaintPreux im Fokus: Ihr Schreiben soll ihre Gefühle unverfälscht zum Ausdruck bringen – und ahmt daher, indem es eine unvollständige Syntax, Ausrufezeichen, Fragezeichen und Auslassungspunkte verwendet, Mündlichkeit nach.34 Wie Starobinski gezeigt hat, wird der Leser von Rousseaus Schriften einem regelrechten didaktischen Programm unterzogen. Dieses Programm besagt, dass Texte transparent sind in Bezug auf ihre Schreiber. Rousseau teilt dem Leser immer wieder mit: Ihr könnt durch Texte hindurchsehen auf das, was in der Seele ihrer Verfasser geschieht. In den Confessions setzt er alles daran, den Leser davon zu überzeugen, dass er hier sein Innerstes nach außen kehrt: Intùs, et in Cute,35 ‹innen und unter der Haut›, ist ihr Motto. Das in Julie ou La nouvelle Héloise und in Les Confessions entwickelte Programm steht in engem Zusammenhang mit Rousseaus bereits im Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes (1755) skizzierter und dann im 1871 posthum erschienenen Essai sur l’origine des langues ausformulierten Sprachentstehungstheorie: Rousseau denkt Sprache und Körper hier über die Brücke der Emotionen und Leidenschaften zusammen. Als unmittelbarer Ausdruck der menschlichen Natur stehen diese für Rousseau am Ursprung der Sprache. Deren Authentizität ist, seit dem Aufkommen der Schrift, vom Verfall bedroht und muss ‒ im Schreiben selbst, das, wie in Julie ou La nouvelle Héloise, einen oralen Duktus annimmt ‒ zurückgewonnen werden. 32 Jean-Jacques Rousseau: Les Confessions, S. 175. 33 Starobinski formuliert es so: «[. . .] il a véritablement inventé l’attitude nouvelle qui deviendra celle de la littérature moderne (par-delà le romantisme sentimental dont on a rendu Jean-Jacques responsable) ; on peut dire qu’il a été le premier à vivre d’une façon exemplaire le dangereux pacte du moi avec le langage : la ‘nouvelle alliance’ dans laquelle l’homme se fait verbe». Jean Starobinski: La transparence et l’obstacle, S. 239. 34 Zur Mündlichkeit im 18. Jahrhundert vgl. Jacques Wagner (Hg.): La voix dans la culture et la littérature françaises (1713–1875): actes du Colloque du Centre de recherches révolutionnaires et romantiques, Université de Clermont-Ferrand II (10–12 septembre 1997). Clermont-Ferrand: Presses universitaires Blaise Pascal 2001. 35 Jean-Jacques Rousseau: Les Confessions, S. 5.

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Rousseau schafft also in seinen literarischen wie theoretischen Schriften nicht nur die Voraussetzungen dafür, dass Autoren und ihre Schriften eng aufeinander bezogen werden. Er bereitet hier auch den Boden dafür, dass Texte als unmittelbarer Ausdruck eines sonst verborgenen Inneren ihrer Verfasser verstanden werden können. Und dafür, dass eine Denkfigur wie die vom Stil als Physiognomie des Geistes entstehen kann, die aus Sicht des Begründers der Physiognomie, Johann Caspar Lavater, ein Paradox darstellen musste. Es ist kein Zufall, dass gerade Jean-Jacques Rousseaus Schriften in der Zeit, in der psychiatrische Stilanalysen prosperieren und die Metaphorik von Transparenz und Durchsichtigkeit im Rahmen eines positivistischen Wissenschaftsideals Konjunktur hat,36 zu bevorzugten Untersuchungsgegenständen werden.

4 Ferdinand Brunetière über Rousseau oder: Rhetorik versus Physiognomik Was aber geschieht, wenn die positivistischen Erben der Physiognomik, die den Geisteszustand eines Autors am Stil seiner Schriften ablesen, auf diejenigen treffen, die Literatur und Sprache als Domäne der Rhetorik verteidigen – und was, wenn diese sich dabei ebenfalls auf Jean-Jacques Rousseau beziehen? Dies soll nun anhand der Rezension des französischen Literaturhistorikers und Rhetorikprofessors Ferdinand Brunetière gezeigt werden, der dem psychiatrischen Zugriff auf literarische Texte und ihre Autoren Ende des Jahrhunderts den Kampf ansagt. Brunetière ist es dabei um eine Terrainverteidigung zu tun – die Auseinandersetzung mit der Schönen Literatur muss, wie er betont, Sache der hommes de lettres bleiben. Wie zu zeigen sein wird, gerät seine Argumentation gegen die Praxis, anhand der Texte eines Autors auf sein Inneres zu schließen, genau dann in Widersprüche, wenn er sich mit demjenigen Autor befasst, der im 19. Jahrhundert zum präferierten Untersuchungsgegenstand der Psychiatrie geworden ist: eben mit Jean-Jacques Rousseau.

36 Zur Metaphorik der Transparenz und Durchsichtigkeit im Positivismus vgl. z.B. Jacqueline Carroy: «Mon cerveau est comme dans un crâne de verre»: Émile Zola sujet d’Édouard Toulouse. In: Revue d’histoire du XIXe siècle 20–21 (2000), S. 1–22. https://journals.openedition. org/rh19/215#xd_co_f=YmRkOGZmZDUtODJhYi00NTMxLWIxMGItOThlY2Y5ODU3Yjk0~(letzter Zugriff am: 24.09.2019); weitergefasst zur Metaphorik des Photographischen im Positivismus und bei Zola vgl. Irene Albers: Sehen und Wissen. Das Photographische im Romanwerk Émile Zolas. München: Fink 2002.

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1890 rezensiert Ferdinand Brunetière Paul Julius Möbius’ kurz zuvor erschienene Pathographie Jean-Jacques Rousseauʼs Krankengeschichte in der Revue des Deux Mondes.37 Brunetière ist ein politisch wie ästhetisch gesehen konservativer Literaturkritiker und Literaturhistoriker, der in den 1880er und 1890er Jahren in Frankreich als langjähriger Chefredakteur der Revue des Deux Mondes, Professor an der Ecole normale supérieure und Mitglied der Académie française wichtige Positionen innehat. Bevor er die Pathographie des Leipziger Neurologen Möbius rezensierte, hatte Brunetière sich bereits mehrfach dafür ausgesprochen, die Literaturkritik von psychiatrischen Analysen literarischer Autoren anhand ihrer Werke konsequent abzugrenzen. So hatte er seinen jungen Kritikerkollegen Emile Hennequin dafür kritisiert, sich an diesen Analysen zu orientieren und vom Prinzip der Übereinstimmung zwischen Werk und Autor auszugehen. Hennequin sei dem Irrtum erlegen, dass sich die psychophysiologische Disposition von Künstlern in ihren Werken ausdrücken müsse und es literarischen Autoren unmöglich sei, ihre Persönlichkeit aus ihren Texten herauszuhalten. Dieser Irrtum sei dadurch entstanden, dass die zeitgenössische Literatur tatsächlich überwiegend Ausdruck des Temperaments ihrer Autoren sei. Dabei aber handele es sich, wie Hennequin übersehen habe, lediglich um ein historisches Phänomen, das mit der Romantik aufgekommen sei. Weder Rabelais noch Bossuet hätten, wie Brunetière betont, ihr Temperament in ihrem Werk sichtbar werden lassen – und Menschen seien weit weniger simpel und homogen, als es Hennequin gemeinsam mit den «Anhängern des Determinismus»38 annehme. Dagegen sei es immer schon das Prinzip der Rhetorik gewesen, davon auszugehen, dass ein Redner zwischen unterschiedlichen Redeweisen wählen könne: C’était le premier principe des anciennes rhétoriques ; et quand il y en avait encore un, c’était le fondement de l’art d’écrire. Mais, avec toute une jeune école, M. Hennequin suppose que chacun de nous parle naturellement comme il doit parler ; que, si nous avons l’esprit fait d’une certaine manière, il ne dépend ni de nous, ni de personne au monde, ni d’aucune considération, de changer le cours de nos idées ; que nous écrivons enfin comme le ver fait son cocon ou l’araignée sa toile [. . .].39

37 Ferdinand Brunetière: La folie de J.-J. Rousseau [J. -J. Rousseau’s Krankheitsgeschichte, von P.-J. Mobius. Leipzig: Vogel 1889]. In: Revue des Deux Mondes 97 (1890), S. 682–699. 38 Ferdinand Brunetière: La critique scientifique, par M. Emile Hennequin, Paris 1888. In: Revue des Deux Mondes 88 (1888), S. 213–226. Zu Brunetières Auseinandersetzung mit Hennequin vgl. näher Marie Guthmüller: Der Kampf um den Autor. Abgrenzungen und Interaktionen zwischen französischer Literaturkritik und Psychophysiologie. Tübingen: Francke 2007, S. 320–323. 39 Ferdinand Brunetière: La critique scientifique, S. 219.

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Brunetière kritisiert Hennequin und die Psychiater also dafür, dass sie das Schreiben des Menschen mit der Art und Weise gleichsetzten, in der «die Spinne ihr Netz oder die Raupe ihren Kokon spinnt». Denn die Sprache ist für Brunetière kein natürliches Produkt des Menschen, das von ihm abgesondert wird, ohne eine reflektierende Instanz zu passieren. Eine Jahrtausende alte Rhetoriktradition zeige, so Brunetière, dass der Redner, wenn er spreche, und der Autor, wenn er seine Texte verfasse, unterschiedliche Ziele verfolgen und unterschiedliche rhetorische Mittel einsetzen können, um diese zu erreichen. Wie für Johann Caspar Lavater hat die Art, in der ein Mensch spricht und schreibt, für Brunetière also nicht den Charakter eines natürlichen Ausdrucks. Vielmehr ist der Stil Ergebnis einer ars, einer Kunst oder Technik, die verschiedenen Zwecken dienstbar gemacht werden kann. Auch für Brunetière wäre es somit, wie für Lavater selbst, paradox, den Stil als Physiognomie des Geistes zu betrachten. Der Literaturkritiker richtet sich energisch gegen eine Konzeption literarischer Texte als sichtbare Oberflächen, die Aufschlüsse über das verborgene Innere ihrer Verfasser geben können. Brunetière will die Auseinandersetzung mit dem literarischen Autor wieder in die Domäne der lettres und der Literaturkritik überführen und vom Urteil pathologisierender Lektüreverfahren der Psychiatrie unabhängig machen. In seiner Auseinandersetzung mit Möbius’ Pathographie über Jean-Jacques Rousseau gerät Brunetière allerdings in Widersprüche. Denn bei diesem Autor geht der Kritiker, wie er gleich eingangs schreibt, selber davon aus, dass er wahnsinnig gewesen oder doch zumindest am Ende seines Lebens wahnsinnig geworden sei: «Que Rousseau soit mort fou, ce qui s’appelle fou, personne aujourd’hui ne l’ignore ni n’en doute [. . .]».40 Und auf diesen Wahnsinn schließt Brunetière, ganz so wie Möbius und seine Kollegen, aus der Lektüre von Rousseaus Texten. Diese überraschende Sonderbehandlung Rousseaus wird verständlich, wenn man einen Blick auf frühere Schriften Brunetières wirft, so auf eine 1880 erschienene Rezension zu dem Buch Le mal du siècle von Paul Charpentier sowie auf die Vorlesungen zur Literaturgeschichte, die Brunetière mit großem Erfolg an der Ecole normale supérieure gehalten hatte. Wie sich hier zeigt, ist Jean-Jacques Rousseau für den konservativen Literaturhistoriker, der in der Literatur der französischen Klassik weiterhin das Stilideal sieht, nicht nur ein ästhetisch missliebiger Autor. Der Verfasser der Confessions ist für ihn auch derjenige, bei dem der im 17. Jahrhundert noch vorherrschende Ich-Hass sich in eine Manie des Ich verwandelt hat und zum wichtigsten Motor der Ein-

40 Ferdinand Brunetière: La folie de Rousseau, S. 682.

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bildungskraft geworden ist.41 Als Vorbild der Romantiker und der Moderne habe Rousseau dem Regellosen, Willkürlichen, Ungeformten und Subjektiven Tor und Tür geöffnet. Noch die Entgleisungen der zeitgenössischen Literaten lassen sich Brunetière zufolge auf Rousseaus fatales Erbe zurückführen.42 Als Brunetière sich anhand von Möbius’ Studie mit Rousseaus Pathologisierung auseinandersetzt, unternimmt er einen Spagat: Zum einen möchte er die Auseinandersetzung mit dem literarischen Autor wieder in die Domäne der lettres überführen. Zum anderen liegt es für Brunetière durchaus nah, die eigene Argumentation an den psychiatrischen Diagnosen zu orientieren und Rousseau, wie vor ihm Lombroso und Möbius, für unzurechnungsfähig zu erklären. Die am Stilideal der Klassik orientierten sprachlichen Normvorstellungen der Psychiatrie entsprechen ja offensichtlich seinen eigenen. In seiner Rezension beschäftigt sich Brunetière zunächst mit Rousseaus «niederer Herkunft» und dessen «mangelhafter Erziehung», die er als ausschlaggebend für dessen geistigen Verfall hält.43 Er betont, dass diesen Faktoren für die Entstehung von Rousseaus Wahnsinn sehr viel mehr Bedeutung zukomme als etwa seiner Prostataerkrankung. Zudem pflichtet er Möbius zwar darin bei, dass Rousseau unter einer extrem gesteigerten Empfindsamkeit gelitten habe, er hebt aber hervor, dass der Autor sich auch in keiner Weise bemüht habe, dieser etwas entgegenzusetzen. Da Rousseaus starke Empfindungsfähigkeit Mitte des 18. Jahrhunderts das Geheimnis seines Erfolgs ausgemacht habe, habe er sich ihr ganz bewusst ausgeliefert. Auch in der Bestätigung, die er durch sein Publikum erfahren habe, liege also ein Grund für seinen Wahnsinn. Brunetière argumentiert, dass nicht eine pathologische Veranlagung Auslöser für Rousseaus Megalomanie und seinen späteren Verfolgungswahn gewesen sei, sondern dass diese auf seine Lebensumstände zurückzuführen seien: Rousseaus schneller Erfolg musste dazu führen, dass sein Ichbewusstsein ins Unendliche wuchs. Dazu komme, dass der Erfolg von Literaten bei ihren Kollegen generell nicht gern gesehen werde, die Verfolgung durch Voltaire, Grimm und andere, über die der Autor sich beklage, also vermutlich einen Kern von Wahrheit gehabt hätte.44 41 Ferdinand Brunetière: Une maladie morale – Le mal du siècle, par. M. Paul Charpentier, Paris 1880. In: Revue des Deux Mondes 41 (1880), S. 454–465, hier S. 461: «A dater de Rousseau, ce sont les secrets les plus intimes que l’on ne craindra pas de livrer à la curiosité publique. La littérature désormais devient autobiographique». 42 Vgl. ebda. sowie Ferdinand Brunetière: L’évolution des genres dans l‘histoire de la littérature. Leçons professées à l’Ecole normale supérieure. Bd. 1: L’évolution de la critique depuis la Renaissance jusqu’à nos jours. Paris: Hachette 1890. 43 Ferdinand Brunetière: La folie de Rousseau, S. 685: «Les origines étaient ‘troubles’: l’éducation fut déplorable». 44 Vgl. ebda., S. 686ff.

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Brunetière ist bemüht, die Erklärungskompetenz für den Autor, trotz seiner Pathologisierung Rousseaus, nicht an die psychiatrische Medizin abzugeben. So betont er, Lombrosos These vom Zusammenhang zwischen Genie und Wahnsinn nicht das Wort reden zu wollen: Als wahnsinniges Genie sei Rousseau keinesfalls die Regel, sondern vielmehr ein Einzelfall.45 Zudem ersetzt Brunetière die physiologische Ätiologie von Rousseaus Wahnsinn, wie gesehen, durch eine psychologische und rekonstruiert deren einzelne Etappen aus den Lebensumständen des Autors und der Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts. Immer wieder hebt Brunetière in Bezug auf Rousseau und seine Schriften die Erklärungskompetenz des homme de lettres hervor und betont, dass er Rousseaus Wahnsinn nicht für unvermeidbar hält: Wenn der Autor mehr moralische Führung gehabt hätte, wäre er in der Lage gewesen, seine Gefühle und seine Einbildungskraft zu kontrollieren. Letztlich handelt es sich bei Brunetières psychischer Ätiologie um ein moralisches Lehrbeispiel: Weil Rousseau um jeden Preis Erfolg haben wollte und seiner Einbildungskraft freien Lauf gelassen hat, musste er wahnsinnig werden. Es liegt nicht nur an der psychophysiologischen Disposition, sondern am Leben des Einzelnen, ob er ‹die Vernunft verliert›. Brunetière führt vor, dass eine hohe Sensibilität und eine starke Einbildungskraft, wenn sie nicht kontrolliert werden, im Wahnsinn münden können und somit für die Gesellschaft eine Gefahr darstellen – und dass es die hommes de lettres und nicht die Ärzte sind, die einer solchen Gefahr durch ihre Studien vorbeugen können. Aber Brunetière ist seiner Apologie der Rhetorik bei der Lektüre von Rousseaus Texten nicht konsequent genug gefolgt. Offensichtlich hat er sich, wie die Psychiater seiner Zeit, von Rousseau überzeugen lassen, dessen Texte als etwas anderes anzusehen als rhetorische Glanzleistungen. Gegen Hennequin hatte Brunetière noch argumentiert, literarische Werke seien kein Ausdruck der Autorpsyche. Sein entscheidendes Argument war hier, dass der Autor, wie jeder Mensch, aber noch dazu in professioneller, besonders geübter Form, beim Verfassen eines Textes mit rhetorischen Mitteln arbeitet. Bei Rousseau aber macht Brunetière eine Ausnahme: Anstatt dessen Schriften als Produkte einer ausgefeilten Rhetorik der Authentizität anzusehen, nimmt er den Verfasser der Confessions beim Wort. Wie die Psychiater, so folgt auch Brunetière Jean-Jacques Rousseaus Aufforderung, durch seine Texte intus, et in cute, nach innen und unter die Haut, zu schauen. Die argumentativen Manöver, die der Literaturkritiker in seiner Rezension von Möbius’ Pathographie unternimmt, um seine eigene Diagnose psycholo-

45 «[. . .] dans le cas particulier de Rousseau, je ne craindrai pas, sinon précisément de confondre le génie avec la folie, mais de rendre au moins la qualité de son génie solidaire de l’exaltation qui devait un jour le conduire à la folie». Ebda., S. 699.

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gisch und literaturhistorisch zu fundieren und als Eigenleistung der lettres von den psychiatrischen Analysen abzugrenzen, haben angesichts der grundsätzlichen inhaltlichen Übereinstimmungen mit diesen wenig Überzeugungskraft. Offensichtlich ist die Versuchung, den Evidenz generierenden Lektüreverfahren der Psychiatrie zu folgen und Rousseau zu pathologisieren, zu groß. Denn so kann der Verfasser der Confessions, als unverantwortlicher Kranker, verantwortlich gemacht werden für die Moderne und den Verfall der französischen Literatur. Vielleicht ist Rousseaus Rhetorik der Authentizität auch einfach zu wirkungsvoll. Rousseau hat, indem er seine Texte als unmittelbaren Ausdruck seines Seelenlebens inszeniert und indem er in seinen theoretischen Schriften zugleich proklamiert, Sprache könne frei von Rhetorik und Verstellung sein, einen ebenso erfolgreichen wie fatalen Kunstgriff getan, der erst entscheidend zu seinem Erfolg beigetragen und sich dann gegen seine Person gewendet hat. Selbst sein entschiedenster ästhetischer Kontrahent Ferdinand Brunetière, exzellenter Kenner und Verteidiger der Redekunst, hat sich von seinen Schriften überzeugen lassen. Die vorgebliche Anti-Rhetorik, vielmehr die Rhetorik der Transparenz und Authentizität, die Jean-Jacques Rousseau in seinen Schriften entwickelt, zeigt also auch im 19. Jahrhundert noch ihre Wirkung – nachdem sie dazu beigetragen hat, die Denkfigur vom Stil als Physiognomie des Geistes, trotz der Vorbehalte, die Johann Caspar Lavater gegenüber einer Ausweitung der Prinzipien der Physiognomie auf die Sprache geäußert hatte, möglich und attraktiv zu machen. Die symptomatologischen Lektüren scheinen, Ferdinand Brunetière hat es zu Recht festgestellt, etwas mit Rhetorikvergessenheit zu tun zu haben ‒ und damit, dass Cesare Lombroso, Paul Julius Möbius und viele weitere Psychopathologen des 19. Jahrhunderts, anders als Lavater, Georges-Louis Leclerc de Buffon oder auch Arthur Schopenhauer, aus dem Blick verloren haben, dass der Mensch nicht schreibt, wie «die Spinne ihr Netz oder die Raupe ihren Kokon spinnt».46

46 Ferdinand Brunetière: La critique scientifique, S. 219.

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Antonio Lucci

Die ‹positivistische Biopolitik› Paolo Mantegazzas Ein archäologisches Fragment zu den ersten italienischen Kulturwissenschaften

1 Zwischen Italian Thought und Biopolitik: Die Verortung Paolo Mantegazzas in einem möglichen Kanon der italienischen Philosophie Mit seiner 2010 erschienenen Veröffentlichung Pensiero vivente1 gab der italienische Philosoph Roberto Esposito eine konkrete, der Systematisierung dienende Antwort auf eine Frage der italienischen Philosophie nach den eigenen Grundlagen und Leitfäden. Diese Frage war bereits seit einigen Jahren an den Fachbereichen für Komparatistik und Italianistik vornehmlich englischer und amerikanischer Universitäten ins Blickfeld gerückt, also genau dort, wo zuvor auch das Interesse der englischsprachigen Welt für die French Theory geschürt worden war. Ausgelöst wurde die Debatte um den Kanon der italienischen Philosophie, dem auch der Band Espositos gewidmet ist, durch die Fragen: Was verbindet – sofern es überhaupt ein Bindeglied gibt – Autoren wie Machiavelli und Gramsci, Agamben und Negri, Croce und Gentile? Können diese Autoren als Teile eines Kanons angesehen werden? Und falls ja, wodurch wird dieser Kanon homogen? Genau diesen Fragen geht Esposito in seinem Band nach. Er gelangt dabei zu einer ebenso begründeten wie kontroversen Antwort: Eine grundsätzliche Homogenität des italienischen philosophischen Denkens bestehe darin, dass es prinzipiell auf zwei Gelenkachsen ruhe: den Kategorien Leben2 und Konflikt3 im Sinne eines politischen Konflikts. In den auf Pensiero

1 Roberto Esposito: Pensiero vivente. Origine e attualità della filosofia italiana. Turin: Einaudi 2010. 2 Ebda., S. 12. 3 Ebda., S. 25. https://doi.org/10.1515/9783110665055-012

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vivente folgenden Phasen4 versuchte Esposito, den Ausdruck Italian Thought5 für die spezielle Wesensart der italienischen Philosophie einzubürgern, da er die Bezeichnung Italian Theory ablehnte, die sich jedoch vor allem im Ausland immer stärker durchsetzte. Wie jeder Deutungsversuch basiert freilich auch Espositos Schrift auf einer selektiven Rekonstruktion, die er im vorletzten Teil seines Folgewerks Da fuori zu erweitern und zu vervollständigen scheint: Im vierten Teil6 dieses Bandes unternimmt er den programmatischen Versuch, seine Rekonstruktion des italienischen Kanons fortzusetzen, indem er anhand der Überschneidung der oben genannten Kategorien jene Denker aufnimmt, die seines Erachtens das Rückgrat der italienischen Geisteswelt bilden. Auf Kritik stößt Espositos Band Pensiero vivente besonders in Italien nach wie vor7 aufgrund einiger angeblicher prominenter Auslassungen:8 Diese Kritik soll hier nicht wiederholt werden. Vielmehr soll der Versuch unternommen werden, in einen Dialog mit der theoretischen Tragweite der Analyse von Esposito zu treten, für die dabei soweit möglich eine Ergänzung geboten wird. In diesem Sinne fühle ich mich Richtlinien verpflichtet, wie sie Enrica Lisciani-Petrini in ihrem Abschlussbeitrag zum Band Effetto Italian Thought9 mit dem programmatischen Titel Un pensiero dell’attualità10 aufzeigt: Eine Zukunft hat der IT eigentlich nur als Gedanke der Gegenwart, nämlich als «strumentario di lavoro»11 bzw. «cassetta degli attrezzi»12 und vor allem als «un modo di pensare»,13 der sich

4 Vgl. Roberto Esposito: Da fuori. Una filosofia per l’Europa. Turin: Einaudi 2016, S. 12 und S. 157–205. 5 Ebda., S. 12. Um hier keine Position für die eine oder die andere Kategorie zu beziehen (wozu eine theoretische Präzisierung vonnöten wäre, die den Rahmen des vorliegenden Beitrags überschreitet), wird im Folgenden die Abkürzung «IT» für Italian Theory und Italian Thought verwendet. 6 Roberto Esposito: Da fuori, S. 157–205. 7 Vgl. den (in einigen Punkten inhaltlich zwar treffend, aber im Stil doch sehr groben) Frontalangriff in Pier Paolo Portinaro: Le mani su Machiavelli. Una critica dell’‹Italian Theory›. Rom: Donzelli 2018. 8 Vgl. Judith Revel: L’Italian Theory e le sue differenze. Soggettivazione, storicizzazione, conflitto. In: Dario Gentili/Elettra Stimilli (Hg.): Differenze italiane. Politica e filosofia: mappe e sconfinamenti. Rom: DeriveApprodi 2015, S. 47–58 sowie das Sonderheft (25.3) der Zeitschrift Lo Sguardo, Federica Buongiorno/Antonio Lucci (Hg.): La differenza italiana. Filosofi(e) nell’ Italia di oggi. Rom: Storia & Letteratura 2014. 9 Enrica Lisciani-Petrini/Giusi Strummiello (Hg.): Effetto Italian Thought. Macerata: Quodlibet 2018. 10 Ebda., S. 255–267. 11 Ebda., S. 256. 12 Ebda., S. 258. 13 Ebda., S. 259 und S. 263–265.

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fernab aller «provinziellen»14 internen Debatten als hermeneutische, methodische Instanz zu zeigen gibt, welche vor einem klar definierten theoretischen Horizont die Analyse, Vertiefung und Verankerung neuer Forschungen ermöglicht, die ohne den Rahmen und die Werkzeuge des IT im Panorama der philosophischen Forschung keine Beachtung gefunden hätten (und womöglich gar nicht denkbar gewesen wären).15 Unter diesen Voraussetzungen lässt sich die Positionierung und Verankerung der vorliegenden Untersuchung im Rahmen des IT als ‹archäologisches› Moment im Sinne Foucaults begreifen: Denn beabsichtigt ist die Beschäftigung mit einer Leerstelle in der von Esposito vorgenommenen Rekonstruktion, nämlich der Tradition empirischer Studien, die als Scharnier zwischen Lebens-, Politik- und Geisteswissenschaften gewirkt haben und für das italienische Panorama im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert bezeichnend waren, wobei insbesondere die Figur Paolo Mantegazzas (1831–1910) als emblematischer Fall in den Blick genommen werden soll. Neben seiner Verortung im oben skizzierten IT-Horizont steht der vorliegende Beitrag im Dialog mit einer weiteren, von Esposito in seinem Werk Bíos. Biopolitica e filosofia16 untersuchten Begriffsordnung. Esposito schlägt dort im vierten Kapitel17 eine genaue Analyse der bio- und thanatopolitischen Struktur des Nazismus vor, die er als «una biologia realizzata»18 bezeichnet. Im Verlauf seiner Argumentation werden die medi-

14 Ebda., S. 263. 15 Denn während Bände wie etwa Marco A. D’Arcangeli/Alessandro Sanzo (Hg.): Le ‹scienze umane› in Italia tra Otto e Novecento. Pedagogia, psicologia, sociologia e filosofia. Mailand: Franco Angeli 2017 einen gelungenen Versuch darstellen, an einen Dialog zwischen der Philosophie und anderen Geisteswissenschaften anzuknüpfen, insbesondere hinsichtlich der genetischen Phase gegen Ende des 19. Jahrhunderts, die auch Gegenstand der vorliegenden Untersuchung sein soll, lässt sich doch nicht abstreiten, dass die fachliche Zersplitterung der Geisteswissenschaften vor allem auf Seiten der Philosophie gewisse blinde Flecken in der archäologischen Untersuchung hinterlässt, die das philosophische Wissen an sich selbst durchführen könnte (und müsste). 16 Vgl. Roberto Esposito: Bíos. Biopolitica e filosofia. Turin: Einaudi 2004. Wenngleich dieser Text für den vorliegenden Beitrag den Hauptbezugspunkt bildet, scheint es doch geboten, zumindest daran zu erinnern, dass die folgenden Untersuchungen eng mit einem weiteren Werk Espositos verbunden sind: Roberto Esposito, Immunitas. Protezione e negazione della vita. Turin: Einaudi 2002, vgl. insbesondere S. 152–172. Für die Verbindung der vorliegenden Untersuchung zum italienischen Panorama in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und diesem spekulativ ausgerichteten Teil des Werks von Esposito gilt mein besonderer Dank Vittoria Borsò und Dario Gentili, die mir während der Diskussion anlässlich des Vortrags während der Tagung Physiognomien des Lebens: Anthropologie, Medizin, Kultur an der Heinrich-Heine Universität Düsseldorf am 14.09.2018, der die Vorlage für diesen Beitrag bildete, entsprechende Hinweise geliefert haben. 17 Vgl. Roberto Esposito: Bíos, S. 114–157. 18 Ebda., S. 117.

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zinwissenschaftlichen Voraussetzungen der NS-Ideologie nachgezeichnet, deren konzeptuelle Vorgänger in den Entartungstheorien19 ausgemacht werden, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in ganz Europa diskutiert wurden – wobei diese Theorien hier als ‹Diskurs› im Foucault’schen Sinne aufzufassen sind,20 also nicht auf den Bereich der Medizin beschränkt, sondern auch in ihrer literarischen, philosophischen, sozialen Tragweite usw.21 Der vorliegende Beitrag ist im Sinne eines Gedankenexperiments als fehlender Abschnitt oder Anhang zu verstehen, der sich zwischen dem dritten und vierten Abschnitt des behandelten Kapitels von Bíos einfügt. Im Anschluss an seine Analyse der in Europa im ausgehenden 19. Jahrhundert kursierenden Entartungs- und Eugeniktheorien22 schlägt Esposito den Bogen nämlich direkt zur NS-Ideologie und ihrer Funktionsweise (wobei er medizinwissenschaftlich basierte Ideologie und Politik sowie deren wechselseitige Beziehung in den Blick nimmt), so dass eine eingehendere Untersuchung der Verbindung zwischen den besagten Theorien und dem theoretisch-politischen Panorama Italiens gegen Ende des 19. Jahrhunderts fehlt. Im Folgenden geht es also darum, dieses Panorama nachzuzeichnen und über die Rekonstruktion Fragen allgemeiner Natur aufzuwerfen hinsichtlich der Möglichkeit, einen positivistischen biopolitischen Diskurs für das Italien des Fin de Siècle auszumachen.

2 Eine positivistische italienische (Bio-)Politik? Der 16. November 1876 Wenngleich es in gewisser Hinsicht immer reduktiv ist, das Aufkommen historischer Ereignisse und Tendenzen, die ja notwendig Ausdruck von Ent-

19 Ebda., S. 124–135. 20 Für Foucault sind Diskurse bekanntlich begriffliche Bildungen zu einem speziellen Bezugsfeld, die aus historisch bedingten (diskursiven, aber auch faktischen) Ereignisreihen entstehen, welche auf archäologischer Ebene rekonstruiert werden können. Wer Diskurse analysiert, muss daher die Ereignisreihen und die Entstehungsregeln erkennen und nachzeichnen, durch die aus der Reihe ein Diskurs wird. Laut Foucault sind Diskurse immer Ausdruck und Artikulierung einer genauen Wissensbildung, einer Tiefenstruktur, die er episteme nennt und als Bedingung des Möglichen begreift, als Substrat, von dem ausgehend etwas in einer bestimmten Epoche gesagt oder gedacht werden kann. Natürlich sind auch episteme historisch und historisch variabel. Vgl. Michel Foucault: L’archéologie du savoir. Paris: Gallimard 1969, S. 29–101. 21 Siehe hierzu die umfangreiche Bibliographie in Roberto Esposito: Bíos, S. 124–135, die zur Vertiefung der Frage in Italien mit dem Band von Mary Gibson: Born to Crime: Cesare Lombroso and the Origins of Biological Criminology. Westport (Conn.): Praeger 2002 ergänzt werden kann. 22 Vgl. Roberto Esposito: Bíos, S. 135–145.

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wicklungslinien, ideologischen Strömungen und vorausgehenden Debatten sind, an einem besonderen Datum festzumachen, scheint es ganz allgemein möglich, das genaue Entstehungsdatum der italienischen Biopolitik festzulegen: Es ist der 16. November 1876. Doch bevor näher auf die Gründe einzugehen sein wird, die mich zur Wahl genau dieses Datums für die Entstehung eines derart bedeutenden Ereignisses bewogen haben, scheint es angebracht, kurz zu erläutern, wie der Begriff Biopolitik hier zu verstehen ist. Dabei wird allgemein auf die Foucault’sche Definition der «prise en compte de la vie par le pouvoir» als «étatisation du biologique»23 Bezug genommen, die für den vorliegenden Fall prägnanter erscheint als die berühmte Definition, die der französische Philosoph in La volonté de savoir liefert und die hier nichtsdestotrotz weiter substantiell berücksichtigt werden soll: «faire vivre ou rejeter dans la mort».24 Im Folgenden soll daher herausgestellt werden, dass Mantegazza ein maßgeblicher Akteur im Prozess der Vereinnahmung des Lebens seitens der (Staats-)Macht im späten 19. Jahrhundert gewesen ist, und in genau diesem Sinne wird von einer positivistischen Biopolitik die Rede sein. Am 16. November 1876 wurden Paolo Mantegazza, Jacob Moleschott (1822–1893) und Andrea Verga (1811–1895) durch königlichen Erlass zu Senatoren der 13. Legislaturperiode des Königreichs Italien ernannt. Mehr noch als ihr politisches Credo verband diese drei Persönlichkeiten, deren Profil ich nachfolgend kurz skizzieren möchte, eine tiefere Überzeugung: ihr festes Vertrauen in die Medizin als unerschütterliche Grundlage allen menschlichen Handelns. Dass in dem Jahr, in dem die Destra Storica in Italien die Zügel aus der Hand gab und der am 25. März vereidigten ersten Regierung Depretis, der ersten linken Regierung, ihren Platz überließ, ausgerechnet drei Ärzte, prominente Vertreter des Positivismus und Materialismus, zu Senatoren gewählt wurden, die zudem in benachbarten, allerdings (mehrheitlich) nicht mit dem Arztberuf übereinstimmenden Bereichen tätig waren, ist kein Zufall: Verga wurde auf Vorschlag von Depretis zum Senator ernannt;25 als Vorsitzender der parlamentarischen Kommission,

23 Michel Foucault: «Il faut défendre la société». Cours au Collège de France (1975–1976). Herausgegeben von François Ewald/Alessandro Fontana. Paris: Gallimard 1997, S. 213. 24 Michel Foucault: La volonté de savoir. Histoire de la sexualité I. Paris: Gallimard 1976, S. 181. 25 Vgl. https://www.aspi.unimib.it/collections/entity/detail/153/ (letzter Zugriff am: 02.10.2019). Zur Rekonstruktion von Vergas Profil und Wirken sei auf die ausführliche Seite des Archivio Andrea Verga verwiesen (https://www.aspi.unimib.it/collections/object/detail/10208/; letzter Zugriff am: 02.10.2019), wo sein Gesamtwerk (einschließlich der Briefwechsel) digital abrufbar ist. Aus diesem Archiv stammen zahlreiche Informationen für den vorliegenden Beitrag.

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die Moleschott 1866 die italienische Staatsbürgerschaft verlieh26 (und ihm dadurch den Zugang zu den Staatsämtern ermöglichte), fungierte Mauro Macchi, ein prominenter, für seine antiklerikale Position bekannter Vertreter der Linken.27 Lediglich Mantegazza gelang der Aufstieg in den Senat nach einer langen parlamentarischen Militanz in den Reihen der Destra Storica, von der er sich jedoch durch antiklerikale Positionen,28 den wissenschaftlichen Ansatz selbst seiner politischen Reden und eine tendenziell moderate, deutlich auf die Mitte abzielende politische Linie abhob.29 Wie gesagt waren zwar alle drei Persönlichkeiten studierte Mediziner, bekleideten jedoch Ämter, die nicht unmittelbar mit dem Arztberuf verbunden waren. Der in Anatomie und Pathologie ausgebildete Andrea Verga wurde als Vorsitzender der ersten Italienischen Gesellschaft für Phreniatrie zu einem der Gründerväter der italienischen Psychiatrie. Der ebenfalls approbierte Arzt Paolo Mantegazza hatte den ersten Lehrstuhl für Anthropologie und Ethnologie Italiens inne (1869).30 Jacob Moleschott hatte nach dem Medizinstudium mit einer Physiologie und Anthropologie verbindenden Schrift an der Universität Heidelberg habilitiert und erhielt zunächst in Turin (1861) und später in Rom (1873) einen Lehrstuhl für Physiologie.31 Interessanterweise war Moleschott zwar der Einzige der drei, der dauerhaft ein medizinisches Fach an der Universität lehrte, er 26 Vgl. «Cittadinanza italiana al professore Giacomo Moleschott di Bois-le-Duc (Olanda)», Akte C.83 vom 5. Juli 1866. https://archivio.camera.it/resources/are01/pdf/CD1100037355.pdf (letzter Zugriff am: 02.10.2019). 27 Vgl. Fulvio Conti: Macchi, Mauro. In: Dizionario biografico degli Italiani. Bd. 67. Rom: Istituto della Enciclopedia Italiana Treccani 2006. http://www.treccani.it/enciclopedia/mauromacchi_%28Dizionario-Biografico%29/ (letzter Zugriff am: 02.10.2019). 28 Mantegazza war keineswegs Atheist, sondern hing im Gegenteil dem christlichen Glauben an. Auch in seinen Schriften bezieht er sich häufig auf die christliche Religion, die er jedoch vornehmlich als moralische Doktrin auffasst. Vgl. etwa Paolo Mantegazza: Il bene e il male. Libro per tutti. Mailand: Brigola 31871 [1860], S. 42–48. Dass Mantegazza Religion als Ausdruck der Moral begriff, die von der politischen Gewalt zu scheiden sei, geht im Übrigen deutlich hervor aus Paolo Mantegazza: Ordine e libertà. Conversazioni di politica popolare. Mailand: Bernardoni 1864, S. 127–137, insbesondere S. 131–132, 135–136. 29 Auch die biographische Seite des Archivio Storico del Senato führt Mantegazza als Vertreter der Mitte, vgl. http://notes9.senato.it/web/senregno.nsf/e56bbbe8d7e9c734c125703d002 f2a0c/a1b09e335637d2294125646f005d0c52?OpenDocument (letzter Zugriff am: 02.10.2019). 30 Zu einer Rekonstruktion Mantegazzas als Anthropologe vgl. Giulio Barsanti: Un «poligamo di molte scienze». L’antropologia a tutto campo di Paolo Mantegazza. In: Paolo Mantegazza: L’uomo e gli uomini. Antologia di scritti antropologici. Herausgegeben von Giulio Barsanti/ Fausto Barbagli. Florenz: Polistampa 2010, S. 5–29. 31 Vgl. Alessandra Gissi: Moleschott, Jacob. In: Dizionario biografico degli Italiani. Bd. 75. Rom: Istituto della Enciclopedia Italiana Treccani 2011. http://www.treccani.it/enciclopedia/ jacob-moleschott_(Dizionario-Biografico)/ (letzter Zugriff am: 02.10.2019).

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wurde jedoch aufgrund seiner radikalen materialistischen Positionen an der Universität Turin heftig kritisiert, von der Prüfungskommission für Physiologie ausgeschlossen und stattdessen in die Prüfungskommission für Biologie aufgenommen.32 Besondere Beachtung verdient in diesem kurzen vergleichenden Profil der drei im November 1876 zu Senatoren ernannten Ärzte, dass sie keineswegs aus Zufall in die große Politik gerieten, sondern im Zuge einer auf gesellschaftlicher Ebene zentripetalen, auf individueller Ebene jedoch zentrifugalen Bewegung manifestiert sich in ihrer Wahl die damals ganz Europa erfassende Idee, die Naturwissenschaften – insbesondere Physiologie, Hygiene und Medizin – könnten dem corpus der Politik die zur Regierung der Menschen notwendigen Kenntnisse liefern. Ausgehend vom Kern ihrer medizinischen Ausbildung bewegten sich die drei besagten Autoren zugleich zentrifugal in Richtung einer Anwendung ihres wissenschaftlich-positivistischen Credos auf alle Bereiche der menschlichen Erkenntnis. Die logische Konsequenz dieser Anwendung war der Eintritt in die aktive Politik. Nachdem nun der historische Hintergrund des vorliegenden Beitrags kurz umrissen worden ist, soll im Weiteren die wohl emblematischste der drei besagten Persönlichkeiten ins Blickfeld rücken, wozu in einem close reading sowohl das politisch-theoretische Werk als auch das politisch-praktische Wirken des Abgeordneten und Senators Paolo Mantegazza zu untersuchen sein wird, mit dem Ziel, die am Ende des vorherigen Abschnitts angekündigten Konturen der möglichen positivistischen Biopolitik in Italien klarer zu erfassen.

3 Mantegazza als politischer Theoretiker: Il bene e il male (1860) und Ordine e libertà (1864) Vor der eigentlichen Untersuchung der zwei in Betracht zu ziehenden Schriften Mantegazzas scheint an dieser Stelle eine methodische Klärung angebracht: Nachfolgend soll das Profil des Politikers Mantegazza aus drei unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchtet werden. Dabei wird erstens der Stil in seinen Schriften untersucht, wobei das gesonderte Augenmerk den Metaphern und

32 Vgl. ebda. Zu den Umständen, die zu Moleschotts Berufung auf den Lehrstuhl für Physiologie in Turin führten, sowie zu seiner Aufnahme und seiner Persönlichkeit vgl. Laura Meneghello: Jacob Moleschott – A Transnational Biography. Science, Politics, and Popularization in Nineteenth-Century Europe. Bielefeld: transcript 2017. Siehe hier insbesondere S. 163–174 zur Turiner Phase.

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dem aus Biologie und Medizin entlehnten Wortschatz gilt. Die Art und Weise, in der die Schriften Mantegazzas verfasst sind, stellt nämlich einen zentralen Faktor für das Verständnis der Motive, Bezüge und Zielsetzungen der Werke dar, denn nach Mantegazzas Auffassung kann nur der physiologische Schriftsteller, d.h. derjenige, der sich der Gesellschaft mit dem Auge des Arztes nähert, «la vita vivente, e la chimica e la fisica della società»33 beschreiben. Zweitens muss selbstverständlich der Inhalt in den Blickpunkt rücken – dies gilt umso mehr für den programmatischen Text Ordine e libertà –, also die von Mantegazza zum Ausdruck gebrachte politische Orientierung. Drittens und letztens wird sein Auftreten als politischer Akteur in medias res zu untersuchen sein, d.h. seine Tätigkeit als Abgeordneter und Senator. Soweit möglich sollen alle drei Aspekte gemeinsam vorgestellt werden, zumal sie hier als untrennbare Bestandteile eines Gesamtkonvoluts angesehen werden, das erst in seiner Vollständigkeit an Bedeutung gewinnt. In der Einleitung seiner einzigen programmatischen politischen Schrift Ordine e libertà34 weist Mantegazza den Leser darauf hin, das Buch bilde den zweiten Teil eines mit dem 1860 erschienenen Band Il bene e il male. Libro per tutti35 begonnenen Doppelwerks. Um eine möglichst breite Leserschaft in seinem ersten Band zu erreichen und seine pädagogischen Absichten zu unterbreiten, verwendet Mantegazza in Il bene e il male eine vereinfachte Prosa, die streckenweise von einem paternalistischen Ton gefärbt ist. In dem Text geht er von der Annahme aus, dass sich die Menschen zwar durch ihre körperlichen Eigenheiten und ihren sozialen Stand unterscheiden, aus moralischer Sicht hingegen gleich sind, da sie als vernunftbegabte Wesen zugleich auch moralische Wesen seien

33 Vgl. Paolo Mantegazza: La scienza e l’arte della vita in Francia. In: Nuova Antologia 11.12 (Dezember 1868), S. 698–713, hier S. 708. Nach wie vor maßgeblich zum Verhältnis zwischen Literatur und Naturwissenschaft in Italien (mit Bezug zum europäischen Kontext) ist Annamaria Cavalli: La scienza del romanzo. Romanzo e cultura scientifica tra Ottocento e Novecento. Bologna: Patron 2006 [1982], dem ich auch das vorliegende Zitat verdanke. Vgl. ebd., S. 20. 34 Vgl. Paolo Mantegazza: Due parole al lettore. In: Ordine e libertà, ohne Seitenangabe. 35 Kurioserweise wirken zwei Texte Friedrich Nietzsches wie der genaue Gegenpart hierzu: vom Titel her das 1886 erschienene Jenseits von Gut und Böse und vom Untertitel her Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen (1883–1886). Obwohl es im Nietzsche’schen Korpus keinen expliziten Bezug auf Mantegazza gibt, besaß Nietzsche in seiner Bibliothek zwei 1877 bzw. 1881 ins deutsche übertragene Werke des italienischen Autors: Fisiologia dell’amore und Fisiologia del piacere; vgl. Giuliano Campioni u.a. (Hg.): Nietzsches persönliche Bibliothek. Berlin: De Gruyter 2011, S. 376. Während Nietzsches Exemplar des ersten Buchs verschollen ist, weist das zweite Lesespuren auf, die eine direkte Kenntnis des Autors bezeugen. Zu den Beziehungen zwischen Nietzsche und Mantegazza siehe Chiara Piazzesi: Sur deux sources de Nietzsche à propos de l’amour; und dies.: Correspondances entre les écrits de Nietzsche et la Physiologie der Liebe (1877) de Mantegazza. In: Martine Béland (Hg.): Lectures nietzschéennes: Sources et réceptions. Montréal: Presses de l’Université de Montréal 2015, S. 93–134, 415–420.

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und Gott alle Menschen unabhängig von den gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, körperlichen und ethnischen Unterschieden im gleichen Maße mit Vernunft und Moral ausgestattet habe.36 Dieser Punkt ist wohl besonders relevant: Die Physiologie ist für Mantegazza zumindest in dieser Phase seiner Überlegungen zweitrangig – und dieser Vorstellung kommt auch in Ordine e libertà besondere Bedeutung zu. Dies macht ihn jedoch keinesfalls zu einem Autor, dem konkrete soziale Fragen oder Klassenunterschiede besonders am Herzen liegen. Wie schon ein Blick auf das Inhaltsverzeichnis des Bandes verdeutlicht, impliziert Gleichheit für Mantegazza weniger die Forderung nach gleichen Rechten für die Menschen als die nach gleichen Pflichten: Von den 18 Kapiteln des Buches sind stolze neun Kapitel den Pflichten gewidmet und nur ein einziges den Rechten. Der Mensch ist für Mantegazza ein moralisch verpflichtetes Wesen: sich selbst gegenüber ebenso wie gegenüber Gott, den Eltern, den Geschwistern, der Familie, dem Vaterland, der Gesellschaft und den Ehepartnern. Beachtenswert ist neben einer konservativen Grundhaltung, die Mantegazza schon in diesem (mit gerade 28 Jahren verfassten) Jugendwerk an den Tag legt, der rege Gebrauch medizinischer, anthropologischer und biologistischer Metaphern bei der Beschreibung der Gesellschafts- und Machtverhältnisse: So heißt es etwa, die Gesetzgeber seien «come i medici [che] si sono assunto [sic] il grave ministero di trattare le piaghe delle malattie»,37 der Einzelne wird gegenüber der Gesamtheit des sozialen Körpers als «capello»38 bezeichnet, die Nation ganz klassisch als «madre» und «padre».39 Weit interessanter ist jedoch ein Abschnitt, in dem die Ordnung der menschlichen Pflichten fast wie in einem Biologiebuch taxonomiert wird (Abbildung 1), wobei die Bürgerpflichten an vierter Stelle stehen, unmittelbar über den Pflichten des Individuums sich selbst gegenüber, die nach derart strengen hygienisch-physiologischen Prinzipien beschrieben werden, als solle die enge Übereinstimmung der hygienischen Verantwortung gegenüber dem sozialen und dem eigenen Körper betont werden. Auch das spätere Werk Ordine e libertà ist, angefangen bei der Rahmenerzählung, erbaulicher und pädagogischer Natur: Mantegazza konzipiert das Buch als Gespräch (oder besser: als Monolog) zwischen einem weisen, altehrwürdigen Kenner der Politik und einer Gruppe junger Männer, die zwar darauf brennen, die Funktionsweise des Gemeinwesens zu begreifen, sich zugleich aber undiszipliniert und unwissend gebärden. Der alte Weise gliedert seine Ausführungen in

36 37 38 39

Vgl. Paolo Mantegazza: Il bene e il male, S. X und S. 4. Ebda., S. 11. Ebda., S. 29. Vgl. ebda., S. 89–94.

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Abbildung 1: Paolo Mantegazza: Prospetto dei doveri dell’uomo.40

allgemeine Themen (Freiheit,41 Ordnung,42 Zukunft der Politik43) und technische Erklärungen zur Funktionsweise der italienischen Politik, wodurch er dem Leser die doppelte Zielrichtung des Textes offenbart: Er soll einerseits grundlegende Kenntnisse vermitteln, andererseits aber auch zur Festigung des politischen Status quo beitragen. Ersteres Ziel zeigt sich etwa darin, dass Mantegazza im Anhang44 den vollständigen Text des Statuto Fondamentale dei Regi Stati Sardi abdruckt, der ersten Verfassung des Königreichs Italien, oder darin, dass der Weise in seinen

40 Paolo Mantegazza: Prospetto dei doveri dell’uomo. In: Il bene e il male, S. 32–33. 41 Vgl. Paolo Mantegazza: Ordine e libertà, S. 19–27. 42 Ebda., S. 27–37. 43 Ebda., S. 139–147. 44 Ebda., S. 179–191.

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Abbildung 1 (fortgesetzt)

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Ausführungen eingehend die Aufgabenteilung der beiden Kammern des Parlaments erklärt,45 die Wahl der Volksvertreter auf lokaler und nationaler Ebene46 usw. Die Abschnitte allgemeineren Inhalts sind hingegen mehrheitlich Ausdruck von Mantegazzas politischem Konservativismus, allerdings hier und da mit einem demokratischen Hauch behaftet. Ausgangspunkt ist die bereits im Vorgängerwerk Il bene e il male behandelte allgemeine These, die Menschen seien zwar in allem verschieden, jedoch alle mit den gleichen rationalen Fähigkeiten ausgestattet: Da die Politik Ausdruck dieser Rationalität sei, sei sie auch für alle Menschen unabhängig von Stand und Bildung verständlich.47 Allerdings sei die Bildung die Voraussetzung für politisches Handeln: Denn obgleich alle Menschen Politik grundsätzlich begreifen könnten, sei es doch notwendig, Kenntnisse zu erlangen über die wenigen, aber grundlegenden Gesetze zur Funktionsweise von Politik. Das oberste Gesetz der Politik lässt sich nach Mantegazza in einem Wort ausdrücken: Ordnung. «Ordine è sinonimo di natura, di bellezza, di bontà, di giustizia; è quasi una cosa sola colla libertà [. . .]. Le malattie sono disordini dell’organismo, i delitti e la miseria sono disordini della morale».48 Die Feststellung, Ordnung sei durch Freiheit abzumildern, gibt eine Dialektik zu erkennen, die bei aller politisch konservativen Ausrichtung49 und einer unbestreitbaren Blindheit für soziale Unterschiede50 doch als Ausdruck einer relativ fortschrittlichen Mentalität angesehen werden kann: In Aussagen wie «L’uomo malato è irrequieto, così come il cittadino che non si sente libero»51 steht der medizinische Wortschatz im Dienste der Freiheit, deren (zumindest gefühltes) Fehlen mit einer Krankheit gleichgesetzt wird. Diese gemäßigt fortschrittliche Mentalität findet ihren wohl interessantesten Ausdruck im Kapitel über die Rolle der Religion im Staat. In der Politik müsse der Staat das Sagen haben, wohingegen die Kirche zwar als moralische Instanz zu respektieren sei, aber keine weltlichen Ansprüche erheben dürfe:52

45 Ebda., S. 59–73. 46 Ebda., S. 117–127. 47 Ebda., S. 28f. 48 Ebda., S. 27. 49 Vgl. auf paradigmatischer Ebene ebda., S. 61: «In un paese che voglia avere libertà ed ordine molti devono deliberare e pochi agire; [. . .] i più abili devono maneggiare il potere, e le moltitudini devono delegare e scegliere chi li diriga e comandi» sowie S. 114: «Quando avete dubbi scegliete sempre il partito della maggioranza assennata e sapiente». 50 Vgl. ebda., S. 48: «State sicuri che laddove vi è sopruso e prepotenza continua e permanente, meno rare eccezioni, la colpa è dell’oppresso come dell’oppressore». 51 Ebda., S. 32. 52 Ebda., S. 134–137.

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Nel pontefice avete insieme due persone; avete il Papa, avete il Re. Il primo è il vescovo supremo dei cattolici, è il primo servo di Dio; è inviolabile e sacro. Il re vuol conservare la sua corona, vuol difenderla coi mezzi umani, colle armi e colla violenza. E non vedete voi come l’interprete del Vangelo che sempre perdona, non può unirsi nello stesso uomo col ministro della giustizia che condanna e percuote?53

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Mantegazza in der aktiven Politik als ein durch seine soziale Herkunft und seine Zeit geprägter Konservativer in Erscheinung tritt, der ebenso an die Institutionen glaubt wie an den politischen sowie gesellschaftlichen Fortschritt (wodurch er sich als überzeugter Positivist erweist) und die Gesellschaft nicht nur als Körper ansieht, sondern vor allem auch als Familie: Dies ist in der Tat die häufigste Metapher in seiner Schrift.54 Wenngleich Mantegazzas Argumentation in Ton und Tenor auf eine paternalistische Rhetorik gegenüber den weniger begüterten Schichten und auf ein Lob der Oberschichten abzielt, lässt sich – abgesehen von wenigen Elementen des Sprachgebrauchs – in dieser Schaffensphase keine eindeutige biopolitische Tendenz ausmachen.55 Eine solche tritt erst mit dem Beginn seiner parlamentarischen Tätigkeit in Erscheinung, nachdem er im Oktober 1865, ein knappes Jahr nach dem Erscheinen von Ordine e libertà, für den Wahlkreis Monza ins Parlament gewählt und für die neunte Legislaturperiode des Königreichs Italien vereidigt wurde.

4 Mantegazza als Abgeordneter: Ricordi politici di un fantaccino del parlamento italiano (1896) Vor seiner Wahl zum Senator 1876 war Mantegazza für vier Legislaturperioden, was damals zehn Jahren entsprach, Abgeordneter. Wie bereits erwähnt, saß er

53 Ebda., S. 135f. 54 Vgl. ebda., z. B. S. 15 (Staat als «alveare di famiglie»), S. 37 («la nazione più potente, più ricca d’uomini e di terre è pur sempre una famiglia»), S. 39 («La patria [. . .] è un fatto spontaneo che sgorga dalla nostra natura [. . .] come la famiglia»), S. 148 («Chi non ama la patria offende la madre e i fratelli; è indegno d’avere un figlio, di portare un nome onorato»), S. 152 («Siccome in una famiglia v’ha chi dirige e mantiene l’ordine e l’economia, così in ogni paese v’ha un governo»). 55 Mit Ausnahme eines einzigen Abschnitts aus Paolo Mantegazza: Il bene e il male, S. 123: «L’esercizio attivo del corpo e i bagni freddi ripetuti spesso senza pigrizia fortificano i muscoli, migliorano la salute, danno alle membra forza ed agilità. Speriamo che presto i governi si occupino di questo importante ramo dell’igiene pubblica. [. . .] La ginnastica in un paese ben costituito deve essere un d’overe [sic] d’ogni cittadino».

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im Parlament zunächst in den Reihen der Destra Storica,56 tendierte aber zur Mitte und sympathisierte in seinem heftigen Antiklerikalismus mit der Linken,57 infolge dessen er immer radikalere Positionen bezüglich des Bildungssystems vertrat. Sich gegen die kirchliche Lehre zu stellen, kam im noch nicht vollständig geeinten Königreich, das damals weder Venedig noch Rom umfasste, praktisch dem Eintreten für ein geeintes, konfessionsloses Italien gleich. Während seiner langen Karriere als Abgeordneter legte Mantegazza seine Aufmerksamkeit stets auf zwei Bereiche des öffentlichen Lebens: staatliche Bildung und öffentliche Hygiene. Allein in diesen beiden Interessenssphären spiegelt sich die Idee einer Biopolitik wider, die sich in der Übertragung medizinischer Kategorien auf den sozialen Körper manifestiert. Darauf deuten viele Beschreibungen hin, die Mantegazza selbst in seinen Ricordi politici di un fantaccino del parlamento italiano über seine Zeit als Parlamentarier liefert. Zur Veranschaulichung der Biopolitik Mantegazzas während seiner Jahre als Abgeordneter, d.h. seiner Vorstellung von Politik als Ausdruck und Erweiterung des «esser medico»,58 soll nun eine Untersuchung seiner umfangreichen autobiographischen Schrift folgen.59 Die Wortwahl, mit der Mantegazza seine erste Rede im Parlament rekonstruiert, zu der ihn seine Wähler aus Monza drängten, um ihn endlich in Aktion zu sehen, gemahnt stark an die Beschreibung einer komplizierten Geburt: «E il discorso fu fatto; ma fu un parto col forcipe e con grave lesione del feto e della puerpera».60 Der «Fötus» ist in diesem Falle die Rede Mantegazzas, die «Wöch-

56 Vgl. Paolo Mantegazza: Ricordi politici di un fantaccino del parlamento italiano. Florenz: Bemporad 1896, S. 19: «Io credeva allora che quel posto rispondesse alle mie convinzioni. Per me era la destra quella che aveva fatta l’Italia, incominciando da Cavour e venendo giù giù fino ai suoi più umili e modesti discepoli. Nella sinistra non sedeva che gente irrequieta o impaziente; senza un programma pratico, senza molta coltura. Vi vedevo giovani ardenti, patriotti provati, ma tutti quanti più cospiratori che pensatori, più rivoluzionari che uomini politici». 57 Dies provozierte einen unmittelbaren Konflikt Mantegazzas mit kirchlichen Kreisen und brachte ihm sogar Morddrohungen ein. Vgl. ebda., S. 72. 58 Walter Pasini: Paolo Mantegazza, deputato e senatore del regno. In: Cosimo Chiarelli/ders. (Hg.): Paolo Mantegazza e l’evoluzionismo in Italia. Florenz: Firenze University Press 2010, S. 121–132, hier S. 122. 59 Ein synoptischer Vergleich der autobiographischen Ausführungen Mantegazzas mit den amtlichen Mitschriften seiner Reden als Abgeordneter bezeugt die Ehrlichkeit und Wortgetreuheit seiner Darstellung, die somit als glaubwürdige Quelle anzusehen ist. Abgesehen von den unmittelbar literarischen und theoretischen Aspekten wird daher für das vorliegende Kapitel jene Schrift anstelle der Parlamentsakten in Betracht gezogen. Zu den Mantegazza betreffenden Sitzungsberichten des Parlaments und den Mitschriften seiner Reden vgl. https://sto ria.camera.it/deputato/paolo-mantegazza-18311031/ (letzter Zugriff am: 02.10.2019). 60 Vgl. Paolo Mantegazza: Ricordi politici, S. 21.

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nerin» er selbst. Da er die «Geburt» durch den von seiner Wählerschaft aufgebauten Erwartungsdruck als Zwang erlebte, misslang seine Rede gehörig: Sie sorgte für «mormorio a sinistra»61 und heftige Kritik seitens Crispi. Die Metaphern, die er dem medizinischen Jargon entlehnt, verwendet Mantegazza im Übrigen nicht nur, um seine persönliche Situation zu veranschaulichen, sondern auch zur Beschreibung seines Buches, das er als «studio psicologico del parlamentarismo»62 bezeichnet, oder zur Charakterisierung seiner Zeit, der er eine «dissenteria morale»63 attestiert. Das Abgeordnetendasein wird anatomisch − oder besser: physiognomisch − analysiert, wie etwa die lebhafte Schilderung der psychologischen Reaktionen belegt, mit denen die Abgeordneten Garibaldis Ankunft am Tag seiner Vereidigung auf das Königreich Italien begrüßten: Io, che alla Camera fui sempre uno psicologo osservatore prima di essere un uomo politico, ebbi in quell’occasione tale un materiale di osservazioni, da poterne mettere insieme un volume; e nel mio libro Fisonomia e mimica molti fatti nuovi e molti fatti vecchi nuovamente interpretati furono da me raccolti in Parlamento, dove tante diverse nature e dove tante e formidabili passioni fermentano e ribollono. Non dimenticherò mai il quadro che presentava in quel momento il banco dei ministri. Erano tutti agitatissimi e volevano parer calmi: avevano nel cervello e nel cuore un uragano, e dovevano mostrare la placida calma della bonaccia. Gli sforzi per occultare l’emozione, che li torturava, erano diversi. Vi era chi divorava un foglio di carta senza accorgersi, v’era chi teneva le mani in tasca e sorrideva; ma era il sorriso di un catalettico o di un ipnotizzato. Vi era chi si mordeva le unghie e ne ingoiava i frammenti. Vi era chi parlava o fingeva di parlare al vicino, ma non sapeva di certo che cosa dicesse, e chi lo ascoltava non udiva nulla. Pochi momenti ancora, e la storia d’Italia, secondo il giuramento di Garibaldi, poteva cambiar pagina e volume. Pochi momenti ancora, e sarebbe caduto il ministero o si sarebbe chiuso il Parlamento [. . .].64

Am Ende seiner Memoiren als Abgeordneter widmet sich Mantegazza im 13. und vorletzten Kapitel seines Bandes einer Art Taxonomie des italienischen Parlaments, das er nach physiologischen Typen klassifiziert: I deputati si possono classificare, come le piante, con un sistema artificiale o con un metodo naturale; più pratico e più facile il primo che il secondo. Artificialmente si sogliono classificare secondo i collegi che li eleggono, o, meglio ancora, secondo il paese che li produce. In meridionali o settentrionali; lombardi, veneti, toscani, siciliani e così via. Un altro sistema di classificazione, che riunisce in gruppi i rappresentanti della nazione, è quello che li raggruppa secondo il partito a cui appartengono o dicono di appartenere. Sono di destra o di sinistra, radicali o socialisti, ministeriali o di opposizione. Questi

61 62 63 64

Ebda., S. 21f. Ebda., S. 65. Ebda., S. 146. Ebda., S. 207.

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gruppi non son sempre omogenei e spesso si compongono e si scompongono: seguendo le vicende della meteorologia politica, più instabile e più oscura di quella del cielo. Io quindi, naturalista e fisiologo, preferisco di classificare i deputati con un metodo naturale, che li raggruppi secondo molti dei loro caratteri e secondo la subordinazione di questi stessi caratteri. Ed ecco come io osi, forse per il primo, classificare gli onorevoli nostri rappresentanti in Deputati comparse, colla varietà dei telegrafici. Deputati affaristi o industriali della politica. Deputati forensi. Deputati coscienziosi. Deputati politici. Vediamo di tracciare a grandi tratti i caratteri di queste famiglie; e cosi le chiamo, perché [sic] spero che rappresentino davvero famiglie omogenee [. . .].65

An den eben zitierten stilistisch-argumentativen Eigenheiten lässt sich genau wie auf narrativer Ebene erkennen, dass hier der Wissenschaftler, der Physiologe und Sozialpsychologe im Dienste des Politikers steht. Die inhaltliche Analyse der Reden Mantegazzas im Parlament zeigt ganz deutlich, dass sein Interesse an Politik hauptsächlich auf Themen zurückzuführen ist, die im engeren Sinne Medizin und Gesundheitswesen sowie das (biopolitische) Lenken der Bevölkerung betreffen. Als wirklich engagierter Politiker sollte er nie in Erscheinung treten. Von seinen vier Legislaturperioden nahm er im Grunde nur drei wahr, wie er selbst eingesteht:66 In seiner letzten Amtszeit war seine Tätigkeit aus gesundheitlichen Gründen stark eingeschränkt. Auch in den anderen Legislaturperioden taucht sein Name vor allem in Verbindung mit dem Antrag auf Beurlaubung in den Parlamentsakten auf,67 ferner sind weit mehr einfache Stimmabgaben ohne Wortbeiträge verzeichnet als solche, denen eine Rede Mantegazzas vorausging. In den einzigen beiden Fällen, in denen er durch Reden auf sich aufmerksam macht, geht es um die Frage der öffentlichen Bildung sowie um ein Gesetz über den Reisanbau. Beide Reden enthalten Elemente, anhand deren sich der politische Standpunkt Mantegazzas eindeutig auf eine medizinische Ideologie zurückführen lässt, die direkt zu der Idee einer sozialen Maßnahme führt. Um Mantegazzas Politikverständnis herauszustellen, lohnt es sich, hierzu zwei Redeausschnitte wiederzugeben. Im ersten Fall spricht er sich gegen ein Gesetz aus, das den Reisanbau fördern sollte:

65 Ebda., S. 233f. 66 Vgl. ebda., S. 182–202, wo Mantegazza von der schweren Depression erzählt, an der er nach dem Tod seiner Mutter drei Jahre lang litt. 67 Insgesamt sind 17 Anträge auf Beurlaubung verzeichnet, die 287 Tagen entsprechen. Vgl. https://storia.camera.it/deputato/paolo-mantegazza-18311031/interventi?da=0#nav (letzter Zugriff am: 02.10.2019).

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Come scrittore popolare e apostolo dell’igiene credetti mio dovere di prender la parola, difendendo la salute contro il denaro [. . .] Del resto vi sono dei principii fìssi. Non è vero che le risaie in alcuni paesi siano sane, ed in altri malsane. Le risaie fanno sempre male, ma in alcuni paesi ne fanno poco, in altri molto. [. . .] Le risaie avvelenano l’aria [. . .] Ma c’è un’altra osservazione. Che cosa si produce, colla coltivazione del riso? Si produce il pessimo dei cereali, quello che ha lo stesso valore nutritivo del fieno e delle patate e che, quando è introdotto in quantità nell’alimentazione, basta per indebolire una razza. Questo è un fatto, che se il povero mangiasse più frumento e più legumi, specialmente nelle provincie di Lombardia, godrebbe di miglior salute.68

Wie diese Passage verdeutlicht, war Mantegazza als Politiker daran gelegen, negative Folgen einer falschen Politik für die ‹italienische Rasse› in Form einer Schwächung der Volksgesundheit zu verhindern. Schon in der Vorrede wird deutlich, dass er hierin eine regelrechte zivilisatorische, wenn nicht gar apostolische Mission zu sehen scheint. Ziel dieser Mission ist es, den Körper des Staates, d.h. das Staatsvolk, dessen Einsatz zu kriegerischen Zwecken durchaus vorgesehen ist, vor dem Verfall zu bewahren (ein, wie bereits angedeutet, in der Literatur und wissenschaftlichen Popularisierung der Zeit stark beachtetes Thema): Guardatevi d’intorno e cercate se i popoli più civili non sono anche i più sani e più robusti; se quegli inglesi che tutti i giorni andiamo citando, non sono più sani e più robusti di noi. Ed è, fra le altre cose, perché mangiano meglio di noi. Ora io dico che un alimento che avvelena l’aria, che è l’unico cibo che la natura lascia intatto al povero, dandogli poi un meschinissimo alimento, è un male per il nostro paese. Ricordatevi che nelle Indie v’è un pugno d’Inglesi che mangia carne, e che tiene sotto il suo giogo di ferro, un popolo di molti milioni che mangiano riso.69

Die Idee einer für die Gesellschaft einzusetzenden medizinisch-hygienischen oder, wenn man so will, biopolitischen Leitung schwingt auch in den Reden Mantegazzas zur Hochschulreform deutlich mit, wenngleich sie nicht explizit formuliert wird. Dabei muss vor allem ein Ausdruck in den Blick genommen werden, dem er bei der Beschreibung des künftigen Bildungsauftrags der Universitäten erhebliche Bedeutung beimisst: «produrre».70 Die Universität müsse die neuen Kräfte der Nation «produzieren». Es scheint klar, welche Art Universität Mantegazza dabei vorschwebte: eine Elite-Universität, die keineswegs allen zugänglich sein sollte. Tatsächlich brandmarkte er das Entstehen neuer Hochschulzentren in Italien und sprach sich stattdessen für eine Verringerung der Universitäten und

68 Paolo Mantegazza: Ricordi politici, S. 31–35. 69 Ebda., S. 35f. 70 Vgl. ebda., S. 89 und bes. S. 96. 71 Vgl. ebda., S. 84.

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eine Konzentration der Wissenszentren aus.71 Noch interessanter für die hier vorgenommene Rekonstruktion ist jedoch, dass Mantegazza in der Abschaffung der Hochschulgebühren die wahre Ursache für den Niedergang der italienischen Universitäten ausmacht.72 Begründet liegt dies in seinem hierarchischen, um nicht zu sagen, sozialdarwinistischen Gesellschaftsbild: Quando leggo che il numero degli studenti nel 1858 era di 7859, e che fu ridotto (eccettuato quello di Napoli), e che pochi anni dopo questo numero era ridotto a 5874, io me ne rallegro grandemente. [. . .] Le industrie, il commercio debbono aprire le loro braccia a molti giovani che, mediocrissimi come dottori di qualunque diploma, possono diventare utili al paese, fecondando la terra, esercitandosi in cento maniere di lavoro. Questa diminuzione di arcadi, di dottorucci insufficienti, d’ingegneri ignoranti, di avvocati che ingombrano le vie, non avverrà finché non diminuiscano i centri dell’insegnamento, finché un contadino, un portinaio, con poche lire potrà mandare all’Università il proprio figlio e farlo dottore.73

Die Vorstellung, dass alle Zugang zur universitären Ausbildung haben, ist für Mantegazza inakzeptabel. Ihm schwebt hingegen eine Zugangsbeschränkung auf Grundlage des Einkommens vor: Nur wer sich die Studiengebühren leisten kann, soll überhaupt studieren dürfen. Diese politische Vision der höheren Bildung fußt zwar nicht unmittelbar auf medizinischen Prinzipien, nutzt diese aber für die Forderung nach gesellschaftlichem Stillstand. Die politischen Erinnerungen Mantegazzas enden mit seiner Wahl zum Senator der 13. Legislaturperiode am 16. November 1876.74 Wie bereits angedeutet, ist dies zugleich die Geburtsstunde dessen, was immer deutlicher als positivistische Biopolitik in Italien hervortritt. Einige Jahre zuvor hatte Mantegazza selbst am Ende eines Briefes an seine Wähler aus Monza formuliert: «State sani e amatemi sempre»,75 ein Motto, das er zu anderen Gelegenheiten wiederholen wird76 und das als Motto der Biopolitik par excellence angesehen werden kann.77 Da somit das Ende der parlamentarischen Laufbahn Mantegazzas erreicht ist, soll nun seine politische Tätigkeit als Senator eingehender in den

72 Vgl. ebda., S. 78. 73 Ebda., S. 94. 74 Vgl. ebda., S. 222. 75 Ebda., S. 193. 76 Vgl. Paolo Mantegazza: Un giorno a Madeira. Una pagina dall’Igiene dell’amore. Genua: ECIG 1991 [1868], Vorwort ohne Seitenangabe. 77 Vgl. Antonio Lucci/Thomas Macho: «Vivete sani e amatemi». Paolo Mantegazza und das Gespenst der Biopolitik. In: Martin Müller/Christoph Neubert (Hg.): Standardisierung und Naturalisierung. Paderborn: Fink 2019, S. 147–159.

Die ‹positivistische Biopolitik› Paolo Mantegazzas

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Blick genommen werden, um zu prüfen, ob und inwieweit der ‹positivistische biopolitische Diskurs›, auf den eingangs Bezug genommen wurde, auch für die letzten Jahre seiner politischen Karriere nachweisbar ist.

5 Mantegazza als Senator des Königreichs: das Gesundheitsgesetz, das Verhältnis zu Moleschott und die Frage der Auswanderung Rund ein Jahr nach seiner Wahl zum Senator beteiligte sich Mantegazza an der ebenso komplexen wie heftigen Debatte, die der Senat vom 6. bis 15. Dezember 1877 über das geplante Gesundheitsgesetz führte. An den entsprechenden Sitzungsberichten und verschiedenen Wortmeldungen Mantegazzas als Senator lassen sich gewisse Züge ablesen, die für die hier angestrebte Übersicht maßgeblich sind. Die eröffnende Sitzung vom 6. Dezember war in der Hauptsache der Frage vorbehalten, ob der Leiter der Gesundheitsabteilung im Innenministerium ein Fachmann sein müsse (sprich: ein Arzt) oder schlicht ein Verwaltungsbeamter. Diese Frage war von zentraler Bedeutung und überwog von Anfang an die unmittelbar medizinischen Fragen. Aus der Senatsdebatte geht deutlich hervor, dass der Innenminister Giovanni Nicotera ein wesentliches Problem darin sah, die Abteilung einer sachverständigen, hygienischen Leitung zu unterstellen. In den Sitzungen (insbesondere in jenen Sitzungen vom 6. und 7. Dezember) kam es zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen der klassischen Vorstellung vom Vorrang der Politik, der zufolge Verwaltungsposten unabhängig von Fachkompetenzen nach politischen Kriterien vergeben werden, und der – auch von Mantegazza und Moleschott vertretenen – Auffassung, das gesamte Gesundheitswesen müsse Sachverständigen wie Ärzten oder Hygienikern unterstehen. Hinter diesen scheinbar formalen Debatten verbirgt sich in Wahrheit ein neuartiges Politikverständnis, das auf dem Konzept der Hygiene als Regierungspraxis basiert. Dass Hygiene als Regierungspraxis angesehen wird, ergibt sich ganz deutlich aus den Zitaten verschiedener Teilnehmer der Debatte, die der Medizin nicht nahe standen: Vincenzo Ricasoli etwa spricht im Zusammenhang mit dem Gesundheitsgesetz von einer Frage der «polizia sanitaria»;78 diese müsse

78 Atti Parlamentari, Sessione del 1876–77, Discussioni, Tornata del 6 dicembre 1877, S. 1928. Ausgehend von dieser Überlegung, aber auch in Bezug auf die gesamte, im Weiteren zu entfaltende Diskussion über Hygienefragen stellt sich hier en passant eine aus archäologischer Sicht

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«determinare fin dove debba estendersi l’ingerenza del Governo negli atti amministrativi sanitari».79 Stanislao Canizzaro definiert Hygiene im Sinne einer Art Gouvernementalität ante litteram: Signori, l’igiene pubblica, anche come si insegna ora nelle Università, non è più soltanto una scienza medica nel senso stretto della parola, ma è una scienza applicata, una scienza amministrativa, giacché si parla di tutti i provvedimenti che la pubblica autorità può eseguire per raggiungere il fine igienico. Non avete che ad aprire i nuovi trattati di igiene pubblica e troverete che una parte è veramente scienza di diritto amministrativo applicato a raggiungere lo scopo che l’igienista si propone; in guisa tale che il medico il quale si rivolgerà a questi studi speciali avrà le cognizioni necessarie per trattare cotesti affari anche dal lato amministrativo.80

Da sich der Innenminister am Eröffnungstag sehr zurückhaltend zeigte,81 ergingen sich Mantegazza und Moleschott einvernehmlich (was keinesfalls die Regel bleiben sollte) in langen, ebenso tiefgründigen wie leidenschaftlichen Reden, die auch durch ihre heftige Wortwahl bestachen,82 um die Rolle der Hygiene im öffentlichen

zentrale Frage, die eine eingehendere künftige Untersuchung verdient. Denn wenn Michel Foucault «l’économie politique» als «forme majeure de savoir» der gouvernementalité definiert (vgl. ders.: Sécurité, territoire, population. Cours au Collège de France (1977–1978). Herausgegeben von François Ewald/Alessandro Fontana. Paris: Gallimard 2004, S. 111), die später auf allgemeiner Ebene dem Konzept von Polizeiwissenschaft untergeordnet wird, stellt sich m. E. die Frage, ob Hygiene nicht als jenes «privilegierte Wissen» anzusehen ist – zumindest, was Italien anbelangt. In Italien hat sich ja Foucault zufolge das von ihm als «Polizeistaat» definierte Regierungssystem nie richtig entwickelt: «[En Italie] en revanche la police fait défaut. Elle fait défaut comme institution et également comme forme d’analyse et de réflexion. [. . .] C’était vrai sans doute avant l’unité italienne, et c’est sans doute vrai aussi depuis que l’unité italienne a été réalisée et que quelque chose comme un État italien s’est constitué, un État qui n’a véritablement jamais été un État de police au sens des XVIIe-XVIIIe siècles» (ebda., S. 324). Wenn wirklich am Archäologiebegriff festgehalten und die biopolitische Untersuchung vor der Gefahr bewahrt werden soll, zu einem endlosen Kommentar zum Werk des Autors zu verkommen, besteht die wohl einzige Möglichkeit m. E. in einer Regionalisierung der Foucault’schen Analyse und in deren Neuverortung innerhalb klarer, spezifischer historischer wie nationaler Kontexte. 79 Atti Parlamentari, Sessione del 1876–77, Discussioni, Tornata del 6 dicembre 1877, S. 1928. 80 Atti Parlamentari, Sessione del 1876–77, Discussioni, Tornata del 7 dicembre 1877, S. 1957–1958. 81 Allerdings wusste Nicotera den Beitrag der im Senat vertretenen Ärzte zu schätzen, wenn Fragen auf der Tagesordnung standen, die das Gesundheitswesen direkt betrafen. Vgl. Atti Parlamentari, Sessione del 1876–77, Discussioni, Tornata del 14 dicembre 1877, S. 2133–2134, wo Mantegazza und Verga angehört und ihre Vorschläge zur wirksamen Beseitigung mutmaßlich infizierter Tierkadaver sofort angenommen werden. 82 «Io [Mantegazza] credo così importante l’avere un capo-medico, che rappresenti la più alta gerarchia sanitaria nel Regno, che io oso dire una frase che sembrerà molto forte, ma che esprime quello che io sento: io non crederei più serio il Codice sanitario, se si facesse altrimenti».

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Leben zu betonen: So erklärte etwa Moleschott, «il direttore di un ufficio sanitario non potrebbe non essere un valente igienista»,83 nachdem Mantegazzas Rede zuvor auch bei Carlo Maggiorani, einem weiteren Arzt in den Reihen des Senats, auf Zustimmung getroffen war: Notate in fatti [sic] la differenza fra il contegno del clinico e quello dell’igienista allorché entrano all’ospedale; il primo rivolge subito la sua attenzione agli ammalati e si occupa quasi esclusivamente della loro cura, dopo aver istituita la diagnosi del male e formulatone il presagio; il secondo si occupa invece del rapporto fra l’area della sala e il numero degli infermi, della loro distribuzione, dei metodi di ventilazione e di riscaldamento, di pulizia, della nettezza della biancheria e del vestiario, della qualità del cibo, della bevanda e delle droghe medicinali, dell’assistenza, del sistema delle latrine, della posizione della stanza mortuaria e della camera incisoria rispetto alle sale degli infermi e di parecchie altre circostanze che si riferiscono alla salubrità del luogo e al suo adattamento al fine cui deve corrispondere. Né solo nell’ospedale, ma l’igienista entra in ogni stabilimento ove si raccolga un gran numero d’individui; visita i mercati, le fiere, i teatri, le caserme, le passeggiate, il cimitero, le case dei poveri, gli opifici; in una parola, ogni luogo ove possano ascondersi germi di malsania a danno della comunità. L’igienista deve studiare la natura del suolo che abita, le piante vi allignano, gli animali vi han vita, il clima vi domina, le meteore che vi frequentano, i mali che vi sono più comuni.84

Maggiorani stilisiert den Hygieniker zu einem regelrechten Gesundheitspolitiker, der Fachwissen und Führungskunst in sich vereint: eine neue, synkretistische Figur, die der veränderten Mentalität der Zeit entspringt. Nichtsdestotrotz blieb Innenminister Nicotera bei seiner Meinung, so dass der u.a. von Mantegazza und Moleschott mitgetragene Antrag, die Leitung des Gesundheitsamts unbedingt in die Hände eines Mediziners statt eines Verwaltungsbeamten zu legen, nicht angenommen wurde.85 Wie sehr sich der Zeitgeist zu Gunsten einer als politische Wissenschaft verstandenen Hygiene in nur zehn Jahren wandelte, belegt Mantegazzas letzte, am 4. April 1889 gehaltene Rede im Senat. Darin verteidigt er die Gründung einer Hygieneschule in Rom gegen die von verschiedenen Senatoren vorgebrachten Befürchtungen, diese könne sich zu einer universitätsähnlichen Einrichtung entwickeln und dem Medizinstudium Konkurrenz machen: «Io domando piuttosto: questa scuola è utile? Con calda convinzione dobbiamo rispondere: è uti-

Vgl. Atti Parlamentari, Sessione del 1876–77, Discussioni, Tornata del 7 dicembre 1877, S. 1962–1964, hier S. 1964. 83 Ebda., S. 1965. 84 Ebda., S. 1966. 85 Vgl. ebda., S. 1972.

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lissima. [. . .] L’igiene tende tutti i giorni a prendere il posto della medicina antica; essa allarga le sue larghe braccia, e di questo movimento tutti ci rallegriamo».86 Die Hygiene hatte sich durchgesetzt und sollte nach und nach weitere Bereiche des Sozialwesens vereinnahmen.87 Während Moleschott und Mantegazza in der Frage der Besetzung von Schlüsselpositionen im Gesundheitsamt (vergeblich) Seite an Seite kämpften, vertraten sie in der weiteren Diskussion des Gesundheitsgesetzes häufig gegensätzliche Positionen. Die scheinbar rein formalen Gegensätze waren jedoch durchaus inhaltlicher Art, und zwar sowohl auf theoretischer wie auf persönlicher Ebene: In der Sitzung vom 8. Dezember 187788 und deren Weiterführung am 10. Dezember89 waren sich beide beispielsweise uneins hinsichtlich der Notwendigkeit, für jede Gemeinde bzw. jedes Konsortium einen eigenen Tierarzt einzusetzen. Während Moleschott sich dafür aussprach, war Mantegazza – wie die Mehrheit der Senatsmitglieder – dagegen. Die theoretischen Grundlagen dieser Diskussion verweisen auf eine gewisse anthropozentrische Sicht Mantegazzas, die dem materialistischen Konzept Moleschotts, demzufolge alle Lebewesen qualitativ nicht unterscheidbar sind, zuwiderlief. Am 11. und 12. Dezember ergab sich eine erneute Gegnerschaft der beiden Mediziner: Nach der (gemeinsam erlittenen) Niederlage in der Debatte um die Besetzung der Leitung des Gesundheitsamts bemühte sich Moleschott zunächst, im Senat festzulegen, dass im Consiglio Superiore di Sanità,90 dem im Übrigen Mantegazza angehörte, zwei Hygieniker vertreten sein müssen. Da sich aber keine Mehrheit für seine Eingabe fand, schlug er vor, zumindest auf Provinzebene eine entsprechende Vorgabe zu erlassen.91 Gegen Moleschotts erste Eingabe sprach sich insbesondere Mantegazza aus: «La professione d’igienisti non c’è. Uffi-

86 Vgl. Atti Parlamentari, Legislatura XVI, III Sessione 1889, Discussioni, Tornata del 4 aprile 1889, S. 271. 87 Dass Nicoteras Nachfolger Crispi zehn Jahre nach besagter Niederlage einen Arzt mit der Leitung des Gesundheitsamts betraute, wie Mantegazza lobend hervorhebt, belegt, dass die Idee einer in unterschiedlichen Bereichen auf Fachleute aus der Medizin gestützten Regierung längst dem Zeitgeist entsprach. Vgl. ebda., S. 272. 88 Vgl. Atti Parlamentari, Sessione del 1876–77, Discussioni, Tornata dell’8 dicembre 1877, S. 2004. 89 Vgl. ebda., S. 2015f. 90 Vgl. Atti Parlamentari, Sessione del 1876–77, Discussioni, Tornata dell’11 dicembre 1877, S. 2047. 91 Vgl. Atti Parlamentari, Sessione del 1876–77, Discussioni, Tornata del 12 dicembre 1877, S. 2068.

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cialmente vi sono due o tre professori d’igiene, ma gl’igienisti in genere non esistono».92 Ganz allgemein scheint Mantegazza im Gegensatz zu Moleschott oft als Sprachrohr bestimmter Interessengruppen aufzutreten: Sein Eintreten dafür, dass Ärzte statt Verwaltungsbeamte mit der Leitung des Gesundheitsamts betraut werden, deckt sich letztlich mit seiner Forderung, den Obersten Gesundheitsrat mit Ärzten und nicht mit Hygienikern zu besetzen (deren berufliche Abgrenzung von der Ärzteschaft seinerzeit auch im Senat debattiert wurde).93 Diese Vorstellung bekräftigt Mantegazza offenbar auch durch weitere Stellungnahmen, die nicht notwendig mit Medizin zu tun haben: So etwa in seinem langen Wortbeitrag, in dem er sich mit Erfolg gegen den Vorschlag wendet, die an Universitäten und anderen Bildungseinrichtungen Beschäftigten (folglich auch Hochschulprofessoren) von politischen Ämtern auszuschließen.94 Wie bereits erwähnt war Mantegazza nicht nur Arzt, Anthropologe, Professor und Politiker, sondern auch ein Vertreter der begüterten Oberschicht Italiens und verteidigte dementsprechend auch die Interessen und Privilegien der verschiedenen Gruppen, denen er angehörte: als praktizierender Arzt, der seine Tätigkeit keinem Nicht-Mediziner unterstellen wollte, wie oben zu sehen war; als Mitglied des Obersten Gesundheitsrats, der sich gegen die Umwandlung der Ärztequote in eine Hygienikerquote sperrte; und schließlich als Hochschulprofessor, wie bereits an seiner Parlamentsrede während der Debatte um die Hochschulgebühren aufgezeigt worden ist und sich auch an der hier zu untersuchenden Diskussion über das Gesundheitsgesetz ablesen lässt. So verteidigte er am 12. Dezember 1877 sowohl seine Rolle als Mitglied des Obersten Gesundheitsrats als auch die Hochschuldozenten, zu denen er selber zählte, und zwar erneut in Gegnerschaft zu Moleschott: Nachdem Letzterer in der Diskussion darüber, ob den Universitäten ein Wahlrecht für Vertreter des Obersten Gesundheitsrats zugestanden werden solle, sein Misstrauen gegenüber den Universitäten zum Ausdruck gebracht und sich gegen den Vorschlag ausgesprochen hatte, erwiderte Mantegazza, ein derartiger Pessimismus sei nicht zu rechtfertigen, denn man müsse Vertrauen in die Hochschulen haben. Moleschotts

92 Atti Parlamentari, Sessione del 1876–77, Discussioni, Tornata dell’11 dicembre 1877, S. 2054. 93 Vgl. ebda., S. 2047f. 94 Atti Parlamentari, Legislatura XVI, 2a Sessione 1887–88, Discussioni, Tornata del 28 novembre 1888, S. 2062f.

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Forderung bezeichnete er daher als «inopportuno e illiberale [. . .] un voto di sfiducia dato alla scienza».95 An diesen Worten, mit denen Mantegazza erfolgreich in eigener Sache warb, lässt sich auch sein unverbesserlicher – und mitunter naiver – positivistischer Optimismus ablesen:96 Stets glaubt er an das Beste im Menschen Gemüt und an die Fähigkeit der Institutionen, sich selbst zu regulieren, sofern man ihnen nur freie Hand lässt.97 Folglich lehnte er jedweden Pessimismus ab. Sein Optimismus trug jedoch auch dazu bei, dass er mit der für seinen privilegierten Standpunkt bezeichnenden Kurzsichtigkeit bestimmte Phänomene der Zeit unterschätzte, wie etwa die tragischen Umstände, unter denen Hunderttausende Italiener*innen nach Amerika auswanderten. Während einer dramatischen Senatssitzung des Jahres 1886,98 in deren Verlauf Zahlen, Berichte, Briefe und Hilfegesuche nach Südamerika ausgewanderter Italiener*innen zur Sprache kamen, die unter wahrhaft unmenschlichen Lebensbedingungen litten, tat sich Mantegazza einerseits durch ironische Bagatellisierungen99 und oberlehrerhafte Bemerkungen zu den geographischen Angaben seines Vorredners hervor, andererseits durch den ernst gemeinten Vorschlag, das Problem durch die Herausgabe und Verteilung einer Broschüre «in forma popolare»100 mit nützlichen Informationen für potentielle Auswanderer*innen zu lösen. Zu guter Letzt warnte er seine politischen Gegner, ähnlich wie bereits in der hochschulpolitischen Debatte mit Moleschott, vor einer zu pessimistischen Sicht der Dinge:

95 Vgl. Atti Parlamentari, Sessione del 1876–77, Discussioni, Tornata del 12 dicembre 1877, S. 2081–2083, hier S. 2082. 96 Vgl. Luciano Zuccoli: La morte di un ottimista. In: Paolo Mantegazza: L’uomo e gli uomini, S. 265–268. 97 Mantegazza sprach sich mehrfach für eine Vereinfachung des Gesundheitsgesetzes aus. Vgl. Atti Parlamentari, Sessione del 1876–77, Discussioni, Tornata dell’11 dicembre 1877, S. 2053, wo er vorschlägt, Apotheker und Chemiker im Obersten Gesundheitsrat zusammenzufassen, um dessen Mitgliederzahl zu verringern, sowie Atti Parlamentari, Sessione del 1876–77, Discussioni, Tornata del 13 dicembre 1877, S. 2103: «Il peccato originale, il difetto radicale di questo Codice è di metterci troppa materia regolamentaria». 98 Atti Parlamentari, Legislatura XVI, 2a Sessione 1887–88, Discussioni, Tornata del 28 novembre 1888, S. 3027–3060. 99 An Senator Manfrin, der in seiner Rede die unmenschlichen Bedingungen beklagte, unter denen italienische Auswanderer*innen in Südamerika ihr Dasein fristeten, wandte sich Mantegazza mit folgenden Worten: «Egli poi ha detto che questi poveri emigranti quando ritornano debbono pagare lire mille per il viaggio; oh! via, levi uno zero ai mille e sarà più vicino alla realtà! Pagherà mille lire il milionario che ritorna per fabbricarsi delle ville in Liguria e che si dà il lusso per una cabina per sé solo». Vgl. ebda., S. 3042. 100 Vgl. ebda., S. 3035.

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Non nego che leggendo tutta la lunga storia dell’emigrazione si possa (cercando con artificio di pessimista qualche fatto speciale) fare un martirologio ancora più lungo di quello che ci presentava l’onor. Manfrin colle sue lettere; ma io ritorno a dire: sommate da una parte tutti i mali che fa l’emigrazione, metteteli in bilancia, e, in confronto al bene, vedrete che non c’è discussione possibile. Tutti avrete letto di certo la storia dell’Irlanda; ebbene rammentatevi il grave fatto dell’emigrazione forzata, quando il Governo, in un momento di tirannia sapiente, espropriava tutti i piccoli proprietari dell’Irlanda (fatto che teoricamente fece orrore). Ebbene, da questa emigrazione forzata che cosa ne venne? Ne venne un doppio bene: una colonia fiorentissima nell’America, e molti Irlandesi, divenuti ricchi in America, ritornati nella loro patria, ricomprarono le loro terre; ne derivò infine una somma di due grandi beni. E terminando, domando scusa al Senato di aver voluto dire queste poche parole onde non rimanesse sotto l’impressione delle affermazioni troppo pessimiste fatte dal senatore Manfrin.101

Angesichts der schwerwiegenden Tatsachen, die im Laufe der Senatssitzung ans Licht kamen, blieb Mantegazza – wie so oft – nichts weiter übrig, als auf seinen unerschütterlichen Optimismus, seine Bildung und seine Rhetorik zu setzen. Wie das obige Zitat belegt, wirkten die Ergebnisse dieser Mischung langfristig jedoch eher grotesk: Die Behauptung, die Tragödie der irischen Auswanderer*innen habe sich als Werk einer «weisen Tyrannei» letzten Endes als «Glück» erwiesen, macht Mantegazza zu einem unbewusst zynischen Pangloss im positivistischen Gewand.

6 Fazit Paolo Mantegazza war ein außergewöhnlicher Zeitgenosse: Als direkt Beteiligter an den wichtigsten politischen Diskussionen seiner Zeit, feste Größe in wissenschaftlichen Debatten und Vorreiter in den damals nur als Randerscheinungen wahrgenommenen Fachgebieten Anthropologie und Sexualforschung tauchte sein Name in den unterschiedlichsten Kontexten auf, bevor er allzu rasch wieder in Vergessenheit geriet. Er war jedoch nicht nur Zeitzeuge, sondern auch Produkt und Vertreter seiner gesellschaftlichen Schicht – des intellektuellen Großbürgertums in der Frühzeit der italienischen Nationalstaatswerdung. Auch in seiner politischen Tätigkeit als Abgeordneter und Senator spiegeln sich die Vorstellungen Mantegazzas deutlich wider, dem alle revolutionären Anwandlungen fernlagen und der in seinem positivistischen Optimismus fest von der Rationalität und Gutmütigkeit des Menschen überzeugt war, dabei aber stets bedacht auf die Interessen jener Gruppen, denen er selber angehörte.

101 Vgl. ebda., S. 3043.

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Abgesehen vom Widerschein der menschlichen Seite Mantegazzas in seinem politischen Wirken lässt sich als Ergebnis der vorliegenden Untersuchung seiner Reden als Abgeordneter und Senator festhalten, dass er im Hinblick auf das Verhältnis von Medizin und Politik eine Sichtweise vertrat, die sich in Italien immer stärker durchsetzte und auf eine fortschreitende Hygienisierung und Medikalisierung des sozialen, kulturellen und politischen Diskurses ausgerichtet war. Vollständig sollte sich dieser biopolitische Diskurs an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert manifestieren – man denke nur an die institutionellen Auswirkungen der damals aufkommenden Kriminalanthropologie Lombroso’scher Prägung. In diesem Sinne dürfte sich die weitere Untersuchung der Verflechtungen von Leben, Wissenschaft und Politik im Kontext des italienischen Positivismus als fruchtbringend herausstellen, sofern eine archäologische Forschung fortgesetzt werden soll, die sich sowohl mit dem IT befasst als auch mit der spezifisch italienischen Spielart jenes heterogenen Geflechts aus sozialen Praktiken, regional ausgeprägten Wissenschaften und zum Zeitpunkt ihrer Entstehung und in der Art ihrer Anwendung analysierten politischen Institutionen, das Michel Foucault mit dem Terminus Biopolitik definiert hat.

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Nicoletta Pireddu

Physiognomien des Exzesses im neurotischen Zeitalter des Fin de Siècle 1 Einleitung In seiner zwischen 1775 und 1778 erschienenen wegweisenden Arbeit Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe verdeutlicht der wichtigste neuzeitliche Vertreter der Physiognomie, der Schweizer Philosoph und Dichter Johann Kaspar Lavater, welche für ihn die «natürlichste, menschlichste, edelste, nützlichste Kunst»1 ist: die Porträtmalerei. Zugleich sei sie jedoch «die schwerste, so leicht sie scheint».2 Ihre grundlegende Rolle sieht er sowohl in der schöpferischen Tätigkeit als auch in der wissenschaftlichen Erforschung als Mittel der «Darstellung eines besondern, würklichen Menschen, oder eines Theils des menschlichen Körpers – Mittheilung, Aufbewahrung seines Bildes».3 Seinen Gedanken untermauert Lavater mit einem vorgeblichen Zitat seines Freundes Goethe, dass «des Menschen Gegenwart, daß sein Gesicht, seine Physiognomie, der beste ‹Tert zu allem ist, was immer über ihn gesagt und commentirt werden kann›».4 Mehr als hundert Jahre später findet sich diese Passage sonderbarerweise auf Französisch in Fisionomia e mimica (1905) des italienischen Anthropologen Luigi Cerchiari wieder, der damit das erste Kapitel eröffnet: «La présence de l’homme, son visage, sa physionomie est le meilleur texte de tout ce qu’on peut dire de lui. GOETHE».5 Neben der Darlegung des eng verflochtenen intertextuellen Netzwerks durch Raum und Zeit, das diese und zahlreiche andere bahnbrechende Studien über die Physiognomie, welche sich intensiver, aber recht kurzlebiger Popularität erfreute, zusammenhält, scheint die Wissenschaftler im Horizont dieser Goethe’schen Resonanz die Betonung des Gesichts als semiotisches Mittel zu faszinieren, das metonymisch für die gesamte Disziplin steht. In

1 Johann Kaspar Lavater: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Zweyter Versuch. Mit vielen Kupfertafeln. Bd. 2. Leipzig/Winterthur: Weidmanns Erben und Reich/Heinrich Steiner und Compagnie 1776, S. 78. 2 Ebda. 3 Ebda., S. 79. 4 Ebda. 5 Luigi Cerchiari: Fisionomia e mimica: note curiose, ricerche storiche e scientifiche, osservazioni e commenti sulle interpretazioni dei caratteri dai segni della fisionomia, e dei sentimenti dalla mimica delle loro espressioni. Mailand: Hoepli 1905, S. 3. https://doi.org/10.1515/9783110665055-013

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Bent‘s Literary Advertiser wurde die englische Übersetzung von Lavaters Physiognomischen Fragmenten mit dem Zitat beworben: «Physiognomy is reading the handwriting of nature upon the human countenance».6 Mit seinem beispiellosen Zynismus hatte es sich der französische Schriftsteller Gustave Flaubert jedoch bereits zur Aufgabe gemacht, die Auswirkungen aufzudecken, die sich daraus ergeben, wenn die deterministische Äquivalenz von physischen und moralischen Merkmalen wörtlich genommen wird, was die Physiognomie zu validieren versucht. Der provokante Dictionnaire des idées reçues am Ende von Bouvard et Pécuchet (1881) fügt der stereotypen Konnotation von «visage» als «miroir de l’âme» einen Schlag zu, indem er sarkastisch ergänzt: «alors il y a des gens qui ont l’âme bien laide».7 Dies ist in der Tat ein abruptes Wiedererwachen aus der starren Trägheit von Gemeinplätzen, die bei unkritischer Annahme harmlos erscheinen, aber Träger schmerzhafter Wahrheiten sind, wenn sie wörtlich und ernst genommen werden. Auch Cerchiari selbst scheint zumindest teilweise mit Flaubert übereinzustimmen, betrachtet man den Titel eines der Buchkapitel: «L’abito non fa il monaco».8 Mein Ziel ist es nicht, die von Ernst H. Gombrich definierte «physiognomical fallacy»9 in toto zu unterstützen. Vielmehr möchte ich in den europäischen Diskurs des Fin de Siècle eintreten und diese Spannungen auch in der Blütezeit der Physiognomie als produktive Inkonsistenzen betrachten, die eine kritischere und komplexere Sicht auf die Konstruktion eines individuellen und kollektiven (im Falle Italiens letztlich auch nationalen) Subjekts ermöglichen. Im Zeitalter des wissenschaftlichen Positivismus und des ästhetischen Naturalismus und Realismus, die beide nach Regelmäßigkeiten suchen, welche durch beobachtbare empirische Evidenz nachweisbar und mit rationalen Strategien zu untersuchen sind, bietet die Physiognomie ein faszinierendes und visuell wirksames Beispiel für ein System von Konzeptualisierungen, Diskursen und Praktiken, die den Körper als Objekt normativer Inschriften darstellen, die nicht verhandelbare physische, ästhetische und moralische Wahrheiten ausdrücken. Mit anderen Worten: Die Physiognomie unterstützt das, was heute als

6 Thomas Hodgson (Hg.): Bent’s Literary Advertiser, and Register of Engravings. Works on the Fine Arts, etc. London: Woodfall 1844, S. 55. 7 Gustave Flaubert: Bouvard und Pécuchet. Paris: Gallimard 1979, S. 554. 8 Luigi Cerchiari: Fisionomia, S. 183. 9 Ernst H. Gombrich: Meditations on a Hobby Horse and Other Essays on the Theory of Art. London: Phaidon 1963, S. 45f. Vgl. auch ebd., S. 70–77. Mit der Bezeichnung «physiognomical fallacy» stellt Gombrich die Annahme in Frage, künstlerische Formen seien direkte Reflexionen über die Natur der Gesellschaft, die sie geschaffen hat, und reproduzierten somit bestimmte Werte.

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Biopolitik und insbesondere Biomacht bekannt ist und in fundamentale Aspekte des menschlichen Lebens eingreift. Dazu zählen die Produktion von Wissen, das Hervorbringen von Wahrheitsdiskursen über das Leben und die Methoden, mit denen Individuen Subjektivitäten zwischen der Selbstwahrnehmung und dem Kollektiv konstruieren. Der europäische Wissenschaftsdiskurs des 19. Jahrhunderts mit seiner aufkommenden Naturgeschichte des Menschen, dessen zentrales Werkzeug auch die Physiognomie ist, verstärkt eben diese produktiven Machtvorstellungen durch die Entwicklung von Techniken, die zum Zweck der Führung und Produktivität im und am individuellen Körper als Disziplinapparate wirken. Michel Foucaults Worten zufolge behandelt die Biopolitik die Bevölkerung sowohl wissenschaftlich als auch politisch und richtet sich «nicht an den KörperMenschen, sondern an den Gattungs-Menschen».10 Ich selbst beabsichtige, einige Brüche in diesem vermeintlich biopolitischen Rahmen hervorzuheben, indem ich mich auf Paolo Mantegazza, den Vater der italienischen Anthropologie, und auf Scipio Sighele, den Initiator der kollektiven Psychologie mit seinen bahnbrechenden Studien zum Verhalten von Menschenmassen, konzentriere. Mantegazza und Sighele sind zwei fesselnde Intellektuelle, die, trotz ihrer gemeinsamen positivistischen Denkweise und vieler Divergenzen, absichtlich oder unwissentlich die deskriptiven – aber in Wirklichkeit präskriptiven – Gesetze der Physiognomie neu kodifizieren, wobei die Grenzen der Körperlichkeit ausgetestet und die Grenzen des Körpers, der Materie, der Natur und des Selbst neu definiert werden.

2 Unbändige Semiose: Paolo Mantegazzas Erregungszustände Im Vorwort seines 1883 erschienenen Bandes Fisonomia e mimica stellt Mantegazza fest: «La faccia umana interessa tutti, perché è un libro in cui ogni uomo ha bisogno di leggere ogni giorno e ogni ora della vita».11 Vorhersehbarerweise ruft es einen wahren «culto universale»12 hervor, denn:

10 Michel Foucault: Vorlesung 11, 17. März 1976. In: In Verteidigung der Gesellschaft: Vorlesungen am Collège de France (1975–76). Übersetzt von Michaela Ott. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004, S. 286. 11 Paolo Mantegazza: Fisonomia e mimica. Mailand: Dumolard 1883, S. xi. 12 Ebda., S. 30.

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È nella faccia che noi troviam riuniti in piccolo spazio i cinque sensi e tali e tanti nervi e tanti e cosi mobili muscoli da formare uno dei quadri più espressivi della natura umana. Noi, anche senza parlare, col volto esprimiamo [. . .] tutti i desideri e tutte le paure, tutta la vita multiforme, che si sprigiona dalla volta di quell’organo supremo, che è il nostro cervello.13

Gleichzeitig untergräbt Mantegazza den Glauben an die Physiognomie als exakte Wissenschaft und rückt stattdessen «le leggi generali che governano l’espressione nel mondo animale»14 in den Vordergrund. Mit anderen Worten: Er privilegiert nicht so sehr statische, regelmäßige, dauerhafte Gesichtszüge, sondern vielmehr die Mimik als Ausdruck flüchtiger Gefühle und Emotionen. Dennoch bleibt sein Standpunkt ambivalent und damit umso reizvoller. In Bezug auf die Tradition beabsichtigt Mantegazza, auf den Spuren seines Vorbilds Charles Darwin, seine Untersuchung auf «quei fenomeni mimici» zu beschränken, «che sono spontanei, automatici e che per la comune natura umana sono pressoché uguali in tutti i paesi del mondo, per cui costituiscono una vera lingua universale».15 Gesichtsausdrücke bilden eine Vielzahl von «segni convenzionali, dei quali convien conoscere il significato, come avviene per le parole di una lingua qualunque».16 Es sollte nicht völlig überraschen, dass Mantegazza ideologisch belastete Bedeutungen aus einem solchen semiotischen System extrapoliert. Wie für die meisten seiner Zeitgenossen – so zutiefst beunruhigend und inakzeptabel es für unsere heutigen Standards sein mag – legitimiert diese Entzifferung der «ricchezza mimica»17 eine hierarchische Konzeptualisierung der Subjekte nach den Parametern Klasse, Rasse und Geschlecht, wie sie die folgenden Auszüge verdeutlichen. L’uomo rozzo esprime subito tutto ciò che sente, l’uomo educato lo esprime con riserbo, non volendo turbare la quiete di chi gli sta vicino e soprattutto tenendo a dimostrare, che egli ha sempre in mano le redini dei suoi cavalli.18 La mimica faciale [sic] del bianco sta al disopra di quella del negro, e questa al disopra di quella della scimmia, appunto perché i muscoli faciali sono tanto più isolati quando dall’antropomorfo si sale verso l’uomo ariano.19

13 14 15 16 17 18 19

Ebda. Ebda., S. 22. Ebda., S. 106. Ebda., S. 105. Ebda., S. 112. Ebda., S. 292f. Ebda., S. 112.

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Diese somatisch-expressive Vertikalität, die eine unverhohlene Synthese des großen Fortschrittsnarrativs des 19. Jahrhunderts ist und deterministisch der Vorherrschaft des weißen, männlichen, bürgerlichen, europäischen Subjekts entspricht, findet zusätzliche Unterstützung in den moralischen und verhaltensbezogenen Merkmalen, die die physiognomische Polarität zwischen dem zivilisierten Individuum – dem mit Macht und Beherrschung seiner selbst ausgestatteten Dominator – und seinen Subalternen (innerhalb oder zwischen Kulturen und Ethnien) stärken, welche hinsichtlich ihrer Handlungen, Reaktionen, Vernunft oder Emotionalität als unfähig zur Selbstregulierung gelten. Mantegazzas Reflexionen über das Lachen im Zusammenhang mit Ethnizität, Alter und Geschlecht sind paradigmatisch für seine stark voreingenommenen Kategorisierungen: Il riso, che è piacevole nei suoi primi stadii, può divenire cosi intenso, cosi prolungato, da costituire una vera convulsione, che la volontà non riesce più a dominare. [. . .] Darwin ha potuto verificare che questo riso fino alle lagrime si verifica negli Indostani, nei Chinesi, nei Malesi [. . .], negli Abissini e negli Indigeni dell’America del Nord. Io per conto mio l’ho veduto in molti negri di diverse tribù e in Indiani dell’America meridionale.20 I fanciulli e le donne ridono più degli uomini e degli adulti, e perché più eccitabili e perché in essi è minore la forza moderatrice degli emisferi cerebrali.21 La mimica della donna è molto intensa, e povera di particolari per le espressioni intellettuali, ricchissima per la affettiva e la dolorosa [. . .]. Si potrebbe caratterizzare la mimica femminile con una sola parola, dicendo che rassomiglia assai a quella del fanciullo. Altre modificazioni secondarie son date all’espressione dalla debolezza muscolare della donna e dal suo prepotente bisogno di piacere e di sedurre. I moti violenti la stancano e le tolgono molta parte di grazia; così le smorfie intense del volto la fanno brutta e le preparano rughe precoci.22

Mantegazza stellt zudem fest: Noi, guardando una faccia umana, raccogliamo rapidamente, con una specie di stenografia interiore, i lineamenti più espressivi e caratteristici e serbiamo nella nostra memoria quell’immagine stenografica, che basta ai mutui riconoscimenti e agli usi comuni della vita.23

Auf der Grundlage dieses Systems von symbolischen Abkürzungen, die im Gesicht eingeschrieben sind, legt er die Triade vom Wilden, der Frau und des Kindes als ‹Andere› der Spezies homo europaeus fest, indem er Emotionen, die 20 Ebda., S. 117. 21 Ebda., S. 148. 22 Ebda., S. 288. 23 Ebda., S. 32.

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nicht nur synchron, sondern auch diachron funktionieren, spezifische kulturelle Werte zuweist. Hass zum Beispiel sei «l’espressione di una potentissima energia umana, che ha scritto più che mezza la nostra storia»24 und ist wie bei Darwin mit dem Atavismus verbunden, also mit einer überholten Vergangenheit und mit Rückständen, die in vermeintlich untergeordneten Ethnien oder Subjekten in der Gesellschaft seiner Zeit bestehen. Dieses Einverständnis über das Wahre, das Schöne und das Gute im Aufbau und in der Erhaltung von Ungleichheiten zwischen Personengruppen ist ein berüchtigtes Merkmal des Fin de Siècle. Ich jedoch möchte bei den meiner Meinung nach weniger kanonischen und eher transgressiven Aspekten von Mantegazzas Auseinandersetzung mit Physiognomie und Ausdruck verweilen, die ihn über seine erklärte Absicht hinausführen. Letztlich zeichnet Mantegazza ein anderes Gesicht, eine komplexere und beunruhigendere Physiognomie seines Kulturpanoramas, wo immer er die Vielfalt und Variabilität expressiver Manifestationen und die Rolle in den Vordergrund stellt, die Empfindungen und Emotionen als immanente Produktionen in verschwimmenden Grenzen spielen. Die Mimik, die er als «un’estracorrente dell’emozione e del pensiero»25 definiert, ist für ihn eine «energia centrifuga che si sprigiona dai centri nervosi».26 Sie stellt bestehende Klassifizierungen in Frage: Le faccie umane sono tanto variabili nelle loro proporzioni reciproche, nelle loro linee, nei loro accordi e disaccordi, che si può dire esserci nel mondo tanto faccie quanti sono gli uomini, e nessuna faccia essersi mai ripetuta due volte nel corso dei secoli [. . .]. Le differenze si fanno per gradi infinitamente piccoli e i poli più lontani si congiungono con tanti e tanti anelli intermedii, da confondere e da stancare il più acuto osservatore e il più abile ordinatore.27

Im Bewusstsein der Anstrengungen, die es braucht, «i mille responsi del cuore e del pensiero»,28 die dem menschlichen Gesicht innerhalb genauer Kategorien zugeschrieben sind, zu bedienen, erkennt Mantegazza Diskrepanzen, Dezentrierungen, Erweiterungen, die «ordine»29 und «misura»30 destabilisieren, insbesondere wenn er Empfindungen und Emotionen untersucht, die moralisch und intellektuell problematisch, neu und unkontrollierbar sind. Er zeigt uns, dass die Konzentration auf den Ausdruck bedeutet, der Bewegung und Perfor24 25 26 27 28 29 30

Ebda., S. 208. Ebda., S. 102. Ebda., S. 100. Ebda., S. 92. Ebda., S. 30. Ebda. Ebda.

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mativität, dem Leben, den kontingenten Modulationen Vorrang vor starren anatomischen Merkmalen und interpretativen Kategorien einzuräumen. Die körperliche Kurzschrift wird nicht lesbar, sondern vielmehr zu einer Herausforderung für Bedeutung und Wissen, und dies liegt zu einem großen Teil an dem spezifischen zeitlichen und räumlichen Kontext, in dem der Mensch agiert. Mantegazza nennt das späte 19. Jahrhundert «il secolo nevrosico» und widmet ihm 1887 das gleichnamige Buch. Seine Epoche sei «sapiente ma non felice»,31 wie die hohe Anzahl von mentaler Entfremdung und Suiziden zeige. Dies sei eines von vielen Ergebnissen dessen, was Mantegazza als «stato di irragionevolezza, di eccitabilità straordinaria»32 bezeichnet, sei es vorübergehend oder dauerhaft. Diese «irritabilità»33 und die damit verbundene Unordnung und Schwäche seien die Antwort der Nerven auf die übermäßigen Reize und Handlungen eines hektischen Lebens, eines «ambiente del troppo».34 Die Nachkommen der modernen Zivilisation durchliefen eine wahre anatomische und physiognomische Mutation, von bíos und zoë zu technē: «invece delle gambe [ha] le ruote della locomotive per camminare, [e] invece della lingua per parlare [ha] il telegrafo e il telefono».35 Selbst die Sehnerven und Sinne eines solchen bionischen Individuums seien von einer regelrechten «iperestesia morbosa»36 betroffen, und zwar so sehr, dass l’uomo nevrosico non ha soltanto cinque sensi, ma ne ha cinquecento, ne ha cinquemila e i suoi nervi divenuti tutti quanti microscopii, telescopii, microfoni, telefoni e galvanometri lo tengono in continuo turbamento, trasformandolo in uno specchio dalle cento facce, che raccoglie tutto quanto si muove al di sopra, al di sotto, nell’alto e nel profondo.37

Dieser kontinuierliche Erregungszustand, der paradoxerweise Ursache und Wirkung zugleich ist, erfordert entsprechend immer wieder neue Stimulanzien, vor allem jedoch die «ebbrezza fantasiosa e voluttuosa»38 von alkoholischen Getränken und Betäubungsmitteln. Mantegazza versucht zwar in zahlreichen seiner Werke, drogen- und alkoholbedingte Ausdrücke und Verhaltensweisen zu klassifizieren, zeigt aber dabei, dass die erhöhte physiologische und nervöse

31 Paolo Mantegazza: Il secolo nevrosico. Florenz: Barbera 1887, S. 27. 32 Ebda., S. 9. 33 Ebda., S. 23. 34 Ebda., S. 49. 35 Ebda., S. 48. 36 Ebda., S. 79. 37 Ebda., S. 79f. 38 Paolo Mantegazza: Quadri della natura umana. Feste ed ebbrezze. Bd. 1. Mailand: Brigola 1871, S. 73.

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Aktivität, die durch den exzessiven Druck des neurotischen Jahrhunderts verursacht wird, für ihn nicht nur ein Fluch, sondern im Einklang mit seinen sprichwörtlichen hedonistischen Neigungen auch ein Segen ist. Von seinem bahnbrechenden Artikel Sulle virtù igieniche e medicinali della coca e sugli alimenti nervosi in generale (1859), der ihn als ersten auszeichnet, der die Kokapflanze in Europa eingeführt hat, und seiner früheren Arbeit Fisiologia del piacere (1854) bis hin zu seinen späteren Bänden, die vollständig nervenaufreibenden Speisen gewidmet sind, verherrlicht und legitimiert Mantegazza diese Zustände der Erregung und transgressiven Erfahrungen jenseits von Gleichgewicht, Maß und Kontrolle. In Quadri della natura umana. Feste ed ebbrezze (1871) schreibt er: Gli alimenti nervosi contribuiscono assai a rendere più lieta la vita. Sotto la loro azione si aumenta sempre la coscienza di esistere, si mitigano o si dimenticano i dolori morali e si ridesta un’allegria, che può arrivare al massimo grado di felicità.39

Anstatt zu klassifizieren, um zu regulieren, bestimmt Mantegazza neue Begriffe, die diese neuen psychischen und emotionalen Zustände vorstellen, welche sich in neue (temporäre) physische und expressive Transformationen übertragen. So erzeugen die hochgradig kaffeehaltigen Nervenelemente «una forma speciale e fugace di ebbrezza, che io chiamerei caffeica. È una specie di eretismo convulso, accompagnato da una vivacità singolarissima di sensazioni, di pensieri e di movimenti, a cui può associarsi anche una irresistibile voglia di ridere».40 Es geht nicht so sehr darum, sich zurückzuhalten und diesen Zustand zu vermeiden, sondern vielmehr darum, erfolgreich alle Bedingungen zu schaffen, die es dem Einzelnen ermöglichen, diese Form des Vergnügens zu erleben, das umso kostbarer ist, weil es selten und elitär ist. Die von ihm so genannte «ebbrezza narcotica»41 der Kokablätter macht den Kokakonsumenten «l’uomo più beato del mondo»,42 ähnlich dem Trunkenbold und Opiumkonsumenten im Delirium. Mantegazza sucht sogar nach Gemeinsamkeiten zwischen den verschiedenen Formen der Intoxikation, die er schließlich unter der Rubrik «Ebbrezza baccante»43 zusammenfasst, die sich stark an der verzückten weiblichen Gefolgschaft des griechischen Gottes Dionysos orientiert. Diese Kon-Fusion (nicht nur physiognomisch, sondern auch pathognomisch, da sie die Systematisierung sowohl von Gesichtszügen als auch von Emotionen beeinflusst), die die Parameter der Klassifizierung ungültig macht, wird darüber hinaus aufgewertet, wenn zu lesen ist, dass der Alkoholkonsum sogar all

39 Ebda., S. 177f. 40 Ebda., S. 192. 41 Ebda., S. 194. 42 Ebda. 43 Ebda., S. 194f.

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die ethnischen und kulturellen Ungleichheiten zu beseitigen scheint, auf denen der positivistische Evolutionsgeist beruht: Alkohol ist für Mantegazza «alimento nervoso più cosmopolita»,44 insofern als [i]l selvaggio e l’uomo più colto della civiltà moderna bevono colla stessa voluttà le bevande alcooliche e per la stessa ragione: perché esse mutano rapidamente e profondamente il modo di sentire e di pensare; perché suscitano a lieto tumulto le più care reminiscenze, perché sono fra i più potenti e più facili generatori di piaceri.45

Mantegazzas Sprache entwickelt sich in Einklang mit der Erweiterung seiner Konzeptualisierung der Nutzungen und Möglichkeiten des Körpers von einer wissenschaftlichen zu einer nunmehr lyrischen, was im Übergang von der Hygiene zur Moral und schließlich zur Suche nach Glück sichtbar wird. Mantegazza belebt Vergnügungen, Begeisterung und Genuss wieder und zwar, indem er sie aufwertet, anstatt sie zu verurteilen. Deshalb gilt auch: So wie die unzähligen expressiven Facetten der «mimica» Regelmäßigkeit und Eindeutigkeit herausfordern, so gilt für die «infinita varietà»46 des Weins mit seinen unzähligen Geschmacksrichtungen, dass er «abbraccia tutte le note della voluttà gastronomica».47 Opium, Haschisch und vor allem Koka als gleichwertig zentrale Zweige «nell’albero della felicità»48 produzieren «alcune fra le voluttà più sublimi della fantasmagoria»,49 indem sie «ronzio soavissimo»,50 «scompligio generale [. . . .] delizia [. . . .] sovraeccitazione mentale»51 und die spektakulärsten Halluzinationen52 herbeiführen, die bereits in Mantegazzas wegweisendem Artikel über die erstaunliche südamerikanische Pflanze hervorstechen und gerade den Erregungszustand über ein «sentirsi intensamente vivo»53 betonen. Man könnte also argumentieren, dass bei Mantegazza der Ausdruck und die flüchtigen Temperamentsausbrüche, die er reproduziert, eben der Grund

44 Ebda., S. 385. 45 Ebda., S. 330. 46 Paolo Mantegazza: Quadri della natura umana. Feste ed ebbrezze. Bd. 2. Mailand: Brigola 1871, S. 401f. 47 Ebda., S. 401. 48 Ebda., S. 426. 49 Ebda., S. 439; vgl. auch S. 401–412. 50 Ebda., S. 532. 51 Ebda., S. 533. 52 Vgl. ebda., S. 537. 53 Ebda., S. 534. Vgl. auch Nicoletta Pireddu: Paolo Mantegazza: A Scientist and His Ecstasies. In: Paolo Mantegazza: The Physiology of Love and Other Writings. Herausgegeben und mit einer Einleitung und Anmerkungen versehen von Nicoletta Pireddu. Übersetzt von David Jacobson. Toronto: University of Toronto Press 2007, S. 7–12.

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sind, weshalb die geordnete Logik der Naturwissenschaften zugunsten des obskuren Objekts der Untersuchung (wenn nicht gar der Wahrsagerei) des psychologischen Empirismus zurücktritt.

3 Suggestion und moralische Intoxikation: Scipio Sigheles Gruppen-Physiognomie Dieses hedonistische Panorama wäre dennoch unvollständig ohne eine zusätzliche Wendung, mit der Mantegazza – wie noch zu zeigen sein wird − die Vitalität des neurotischen Jahrhunderts in den Bereich hineinträgt, in dem Scipio Sighele tätig ist. Tatsächlich unterstreicht Mantegazza schließlich die Ambivalenz dieser Erregungserfahrungen, die für ihren hedonistischen Aspekt ebenso kraftvoll sind wie für ihr negatives, pathologisches Gegenextrem: die Trunkenheit als schmerzhafter Zustand, eine Vergiftungserfahrung «che ci fa desiderare la morte»,54 in einer Freudʼschen Eros/Thanatos-Dichotomie ante litteram. Wobei anzumerken ist, dass durch die Rhetorik des Exzesses selbst in diesem Fall mittels den von Betäubungsmitteln hervorgerufenen Wonnen durch erschreckende Alpträume und Qualen ausgeglichen wird.55 Auch der Wein «percorre tutta la scala che passa dall’inno all’orgia, dall’entusiasmo generoso all’abbrutimento»,56 denn Alkohol sei gleichzeitig «balsamo e veleno»,57 ein wahres Pharmakon. Nichts ist selbstidentisch oder eindeutig. Doch anstatt die Duplizität dieses psychophysischen Spektrums im Namen von Ordnung und Systematisierung zu unterdrücken, billigt Mantegazza sie aufgrund ihrer unkontrollierbaren und unvorhersehbaren Aspekte. Gegenteilige, koexistierende Exzesse sind ebenso verlockend, eröffnen sie doch den Reiz des Risikos und der Neuheit über physische und moralische Grenzen hinaus. Und unter der Ägide eben dieser Unsicherheit, die die Selbsterhaltung und Selbstregulierung gefährdet, verortet Mantegazza den Zustand des Individuums im Fin de Siècle, für das die Neurose mit ihren gegensätzlichen Triebkräften die neue Normalität ist. Zu leben bedeute inzwischen «camminare lungo quello stretto argine che separa i due abissi; la noia e l’orgia; il diletto e il vizio; l’eccitamento e la lussuria; la poesia e il delirium tremens».58

54 55 56 57 58

Paolo Mantegazza: Quadri, Bd. 1, S. 195. Vgl. ebda., S. 538. Ebda., S. 402. Ebda., S. 352f. Ebda., S. 198.

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Wie sein Ansatz von Physiognomie und Expression bestätigt, kann Mantegazza daher als Anti-Lombroso betrachtet werden. Man bedenke zum Vergleich nur Cesare Lombrosos berüchtigte somatische und moralische Klassifikationen devianter Individuen in seinem wegweisenden Werk L’uomo delinquente (1876) und in La donna delinquente. La prostituta e la donna normale (1893), die seine kriminal-anthropologischen Schule begründen. Doch gerade in der Genealogie Lombrosos findet sich eine Figur, die, wenn auch oft unwissentlich, diese ideologische Kooptation physiognomischer Gesetzmäßigkeiten untergräbt und moralische und rechtliche Grauzonen hervorhebt, die durch die Schwächung der individuellen Verantwortung und das Aufgeben des individuellen Willens zu Gunsten der Masse hervorgerufen werden − wobei ‹Masse› nicht als eine unterdrückte Summe von Individuen, sondern als eine spezifische physische und psychologische Entität verstanden wird. Im selben Jahr, 1891, in dem Mantegazza weitere Aspekte der Suche nach Vergnügen und Emotionen in Epicuro. Saggio su una filosofia del bello untersucht, veröffentlicht der Jurist, Soziologe und Psychologe Scipio Sighele seine Studie La folla delinquente, deren Titel bereits an deviante Szenarien bei Lombroso erinnert und sich weit von Mantegazzas hedonistischem Streben entfernt. Sighele betont die negativen, beunruhigenden Fundamente jener zentrifugalen Energie von Emotionen und Exzessen, die sich der rationalen Kontrolle und der sozialen Ordnung entziehen. Er bricht die starren Taxonomien Lombrosos auf und konzentriert sich darauf, wie temporäre Impulse die physische, moralische und mentale Physiognomie von Individuen, die in einer Gruppe versammelt sind, verändern können. Mit seiner Untersuchung von gefährlich destabilisierenden, kollektiven Verhaltensweisen zeichnet er eine verunsichernde Physiognomie der Transgression, die ein unvermeidliches – das heißt: letztlich zu akzeptierendes – Porträt der sozialen und psychologischen Komplexität seiner Zeit bietet. Sigheles Menschenmenge – vom Paar bis zur Masse – materialisiert die uralte Angst vor dem Selbstverlust, den Mantegazza dagegen durch den Konsum von ‹Nervennahrung› und das Ausleben der eigenen Freuden verherrlicht. Noch konkreter zeigt uns Sighele, dass der wissenschaftliche Versuch, den Menschen wie jedes andere natürliche Element zu beherrschen, nicht nur durch unser Inneres gefährdet wird, durch unsere unwägbaren, willkürlichen Temperamentsausbrüche (wie in Mantegazzas «mimica») und nicht nur durch die allgemein wahrgenommene Umwelt, sondern dass diese Gefahr vor allem von unseren eigenen Mitmenschen herrührt. Sie infizieren und hypnotisieren uns,59 machen uns verletzlich

59 Vgl. Paolo Mantegazza: Le estasi umane. Mailand: Paolo Mantegazza Editore 1887. Im ersten Kapitel geht Mantegazza hier auf die Zusammenhänge zwischen Ekstase, Hypnose, Vergnügen

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und empfänglich für die unkontrollierbaren Emotionen und Leidenschaften anderer, jener ‹anderen›, die uns nahe stehen, nach und nach aber auch derjenigen ‹anderen›, die nicht in unserer unmittelbaren Nähe sind. In Sigheles Theorie der kriminellen Masse überschreitet das kollektive Verhalten unter dem gefährlichen Einfluss dessen, was er «suggestione» nennt, moralische und rechtliche Grenzen. Im Gegensatz zum optimistischen Porträt des sich nach Vergnügen und Glück sehnenden Individuums bei Mantegazza, ist Sigheles Masse, als kollektives Subjekt, im Allgemeinen «disposta più al male che al bene».60 Sie hat eine katastrophale Wirkung auf einzelne Individuen, die es inspiriert vom Guten wagen, sich diesem Einfluss zu widersetzen: «ci vuole una forza di carattere poco comune per reagire contro gli effetti che la folla di cui si fa parte commette».61 Und nur wenigen gelingt dies, weil der Mob sie zum Unrecht nötigt. Die Masse ist aufgrund ihrer «organizzazione subitanea»62 unbegreiflich, da wir in ihr keine «preesistenza ordinata di uno scopo comune»63 finden, und sie funktioniert als heterogenes und unbeständiges menschliches Aggregat. Dennoch postuliert Sighele die Interventionen von «qualche cosa che tien luogo provvisoriamente di pensiero comune»,64 obwohl es nicht erklärt werden kann – wie ein Geräusch, eine Stimme, ein Schrei (dies wurde in der damaligen Literatur bereits als ‹die Seele der Masse› bezeichnet) –, was die Gruppe durch Nachahmung «ai più orribili eccessi»65 führt. Am Beispiel der Französischen Revolution, als «il popolo era una belva, insaziabile nella sua sete di rapina e di sangue»,66 bezweifelt Sighele, dass die Gewalt der Masse auf das Erwachen von Tötungsinstinkten zurückzuführen ist. Der Ursprung dieses extremen kollektiven Verhaltens liegt vielmehr im Einfluss, der

und Rausch (ebbrezza) ein, die allesamt Ausdruck eines «più che grandissimo» (ebda., S. 5) sind, eines Superlativs, den er mit dem mathematischen Unendlichkeitssymbol darstellen würde (vgl. ebda., S. 6). Insbesondere die Ekstase sei «uno stato eccezionale, passeggero» (ebda., S. 7) und gekennzeichnet durch «un eccesso unilaterale di funzione del pensiero o di un affetto» (ebda., S. 8) «in condizioni di esaltatissima attività» (ebda.), auf das sich das Bewusstsein in Isolation von der Welt vollständig konzentriert und «l’energia intensa, indefinita e infinibile» (ebda.) absorbiert. Diese mentale Aussetzung, Erhöhung und Konzentration der psychischen Kräfte in nur einem Punkt ist für Mantegazza «una forma d’ipnotismo più alta e più rara» (ebda., S. 9), eine entscheidende Erfahrung in Sigheles eigenen Theorien der kollektiven Psychologie. 60 Scipio Sighele: La folla delinquente. Turin: Bocca 1891, S. 37. 61 Ebda., S. 38. 62 Ebda., S. 18. 63 Ebda. 64 Ebda., S. 19. 65 Ebda. 66 Ebda., S. 49.

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von einigen korrupten Individuen auf die gesamte Gruppe ausgeübt wird, wie «pazzi e degenerati d’ogni specie»67 (ein positivistisches Echo Lombrosos klingt hier deutlich nach), «facilmente eccitabili e per la loro debolezza psichica facilmente trascinabili a qualunque eccesso».68 Sobald eine Gruppe ein hohes Maß an Paroxysmus erreicht habe, komme sie um eine Straftat nicht umhin. Signifikant ist jedoch, dass die intrinsische brutale Bosheit, die den isolierten oder verrückten Kriminellen dazu veranlasse, ein Verbrechen zu begehen, immer die maximale Strafe erhalten sollte. Bei einer Gruppensituation ist Sighele hingegen zurückhaltender, gerade weil ein Mensch in einer Gruppe Morde begehen kann, ohne ein geborener Krimineller zu sein. Das Verbrechen ließe sich schlichtweg auf eine «ubbriacatura morale»69 zurückführen und erst im Nachhinein verstehe der Einzelne das Wesen seiner Handlungen, «come se si destasse da un sogno».70 Sighele glaubt, dass «[c]iascuno sorte da natura un dato carattere che dà l’intonazione e la fisonomia alla sua condotta».71 Doch damit nicht genug. Von der Suggestivkraft eines verstörten Individuums über ein anderes bis hin zur Eskalation desselben Prozesses aufgrund einer ansteckenden Kettenreaktion in einer Masse zeigt das Phänomen der Suggestion für Sighele, dass «la patologia segue le identiche leggi della fisiologia»72. Für diese Schlussfolgerung über die Psychologie der Masse zieht er den französischen Philosophen Alfred Espinas heran. Dieser analysiert, wie Wächterwespen einen ganzen Schwarm vor Gefahr warnen, und erklärt die Kommunikation von Emotionen in der Masse – «un’effervescenza generale»73 – durch besondere physiologische Bedingungen, die durch körperliche Bewegung und Mimikry ermöglicht werden (was für ihn Physiognomie bedeutet, weil wir nicht nur mit unserem Gehirn denken, sondern mit unserem gesamten Nervensystem). Ebenso wendet der französische Wissenschaftler Jean Rambosson in seinem Phénomènes nerveux, intellectuels et moraux. Leur transmission par contagion74 die Gesetze der Transformation und Transmission von expressiven Bewegungen auf nervöse und mentale Phänomene an und behauptet, dass jeder psychische Zustand einer zerebralen Bewegung entspricht, die sich in Physiognomie, Ausdruck, Verhalten und Gesten

67 Ebda., S. 60. 68 Ebda. 69 Ebda., S. 49. 70 Ebda. 71 Ebda., S. 85. 72 Ebda., S. 27. 73 Ebda., S. 33. 74 Jean Rambosson: Phénomènes nerveux, intellectuels et moraux. Leur transmission par contagion. Paris: Librairie Firmin-Didot 1883.

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übersetzt und sich räumlich auch über das Individuum selbst hinaus ausbreitet. Es handelt sich also um einen Zustand, der sich wie eine Infektionskrankheit auf die eigenen Mitmenschen ausdehnt. Dies sei bei Lachen, Gähnen und Trauer beispielsweise der Fall. Deshalb herrschen gemäß Sighele in der Masse brutale Instinkte vor, da jede Emotion, die ein Individuum empfindet und zeigt, an diese weitergegeben werde. Gleichgültig, ob diese Emotion Wut oder Ärger sei, sogleich würden Gesicht und Haltung jedes Einzelnen genau diesen Ausdruck mit angespannten oder tragischen Nuancen zeigen. Die Physiognomie bilde einen bestimmten Ausdruck ab, weil auch die spezifische Emotion, die ihn angetrieben hat, vorhanden sei. Sigheles zugrundeliegende Analogie ist hier die des Individuums unter Hypnose, das alle Zustände durchläuft, die den ihm befohlenen Positionen entsprechen. Dies gilt sowohl für große Gruppen, die vom sogenannten meneur geleitet werden – dem Führer der Masse, dem Hypnotiseur, dem «suggestionizer», wie ich es in meiner englischen Übersetzung von Sigheles Werken75 geschrieben habe – als auch für die elementare Form von Sigheles krimineller Masse, nämlich dem kriminellen Doppel, dem er den Band La coppia criminale widmet. Diese unberechenbare Reaktion und die intensive Ausbreitung von Emotionen in einer Masse veranlasst Sighele, ein geschlechtsspezifisches Gleichnis zu schaffen, das in seinen Werken mit minimalen Variationen wiederkehrt: «La folla, come la donna, ha una psicologia estrema, capace di tutti gli eccessi, forse capace solo di eccessi [. . .] mai o quasi mai mediocre e misurata nei suoi sentimenti».76 Wie seine Zeitgenossen so ist auch Sighele der politisch falschen Überzeugung, dass das weibliche Subjekt – das sich nicht zufällig gerade mit dem Feminismus auseinandersetzt – sowohl im Guten als auch im Bösen übertreibe, da es seinen «temperamenti estremi»77 unterliege. Und wenn sie in Gruppen versammelt sind, sind Frauen für ihn die Quintessenz der Barbarei, da sie Exzesse begingen, die viel grausamer seien als in männlichen Massen. Dies spricht Bände über die Verschlossenheit der Intellektuellen gegenüber neuen weiblichen Subjekten, die andere Emotionen, Triebe und Moralvorstellungen zeigen, als jene, die mit dem von Männern produzierten und kultivierten Frauenbild verbunden sind. In der Tat zeichnet Sighele in seiner Studie La donna nova die allgemei-

75 Vgl. Nicoletta Pireddu: A Note on the Texts and Their Translations. In: Scipio Sighele: The Criminal Crowd and Other Writings on Mass Society. Herausgegeben und mit einer Einleitung und Anmerkungen versehen von Nicoletta Pireddu. Übersetzt von Nicoletta Pireddu and Andrew Robbins. Mit einem Vorwort von Tom Huhn. Toronto: University of Toronto Press 2018, S. LXXV. 76 Scipio Sighele: L’intelligenza della folla. Turin: Bocca 1903, S. 130. 77 Scipio Sighele: La donna nova. Rom: Enrico Voghera 1898, S. 26f.

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nen Linien der weiblichen Psychologie, wie dies die Wissenschaft tat, aber mit dem Verständnis, dass dieses Porträt nicht allen Physiognomien gleicht, da «la fisonomia morale della donna è – come quella fisica – d’una strana variabilità, e nella donna di oggi voi non potreste sempre riconoscere la donna di ieri».78 Abgesehen von der offensichtlichen Linse des Vorurteils, durch die Sighele Geschlechterfragen reflektiert, unterstreichen diese Äußerungen, wie der Reichtum, die Kontingenz und die Veränderlichkeit von Erfahrungen die Essenz des Lebens effektiver (oder vielleicht sollte man sagen: realistischer) wiedergeben können als die kodifizierte, statische und partielle Reproduktion von menschlichen Typen. Nicht zufällig hat Sighele ein freieres Verständnis des Begriffs ‹Physiognomie› als Lombroso. Er versteht diese als äußere Beschreibung von etwas, das viel komplizierter ist als Körperlichkeit, das temporär und nicht dauerhaft und letztlich eher psychologischer Natur als anatomisch ist. Wenn «fisionomia» und «mimica» körperliche Übersetzungen von inneren Impulsen sind, erfordert das Lesen dieses körperlichen Textes als textueller Korpus einen ausgefeilteren hermeneutischen Ansatz, weil die referentielle Realität selbst exponentiell komplexer geworden ist. Das beschleunigte, krampfhafte «neurotische Jahrhundert» löscht nicht nur die Grenzen zwischen den Erfahrungen aus, sondern, radikaler, zwischen den Individuen.

4 Unsichtbare Alchemie Mit der Physiognomie lösen Mantegazza und Sighele den disziplinierten und produktiven Körper ab, der durch die Biopolitik reguliert wird. Mantegazza untergräbt den Beitrag der Physiognomie zur Typisierung und Standardisierung des Menschen als Spezies, indem er exzentrische, transgressive und abnormale individuelle Praktiken in den Vordergrund stellt. Sighele hinterfragt die Atomisierung von Kollektivität zum Zwecke der Führung, indem er die beunruhigende soziale und moralische Physiognomie der Masse skizziert. Letztendlich ist es genau die Bedeutung von ‹Mensch› (als Spezies und Individuum), die sich um die Jahrhundertwende ausdehnt und verkompliziert. Sie ist sicherlich viel tiefgehender als seine visuelle Synthese durch die Physiognomie und weitaus unregierbarer, als es sich biopolitische Apparate wünschen. Im Jahr 1900, in dem Mantegazza und Sighele noch leben und aktiv sind, erfolgt nicht nur die Veröffentlichung von Freuds Die Traumdeutung – mit ihrer bekannten Untersuchung der unergründlichen Tiefen des Unbewussten (nie gänzlich interpretierbar und 78 Ebda., S. 91.

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wie die Analyse selbst endlich und zugleich unendlich) –, sondern auch die von Henri Bergsons Le rire. Hier wird das Lachen als Antwort auf die zugrundeliegende Frage verstanden, was uns zu Menschen macht, uns von anderen Lebewesen unterscheidet und die Grenzen innerhalb und außerhalb unserer selbst verringert. Mantegazza, der einerseits die Anthropologie als die natürliche Geschichte des Menschen definiert (und die zu studieren sei wie die Pflanzen und Felsen), erklärt andererseits: «Non sentire è delle pietre e io voglio essere uomo».79 Und Sighele erkennt in Eva moderna, dass es gerade der Druck durch starke Emotionen und Empfindungen ist, der das Kind – wenn auch zu schnell – zu einem Mann mache.80 Diese übermäßigen Erfahrungen unterstreichen einen ambivalenten menschlichen Zustand, der einer Art primitiven, atavistischen Regression unterworfen und zugleich einer neuen, modernen, übersteigerten und hemmungslosen Geselligkeit ausgesetzt ist. Alles, was sich im Inneren des Individuums befindet – seit früheren Zeiten der Nicht-Individuation verborgen, unterdrückt, begraben –, steht nicht mehr im Einklang mit dem, was man aus dessen Gesichtsausdruck erlesen kann. Die Physiognomie in ihrer strikten, wörtlichen Funktion einer in Lavaters Theorie noch gültigen korrespondierenden Analogie reicht im «neurotischen Jahrhundert» nicht mehr aus. Der Begriff wird zunehmend zu einer Metapher, die nur im Plural verwendet werden kann, um eine Realität zu beschreiben, die immer tiefer und weiter, vielschichtiger und ungreifbarer wird. Diese Realität ist nicht mehr nur Physis (Materie), da sie gestört und bereichert wird durch das Nicht-Gesehene, Nicht-Sichtbare, Nicht-Greifbare, und sie ist auch nicht völlig erkennbar (jenseits des Nomos) oder übersetzbar. Es verhält sich ebenso wie mit dem Realismus und Naturalismus des 19. Jahrhunderts, welche die biologisch-naturalistische Perspektive der physiognomischen Repräsentation auf den Bereich der Ästhetik übertragen und sich als zu oberflächlich erweisen, um die polyedrische moderne Welt zu erklären. Als viel effektiver als die innerlich abgekürzte und nach transparenter Übersetzung strebende Physiognomie Mantegazzas erweist sich schließlich die Rhetorik der Chemie – jene experimentelle Wissenschaft unergründlicher Kombinationen und unvorhersehbarer Reaktionen. Sie vermag es, die Mehrdeutigkeit, Gleichzeitigkeit, Vielfalt und Unvollständigkeit, die die individuelle Psyche ebenso wie soziale Interaktionen prägen, besser zu erfassen. Sighele stellt diesen Zusammenhang wiederholt in La folla delinquente dar: «Come dalle reazioni chimiche fra vari corpi si hanno sostanze nuove e diverse, così dalle reazioni psicologiche fra vari sentimenti

79 Paolo Mantegazza: Le estasi umane, S. 4. 80 Vgl. Scipio Sighele: Eva moderna. Mailand: Treves 1910, S. 285.

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sorgeranno emozioni nuove e terribili, ignote fino allora all’anima umana».81 Sein Essay Contro il parlamentarismo wird seinen Fokus auf die «complicatissime leggi della chimica»82 legen, die die menschliche Psyche selbst in politischen Kontexten regieren und zu «quei fenomeni sempre sorprendenti, spesso inspiegabili, che si chiamano combinazioni e fermentazioni»83 führen. Auch Mantegazza vertraut auf die «inesauste magie e magiche sorprese»84 der Wissenschaft, um eine Zukunft ohne Hemmungen, sondern vielmehr mit erweiterten Möglichkeiten für hedonistische Erfahrungen zu konzipieren. Dabei steht die Chemie im Mittelpunkt seiner prophetischen Vision als kraftvolle Substitution der Natur: anche la ricca natura sarà fra pochi secoli ben poca cosa dinanzi ai tanti eteri, che la chimica saprà fabbricarci, e che ognuno a modo suo, ucciderà e inebbrierà questi nostri nervi così avidi di sentire, e farà così variamente pensare queste nostre cellule tanto assetate di pensiero.85

Mit seiner weitsichtigen Projektion auf Dimensionen, Substanzen und kommende Epochen, in denen Natur und organische Materie nicht ausreichen werden, übersteigt Mantegazza somit sogar Sigheles Vorstellung, indem er uns einen Blick auf eine neue, erweiterte Realität und Körperlichkeit gewährt, die nicht nur durch das Geheimnisvolle geformt, sondern auch durch die Intervention des Synthetischen modifiziert wurde. Dies jedoch klingt bereits nach einer anderen Geschichte und einer anderen Physiognomie, die uns viel näher ist. Sie klingt nach der Geschichte und der Physiognomie unseres eigenen ebenso neurotischen und ineinander verwobenen, aber nicht unbedingt umgänglichen (und sicherlich künstlicheren und virtuelleren) dritten Jahrtausends, in dem der Mensch vom faszinierenden Forschungsobjekt der Anthropologie zum verderblichen und derealisierten Protagonisten des Anthropozäns avanciert und ernstlich vom Aussterben bedroht ist, anstatt auf der berauschenden Welle der Expansion zu reiten. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Sainab Sandra Wildschütz-Omar

81 Scipio Sighele: Folla, S. 43f. 82 Scipio Sighele: La delinquenza settaria. Mailand: Treves 1897, S. 236. 83 Ebda. Vgl. auch Nicoletta Pireddu: Alchemies of the Collective Soul: Scipio Sighele’s Crimes and Punishments. In: Scipio Sighele: The Criminal Crowd and Other Writings on Mass Society, S. XXIV–XXV. 84 Paolo Mantegazza: Quadri, Bd. 2, S. 681. 85 Ebda., S. 201.

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Anthropologie der Tätowierung bei Cesare Lombroso 1 Einleitung Il volgo ed anche il mondo scientifico credono in buona fede che il carcere, specie il cellulare, sia un organismo muto e paralitico o privo di lingua e di mani, perché la legge gli ha imposto di tacere e di restare immobile. Ma siccome nessun decreto, per quanto sostenuto dalla forza, può contro la natura delle cose, così quest’organismo parla, si muove e qualche volta ferisce ed uccide a dispetto di tutti i decreti; solo che, come avviene sempre quando una necessità umana è in conflitto con una legge, esso si esplica per le vie meno note e sempre sotterranee e nascoste: sulle mura del carcere, sugli orci da bere, sui legni del letto, sui margini dei libri che loro si concedono nell’idea di moralizzarli, sulla carta che ravvolge i medicamenti, perfino sulle mobili sabbie delle gallerie aperte al passeggio, perfino sui vestiti, in cui imprimono i loro pensieri col ricamo.1

Obwohl in dieser Auflistung von versteckten Schriftarten die Tätowierung anfänglich fehlt, wird nach einigen Seiten der Palimsesti del carcere auch diese Sprache als natürliches und kulturelles Phänomen analysiert. Das Interessante dieser Palimsesti liegt in dieser Komplexität: Inwieweit ist der Gedankenausdruck auf eine instinktive Tendenz, auf «die Natur der Dinge» zurück zu führen? Worauf gründet das «menschliche Bedürfnis» nach dem gewählten Wort? Cesare Lombroso hat die Werke des Geistes der Gefangenen beschrieben, die durch das Gesetz stumm und bewegungslos gemacht wurden, aber natürlich den Wunsch hegten, Spuren ihrer Identität zu hinterlassen und zwar auf Mauern, Keramik, Holz, Sand, auf Kleidern und natürlich auf ihrer Haut. Lombroso zufolge ist die Tätowierung kennzeichnend für Kriminelle und Prostituierte auch vor der Inhaftierung und signalisiert ein primitives und wildes Verhalten, das den eigenen Körper ritzt, der eine geringe Schmerzsensibilität aufweist. Handelt es sich also um Natur oder Kultur? Im ersten Teil dieser Abhandlung wird der Gedankengang von Lombroso bezüglich des Atavismus der Tätowierung analysiert, da diese kulturelle Praxis eine wichtige Rolle in seinen Schriften einnimmt. Es folgt ein zweiter Teil, in dem der Versuch unternommen wird,

1 Cesare Lombroso: Palimsesti del carcere. Herausgegeben von Giuseppe Zaccaria. Florenz: Ponte alle Grazie 1996, S. 37. https://doi.org/10.1515/9783110665055-014

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den Stil der Körperschrift als Ausdruck eines Kompromisses zwischen einem gesetzlich auferlegten Schweigen und einer Ausdrucksform zu ergründen, die auf «weniger bekannten und stets untergründigen und versteckten Wegen Gedanken und Gefühlen Stimme verleiht».2

2 Atavismus Die in Palimsesti del carcere analysierten Körper zeigen geringes Schmerzempfinden beim Einritzen von Buchstaben, Wörtern und Bildern aufgrund des Atavismus, d.h. einer Hemmung des Wachstums, der Lombroso zufolge Männer und Frauen mit Tieren und Wilden gleichsetzt. Gemäß dem deutschen Wissenschaftler Ernst H. Haeckel durchläuft jedes Individuum von der Zeugung bis zur Reife die gesamte Evolution; es kann aber durchaus geschehen, dass die Ontogenese (die individuelle Entwicklung) von der Phylogenetik (die Entwicklung der Spezies) abweicht. Hierin liegt nach Haeckel auch die Unterschiede begründet, die sowohl zwischen einzelnen Menschen als auch Völkern bestehen können. Schon Anfang der 1860er Jahre, als er als Militärarzt in Kalabrien arbeitete, registrierte Lombroso folgende Augenfälligkeiten: Im Norden, zwischen Pavia und Verona, hat er Kretins mit Kropf und an Pellagra Leidende mit geschädigter Haut beobachtet sowie ein Verhalten der Irren, das er im Süden nicht wiederfindet, wo die Meeresluft voller Jod ist und der Mais für die Polenta gesund wächst. Ihm wird somit bewusst, dass man in Italien an anderen Krankheiten leidet und dass die Untersuchung der Rekruten sowie die Erfahrungen in den Feldkliniken ihm zu bewerten erlauben, ob die Krankheiten von der Rasse oder aber von der Umgebung abhängen. Auch die Begegnung mit jungen Soldaten aus allen Teilen Italiens kann bei der Behandlung und der Untersuchung des Verhaltens nützlich sein: Tätowierungen sind z.B. bei 134 Artilleriesoldaten vorhanden, die aus armen Bevölkerungsschichten stammen. Was bedeutet das? Dieser Anhaltspunkt muss – so erklärt Lombroso einige Jahre später – mit weiteren in Krankenhäusern, auf den Feldern, in den Gefängnissen und in weiteren Abhandlungen gefundenen Informationen in Zusammenhang gebracht werden. In der Zwischenzeit sammelt Lombroso in der Psychiatrie von Pesaro neue Elemente zum Körper: Gewicht, Statur, Schädelmaße, Form der Ohren, der Nase, des Mundes sowie Hände, Füße und Tätowierungen. Er liest alsdann die englischen, deutschen und französischen Studien zur Geschichte und Geographie von Völkern, die von reisenden Anthropologen besucht wurden; Lombroso selbst verlässt Europa nie. So kommt er zur 2 Vgl. ebd.

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Einsicht, dass die in Psychiatrien und Gefängnissen Eingekerkerten in vielerlei Hinsicht dem primitiven Menschen ähneln: atavistischer Körper, rückständiges Benehmen, d.h. geringes Schmerzempfinden, unstetige Leidenschaften, Vorliebe für Müßiggang und Orgien, geringe Eignung zur Arbeit, religiöser Fetischismus, eigenartige Sprache. In den folgenden Jahren erkennt Lombroso im Atavismus den Hauptgrund für abweichendes Verhalten. Seiner Meinung nach sind Personen, die sich auf seltsame Weise verhalten und insbesondere Straftäter, vor allem körperlich krank (da von Natur aus atavistisch) und demzufolge verhaltensgestört (da kulturell primitiv). Diese Hypothese verleiht allen Schriften Lombrosos ihre Form, ab Uomo bianco e l’uomo di colore (1871) und Uomo delinquente (1876) in den verschiedenen Ausgaben bis zu jener des Jahres 1896. Zu jenem Zeitpunkt ist die Zahl der tätowierten Individuen beträchtlich: 10.234. Von diesen sind 3.886 redliche Soldaten und 6.348 Verbrecher, Prostituierte und kriminelle Soldaten. Eine natürliche, geistige und körperliche Unterlegenheit bringe einige Menschen dazu, ihrem Körper untilgbare Zeichen, Zeichnungen, Symbole und Schriften einzubrennen. Ma la prima, principalissima causa della diffusione di questo uso fra noi, io credo sia l’atavismo; o quell’altra specie di atavismo storico, che è la tradizione, comeché il tatuaggio sia uno dei caratteri speciali dell’uomo primitivo, e di quello in stato di selvatichezza [. . .] Nulla è più naturale che un’usanza tanto diffusa tra i selvaggi e fra i popoli preistorici torni a ripullulare in mezzo a quelle classi umane che, come i bassi fondi marini, mantengono la stessa temperatura, ripetono le usanze, le superstizioni, perfino le canzoni dei popoli primitivi, e che hanno comune con questi la stessa violenza delle passioni, la stessa torpida sensibilità, la stessa puerile vanità, il lungo ozio, e, nelle meretrici, la nudità, che sono nei selvaggi i precipui incentivi a quella strana costumanza.3

Der natürliche Grund für den Atavismus sei mit dem kulturellen verstrickt, der aus Bräuchen, Aberglauben, Liedern und aus auf die Sitten der wilden Bevölkerungen zurückführbaren Verhaltensweisen bestehe: eine gewisse Religiosität, die mimetische Tendenz, der Gruppen- oder Sektengeist, die Intensität bestimmter Leidenschaften, die Gewohnheit zum Müßiggang, die Nacktheit und die Eitelkeit. Es gehe nicht darum, dem Stereotyp des primitiven Menschen, der in Bauern,

3 Cesare Lombroso: L’uomo delinquente. Quinta edizione 1897. Herausgegeben von Armando Torno. Mailand: Bompiani 2013, S. 409. Seinen Überlegungen zur Tätowierung verleiht Lombroso Ausdruck in: Cesare Lombroso: Sul tatuaggio degli italiani. In: Gazzetta medica italiana, Lombardia. Appendice medico-legale (Februar 1864), S. 64–90; ders.: Sul tatuaggio in Italia in ispecie fra i delinquenti. Studio medico legale del prof. Cesare Lombroso. In: Rivista di discipline carcerarie 5 (1875), S. 113–126. Mit der kulturellen Praxis der Tätowierung hatten sich in Europa vor Lombroso folgende Physiognomiker auseinandersetzt: Félix Hutin: Recherches sur les tatouages. Paris: Baillière 1853; Ambroise Tardieu: Étude médico-légale sur le tatouage considéré comme signe d’identité. In: Annales d’hygiène 2.3 (1855), S. 171–206.

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Seeleuten, Hirten, Soldaten und Kriminellen der modernen Zeit überlebt habe, übertriebene Ausmaße zu verleihen. Es sei hingegen besser, die Abweichung mit der Evidenz der Hypotyposis zu beschreiben: Die Anzahl der Tätowierungen und die Körperteile, auf denen sie sich befinden, legen bereits wichtige Entscheidungen nahe. Ein oder zwei Tätowierungen auf dem Arm bedeuten etwas anderes als ein Körper, der bis zum Gesäß und den Genitalien mit Schriften und Bildern bedeckt ist. Was die Inhalte betrifft, so werden diese von Lombroso erstmals in einem Artikel in der Gazzetta medica italiana, Lombardia im Jahr 1864 beschrieben. In der Folge erweitert sich seine Sammlung an Tätowierungen auch dank der Ärzte und Anthropologen, die am Archivio di Psichiatria mitarbeiten: Diese Beiträge dienen als Quelle des mit der Zeit wachsenden Kapitels, das Lombroso in den verschiedenen Auflagen des Uomo delinquente der Tätowierung als Element des kulturellen Atavismus4 widmet.

3 Der Stil der Tätowierung Una delle più singolari offese che abbia fatto l’uomo alla sua pelle è quella del tatuaggio, parola che deve comprendere tutti i segni indelebili praticati colle punture e col taglio, sia soli, sia associati a materie coloranti che vengono depositate sotto alla pelle o nello spessore del derma.5

So schreibt der Arzt und Anthropologe Paolo Mantegazza Mitte des 19. Jahrhunderts und stigmatisiert somit jene, die sich willentlich Leid zufügen. Warum sollte man eine Reihe von farbigen Pigmenten in die Dermis einfügen, um ein bleibendes Bild zu schaffen? Es sind nur einige Jahrzehnte vergangen, seitdem

4 Etwa vierzig Jahre lang, zwischen 1880 und 1918, erscheinen etwa siebzig Artikel zur Tätowierung allein im Archivio di psichiatria. Zur Geschichte der Tätowierung in Italien vgl. Pierpaolo Leschiutta: Le pergamene viventi. Interpretazioni del tatuaggio nell’antropologia italiana positiva. In: La ricerca folclorica 27 (1993), S. 129–138; Luisa Gnecchi Ruscone: Tattoo. La storia e le origini in Italia. Mailand: Silvana 2017; mit besonderem Bezug auf Lombroso vgl. Carine Trevisan: L’art sauvage de l’autobiographie: les graffiti corporels chez Cesare Lombroso. In: Publif@rum 2005. www.farum.it/publifarumv/n/01/trevisan.php (letzter Zugriff am: 13.09.2019); Suzanne Stewart-Steinberg: L’effetto Pinocchio. Italia 1861–1922. La costruzione di una complessa modernità. Rom: Elliot 2011, S. 295–366. 5 Paolo Mantegazza: Sulla America meridionale. Lettere Mediche. Mailand: Rechiedei 111869, S. 317f.; Für eine Geschichte der Tätowierung in Europa sind folgende Werke nützlich: Marco Aime/Franco Buttafarro: Tatuaggio. In: Universo del corpo. Rom: Istituto Treccani 2000. http://www.treccani.it/enciclopedia/tatuaggio_%28Universo-del-Corpo%29/ (letzter Zugriff am: 13.09.2019); David Le Breton: Piercing. Tatouage, piercings et autres marques corporelles. In: Michela Marzano (Hg.): Dictionnaire du corps. Paris: PUF 2007, S. 718–722.

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die Tätowierungen der Bewohner von Tahiti die Seeleute von James Cook fasziniert haben. Vor der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde diese Art der Tätowierung höchst selten durchgeführt (vorwiegend im religiösen Kontext, wie wir sehen werden). Im 19. Jahrhundert begeistert das tätowierte Bild hingegen Menschen unterschiedlicher sozialer Herkunft, die ihren Körper dekorieren, um einzigartig und somit unvergleichbar oder anonym zu sein und sich einer Gruppe zugehörig zu fühlen. Mantegazzas Worte geben jedoch zu verstehen, dass diese Mode Sorge hervorruft. Es handele sich um ein Überbleibsel von Barbarei, das ausgegrenzt werden müsse: Deutet es auf Rückständigkeit bei den Wilden hin – für Lombroso «il tatuaggio è la vera scrittura dei selvaggi, il loro primo registro di stato civile»6 –, so ist es bei der westlichen Bevölkerung ein Zeichen von Atavismus. Es sei unumgänglich, Menschen zu diskriminieren, die eine so primitive Ausdrucksweise mit einer solchen Hieroglyphen-Sprache wählen und die schon von Giambattista Vico, Paolo Marzolo und Isaia Graziadio Ascoli – um nur einige Wissenschaftler zu nennen, die Lombroso kannte – als primitiv bezeichnet wurden. Mit dieser Hypothese trägt der Positivismus zur Kontrolle des Körpers im Sinne Michel Foucaults bei: Die westliche Welt schreibt Gleichförmigkeit und Konsens vor, wendet den Blick von der Tätowierung ab und bewertet sie eher aus psychologischer als aus anatomischer Sicht, so Lombroso, als eine subkutane und sprechende Ausdrucksform. Dies gelte, so Lombroso weiter, vor allem für die untersten sozialen Klassen, für Bauern, Seeleute, Arbeiter, Hirte, Soldaten und insbesondere Verbrecher.7 Auf der Suche nach der primitiven Natur der Verbrecher seiner Zeit ist Lombroso von einer Vielzahl an Daten überflutet: Er reflektiert also über die Gründe (außer der atavistischen Natur gibt es auch kulturelle Elemente wie die Religion oder den Gruppengeist) und den Inhalt (Zeichen der Liebe, der Religion, des Krieges und des Berufes bei normalen Individuen; der Rache, Obszönität und anderer Leidenschaften bei Verbrechern). Mit jeder Neuauflage des Uomo delinquente fügt Lombroso neue beispielhafte Fälle hinzu: Er sammelt viel, sortiert wenig, gemäß seiner üblichen Methode. Außerdem vertieft er das Thema der Tätowierung bei Frauen, etwa in Donna delinquente, la prostituta e la donna normale (1893), und die Hieroglyphenschrift der Häftlinge in Palimsesti del carcere (1888). Um einen Überblick zu erhalten, ist es sinnvoll die Tätowierungen in drei Kategorien zu differenzieren: 1. Atavismus als Schicksal: Wörter, welche die Vererbbarkeit verarbeiten, 6 Cesare Lombroso: L’uomo delinquente, S. 411. 7 Vgl. ebda., S. 372f.. Zu Michel Foucaults biopolitischem Körperverständnis beziehe ich mich auf ders.: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Übersetzt von Walter Seitter. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1976.

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das Schicksal oder den Geist der Rache beschwören; 2. über den Atavismus hinaus: Wörter und Bilder mit Bezug auf den sozialen Kontext, die Symbole von Berufen und Religion (begriffen als magischer Gedanke) zeigen; 3. das Verhältnis zwischen Atavismen: Wörter und Zeichnungen, welche die Beziehungen von leidenden Individuen untereinander beschreiben, sie zeigen einen Hang zur Imitation und erotische Vorstellungen auf. 1) Atavismus als Schicksal. «Né sous mauvaise étoile», «Figlio della sfortuna», «Figlio della disgrazia», «Pas de chance», «La vita non è che disillusione», «Sono un povero disgraziato», «J’ai mal commencé. Je finirai mal. C’est la fin qui m’attend», «Il bagno mi attende», «Misero me, come dovrò finire», «Le passé m’a trompé, le présent me tourmente, l’avenir m‘épouvante», «Piuttosto la morte che cangiare», «Giuro di vendicarmi», «Odio e sprezzo ai falsi amici», «Morte ai gendarmi», «Morte alla ciurma», «Morte ai borghesi».8 Dies ist der Stil, mit dem einige Tätowierungen dem als Schicksal verinnerlichten Atavismus Ausdruck verleihen. Ein Individuum wird in einem unglücklichen Kontext geboren und wird sich bald bewusst, dass es wenige Chancen auf ein gutes Leben hat. Es akzeptiert also seine Vorbestimmung, kriminelle Taten und Rache auszuüben und dann im Gefängnis bzw. der Strafkolonie zu landen. Dabei entstehe der Eindruck, als ob der Kriminelle sein Schicksal vorausahne und sich dieses ins eigene Fleisch einritze,9 erklärt Lombroso und listet zahlreiche atavistische Tätowierungen auf und insbesondere jene, die aus Eitelkeit und ‹Rachsucht› resultieren. Die Eitelkeit erkläre das Gefallen an der Dekoration unverdeckter Körperteile und stehe für Freude an der Sichtbarkeit von Händen, Armen, Brust bei den Abendländern und des gesamten, nackten Körpers bei den Wilden. Außerdem zeige das Individuum in einigen Fällen auch den extremen Mut zur Selbsttätowierung: «Chi tene core se fa pure da isse ʼe signe», erklärt ein alter ehemaliger Gefangener der Strafkolonien dem Anthropologen aus Neapel Abele De Blasio.10 Es handelt sich aber nicht nur um Eitelkeit. Der Körper diene auch als «archivio storico e notarile» und dokumentiert «i delitti compiuti e da compiere».11 Oft gäben Verbrecher ihre Intentionen kund: Auf der Haut erscheine dann die Identität der zu tötenden Person, die zu verwendenden Waffen und sogar der Sarg mit dem Namen des Feindes und dem Datum des geplanten Delikts. So

8 Cesare Lombroso: L’uomo delinquente, S. 379–381. 9 Vgl. ebda., S. 379: «Si direbbe che il delinquente abbia ed incida sulle proprie carni il presagio della propria fine». 10 Abele De Blasio: Il tatuaggio. Bologna: Forni 1978 (anastatische Neuauflage). 11 Cesare Lombroso: L’uomo delinquente, S. 402.

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zeigt der Soldat R.S. aus Neapel, der wegen «distruzione d’effetti militari, recidivo» verurteilt wurde, auf dem Bein die Schrift: «Piglia il questore di Napoli, 1881; con che aveva voluto alludere a vendetta contro chi lo fece ammonire».12 Und ein Mitglied der Camorra trägt auf dem Unterleib eine «tomba ornata di armi» mit der Schrift: «Morte a te V.G.; un’altra sul braccio: per aprile sei morto».13 Da der Racheinstinkt über den Verstand siege, verständen nur Wenige die Gefahr dieser «involontarie rivelazioni».14 Entsprechend bestätige die Tätowierung Lombroso zufolge die Grundannahme, dass Atavismus die natürliche und deterministische Folge eines rückständigen und wilden Denkens sei und diese Natur gleichzeitig offenlege. 2) Über den Atavismus hinaus. Über den Atavismus hinaus zu gehen, bedeutet insbesondere, die Tätowierungen derjenigen zu betrachten, die vor allem aus Müßiggang und Nachahmung handeln – letztere wurden seinerzeit auch von den Kriminologen Gabriel Tarde und Scipio Sighele untersucht. In diesem Fall ist die Tätowierung eher kulturell als natürlich, da sie gemäß der Hypothese des französischen Anthropologen Alexandre Lacassagne vor allem der sozialen Not eines degradierten Milieus und nicht so sehr dem Atavismus Ausdruck verleihe.15 Die Tätowierung sei ein Zeitvertreib für Seeleute auf Schiffen, für Soldaten in den freien Stunden, für Handwerker, die ihren Beruf lieben. Jede Aktivität zeige die spezifischen beruflichen Symbole:16 ein Boot oder einen Anker bei den einen; das Datum einer Anstellung, eine denkwürdige Schlacht oder die Waffen des eigenen Korps bei den anderen; außerdem die Schere für den Schneider, ein Instrument für den Musiker, einen Hammer für den Schmied usw. Ferner lasse sich der Stil krimineller Organisationen identifizieren, deren Mitglieder oft entschlüsselbare Geheimschriften verwenden, etwa ein Gitter und dahinter ein Gefangener mit dem nur aus Anfangsbuchstaben bestehenden Schriftzug Q.F.Q.P.M. mit der Bedeutung: «Quando finiranno queste pene? – Mai». Es sind jedoch auch Tätowierungen ohne Figuren zu finden; so meine die Inschrift C.V.Q.I.Q.D.M.G.V.C.P.T.F. «Cosa vuole questo infame questore da me? Giorno verrà che pianger ti fo».17

12 Ebda., S. 382. 13 Ebda., S. 381f. 14 Ebda., S. 402. 15 Zum Mimetismus vgl. Gabriel Tarde: Les lois de l’imitation. Paris: Alcan 1890; Scipio Sighele: La folla delinquente. Turin: Bocca 1891. Zum sozialen Wert der Tätowierung vgl. Alexandre Lacassagne: Les tatouages: étude anthropologique et médico-légale. Paris: Baillière 1881; Ernest Berchon: Discours sur les origines et le but du tatouage. Bordeaux: Gounouilhou 1886. 16 Cesare Lombroso: L’uomo delinquente, S. 376. 17 Ebda., S. 398.

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Häufiger anzutreffen seien hingegen Darstellungen religiöser Art, die auf das Datum einer Pilgerfahrt anspielen oder die Mutter Gottes oder Heilige abbilden: «Coloro che sono devoti ad un santo, si credono, avendolo sulle proprie carni, di dare a lui una prova, una mostra d’affetto».18 Handelt es sich hierbei um Zeichen des Glaubens oder um magische Vorstellungen? Auf den Körpern der Gefangenen repräsentiere die religiöse Tätowierung eine Art apotropäische Wahl, welche die Kultur der wilden Völker nachahme. Aber in bestimmten Situationen stecke der Aberglaube auch die für Lombroso normalen Individuen an, etwa bei einer Pilgerfahrt nach Loreto, ove un divoto mercimonio, come tanti altri, anche questo uso conserva e propaga, poiché nelle sue vicinanze trovansi appositi marcatori, che ricevono per ogni tatuato da 60 a 80 centesimi; prezzo enorme, se si pensi alla miseria degli operati ed al nessun vantaggio, anzi al danno che a molti ne viene.19

Trotz zahlreicher Fälle von Infektion und Wundbrand wünschen sich viele ein solches Wundmal nach dem Besuch des Sanktuariums, in welches die Engel im Jahr 1294 das Heilige Haus von Nazareth gebracht haben sollen, um es von der türkischen Verfolgung zu retten. Und das Phänomen setzt sich auch zu Beginn des neuen Jahrhunderts fort, wie Abele De Blasio erklärt: «Il tatuaggio religioso l’ho, fra i contadini del Lazio, riscontrato nella proporzione del 35%, poiché è da sapersi che simile gente, ogni anno, si suol recare al santuario di Loreto, per impetrare grazia dalla mamma di Cristo e ne porta per ricordo l’effige sulla propria persona».20 Während in Italien die Tätowierung den ‹Körperschaftsgeist› der kriminellen Organisationen oder die Imitatio Sanctorum offenbare (im Falle von Loreto fungiert wahrscheinlich der Heilige Franziskus von Assisi als Vorbild), sei der Stil Lombroso zufolge in Frankreich anders: Die Tätowierer arbeiten im Wirtshaus, zeigen den Kunden einen Katalog, der Zeichnungen enthält, sie verwenden Tusche, die länger hält und sicherer ist, und lassen sich von den Kunden zwischen 50 Centimes und 15 Franken bezahlen – «e ve ne ha che guadagnano fino a cento lire al giorno».21 Im diesem Fall zeige die Tätowierung eine Perfektion, «la squisita delicatezza delle canzoni popolari»,22 und diene nicht allein als natürliches Zeichen des Atavismus, sondern auch als Indiz für die Kultur einer Gesellschaft. 3) Verhältnis zwischen Atavismen. Kriminelle und Prostituierte teilen laut Lombroso den Atavismus, sie besäßen allerdings unterschiedliche Phantasievorstellungen, zumindest bezüglich der Gefühlsbeziehungen. Die Tätowierungen

18 Ebda., S. 403. 19 Ebda., S. 373. 20 Abele De Blasio: Il tatuaggio, S. 153. 21 Cesare Lombroso: L’uomo delinquente, S. 409. 22 Ebda.

Anthropologie der Tätowierung bei Cesare Lombroso

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stellen in diesem Fall die Phantasien dar, welche die Beziehungen unter marginalisierten Individuen begleiten. Die Tätowierungen von Prostituierten seien auf eine Liebessymbolik zurückführbar: wenige unanständige Zeichen, keine Rachevorsätze, nur Listen von Liebschaften, die ein schlechtes Ende genommen haben.23 Im Gegensatz dazu erzählen die obszönen Schriften bei Verbrechern von ihren extremen erotischen Phantasien, von hetero- und homosexuellen Beziehungen, von Inzest und Pädophilie: «Rosa nel tuo culo ho perduta la metà del pene», «Oh quanto è bello il culo di Carolina», «Ti chiavo, mia Ida», «Entra tutto», «Piacere delle donne», «Venite, signorine, al rubinetto d’amore», «Dal culo alla fica son due dita», «Ami du contraire».24 All dies Schriften befänden sich oft auf Genitalien. Auch jene, die auf Liebe anspielen, teilen dieses Gefühl unter verschieden Frauen auf25 und verzeihen keinen Betrug. Auf dem linken Arm eines Camorra-Mitglieds, eines jungen und gewaltbereiten Soldaten, findet sich zum Beispiel eine Vase mit einem Zitronenbaum.26 Die Zitrone spielt auf die Liebe an, die zuerst süß und dann sauer ist, nachdem seine Geliebte ihn betrogen hat:27 «Sotto questa pianta, infatti, egli si tatuò un V.T. – vendetta. E il suo costante pensiero è di vendicarsi, tagliandone il naso; suo fratello si esibì di supplirlo nell’operazione, ma egli vuol farla da sé e godere, egli solo, del dolore che provocherà».28 Gerade diese Tätowierung erlaubt es, die Komplexität eines Stils zu erahnen, der sich in Zeichen und Elementen kondensiert, die sich innerhalb des Atavismus (des Triebs zur Gewalt), zwischen den Atavismen (den Beziehungen zwischen Mann und Frau) und über den Atavismus hinausbewegen (die amputierte Nase ist ein soziales Zeichen der Syphilis und somit, zumindest bis zur Entdeckung des Penicillins, eines sittenlosen Sexuallebens). Und all dies ist unvorhersehbar in einer Vase mit einem Zitronenbaum enthalten. Es ließe sich also behaupten, dass Tätowierungen einen Kompromiss zwischen dem ‹natürlichen Bedürfnis› nach Ausdruck und den sozialen Regeln zur Selbstkontrolle und Zurückhaltung der eigenen Phantasien darstellen. Dies gilt zumindest zu Lombrosos Zeiten, dem zuerkannt werden muss, einer der ersten Wissenschaftler gewesen zu sein, der sich über einen Brauch, der sich noch heute großer Beliebtheit erfreut, Gedanken gemacht zu haben. Aus dem Italienischen übersetzt von Cristina Algranati

23 Cesare Lombroso/Guglielmo Ferrero: La donna delinquente, la prostituta e la donna normale. Herausgegeben von Mary Gibson und Nicole Hahn Rafter. Mailand: et al./edizioni 2009, S. 375–381. 24 Cesare Lombroso: L’uomo delinquente, S. 386f. 25 «Così un camorrista ornò la regione sternale con questo epitaffio delle sue 4 drude: Carmele 1879; Nannina 1881; Dunetta 1881; Luisa a Rossa 1883». Ebda., S. 392. 26 Ebda., S. 383. 27 Ebda. 28 Ebda.

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Bibliographie Berchon, Ernest: Discours sur les origines et le but du tatouage. Bordeaux: Gounouilhou 1886. De Blasio, Abele: Il tatuaggio. Bologna: Forni 1978 (anastatische Neuauflage). Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Übersetzt von Walter Seitter. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1976. Gnecchi Ruscone, Luisa: Tattoo. La storia e le origini in Italia. Mailand: Silvana 2017. Hutin, Félix: Recherches sur les tatouages. Paris: Baillière 1853. Lacassagne, Alexandre: Les tatouages: étude anthropologique et médico-légale. Paris: Baillière 1881. Le Breton, David: Piercing. Tatouage, piercings et autres marques corporelles. In: Michela Marzano (Hg.): Dictionnaire du corps. Paris: Puf 2007, S. 718–722. Leschiutta, Pierpaolo: Le pergamene viventi. Interpretazioni del tatuaggio nell’antropologia italiana positiva. In: La ricerca folclorica 27 (1993), S. 129–138. Lombroso, Cesare: Sul tatuaggio degli italiani. In: Gazzetta Medica Italiana, Lombardia. Appendice medico-legale (Februar 1864), S. 64–90. Lombroso, Cesare: Sul tatuaggio in Italia in ispecie fra i delinquenti. Studio medico legale del prof. Cesare Lombroso. In: Rivista di discipline carcerarie 5 (1875), S. 113–126. Lombroso, Cesare: Palimsesti del carcere. Herausgegeben von Giuseppe Zaccaria. Florenz: Ponte alle Grazie 1996. Lombroso, Cesare/Ferrero, Guglielmo: La donna delinquente, la prostituta e la donna normale. Herausgegeben von Mary Gibson und Nicole Hahn Rafter. Mailand: et al./ edizioni 2009. Lombroso, Cesare: L’uomo delinquente. Quinta edizione 1897. Herausgegeben von Armando Torno. Mailand: Bompiani 2013. Mantegazza, Paolo: Sulla America meridionale. Lettere Mediche. Mailand: Rechiedei 111869. Sighele, Scipio: La folla delinquente. Turino: Bocca 1891. Stewart-Steinberg, Suzanne: L’effetto Pinocchio. Italia 1861–1922. La costruzione di una complessa modernità. Rom: Elliot 2011. Tarde, Gabriel: Les lois de l’imitation. Paris: Alcan 1890. Tardieu, Ambroise: Étude médico-légale sur le tatouage considéré comme signe d’identité. In: Annales d’hygiène 2.3 (1855), S. 171–206.

Onlinequellen Aime, Marco/Buttafarro, Franco: Tatuaggio. In: Universo del corpo. Rom: Istituto Treccani 2000. http://www.treccani.it/enciclopedia/tatuaggio%28Universo-del-Corpo%29/ (letzter Zugriff am: 13.09.2019). Trevisan, Carine: L’art sauvage de l’autobiographie: les graffiti corporels chez Cesare Lombroso. In: Publif@rum 2005. www.farum.it/publifarumv/n/01/trevisan.php (letzter Zugriff am: 13.09.2019).

Dario Gentili

Aura und Markt Individuum und Masse ab Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit von Walter Benjamin

1 L’art pour l’art Zur Einführung der Fragen, die ich im Zusammenhang mit Walter Benjamin und im Besonderen mit Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1936–1939) aufwerfen möchte, werde ich auf einen Vergleich zwischen Benjamin und Max Horkheimer über das Kunstwerk im Zeitalter von Massengesellschaft und Massenkultur zurückgreifen. Benjamins Essay und Horkheimers Neue Kunst und Massenkultur (1941) befassen sich nämlich mit derselben Thematik. Ich werde mich in meiner Analyse auf lediglich zwei Themen konzentrieren, die exemplarisch für die Einschätzung des Unterschieds der beiden Herangehensweisen sind, welcher zu fast gegensätzlichen Ergebnissen führt: die Autonomie der Kunst (auch als l’art pour l’art bezeichnet) und die Beziehung zwischen Individuum und Masse. Benjamins Verweis auf l’art pour l’art lässt sich an einer zentralen Stelle innerhalb der Entwicklung der Argumentation seines Essays ansiedeln und bleibt im Wesentlichen identisch in den verschiedenen Versionen, die uns zur Verfügung stehen.1 Er liegt genau gesagt zwischen der Definition des Begriffs ‹Aura›, in Bezug auf die sogenannte «erste Technik», und der Unterscheidung der beiden Polaritäten, zwischen denen sich die Kunstgeschichte bewegt und die das Kunstwerk charakterisieren: der Kultwert und der Ausstellungswert. Hier folgt der entsprechende Abschnitt: Die ursprüngliche Art der Einbettung des Kunstwerks in den Traditionszusammenhang fand ihren Ausdruck im Kult. Die ältesten Kunstwerke sind, wie wir wissen, im Dienst eines Rituals entstanden, zuerst eines magischen, dann eines religiösen. Es ist nun von entscheidender Bedeutung, daß diese auratische Daseinsweise des Kunstwerks niemals durchaus von seiner Ritualfunktion sich löst. Mit anderen Worten: Der einzigartige Wert des «echten» Kunstwerks hat seine Fundierung immer im Ritual. [. . .] Als nämlich mit dem Aufkommen des ersten wirklich revolutionären Reproduktionsmittels, der Photographie

1 Die mühselige Verlagsgeschichte um die Veröffentlichung von Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit in der Zeitschrift für Sozialforschung ist hinreichend bekannt; tatsächlich wurde die Fassung, die Benjamin Horkheimer 1936 übermittelte (später von den Herausgebern der Gesammelten Schriften Benjamins als Zweite Fassung bezeichnet und jene, auf die ich mich beziehe), aus «politischen Gründen» stark gekürzt. https://doi.org/10.1515/9783110665055-015

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(gleichzeitig mit dem Anbruch des Sozialismus), die Kunst das Nahen der Krise spürt, die nach weiteren hundert Jahren unverkennbar geworden ist, reagierte sie mit der Lehre vom l’art pour l’art, die eine Theologie der Kunst ist.2

Ich komme nun gleich zu Horkheimer, ohne Benjamin zu kommentieren, sodass dieser Abschnitt aus Neue Kunst und Massenkultur nahezu wie eine direkte Antwort auf die Benjamin’sche Kritik an der Autonomie der Kunst klingt: Ein Element von Widerstand wohnt der Kunst inne, die es verschmäht, sich gemein zu machen. Widerstand gegen gesellschaftliche Zwänge, wie er gelegentlich in politischen Revolutionen zum Durchbruch kam, hat im privaten Bereich stets sich abgespielt. [. . .] Zwar war dieses Reich der Freiheit, das außerhalb des Betriebes begann, überlagert von den giftigen Dünsten der gegenwärtigen und vergangenen Herrschaftsformen; aber es bildete ein privates Refugium, eine Möglichkeit, die gesellschaftliche Funktion zu transzendieren, auf die das Individuum infolge der Arbeitsteilung reduziert war. [. . .] Aber den Kunstwerken als vom Zusammenhang der materiellen Praxis abgelösten Objektivationen des Geistes wohnen Prinzipien inne, welche die Welt, in der sie entstanden sind, als entfremdet und falsch erscheinen lassen.3

Im Vergleich dieser beiden Abschnitte wird die gegensätzliche Einschätzung deutlich, die über die ‹autonome Kunst› und l’art pour l’art zum Ausdruck gebracht wird. Bei Horkheimer nimmt sie jene äußere Stellung im Verhältnis zu Gesellschaft und Massenkultur ein, die es dem Individuum ermöglicht, nicht von ihr vereinnahmt zu werden und folglich eine kritische Funktion im Zusammenhang mit der Welt, in der es lebt, auszuüben. Die autonome Kunst stellt das Refugium der kritischen Individualität dar, jenen Raum ‹außerhalb der Welt› – einstmals Vorrecht der Religion –, von wo aus die Kritik zum Status Quo übergehen kann. Somit ist die neue Kunst – und mit ihr die Individualität, durch die sie sich ausdrückt – der letzte Vorposten des ‹Widerstands› gegen die Uniformierung und den Konformismus der Massengesellschaft oder, mit anderen Worten, dessen, was ‹gemein› ist. 2 Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (Zweite Fassung). In: Gesammelte Schriften. Bd. 7.1. Herausgegeben von Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991, S. 356 (ab hier: GS). Zunächst war die Klammer «(gleichzeitig mit dem Anbruch des Sozialismus)» von Horkheimers Mitarbeiter Hans Klaus Brill gestrichen worden, wurde aber auf Benjamins hartnäckiges Drängen später hin wieder eingefügt. Dieser Nachdruck beruhte auf der Tatsache, dass für Benjamin das reproduzierbare Kunstwerk mit der Fotografie im technischen und künstlerischen Bereich gleichzeitig mit dem Sozialismus im politischen Bereich auftauchte. Es handelt sich um zwei eng verbundene Phänomene, die ohne einander undenkbar sind; das bedeutet, dass das reproduzierbare (oder «mechanisierte», wie es in der französischen Übersetzung des Essays heißt) Kunstwerk der künstlerische Ausdruck des Sozialismus und des Kommunismus ist – es gibt keinen anderen. Die auratische oder traditionelle Kunst verliert folglich historisch an Bedeutung. 3 Max Horkheimer: Neue Kunst und Massenkultur. In: Gesammelte Schriften. Bd. 4. Herausgegeben von Alfred Schmidt. Frankfurt a. M.: Fischer 1988, S. 420f.

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Für Benjamin hieße das, dass nach Horkheimer die autonome Kunst ihre Auratizität erneuern müsste, als eine Form des Widerstands im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit, indem sie die Funktion übernimmt, die bei der ersten Technik der Religion zukam: «Seitdem sie autonom wurde, hat Kunst die Utopie bewahrt, die aus der Religion entwich».4 Auch Benjamin betrachtet das ästhetizistische Prinzip l’art pour l’art als letzten Ausdruck des Widerstands traditioneller Kunst gegenüber mechanisierter Kunst, der «zweiten Technik», der Vorherrschaft des Ausstellungswertes über den Kultwert. Doch dieser Widerstand soll nicht unterstützt und gestärkt, sondern beseitigt werden. Zur Klarstellung: Wenngleich Kultwert und Ausstellungswert in bestimmten Epochen keinerlei ‹Entwicklung› des Kunstwerks erkennen lassen, und wenn wir Benjamin in seiner Radikalität bis zu Ende folgen wollen, dann ist es auch die große Kunst der historischen Avantgarden, auf die Horkheimer verweist, die widerständig ist und noch einen gewissen Kultwert bewahrt (Malerei und Bildhauerei, die bildenden Künste, stehen in ‹technischer› Hinsicht in Kontinuität mit traditioneller Kunst).5 Sicherlich begnügt sich Benjamin nicht damit, die Veränderung von Kunst durch Dispositive der Reproduktion zu konstatieren; wenn die Aura die Eigenschaft ist, die Religion und Kultwert der traditionellen Kunst zusprachen (das Hier-und-Jetzt ihrer Rezeption), dann ist es jetzt die (kommunistische) Politik, die dem Ausstellungswert reproduzierbarer Kunst seine besondere Aura verleiht: [D]ie technische Reproduzierbarkeit des Kunstwerks emanzipiert dieses zum ersten Mal in der Weltgeschichte von seinem parasitären Dasein am Ritual. [. . .] In dem Augenblick aber, da der Maßstab der Echtheit an der Kunstproduktion versagt, hat sich die gesamte soziale Funktion der Kunst umgewälzt. An der Stelle ihrer Fundierung aufs Ritual hat ihre Fundierung auf eine andere Praxis zu treten: nämlich ihre Fundierung auf Politik.6

Demzufolge ist es nicht, so wie Horkheimer meint, die Kunst, die den Platz der Religion einnehmen muss, indem sie die Utopie bewahrt, sondern die Politik. Kunst ist tatsächlich eine techné und somit nach wie vor Regierungskunst: Als die erste Technik herrschte, war Regierungskunst Religion und Regierungskunst muss nun die kommunistische Politik mittels der zweiten Technik werden. Sonst

4 Ebda., S. 421. 5 Es ist kein Zufall, wenn Benjamin unter den Künsten der historischen Avantgarden dem Surrealismus den Vorzug gibt, wenngleich er ihn kritisiert, weil er schlussendlich eine politische Praxis auf eine ästhetische Praxis reduziert hat. Vgl. Walter Benjamin: Der Surrealismus. Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz. In: GS 2.1, S. 295–310. 6 Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (Zweite Fassung), S. 356f.

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wird Kunst, in dem Maß, in welchem sie sich von Politik unabhängig macht, empfänglich dafür, von anderen Mächten, wie z.B. von jenen des Marktes, vereinnahmt zu werden.7

2 Individuum und Masse Ich komme nun zum zweiten Aspekt – eng verbunden mit dem ersten –, der sich aus dem Vergleich zwischen Benjamins Kunstwerk und Horkheimers Neue Kunst ergibt: die Beziehung zwischen Individuum und Masse. Wie bereits beschrieben, entspricht die Autonomisierung der Kunst bei Horkheimer der Autonomisierung des Individuums in Bezug auf die Gesellschaft und ihre konformistische Logik. Demnach übernimmt auch die «Individualität» eine Funktion des «Widerstands»: Individualität besteht nicht in Idiosynkrasien und Schrullen, sondern in der Widerstandskraft der geistigen Fähigkeiten gegen die plastische Chirurgie des herrschenden Wirtschaftssystems, das alle Menschen auf eine einheitliche Norm zu bringen trachtet. Die Menschen sind in eben dem Maß frei, sich in Kunstwerken wiederzuerkennen, wie sie der allgemeinen Nivellierung widerstanden haben.8

Individuum und Massengesellschaft sind zu Kräften geworden, die sich in entgegengesetzte und alternative Richtungen bewegen: Das Sich-Behaupten der Massengesellschaft tendiert zur Unterdrückung der Individualität, deren letzter

7 Zu diesem Aspekt gibt es einen sehr eindeutigen Vermerk Benjamins zur Fassung von 1936, in dem das Wissen um den schmalen Grat zwischen «reproduzierter Kunst» und «merkantiler Kunst» sowie um die entscheidende Funktion, die die Politik ausüben muss, um diese Grenze zu markieren - eine Grenzlinie, die wie wir sehen werden, der Darstellung der Beziehung zwischen Individuum und Masse entspricht: «In der Reklame, welche sich an die Masse der zerstreuten Einzelnen wendet, macht die Kunst die merkantile Probe auf ein Exempel, auf das sie mit der Revolution des Proletariats die menschliche machen wird: das Exempel ihrer Rezeption durch die Massen. Das schließt ein, daß grundsätzliche Grenzen zwischen Reklame und Kunst fixieren zu wollen, unfruchtbar ist. Fruchtbar dagegen ist, extreme Formen der Kunstproduktion, beispielweise das Andachts- und das Reklamebild, miteinander zu konfrontieren und festzustellen, daß die Haltung des vor dem Kunstwerk sich Sammelnden jederzeit in die religiöse zurückzuverwandeln ist, während die einer zerstreuten, das Kunstwerk auf sich wirken lassenden Masse jederzeit von der politischen Haltung ihre menschenwürdige Gestalt zu gewärtigen hat». Walter Benjamin: Anmerkung zu Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. In: GS 1.3, S. 1043f. Für eine Interpretation und eine Weiterentwicklung dieser Benjamin’schen Sichtweise vgl. Emanuele Coccia: Das Gute in den Dingen. Werbung als moralischer Diskurs. Übersetzt von Lilja Walliser. Berlin: Merve 2017. 8 Max Horkheimer: Neue Kunst und Massenkultur, S. 419f.

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Zufluchtsort die Kunst bleibt, die sich ihrerseits unabhängig von der Massenkultur machen muss, welche Horkheimer in jenen Jahren sowohl in totalitären Staaten als auch in der Kulturindustrie Hollywoods sieht. Auch im Zeitalter der Massengesellschaft lässt die Schlussfolgerung aus Horkheimers Essay für die Kunst noch eine Möglichkeit des Widerstands offen, unter der Bedingung, dass sie ihre Sprache für die Massenkultur unverständlich macht und ihre Autonomie – und ebenso die des Individuums – von der Gesellschaft maximal radikalisiert: «Deshalb mag es nicht ganz sinnlos sein, in der unverständlichen Rede fortzufahren».9 Dennoch wird sich im Lauf der folgenden etwa zwanzig Jahre Horkheimers positive Einschätzung der Möglichkeiten, die in der Autonomie der Kunst stecken, ändern: «Nach der musealen Versteinerung der Werke des 19. Jahrhunderts verblaßt die abstrakte Kunst zum Konsumgut [. . .]. Sie wird nichtssagend und konformistisch, wie rebellisch sie sich gebärden mag».10 Die abstrakte Malerei – und die Kunst der historischen Avantgarden generell – hat inzwischen begonnen, Teil der Massenkultur zu werden und somit ihre Position des Widerstands und des Andersseins verloren. Ist das Thema der autonomen Kunst also verständlich geworden und wurde es von jener Gesellschaft übernommen, gegen die sie sich dialektisch richtete? Oder sollte man diese Frage anders stellen? Vielleicht stellte l’art pour l’art, so wie Benjamin im Grunde behauptete, nie eine Form des Widerstands dar, da sie autonom war, und genau diese Autonomie hat sich im Endeffekt als ‹funktional› erwiesen, und zwar weniger für die Massengesellschaft als für den kapitalistischen Markt. Folglich ist es auch die Aura des Kunstwerks, die der Markt schließlich reproduziert und im Hinblick auf Wert und Gewinn bemessen hat. Somit stellen Individualität, Exzentrik, Alternativsein und eben jene ‹Unverständlichkeit› der abstrakten Kunst, die zu ihrer besonderen Aura geworden ist, jene Eigenschaften dar, durch welche sich ein Markt ausbreitet, der vor allem die Verschiedenheit bewertet. Nach 1968 ist es dann der Markt, der zum Zufluchtsort der Individualität vor dem Konformismus und der Massengesellschaft geworden ist.11 Wenn man nun auf Benjamin zurückkommt, ist es unumgänglich, zur Einführung seiner Sichtweise des Verhältnisses zwischen Masse und Individuum auf die Definition der zweiten Technik einzugehen:

9 Ebda., S. 438. 10 Max Horkheimer: Zu abstrakt. In: Gesammelte Schriften. Bd. 6. Herausgegeben von Alfred Schmidt. Frankfurt a. M.: Fischer 1991, S. 291 (ab hier: GS). 11 Zur kapitalistischen Bewertung der autonomen Initiative – einschließlich der sogenannten ‹Kunstkritik› – im postfordistischen Zeitalter vgl. Luc Boltanski/Ève Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus. Übersetzt von Michael Tillmann, mit einem Vorwort von Franz Schultheis. Köln: Herbert von Halem 2006.

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Revolutionen sind Innervationen des Kollektivs: genauer Innervationsversuche des neuen, geschichtlich erstmaligen Kollektivs, das in der zweiten Technik seine Organe hat. Diese zweite Technik ist ein System, in welchem die Bewältigung der gesellschaftlichen Elementarkräfte die Voraussetzung für das Spiel mit den natürlichen darstellt. [. . .] Denn es ist ja nicht nur die zweite Technik, die ihre Forderungen an die Gesellschaft in den Revolutionen anmeldet. Eben weil diese zweite Technik auf die zunehmende Befreiung des Menschen aus der Arbeitsfron überhaupt hinauswill, sieht auf der anderen Seite das Individuum mit einem Mal seinen Spielraum unabsehbar erweitert. In diesem Spielraum weiß es noch nicht Bescheid. Aber es meldet seine Forderungen in ihm an. Denn je mehr sich das Kollektiv seine zweite Technik zu eigen macht, desto fühlbarer wird den ihm angehörenden Individuen, wie wenig ihnen bisher, im Banne der ersten, das Ihre geworden war. Es ist, mit anderen Worten, der durch die Liquidation der ersten Technik emanzipierte Einzelmensch, welcher seinen Anspruch erhebt. Die zweite Technik hat nicht sobald ihre ersten revolutionären Errungenschaften gesichert, als die durch die erste verschütteten Lebensfragen des Individuums – Liebe und Tod – von neuem nach Lösung drängen.12

Es scheint, als habe Benjamin hier Problematiken vorweggenommen, die sich erst später in ihrer ganzen Tragweite manifestiert haben. Die «zweite Technik», über die er schreibt, hat sicherlich keinen Ausdruck in der «proletarischen Revolution» gefunden, sowie er es erhofft hatte, und auch nicht in der Biopolitik des Nazismus, in welcher Horkheimer deren Charaktermerkmale sah, sondern vielmehr in der neoliberalen Biopolitik. Denn die zweite Technik – als «Bewältigung der gesellschaftlichen Elementarkräfte die Voraussetzung für das Spiel mit den natürlichen» – befördert nicht die Nivellierung des Individuums, sondern im Gegenteil seine Potenzierung. Das ist es, was Benjamin in jenen Jahren über Baudelaire erarbeitete, über jenen «Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus», so wie er ihn im Untertitel seines unvollendeten Projekts definiert. Baudelaire lebte genau zwischen Lavater (Ende 18., Anfang 19. Jahrhundert) und Lombroso (Ende 19., Anfang 20. Jahrhundert) und war ein Zeitgenosse von Grandville, der für Benjamin eine der prägendsten Figuren für das Paris als Hauptstadt des 19. Jahrhunderts war. Baudelaire lebte folglich im Goldenen Zeitalter der Physiognomik, das nicht nur zufällig der Epoche entspricht, in welchem sich die Massengesellschaft und die Metropole behaupteten. Es ist dies auch das Zeitalter, in welchem die Physiognomik vollkommen im Prozess der Individualisierung innerhalb der Massengesellschaft aufgeht, indem sie die Typisierung des Menschen als sein Schicksal festlegt.13 Um Zugang zum Markt zu haben, muss das Individuum sich als «Mimen»

12 Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (Zweite Fassung), S. 360. 13 Bei Benjamin lässt sich noch eine andere Interpretationslinie der Physiognomik erkennen, alternativ zu der der ‹Typisierung› innerhalb des kapitalistischen Marktes. Die beiden Linien

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für jenen «Typus» anbieten, der der Nachfrage des Marktes entspricht: «Baudelaires Physiognomie als die des Mimen».14 Für Benjamin ist Baudelaire tatsächlich der Typ Individuum schlechthin, wie er sich im Zeitalter der Massen konfiguriert, wenn der ‹Lebensstil› eins wird mit der Kunstproduktion. Das heißt, damit seine Lyrik einen Markt findet, muss Baudelaires Leben selbst die Ware werden, die es zu fördern gilt. Sein Lebensstil eines Dandys ist folglich die Potenzialisierung seiner Individualität, jener Individualität, die sich von der uniformen Masse abheben muss. Aber dies geschieht nicht gegen das Sich-Behaupten der Massengesellschaft, sondern wegen ihr. Der Markt ist der Bereich, in welchem sich dem Individuum die Möglichkeit bietet, sich von der Masse abzuheben und zu unterscheiden – und sei es zum Preis, das eigene Überleben als Individuum, in einer Art Neufassung von Hobbes’ Naturzustand, der Akzeptanz durch die Herrschaft der Konkurrenz zu überlassen: «Hier handelt es sich aber gerade um die Transponierung der Rivalität in die Sphäre der Konkurrenz auf dem offenen Markt. Dieser, nicht die Protektion eines Fürsten, ist zu erobern. In diesem Sinne aber war es eine wirkliche Entdeckung von Baudelaire, daß er Individuen gegenüber stehe».15 Und es ist genau diese Typisierung des Individuums im Naturzustand des Marktes, zu welcher die physiognomische Technik ihren besonderen Beitrag geleistet hat: Die Leute kannten einander als Schuldner und Gläubiger, als Verkäufer und Kunde, als Arbeitgeber und Angestellter – vor allem kannten sie einander als Konkurrenten. Ihnen von ihren Partnern die Vorstellung eines harmlosen Originals zu erwecken, erschien auf die Dauer nicht aussichtsreich. [Eine andere Ansicht] geht auf die Physiognomiker des achtzehnten Jahrhunderts zurück.16

Außer von der des Mimen wird Baudelaires Marktverhalten durch ein weiteres Merkmal charakterisiert, das ihn sogar zum Prototyp des neoliberalen Unternehmers machen könnte. Tatsächlich ähnelt der Ausdruck, den Benjamin zur Definition dieser Haltung verwendet – «sein eigener Impresario» geworden sein – dann auch in keinesfalls zufälliger Weise diesem «Unternehmer seiner

gehen vor allem in der Schlussfolgerung von Schicksal und Charakter weit auseinander, wo Benjamin der schuldzuweisenden Konfiguration des Schicksals, die einer individualisierenden Physiognomik eigen ist, eine Physiognomik des Charakters gegenüberstellt, in der der ‹‹allgemeine Zug› überwiegt. Vgl. Walter Benjamin: Schicksal und Charakter. In: GS 2.1, S. 178f. Allgemein zum ‹physiognomischen Paradigma› bei Benjamin (und nicht nur dort) vgl. Giovanni Gurisatti: Dizionario fisiognomico. Il volto, le forme, l’espressione. Macerata: Quodlibet 2006. 14 Walter Benjamin: Zentralpark. In: GS 1.2, S. 672. 15 Ebda., S. 688. 16 Walter Benjamin: Das Paris des Second Empire bei Baudelaire. In: GS 1.2, S. 541.

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Selbst»,17 mit welchem Foucault die dem Markt und Profit überstellte Individualität des Neoliberalismus definiert: Keine in die Kraft der Sache eingehende Betrachtung Baudelaires kann es geben, die sich mit dem Bild seines Lebens nicht auseinandersetzt. In Wahrheit wird dieses Bild dadurch bestimmt, daß er zuerst und auf die folgenreichste Art der Tatsache inne ward, daß das Bürgertum im Begriffe stand, seinen Auftrag an den Dichter zurückzuziehen. Welcher gesellschaftliche Auftrag konnte an seine Stelle treten? Er war bei keiner Klasse zu erfragen; er war am ehesten dem Markt und seinen Krisen zu entnehmen. [. . .] Aber das Medium des Marktes, in dem sie sich ihm zu erkennen gab, bedingte eine Produktions- und auch eine Lebensweise, die von der früherer Poeten sehr unterschieden war. Baudelaire war genötigt, die Würde des Dichters in einer Gesellschaft zu beanspruchen, die keinerlei Würde mehr zu vergeben hatte. [. . .] In Baudelaire meldet der Dichter zum ersten Mal seinen Anspruch auf einen Ausstellungswert an. Baudelaire ist sein eigener Impresario gewesen.18

So hielt der Ausstellungswert im kapitalistischen Markt Einzug und hier fand er seinen besonderen Bewertungsbereich. Anstelle der Neuen Kunst und der Kunst der historischen Avantgarden ist es die Typisierung des Lebensstils, die im höchsten Maß den Ausstellungswert des Kunstwerks zum Ausdruck bringt, so wie es «zum ersten Mal» mit Baudelaire stattgefunden hat. Somit war es Baudelaire, der als Erster dem eigenen Leben einen Ausstellungswert verliehen hat, lange bevor dies heute für jedermann die Grundbedingung für die Sichtbarkeit und Selbstdarstellung in (nicht ausschließlich) den Social Media wurde. Der Lebensstil ist der letzte Vorposten der Individualität in der globalisierten Gesellschaft und es ist der Markt, der die Entscheidung über Erfolg oder Misserfolg des Strebens nach Unterscheidung von der Masse trifft.

3 Politisierung der Kunst Ich komme nun auf die Funktion zurück, die die Politik Benjamin zufolge ausüben soll, da es für ihn die Politik ist – und ganz sicher nicht der Markt –, die sich die Bewertung des Ausstellungswertes zur Aufgabe machen muss. Demzufolge es ist die Politik, die das Verhältnis zwischen Individuum und Masse bestimmen muss, zwischen einem Zustand, in welchem dieses Verhältnis im Sinne einer Überlegenheit ausgespielt wird – sowohl der Totalitarismen wie der des neoliberalen Marktes –, und einem Zustand, in welchem dieses Verhältnis 17 Vgl. Michel Foucault: Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität II. Vorlesungen am Collège de France 1978–1979. Herausgegeben von Michel Sennelart, übersetzt von Jürgen Schröder. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004. 18 Walter Benjamin: Zentralpark, S. 665.

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der emanzipatorischen und befreienden Ausrichtung entspricht, die sich mit dem Aufkommen der zweiten Technik angekündigt hat. Diese ist nicht Vorrecht des einen oder anderen Pols der Beziehung, also weder des Individuums noch der Masse. Im Kunstwerk ist es dann auch die ‹Klasse› – als Lebensform der zweiten Technik –, die die «undialektische» Gegenüberstellung zwischen Individuum und Masse auflösen soll: In der Solidarität des proletarischen Klassenkampfs ist der tote, undialektische Gegensatz zwischen Individuum und Masse abgeschafft [. . .]. Die Masse als undurchdringliche und kompakte [. . .] ist die kleinbürgerliche. [. . .] So tragen die Manifestationen der kompakten Masse durchweg einen panischen Zug – es sei, daß sie der Kriegsbegeisterung, dem Judenhaß oder dem Selbsterhaltungstrieb Ausdruck geben. – Ist der Unterschied zwischen der kompakten, nämlich kleinbürgerlichen, und der klassenbewußten, nämlich proletarischen, Masse einmal geklärt, so ist auch seine operative Bedeutung klar. [. . .] Das Proletariat seinerseits aber bereitet eine Gesellschaft vor, in der weder die objektiven noch die subjektiven Bedingungen zur Formierung von Massen mehr vorhanden sein werden.19

Indem er sich voll und ganz seiner eigenen Epoche annimmt, liefert Horkheimers Essay eine Diagnose des Schicksals und der Funktion des Kunstwerks in der geschichtlichen Phase, in der er erarbeitet wurde, und behält seine Aktualität mindestens bis in die sechziger, siebziger Jahre – jedoch bleibt er dabei, d.h. er geht nicht über die neoliberale Konfiguration der Masse hinaus. Und es erscheint nicht einmal mehr die Möglichkeit jenes ‹neuen Zeitalters› praktikabel, in welchem das Individuum seinen ihm gemäßen Lebensraum wiedererlangen und die eigene ‹Humanität› wiederherstellen kann, die Horkheimer 1947 in Zur Kritik der instrumentellen Vernunft noch erkannte: Die industrielle Disziplin, der technische Fortschritt und die wissenschaftliche Aufklärung, gerade die ökonomischen und kulturellen Prozesse, die die Auslöschung der Individualität bewirken, versprechen – obgleich die Anzeichen gegenwärtig schwach genug sind – ein neues Zeitalter einzuleiten, in dem Individualität als Element in einer weniger ideologischen und humaneren Daseinsform neu erstehen kann.20

Wenn der technologische Fortschritt in der Lage ist, ein neues Zeitalter hervorzubringen, so erscheint jedoch der Mensch, dem es versprochen wird, nicht ebenso ‹neu› zu sein; vielmehr trägt er die Züge jenes Individuums, das durch das Aufkommen von Massengesellschaft und Massenkultur im 19. Jahrhundert überwältigt wurde, jenes Individuum, dem schließlich der Markt Zuflucht bieten wird.

19 Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (Zweite Fassung), S. 370f. 20 Max Horkheimer: Zur Kritik der instrumentellen Vernunft. In: GS 6, S. 163.

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In Benjamins Essay hingegen ist die Diagnose nahezu untrennbar von der Prognose; die Prognose für das Schicksal der Kunst hängt direkt von der politischen ‹Wette› ab, die im Spiel ist: von der berühmten Alternative zwischen «Ästhetisierung der Politik» und «Politisierung der Kunst».21 Daher ist das Kunstwerk nicht zu erschüttern durch das Kriterium der Aktualität oder Nichtaktualität, weil die politische Revolution nicht stattgefunden hat, die den ‹neuen Menschen› hervorgebracht hätte, für den die mechanisierte Kunst der zweiten Technik bestimmt war: Tatsächlich bedingt die Politisierung der Kunst nicht eine ‹neue Kunst›, sondern einen ‹neuen Menschen›. So verhielt es sich bei den Künstlern Brecht, Loos, Klee, Scheerbart, auf die Benjamin sich in Erfahrung und Armut bezieht: Ein so verschachtelter Künstler wie der Maler Paul Klee und ein so programmatischer wie Loos – beide stoßen vom hergebrachten, feierlichen, edlen, mit allen Opfergaben der Vergangenheit geschmückten Menschenbilde ab, um sich dem nackten Zeitgenossen zuzuwenden, der schreiend wie ein Neugeborenes in den schmutzigen Windeln dieser Epoche liegt.22

4 Politisierung des Lebens Es ist jedoch anders verlaufen. Heute wird mehr denn je deutlich, inwieweit sich der neoliberale Markt ausgebildet hat, da er «Kosmos» ist – um den Terminus Friedrich von Hayeks zu benutzen, einem der Theoretiker, auf die sich der Neoliberalismus bezieht, in welchem jene Anthropogenese stattfindet, die Benjamin mit der Durchsetzung der zweiten Technik angekündigt hatte. Mit der Fähigkeit, nicht Werke, sondern Lebensformen hervorzubringen, hat sich der neoliberale Kosmos die zweite Technik zu eigen gemacht und hat somit eine neue Auratizität hinzugefügt, die auf das Individuum und den durch ihn freigesetzten Ausstellungswert zugeschnitten ist. Auch in diesem Fall sowie in der von Benjamin beschriebenen Relation zwischen Individuum und Masse muss die Umwelt bestimmt werden, in der sich die individuelle Lebensform entwickelt: Wenn dies in der Epoche des Kunstwerks die Massengesellschaft war, so ist es heute der Kosmos des neoliberalen Marktes. In den Kosmos des Marktes eingeschrieben zu sein und daran Teil zu haben, hat eine Konsequenz, die sich tiefgreifend auf die Subjektivierungsprozesse auswirkt, die von der neoliberalen Rationalität produziert werden: Die

21 Vgl. Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (Erste Fassung), S. 469. 22 Walter Benjamin: Erfahrung und Armut. In: GS 2.1, S. 216.

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einzelnen Individuen, die in den Kosmos einbezogen werden, vermögen nur in begrenztem Maße, das Gesamtbild zu erfassen und zu begreifen und somit auch das ‹Schicksal› ihrer eigenen Handlungen zu beherrschen: Die Vorstellung, daß es keine rationale Politik ohne eine gemeinsame Skala konkreter Ziele geben könne, impliziert jedoch eine Interpretation der Katallaxie als einer eigentlichen Wirtschaft und ist aus diesem Grunde irreführend. Politik muß nicht durch das Streben nach Erreichung bestimmter Resultate geleitet werden, sondern kann darauf gerichtet sein, eine abstrakte Gesamtordnung von einem solchen Charakter zu sichern, daß sie ihren Mitgliedern die beste Chance gewährt, ihre verschiedenen und weitgehend unbekannten besonderen Ziele zu erreichen.23

Die Rationalität der Ordnung des Kosmos – ganz gleich, ob natürlich oder göttlich – ist übermenschlich; der neoliberale Kosmos erneuert also ein antikes Konzept des Menschseins: «Der Mensch ist und wird niemals der Herr seines Schicksals sein».24 Wir haben es also mit einer Anthropogenese zu tun, die von der Determinierung der menschlichen Stärke im Sinne eines Anpassungsvermögens ausgeht, das auf das Überleben abzielt. Die prekäre Stellung, die der Mensch im Kosmos des Marktes einnimmt, macht ihn selbst zu einem Gebrauchsmaterial, dessen einziges Ziel sein Bestehen auf dem Markt ist. Die menschliche Stärke wird, in Hayeks Katallaxie, zur ‹menschlichen Ressource›, von der ‹Gebrauch› zu machen ist, um sich den wechselnden und unvorhersehbaren Marktschwankungen anzupassen.25 Die neoliberale Wende hat eine grundlegende anthropologische Tragweite, die an den Ansatz der philosophischen Anthropologie bei ihren frühen Theoretikern (Max Scheler, Arnold Gehlen, Helmuth Plessner) erinnert. Speziell für Gehlen ist das «menschliche Tier» durch eine geringe biologische Ausstattung zum Überleben gekennzeichnet, da es im Gegensatz zu anderen Tieren keine besondere Umgebung hat, die eine spezielle organische Struktur bedingt. Doch gerade «das gefährdete oder riskierte Wesen [des Menschen], mit einer konstitutionellen Chance, zu verunglücken»,26 trägt schon das in sich, was Scheler als «Weltoffenheit» bezeichnet hat:

23 Friedrich A. von Hayek: Recht, Gesetzgebung und Freiheit. Bd. 2. München: Moderne Industrie 1981, S. 157. 24 Ebda., Bd. 3, S. 236. 25 Vgl. Dario Gentili: Verknappung als Regierungskunst der menschlichen Ressourcen. In: Yasmin Temelli/Sieglinde Borvitz (Hg.): Phänomene der Verknappung in den romanischen Literaturen und Kulturen. Berlin: Kadmos 2018, S. 68–76. 26 Arnold Gehlen: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt. In: Gesamtausgabe. Bd. 3. Herausgegeben von Karl-Siegbert Rehberg. Frankfurt a. M.: Klostermann 1993, S. 32.

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Der Mensch ist weltoffen heißt: er entbehrt der tierischen Einpassung in ein AusschnittMilieu. [. . .] Die physische Unspezialisiertheit des Menschen, seine organische Mittelosigkeit sowie der erstaunliche Mangel an echten Instinkten bilden also unter sich einen Zusammenhang, zu dem die «Weltoffenheit» oder, was dasselbe ist, die Umweltenthebung den Gegenbegriff bilden.27

Es ist also genau dieser «Mangel» an organischen und instinktiven Mitteln, der den Menschen potenziell anpassungsfähig macht an die ständige Veränderung der Umwelt des Kosmos an sich. Wenn man Gehlens anthropologischen Ansatz in die Terminologie Hayeks übersetzt, ist die Anpassung des Menschen in diesem Sinne keine Voraussetzung seiner Natur, sondern wird in jeder Hinsicht zu einem ‹Vermögen›: Die Anpassungsfähigkeit ist genau jenes Mittel ohne Zweck, das sich zu unterschiedlicher Nutzung anbietet, je nachdem, in welcher Umwelt es sich jeweils befindet. Für Hayek ist der Kosmos, in welchem der Mensch agiert, der Markt. Dies hat zur Folge, dass die Potenz der Anthropogenese schließlich der Anpassungsfähigkeit des ‹Tieres Mensch› entspricht – und in diese besondere ‹menschliche Ressource› investiert der neoliberale Markt, um Profit zu machen. Tatsächlich ist es sein Potenzial als «Mängelwesen», das den Menschen zur einzigen unerschöpflichen Ressource auf der Erde werden lässt. Auf der Basis dieser Erwägungen muss nun der folgende Abschnitt Gehlens gelesen werden: Denn schon die Weltoffenheit ist, von daher gesehen, grundsätzlich eine Belastung. Der Mensch unterliegt einer durchaus untierischen Reizüberflutung, der «unzweckmäßigen» Fülle einströmender Eindrücke, die er irgendwie zu bewältigen hat. [. . .] Schon hier liegt eine Aufgabe physischer und lebenswichtiger Dringlichkeit: aus eigenen Mitteln und eigentätig muß der Mensch sich entlasten, d.h. die Mängelbedingungen seiner Existenz eigentätig in Chancen seiner Lebensfristung umarbeiten.28

Dennoch gibt es durch die Festlegung der Stellung des Menschen im Kosmos eine Übereinstimmung zwischen Hayek und Gehlen und diese ist sogar substanziell. Für Hayek ist die «Entlastung» nicht der Ausweg aus der «Belastung», die durch die Weltoffenheit des Menschen entsteht. Vielmehr dient die Entlastung der Belastung: Sie reduziert die Belastung nicht, sondern verstärkt sie. Wenn es für Gehlen die Institutionen sind, die das Resultat der Entlastungen schlechthin darstellen, auf die der Mensch zugreifen kann, dann ist der Markt diese spezielle Institution – wie für Hayek als nicht zufällig aufmerksamem Leser von David Hume –, in welcher sich die Belastung dadurch erhöht, dass das Individuum sich als besondere ‹menschliche Ressource› zur Profiterzielung verfügbar macht: Die Investition in sich selbst produziert und potenziert die Verschuldung. Unter Betrachtung des

27 Ebda., S. 34. 28 Ebda., S. 35.

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semantischen Spektrums des Ausdrucks ‹Belastung› könnte man zu dem Schluss kommen, dass das Menschsein sich in einer konstitutiven Verschuldung ausdrückt, ohne die (vorübergehende und gelegentliche) Möglichkeit des Erlasses und der Tilgung in Erwägung zu ziehen.29 Im neoliberalen Entwurf Hayeks muss die Potenz der Anpassungsfähigkeit des Menschen immer wirksam bleiben – wenngleich sie sich niemals in Taten erschöpft, ist diese Potenz dennoch immer ‹tätig›. Vielmehr gibt es keinen anderen Zustand als jenen der Unsicherheit und der Verschuldung ohne effektive Entlastung, der ebenso tätig wäre.

5 Potenz/Anpassungsfähigkeit Um dem Neoliberalismus das Vorrecht auf die zweite Technik zu entziehen, die mit dem Ausstellungswert Gewinn erzielt und die Anthropogenese beherrscht, muss ein anderer Kosmos hervorgebracht werden – eine andere Ordnung, die die Potenz von Lebensformen begünstigt –, alternativ zu jener des neoliberalen Marktes, der diese Potenz auf Anpassungsfähigkeit beschränkt und reduziert, um die Stellung des einzelnen Individuums in seinem Innern anzuerkennen. Während für Benjamin die Aufgabe darin bestand, die Massengesellschaft, wie sie im Faschismus Gestalt annahm, im kommunistischen Sinn zu verändern, so ergibt sich heute die Fragestellung, ob ein anderer Kosmos möglich sein kann, der die «Politisierung des Lebens» begünstigt anstelle jener «Ästhetisierung des Lebens», die sich im neoliberalen Kosmos als Typisierung der Lebensformen ausdrückt, um die Schlussfolgerung aus dem Kunstwerk zu paraphrasieren. Es ist Benjamin, der uns an jenen wesentlichen Aspekt der antiken Kosmoserfahrung erinnert, die die menschliche Potenz im «Rausche» zum Ausdruck bringt und die in unserer Zeit in Vergessenheit geraten zu sein scheint. Der Rausch ist eine Erfahrung des Kosmos, die – da alternativ zu der individuellen Erfahrung der Anpassung, zu welcher der Neoliberalismus führt – nur gemeinschaftlich zum Ausdruck kommt: Antiker Umgang mit dem Kosmos vollzog sich anders: im Rausche. [. . .] Das will aber sagen, daß rauschhaft mit dem Kosmos der Mensch nur in der Gesellschaft kommunizieren kann. Es ist die drohende Verirrung der Neueren, diese Erfahrung für belanglos, für abwendbar zu halten und sie dem Einzelnen als Schwärmerei in schönen Sternenächten anheimzustellen.30

29 Das meint auch Benjamin, wenn er den Kapitalismus als eine Schuld-Religion definiert. Vgl. Walter Benjamin: Kapitalismus als Religion. In: GS 6, S. 100–103. 30 Walter Benjamin: Zum Planetarium. In: Einbahnstraße. In: GS 4.1, S. 146f.

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Benjamins Kosmosauffassung weist nicht allein einige Anklänge an Nietzsches Rauschverständnis in Die Geburt der Tragödie auf, sondern stellt vor allem auch eine Alternative zu jenem Kosmos dar, dessen Idee sich der neoliberale Markt angeeignet und daraus ein Regierungsdispositiv gemacht hat. Der bevorzugte Zusammenhang zwischen Kosmos und Individuum – derjenige, den Benjamin so entschieden in Frage stellt – ist keinesfalls in jeder Auffassung von Kosmos implizit, sondern beginnt, sich in einem ganz bestimmten historischen und politischen Kontext abzuzeichnen. So verringert sich während der hellenistischen Epoche – also mit dem Zerfall der politischen Form der polis und dem Aufkommen der imperialen Form, zunächst der mazedonischen und später der römischen, einer Art Vorläufer der Globalisierung – die Übereinstimmung zwischen der politischen Ordnung der polis und der kosmischen.31 Die rationale Ordnung des Kosmos wird folglich zum Zufluchtsort des Einzelnen für die hellenistischen Philosophien: Der Bezug auf eine rationale Ordnung bedeutet nicht mehr die Zugehörigkeit zu einer politischen Gemeinschaft, sondern vielmehr, sich dem politischen Leben zu entziehen, welches inzwischen keine Teilhabe mehr erfordert oder vorsieht. In seiner Genealogie der «Sorge um sich selbst» beschreibt Foucault den Übergang der platonischen Übung der Selbstsorge, die auf die politische Teilhabe abzielt, zur hellenistischen mit der fortschreitenden Abtrennung der individuellen Selbstsorge vom politischen Bereich: Erstens wird die Sorge um sich selbst in der hellenistischen Periode und der Kaiserzeit nicht ausschließlich als die Vorbereitung auf das politische Leben verstanden. Die Sorge um sich selbst ist zu einem universellen Prinzip geworden. Man muss der Politik entsagen, um sich gründlicher der Sorge um sich selbst um widmen zu können.32

Der Kosmos stellt demzufolge eine Ordnung jenseits der Politik dar, der dem Individuum dennoch eine universelle Bürgerschaft garantiert: Der Bürger der polis wird so zum Weltbürger. Nachdem somit jede Bindung an die politische Ordnung abgebrochen wurde, bietet die hellenistische Ordnung des Kosmos – als Zuflucht und Schutz der moralischen und wissenschaftlichen Rationalität – die Bedingungen für die Autonomie des Individuums und für die Schaffung seines eigenen Raums. Es gilt nun, die Moderne abzuwarten, um diese kosmische Ordnung zu zerstören und die Trennung zwischen Individuum und Politik wieder aufzuheben.

31 Vgl. Larry Siedentop: Inventing the Individual. The Origins of Western Liberalism. London: Allen Lane 2014. 32 Michel Foucault: Technologien des Selbst. In: Michel Foucault/Rux Martin u.a.: Technologien des Selbst. Frankfurt a. M.: Fischer 1993, S. 41.

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So wie es den Zerfall der antiken polis gab, so eröffnet sich mit dem Zerfall der modernen Politik die Möglichkeit einer neuen Globalisierung, die Raum für neue Individualitäten schafft, die eine Ordnung jenseits dessen verlangen, was die moderne Politik garantieren und rechtfertigen kann. Um sie von der durch den Hellenismus eingeführten Globalisierung zu unterscheiden, bezeichnet Peter Sloterdijk die aktuelle als «Zweite Ökumene», um die Besonderheit der individuellen Lebensformen zu markieren, die ein solcher Kosmos hervorbringt: Wenn in der Ersten Ökumene der exemplarische Mensch der Weise war, der seine gebrochene Beziehung zum Absoluten meditierte, und der Heilige, der sich durch eine unbegreifliche Gnade dem Gott näher fühlen durfte als der gewöhnliche Sünder, so ist der exemplarische Mensch der Zweiten Ökumene der Prominente, der nie verstehen wird, warum er mehr Erfolg hatte als andere, und der anonyme Denkende, der sich den Schlüsselerfahrungen dieses Weltalters öffnet: zum einen den immer wieder aufbrechenden Revolutionen als «den Präsentationen des Unendlichen im Hier-und-Jetzt», zum anderen der Schande, die jedes wache Leben heute mehr als die Erbsünde affiziert: gegen die allgemeine Entwürdigung des Lebendigen niemals genug getan zu haben.33

Die Lebensformen des neoliberalen Kosmos sind von Machtlosigkeit gezeichnet – so wie der Erfolg des Unternehmers ist auch der des Prominenten weder das Ergebnis eines Verdienstes noch Zeichen für herausragende Leistung, sondern vielmehr die vom Schicksal verliehene Gunst der Anpassungsfähigkeit des einzelnen Individuums. Und im Grunde ist es diese Anpassungsfähigkeit, die in den Zügen des ‹Erfolgstypus› erkennbar wird. Beide, sowohl der Unternehmer als auch der Star, sind Figuren derselben Auratisierung des Ausstellungswertes der Individualisierung, die in jenem Kosmos stattfindet, der heute vom neoliberalen Markt kolonisiert wird, und dessen Quintessenz darin besteht, dass der Ausstellungswert das Hier-und-Jetzt der Aura ins Unendliche wiederholbar macht und bewirkt, dass niemand Herr über sein persönliches Schicksal sein kann. Auch hier handelt es sich um einen Kosmos, dem die Rationalität der Ordnung und das Kriterium der Richtigkeit der Verhaltensweisen anvertraut werden; doch diesmal ist es nicht das politische Leben, das geopfert wird, sondern eben jene Autonomie und jene Selbstbestimmung des Individuums, durch welche der hellenistische Kosmos die Voraussetzungen für die Entwicklung in der Moderne und im klassischen Liberalismus geschaffen hatte. Der Kosmos des neoliberalen Marktes enthält eine Regierungskunst. Dies ist zweifelsohne ein wesentlicher Unterschied zum hellenistischen Kosmos, der seine Individualitäten in Sicherheit vor der Unterwerfung unter die imperiale Politik der Epoche konfigurierte. Dennoch bleibt auch der neoliberale Markt im

33 Peter Sloterdijk: Sphären II. Globen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1999, S. 992–994.

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Kern ein Ausdruck der Beziehung zwischen Kosmos und Individuum. Es besteht also die Herausforderung, einen anderen Kosmos zu denken und umzusetzen: nicht einen Kosmos für das Leben des Individuums, sondern einen Kosmos der politischen Gemeinschaft. Es geht darum, den neoliberalen Naturzustand zu verlassen, die Umwelt, die der Neoliberalismus dazu bestimmt hat, dem Leben des Einzelnen Form zu geben und wo die Anthropogenese durch Anpassungsfähigkeit geleitet wird. Ein anderer Kosmos ist hingegen jener, den die Potenz der Beziehung gestalten kann; dieselbe Potenz der Beziehung, die, so wie es bereits im Lauf seiner Geschichte geschehen ist, das ‹Tier Mensch› dazu angeregt hat, sich gemeinschaftlich eine Form politischen Lebens zu geben. Aus dem Italienischen übersetzt von Barbara Engelmann

Bibliographie Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften. 7 Bde. Herausgegeben von Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991. Boltanski, Luc/Chiapello, Ève: Der neue Geist des Kapitalismus. Übersetzt von Michael Tillmann, mit einem Vorwort von Franz Schultheis. Köln: Herbert von Halem 2006. Coccia, Emanuele: Das Gute in den Dingen. Werbung als moralischer Diskurs. Übersetzt von Lilja Walliser. Berlin: Merve 2017. Foucault, Michel: Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität II. Vorlesungen am Collège de France 1978–1979. Herausgegeben von Michel Sennelart, übersetzt von Jürgen Schröder. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004. Foucault, Michel/Martin, Rux u.a.: Technologien des Selbst. Frankfurt a. M.: Fischer 1993. Gehlen, Arnold: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt. In: Gesamtausgabe. Bd. 3. Herausgegeben von Karl-Siegbert Rehberg. Frankfurt a. M.: Klostermann 1993. Gentili, Dario: Verknappung als Regierungskunst der menschlichen Ressourcen. In: Yasmin Temelli/Sieglinde Borvitz (Hg.): Phänomene der Verknappung in den romanischen Literaturen und Kulturen. Berlin: Kadmos 2018, S. 68–76. Gurisatti, Giovanni: Dizionario fisiognomico. Il volto, le forme, l’espressione. Macerata: Quodlibet 2006. Hayek, Friedrich A. von: Recht, Gesetzgebung und Freiheit. 3 Bde. München: Moderne Industrie 1981. Horkheimer, Max: Gesammelte Schriften. 19 Bde. Herausgegeben von Alfred Schmidt. Frankfurt a. M.: Fischer 1988. Siedentop, Larry: Inventing the Individual. The Origins of Western Liberalism. London: Allen Lane 2014. Sloterdijk, Peter: Sphären II. Globen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1999.