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German Pages [345] Year 2019
Industrielle Welt Schriftenreihe des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte Herausgegeben von Ulrike von Hirschhausen und Sebastian Conrad Band 98
Timo Luks Schiffbrüchige des Lebens
Timo Luks
Schiff brüchige des Lebens Polizeidiener und ihr Publikum im neunzehnten Jahrhundert
BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Historischen Instituts der Universität Gießen
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2019, by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Lindenstraße 14, D-50674 Köln Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Carl Spitzweg: Die Scharwache (Nächtliche Runde), um 1875/78, Öl auf Leinwand, 33,4 × 54,2 cm, München, Neue Pinakothek. © akg-images (Bildnummer AKG97825) Korrektorat: Ulrike Weingärtner, Gründau Einbandgestaltung: Michael Haderer, Wien Satz: Michael Rauscher, Wien Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-51494-5
Inhalt
1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Wer Polizeidiener werden will . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Gerüchte und Ausschreibungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Soldaten, Handwerker, Diener . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Ordnungsliebende, fleißige Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Existenznöte und die Liebe zum Polizeidienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3. Wer es geschafft hat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Unter Polizeidienern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Probezeit, Diensteid, Instruktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Des Polizeidieners neue Kleider . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Vigilanten in Zivil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Die häuslichen Verhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Dienstalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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4. Wie es bezahlt wird . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 4.1 Gehälter im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 4.2 Gratifikationen, Teuerungszulagen und einige Klafter Holz . . . . . . . . . 95 4.3 Quieszierte und Witwen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 4.4 Verschuldung und Kreditlosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 4.5 Geschenke, Trinkgelder, Bestechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 5. Wer sich einmischt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Ein Handwerksgeselle, ein Polizeipraktikant und die Behörden – der Fall Schadeloock . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Der Soldat als Beistand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Gendarmerie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Nächtliche Sicherheitswache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5 Die Reorganisation der Polizeimannschaft und der Polizeidiener Sperl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
115 116 128 138 142 148
6. Der Polizeidiener als Faktotum und das „freie Ermessen“ . . . . . . . . . . . . . . . 157 6.1 Gehässigkeit, Pedanterie und Hegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159
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Inhalt
6.2 „Den Polizeibeamten für eine vernünftige Selbstthätigkeit Raum geben“ – Polizeiwissenschaft um 1850 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 7. „Bequeme Sitzämter“ und „handfeste Executionen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Lesen, Schreiben, Rüstigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Aktuare und Offizianten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Eine schreibende Behörde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3 Schreibende Polizeidiener . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4 Schreiben versus Zupacken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
180 182 192 197 203 208
8. Männer und ihre Körper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1 Vom Ertragen der Strapazen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2 „Gichtarische Leiden und noch andere Krankheits-Umstände“ . . . . 8.3 Polizeidiener Roth und die Ärzte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
216 217 222 228
9. Die verschiedenen Classen des Publikums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.1 Polizeidiener Schneider und ein sechzehnjähriges Mädchen . . . . . . . 9.2 Wirtshausgesellschaft: zwei Polizeidiener und der „gemeine Pöbel“ 9.3 Mit Ruhe und Besonnenheit – zwei Polizeiaktuare . . . . . . . . . . . . . . . 9.4 Andreas Öttinger, der Mann am Tor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.5 Nächtliche Ruhestörung, Antisemitismus und die Presse . . . . . . . . . . 9.6 Rückenhiebe am blauen Montag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
238 241 250 259 263 276 283
10. Polizeidienerliche Verhaltenslehren um 1900 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.1 Kein „vollwertiger Schutzmann“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2 Polizeischulen und Lehrmeister aus der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3 Geschwätzig und verschwiegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.4 Ganze Männer – ruhig, freundlich, fest im Auftritt . . . . . . . . . . . . . . 10.5 „Schutzmann im wirklichen Sinne“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
293 294 296 298 299 302
11. Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 12. Verzeichnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 1. Archive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 2. Quellen und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341
Die Polizei soll gewissermaßen als fliegende Cohorte den Wirrwarr des neuen Lebens durchdringen; überall gegenwärtig und thätig sein; und beachten, hemmen, zurechtlegen, entdecken, was ihr als regelwidrig aufstößt, auf der Stelle und rasch, weil die Zustände der modernen Welt das Warten nicht vertragen, sondern gleich dem Chamäleon unter den Händen sich verwandeln oder entschlüpfen. (Gustav Zimmermann: Die Deutsche Polizei im 19. Jahrhundert, 1845) Die wohlgenährte Gemütlichkeit der Polizei hat ihre Aktion schon lange aufgegeben. (Ernst Haffner: Blutsbrüder. Ein Berliner Cliquenroman, 1932) Eins muss man über das Gesetz wissen, nämlich, dass sie nicht gerne rennen, weil dabei meistens ihre Helme runterfallen. Darüber hinaus betätigen sie sich aber grundsätzlich nicht gern körperlich – genau genommen haben alle Bullen eines gemeinsam, abgesehen davon, dass sie Penner sind, und das ist ihr Graus vor körperlicher Arbeit jeder Art, besonders, wenn sie mit der Hand zu verrichten ist. Man muss sich bloß ihren Gesichtsausdruck auf Fotos in der Zeitung ansehen, wenn sie im Schilf nach der Mordwaffe suchen! Wenn man also schnell zu Fuß ist und nur einer von ihnen in der Nähe, kann man ihnen ziemlich leicht entkommen, was ich jetzt auch tat. (Colin MacInnes: Absolute Beginners, 1959)
1. Einleitung
Wie wurden Männer, die über Jahre als Handwerker, Gerichtsdiener, Boten usw. gearbeitet hatten, im neunzehnten Jahrhundert zu Polizisten, also in einer Zeit ohne geregelte Ausbildung und, über weite Strecken, ohne klares Berufsbild? Woran konnten sie sich auf ihrem Weg in und durch den Polizeidienst halten? Eine Möglichkeit – neben Erfahrungen, die sie selbst bei der Begegnung mit Polizeidienern gemacht haben mochten – waren zeitgenössische Vorstellungen davon, wie ein idealer Polizeidiener sein sollte, wie diffus diese Vorstellungen mitunter auch waren. Mit „Grund und Recht“, so schrieb der Polizeiwissenschaftler Wilhelm Joseph Behr 1848, könne man verlangen, dass Polizeidienern in dem weiten Gebiete ihres subjectiven Wirkungskreises keines der tausendfältigen Details entgehe; daß sie, auch bei den unerwartetsten wie bei den bedenklichsten Vorfällen, ohne den mindesten Verzug ihrem Zwecke entsprechend sich zu benehmen wissen; daß sie die äußerste und feinste Grenzlinie des zulässigen Freiheitsgebrauchs mit zartem Gefühle und gewissenhafter Berücksichtigung seiner Schranken bewachen; daß sie, gleich weit entfernt von Willkür, Parthei- und Bestechlichkeit, wie von konventionellen Rücksichten, ängstlicher Verlegenheit und Kleinlichkeitsjagd, schon durch ihre Persönlichkeit mächtig wirkend, die Sphäre ihres Amtes auf eine, das Schutzbedürfnis der Staatsglieder eben so sehr als das in sie gesetzte Vertrauen der Regierung befriedigende Weise ausfüllen.1
Nun war Behr (1775–1851) im Unterschied zu vielen seiner polizeiwissenschaftlichen Kollegen kein Apologet staatlicher Zwangsmaßnahmen und ausufernder Polizeibefugnisse. Im Gegenteil: Als aufrechter Liberaler war der Würzburger Staatsrechtsprofessor, bayerische Landtagsabgeordnete, spätere Bürgermeister Würzburgs und Paulskirchenangehörige seit den Karlsbader Beschlüssen (1819) ins Blickfeld der Obrigkeit geraten. Behrs Vorlesungen waren seit dieser Zeit einer polizeilichen Aufsicht unterstellt. Er selbst wurde 1832 aufgrund seines politischen Engagements verhaftet. Mit der Märzrevolution 1848 wurde er amnestiert und erhielt eine Entschädigung von 10.000 Gulden für die mehrjährige Haft. Behrs polizeiwissenschaftliche Bemühungen 1 Behr, Wilhelm Joseph: Allgemeine Polizei-Wissenschaftslehre oder pragmatische Theorie der Polizeigesetzgebung und Verwaltung. Zur Ehrenrettung rechtgemässer Polizei, mittelst scharfer Zeichnung ihrer wahren Sphäre und Grenzen, Bamberg 1848, Bd. 2, S. 116. Die folgenden biographischen Angaben zu Behr wie auch zu anderen Protagonisten der vorliegenden Studie stützen sich, sofern nicht anders vermerkt, auf die entsprechenden Einträge in der Allgemeinen deutschen Biographie beziehungsweise der Neuen deutschen Biographie, beide digitalisiert verfügbar unter: https://www.deutsche-biographie.de/.
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Einleitung
galten stets der rechtsstaatlichen Begrenzung der Staatsgewalt und polizeilichen Befugnisse. Polizeidiener, denen keine Details entgehen, die ihrem Zwecke entsprechend sich zu benehmen wissen, die die Grenzlinie des zulässigen Freiheitsgebrauchs bewachen, die jenseits von Willkür, Parthei- und Bestechlichkeit sowie konventionellen Rücksichten, ängstlicher Verlegenheit und Kleinlichkeitsjagd bereits durch ihre Persönlichkeit zu wirken im Stande sind – solche Polizeidiener waren für Behr ein Mittel zu diesem Zweck, auch wenn er sich darüber hinaus nicht für das Personal der Polizeibehörden interessierte, schon gar nicht für die einfachen Polizeidiener, um die es in der vorliegenden Studie geht.2 Behrs ideale und in hohem Maß idealisierte Polizeidiener entsprachen so gar nicht dem Bild, das zeitgenössische Beobachter vom faktisch verfügbaren Personal hatten. Als der studierte Jurist und langjährige Lübecker Polizeiaktuar Friedrich Christian Benedict Avé-Lallemant (1809–1892) – ein seltener Fall, in dem sich die praktische und theoretische Beschäftigung mit der Polizei ergänzten – 1861 über die Kandidaten für den Polizeidienst nachdachte, stellte er fest, es sei eine große Menge der heterogensten Bestandteile in Betracht zu ziehen, welche wie Schiffbrüchige aus den stürmischen Wogen des Lebens sich auf die öde Klippe der Polizeimannschaft gerettet haben. Verunglückte Handwerker, Schulmeister, Comptoiristen, Copisten, Lakaien, Jäger, Musikanten, Kellner und Hausknechte, ja sogar bestrafte Verbrecher finden immer noch Zuflucht bei der Polizei. Daß sie die Polizeicarrière wählen, ist bei dem geringen Ansehen, in welchem die Polizei steht, ein schlagendes Kriterium für die Zerrüttung ihrer eigenen Lebensverhältnisse, wie andererseits ihre Anstellung bezeichnend ist für das eigene Geltungsbewußtsein der Polizei selbst.3 2 Einfache Polizeidiener beziehungsweise – diese Bezeichnung wurde lange Zeit synonym gebraucht – gemeine Polizeisoldaten unterscheiden sich von den kurzfristig eingestellten Polizeidienergehilfen oder Nachtschutzleuten, die oft nur vertretungsweise oder im Nebenerwerb Polizeidienst ausübten und den Zeitgenossen kaum als ‚richtige Polizeidiener‘ galten; ebenso wenig wie Polizeipraktikanten, die sich nicht auf den einfachen Polizeidienst, sondern auf eine, wenn auch bescheidene, Behördenkarriere im ‚Schreibfache‘ vorbereiteten. Daneben unterscheiden sich einfache Polizeidiener von Polizeioffizianten und Polizeiaktuaren, die ihnen vorgesetzt und einer anderen Schicht zugehörig waren. Das verstärkt sich noch einmal auf Ebene der Polizeidirektoren und Polizeikommissare, also der Leitungsebene, zwischen der und der restlichen Behörde hinsichtlich sozialer Herkunft, ökonomischer Stellung und Karrierewegen ein Bruch verlief. Polizeirottmeister nahmen dagegen eine zentrale Position als Bindeglied zwischen Mannschaft und Behördenspitze beziehungsweise Verwaltungsdienst ein. Verantwortlich für die Organisation des Dienstalltags, waren sie keine Schreibprofis, sondern langjährig erfahren im ‚bewaffneten Dienst‘. Gegenüber den einfachen Polizeidienern übten sie die unmittelbare Befehlsgewalt aus. Die vorliegende Studie benutzt die Begriffe Polizeidiener und Polizeisoldat, auch um den Abstand zum ‚Schutzmann‘ der Zeit um 1900 und zum heutigen, modernen ‚Polizisten‘ zu markieren. 3 Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedict: Die Krisis der deutschen Polizei, Leipzig 1861, S. 21. Zur Schiffbruchmetapher siehe natürlich die kluge Studie von Hans Blumenberg – und darin vor
Einleitung
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Eine Möglichkeit, die Kluft zwischen verfügbaren und erwünschten Polizeidienern zu überbrücken, waren Ausbildung und Selbstbildung. Die vorliegende Studie fragt mit einem Begriff des Literaturwissenschaftlers Stephen Greenblatt nach genau diesem polizeidienerlichen „self-fashioning“, also danach, wie Identitäten, im vorliegenden Fall: polizeidienerliche, innerhalb eines sozialen und kulturellen Rahmens erzeugt und zur Schau gestellt werden.4 Dabei stellt sich eine doppelte Herausforderung. Einerseits ist es aufgrund der sozialen Herkunft der Polizeidiener nicht möglich, systematisch autobiographische Quellen auszuwerten. Andererseits existierten im neunzehnten Jahrhundert weder eine geregelte Polizeiausbildung noch berufliche Interessenvertretungen. Es fehlen also jene Instanzen, die im zwanzigsten Jahrhundert entscheidend zur Sozialisation von Polizisten beitrugen und sie schrittweise zu professionals im modernen Sinn machten.5 Stattdessen wurde ‚der Polizeidiener‘ im allem die Überlegungen zu Pascals Idee, „Leben bedeute, schon auf dem hohen Meer zu sein, wo es außer Heil oder Untergang keine Lösungen, keine Vorenthaltung gebe“, sowie zu Nietzsches Behauptung, wonach wir immer schon Schiffbrüchige wären. Die Klippe gerät dabei als potentielle Gefahr, aber auch als rettendes Ufer in den Blick. In dieser zweiten Bedeutung begünstigt sie die rückblickende Perspektive desjenigen, der dem Unglück entrinnen konnte (Blumenberg, Hans: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher, Frankfurt/M. 1997 [1979], insbes. S. 23f., 59f.). Die verunglückten Handwerker, Schulmeister, Comptoiristen, Copisten, Lakaien, Jäger, Musikanten, Kellner und Hausknechte, ja sogar bestrafte Verbrecher in der zitierten Passage AvéLallemants, die als Schiffbrüchige aus den stürmischen Wogen des Lebens sich auf die öde Klippe der Polizeimannschaft gerettet haben, bewegen sich innerhalb dieses Bedeutungsfelds. 4 Vgl. Greenblatt, Stephen: Renaissance Self-Fashioning. From More to Shakespeare, Chicago und London 2005 [1980]. 5 Professionen sind gekennzeichnet durch systematisches Wissen, Macht über die und Akzeptanz seitens der Klienten, eine dienstorientierte Haltung, das Insistieren auf Gemeinwohl statt Eigeninteresse, eine selbständige Berufskontrolle und Kompetenzprüfung, die gesetzliche und öffentliche Anerkennung als Berufsstand sowie eine berufliche Subkultur (vgl. Huerkamp, Claudia: Der Aufstieg der Ärzte im 19. Jahrhundert. Vom gelehrten Stand zum professionellen Experten. Das Beispiel Preußens, Göttingen 1985; Jarausch, Konrad H. (Hg.): The Unfree Professions. German Lawyers, Teachers, and Engineers, 1900–1950, Oxford u. a. 1990; Rüschemeyer, Dietrich: Professionalisierung. Theoretische Probleme für die vergleichende Geschichtsforschung, in: Geschichte und Gesellschaft 6 (1980), S. 311–325). Polizeidienst war im neunzehnten Jahrhundert weder eine „bildungsqualifizierte Dienstleistung“ noch waren Fachwissen und eine dadurch erschwerte Kontrolle durch Laien besonders relevant. Zwar zeigen sich Anklänge eines Dienstideals in den (polizeilichen) Selbstbeschreibungen, doch kreisten diese nicht um die hohe Qualität der Dienstleistungen, wie das bei Anwälten, Ärzten, Ingenieuren, Lehrern usw. der Fall war. Bestenfalls handelte es sich bei Polizeidienern, vergleichbar den Volksschullehrern, um semi-professionals (vgl. Skopp, Douglas R.: Auf der untersten Sprosse. Der Volksschullehrer als Semi-Professional im Deutschland des 19. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft 6 (1980), S. 383–402). Dort, wo in der Forschung bereits für das achtzehnte Jahrhundert von einer Professionalisierung der städtischen Polizei gesprochen wird, erfolgt das ohne Bezug auf die historische Professionalisierungsforschung und entlang lediglich allgemeiner Indikatoren. Bei Denys, Catherine: The Development of Police
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Einleitung
Zusammenspiel ganz unterschiedlicher und vielfältiger Situationen des Dienstalltags zu einem identifizierbaren Typus, mit dem ein bestimmtes Auftreten, eigentümliche Verhaltensweisen und klare Aufgabenfelder verbunden waren. Das Konzept der Selbstbildung stellt in dieser Perspektive ein Scharnier dar. Es handelt sich zunächst um einen analytischen Begriff, der darauf zielt, die konkreten Ausformungen kompetenter Teilnehmerschaft zu fassen, also zu klären, wie Akteure durch ihre praktische Teilnahme am jeweiligen Spiel und durch die Anerkennung anderer zu berechtigten und befähigten Mitspielern werden.6 Vereinzelt begegnet der Begriff der Selbstbildung – und das macht ihn für eine Geschichte des Polizeidiensts so reizvoll – bereits bei Polizeiwissenschaftlern des neunzehnten Jahrhunderts. Er deutet dort in Richtung der eingangs gestellten Frage, wie nämlich Handwerker, Gerichtsdiener, Boten usw. zu Polizeidienern (gemacht) wurden. „Wir wissen sämmtlich“, so führte der ein wenig eigenbrötlerische Polizeiwissenschaftler Gustav Zimmermann um die Jahrhundertmitte aus, „daß die nothwendigen Eigenschaften und Kräfte nicht von selbst in die Individuen fahren, sobald diese das Glück oder Unglück haben, an die Polizeibehörde verpflanzt zu werden.“ Zudem sei „die niedere Schicht des Personals wegen Mangel allgemeiner Bildung kaum fähig […], mit Glück Autodidacten zu werden“.7 NotwenForces in Urban Europe in the Eighteenth Century, in: Journal of Urban History 36 (2010), S. 332–344, fungieren bereits eine eher unbestimmte Aufmerksamkeit für die Qualität des Personals, die Beschäftigung von Vollzeitpolizeidienern mit einem entsprechenden Gehalt, eine punktuelle Regulierung von Pflichten und Arbeitszeiten, die partielle Zurückdrängung von Bürgerwachen sowie die Tendenz, einen einzelnen Beamten an die Spitze der Mannschaften und Behörden zu stellen, als Professionalisierungsindikatoren. 6 Dazu konzise: Alkemeyer, Thomas/Buschmann, Nikolaus: Praktiken der Subjektivierung – Subjektivierung als Praxis, in: Schäfer, Hilmar (Hg.), Praxistheorie. Ein soziologisches Forschungsprogramm, Bielefeld 2016, S. 115–136. In den Blick gerät so ein System geteilter Werte, Gewohnheiten und Wahrnehmungsmuster, im konkreten Fall: eine bestimmte Polizeikultur, die weitergegeben und unmerklich modifiziert wird und dabei auf individuelle und kollektive Identitätssicherung zielt, kurz: eine „komplexitätsreduzierende Praxisanleitung“ und ein „Konzentrat polizeilichen Alltagswissens“ (dazu: Behr, Rafael: Cop Culture – der Alltag des Gewaltmonopols. Männlichkeit, Handlungsmuster und Kultur in der Polizei, Wiesbaden 2008, S. 10f.; ders.: Polizeikultur: Routinen – Rituale – Reflexionen. Bausteine zu einer Theorie der Praxis der Polizei, Wiesbaden 2006, S. 39f.; Chan, Janet B.L./Devery, Chris/Doran, Sally: Fair Cop. Learning the Art of Policing, Toronto u. a. 2003, S. 3, 23–35). 7 Zimmermann, Gustav: Die Deutsche Polizei im 19. Jahrhundert, Hannover 1845–1849, S. 1104, 1106. Zimmermann (1808–1874) war zu diesem Zeitpunkt (nach einer Karriere als Accessist bei der Polizei, Regierungsassessor und Archivsekretär) königlich-hannoverscher Staatsrat. Seine dreibändige Abhandlung, der die hier zitierten Stellen entstammen, war eine wütende Polemik gegen die damalige Polizeiwissenschaft, und dieser Umstand prägte die Rezeption. Der Staatswissenschaftler und Nationalökonom Albert Schäffle (1831–1903) sah darin eine gewisse Tragik. „Hätte Zimmermann“ statt seines großen Werks, „welches von muthwilliger Verhöhnung der gelehrten Polizeiwissenschaft strotzt, den späteren kleinen Auszug von 1852 vom Stapel gelassen, so hätte er für Umkehr der verirrten Wissenschaft zum rechten Wege wohl weit mehr beigetragen als irgend
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dig seien daher Wissensvermittlung und Verhaltenszurichtung; schließlich verlange der Dienst eines Polizeidieners feine Kenntnisse und Fertigkeiten, „während doch anderseits der Mann regelmäßig aus solchen Menschenclassen hervorgeht, deren allgemeine geistige Bildung nicht im Verhältniß steht zu den geistigen Forderungen, welche seine polizeilichen Functionen an ihn stellen“.8 Und so komme alles darauf an, die Polizeidiener einer „beständigen Übung“ zu unterwerfen, um die wünschenswerte Geschicklichkeit ihrer „Handgriffe“ zu erreichen. Nachahmung dieses oder jenes „Vorturners“ allein reiche dazu allerdings nicht aus: [K]ein Mensch der Welt vermag dem Agenten auslangende Regeln und Beispiele für alle Lagen und Gegenstände zu geben, welche in seiner Thätigkeit ihm aufstoßen: der Civilagent selbst darf, und er muß sogar einen schönen Theil seiner Fortentwicklung auf dem Wege der Selbstbildung erreichen, mit seinen Erfahrungen das Erlernte vermehrend und modificirend.9
Die dienstalltägliche Selbstbildung sowie die schrittweise Formulierung einer polizeidienerlichen „Verhaltenslehre“ – also von Konzepten, die, so der Literaturwissenschaftler Helmut Lethen, das Bewusstsein für Unterschiede schärfen, Verhalten regulieren, Status sichern und gleichzeitig „Selbstinszenierungen eines Lebensstils“ sind10 – fungierte im neunzehnten Jahrhundert als Gegenstück einer lange überhaupt nicht existenten Berufsausbildung. Die Ausarbeitung einer Verhaltenslehre der Artigkeit, Besonnen- und Bescheidenheit (die sich vollumfänglich ausformuliert erst in ein Anderer“ (Schäffle, Albert: Die Stellung der politischen Verwaltung im Staatsorganismus aus dem Gesichtspunkt technisch zweckmässiger Arbeitstheilung, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 27 (1871), S. 181–250, Zitat: S. 217). Der bayerische Staatsrechtsprofessor Joseph Pözl (1814–1881) hielt es für Zimmermanns „Verdienst“, die Frage nach den „eigenthümlichen Tätigkeiten der Polizei“ gestellt zu haben. Freilich sei er zu weit gegangen, als er „mit der Erläuterung dieser Thätigkeiten und mit der Besprechung der Polizei-Organisation die ganze Polizeiwissenschaft erschöpft“ glaubte (Pözl, Joseph: Grundriß zu Vorlesungen über Polizei, München 1866, S. 14). Ende des neunzehnten Jahrhunderts wurde Zimmermanns Leistung darin gesehen, mittels Ausgliederung der ‚Wohlfahrtspflege‘ einen „modernen Begriff “ von Polizei entwickelt zu haben, der „auf die nach wissenschaftlicher Erkenntniß ringenden Praktiker […] wie eine Erlösung“ wirkte (Ackermann, C.A.: Polizei und Polizeimoral nach den Grundsätzen des Rechtsstaats, Stuttgart 1896, S. 24). 8 Zimmermann, Polizei [1845–1849], S. 1160. 9 Ebd., S. 1183f. (Hervorhebung im Original). Der Civilagent ist in zeitgenössischer Terminologie derjenige Polizeidiener, der nicht bewaffnet und in Uniform patrouilliert, sondern ‚in Zivil‘ ermittelt. 10 Lethen, Helmut: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt/M. 1994, S. 12; für einen ähnlichen Versuch, hier anzuschließen, vgl. Schlimm, Anette: Vom unwilligen, unfähigen Schulzen zum kompetenten Bürgermeister? Verhaltenslehren und Lernprozesse im ländlichen Raum des 19. Jahrhunderts, in: Administory 2 (2017), S. 214–236.
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Polizeilehrbüchern des frühen zwanzigsten Jahrhunderts findet) wirkte, so meine These, als Fluchtpunkt polizeidienerlicher Selbstbildung und als Instrument der Regulierung des Verhältnisses von Polizei und Publikum.11 Diese Verhaltenslehre hob auf eine Verinnerlichung der Fähigkeit abwägenden Agierens angesichts diffuser und zugleich unumgänglicher Ermessensspielräume ab. Unter- und innerhalb dieser über weite Teile des neunzehnten Jahrhunderts nur im Hintergrund greifbaren Verhaltenslehre fand polizeidienerliche Selbstbildung einen entscheidenden Anker in der Zuschreibung und Ausübung konkreter Aufgaben. Die Herausbildung eines Selbstverständnisses der Polizeidiener als Angehörige einer spezialisierten Berufsgruppe wurde dabei immer wieder von einem älteren Dienstverständnis unterlaufen, das im Polizeidiener eben das sah: einen Diener, ein stadtmagistratliches Faktotum. In der Forschung wurden die damit angedeuteten Fragen bisher eher sporadisch verhandelt. Lediglich Carolyn Steedman geht explizit der Frage nach, warum sich Polizeidiener im Verlauf des neunzehnten Jahrhunderts als Angehörige einer eigenständigen Gruppe zu verstehen begannen und Polizeidienst zunehmend als besonderer ‚Beruf ‘ angesehen wurde. Steedman spricht von einem wachsenden Bewusstsein der Polizeidiener, dass sie – als Gruppe – ein von anderen getrenntes Leben führten, diese Trennung aber nicht zuletzt Effekt einer seitens der Behörden vorangetriebenen sozialen Isolierung der Polizeidiener war.12 Verhaltenslehren und Identifizierungsprozesse wurden 11 Der Begriff des Publikums wird in der vorliegenden Studie durchgängig in seiner älteren Bedeutung verwendet: abgeleitet vom mittellateinischen publicum als Gesamtheit der Leute eines Landes oder Ortes, nicht in der engeren Bedeutung der Zuschauerinnen und Zuschauer einer künstlerischen Aufführung. Die ältere und weitere Begriffsbedeutung blieb das gesamte neunzehnte Jahrhundert über präsent (vgl. Art. publicum; publikum, in: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Online-Version vom 24.10.2016). 12 Vgl. Steedman, Carolyn: Policing the Victorian Community. The Formation of English Provincial Police Forces, 1856–1880, London u. a. 1984. Auf einen detaillierten Forschungsbericht kann hier verzichtet werden. Die Ausrichtung der bisherigen Forschung wird im Verlauf der Einleitung an verschiedenen Stellen diskutiert. In Deutschland war Polizeigeschichte lange Zeit Begriffsgeschichte (vgl. Maier, Hans: Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre, 2., neubearbeitete und ergänzte Auflage, München 1986 [1966]; Matsumoto, Naoko: Polizeibegriff im Umbruch. Staatszwecklehre und Gewaltenteilungspraxis in der Reichs- und Rheinbundpublizistik, Frankfurt/M. 1999; Preu, Peter: Polizeibegriff und Staatszwecklehre. Die Entwicklung des Polizeibegriffs durch die Rechts- und Staatswissenschaften des 18. Jahrhunderts, Berlin 1983) beziehungsweise modernisierungstheoretisch gerahmt (kritisch gegenüber der „andauernden Treue zu weberianischer Theorie“ und dem „fortwährenden Gebrauch von Konzepten wie Rationalisierung, Bürokratisierung und Modernisierung als Ordnungsprinzipien“: Evans, Richard J.: Polizei, Politik und Gesellschaft in Deutschland 1700–1933, in: Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), S. 609– 628, Zitat: S. 628). Polizei wurde in der Regel als Herrschaftsinstrument in Beziehung zu Militär und Verwaltung thematisiert. Dabei verschwanden innere Differenzierungen, Widersprüche und Ungleichzeitigkeiten mitunter „hinter dem Bild einer scheinbar monolithischen Staatsgewalt“ ( Jessen, Ralph: Polizei im Industrierevier. Modernisierung und Herrschaftspraxis im westfälischen
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entlang eines Dualismus von schreibendem Dienst und handfesten Executionen verhandelt. Jeder Polizeidiener des neunzehnten Jahrhunderts war mit der Herausforderung konfrontiert, zu schreiben und zuzupacken. Gleichzeitig hatten Polizeidiener damit umzugehen, dass nicht beides als gleichwertig, nicht beides als ‚eigentlicher‘ Polizeidienst angesprochen wurde. Wenn Polizeidiener schrieben, verrichteten sie Aufgaben, die zwar unbestritten zum Dienst gehörten, aber nicht identitätsbildend werden sollten. In geschlechtergeschichtlicher Hinsicht verweist das auf eine Spannung körperbetonter und gewaltbewehrter Männlichkeit auf der einen und dem im Bürgertum und unter Handwerkern wirkmächtigen Ideal des „ganzen Mannes“ (Martina Kessel), der über soziale und kommunikative Kompetenz verfügte, auf der anderen Seite. Mein Interpretationsvorschlag hebt freilich vor allem darauf ab, dass die Dynamik und die zahllosen Konflikte innerhalb der Polizeigeschichte des neunzehnten Jahrhunderts durch die soziale Nähe von Polizeidienern und Polizierten in Gang gesetzt und strukturiert wurden, entstammten beide Gruppen doch ähnlichen oder denselben Milieus.13 Aus diesem Grund ist der Fluchtpunkt der vorliegenden Studie weniger Ruhrgebiet 1848–1914, Göttingen 1991, S. 16f.; mit ähnlicher Kritik: Knöbl, Wolfgang: Polizei und Herrschaft im Modernisierungsprozeß. Staatsbildung und innere Sicherheit in Preußen, England und Amerika 1700–1914, Frankfurt/M. und New York 2001, S. 57f.). Andere Autoren haben, etwa vor dem Hintergrund kolonialgeschichtlicher Überlegungen, angemahnt, Phänomene der Erosion des staatlichen Gewaltmonopols, Prozesse der Dezentralisierung, der Entstaatlichung sowie der Privatisierung und Ausdifferenzierung von Polizeikompetenzen in den Blick zu nehmen (vgl. Ruland, Maximilian/Rojek, Sebastian: XXI. Polizeihistorisches Kolloquium, 15.7.2010– 17.7.2010, Köln (Tagungsbericht), in: H-Soz-u-Kult, 21.9.2010; Müller, Markus-Michael: Polizei und (post-)koloniales Regieren. Eine Einleitung, in: Comparativ 22 (2012), H. 3, S. 9–16). In den letzten Jahren zeigt sich zudem eine deutliche epochale Verschiebung. Die für das deutsche zwanzigste Jahrhundert in höherer Dichte vorliegenden Arbeiten beschäftigen sich vornehmlich mit der Rolle der Polizei bei Aufbau, Zerschlagung und Wiederaufbau der Demokratie vor dem Hintergrund der politischen Systemwechsel (vgl. Rossol, Nadine: Beyond Law and Order? Police History in Twentieth-Century Europe and the Search for New Perspectives, in: Contemporary European History 22 (2013), S. 319–330). Für das neunzehnte Jahrhundert hat man es mit einem älteren Forschungsstand zu tun. Zwar existieren einige hervorragende Studien. Diese sind aber – im Unterschied zur britischen Forschung – etwas isoliert geblieben (dazu: Luks, Timo: Geschichte der Polizei in Großbritannien, in: H-Soz-u-Kult, 17.12.2012). 13 Ich verwende den Milieubegriff nicht als explizites sozialwissenschaftliches Analysekonzept, das die soziale Bedingtheit individueller Verhaltensweisen zu operationalisieren trachtet. In diesem Sinn wird das Konzept seit einiger Zeit als „Faktotum der Soziologie“ (Gabriel Tarde) kritisiert. Gegenüber dem verdinglichten Verständnis sozialer Milieus als „ein Bündel von Bindungen, die später wieder herangezogen werden können, um ein anderes Phänomen zu erklären“, fordert Bruno Latour, konkrete Verbindungen, Versammlungen, Assoziationen und Verknüpfungstypen nachzuzeichnen (Latour, Bruno: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, Berlin 2010 [2005], S. 9f., 16–18). Aufgezeigt werden soll, wie „Akteure zu jedem beliebigen Zeitpunkt dazu gebracht werden, einer bestimmten Gruppe anzugehören, oft mehr als einer“ (ebd., S. 51). In diesem Sinn
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der Zusammenhang von Polizeibehörden und Staatsgewalt14, sondern derjenige von Polizeidienst und prekären Dienstverhältnissen. Konkret möchte ich aufzeigen, dass und wie die Einbettung in und Abgrenzung von hochgradig fluiden sozialen Zusammenhängen und heterogenen Kollektiven, die oft nur additiv auf den Begriff zu bringen waren15, den Polizeidienst des neunzehnten Jahrhunderts maßgeblich prägten. Im Aufeinandertreffen von Polizei und Publikum begegneten sich im neunzehnten geht die vorliegende Studie eben auch davon aus, dass Akteure „von einer Gruppe durch eine Reihe von Interventionen angeworben werden“ und dass es „viele widersprüchliche Gruppenbildungen, Gruppenmobilisierungen“, also „keine relevante Gruppe gibt, von der man sagen könnte, nur sie bilde soziale Aggregate, keinen feststehenden Bestandteil, der als unbestreitbarer Ausgangspunkt dienen könnte“ (ebd., S. 52f ). Es wird darum gehen, wie Gruppen und Gegengruppen identifiziert, zum Sprechen gebracht, die Grenzen zwischen ihnen zu stabilisieren versucht und welche Ressourcen dabei mobilisiert werden. Dass ich trotz gewisser Analogien zu einigen Argumenten Latours nicht auf den Begriff des Netzwerks zurückgreife, hat einen einfachen Grund: Die Gruppenbildung der Polizeidiener, ihre damit verbundene Herauslösung aus anderen Gruppenzusammenhängen sowie die kontinuierliche Politik der Distanzierung gegenüber dem Publikum gehen nicht in Punkt-zu-Punkt-Verknüpfungen auf. Demgegenüber erlaubt es ein bewusst unscharf gehaltener Milieubegriff zumindest ein Stück weit, Ähnlichkeiten, Wiederkennungs- und Abgrenzungseffekte in Verhalten und Auftreten von Akteuren zu fassen, die nicht unmittelbar durch ‚Nervenbahnen‘ und ‚Kanäle‘ verbunden sein müssen. 14 In der Forschung wurde die Geschichte der Polizei wiederholt als Baustein der Konsolidierung des staatlichen Gewaltmonopols im Innern analysiert. Die Geschichte der Staatsgewalt erweist sich als relativ später und langwieriger Prozess einer Ausdifferenzierung von Justiz, Regierung und Verwaltung. Gerade die Verstaatlichung von Gewalt und die Aufgabenteilung zwischen Militär und Polizei sei ein zentrales Merkmal des „vollentwickelten modernen Staats“ (Reinhard, Wolfgang: Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1999, S. 16). Vergleichbare Themen wurden in einer Reihe weiterer Arbeiten immer wieder analysiert (vgl. etwa: Funk, Albrecht: Polizei und Rechtsstaat. Die Entwicklung des staatlichen Gewaltmonopols in Preußen 1848–1918, Frankfurt/M. und New York 1986; Knöbl, Polizei [2001]; Merriman, John M.: Police Stories. Building the French State, 1815–1851, Oxford und New York 2006; Nitschke, Peter: Verbrechensbekämpfung und Verwaltung. Die Entstehung der Polizei in der Grafschaft Lippe 1700–1814, Münster 1990; Tilly, Charles: Coercion, Capital and States AD 900–1992, 2., überarbeitete Auflage, Cambridge/MA 1992). Im Hintergrund steht hier natürlich Max Webers Bestimmung, der zufolge Polizei eine Grundfunktion des Staats sei, zuständig für „den Schutz der persönlichen Sicherheit und öffentlichen Ordnung“. Sie sei Materialisierung eines gesellschaftlichen Ordnungs- und Schutzbedürfnisses, das Weber wiederum als eine wesentliche Triebkraft von Bürokratisierung identifizierte (vgl. Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 5., revidierte Auflage, Tübingen 1972 [1921], S. 516, 561). Auch Norbert Elias’ Studie zur „Soziogenese des Staates“ hebt auf das Monopol legitimer Waffengewalt ab (Elias, Norbert: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Frankfurt/M. 1997 [1939], Bd. 2, insbes. S. 20f., 132). 15 Dazu: Eiden-Offe, Patrick: Die Poesie der Klasse. Romantischer Antikapitalismus und die Erfindung des Proletariats, Berlin 2017. Ich habe mich an anderer Stelle mit dem analytischen Potential der Kategorie der Prekarität befasst, vgl. Luks, Timo: Prekarität. Eine nützliche Kategorie der historischen Kapitalismusanalyse, in: Archiv für Sozialgeschichte 56 (2016), S. 51–80.
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Jahrhundert eben auf beiden Seiten Handwerker, Schulmeister, Comptoiristen, Copisten, Lakaien, Jäger, Musikanten, Kellner und Hausknechte, ja sogar bestrafte Verbrecher. Gerade die einfachen Polizeidiener befanden sich in vielfältigen Distanzierungsnöten. Die Schwierigkeit, mit der sie und ihre Behörden sich konfrontiert sahen, lag darin, eine Distanz gegenüber den Polizierten zu erzeugen, die sozial, ökonomisch und habituell zunächst einmal so nicht bestand. Entscheidend und aufschlussreich ist daher die Rekonstruktion der Techniken sozialer Distanzierung, die in Anschlag gebracht wurden, um die Nähe polizeilicher und polizierter Milieus aufzusprengen, also zwischen Polizeidienern und Polizierten auch unter solchen Bedingungen zu unterscheiden, in denen hinsichtlich ihrer Herkunft kaum merkliche Unterschiede bestanden.16 Das grundlegende Problem ließe sich auch innerhalb eines anderen interpretatorischen Rahmens formulieren, nämlich entlang des Dualismus von Staat und Gesellschaft, der sich, so Werner Conze, seit der Wende zum neunzehnten Jahrhundert herausbildete. Infolge der damit verbundenen Entpolitisierung der Gesellschaft spielte sich eine ‚fortschrittliche‘ politische Willensbildung nun außerhalb und losgelöst vom Staat ab. Dass es nach 1815 nicht gelang, diese „Bewegung“ aufzunehmen, erwies sich als „verhängnisvoll“, entstand so doch eine Situation, in der es letztlich „nur noch eine Emanzipation gegen den Staat“ zu geben schien.17 Greift man dieses Interpretationsmuster auf, dann geht es darum, woraus der Staat in Abgrenzung zur Gesellschaft bestand und wer ihn – vor Ort – verkörperte. So weist Reinhart Koselleck darauf hin, dass seit den 1840er Jahren „das sich selbst aus der führenden Gesellschaft rekrutierende Beamtentum kein hinreichender Staatsträger mehr [war], um die Gesellschaft an den Staat zu binden, die dieser Staat produziert hatte“.18 Mit Blick auf die Polizeigeschichte drängt sich die Frage auf, wie es gelang, Angehörige bestimmter 16 Mechanismen sozialer Distanzierung werden von der Polizeisoziologie als wichtiger Teil der Ausbildung angesprochen (vgl. Chan u. a., Cop [2003], S. 218f.). Pierre Bourdieu weist auf einen ähnlichen Mechanismus hin: „Physische Gewalt kann nur von einer spezialisierten Gruppierung ausgeübt werden, die eigens dazu bevollmächtigt und durch ihre Uniform innerhalb der Gesellschaft klar identifiziert ist, also von einer symbolischen, zentralisierten und disziplinierten Gruppierung. […] Die Gesamtheit der Institutionen, die beauftragt sind, die Ordnung zu garantieren, nämlich die Polizei und die Justizkräfte, werden also nach und nach von der gewöhnlichen sozialen Welt separiert. Der Prozeß verläuft nicht ohne Rückschläge“ (Bourdieu, Pierre: Über den Staat. Vorlesungen am Collège de France 1989–1992, Berlin 2014, S. 350f.). 17 Conze, Werner: Das Spannungsfeld von Staat und Gesellschaft im Vormärz, in: ders. (Hg.), Staat und Gesellschaft im deutschen Vormärz 1815–1848, Stuttgart 1962, S. 207–269, hier: S. 224, 247. 18 Koselleck, Reinhart: Staat und Gesellschaft in Preußen, 1815–1848, in: Wehler, Hans-Ulrich (Hg.), Moderne deutsche Sozialgeschichte, Köln u. a. 1968, S. 55–84, Zitat: S. 84. Dazu auch: Nebelin, Marian: Das Preußenbild Reinhart Kosellecks, in: Kraus, Hans-Christof (Hg.), Das Thema „Preußen“ in Wissenschaft und Wissenschaftspolitik vor und nach 1945, Berlin 2013, S. 333–384, hier: S. 357–359.
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Gruppen aus ihrer gesellschaftlichen Einbettung herauszulösen, sie zur Verkörperung von Staatsgewalt zu machen und mit der Aufgabe zu betrauen, den Staat gegen gesellschaftliche Emanzipationsbewegungen zu verteidigen.19 Die Herausbildung der Polizei lässt sich mithin nicht von der Entstehung zunächst der bürgerlichen Marktund dann der Industriegesellschaft sowie der Formierung des Rechts- wie auch des bürokratischen Anstaltsstaats trennen. Die Polizei gehört zu jenen technisch-praktischen Neuerungen, die auf die Regierung der zivilen Tausch- und Verkehrsgesellschaft des neunzehnten Jahrhunderts zielten.20 Reinhart Koselleck hat diesen Zusammenhang für Preußen erschlossen. Während die Verwaltung zunächst als gestaltende Kraft hervortrat, wurde sie in den 1840er Jahren zum reinen Exekutivorgan, und es vollzog sich eine „Wende vom Justizstaat zum Polizeistaat“.21 Eine ähnliche Entwicklung lief in Bayern ab. Mit dem „napoleonischen Umbruch“, so schreibt Werner K. Blessing, etablierte sich das „staatliche Leitbild rationaler und effektiver Homogenität“, das „einen amalgamierenden Staatszugriff auf die Bevölkerung von neuer Intensität“ ermöglichte. Blessing spricht in Anlehnung an Kosellecks Preußenstudie auch für Bayern von einer „bürokratischen Entwicklungs-‚Diktatur‘.“22 In gewisser Weise 19 Die Polizierung von Protest ist vor diesem Hintergrund rasch zu einem der Forschungsschwerpunkte der Polizeigeschichte geworden. Das betrifft etwa die Rolle der Ordnungskräfte in der Revolution von 1848 (vgl. mit weiterer Literatur: Hachtmann, Rüdiger: Epochenschwelle zur Moderne. Einführung in die Geschichte der Revolution von 1848/49, Tübingen 2002, S. 124–132). Die polizeihistorische Forschung hat darüber hinaus wiederholt die konflikttheoretische Frage nach den politischen und sozialen Auseinandersetzungen zwischen Arbeiterklasse und Bürgertum samt der Rolle der Polizei in diesen Auseinandersetzungen gestellt (vgl. Jessen, Polizei [1991]; sowie für Britannien und die USA: Geary, Richard: Policing Industrial Disputes, 1893 to 1985, Cambridge 1985; Johnson, Bruce C.: Taking Care of Labor. The Police in American Politics, in: Theory and Society 3 (1976), S. 89–117; Morgan, Jane: Conflict and Order. The Police and Labor Disputes in England and Wales, 1900–1939, Oxford 1987; Weinberger, Barbara: Keeping the Peace? Policing Strikes in Britain, 1906–1926, New York und Oxford 1991). Neben einer Analyse manifester sozialer Konflikte geht es dabei auch um die Frage nach unterschiedlichen Disziplinierungsinstrumenten, das heißt der Durchsetzung bürgerlicher Wertvorstellungen (vgl. Storch, Robert D.: The Plague of the Blue Locusts. Police Reform and Popular Resistance in Northern England, 1840– 1857, in: International Review of Social History 20 (1975), S. 61–90; ders.: The Policeman as a Domestic Missionary. Urban Discipline and Popular Culture in Northern England, 1850–1880, in: Journal of Social History 9 (1975/76), S. 481–509; aber auch: Monkkonen, Eric H.: From Cop History to Social History. The Significance of the Police in American History, in: Journal of Social History 15 (1981/82), S. 575–591). 20 Dazu: Bohlender, Matthias: Metamorphosen des liberalen Regierungsdenkens. Politische Ökonomie, Polizei und Pauperismus, Weilerswist 2007, insbes. S. 29–34, 44f. 21 Koselleck, Reinhart: Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 bis 1848, 2., korrigierte Auflage, München 1989 [1967], S. 405, 433. 22 Blessing, Werner K.: Staatsintegration als soziale Integration. Zur Entstehung einer bayerischen Gesellschaft im frühen 19. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte 41 (1978),
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deutet das auf eine Transformation der von Michel Foucault für die zweite Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts beschriebenen Funktion der Polizei hin: die Übernahme von Disziplinierungsfunktionen und die Herstellung von Verbindungen zwischen verstreuten Machtinstanzen. Der Aufstieg der Polizei ist also keineswegs einseitig als Indikator einer voranschreitenden ‚Verstaatlichung‘ zu lesen. „Gewiß ist die Polizei als Staatsapparat organisiert und direkt ans Zentrum der politischen Souveränität angeschlossen worden. Aber ihr Machttyp“, so eine einschlägige Formulierung Foucaults, „ihre Einsatzmechanismen und -bereiche sind von unverkennbarer Eigenheit. Es handelt sich um einen Apparat, der mit dem gesamten Gesellschaftskörper koextensiv ist – und zwar nicht nur aufgrund seiner äußeren Grenzen, sondern aufgrund seines Eingehens auf jedes einzelne Detail. […] Mit der Polizei befindet man sich in einer infinitesimalen Kontrolle, welche die oberflächlichsten und flüchtigsten Erscheinungen des Gesellschaftskörpers zu erfassen sucht.“23 Die Entstehung der modernen Polizei lässt sich als Reaktion auf eine politische, soziale und wirtschaftliche Dynamisierung fassen; Polizei als Instrument der Eindämmung und Kanalisierung gesellschaftlichen Wandels und seiner Folgen. Die Verbform polizieren (beziehungsweise policieren), die in der vorliegenden Studie verwendet wird, heute aber nicht mehr gebräuchlich ist, zeigt diesen Zusammenhang an. Im sechzehnten Jahrhundert aus dem Französischen entlehnt, wurde damit bis ins neunzehnte Jahrhundert eine bestimmte Aktivität bezeichnet. Polizieren oder Policieren meinte: etwas polizeilich erlassen, etwas durch obrigkeitliches Mandat anordnen; aber auch: etwas in gute bürgerliche Ordnung bringen. Ein policiertes Reich oder ein policierter Mensch war verfeinert und zivilisiert.24 Die entscheidenden Fragen dabei bleiben jedoch: Wer sollte diese Aufgabe erledigen? Welche Anforderungen – auch hinsichtlich einer Selbstpolizierung – waren an diejenigen zu stellen, die Land und Leute faktisch polizierten? Eine umfassende Polizeigeschichte für das gesamte neunzehnte Jahrhundert lässt sich kaum schreiben, wenn man mehr als einen Überblick anstrebt, der über Behördengeschichte, rechtliche und administrative Kodifizierungen und einige sozialstatistische Bemerkungen zu Polizeimannschaften im Allgemeinen kaum hinauskommen dürfte. Daher gehe ich in der Hauptsache von lokalen Konstellationen und von alltäglichen Handlungssituationen der einfachen Polizeidiener vor Ort aus, die dann auf mögliche allgemeinere Schlussfolgerungen hin befragt werden.25 Der lokale S. 633–700, hier: S. 634f. 23 Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt/M. 1994 [1975], S. 274. 24 Art. polizieren, policieren, in: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. OnlineVersion vom 24.10.2016. 25 Die analysierten Fälle stammen allesamt aus Bayern – vornehmlich aus Nürnberg und Regensburg. Mit dieser Auswahl wird bewusst auf Haupt- und Residenzstädte verzichtet, da diese bisher ohnehin die Hauptaufmerksamkeit der Forschung auf sich gezogen haben und polizeihistorisch zudem
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Charakter polizeilichen Handelns macht es nötig, die Ebene des Staats zu verlassen und stattdessen Polizeidiener in ihrem jeweiligen städtischen Mikrokosmos zu situieren. Die Analyse polizeihistorischer ‚Fälle‘ und die Rekonstruktion übergreifender Entwicklungen werden ineinander geblendet – in Form einer „dichten Beschreibung“ (Clifford Geertz) von Polizeikultur, polizeilicher Praxis und Polizeidieneralltag.26 In pragmatischer Hinsicht schließt das auch an Überlegungen Siegfried Kracauers an, die im Umfeld der Mikrogeschichte eine erkennbare Wirkung hatten. Kracauer regte eine Herangehensweise an, die immer wieder die Perspektiven wechselt, mit verschieden großen Maßstäben operiert und sich bewusst bleibt, dass einfache Übertragungen von der Mikro- auf die Makroebene ebenso wenig möglich sind, wie Makrogeschichte in der Integration aller möglichen Mikrogeschichten aufgeht. „Den Beobachtungsmaßstab verkleinern“, so schreibt Carlo Ginzburg, einer der Pioniere der Mikrogeschichte, könne bedeuten, „in ein ganzes Buch zu verwandeln, was für einen anderen Wissenschaftler […] nur eine einfache Fußnote abgegeben hätte.“27 Meine Studie versucht sich an einer „interpretativen Geschichte im kleinen Maßstab“ (Siegfried Kracauer). eher als Sonderfälle, nicht als typische Beispiele gelten können. Mit Nürnberg und Regensburg werden zwei mittelgroße Städte in den Blick genommen, die es ermöglichen, das Wirken der Polizei in einer je spezifischen Umgebung zu analysieren. Regensburg bot als altbayerisches Verwaltungszentrum andere Bedingungen, als es im neubayerischen Nürnberg mit seiner reichsstädtischen Tradition patrizischer Selbstverwaltung der Fall war. In Regensburg spielte sich polizeidienerliche Selbstbildung im Rahmen etablierter Strukturen ab, die sich bereits ein Stück weit verselbständigt hatten; in Nürnberg geschah das parallel zur Einführung einer neuen Verwaltungsstruktur infolge der Eingliederung in den bayerischen Staat. Als Gewerberegionen mit unterschiedlich ausgeprägten (früh-)industriellen Entwicklungstendenzen bieten Regensburg und Nürnberg mit ihrem jeweiligen Umland die Möglichkeit, die Konturen der Polizei auf eine spezifische soziale und ökonomische Dynamik zu beziehen. 26 Gemeint ist damit der Versuch, sich „umfassenden Interpretationen und abstrakteren Analysen von der sehr intensiven Bekanntschaft mit äußerst kleinen Sachen her“ zu nähern (Geertz, Clifford: Dichte Beschreibung. Bemerkungen zu einer deutenden Theorie von Kultur, in: ders., Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt/M. 1987, S. 7–43, Zitat: S. 30). 27 Ginzburg, Carlo: Mikro-Historie. Zwei oder drei Dinge, die ich von ihr weiß, in: Historische Anthropologie 1 (1993), S. 169–192, Zitat: S. 181; dazu auch: Kracauer, Siegfried: Geschichte – vor den letzten Dingen, Frankfurt/M. 1971, S. 125–157; sowie mit Bezug auf Kracauer: Schlumbohm, Jürgen: Mikrogeschichte – Makrogeschichte. Zur Eröffnung einer Debatte, in: ders. (Hg.), Mikrogeschichte – Makrogeschichte. Komplementär oder inkommensurabel?, Göttingen 1998, S. 7–31; Pomata, Gianna: Close-Ups and Long Shots. Combining Particular and General in Writing the Histories of Women and Men, in: Medick, Hans (Hg.), Geschlechtergeschichte und allgemeine Geschichte. Herausforderungen und Perspektiven, Göttingen 1998, S. 99–124; für eine anregende Diskussion der theoretischen und methodischen Herausforderungen der Vermittlung von Mikround Makroperspektiven vgl. auch: Pohlig, Matthias: Vom Besonderen zum Allgemeinen? Die Fallstudie als geschichtstheoretisches Problem, in: Historische Zeitschrift 297 (2013), S. 297–319.
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Wie jede historische Studie, die alltägliche Handlungssituationen und soziale Konstellationen aufzeigen will und sich dabei nicht auf die „höheren Classen der Gesellschaft“ (Gustav Zimmermann) konzentriert, stößt auch die vorliegende Arbeit unweigerlich auf eine Herausforderung, die aus der Beschaffenheit der verfügbaren Quellen resultiert. Die archivalische Überlieferung folgt in der Regel der behördlichen Sicht der Dinge und behandelt einfache Polizeidiener als Objekt regulierender und disziplinierender Zugriffe; als ‚Rohmaterial‘, das es gemäß den Vorstellungen, Anforderungen und Erwartungen der jeweiligen Behörde umzugestalten gilt. Es waren vornehmlich Polizeiaktuare und Polizeioffizianten (und nicht die einfachen Polizeidiener), die den Großteil der archivalischen Überlieferung, mit der ich arbeite, produzierten – in Personalangelegenheiten oft gestützt auf Berichte und Einschätzungen der jeweiligen Polizeirottmeister. Die Art und Weise, wie über die Schiffbrüchigen des Lebens berichtet wurde, das heißt: die Art und Weise, wie einfache Polizeidiener in den Quellen erscheinen, reflektiert immer die Perspektive behördlicher Schreibprofis, also sozialen Dünkel und Diensthierarchien. Ähnliches gilt für zeitgenössische Polizeiwissenschaftslehren – ein wichtiger Korpus gedruckter Quellen –, in denen die oft genug spärlichen Ausführungen zum Polizeipersonal zumeist aus einer Diskussion verschiedener Staatszwecke abgeleitet und diesen untergeordnet werden. Die Sicht der einfachen Polizeidiener kommt in all diesen Quellen nur vermittelt zur Geltung, insofern nämlich, als dass sie allein oder gemeinsam gezwungen waren, sich zu den an sie herangetragenen Vorstellungen, Anforderungen und Erwartungen zu verhalten. Die Fahndung nach ‚authentischen‘ Selbstbildern von Polizeidienern ist daher von vornherein ausgeschlossen – und zwar nicht nur aus pragmatischen, quellenkritischen Gründen, sondern auch deshalb, weil die Beantwortung einer solchen Frage aus theoretisch-methodischer Sicht bestenfalls illusionär wäre. Möglich und sinnvoll ist stattdessen eine relationale Perspektive, die davon ausgeht, dass Selbstbilder und äußere Zuschreibungen kaum zu trennen sind und beides sich über eine Analyse machtdurchwirkter Positionen erschließen lässt. Quellen, in denen das Agieren von Polizeidienern erkennbar wird (Vernehmungen bei Disziplinarvergehen, Dienstbeurteilungen und dergleichen), haben darüber hinaus – zweite Schwierigkeit – eine individualisierende Tendenz, das heißt Fehl- wie Wohlverhalten, Abweichung wie Übereinstimmung werden als persönliches Versagen oder Verdienst beschrieben, während Quellen, die die Funktionsweise von Polizeibehörden thematisieren, die im Innern wirkende Dynamik der Polizeimannschaften verdecken. Gesellschaftliche Erwartungen wiederum werden als abstrakte Regelwerke präsentiert – als allgemeines Räsonnement im Stil der Polizeiwissenschaftslehren –, die eher der Eigenlogik normativer Quellen (Dusollst-(nicht)!) folgen, als dass sie eine Anleitung zur Praxis waren.28 28 Zum Genre der „praktischen Texte“: Eiben, Jörn: Das Subjekt des Fußballs. Eine Geschichte bewegter Körper im Kaiserreich, Bielefeld 2016, S. 27–32.
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Ausgangspunkt der vorliegenden Studie sind administrative Quellen: Unterlagen von Stadtmagistraten und städtischen Polizeibehörden, Interventionen von Kreis-, Bezirks- und Staatsregierungen sowie Verhandlungen von Appellations-, Kreis- und Bezirksgerichten. Hinzu kommen Anstellungsgesuche für den Polizeidienst, ärztliche Gutachten und Atteste über den Gesundheitszustand einzelner Polizeidiener sowie Pensionierungsgesuche. Schließlich ziehe ich Polizeihandbücher, polizeiwissenschaftliche Abhandlungen und Dienstinstruktionen heran. Einige Kapitel beziehen sich schwerpunktmäßig auf eine dieser Quellengattungen. Deren Besonderheiten und die jeweils erforderlichen methodischen Vorkehrungen werden in den entsprechenden Kapiteln diskutiert. Einige der auch von mir verwendeten Quellengattungen wurden in der Polizeigeschichte immer wieder benutzt, in der Regel aber mit einem anderen Ziel: der Rekonstruktion von Verwaltungsabläufen und Verwaltungsstrukturen, Entscheidungs- und Instanzenwegen usw. Ich versuche, die Quellen auf andere Weise zu bearbeiten, das heißt vor allem, ihren fragmentarischen und heterogenen Charakter nicht in einer vereinheitlichenden Perspektive ‚von oben‘ unsichtbar zu machen, sondern ihre „ohrenbetäubende Vitalität“ (Edward P. Thompson) zur Geltung zu bringen. Dabei folge ich einem Programm, das die Historikerin Arlette Farge vor vielen Jahren eindrucksvoll entworfen hat; ein Programm, das die Spannung zwischen Theoriebildung und dem Sinnüberschuss einzelner Archivalien zu nutzen weiß. Die Archivalie ist immer ein Verzehren, dessen Sinn nicht ein für allemal erlangt ist. In diesem Fall ist sie weder wirklichkeitstreu noch völlig repräsentativ für die Realität, sondern sie spielt eine Rolle in dieser Wirklichkeit, sie greift ein als Differenz, als Diskrepanz gegenüber anderen möglichen Aussagen. […] Ich denke mir die Archivalie auch gern als einen Einbruch. Denn Einbruch bedeutet Angriff, Einfall, plötzliches und unverhofftes Eintreten, Überfall. Von nun an gewinnt die Archivalie ihr volles Gewicht: sie sticht hervor, sprengt den Rahmen und übersteigt ihn, sie ist Laune, Scherz oder Tragödie.29
Die Kapitel der vorliegenden Studie sind entlang bestimmter Probleme organisiert, folgen dann aber auch einer inneren Chronologie, die jeweils um zwei entscheidende Phasen kreist: erstens die polizeihistorische „Sattelzeit“ (Reinhart Koselleck), die sich von den 1810er Jahren bis in die frühen 1840er Jahre erstreckte30; zweitens die 29 Farge, Arlette: Das brüchige Leben. Verführung und Aufruhr im Paris des 18. Jahrhunderts, Berlin 1989, S. 11f. 30 Zu diesem Konzept: Koselleck, Reinhart: Einleitung, in: Brunner, Otto/Conze, Werner/Koselleck, Reinhart (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1, Stuttgart 1972, S. XIII–XXVII; sowie: Motzkin, Gabriel: Über den Begriff der geschichtlichen (Dis-)Kontinuität. Reinhart Kosellecks Konstruktion der „Sattelzeit“, in: Joas, Hans/Vogt, Peter (Hg.), Begriffene Geschichte. Beiträge zum Werk Reinhart Kosellecks, Berlin 2011, S. 339–358.
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1860er Jahre als entscheidender Moment der Reorganisation der Polizei. In Bezug auf diese beiden Wegmarken kommt es nicht darauf an, den Ursprung der modernen Polizei zu identifizieren, sondern einen Übergang zu einer polizierten Gesellschaft herauszuarbeiten. Die erste Phase ist durch die Überlagerung der älteren PolizeyTradition (wesentlich getragen von rechts- und verwaltungswissenschaftlichen, in der älteren Terminologie eben polizeywissenschaftlichen Theoriedebatten31) und einer Suche nach neuen Formen polizeidienerlichen Handelns vor Ort (im Kontext der zahllosen Verwaltungsreformen der nachnapoleonischen Zeit) gekennzeichnet. Sozialgeschichtlich bedeutsam ist für diesen Zeitraum die Existenz eines sattelzeitlichen Prekariats beziehungsweise gewerblicher Grenzexistenzen sowie fluider, wenig segmentierter Arbeitsmärkte, aus denen sich Polizeimannschaften rekrutierten. Das Aufbrechen der bis dato stabilen Wirtschafts- und Sozialordnung brachte es mit sich, dass Angehörige derselben oder ähnlicher Milieus sehr verschiedene Werdegänge einschlugen – und sich mitunter recht unvermittelt in Konfrontation zueinander wiederfinden konnten. Die erste Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts erweist sich auch mit Blick auf den Polizeidienst als sozialgeschichtliche Wasserscheide. Die zweite Phase markiert einen Umbau der Polizei, zunächst vor allem in Form eigenständiger und klar strukturierter Behörden, dann aber auch hinsichtlich der Anforderungen und des Qualifikationsprofils der Polizeidiener. Dieser Umbau erfolgte unter den Bedingungen eines sozialgeschichtlich markanten Verschwindens vorindustrieller Arbeitsmärkte (und damit der Rekrutierungsfelder für den Polizeidienst). Die sich langsam abzeichnenden Konturen einer modernen Klassengesellschaft prägten auch die neue Ausgestaltung der Polizei: organisatorisch und personell ebenso wie im Verhältnis zum Publikum, dessen soziale Zusammensetzung sich ebenfalls entscheidend geändert hatte. In den einzelnen Kapiteln werden zunächst einmal je für sich bestimmte Problemlagen analysiert, die im Hinblick auf die einzelnen Thesen allerdings nicht alle die gleiche Erklärungskraft haben. Bestimmte Aspekte kommen in der Analyse der Einbettung von Polizeidienern in das zeitgenössische Behördengeflecht zum Vorschein; andere mittels einer Analyse der Polizeimannschaften als peer group mit zahlreichen internen Hierarchien; wieder andere zeigen sich vornehmlich in einer Analyse der Beziehungen von Polizei und Publikum. Selbstbildung erfolgte gleichzeitig in Beziehung zu und in Abgrenzung von Vorgesetzten, Kollegen und Polizierten. In den Kapiteln wechseln sich Überblickspassagen und dichte Fallschilderungen ab. Regel31 Ich werde immer dann auf die ältere Schreibweise – mit Ypsilon – zurückgreifen, wenn entweder die frühneuzeitliche Tradition gemeint ist oder deren Überhänge ins neunzehnte Jahrhundert betont werden sollen. In den verwendeten Quellen findet sich freilich fast durchgängig die ältere Schreibweise. Das ist auch dann der Fall, wenn verschiedene Begriffskomposita explizit nicht mehr in der älteren, rechts- und verwaltungswissenschaftlichen Bedeutung verwendet werden.
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mäßig werden die Schilderungen allgemeiner Entwicklungen durch ein Heranzoomen an konkrete Situationen unterbrochen oder, vielleicht eher: einzelne Quellenfunde werden in all ihrer Widersprüchlichkeit und Zufälligkeit präsentiert, um dann den Fäden zu folgen, die von ihnen ausgehen. Diese Fallschilderungen – Anekdoten im Sinn Stephen Greenblatts32 – haben nicht lediglich illustrative Zwecke, sondern an ihnen soll die Dynamik der Polizeigeschichte herausgearbeitet werden. Die Fälle werden daher zum Teil umfänglich vorgestellt (oder es werden verschiedene kleinere Fälle verdichtet), um ansonsten leicht zu übersehende Nuancen einer Analyse zugänglich zu machen. Auf diese Weise wird es möglich, verschiedenartige Quellen nicht nur aufeinander zu beziehen, sondern eine Geschichte zu erzählen, die jenseits einer Nacherzählung ihrer Quellen immer wieder auf das Verständnis größerer Zusammenhänge zielt: „Die Vorstellung“, so fassen Michel Foucault und Arlette Farge ein solches Ziel, „daß die Geschichtswissenschaft zur ‚dokumentarischen Genauigkeit‘ und die Philosophie zur ‚Errichtung von Gedankengebäuden‘ verurteilt sei, halten wir für Unsinn. Wir arbeiten anders.“33 Die Anordnung der Kapitel folgt den Stationen der Biographie und Karriere eines idealtypischen Polizeidieners des neunzehnten Jahrhunderts, um die Erfahrungshorizonte, Verhaltensanforderungen, Aufgaben und Konfliktlagen zu verdeutlichen, mit denen (angehende) Polizeidiener umzugehen hatten. Zunächst wird ein Gruppenportrait derjenigen gezeichnet, die Polizeidiener werden wollten, also zahlreicher Handwerker, Dienstboten, Gerichtsdiener, Soldaten, Gendarmen usw., die sich im Verlauf des neunzehnten Jahrhunderts als Polizeidiener bewarben. Das beinhaltet eine Analyse der Bewerbungsverfahren ebenso wie eine Auffächerung der Selbstentwürfe der Bewerber und ihrer Motive (Kapitel 2). Das daran anschließende Kapitel verfolgt den Weg derjenigen, die für den Dienst ausgewählt und eingestellt wurden. 32 Einem ‚anekdotischen‘ Zugriff auf die Geschichte geht es um das „Herausstellen eines Textfragments voller Resonanz, das unter dem Druck der Analyse allmählich preisgibt, dass es das ganze Werk und zugleich eine spezifische Kultur repräsentiert, in der dieses Werk produziert und konsumiert wurde. Diese Kultur wiederum macht das Fragment ausdeutbar, und zwar sowohl als etwas, das nur in einem bestimmten Moment und in einer bestimmten Konstellation von Umständen, Strukturen und Annahmen geschrieben werden konnte, als auch als etwas, das die Lebenswelt jenes Zeitpunkts festhält“ (Greenblatt, Stephen: Erich Auerbach und der New Historicism. Bemerkungen zur Funktion der Anekdote in der Literaturgeschichtsschreibung, in: ders., Was ist Literaturgeschichte?, Frankfurt/M. 2000, S. 73–100, Zitat: S. 79; vgl. auch ders./Gallagher, Catherine: Counterhistory and the Anecdote, in: diess., Practicing New Historicism, Chicago und London 2000, S. 49–74; sowie die klugen Überlegungen zu einer sozial- und alltagsgeschichtlichen Theoretisierung der Genreform der Anekdote bei Steedman, Carolyn: An Everyday Life of the English Working Class. Work, Self and Sociability in the Early Nineteenth Century, Cambridge u. a. 2013, S. 256–260). 33 Farge, Arlette/Foucault, Michel: Familiäre Konflikte: Die „Lettre de cachet“. Aus den Archiven der Bastille im 18. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1989 [1982], S. 9.
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Es geht um die Herausforderungen beim Dienstantritt, die Ausstattung und Uniformierung der ‚Neuen‘ und um die Auswirkungen auf die häuslichen Verhältnisse, aber auch um die Zusammensetzung der Mannschaften, in die sich die Eingestellten einzufügen hatten (Kapitel 3). Dem folgen Ausführungen zu Bezahlung und Gehältern. Im Zentrum steht dabei nicht nur die Höhe des Einkommens, sondern vor allem das Zusammenspiel von regelmäßigem Grundgehalt, Prämien und Sonderzahlungen, Pensionsaussichten und Hinterbliebenenversorgung, Kredit und Schulden, aber auch Geschenken, Trinkgeldern usw., die manchmal drohten, die Grenze zur Bestechung zu überschreiten (Kapitel 4). Ausgewählt und eingestellt, vereidigt und uniformiert, einigermaßen entlohnt – so begegneten die Polizeidiener gleich mehreren vorgesetzten Behörden, die unterschiedliche Anforderungen stellten und keineswegs einheitliche Vorstellungen davon hatten, wie ein Polizeidiener zu sein hatte und wie er sich verhalten sollte. Dieses Behördengeflecht wie auch die sich aus der Sicherheitsarchitektur des neunzehnten Jahrhunderts ergebende Begegnungen von Polizei, Militär, Gendarmerie und zivilen Ordnungsformationen werden im Anschluss an die Ausführungen zu den Bezahlverhältnissen rekonstruiert (Kapitel 5). Die drei folgenden Kapitel beschäftigen sich aus verschiedenen Blickwinkeln mit Dienstaufgaben und Einsatzorten. Zunächst wird die Behandlung von Polizeidienern als Faktotum nachgezeichnet, denen städtische Magistrate und Polizeibehörden alles auftrugen (oder aufbürdeten), was irgendwie zu erledigen war. Die tendenziell grenzenlose Aufgabenfülle setzte einerseits Diskussionen über den ‚pedantischen‘ und ‚gehässigen‘ Charakter der Polizei in Gang, schienen Polizeidiener sich doch für alles zu interessieren und in alles einzumischen. Andererseits wandten kritische Stimmen aber auch ein, dass die Überhäufung der Polizeidiener mit allen möglichen Aufgaben zur Vernachlässigung des ‚eigentlichen‘ Diensts führe. Dabei wird ein Wandel der Entwürfe des Polizeidieners – vom magistratlichen Faktotum zum selbsttätig und nach eigenem Ermessen agierenden Exekutivbeamten – aufgezeigt (Kapitel 6). Daran anschließend arbeite ich einen fundamentalen Dualismus heraus, der die polizeidienerlichen Aufgaben und Tätigkeiten strukturierte und gleichzeitig bestimmte Männlichkeitsvorstellungen transportierte: auf der einen Seite Aufgaben und Tätigkeiten, die körperliches Zupacken erforderten; auf der anderen Seite ‚lästige Vielschreiberei‘ auf „bequemen Sitzämtern“ (Kapitel 7). Dem schließt sich ein Kapitel an, das nach dem Grad der körperlichen Anstrengung und den – zumeist – körperlichen Folgen fortgesetzter Dienstanstrengung fragt, nach Tauglichkeit und Untauglichkeit, nach Krankheit, Erschöpfung und der Aufzehrung der Kräfte im Dienst (Kapitel 8). Das Folgekapitel reiht fünf Fallstudien aneinander, deren dichte Beschreibung verschiedene Facetten des polizeilichen Umgangs mit dem Publikum ins Blickfeld rückt. Die Analyse und Interpretation unterschiedlicher Konflikte und Konstellationen zielen auf ein Verständnis der sozialen Einbettung und des relationalen Charakters polizeidienerlicher Selbstbildung (Kapitel 9). Im vorletzten Kapitel wird der Versuch unternommen,
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polizeidienerliche Verhaltenslehren zu resümieren, wie sie sich um 1900 herausgebildet hatten. Diese Verhaltenslehren hoben allesamt auf das Benehmen eines Polizeidieners vornehmlich gegenüber dem Publikum ab, und ihre Analyse ermöglicht es, gewissermaßen im Rückblick, den Polizeidienern des neunzehnten Jahrhunderts schärfere Konturen zu verleihen (Kapitel 10). Dem folgt schließlich – anstelle einer traditionellen Zusammenfassung – ein kleines literarisches Experiment auf Grundlage des in den vorangegangenen Kapiteln vorgestellten und interpretierten Materials: die fiktive biographische Skizze eines idealtypischen Polizeidieners, wie es ihn im neunzehnten Jahrhundert gegeben haben könnte (Kapitel 11).
2. Wer Polizeidiener werden will Da ich im Lesen, Schreiben und Rechnen sehr gut bewandert bin, ledigen Stands, vollkommen gesund und im 25. Lebensjahr stehend [und] mich diese Stelle vollkommen gewachsen fände …1
Man stelle sich vor, wie die deutsche Geschichte verlaufen wäre, wenn August Bebel Polizeidienersohn oder gar selbst Polizeidiener geworden wäre. Beides ist im Rückblick nicht so unwahrscheinlich. Bebels Vater diente viele Jahre als Unteroffizier und lebte „in erbärmlichen Verhältnissen“. Ihm „schlug insofern die Erlösungsstunde“, so erinnerte sich der Sohn, „als ihm im Frühjahr 1843 der Posten eines Grenzaufsehers angeboten wurde, für welchen Dienst er sich seit Langem gemeldet hatte. […] Noch bevor die dreimonatige Probezeit zu Ende war, hatte sich mein Vater infolge des anstrengenden Nachtdienstes eine schwere Erkrankung zugezogen.“2 Kurz darauf starb er. Bebels Onkel wiederum arbeitete als Aufseher in einer Gefangenenanstalt. Bei dieser Familiengeschichte wäre ein Eintritt in den Polizeidienst durchaus möglich gewesen. Gänzlich anders verlaufen wäre die deutsche Geschichte dann sicher nicht. Die Sozialdemokratie war so oder so auf dem Weg; ob mit einem Drechsler Bebel oder gegen einen Polizeidiener Bebel ist vernachlässigbar. Aber dennoch, Herkunft und Werdegang Bebels lassen einen Zusammenhang erkennen, der für die Geschichte der Polizei im neunzehnten Jahrhundert charakteristisch ist: die Nähe bestimmter Milieus. Aus Sicht der Interessenten war der Polizeidienst Teil eines arbeitsmarktlichen Kontinuums, kein besonderes Beschäftigungsverhältnis oder gar ein spezialisierter Beruf. Ein Entschluss zur Bewerbung als Polizeidiener wurde in den meisten Fällen nicht als Bruch mit der sozialen Herkunft oder den verfügbaren Alternativen, sondern als Fortsetzung des alltäglichen Ringens um einen bescheidenen Lebensunterhalt wahrgenommen. Viele Zeitgenossen Bebels, die aus ähnlichen Verhältnissen kamen, fanden den Weg zur Polizei; einige direkt nach der Militärzeit, andere im Anschluss an eine handwerkliche Ausbildung. Handwerk, Polizei und sonstige Sicherheitsdienste überschnitten sich vielfach. Handwerker und Polizeidiener hatten einen ähnlichen Erfahrungshintergrund. Wo die einen den Weg zu gewerkschaftlicher Organisation oder in die Sozialdemokratie fanden, verschlug es andere in Positionen, die nicht 1 Gerl, Sylverinus, an Magistrat Regensburg, 15.6.1874, StAReg, ZR I 10803. 2 Bebel, August: Aus meinem Leben, Bonn 1997 [1910–1914], S. 11, 13. Das Problem der körperlichen Auszehrung infolge anstrengenden (Nacht-)Diensts wird in einem späteren Kapitel eigens diskutiert.
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zuletzt dazu da waren, die Arbeiterbewegung im Zaum zu halten. Und so begegneten sich, das als Vorgriff auf die folgende Analyse, Handwerker-Polizisten und Handwerker-Sozialisten. Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich also, aufgrund des zeitlichen Zuschnitts, weniger mit der spannungsreichen Beziehung von Polizei und (industrieller) Arbeiterklasse, als vielmehr mit den Konfrontationen von Angehörigen eines sozial und ökonomisch prekären Handwerks- und Dienstmilieus. Bebel wurde kein Polizeidiener. Was sein Vater unternahm, um eine Stelle als Grenzaufseher zu bekommen, ist nicht bekannt. In anderen Fällen wissen wir mehr. Anstellungsgesuche für den Polizeidienst sind in größerer Zahl überliefert. In den Bewerbungsverfahren erscheinen Kandidaten wie der 29-jährige Johann Caspar Neudecker – ledig, seit zehn Jahren Soldat und als Sergeant in der Nürnberger Garnison stationiert –, der 1817 Polizeidiener werden wollte. „Nicht Bequemlichkeit“, so schrieb er, „sondern ein besseres Auskommen ist die Ursach weshalb ich wünsche unter die hiesige Polizei-Wache angestellt zu werden, und hierdurch für die Zukunft mir ein sicheres Auskommen zu sichern.“3 Während seines Garnisonsdiensts habe er die Aufgaben der Polizeiwache bereits kennengelernt. Zudem sei er gesund, noch in jungen Jahren und „im Stande alle mit dem Dienst verbundenen Strapazen zu ertragen“. Ferner könne er „schreiben und lesen so viel hierzu erforderlich ist“, auch fehle es „nicht an Lust zu allen Obliegenheiten der Pol.-Wache.“ Allerdings war unser Bewerber mittellos, hatte er doch als Soldat ebenso wenig etwas erübrigen können, wie er größere Summen von Haus aus erwarten konnte. Dennoch war er zuversichtlich, „wohl einen Freund [zu] finden“, der ihm „so viel vorstreckt, als [er] zur Beschaffung der nothwendigen Uniformstücke gebrauche“. Anstellungsgesuche wie diejenige von Neudecker sind zahlreich überliefert. Sie bilden die Quellengrundlage für die folgenden Ausführungen, in denen es um die Versuche ungezählter Männer geht, Polizeidiener zu werden. In einem ersten Schritt rekonstruiere ich die Bewerbungsverfahren für den Polizeidienst im neunzehnten Jahrhundert. Zweck dieser Übung ist es, den Rahmen polizeidienerlicher Selbstbildung sichtbar zu machen, der die Bewerber zwang, ihre Prägungen an die im Verfahren formulierten Anforderungen und Erwartungen anzupassen. In einem zweiten Schritt geht es um das soziale Profil des Bewerberfelds. Diese sozialgeschichtliche Analyse soll einerseits Antworten auf die Frage ermöglichen, wovon es sich zu distanzieren galt, wenn man im neunzehnten Jahrhundert den Schritt in den Polizeidienst tat, andererseits aber auch einen Vergleichspunkt für die spätere Analyse der Zusammensetzung der Polizeimannschaften, also der faktisch ausgewählten Polizeidiener, bieten. In einem dritten und vierten Schritt analysiere ich die Selbstentwürfe und Motive 3 Dazu und zum Folgenden: Anstellungsgesuch Johann Caspar Neudecker, 23.5.1817, StAN, C6, 181. Neudecker und sein trauriges Ende werden uns im Rahmen der Ausführungen zum Problem polizeidienerlicher Verschuldung erneut begegnen.
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der Bewerber. Die Bewerbungsschreiben werden zu diesem Zweck als Ego-Dokumente und Selbstzeugnisse gelesen, aus denen sich Prozesse der Selbstbildung – die Versuche, sich selbst als potentiellen Polizeidiener zu modellieren – sowie zeitgenössische Vorstellungen des Polizeidiensts ablesen lassen.
2.1 Gerüchte und Ausschreibungen In der Zeit der napoleonischen Kriege und unmittelbar danach trugen Interessenten für eine Polizeidienerstelle ihr Anliegen in der Regel mündlich vor, veranlasst durch Gerüchte und Hörensagen über offene Stellen. Der dreißigjährige Hutschneider Johann Reis, der am 5. Juli 1811 vorstellig wurde, bewarb sich (und das ist typisch für die Zeit), weil „bekannt ist, daß die Wache der Kgl. Polizeidirektion zu Nürnberg stark ist und öfter Abgang hat, folglich wieder Subjecte zur Ergänzung braucht“.4 Bei einer früheren Anfrage, so schrieb Johann Jacob Huber 1817, sagte man ihm, es gäbe momentan keine Stelle. Nun aber, mit dem Tod des Polizeiaktuars Schenk böte sich doch eine Gelegenheit.5 In einer Kleinstadt konnten die Gerüchte sehr konkret sein. Wo nur ein oder zwei Polizeidiener angestellt waren, sprach sich eine Vakanz schnell herum. Als der im zwischen Nürnberg und Regensburg gelegenen Schwandorf wohnhafte Helmut Fischer im Juni 1859 seine Bewerbung einreichte, konnte er auf eine Begebenheit rekurrieren, die in dem oberpfälzischen Städtchen zu diesem Zeitpunkt jedem geläufig gewesen sein dürfte: Der bisherige Polizeidiener hatte sich eigenmächtig von seiner Stelle entfernt und war nun spurlos verschwunden, und das musste doch bedeuten, dass die Stelle wiederzubesetzen war.6 Seit der Jahrhundertmitte wurden Bewerbungen häufiger, die explizit auf eine vom jeweiligen Magistrat veranlasste Ausschreibung in lokalen und regionalen Blättern reagierten. So ging eine Einstellungsoffensive in Regensburg 1865 mit dem Beschluss einher, die Stellen im Regensburger Tageblatt, im Regensburger Anzeiger, im Nürnberger Correspondenten, und den Münchener Neuesten Nachrichten zu annoncieren.7 Die Ausschreibungen nahmen rasch eine standardisierte Form an, die heu4 Anstellungsgesuch Johann Reis, 5.7.1811, StAN, C2, 56. 5 Huber, Johann Jacob, an Polizeidirektion Nürnberg, 7.12.1817, StAN, C2, 69. Der Tod eines Stelleninhabers sprach sich rasch herum und schien das sicherste Indiz für eine freie Stelle zu sein, ohne dass die Stelle ausgeschrieben worden sein musste (vgl. Brendel, Wilhelm, an Polizeidirektion Nürnberg, 19.11.1822, StAN, C2, 74; Kirchner, Ludwig Friedrich, an Magistrat Nürnberg, 26.8.1826, StAN, C6, 159; Endler, Christoph Andreas, an Magistrat Nürnberg, 27.8.1826, StAN, C6, 159). 6 Vgl. Fischer, Helmut, an Magistrat Schwandorf, 6.6.1859, StAS, Akte des Stadtmagistrats, VII-103. 7 Vgl. Magistrat Regensburg, 29.8.1865, StAReg, ZR I 10795; als weitere Beispiele für veranlasste Ausschreibungen: Magistrat Schwandorf: Ratsprotokolle, 28.9.1843, StAS; Magistrat Stadtam-
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tigen Stellenausschreibungen nahekommt. Sie boten einen greifbaren Orientierungsrahmen, machten Vorgaben und legten bestimmte Interpretationen des Polizeidiensts nahe. Bewerber konnten sich nun auf verlässlichere Quellen beziehen, als es früher der Fall war. Der spätere langjährige Schwandorfer Polizeidiener Joseph Großmann bewarb sich 1843 explizit „[n]ach Ausschreibung im Intelligenzblatt für die Oberpfalz und von Regensburg“.8 Mit regelmäßigen Stellenausschreibungen kam ein Verfahren in Gang, in dessen Verlauf die Bewerber zu einer „mündlichen Besprechung“ gebeten wurden.9 Hatte der Magistrat sich dann für einen Kandidaten entschieden, war das Einverständnis der Gemeindebevollmächtigten einzuholen, „concurrierten“ diese doch seit der Gemeindeordnung von 1818 mit den Magistraten in Sachen Dienstpersonal – „und zwar in der Art, daß der Magistrat die von ihm ausgewählten Individuen für die zu besetzenden Stellen ihnen bekannt macht, und sie mit ihren allenfallsigen Erinnerungen darüber vernimmt“.10 Da es nicht üblich war, Bewerber über den Stand des Verfahrens zu informieren, gingen immer wieder Briefe ein, die um Rücksendung der Unterlagen baten.11 Am Ende des Verfahrens wies der Magistrat an, den Auserwählten zu benachrichtigen und seine Bereitschaft zum Stellenantritt zu klären.12 Initiativbewerbungen finden sich zwar auch in den 1870er und 1880er Jahren noch, dann allerdings ohne Verweis auf Gerüchte und Hörensagen. Besonders deutlich kommen der Initiativcharakter der Bewerbungen wie auch unterschiedliche Informationsgrundlagen zum Vorschein, wenn ein Bewerber offenkundig wusste oder zumindest vermutete, dass keine Stelle frei war, dieses Wissen ihn aber nicht von einer Bewerbung abhielt. Schließlich konnte man den Stadtmagistrat einfach bitten, einen für eine in Zukunft frei werdende Stelle vorzumerken.13 Öffentliche Ausschreibungen waren seit den 1870er Jahren aber die Regel, seit der Jahrhundertwende regelmäßig ergänzt um Bekanntmachungen in den Vakanzlisten für Militäranwärter und, als sich Berufsverbände im kommunalen Dienst etabliert hatten, in den entsprechenden hof: Ratsbeschlüsse, 8.1.1850 und 4.3.1850, StAReg, ZR I 10861. 8 Großmann, Joseph, an Magistrat Schwandorf, 15.9.1843, StAS, Akte des Stadtmagistrats, VII-3. 9 Vgl. Magistrat Schwandorf: Ratsprotokolle, 8.7.1859, StAS, Akte des Stadtmagistrats. Das geschah aber noch nicht so systematisch wie in Liverpool, wo der Head Constable jeden Dienstag Interviews durchführte (vgl. Archer, John E.: The Monster Evil. Policing and Violence in Victorian Liverpool, Liverpool 2011, S. 30). 10 Verordnung die künftige Verfassung und Verwaltung der Gemeinden im Königreich betr., in: Gesetzblatt für das Königreich Baiern, 20.5.1818, § 81. 11 Vgl. Zizmann, Johann Andreas, an Magistrat Nürnberg, 30.1.1827, StAN, C6, 159; Schopper, Johann Baptist, an Magistrat Schwandorf, 20.6.1859, StAS, Akte des Stadtmagistrats, VII-103. 12 Vgl. Magistrat Schwandorf: Aufnahme Polizeidiener, 22.6.1866, StAS, VII-136. 13 Vgl. Mayer, Josef, an Magistrat Regensburg, 25.8.1879; Frisch, Johann, an Magistrat Regensburg, 26.5.1883; Fischer, Johann Georg, an Magistrat Regensburg, 2.11.1884 (alle in: StAReg, ZR I 10803).
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Verbandspublikationen, wie der Gemeindlichen Rundschau, dem offiziellen Organ des Zentralverbandes der Bayerischen Gemeindebeamten.14 Bewerber verwiesen in ihren Schreiben nun regelmäßig auf die Zeitung, in der sie auf die Ausschreibung gestoßen waren, zumindest aber platzierten sie einen Hinweis auf die zur Kenntnis genommene Ausschreibung.15 Damit konnte ein Kandidat nicht nur vermitteln, dass er lesen konnte und auch regelmäßig las (und damit eine Anforderung an einen Polizeidiener erfüllte), sondern er inszenierte sich als aktiv Arbeitssuchender, als jemand, der sich bemühte, eine Stelle und damit ein Auskommen zu finden. Interessenten reichten ein förmliches Anstellungsgesuch mit den entsprechenden Zeugnissen ein. In kleineren Städten wurde auf Basis der vorliegenden Gesuche direkt im Kreis des Magistrats abgestimmt.16 Absagen erfolgten sporadisch und tendenziell auch eher dann, wenn vereinzelte Bewerbungen eintrudelten. In solchen Fällen wies der Magistrat die Verwaltung an, dem Bewerber unter Rücksendung der Zeugnisse mitzuteilen, dass es mit einer Stelle nichts werde, oder einem Kandidaten sollte mündlich eröffnet werden, dass man ihn zwar nicht als Polizeidiener, wohl aber für eine andere Stelle in Betracht zog. Erst spät häuften sich standardisierte Absagen.17 Neben reinen Verfahrensfragen mit ihrem Trend in Richtung Standardisierung und Formalisierung erweist sich natürlich auch der Inhalt der Ausschreibungstexte als aufschlussreich. Die Texte umfassten Angaben über Entlohnung, Einstellungsvoraussetzungen und Anforderungen sowie Bewerbungsmodalitäten. Ein Behördenhandbuch aus dem Jahr 1821 lieferte eine Richtlinie hinsichtlich des einzustellenden Personals (und damit indirekt auch der Ausgestaltung der Ausschreibungen):
14 Vgl. Magistrat Schwandorf: Ratsprotokolle, 18.1.1877, StAS, Akte des Stadtmagistrats; Magistrat Stadtamhof: Magistratlichen Botendienst betr., 1895, StAReg, ZR I 10855. Magistrat Schwandorf: Ratsprotokolle, 9.8.1894 und 21.5.1896, StAS, Akte des Stadtmagistrats; Magistrat Stadtamhof: Wiederbesetzung der erledigten Schutzmannstelle, 1.1.1910, StAReg, ZR I 10851; Magistrat Stadtamhof: Wiederbesetzung der erledigten Schutzmannstelle, 1.5.1911, StAReg, ZR I 10852. 15 Vgl. Bendl, Hans, an Magistrat Stadtamhof, 25.11.1909; Wimmerer, Josef, an Magistrat Stadtamhof, 27.11.1909; Hessel, Louis, an Magistrat Stadtamhof, 27.11.1909 (alle in: StAReg, ZR I 10851); Garth, Friedrich, an Magistrat Regensburg, 14.6.1874; Gast, Jakob, an Magistrat Regensburg, 14.6.1874; Giegerich, Friedolin, an Magistrat Regensburg, 15.6.1874 (alle in: StAReg, ZR I 10803). 16 Mitunter fiel das Ergebnis recht knapp aus (wie im Fall des Schreinermeisters Georg Kemeter, der sich in Schwandorf mit drei gegen zwei Stimmen durchsetzte; vgl. Magistrat Schwandorf: Ratsprotokolle, 25.1.1877, StAS, Akte des Stadtmagistrats); mitunter aber auch deutlich, wie die einstimmige Wahl des Schwandorfer Schuhmachermeisters Anton Jäger zeigt (vgl. ebd., 18.6.1896). 17 Vgl. Gebhardt, Joh. Thomas, an Magistrat Regensburg, 28.11.1881; Gierisch, Gregor, an Magistrat Regensburg, 28.7.1882 (beide in: StAReg, ZR I 10803); Magistrat Stadtamhof: Wiederbesetzung der erledigten Schutzmannstelle durch den Schutzmann Martin Schmitt, 1.5.1911, StAReg, ZR I 10852.
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Als Polizei-Soldaten sollen nur solche Personen aufgenommen werden, welche noch in guten Jahren stehen, vollkommen gesund und kräftig sind, notorisch (gemeinkundig) unbescholtene Sitten, und untadelhaften Ruf haben, oder sich hierüber durch glaubwürdige Zeugnisse legitimieren (ausweisen) können, und wenigstens des Lesens und Schreibens kundig sind. […] In der Regle [sic] sind verheirathete Individuen nicht zuzulassen, und bei der Auswahl der Polizeiwache-Mannschaft besonders die ausgedienten Soldaten, wenn sie sonst die nöthigen Eigenschaften besitzen, zu berücksichtigen, theils in Folge der bestehenden Gesetze, welche denselben bei Besetzung der niedern Dienste einen vorzüglichen Anspruch gewähren, theils wegen der mehrerer Bildung und Gewandtheit, die der Militär-Dienst giebt.18
Bei den faktisch veranlassten Ausschreibungen handelte es sich oft um Variationen dieser oder vergleichbarer Richtlinien, erkennbar zum Beispiel in einem Schreiben, in dem die Stadt München, vermittelt über den Nürnberger Magistrat, eine Bekanntmachung über zu besetzende Stellen im Intelligenzblatt für den Rezat-Kreis veranlasste. Auf diesem Weg erging „eine Aufforderung an die jeweiligen Individuen, welche Lust haben, in den Dienst der Lokal-Polizey zu München zu treten und die hierzu erforderlichen Eigenschaften besitzen“.19 Interessenten sollten sich schriftlich bewerben und ihre Qualifikation unter Vorlage entsprechender Zeugnisse nachweisen. Einstellungsvoraussetzungen waren geleisteter Militärdienst und ein Höchstalter von dreißig Jahren. Darüber hinaus sollten die Bewerber „ohne körperliche Mängel und Gebrechen“ und „des Lesens und Schreibens wohl kundig“ sein, sich einer „tadellosen Aufführung“ befleißigen und über eine Barschaft verfügen, die für die „Equippierung“ ausreiche. Dem folgten Ausführungen über Entlohnung und sonstige Leistungen (unentgeltliche Unterkunft durch Kasernierung, unentgeltliche ärztliche Behandlung und Arznei im Krankheitsfalle, jährliche Gebührenanteile als Gehaltszulage sowie die Möglichkeit späteren Pensionsbezugs). Eine Bestandsaufnahme der polizeilichen Bewerbungskultur um die Jahrhundertmitte ergibt insgesamt ein ernüchterndes Bild. Ein klar strukturiertes Verfahren war noch kaum in Sicht. Erst langsam zeichnete sich ein Katalog von Anforderungen und Eigenschaften eines Polizeidieners ab, der allerdings bis zum Ende des neunzehnten 18 Barth, Anton: Practisches Handbuch der Polizei in Baiern, mit besonderer Berücksichtigung auf die neu constituierten Magistrate, Augsburg 1821, S. 92f. Der Autor dieses Handbuchs, Anton Barth (1787–1848), blickte zum Zeitpunkt der Veröffentlichung auf eine Karriere als Sekretär der Stiftungs- und Kommunaladministration des Oberdonaukreises in Eichstätt und Assessor bei der Kreisregierung in Augsburg (Kammer des Innern) zurück. 1821, im Jahr des Erscheinens seines Practischen Handbuchs, wurde er in Augsburg zum Bürgermeister gewählt und blieb es bis zu seiner Pensionierung 1834. 19 Dazu und zum Folgenden: Magistrat Nürnberg: Gesuch des Nagelschmieds Paul Wolfgang Benjamin Ramstock um Aufnahme in die Münchener Polizeiwache betr., 5.11.1823, StAN, C6, 169.
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Jahrhunderts nur unwesentlich über eine Kombination der immer gleichen Kriterien hinauskam. Gefordert wurden stets Zeugnisse über Leumund, Alter, Gesundheit, Familienstand und bisherige Dienstleistungen.20 Nur vereinzelt spielte die Frage der Erfahrung im Sicherheitsdienst eine Rolle. Eine Ausschreibung vermerkte, „daß gediente Gendarmen und überhaupt solche, welche den Sicherheitsdienst bereits kennen, vor anderen Bewerbern berücksichtigt werden“.21 Erst gegen Ende des Jahrhunderts wurde dieses Kriterium wichtiger. Nun häuften sich auch die Hinweise auf eine bevorzugte Behandlung von Kandidaten, die in der Gendarmerie gedient hatten oder über anderweitige Erfahrung im Polizeidienst verfügten. In einer Ausschreibung aus dem Jahr 1900 heißt es, man suche nach „im Polizei- und Sicherheitsdienst erfahrenen, gesunden und körperlich rüstigen Bewerbern“.22 Die meisten Interessenten erwarteten vor diesem Hintergrund wohl, dass ein Polizeidiener – wie andere Diener auch – mit der Erledigung all dessen befasst sein würde, was aus Sicht der magistratlichen Dienstherren anfiel. Daher erklärt sich auch die Betonung allgemeiner Arbeitsfähigkeit und breiter Verwendbarkeit anstelle fachspezifischer Qualifikation, wie sie das Handwerk kannte. Schließlich ging es um Eigenschaften, die im Wesentlichen das Anforderungsprofil für Dienstpersonal im Allgemeinen spiegeln: die „pflichtmäßige Erfüllung von Befehlen und deren treue, fleißige und sorgfältige Ausführung“.23 Die Anforderungen an Diener reduzierten sich auf einen im Prinzip unabgeschlossenen Katalog allgemein-menschlicher Eigenschaften (Gottesfurcht, Tugendliebe, Zufriedenheit, froher Mut, Ordnung, Reinlichkeit usw.), der von der Bürde enthob, präzise Qualifikationen zu benennen, die sich aufgrund der Unspezifik, Vielfalt und Fülle von Aufgaben überhaupt nicht benennen ließen. Die Beurteilung der Bewerber im Verlauf des Verfahrens spiegelte die Vagheit der Kriterien. Ein Blick in eine tabellarische Aufstellung und Einschätzung zahlreicher Interessen für eine Stelle als Polizeidiener durch den Regensburger Magistrat aus den 20 Vgl. Magistrat Stadtamhof: Beschluss, 8.1.1850, StAReg, ZR I 10861; Amberger Tagblatt, 10.6.1874; Regensburger Morgenblatt, 11.6.1874; StAS, Akte des Stadtmagistrats Schwandorf, Neubesetzung Polizeidienststelle 1874–1886, P-2; Magistrat Stadtamhof: Magistratlichen Botendienst betr., 18.5.1895, StAReg, ZR I 10855; Magistrat Stadtamhof: Wiederbesetzung der erledigten Schutzmannstelle 1.1.1910, StAReg, ZR I 10851; Magistrat Stadtamhof: Wiederbesetzung der erledigten Schutzmannstelle, 1.5. 1911, ZR I 10852; Vakanzliste für Militäranwärter. 15.9.1908, StAS, P-3x 1 v. 2. 21 Magistrat Regensburg: Vermehrung der Polizeimannschaft, 29.8.1865, StAReg, ZR I 10795. 22 Magistrat Schwandorf: Bekanntmachung, 22.7.1900, StAS P-3x 1 v. 2; vgl. auch: Magistrat Stadtamhof: Magistratlichen Botendienst hier die Anstellung eines dritten Polizeisoldaten dahier betr., 18.5.1895, StAReg, ZR I 10855; Magistrat Stadtamhof: Wiederbesetzung der erledigten Schutzmannstelle durch den Schutzmann Martin Schmitt, 1.5.1911, StAReg, ZR I 10852. 23 Dazu und zum Folgenden: Müller-Staats, Dagmar: Klagen über Dienstboten. Eine Untersuchung über Dienstboten und ihre Herrschaften, Frankfurt/M. 1987, S. 16. Zum Dienstcharakter des Polizeidiensts vgl. auch die detaillierten Ausführungen in einem späteren Kapitel.
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Jahren 1857 bis 1867 verdeutlicht das: Ein wiederholter Ablehnungsgrund, das geht daraus hervor, war „zu hohes Alter“ (man schätzte beispielsweise Bewerber im Alter von 36 beziehungsweise 37 Jahren als zu alt ein). Beurteilungen der Qualifikation liefen oft auf die bloße Feststellung hinaus, ob jemand „brauchbar“ (und: „verlässig“) war oder eben nicht. So versah ein Mitarbeiter der Magistratsverwaltung den Namen eines Bewerbers 1857 mit der schlichten Bemerkung: „folgen besser qualifizierte“. Zur Begründung einer Ablehnung konnte ein karges „wegen schlechter Qualifikation“ ausreichen. Anders herum funktionierte das ebenfalls. Über den Bewerber Johann Georg Schmid hieß es, er „dürfte aufzunehmen sein wegen guter Qualifikation“. Bei Joseph Maisch, dem ansonsten eine tadellose Erscheinung attestiert wurde, bemängelte man dagegen, dass er ohne Erfahrung war. Breiteren Raum nahmen Ausführungen zu Charakter, Sozialverhalten und moralischer Aufführung ein. So hieß es über einen Kandidaten, er sei „fleißig und willig aber von keiner besonderen Intelligenz“. Daneben wurden die „Leidenschaften“ der Bewerber abgewogen, in Verbindung mit ihrem Leumund und Auftreten in der Öffentlichkeit. Das war nicht immer leicht zu messen. Manchmal musste es ein Hilfsindikator tun: abgelehnt „wegen zu often Dienstwechsels“. In den meisten Fällen waren aber Konkretisierungen möglich. Kandidaten besaßen eine „ausgezeichnet gute Aufführung“, waren „ohne böse Leidenschaften“ oder galten als „sehr angesehen“, oder jemand war nach Einschätzung seiner ehemaligen Vorgesetzten zwar „keiner üblen Leidenschaft ergeben, aber auch ohne besondere Energie“. Beurteilungen geben Aufschluss über die moralische Sensibilität der Beurteilenden. Es gab Kandidaten, denen bescheinigt wurde, reinlich im Aufzug, verträglich und „ohne böse Leidenschaften“ zu sein, obwohl sie „wegen Schwängerung einer Weibsperson mit 10 Tagen Lokalarrest bestraft“ worden waren. Das oder die Bestrafung „wegen unzüchtigen Umgang mit einer Weibsperson“ waren offensichtlich nicht so schlimm, als dass es allein gereicht hätte, jemandem das Prädikat „ohne böse Neigungen“ abzusprechen. Denjenigen, denen dieses Prädikat verwehrt blieb, wurden in der Regel wiederholte und besonders heftige Trunkenheitsdelikte und Exzesse vorgeworfen. Über den Bewerber Joseph Krack etwa hieß es, er „wurde wegen leichtsinnigen Schuldenmachen, wegen unerlaubten Umgangs mit Weibspersonen, wegen Spielen um Geld mehrmals bestraft“; Georg Johann Schmid dagegen „wegen gehässigen Benehmens gegen das Gerichtsdienerpersonal und Besuchens einer nicht in bestem Ruf stehenden Weibsperson mit 3 Tagen Lokalarrest bestraft“.24
24 Dazu insgesamt: Magistrat Regensburg: Bewerber Polizeidienst, 1857–1867, StAReg, ZR I 10798.
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2.2 Soldaten, Handwerker, Diener Eine sozialgeschichtliche Auswertung der Anstellungsgesuche kann die Frage beantworten, Angehörige welcher Gewerbe und Schichten es sich überhaupt vorstellen konnten, Polizeidiener zu werden. Sie kann die Voraussetzungen einer sozialen Distanzierung der (zukünftigen) Polizeidiener von ihrer Herkunft und damit der Mehrheit der zu Polizierenden herausarbeiten, die schließlich gerade deshalb notwendig wurde, weil sich die Milieus vielfach überlagerten. Der Polizeidienst erweist sich so als eingebettet in die sozialen und gewerblichen Horizonte von Soldaten, Handwerkern und unzähligen Gehilfen und Dienern. Ein statistisch valides Profil ist aufgrund der verfügbaren Datenlage nur schwer erstellbar. Die Zahl der überlieferten Bewerbungen schwankt erheblich, so dass eine Vergleichbarkeit kaum gegeben ist.25 Die folgenden Überlegungen markieren daher eher einige Tendenzen und bestimmte Schwerpunkte, die helfen können, ein anschaulicheres Bild derer zu zeichnen, die als „verunglückte Handwerker, Schulmeister, Comptoiristen, Copisten, Lakaien, Jäger, Musikanten, Kellner und Hausknechte“ (Friedrich Christian Benedict Avé-Lallemant) im Polizeidienst unterzukommen suchten. Die Drohung zerrütteter Lebensumstände zeichnete sich bei Bewerbern oft in einem bestimmten Alter ab – bei denjenigen, die angaben, „noch im schönsten Mannesalter“ zu stehen oder die sich „im richtigen Mannesalter“ glaubten.26 Sieht man von einigen Ausnahmen ab (es gab Interessenten in ihren frühen Zwanzigern, aber auch solche, die das fünfzigste Lebensjahr erreicht hatten), waren die meisten zwischen Mitte zwanzig und Mitte dreißig. Die Altersstruktur legt nahe, dass sie Erfahrungen in anderen Tätigkeiten mitbrachten und einen längeren Militärdienst hinter sich hatten, betrug die militärische Dienstzeit seit Verabschiedung des bayerischen Konskriptionsgesetzes 1812 doch sechs Jahre. Konskriptionspflichtig war jeder ledige Bayer zwischen dem 19. und 23. Lebensjahr. Wer sich als Ersatzmann einspannen ließ oder freiwillig meldete, konnte dies bis zum 30. Geburtstag tun. Das Ergänzungsgesetz von 1828 legte die Konskriptionspflicht ab dem 21. Lebensjahr und Freiwilligkeit für das 18. bis 30. Lebensjahr fest. Als Ersatzmann konnte man
25 In Schwandorf liegen für den Zeitraum von 1843 bis 1907, für den überhaupt nur Daten greifbar sind, unregelmäßig verteilt lediglich 41 Bewerbungen vor. Für Stadtamhof existieren für die Jahre 1849–1850 und 1880 jeweils einige wenige Anstellungsgesuche, eine auswertbare größere Zahl dann erst wieder für den Zeitraum 1895–1911. Regensburg und Nürnberg bieten zwar ausreichend kohärente Daten, das aber jeweils nur für einen bestimmten Zeitraum (230 Regensburger Bewerbungen für 1857–1887, 116 Nürnberger für 1827–1843, ergänzt um vereinzelte Anstellungsgesuche der Jahre 1814–1818). 26 Vgl. Lindner, August, an Magistrat Regensburg, 25.10.1875; Geiger, Johann, an Magistrat Regensburg, 21.4.1880; Gast, Jakob, an Magistrat Regensburg, 15.6.1874 (alle in: StAReg, ZR I 10803).
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nun bis zum 36. Lebensjahr fungieren.27 Zudem konnte von Bewerbern in dieser Altersspanne erwartet werden, charakterlich und sozial gefestigt, zugleich aber noch ledig zu sein (im Handwerk lag das Heiratsalter durchschnittlich über 25 Jahren28). Unter den Kandidaten machten diejenigen, die sich direkt aus dem Militärdienst heraus bewarben, einen erheblichen Teil aus. Berücksichtigt man das militärische Rekrutierungssystem der Zeit, lässt sich von einem deutlichen Übergewicht der unteren Schichten ausgehen.29 In Nürnberg stellten Soldaten 1814–1818 die Hälfte der Bewerber; ein dann doch außerordentlich hoher Wert, der sicher der militarisierten Zeit geschuldet war. Zuverlässigere Daten liegen für spätere Zeiträume – 1827– 1842 (Nürnberg) und 1857–1887 (Regensburg) – vor. In beiden Fällen kam ein Drittel der Interessenten direkt aus dem Militär. Im Nürnberger Bewerberfeld waren einfache Soldaten und solche im Rang eines Korporals nahezu gleich stark repräsentiert, ergänzt um einen Regimentstrompeter. Im Regensburger Fall handelte es sich ausschließlich um einfache Soldaten. Erst um die Jahrhundertwende finden sich vermehrt Unteroffiziere.30 Gustav Zimmermann nannte genau diese Personengruppe, als er 1849 darüber nachdachte, wer für den Dienst geeignet wäre. Er nannte Unteroffiziere und Gefreite der leichten Infanterie, nicht älter als 24 Jahre, „wo die militärische Steifigkeit noch nicht zur anderen Natur geworden ist“. Auf Kavalleristen sollte man verzichten, weil diese für den Außendienst in der Regel zu „schwerfällig“ wären.31 Die Polizei war einerseits Teil des militärischen Versorgungssystems, andererseits galt der Militärdienst als Garant für Loyalität. Der Bereich der Subalternbeamten, zu dem auch der Polizeidienst gehörte, war für die Zivilversorgung ehemaliger Militärs entsprechend wichtig. Im Grundsatz bedeutete dieses System, dass „sämtliche Unterbeamtenstellen und die Hälfte aller mittleren Beamtenstellen in der kommunalen und staatlichen Verwaltung den Inhabern des ‚Zivilversorgungsscheins‘, den sogenannten ‚Militäranwärtern‘, vorbehalten waren, d. h. in aller Regel Unteroffizieren, die sich dieses Privileg durch eine zwölfjährige Militärdienstzeit erworben hatten. Wurde eine entsprechende Stelle frei, mußte sie in einschlägigen ‚Vakanzlisten‘ für Militäranwärter ausgeschrieben werden und durfte nur dann mit einem ‚Zivilanwärter‘ ohne 27 Vgl. Gruner, Wolf D.: Das bayerische Heer 1825 bis 1864. Eine kritische Analyse der bewaffneten Macht Bayerns, Boppard am Rhein 1972, S. 42f., 149. 28 Vgl. Sieder, Reinhard: Sozialgeschichte der Familie, Frankfurt/M. 1987, S. 112f. 29 Vgl. Calließ, Jörg: Militär in der Krise. Die bayerische Armee in der Revolution von 1848–49, Boppard am Rhein 1976, S. 45–50. 30 „Praktisch ohne weitere Aufstiegsmöglichkeiten in der Armee und materiell schlecht gestellt“, so Bröckling, Ulrich: Disziplin. Soziologie und Geschichte militärischer Gehorsamsproduktion, München 1997, S. 138, „gewährte die Position des Unteroffiziers eine zwar äußerst bescheidene, dafür aber gesicherte Existenz, an die sich nach dem Abschied häufig eine Anstellung im Staatsdienst, etwa als Polizeidiener, anschloß.“ 31 Zimmerman, Polizei [1845–1849], S. 1114.
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Militärhintergrund besetzt werden, wenn sich unter den Bewerbern mit Anstellungsvorrang kein geeigneter Aspirant fand.“32 Wichtig war das vor allem deshalb, weil das „lückenlose Prüfungs- und Karrieresystem“, das sich in der mittleren und gehobenen Beamtenwelt bereits seit der Wende zum neunzehnten Jahrhundert durchsetzte, in diesem Bereich der subalternen Dienstverhältnisse nicht griff, die basale Qualifikation, die sich beim Militär durchaus erwerben ließ, also als Eintrittskarte ausreichte. Je länger das Jahrhundert fortschritt, desto häufiger gingen Zivilbehörden auch bei Militäranwärtern dazu über, die individuelle Eignung einzuschätzen, die im Vergleich zu zivilen Bewerbern nicht immer vorteilhaft ausfiel.33 Vorbehalte zeichneten sich bereits in den 1860er Jahren ab: Wir müssen von vornherein bekennen, so schrieb der Polizeiwissenschaftler und langjährige Polizeiaktuar Avé-Lallemant, daß wir überhaupt die Gründe nicht begreifen, aus welchen das mitten aus dem vollen bürgerlichen Leben herausgegriffene Soldatenthum, anstatt es nach erfüllter Militärpflicht in das Bürgerthum zurückkehren zu lassen, überhaupt in das Civilbeamtenthum, und noch dazu massenhaft sich ablagern soll. Wir halten uns hier nur an die Polizei, welche aus der Zahl verabschiedeter Soldaten eine große Menge zugewiesen erhält, um sie zu ihren Beamten und Jüngern zu machen. Wer schärfer in diese Beamtenvertheilung hineinblickt, kann nicht leugnen, daß bei der Schwierigkeit und Unbeliebtheit des niedern Polizeidienstes die soldatischen Aspiranten des Verwaltungsbeamtenthums schon viel lieber in die ohnehin leichtere und bequemere Zoll-, Post-, Telegraphen-, Eisenbahn- und dergleichen Verwaltungen übergehen, und daß darum eben gerade nicht die besten und vorzüglichsten Beamten für den Polizeidienst übrig bleiben. Alle bringen jedoch das Zeugnis militärischen Wohlverhaltens und einer kürzern oder längern Dienstzeit mit. Je länger aber diese Dienstzeit gewährt hat, desto mehr bekundet sie, daß die Zeit der jungen Jahre, in welcher man das Meiste und Beste lernt, schon vorüber ist. Man findet jedoch unter diesen Aspiranten der Polizei immer noch die meisten ehrlichen Leute und recht guten Willen, nach Kräften zu nützen. Wir gestehen mit Freuden, daß wir gerade aus der Zahl der militärischen Aspiranten einzelne recht tüchtige Beamte kennen gelernt haben, welche freilich nicht zucommandirt, sondern vorsichtig ausgewählt waren. Im Ganzen aber übt die Abgeschlossenheit, in welcher der Soldat jahrelang vom eigentlichen bürgerlichen Leben gehalten ist, die lange Gewohnheit, nach strengen eckigen Formen zu leben, ja selbst der stillschweigende Gehorsam, einen nachtheiligen Einfluß auf die volle frische eigenthümliche Entwicklung der geistigen Freiheit. 32 Jessen, Polizei [1991], S. 158. 33 Vgl. Blessing, Werner K.: Disziplinierung und Qualifizierung. Zur kulturellen Bedeutung des Militärs im Bayern des 19. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft 17 (1991), S. 459–479, hier: S. 475; Wunder, Bernd: Privilegierung und Disziplinierung. Die Entstehung des Berufsbeamtentums in Bayern und Württemberg 1780–1825, München 1978, S. 198–209.
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Um so weniger sind diese so geschulten Beamten im Stande, den Blick frei und unbefangen in alle social-politische Kreise zu richten und die vielen sittlichen Übel zu erkennen, welche sich in tausendfach verschiedenen, versteckten, verfeinerten und bunten Gestalten und Formen an das Leben gesetzt haben.34
Bewerber aus sicherheitsnahen Tätigkeitsfeldern kamen nicht nur aus dem Militär. Zu Soldaten gesellten sich Gendarmen, bereits erfahrene Polizeidiener und eine Vielzahl von Männern, die auf diese oder jene Weise sonstige Sicherheitsdienste versahen. Während der Anteil der Gendarmen zu Beginn des Jahrhunderts aufgrund der oft noch nicht lange zurückliegenden Einführung der Gendarmerie bei ungefähr zehn Prozent lag, stieg er bis zum Ende der 1820er Jahre deutlich und bewegte sich für die Folgejahrzehnte im Bereich von zwanzig bis dreißig Prozent. Natürlich fanden sich unter den Bewerbern auch bereits andernorts erfahrene Polizeidiener, doch handelte es sich eher um Einzelfälle, die erst um die Jahrhundertwende in größerer Häufung auftraten. Gerichtsdiener und deren Gehilfen, Gerichtsvollziehergehilfen, Grenzzollwächter und Grenzaufseher, Wachmänner, Aufseher bei Eisenbahn oder Post, private oder staatliche Waldaufseher, Fabrikaufseher, Gefängniswärter und Gefängniswärtergehilfen oder Aufseher in einer Irrenanstalt – Kandidaten aus diesen Bereichen machten einen Anteil von mal etwas mehr, mal etwas weniger als zehn Prozent aus. Der Anteil aller Fraktionen von Sicherheitsdienstleistern, also Militär, Gendarmerie, Polizeidienst und sonstige Wärter- oder Aufseherdienste zusammengenommen, machte über den gesamten Untersuchungszeitraum und in allen untersuchten Städten stets mindestens die Hälfte aus, konnte teilweise aber auch deutlich höher ausfallen.35 Ende des neunzehnten Jahrhunderts kam es zu einem kontinuierlichen Anwachsen dieser Gruppe. Verantwortlich dafür war vor allem der allgemeine Ausbau von Polizeibehörden, in dessen Folge sich nun immer wieder erfahrene Polizeidiener unter den Bewerbern fanden, die aus verschiedenen Gründen die Stadt und die Behörde wechseln wollten. Bewerber aus dem Kommunaldienst (Notariatsgehilfen, Amtsbeiboten, Amtshilfsboten und Schreiber) waren in ihren jeweiligen Dienstverhältnissen zwar nicht im engeren Sinn mit Sicherheits- oder polizeilichen Aufgaben befasst. Sie bewegten sich aber innerhalb eines Spektrums von Dienstleistungstätigkeiten, in das Zeitgenossen auch den Polizeidienst einsortierten. Kandidaten aus diesen Bereichen bewarben sich von einem kommunalen Dienstverhältnis in ein anderes. Für sie war der 34 Avé-Lallemant, Krisis [1861], S. 16f. 35 In Nürnberg betrug der Anteil im Zeitraum von 1827 bis 1842 58 Prozent, das waren immerhin 67 von 117 Bewerbern. In Regensburg lag der Anteil der Sicherheitsarbeiter zwischen 1857 und 1887 bei 57 Prozent, also 84 von 147 Interessenten. Die Anteile der Tätigkeiten schwankten allerdings erheblich.
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Schritt in den Polizeidienst (oder, zunächst einmal, die Entscheidung für eine Bewerbung) nicht besonders groß. Insgesamt blieb der Anteil der Kommunaldiener unter den Bewerbern aber doch stets unter zehn Prozent. Darüber hinaus bewarben sich zahlreiche Kandidaten, deren Hintergründe im Bereich sonstiger Dienste lagen. Hier versammelten sich Packboten, Postboten, Aushilfsbriefträger oder Austräger, Magaziner, Hilfsbahnwärter und Stationsdiener bei der Eisenbahn, Fabrikportiers und Magazingehilfen in einer Fabrik, Jäger, Hausmeister, Kutscher, Pfleger oder ein Musiklehrer. Die Schwankungen sind hier beträchtlich und folgen keinem Muster. Die unübersehbare, aber ebenso unübersehbar diffuse Präsenz von Angehörigen der frühindustriellen Dienstleistungsklasse verweist in sozialgeschichtlicher Hinsicht auf die Transformation der Unterschichten in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Die Distanz handwerklicher Alleinmeister und prekärer Selbständiger, von Nachtwächtern und Gendarmen zu unterschichtlichen Existenzen (landwirtschaftliches und häusliches Gesinde, Tagelöhner und Gehilfen, Heimarbeiter, Handwerksgesellen, Manufaktur-, Fabrik- und Bergarbeiter, Krämer, Höker und Schankwirte, Soldaten, Bettler, Landstreicher, unterstützungsabhängige Arme) war nie groß oder stabil. Vor allem das Wegbrechen des Gesindewesens setzte eine harte Prekarisierungsdynamik in Gang.36 So entstand eine beachtliche polizeidienerliche Reservearmee an der Grenze zu den städtischen „Kümmerxistenzen“.37 Der Anteil der Handwerker lag in der Regel zwischen zehn und zwanzig Prozent, konnte aber, auch wenn das eher Momentaufnahmen sind, deutlich nach oben schnellen. Die Zahl derjenigen, die einen wie auch immer gearteten handwerklichen Hintergrund hatten, zum Zeitpunkt ihrer Bewerbung aber bereits nicht mehr im Handwerk beschäftigt waren, dürfte um einiges größer gewesen sein. Zudem hatten die wenigsten Interessenten zum Zeitpunkt ihrer Bewerbung in lediglich einem Gewerbe Erfahrungen gesammelt. Auffällig oft ist der angestrebte Polizeidienst die (potentielle) Zweit- oder Drittbeschäftigung. Recht häufig kam es zu Dopplungen von handwerklichen Berufen auf der einen und Erfahrungen im Sicherheitsdienst auf der anderen Seite. Zimmerergesellen hatten Erfahrung als Aufseher und Zuchthauswärter, Schuhmacher, Schneider, Nagelschmiede und Gerichtsdienergehilfen hatten bereits als Gendarm oder als Polizeidiener gearbeitet. Die Städte, aus denen die ausgewerteten Quellen stammen, waren gewerbliche Inseln innerhalb eher rückständiger Gebiete,
36 Vgl. Kocka, Jürgen (unter Mitarbeit von Jürgen Schmidt): Arbeiterleben und Arbeiterkultur. Die Entstehung einer sozialen Klasse, Bonn 2015, S. 38–47. 37 „Im tertiären Sektor“, so die Verortung bei Schildt, Gerhard: Tagelöhner, Gesellen, Arbeiter. Sozialgeschichte der vorindustriellen und industriellen Arbeiter in Braunschweig 1830–1880, Stuttgart 1986, S. 163f., „wären in den unteren Rängen z. B. die Schreiber, Botengänger und Hausmeister zu nennen, die Soldaten und Torvisitatoren, die Musikanten, die Höker und Schankwirte, die Kellner, Ladendiener und Ladenmädchen.“
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die sich im Übergang zu industriellen Strukturen befanden.38 Es wird daher verständlich, warum sich das Kandidatenfeld zu merklichen Teilen aus dem (prekären) Massenhandwerk und Kleingewerbe sowie dessen sozialem Umfeld rekrutierte. In dieser Phase, so Wolfgang Köllmann, kam es zu einer erheblichen Verschiebung von Arbeitsverhältnissen, Arbeitsbedingungen und Arbeitsmärkten in eine ganz bestimmte Richtung, die weite Teile der Bevölkerung betraf. „Überschußbevölkerung und damit auch Arbeitskräfteüberschuß setzte sich nicht in Arbeitslosigkeit, sondern in eine Abwertung des Stellenwerts des einzelnen Arbeitsplatzes um.“39 Der Strukturwandel drückte sich in massiven Schwankungen des Anteils der Handwerker an der Bevölkerung sowie verschärfter Polarisierung zwischen einzelnen Branchen aus. Aufs Ganze gesehen, waren die „technischen, wirtschaftlichen und sozialen Voraussetzungen der Selbständigkeit in Handwerk und Kleingewerbe weitgehend prekär und wurden auch so empfunden“.40 Die Massenhandwerke wurden zu prekären und Krisenbranchen, 38 Die Auflösung der quasi-feudalen Sozialstruktur ging in Bayern langsam vonstatten. Gleiches galt für die Einführung der Gewerbefreiheit. Die Folge war eine bis in die 1850er Jahre wieder abnehmende Zahl an Gewerbetreibenden sowie ein gegenüber dem Bevölkerungswachstum zurückbleibendes Wachstum des Handwerks. Lediglich zwölf Prozent der Bevölkerung lebten 1837 von reinem Gewerbe, zwei Drittel der bayerischen Bevölkerung waren dagegen in der Landwirtschaft tätig. Bis 1907 ging dieser Anteil jedoch auf rund vierzig Prozent zurück. Der Beschäftigtenanteil von Handel, Industrie, Gewerbe und Dienstleistungen stieg im gleichen Zeitraum von 25 auf knapp fünfzig Prozent. Längerfristig zeigen sich eine Gewichtsverlagerung von der Land- und Forstwirtschaft zu Dienstleistung, Handel und Gewerbe sowie eine allgemeine Zunahme der Beschäftigten außerhalb der Landwirtschaft. (vgl. Schwarz, Gerard: „Nahrungsstand“ und „erzwungener Gesellenstand“. Mentalité und Strukturwandel des bayerischen Handwerks im Industrialisierungsprozeß um 1860, Berlin 1974, S. 35; Götschmann, Dirk: Wirtschaftsgeschichte Bayerns. 19. und 20. Jahrhundert, Regensburg 2010, S. 34f., 164f.). Um 1860 fanden sich in Mittelfranken allerdings kaum noch ‚reine‘ Landwirtschaftsbezirke. Gewerbliche Nebentätigkeiten waren üblich. ‚Reines‘ Gewerbe konzentrierte sich in den Städten. In der Oberpfalz dominierte weiterhin die Landwirtschaft. Auch Gewerbetreibende und Tagelöhner blieben auf landwirtschaftlichen Erwerb angewiesen (vgl. Bergmeier, Monika: Wirtschaftsleben und Mentalität. Modernisierung im Spiegel der bayerischen Physikatsberichte 1858–1862, München 1990, S. 46f., 54–56). 39 Köllmann, Wolfgang: Bevölkerung und Arbeitskräftepotential in Deutschland 1815–1865. Ein Beitrag zur Analyse der Problematik des Pauperismus, in: ders., Bevölkerung in der industriellen Revolution, Göttingen 1974, S. 61–98, S. 79f. 40 Wengenroth, Ulrich: Einleitung, in: ders. (Hg.), Prekäre Selbständigkeit. Zur Standortbestimmung von Handwerk, Hausindustrie und Kleingewerbe im Industrialisierungsprozess, Stuttgart 1989, S. 1–5, Zitat: S. 5; vgl. auch: Blackbourn, David: Handwerker im Kaiserreich: Gewinner oder Verlierer?, in: ebd., S. 8–21; Haupt, Heinz-Gerhard: Das Handwerk in Deutschland und Frankreich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: ebd., S. 23–35; Kaufhold, Karl Heinrich: Grundzüge des handwerklichen Lebensstandards in Deutschland im 19. Jahrhundert, in: Conze, Werner (Hg.), Arbeiter im Industrialisierungsprozeß. Herkunft, Lage und Verhalten, Stuttgart 1979, S. 136–162; Lenger, Friedrich: Zwischen Kleinbürgertum und Proletariat. Studien zur Sozialgeschichte der Düsseldorfer Handwerker 1816–1878, Göttingen 1986, S. 36–64.
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und entsprechend häufig tauchen ihre Angehörigen unter den Bewerbern für den Polizeidienst auf. Der Schwerpunkt lag in der Textilbranche und den städtischen Versorgungshandwerken. Unter den 21 Handwerkern, die sich zwischen 1827 und 1842 in Nürnberg bewarben, waren drei Bäcker, je zwei Schmiede und Kammmacher, je ein Federkielfabrikant, Kaminbauer und Müller, vor allem aber vier Schneider und sieben Schuhmacher. In Regensburg bewarben sich 1867–1887 je zwei Maler, Tischler und Schreiner, je ein Schmied, Schlosser, Seiler, Brauer und Bäcker, dazu mit auffälliger Branchenhäufung ein Hutmacher, fünf Schneider, drei Weber und drei Schuhmacher. Nicht nur Differenzierungen zwischen einzelnen Branchen, sondern auch die unterschiedliche Stellung von Meistern, Gesellen und Gehilfen im Handwerk hatte Auswirkungen auf die polizeidienerlichen Bewerberfelder. Während es für Handwerksgesellen in Bayern zwischen 1825 und 1834 vergleichsweise leicht war, eine Konzession zu erlangen, wurde das in den folgenden zwei Jahrzehnten nahezu aussichtslos. Erst 1862 änderte eine ministerielle Instruktion diesen Zustand. Treffend resümiert Gerard Schwarz in einer älteren sozialhistorischen Studie die „ganze Tragik, der Tausende tüchtiger Gesellen ausgesetzt waren“: jahrelanges Sichdurchschlagen, Schwierigkeiten bei der Ansässigmachung, geringe Chancen für Heirat und Familiengründung; dann oft ein Wechsel „zu den freien Erwerbsarten“, der den Gesellen in die Nähe von „besitz- und ausbildungslosen Taglöhnern und Fabrikarbeitern“ brachte. „Die Karriere unseres Gesellen ist zu Ende. Er wird nun irgendeiner unrühmlichen Tätigkeit nachgehen, wird in wilder Ehe mit seiner Verlobten leben und uneheliche Kinder haben.“41 Ob dieser Geselle den Versuch unternahm, Polizeidiener zu werden? Das skizzierte Profil des Bewerberfelds legt diese Möglichkeit zumindest nahe. Immerhin wäre das dann eine Möglichkeit, der erzwungenen Ausübung einer ‚unrühmlichen Tätigkeit‘ zu entgehen – oder wäre der Polizeidienst bereits eine solche ‚unrühmliche Tätigkeit‘, wäre der Umstand, dass Handwerksgesellen sich um Stellen als Polizeidiener bemühten, geradezu Ausdruck ihrer Tragik und einer tiefen Krise des Handwerks? Die spätestens um 1860 konstatierte krisenhafte Situation und die Stagnation des Handwerks im vorangegangenen Jahrzehnt ließen die so genannten freien Erwerbsarten als nahezu einzigen Bereich einer quantitativen Weiterentwicklung übrig. Der Polizeidienst, wie andere kommunale oder staatliche Dienste auch, gehörte für Handwerker ebenfalls zu den verfügbaren Alternativen.42 Aus Sicht 41 Schwarz, Nahrungsstand [1974], S. 81. 42 Für (Fabrik-)Arbeiter oder beschäftigungslose Kandidaten war er es allerdings nicht. In Nürnberg und Regensburg finden sich nur jeweils fünf Arbeiter in den Bewerberfeldern, also lediglich vier beziehungsweise zwei Prozent. Das deutet erstens darauf hin, dass die klassische Erzählung des Wegs in die Industriegesellschaft ein Stück weit zu revidieren ist. Diese Erzählung hebt darauf ab, dass das zunächst prekarisierte Handwerk zunehmend proletarisiert wurde, während kaum diskutiert wird, ob sich neben einer industriellen Arbeiterklasse nicht auch eine kommunale Dienstleistungsklasse herausbildete. Das scheint umso bedeutsamer, da bis zur Jahrhundertmitte „auch die
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der Bewerber war der Polizeidienst, so lassen sich die bisherigen Ausführungen resümieren, offenkundig nah genug an ihrer handwerklichen und sonstigen Herkunft, am Rande des Existenzminimums Lebenden in der Fabrikarbeit noch keine echte Alternative zu den traditionellen Berufen und Beschäftigungsmöglichkeiten“ sahen (Borscheid, Peter: Schranken sozialer Mobilität und Binnenwanderung im 19. Jahrhundert, in: Conze, Werner (Hg.), Arbeiter im Industrialisierungsprozeß. Herkunft, Lage und Verhalten, Stuttgart 1979, S. 31–50, Zitat: S. 35). Erst seit den 1860er Jahren änderte sich das, und mancherorts häuften sich die Klagen, dass das massenhafte Ausscheiden aus dem Handwerk einen Mangel an fähigen und brauchbaren Gesellen nach sich zöge. Das Problem bestand darin, dass gerade die tüchtigen Gesellen in die Fabriken abwanderten beziehungsweise sich „aus dem Handwerk absetzten“. Für Industrialisierungskerne wie Nürnberg fällt auf, in wie hohem Maß die Fabrikarbeiterschaft sich aus dem lokalen Arbeitsmarkt und aus dem Handwerk rekrutierte (vgl. Rupieper, Hermann-Josef: Regionale Herkunft, Fluktuation und innerbetriebliche Mobilität der Arbeiterschaft der Maschinenfabrik AugsburgNürnberg (MAN) 1844–1914, in: ebd., S. 94–112; Schwarz, Nahrungsstand [1974], S. 151–156). Bis sich dieses Muster etabliert hatte, bot der Polizeidienst vielleicht eine Möglichkeit des Überwinterns. Zweitens lassen sich Tendenzen einer ‚Proletarisierung‘ der Polizeimannschaften beziehungsweise der Bewerberfelder, wie sie für Preußen und England seit dem späten neunzehnten Jahrhundert herausgearbeitet wurden, aufgrund der Datenlage für die ausgewählten bayerischen Städte nicht bestätigen. Jessen, Polizei [1991], S. 160–164, bringt diese Tendenz mit dem zeitgleichen Zusammenbruch des militärbezogenen Rekrutierungssystems seit circa 1890 in Verbindung. Je größer – und je industrieller – eine Stadt, desto geringer war der Militäranteil und desto stärker zeigte sich eine „fortschreitende Proletarisierung der Mannschaften“. Personell kam es zu einem „signifikanten Typenwechsel“: „Der politisch präferierte Militäranwärter mit langjähriger Sozialisation in der totalen Institution der preußischen Armee, bevorzugt mit agrarischem Hintergrund und ohne Übergangsphase direkt vom Militär aus einer weit entfernten Garnison in den Polizeidienst der Industriestadt gewechselt, verschwand weitgehend zugunsten eines neues Rekrutierungstyps mit scharf kontrastierendem Sozialprofil. Dessen militärische Prägung beschränkte sich üblicherweise auf die drei- bzw. seit 1893 zweijährige Dienstzeit, die für alle jungen Männer galt, aber zum Zeitpunkt seines Eintritts in die Polizei schon einige Jahre zurücklag. Dominant dürfte für ihn eher die Berufserfahrung als Fabrikarbeiter, Maurer oder Bergmann gewesen sein. Er war zudem nicht nur mit der proletarischen Lebenswelt, sondern auch mit der Region vertraut, in der er in Zukunft die Obrigkeit repräsentieren sollte.“ Im Alltag standen sich während nahezu des gesamten neunzehnten Jahrhunderts, so ließe sich das Problem zuspitzen, Handwerker-Polizisten und Handwerker-Sozialisten gegenüber. Die Handwerke, aus denen sich eine Reihe der Polizeidiener rekrutierte, wiesen nämlich gleichzeitig eine Affinität zur entstehenden Sozialdemokratie auf (vgl. Boch, Rudolf: Handwerker-Sozialisten gegen Fabrikgesellschaft. Lokale Fachvereine, Massengewerkschaft und industrielle Rationalisierung in Solingen 1870–1914, Göttingen 1985; ders.: Zunfttradition und frühe Gewerkschaftsbewegung. Ein Beitrag zu einer beginnenden Diskussion mit besonderer Berücksichtigung des Handwerks im Verlagssystem, in: Wengenroth, Ulrich (Hg.), Prekäre Selbständigkeit. Zur Standortbestimmung von Handwerk, Hausindustrie und Kleingewerbe im Industrialisierungsprozess, Stuttgart 1989, S. 37–69). Die Konfliktlinie zwischen Polizei und Arbeiterbewegung beziehungsweise Sozialdemokratie – und wohl auch die Art, wie Konflikte abliefen und ausgetragen wurden – musste sich in dem Maße verschieben, wie die Arbeiterbewegung beziehungsweise Sozialdemokratie industrieller wurde, während die Polizeimannschaften vielerorts diese Entwicklung nicht oder nur verspätet nachvollzogen.
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um als – wenn auch manchmal nur notgedrungene – Alternative in Frage zu kommen. Eine Veränderung der Beschäftigungssituation bedeutete im Fall eines Eintritts in den Polizeidienst in sozialer Hinsicht zumindest keinen harten Bruch. Eher war der Polizeidienst Teil eines prekären Arbeitsmarkts, auf dem die einzelnen Einkommensmöglichkeiten als austauschbar galten. Diese Einbettung und Nähe schuf zugleich aber eine Situation, die für die Ausübung des Polizeidiensts zum Problem werden konnte und daher als Motor von Distanzierungsbemühungen wirkte.
2.3 Ordnungsliebende, fleißige Menschen Als Ego-Dokumente beziehungsweise Selbstzeugnisse geben Anstellungsgesuche nicht nur Aufschluss über Alter und Herkunft der Bewerber, sondern aus ihnen lassen sich auch und gerade Selbstentwürfe herauslesen.43 In Bewerbungsschreiben wird eine Spannung zwischen implizitem Selbst (das Selbst als „Lebenslaufresultat“, Identität als Inbegriff der im Laufe eines Lebens erworbenen Dispositionen) und explizitem Selbst (das Selbst als Gegenstand der Kommunikation und Darstellung, als Resultat sozialer Zuschreibungen) greifbar.44 Bewerbungsschreiben gehören zu jenen Texten, in denen jemand Auskunft über sich selbst gibt. Das Kriterium der Freiwilligkeit und eigenhändigen Abfassung gilt im Fall von Anstellungsgesuchen jedoch nicht absolut, gehört die Sorge um ein Auskommen doch zu jenen „besonderen Umständen“ (Winfried Schulze), die jemanden dazu veranlassen, Auskunft über sich zu geben, der es ansonsten vielleicht nicht getan hätte und dessen Selbstauskunft nicht Selbstzweck ist. Eingebettet und vorstrukturiert durch die Verfahrenserfordernisse kreisen Bewerbungen um Erwartungen und „Erwartungserwartungen“.45
43 Zur geschichtswissenschaftlichen Quellen- und Methodendiskussion vgl. Günther, Dagmar: „And now for something completely different“. Prolegomena zur Autobiographie als Quelle der Geschichtswissenschaft, in: Historische Zeitschrift 272 (2001), S. 25–61; Krusenstjern, Benigna von: Was sind Selbstzeugnisse? Begriffskritische und quellenkundliche Überlegungen anhand von Beispielen aus dem 17. Jahrhundert, in: Historische Anthropologie 2 (1994), S. 462–471; Schulze, Winfried: Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte? Vorüberlegungen für die Tagung „Ego-Dokumente“, in: ders. (Hg.), Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte, Berlin 1996, S. 11–30. 44 Vgl. Hahn, Alois: Biographie und Lebenslauf, in: ders., Konstruktionen des Selbst, der Welt und der Geschichte. Aufsätze zur Kultursoziologie, Frankfurt/M. 2000, S. 97–115. 45 In sozialen, das heißt kommunikativen Zusammenhängen, so Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/M. 1984, S. 414f., muss das Erwarten reflexiv werden. „Erwarten schlechthin kann man auch Naturereignisse, auch die Konstanz der Dinge, auch deren Verfall. Erwartungserwartungen müssen dagegen […] adressiert werden. Man kann Erwartungen nur erwarten von jemandem, der auch handeln kann.“
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Noch bevor Bewerber irgendetwas über sich geschrieben hatten, befanden sie sich bereits in der Position des Bittstellers. Die formale Konstruktion mag zwar den Anschein von Reziprozität erwecken, faktisch gehörten Bewerbungsschreiben im neunzehnten Jahrhundert jedoch zum hoch formalisierten Genre der Bittschriften.46 Die im Rahmen eines Gesuchs um Verleihung einer Polizeidienerstelle greifbaren Selbstentwürfe von Handwerkern, Dienstleuten, Soldaten usw. zeigen darüber hinaus aber auch eine Nähe der Bewerbungsschreiben zur bürgerlich-geschäftlichen Schriftkultur, in der es ebenfalls immer wieder um Stellensuche und Empfehlungsschreiben ging.47 Damit deutet sich an, dass bestimmte Kommunikationspraktiken im Verlauf des neunzehnten Jahrhunderts nicht mehr ausschließlich ‚bürgerlich‘ waren. In den Selbstauskünften der Bewerber greifen taktische und strategische Überlegungen innerhalb mitunter recht formalisierter Abläufe und Kommunikationsformen ineinander. Oft verschwammen gebräuchliche Floskeln, stereotype und standardisierte Formulierungen mit individuellen Anliegen. Gerade in der Frühphase, als die Bewerber ihre Gesuche in der Regel mündlich vortrugen, tauchen wiederholt stereotype Formeln auf. Derartige Formeln sind zumindest in Teilen auf eine Übersetzungsleistung des Protokollanten zurückzuführen; und sie erwecken ein klein wenig den 46 Vgl. Garnier, Claudia: Die Kultur der Bitte. Herrschaft und Kommunikation im mittelalterlichen Reich, Darmstadt 2008; Goody, Esther: Greeting, Begging, and the Presentation of Respect, in: LaFontaine, J.S. (Hg.), The Interpretation of Ritual, London 1972, S. 39–71. Individuelle Bittschreiben waren, neben anonymen und kollektiv verfassten Drohbriefen, die verbreitetste schriftliche Ausdrucksform der unteren Schichten. Sie zeigen oft eine Mischung aus ehrerbietiger Rhetorik und selbstbewusster Haltung (vgl. Sokoll, Thomas: Introduction, in: ders. (Hg.), Essex Pauper Letters 1731–1837, Oxford u. a. 2006, S. 3–77, hier: S. 59; Grosse, Siegfried: Vorbemerkung, in: ders. (Hg.), „Denn das Schreiben gehört nicht zu meiner täglichen Beschäftigung“. Der Alltag Kleiner Leute in Bittschriften, Briefen und Berichten aus dem 19. Jahrhundert, Bonn 1989, S. 9–15, hier: S. 13). Bittbriefe wurden in Universalbriefstellern, dem ratgeberischen Leitmedium des neunzehnten Jahrhunderts, als „einer der wichtigsten Brieftypen“ präsentiert. Bewerbungen als „Bitte um Anstellung“ waren Teil dieses Untergenres. Die Leitlinien, die Susanne Ettl aus zahlreichen Briefstellern herausgearbeitet hat, beschreiben idealtypisch den Rahmen, innerhalb dessen sich Anstellungsgesuche für den Polizeidienst bewegten. Sie sind gekennzeichnet von sprachlicher Vorsicht und metaphorischen Wendungen, die das Anliegen abschwächen sollen: „wage ich es in der tiefsten Ehrfurcht mich mit der Bitte zu nahen; nehme ich mir die Freiheit zu bitten; erlaube ich mir Sie mit einer Bitte zu belästigen. Die Bitte nimmt dabei geradezu Objektcharakter an; man kommt mit ihr, man naht sich mit ihr, man tritt mit ihr hervor oder wendet sich damit an jemanden und legt sie schließlich dem Angesprochenen zu Füßen“ (Ettl, Susanne: Anleitungen zu schriftlicher Kommunikation. Briefsteller von 1880–1980, Tübingen 1984, S. 167; zur Zugehörigkeit von Anstellungsgesuchen zum Genre der Bittschriften vgl. Karweick, Jörg: „Tiefgebeugt von Nahrungssorgen und Gram“. Schreiben an Behörden, in: Grosse, Siegfried (Hg.), „Denn das Schreiben gehört nicht zu meiner täglichen Beschäftigung“. Der Alltag Kleiner Leute in Bittschriften, Briefen und Berichten aus dem 19. Jahrhundert, Bonn 1989, S. 17–88, hier: S. 63). 47 Vgl. Saldern, Adelheid von: Netzwerkökonomie im frühen 19. Jahrhundert. Das Beispiel der Schoeller-Häuser, Stuttgart 2009, S. 258f., 273.
Ordnungsliebende, fleißige Menschen
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Eindruck, egal welche individuellen Besonderheiten jemand mitbrachte: Die Ausführungen zu Person, Charakter und Lebenslauf werden im Aufschreibeprozess zur immer gleichen Protokollfloskel. Immer wieder wird vermerkt, dass die Kandidaten sich als „gesund und tauglich“ erachteten, dass sie „vollkommen gesund“ oder „ohne Gebrechen“ waren, dass sie „lesen und schreiben“ und sich eines guten Leumunds rühmen konnten.48 Derartige Selbstpräsentationen reflektierten die in Ausschreibungen präzisierten Einstellungsvoraussetzungen, die eigenen Vorstellungen vom Polizeidienst und Vermutungen darüber, nach welchen Kriterien die Auswahl getroffen werden würde. Entsprechend präsentierten sich Stelleninteressierte stets mit Blick auf ihren Leumund, ihre körperliche Verfassung sowie ihre Qualifikation. Die zeitgenössische Kategorie des Leumunds umfasste – so wie in den Anstellungsgesuchen Bezug darauf genommen wurde – sowohl ein gesetzestreues Verhalten als auch die moralische Aufführung der Kandidaten. Der Buchbindergehilfe Anton Jordan durfte sich „auch schmeicheln“, im Civilstande den Ruf eines ordnungsliebenden, fleißigen Menschen zu besitzen, was vorzüglich der Umstand beweisen mag, sieben Jahre ununterbrochen hindurch bei einem und demselben Magistrat in Arbeit gewesen zu sein und der mich auch nicht würde entlassen haben, hätten nicht die allgemein drückenden Zeitverhältnisse ein Sacken seiner Geschäfte verursacht.49
Mitunter recht klar bringen die Selbstentwürfe die zeitgenössischen Wertvorstellungen und Verhaltensstandards zum Vorschein – und damit verbunden auch die zeitgenössischen Anforderungen an potentielle Polizeidiener. Der Gendarm Alois Gattinger bescheinigte sich, „er habe sich einer sehr guten conduite zu erfreuen“ – angesichts eines beigefügten Dienstzeugnisses, das wiederholte Strafen wegen Trunkenheit, „bedrohlichen Benehmens“ gegenüber Kollegen sowie „ungewöhnlicher Beschimpfung desselben“ vermerkte; dazu noch Strafen wegen „bedeutender Patrouillenzeitüberschreitung, langen Zechens in Wirthshäusern und ungeeigneten Benehmens im Stationslokal“, schließlich Spielen um Geld, neuerliches „ungeeignetes Benehmen“ im Wirtshaus und gegenüber anderen Gendarmen, Verweigerung aufgetragener Aufgaben sowie Belügen des Kommandanten. Dennoch bescheinigte das Dienstzeugnis einen „guten“ Leumund, ungeachtet der Tatsache, dass man Gattinger für „dem Trunke und den Wirtshaussitzungen ergeben und zu Exzessen geneigt, nicht immer verläßig, unfolgsam und roh in seinem Benehmen“ hielt.50 Der Fall Gattinger zeigt zumindest, 48 Vgl. dazu: Anstellungsgesuche als Polizeidiener, 1810–1811, StAN, C2, 56; Anstellungsgesuche als Polizeidiener, 1814–1817, StAN, C2, 77–85. 49 Jordan, Anton, an Magistrat Stadtamhof, 26.3.1850, StAReg, ZR I 10861. 50 Gattinger, Alois, an Magistrat Regensburg, 18.10.1867, StAReg, ZR I 10803.
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dass das Insistieren auf einen guten Leumund und tadellose moralische Aufführung innerhalb eines Kontinuums mit fließenden Übergängen funktionierte. Es ging nicht um einen absolut definierten Standard, den man als potentieller Polizeidiener einzuhalten hatte (und den ein Kandidat eben erreichte oder nicht), sondern um einen Bezugspunkt, auf den hin sich die Selbstentwürfe orientierten – und der Interpretationsspielräume hinsichtlich der eigenen Eignung ließ. Die Bewerber portraitierten sich stets als für den Polizeidienst qualifiziert, wenngleich die Frage, welcher Qualifikationen es eigentlich bedurfte, ganz unterschiedlich beantwortet wurde. In den 1810er Jahren beschränkten sich konkretisierende Hinweise oft auf die bloße Bemerkung, man könne lesen, schreiben und (seltener) rechnen. Vereinzelt wurde das in Beziehung zu den (vermuteten) Aufgaben und Herausforderungen eines Polizeidieners gesetzt. So mancher Kandidat resümierte seine Ausführungen mit der nicht weiter präzisierten Feststellung, er wolle „bei den genügenden Fähigkeiten zur ernsten Erfüllung der obliegenden Dienstes-Pflichten als vollkommen tüchtig befunden werden“.51 Sehr viel änderte sich daran auch in der zweiten Jahrhunderthälfte nicht. Bis in die 1880er Jahre hinein blieben knappe Erwähnungen der Lese- und Schreibkompetenz die Regel. Schulbesuche und schulische Leistungen wurden selten angeführt, da sie in der Tendenz vorausgesetzt wurden. Spezifische Fachqualifikationen waren wenig verbreitet. Umso wertvoller war es, wenn man stolz darauf sein konnte, sich einiger „Kenntnisse der strafbaren Handlungen im Sicherheits- und Polizeidienst zu erfreuen“.52 (Ehemalige) Gendarmen unterstrichen die ähnlichen Anforderungen des Gendarmerie- und Polizeidiensts, um ihre Fachqualifikation zu verdeutlichen, oder man verwies auf einen mehrwöchigen Besuch der Gendarmerieschule, um selbstbewusst anzuführen: „bin in allen Zweigen des Sicherheitsdienstes vollkommen erfahren,“53 Auch als langjähriger Nachtschutzmann konnte man sich als „vollständig erfahren“ im Polizei- und Sicherheitsdienst bezeichnen.54 Der Bewerber Josef Sparrer beschrieb sich 1909 als jemanden, der „seit 1. März 1907 im Sicherheitsdienste als Hilfs-Schutzmann verwendet ist u. bereits mehrmals den selbständigen Dienst als Schutzmann verrichtete“.55 Selbst als ehemaliger Gerichtsdienergehilfe, Jäger und Waldaufseher konnte man behaupten, durch diese früheren Tätigkeiten die polizeilichen Gesetze bereits kennengelernt zu haben.56 Wer keine 51 Großmann, Joseph, an Magistrat Schwandorf, 15.9.1843, StAS, Akte des Stadtmagistrats, VII-3; ähnlich auch: Herrscher, Konrad, an Polizeidirektion Nürnberg, 31.12.1810, StAN, C2, 56; Anstellungsgesuch Kaiser, 4.11.1816, StAN, C2, 81; Anstellungsgesuch Übelacker, 1818, StAN, C2, 87. 52 Lenz, Johann, an Magistrat Regensburg, 6.5.1880, StAReg, ZR I 10803. 53 Fiedler, Michael, an Magistrat Stadtamhof, 1895, StAReg, ZR I 10855. 54 Kaiser, Karl, an Magistrat Schwandorf, 30.7.1900, StAS, Akte des Stadtmagistrats, P-3x 1 v. 2. 55 Sparrer, Josef, an Magistrat Stadtamhof, 5.11.1909, StAReg, ZR I 10851. 56 Vgl. Schneiderhein, Christoph, an Magistrat Schwandorf, 27.6.1859, StAS, Akte des Stadtmagistrats, VII-103.
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relevante Erfahrung hatte, erkannte das durchaus als Problem. Ein Bewerber entschuldigte sich fast dafür, seine Befähigung lediglich mittels Militärzeugnis nachweisen zu können, da er „im Sicherheitsdienste noch nie thätig war“.57 Dass der Polizeidienst in besonderer Weise eine qualifizierte Tätigkeit war oder als solche angesehen wurde, lässt sich aus den Selbsteinschätzungen der Bewerber insgesamt also nicht folgern. Im Zusammenhang mit dem Polizeidienst fielen den meisten eher allgemeine Kompetenzen als spezifische Qualifikationen ein; Dinge also, die man in der Regel relativ problemlos außerhalb des Polizeidiensts sowohl erwerben als auch einsetzen konnte. Aus Sicht der Interessenten schien nicht besonders viel dabei zu sein, polizeiliche Grundlagen zu erlernen. Die Selbstentwürfe deuten darauf hin, dass die Bewerber im Polizeidienst eine Aufgabe sahen, die den Ausübenden eine Vorbildfunktion in Sachen Charakter, Persönlichkeit und Lebensführung zuschrieb und man den Polizeidienst für körperliche Arbeit hielt (bereits die Frage, wie körperlich und wie anstrengend das – verglichen mit anderen Tätigkeiten – war, war allerdings umstritten). Darüber hinaus deutet wenig auf ein differenziertes Bild des Polizeidiensts hin.
2.4 Existenznöte und die Liebe zum Polizeidienst Fragt man nach den angeführten Motiven für eine Bewerbung, stößt man zunächst auf private Gründe, die thematisch breit und zufällig gestreut sind. Interessenten begründeten ihr Gesuch damit, dass sie ihre alte Stelle „wegen meiner alten Mutter“ aufgeben, „wegen Krankseins meines alten Vaters nach Hause“ mussten oder man zu den alten, kranken Eltern zurückkehren wollte, um diese zu pflegen und mit einer gemeinsamen Haushaltsführung Geld zu sparen.58 Fast stereotyp zum Ausdruck gebracht wurde darüber hinaus die Lust und Liebe zum Sicherheitsdienst. Johann Rüdiger Kröger war bereits seit kurzem Polizeidiener in Burglengenfeld, als er dem Schwandorfer Magistrat in seiner Bewerbung versicherte, dass er „für diesen Dienst eine besondere Vorliebe habe und die nöthige Befähigung besitzen werde“.59 Manch einer äußerte den „innigste[n] Wunsch im öffentlichen 57 Mayer, Xaver, an Magistrat Regensburg, 19.6.1874, StAReg, ZR I 10803. 58 Vgl. Fischer, Helmut, an Magistrat Schwandorf, 6.6.1859, StAS, Akte des Stadtmagistrats, VII-103; Greiner, Johann an Magistrat Regensburg, 10.6.1887; Niedermeyer, Thomas, an Magistrat Regensburg, 30.12.1880 (beide in: StAReg, ZR I 10803). 59 Kröger, Johann, an Magistrat Schwandorf, 30.6.1859, StAS, Akte des Stadtmagistrats, VII-103. Zahlreiche Beispiele für eine „Vorliebe für den Polizeidienst“ oder „besondere Liebe zum Polizeidienst“, „Lust und Neigung zum Sicherheitsdienste“, „Lust und Liebe zu dem Beruf als Schutzmann“ usw. finden sich in: Magistrat Regensburg: Gesuche um Aufnahme als Polizeidiener. 1867– 1887 StAReg, ZR I 10803.
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Sicherheitsdienste Verwendung zu finden“.60 Was war dem entgegenzusetzen, wenn ein Soldat schrieb: „Aus besonderer Vorliebe wünsche ich Polizeidienste zu versehen. – Fühle mich hierzu mehr berufen als zu jeder anderen Sache“?61 Besonders eindrücklich unterstrich ein Münchener Gendarm seine Neigung. „Nicht die gute Bezahlung, sondern nur die Liebe zum Sicherheitsdienste hielt den gehorsamst Unterzeichneten bisher in der gegenwärtigen Stellung zurück.“ Die Verleihung einer Polizeidienerstelle in Regensburg wäre umso schöner, zumal der dortige Magistrat damit eine „entsprechende Bezahlung verbunden hat“.62 Der Bewerber Georg Niedermeier ließ sich seine Neigung sogar in einem Empfehlungsschreiben eines hohen Herrn, August Freiherr von der Tann, bei dem seine Schwester seit neun Jahren in Diensten stand, bekräftigen. „Eine besondere Vorliebe für den Polizeidienst daselbst drängt ihn nun“, so schrieb der Freiherr an den Regensburger Magistrat, „die gehorsamste Bitte“ um Verleihung einer Polizeidienerstelle vorzutragen.63 Hier ergeben sich Fragen nach Ausprägung und Bedeutung der mit Topoi wie Zuneigung oder Liebe bezeichneten Form der Beziehungen von Staat und Untertanen. Alf Lüdtke wies vor einiger Zeit auf die Scharnierfunktion der Figur des „Hausvaters“ in Sachen Untertanenliebe hin. Vom Hausvater wurde erwartet, für seine Untergebenen Liebe und Sorge aufzubringen, während diese eine „ehrerbietige Zuneigung zur Obrigkeit“ an den Tag legen sollten, und das meinte eben nicht „gehorsame Apathie“. Die Frage der Legitimität von Herrschaft konnte so auf andere Weise gestellt werden: Wie lässt sich Zuneigung gewinnen? Der Polizeidienst scheint sich einzufügen in ein Geflecht wechselseitiger Zuneigung.64 Als Bewerber behauptete man, diesen Dienst zu lieben, weil man hoffte, von den Obrigkeiten geliebt zu werden. Oder, neutraler formuliert: Liebe als Formel signalisiert ein bestimmtes Verhalten – oder die Bereitschaft dazu –, ohne in irgendeiner Weise emotional festgelegt sein zu müssen. Modellierten sich Kandidaten im Akt der Bewerbung als Bittsteller, die sich der ‚Gnade‘ einer Obrigkeit (wie begrenzt diese auch immer sein mochte) auslieferten und (narrativ) unterwarfen, so modellieren sie sich mit Blick auf ihre erhoffte zukünftige Tätigkeit als treue Diener, die den ‚Dienstherren‘ beziehungsweise ‚Dienstvater‘ zufriedenzustellen versprachen. Das zentrale Motiv für die Bewerbung war allerdings ökonomischer Natur. Überraschend ist aus heutiger Sicht nicht, dass das so war, sondern wie offen es zum Ausdruck gebracht wurde. Die Attraktivität des Polizeidiensts resultierte aus einem Einkommen, das sich im Bereich dessen bewegte, was im Handwerk durchschnittlich 60 61 62 63 64
Schauerl, Josef, an Magistrat Regensburg, 29.12.1869, StAReg, ZR I 10803. Mather, Johann, an Magistrat Regensburg, 5.4.1881, StAReg, ZR I 10803. Schimel, Joachim, an Magistrat Regensburg, 1.6.1874, StAReg, ZR I 10803. Niedermeier, Georg, an Magistrat Regensburg, 15.8.1883, StAReg, ZR I 10803. Dazu: Lüdtke, Alf: Gewalt des Staates – Liebe zum Staat. Annäherungen an ein politisches Gefühl der Neuzeit, in: Krasmann, Susanne/Martschukat, Jürgen (Hg.), Rationalitäten der Gewalt. Staatliche Neuordnungen vom 19. bis zum 21. Jahrhundert, Bielefeld 2007, S. 197–213.
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zu erzielen war. Zahlreichen Bewerbern ging es um den Wunsch, irgendwie eine „Civilversorgung“ sicherzustellen.65 Manch einer bewarb sich, weil er schlichtweg „noch keine Bestimmung für die Zukunft“ hatte.66 Der Soldat Paulus Schäfer teilte dem Nürnberger Magistrat 1814 mit, er habe keine Profession erlernt und wüsste auch jetzt auf „keine andere Art seinen Unterhalt zu verdienen“.67 Ein ehemaliger Soldat und gelernter Müller hatte versucht, „auswärts unterzukommen, welches mir aber bis ietzt nicht glücken wollte. Ich war daher genöthigt, durch meine erlernte Profession Arbeit zu suchen, fand aber auch diese bisher nicht“.68 Gerade in der nachnapoleonischen Zeit wurden die besonderen Umstände hervorgehoben. Ein gelernter Nagelschmied, der bis zu seinem Militäreintritt in diesem Gewerbe gearbeitet hatte, gab an: „Während meiner militärischen Dienstzeit bin ich jetzt des Arbeitens entwöhnt, und wünsche daher sehnlichst auf eine andere Art mein Unterkommen zu finden.“69 Zahlreiche Interessenten begründeten ihr Gesuch damit, dass sie vermögens- oder erwerbslos dastünden, dass ihre langwierigen Bemühungen, anderweitig ein Auskommen zu sichern, erfolglos geblieben waren, dass sie „trotz eifriger Bemühungen“ bisher keine andere Anstellung haben finden können, dass es ihnen nicht mehr möglich wäre, ihr eigentliches Handwerk auszuüben, oder dass dieses nicht genug abwerfe, um sich und eine Familie zu ernähren.70 Die Verweise auf eine gedrückte Einkommenssituation gingen um die Jahrhundertmitte mit der Befürchtung einher, der Armenfürsorge anheimzufallen. Der Buchbindergehilfe Anton Jordan erinnerte den Magistrat in Stadtamhof daran, wie bereits „in meinen Knabenjahren als meine Eltern mir entrißen wurden, als ich nun ganz einsam dastand, […] sich ein hochlöblicher Magistrat des Hilflosen angenommen [hat], ließ mich im Meisterhause gut erziehen, ließ mir eine Profession erlernen, durch die ich mich bisher anständig und ehrlich 65 66 67 68 69
Rösch, Wilhelm, an Magistrat Nürnberg, 11.1.1809, StAN, C2, 122. Anstellungsgesuch Bertel, 19.7.1817, StAN, C2, 83. Anstellungsgesuch Schäfer, 18.11.1814, StAN, C2, 77. Anstellungsgesuch Littig, 9.2.1817, StAN, C2, 86. Anstellungsgesuch Übelacker, 1818, StAN, C2, 87. Formulierungen wie die oben zitierte finden sich in einigen Nürnberger Bewerbungen von Soldaten, vor allem in nachnapoleonischer Zeit. Polizeiwissenschaftler spekulierten noch Mitte des Jahrhunderts darüber, ob nicht die „aus den gewöhnlichen Militair-Konskriptionen fließende Entwöhnung allzuvieler Menschen vom eigentlichen Arbeitsfleiße […] zu beseitigen wäre“ (Behr, Polizei-Wissenschaftslehre [1848], S. 120; für eine Diskussion der separierenden Effekte des Militärdiensts vgl. auch: Blessing, Werner K.: Umbruchkrise und „Verstörung“. Die „napoleonische“ Erschütterung und ihre sozialpsychologische Bedeutung, in: Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte 42 (1979), S. 75–106, hier: S. 84f., 93). 70 Vgl. Großmann, Joseph, an Magistrat Schwandorf, 15.9.1843, StAS, Akte des Stadtmagistrats, VII3. Höll, Johann, an Magistrat Stadtamhof, 9.3.1849, StAReg, ZR I 10862; Klein, Otto, an Magistrat Stadtamhof, 29.11.1909, StAReg, ZR I 10851.
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ernähren konnte“. Die Erinnerung an diese Wohltaten bestärke ihn darin, sich erneut an den Magistrat zu wenden, da ohne Vermögen keine Aussicht auf ein eigenes Geschäft bestünde und er befürchten müsse, der Heimatgemeinde zur Last zu fallen.71 Dabei reflektierten einige Bittsteller explizit den ökonomischen Strukturwandel und nicht mehr nur allgemeine ‚Zeitumstände‘. Der Nagelschmied Johann Grader wies 1870 darauf hin, dass „seit einigen Jahren der Erwerb seiner Profession durch die Fabriken ganz und gar unterdrückt wurde“, er in der Folge arbeitslos und ohne Aussicht auf eine Beschäftigung sei.72 Ein Regensburger Hutmacher, der seit fünf Jahren ein eigenes Geschäft betrieb, war davon ausgegangen, mit solider Arbeit dieses „in Schwung zu bringen“, seine Familie zu ernähren und „mir so eine sorgenlose Zukunft sichern zu können“. „Leider aber sollte es anders kommen. […] Das von mir beseßene Betriebskapital war zu wenig der hiesigen, fast nur aus vermögenden Hutmachern bestehenden Conkurrenz auch nur das Gleichgewicht halten zu können.“ So musste er sein Geschäft aufgeben und wurde um all seine Habe gebracht. Auf Arbeitssuche musste er dann auch noch feststellen, „daß heutzutage niemand mehr einen Hutmachergesellen benötigt, weil die hiesigen Hutmacher alle Hüte […] aus den Fabriken beziehen und mit denselben nur mehr Handel betreiben.“73 Ebenso über schlechte Verdienstmöglichkeiten und wenig Aussicht auf Besserung in ihrer jeweiligen Branche klagten zwischen den 1870er Jahren und dem Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts zahlreiche Handwerker und Kleingewerbetreibende: 1872 ein Schuhmachergehilfe, dessen Gewerbe überlaufen war, 1874 ein gelernter Brauer, der freiwillig aus der Gendarmerie ausschied, „in der Meinung, sich durch sein gelerntes Gewerbe eine bessere Existenz sichern zu können“, was sich leider nicht bewahrheitete. Dazu kamen Maler, Brauereigehilfen, Schneider, Tischlergesellen, Sattler, die es bereits in eine Handschuhfabrik verschlagen hatte, oder auch Steinhauer.74 Schließlich verwies selbst ein Friseur darauf, dass sein Geschäft nicht so gut lief, wie es hätte laufen müssen, um die Familie zu ernähren. Die Ersparnisse waren aufgebraucht und infolgedessen musste er das Geschäft aufgeben. Er bewarb sich als Polizeidiener, um sich nicht wieder eine Stellung als Friseurgehilfe suchen zu müssen.75 Neben finanziellen Anreizen spielte Beschäftigungssicherheit eine Rolle. Ludwig Kirchner etwa, 71 Jordan, Anton, an Magistrat Stadtamhof, 26.3.1850, StAReg, ZR I 10861; für eine ähnlich gelagerte Argumentation vgl. Magistrat Schwandorf, 6.9.1843, StAS, Akte des Stadtmagistrats, VII-3; Spring, Johann, an Magistrat Stadtamhof, 29.3.1850, StAReg, ZR I 10862. 72 Grader, Johann, an Magistrat Regensburg, 17.2.1870, StAReg, ZR I 10803. 73 Latzinger, Sebastian, an Magistrat Regensburg, 6.6.1879, StAReg, ZR I 10803. 74 Vgl. Magistrat Regensburg: Gesuche um Aufnahme als Polizeidiener 1867–1887, StAReg, ZR I 10803; sowie Wagener, Josef, an Magistrat Stadtamhof, 13.4.1880, StAReg, ZR I 10841; Seemann, Josef, an Magistrat Schwandorf, 27.5.1900, StAS, P-3x 1 v. 2; Haarbauer, Christian, an Magistrat Stadtamhof, 28.11.1909, StAReg, ZR I 10851. 75 Billert, Christian, an Magistrat Stadtamhof, 1.12.1909, StAReg, ZR I 10851.
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ein „14jähriger Diener des Königlichen Landgerichts Nürnberg“, brachte den „innigen Wunsch“ zum Ausdruck, „doch endlich auch einmal zu einer fixen – längst verdienten Anstellung zu gelangen“.76 Wer seit vier Jahren nur „auf Ruf und Widerruf “ angestellt war, hatte einigen Grund, „diese Stelle gerne für eine gesichertere vertauschen“ zu wollen.77 Bemühungen um dauerhafte Anstellung und schnelle Stellenwechsel auf der Suche nach einem auskömmlichen und sicheren Einkommen gingen unter den Bedingungen prekärer Arbeitsmärkte miteinander einher. Wo beispielsweise als Aushilfe im Oberpostamt „eine weitere Aussicht auf Beförderung nicht vorhanden ist“, bewarb man sich als Polizeidiener.78 1911 drückte ein Nürnberger Hilfsschutzmann sein „Bestreben“ aus, sich „im Sicherheitsdienste vollständig auszubilden“, um sich „eine Lebensstellung zu verschaffen.“79 Die Motive, die in den Anstellungsgesuchen formuliert wurden, reflektieren die soziale Herkunft und Einbettung der Bewerber, ihre Ziele, Wünsche und Selbstdeutungen. Sie lassen sich als Bemühen um eine stabile soziale Positionierung interpretieren: Einerseits dokumentiert das Gesuch, dass man die Hoffnung, ins wohlhabende Handwerk aufzusteigen, aufgegeben hatte; andererseits scheint die Bewerbung zum Polizeidiener sich als Rettungsanker angeboten zu haben – als öde Klippe in den stürmischen Wogen des Lebens –, um nicht zu den Unterschichten80 hinabzusinken: um wenigstens ein Mindestmaß an Besitz- und Bildungsqualifikationen zu wahren, um politischer wie rechtlicher Unterprivilegierung zu entgehen, um eine zwar nicht selbständige, aber auch nicht auf Unterstützungen aus der Armenkasse angewiesene Existenz zu sichern. Diese Positionierung ist für die Selbstbildung zukünftiger Polizeidiener sowie die Frage ihrer Nähe oder Distanz zum Publikum von entscheidender Bedeutung, war die Position, von der aus sich jemand für den Polizeidienst interessierte, doch alles andere als stabil und gesichert. Bei der Mehrheit der Kandidaten handelte es sich um all jene, die den „Zufällen der Gewerbelotterie“ ( Jacques Rancière) ausgesetzt waren. Das kräftezehrende Elend stellte sich hier – und die Bewerber für den Polizeidienst veranschaulichen diese Beobachtung – weniger durch Hunger ein, als vielmehr durch den Zwang, wieder und wieder (neue) Arbeit suchen und finden zu müssen.81 Und so verwundert es nicht, dass – wo Handwerk und andere Gewerbe optionen in hohem Maß prekär waren – die „Jagd nach Posten im Staatsdienst, nach 76 Kirchner, Ludwig Friedrich, an Polizeidirektion Nürnberg, 9.9.1822, StAN, C2, 74. 77 Spichtinger, Mathias, an Magistrat Regensburg, 15.6.1874, StAReg, ZR I 10803. 78 Stadler, Johann, an Magistrat Regensburg, 19.7.1884, StAReg, ZR I 10803. 79 Leitz, Johann, an Magistrat Stadtamhof, 23.3.1911, StAReg, ZR I 10852. 80 Ein Portrait der Unterschichten des neunzehnten Jahrhunderts bietet: Kaschuba, Wolfgang: Lebenswelt und Kultur der unterbürgerlichen Schichten im 19. und 20. Jahrhundert, München 1990. 81 Im Detail: Rancière, Jacques: Die Nacht der Proletarier. Archive des Arbeitertraums, Wien und Berlin 2013 [1981].
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den kleinen Privilegien und Sicherheiten des Kanzleidienstes“ zu den „Grundkonstanten der europäischen Verwaltungsgeschichten im 19. Jahrhundert“ gehörte.82
82 Raphael, Lutz: Recht und Ordnung. Herrschaft durch Verwaltung im 19. Jahrhundert, Frankfurt/M. 2000, S. 181.
3. Wer es geschafft hat In grösseren Städten soll die Zahl des Personals so bemessen werden, daß dasselbe zu den ununterbrochen fortzusetzenden Tag- und Nacht-Patrouillen hinreiche, und ein Theil zum Dienste des Polizei-Bureaus, dann zum Vollzug der bei augenblicklichen Vorkommnissen und ausserordentlichen Vorfällen zu treffenden Anordnungen disponibel bleibe. […] In kleinern Städten, wo öconomische Rücksichten eine Beschränkung in der Zahl der Polizei-Soldaten gebieten, die patrouillierende Mannschaft in kürzeren Zeiträumen zum Polizeibureau zurückkehrt, oder jeden Falls wenigstens leichter einzuziehen ist, und die Dienste der GemeindeDiener von geringerem Umfange sind, daher auch letztere zu den vorkommenden ausserordentlichen Verrichtungen mitverwendet werden können; ist es hinreichend, wenn die Polizei-Wache blos aus der zur Leistung des Patrouillen-Dienstes erforderlichen Mannschaft besteht.1 Die Polizeibehörden haben ein viel zahlreicheres Subalternpersonal nöthig, als andere BehördenZweige; denn sie bedürfen desselben nicht blos im Bureau, sondern mehr noch außerhalb desselben. Zur ersteren Kategorie gehören Secretäre, Schreiber, Diener; zur letzteren die Polizei-Agenten, die Polizeidiener, die Gensdarmen (Schutzmänner, Constabler).2
Mit der Entscheidung, sich als Polizeidiener zu bewerben, mag eine erste innere Distanzierung der Bewerber von denjenigen erfolgt sein, die sich unter vergleichbaren Umständen – angesichts gedrückter Lebensumstände, angesichts von Nahrungssorgen und angesichts prekärer Arbeitsmärkte – nicht für den Polizeidienst interessierten. Dem faktischen Eintritt in die Polizei geht oft eine Phase vorweggenommener Anpassung voraus (die im vorangegangenen Kapitel analysierten 1 Barth, Handbuch [1821], S. 93f. 2 Pözl, Grundriß [1866], S. 147.
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Anstellungsgesuche geben einen Hinweis auf diese vorauseilende Selbstmodellierung), bevor mit dem Dienstantritt ein Prozess der Einpassung erfolgt.3 Dem schließen sich weitere Distanzierungsschritte an, in Form expliziter Einarbeitungszeiten, vor allem aber durch informelle Wissensvermittlung im Dienst, etwa dadurch, dass Neulinge anfangs zusammen mit einem erfahrenen Kollegen Dienst tun. Ergänzt werden konnte beziehungsweise sollte das aus Sicht einiger Polizeiwissenschaftler der Jahrhundertmitte durch stete Fortbildung im Dienst – immer dann, wenn sich eine Gelegenheit bot: anlässlich von Rapporten, mittels Lob und Tadel, durch gezieltes Nachfragen, aber auch durch allgemeine Kontrolle und Aufsicht.4 Der Grad des Gelingens oder Misslingens der An- und Einpassung, die gleichzeitig immer auch eine Distanzierung von bestehenden Bindungen und Beziehungen war, schlug sich in den Mannschaftsbüchern nieder, die spärlich, aber doch aufschlussreich das Verhalten und den Charakter der einzelnen Polizeidiener kommentierten. Die Grenze zwischen regem und zu regem Diensteifer war nicht leicht zu ziehen. Im Mannschaftsbuch der Regensburger Polizei etwa wurden Polizeidiener ebenso pauschal wie unbestimmt für „dienstliche Auszeichnung“, „Dienstwillen“, „Umsicht und Eifer“, „gewandte Dienstleistung und Eifer“ oder „tätige Umsicht“ gelobt. Getadelt wurde wegen „Fahrlässigkeit im Dienst“, „Dienstwidrigkeiten“, „vernachlässigten Dienstes“ oder „dienstwidrigen Benehmens“. Joseph Mittereder bekam ein Lob für seine hervorragende Verrichtung des Polizeidienstes mit „sehr erspriesslichen Folgen“. Mathias Spindler war „ein sehr thätiger Polizeysoldat, zeigt viele Geschäftsgewandtheit“. Johann Hofmann dagegen mangelte „der rege Diensteifer“, während Lorenz Speiser 1820 einen Verweis wegen „übertriebenem Diensteifer“ erhielt, gleichzeitig aber bescheinigt bekam: „Ist sehr exact im Dienst und zeigt Muth bei Arretierungen.“5 Im Folgenden schildere ich die Schritte der An- und Einpassung der einzelnen Polizeidiener wie auch ihrer Distanzierung von den Bindungen und Beziehungen, die sie aus der Zeit vor ihrem Eintritt in den Dienst mitbrachten. Die Zusammensetzung, internen Hierarchien und Dynamiken der jeweiligen Mannschaft, in die jemand eintrat, das Durchlaufen der Probezeit, die Akte der Vereidigung und Uniformierung, 3 In der Polizeisoziologie sind derartige Vorgänge vielfach beobachtet worden, vgl. zum Beispiel: Chan u. a., Cop [2003], S. 12–15, 71. 4 Vgl. Zimmermann, Polizei [1845–1849], S. 1127–1129, 1137f., 1182. Die Neulinge sind dabei gezwungen, elaborierte Strategien zu entwickeln, um mit den Anforderungen und einer anfänglichen Überforderung umzugehen: Sie müssen lernen, in einer bestimmten Weise zuzuhören, zu beobachten, zu fragen usw. (vgl. Chan u. a., Cop [2003], S. 159). Aus subjektivierungstheoretischer Perspektive ist unlängst ebenfalls auf diesen Zusammenhang hingewiesen worden: „In einem Geflecht sozialisatorischer Akte lernen die Novizen“, so Alkemeyer/Buschmann, Praktiken [2016], S. 131, „sich fortlaufend mit den Augen der bereits Etablierten zu beobachten, zu korrigieren, Spielräume zu erkennen und auf diese Weise selbst in der Ordnung zu halten.“ 5 Polizeimannschaft Regensburg: Mannschaftsbuch, 1851, StAReg ZR I 10792–94.
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dann aber auch das behördliche Einwirken auf die häuslichen Verhältnisse – all das trug dazu bei, Polizeidiener schrittweise zu Polizeidienern zu machen.
3.1 Unter Polizeidienern Bei der Auswahl geeigneter Kandidaten kamen Präferenzen der Magistrate zum Vorschein, die mit jeder Neueinstellung zumindest theoretisch den Versuch unternehmen konnten, ihrer idealen Polizeimannschaft näherzukommen. Freilich waren derartige Bemühungen in mehrfacher Weise begrenzt. Erstens konnte nur aus denen gewählt werden, die sich beworben hatten. Wer sich bewarb, ließ sich nur bedingt steuern. Oft waren die gewünschten Kandidaten nicht verfügbar, das heißt sie wurden mit den Ausschreibungen nicht erreicht, oder der Polizeidienst war für sie schlicht nicht attraktiv. Die faktisch eingestellten Polizeidiener waren also nicht zwingend Wunschkandidaten, sondern manchmal eher das geringste Übel. Zweitens wurde die Auswahl durch die Zusammensetzung der bereits bestehenden Polizeimannschaften beeinflusst. Wer eingestellt wurde, hing auch davon ab, welcher Bedarf bestand. Das wurde vor allem mit Blick auf die zu besetzenden Positionen (Polizeidiener erster, zweiter oder dritter Klasse; Rottmeister; Aktuare; Offizianten) wichtig, aber auch hinsichtlich Alter und Familienstand. Magistratliche Auswahlpräferenzen lassen sich aufgrund der Quellenlage nur punktuell rekonstruieren, weil sie kaum schriftlich reflektiert oder überliefert wurden und zudem über weite Teile des Jahrhunderts auch wenig stringent waren. Es sagt Einiges aus, wenn der Autor einer über eintausendseitigen Abhandlung zur Polizei 1849 darauf insistierte, nur solche Personen auszuwählen, „welche von der Natur diejenigen Anlagen und Fähigkeiten bekommen haben, wie sie die specifische Beschaffenheit des polizeilichen Geschäftes erfordert“.6 Die magistratliche Auswahlpraxis war schließlich nicht zuletzt deshalb so heikel, weil der Polizeidienst im Gegensatz zu anderen (staatlichen) Diensten kein Examen irgendeiner Art voraussetzte, auf dessen Grundlage man sich vor der „Zulassung roher Unkenntnis“ schützen konnte.7 Einige Tendenzen des Auswahlvorgangs werden aber doch in einem Vergleich der im vorangegangenen Kapitel analysierten Bewerberfelder mit den aktuellen Polizeimannschaften erkennbar. Ein Portrait der Mannschaften als soziale Gebilde mit einer bestimmten Altersstruktur, einer eigentümlichen Mischung von Erwerbshintergründen und Erfahrungen sowie einer – durch das System der Dienstränge und Beförderungen hervorgebrachten – inneren Hierarchie lässt Stück für Stück jenes Soziotop sichtbar werden, in dem sich der einzelne Poli-
6 Zimmermann, Polizei [1845–1849], S. 1105. 7 Avé-Lallemant, Krisis [1861], S. 12f.
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zeidiener bewegte.8 Ich greife dabei vor allem auf Mannschaftsbücher und Verpflichtungsprotokolle von Polizeidienern zurück, die zwar keine direkten Schlüsse auf deren unmittelbare Selbstdeutung zulassen, da sie lediglich biographische Eckdaten verzeichnen (Geburtsjahr, Diensteintrittszeitpunkt, erlerntes Gewerbe, ausgeübtes Gewerbe), damit aber zumindest ein Verständnis des polizeimannschaftlichen Gefüges als soziales Umfeld ermöglichen.9 In Nürnberg waren um 1820 Polizeidiener im Alter von 24 bis 54 Jahren beschäftigt. Das Durchschnittsalter lag bei knapp über 37 Jahren. Angaben über das Eintrittsalter fehlen hier, anders als in einem Regensburger Mannschaftsbuch, in dem die zwischen 1813 und 1851 eingestellten Polizeidiener verzeichnet sind. Das durchschnittliche Alter beim Eintritt in die Polizeimannschaft lag in Regensburg in diesem Zeitraum bei fast 33 Jahren. Drei der 38 Polizeidiener, für die Daten vorliegen, waren vierzig und älter, der jüngste war 24. Bei einer relativ gleichmäßigen Verteilung trat die Mehrheit im Alter von 29 bis 35 Jahren in den Dienst ein. In den 1840er Jahren waren es drei bis vier Einstellungen pro Jahr – mit dem Höhepunkt von fünf Einstellungen 1842. Die 31 Polizeidiener, die dreißig Jahre später in Regensburg Dienst taten, waren alle zwischen 1857 und 1881 eingestellt worden. Das durchschnittliche Eintrittsalter lag bei 29 Jahren, also leicht unter dem Altersdurchschnitt der Bewerber. Mit Ausnahme dreier Polizeidiener, die in jüngeren Jahren eingetreten waren, nahmen die anderen ihren Dienst bei relativ gleichmäßiger Verteilung der einzelnen Jahrgänge im Alter von 25 bis 36 Jahren auf. Im Wesentlichen spiegelt das die Altersverteilung innerhalb der Bewerberfelder. Das Durchschnittsalter der Polizeimannschaft, wie sie 1881 zusammengesetzt war, lag naturgemäß höher: bei 38,6 Jahren. Der jüngste Polizeidiener war 26 und der älteste 54 Jahre alt. Resümiert man die Altersstruktur, fällt auf, dass es keine auffällige Häufung in einem bestimmten Alterssegment gab. In der Regel waren die Geburtsjahrgänge und Alterskohorten gleichmäßig vertreten. Sieht man von einigen vielleicht zufälligen Lücken ab, da nicht für alle Polizeidiener in jedem Mannschaftsbuch ein Einstellungsjahr vermerkt ist, kam es in jedem Jahr, 8 Die Frage der sozialen Herkunft der Polizeidiener blieb in der Forschung lange unterbelichtet. Inzwischen hat sich das geändert, freilich vor allem in Arbeiten zur britischen Polizeigeschichte (vgl. zum Beispiel: Emsley, Clive: The Policeman as Worker. A Comparative Survey c. 1800–1940, in: International Review of Social History 45 (2000), S. 89–110; Klein, Joanne: Invisible Men. The Secret Lives of Police Constables in Liverpool, Manchester, and Birmingham, 1900–1939, Liverpool 2010; Shpayer-Makov, Haia: The Making of a Police Labour Force, in: Journal of Social History 24 (1990), S. 109–134; dies.: The Making of a Policeman. A Social History of a Labour Force in Metropolitan London, 1829–1914, Aldershot u. a. 2002. 9 Die folgenden Ausführungen stützen sich, soweit nicht anders vermerkt, auf: Magistrat Nürnberg: Bei Auflösung der Polizeidirektion nicht übernommene Polizeidiener, 1819–1820, StAN, C6, 122; Polizeimannschaft Regensburg: Mannschaftsbuch, 1851, StAReg, ZR 10792–94; Polizeimannschaft Regensburg: Mannschaftsbuch, 1881, StAReg, ZR I, 10807; Verpflichtungsprotokolle der Polizeimannschaft, 1842–1876, StAReg, ZR I 10791.
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spätestens jedes zweite Jahr, zu Neueinstellungen. Polizeimannschaften erneuerten sich also eher kontinuierlich als schubweise. Altersstruktur und Einstellungspraxis lassen kaum Ansätze für generationelle Bruchlinien oder Cliquenbildung bestimmter Aufnahmejahrgänge erkennen. Im Vergleich zur Welt außerhalb der Polizeimannschaften findet man die im engeren Sinn ‚jungen Männer‘ lediglich vereinzelt (ebenso wie die ‚ganz alten‘). Die Altersstruktur der Polizeimannschaften mit ihrer charakteristischen Mischung der Jahrgänge unterschied sich erkennbar von Gesellenvereinen im Handwerk oder einem Rekrutenjahrgang beim Militär. Im Dienstalltag dürfte vor allem der Unterschied zu mehr oder weniger jugendlichen peer groups greifbar gewesen sein. Auch wenn das nicht für jede Konfrontation eines individuellen Polizeidieners beispielsweise mit einem oder mehreren Handwerksgesellen zutraf, so schuf das Alter aus der Perspektive der Mannschaft insgesamt vielleicht doch eine gewisse Distanz zu bestimmten Gruppen der Polizierten, mit denen man es – davon wird noch ausführlich die Rede sein – immer wieder zu tun bekam. Die Mannschaftsbücher und Verpflichtungsprotokolle lassen neben der Altersstruktur Rückschlüsse auf das gewerbliche Profil der Polizeidiener zu. Unter den 52 Polizeidienern, die 1851 in Regensburg Dienst taten (zu denen es nicht immer vollständige Einträge gibt), waren neun ohne Gewerbe, zehn waren gelernte Schuhmacher und neun Schneider. Hinzu kamen – aus dem Textilgewerbe – ein Weber und ein Strumpfsticker. Fünf Polizeidiener kamen aus der Nahrungsmittelbranche (ein Bäcker, ein Brauer, zwei Metzger und ein Müller). Komplettiert wurde diese handwerker-polizistische Versammlung durch einen Drechsler, einen Spengler, zwei Schreiner, einen Kuttner, drei Kufner, einen Sattler, zwei Schlosser, zwei Kaminkehrer, einen Friseur und einen Gerichtsdiener. Diese Hintergründe beziehen sich allerdings auf das jeweils erlernte Gewerbe. Das Bild sieht völlig anders aus, wenn man die Einträge zum unmittelbar vor Eintritt in die Polizei ausgeübten Gewerbe in den Blick nimmt: Mit Ausnahme eines Grenzzollwächters und eines Gerichtsdieners waren alle Polizeidiener zum Zeitpunkt ihres Eintritts in die Polizeimannschaft entweder Soldaten oder Gendarmen. Eine Sammlung der Verpflichtungsprotokolle, die für den Zeitraum 1826–1874 die Aufnahme von 73 Regensburger Polizeidienern tabellarisch verzeichnet, lässt eine Präzisierung dieses Befunds zu. Die vermerkten früheren Beschäftigungen lassen eine ganz bestimmte Präferenz im Auswahlverfahren erkennen: Über die Jahre waren 28 ehemalige Gendarmen, 28 Soldaten, sechs Handwerker, drei Bewerber aus einem Sicherheits-, einer aus dem Kommunal- und einer aus einem anderen Dienstverhältnis aufgenommen worden (bei fünf Polizeidienern ist kein Gewerbe verzeichnet). Die Erwerbshintergründe waren also homogener als diejenigen der Bewerberfelder. Auffällig ist der geringere Anteil von Handwerkern und Dienern sowie – spiegelbildlich – das erhebliche Übergewicht von Gendarmen und Militärangehörigen. Das war Effekt einer sozialen Selektion, die das grundsätzliche Problem der sozialen Nähe von Polizeidienern und Polizierten zumindest ein
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Stück weit abzumildern trachtete, indem auf gewerbliche Distanz geachtet wurde. Es zeigt aber auch, wie weit verbreitet ein Auseinandertreten von erlerntem und ausgeübtem Gewerbe war. So dürften einige Handwerker den Schritt in andere Beschäftigungsverhältnisse bereits weit vor ihrem Eintritt in den Polizeidienst vollzogen haben, ohne deshalb zwingend aufgehört zu haben, sich als Handwerker zu verstehen. Es ist davon auszugehen, dass das beim Eintritt in eine Polizeimannschaft ausgeübte Gewerbe nicht zwingend dasjenige sein musste, aus dem jemand sein Selbstverständnis bezog, dass also die in den Mannschaftsbüchern festgehaltene gewerbliche Identifizierung der Polizeidiener nicht in Einklang mit ihrem eigenen Verständnis ihrer Identität stehen musste. Fragen der Berufsverbundenheit hatten komplexere Auswirkungen auf die Polizeimannschaften als es mitunter den Anschein hat. Die Realität städtischer Polizeimannschaften war schließlich auch gekennzeichnet durch interne Statushierarchien – als Voraussetzung und Folge eines spezifischen Beförderungswesens.10 Für die Mehrheit der Polizeidiener boten sich Beförderungsmöglichkeiten (und damit die Chance auf ein höheres Gehalt) zunächst innerhalb eines Rangsystems. Eine Abstufung des Polizeipersonals in verschiedene Klassen galt als notwendig und wünschenswert, um nicht nur zwischen Anfängern und Geübten zu unterscheiden, sondern vor allem um durch die Aussicht des Aufstiegs „Wetteifer in das Personal zu bringen“ und „den Eifer rege zu halten“.11 Wie empfohlen und üblich war auch die Regensburger Polizeimannschaft in drei Klassen eingeteilt. Neben dem Rottmeister setzte sich die Mannschaft aus neun Polizeidienern III., elf Polizeidienern II. und zehn Polizeidienern I. Klasse zusammen. Der Aufstieg erfolgte nach Dienstalter. In der III. Klasse hatte niemand eine mehr als dreijährige Diensterfahrung. In der II. Klasse verfügten alle über drei bis neun Jahre Diensterfahrung. Polizeidiener I. Klasse hatten alle eine mindestens zehnjährige Dienstzeit hinter sich.12 Aus Sicht der Polizeidiener dürften die Verschiebungen irgendwann nicht mehr als Beloh10 Das Beförderungswesen orientierte sich im neunzehnten Jahrhundert nicht primär am Ideal einer leistungs- und fähigkeitsbezogenen Verwendung, sondern funktionierte als System der Belohnung für Diensteifer und Treue. ‚Karrieren‘ hingen von einem Mix aus Patronage und zunehmend bürokratischen Kriterien ab. Erst langsam schälte sich die Überzeugung heraus, dass Karriereentscheidungen mit Blick auf die Kompetenz des Personals abzuwägen seien (vgl. Wunder, Privilegierung [1979], S. 209f.). In Dienstverhältnissen generell waren Beförderungen nicht von rechtlichen Ansprüchen abhängig, sondern von „der Gunst des Souveräns oder der Willkür des Gebieters“. Entsprechend bestand „die Strategie der Subalternen […] neben der andauernden Notwendigkeit, beim Aufwarten des Herrn sich selbst und seine Eigenschaften möglichst oft ins rechte Licht zu rücken, vor allem darin, mit uneingeschränkter Geduld abzuwarten“ (Krajewski, Markus: Der Diener. Mediengeschichte einer Figur zwischen König und Klient, Frankfurt/M. 2010, S. 77). 11 So die sich ähnelnden Argumente bei: Barth, Handbuch [1821], S. 93; Zimmermann, Polizei [1845–1849], S. 1142; Avé-Lallemant, Krisis [1861], S. 64. 12 Vgl. Polizeimannschaft Regensburg: Mannschaftsbuch, 1881, StAReg ZR I, 10807. Innerhalb des skizzierten Musters gab es zwei Ausnahmen: Michael Augustin war nach sechzehn Dienstjahren
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nung aufgefasst worden sein, sondern eher als Vorgang, der quasi-automatisch ablief – als etwas, das man sich durch Ausdauer ‚verdiente‘. Behördlicherseits wurde das in den meisten Fällen wohl auch so praktiziert. Man behielt sich aber vor, den Gang der Dinge ab und an zu unterbrechen. Als zum Beispiel in Regensburg 1876 die Beförderung von drei Polizeidienern in die I. Klasse diskutiert wurde, kam man zu einer abschlägigen Haltung: Die fraglichen Polizeidiener seien solche, „die eben leisten, was sie thun müßten“. „Es gebricht denselben vollständig an eigener Initiative, insbesondere ist D. sehr bequem und von wenig gutem Willen.“ Polizeidiener Kreis hielt man dagegen für beförderungswürdig, zeige er doch Eifer, Umsicht und Energie – und „in letzter Zeit“ gab „auch sein außerdienstliches Verhalten zu einer Beanstandung keine Veranlassung“.13 Die Frage der angemessenen Mannschaftsstärke lässt sich einerseits in den allgemeinen Trend der Behördenexpansion einbetten. Andererseits reflektiert die Polizeidichte unterschiedliche Polizeikonzepte. Die gegenüber Preußen in Bayern höhere Zahl von Polizeidienern (in Preußen kam in der ersten Jahrhunderthälfte ein Polizeidiener auf über 10.000 Einwohner, in Bayern war es ein Polizeidiener auf 1000) verweist so auch auf den Gegensatz militärisch oder polizeilich zu gewährleistender innerer Ordnung.14 Für Nürnberg wurden 1807, bei 27.000 Einwohnern, Pläne vorgelegt, nach denen die Polizeidirektion über vierzig Polizeidiener und fünf Unteroffiziere verfügen sollte. Die Instruktion der Polizei-Direktionen in den Städten regelte dann definitiv die Zusammensetzung und Größe der Nürnberger Polizei: ein Polizeidirektor, ein Polizeikommissar, drei Aktuare, sechs Offizianten, vier Rottmeister, fünfzig Polizeidiener. Die gesetzlichen Regelungen sahen vor, dass die Magistrate über die Größe der Polizeimannschaft entschieden, nicht aber eigenmächtig eine Abänderung der festgelegten Zahl veranlassen durften. Wollte ein Magistrat die Zahl der Polizeidiener reduzieren, waren zunächst die Gemeindebevollmächtigten zu hören und dann ein Antrag an die Kreisregierung zu stellen. Die Gemeindebevollmächtigten konnten einen Änderungsantrag auch ohne Abstimmung mit dem Magistrat initiieren.15 Das bedeutete, um Zahl und Art der neu einzustellenden Polizeidieimmer noch Polizeidiener II. Klasse, und Johann Haber hatte es nach neun Jahren noch nicht geschafft, die III. Klasse zu verlassen. Die Gründe dafür lassen sich nicht ermitteln. 13 Polizeidirektion, an Magistrat Regensburg, 29.12.1876, StAReg, ZR I 10807. 14 Vgl. Krauss, Marita: Herrschaftspraxis in Bayern und Preußen im 19. Jahrhundert. Ein historischer Vergleich, Frankfurt/M. und New York 1997, S. 273f. Der britische Rural Constabulary Act aus dem Jahr 1839, das zum Vergleich, gab einen Polizeidiener für 1000 Einwohner vor (vgl. Hart, Jenifer: Reform of the Borough Police, 1835–1856, in: English Historical Review 70 (1955), S. 411–427, hier: S. 418). 15 Zu den allgemeinen Bestimmungen vgl. Instruktion der Polizei-Direktionen in den Städten, in: Königlich-Baierisches Regierungsblatt, 26.10.1808, Sp. 2510. Höck, Johann Daniel Albrecht: Grundlinien der Polizeiwissenschaft mit besonderer Rücksicht auf das Königreich Baiern, Nürn-
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ner sowie eventuell daraus resultierende Beförderungen, Gehaltseingruppierungen und allgemeine Kosten wurde gefeilscht. Bereits Mitte der 1820er Jahre begründeten Magistrate ihr Ansuchen um eine Vermehrung der Polizeimannschaft mit einer Vermehrung des Aufgabenfelds, die in Nürnberg auf eine Vergrößerung von Stadtgebiet und Einwohnerzahl zurückging und damit „sowohl eine Vermehrung des schreibenden als insbesondere des handelnden Dienstpersonals sehr nothwendig wird“.16 Angesichts von Eingemeindungen und Bevölkerungswachstum, so der Nürnberger Magistrat, wolle man die Mannschaft bei einer Einwohnerzahl von nun insgesamt 36.451 auf fünfzig Mann bringen. Dazu bedürfe es der Neueinstellung von zwölf Polizeidienern, eines neuen Offizianten und eines Schreibers. Die Kreisregierung genehmigte die Einstellung zusätzlicher Polizeidiener, nicht aber diejenige eines weiteren Polizeioffizianten, da man erst einmal abwarten solle, ob die früher bewilligten zwei Offizianten die Büroarbeit bewältigen könnten.17 Der Magistrat reagierte mit dem Hinweis, die Verweigerung eines weiteren Offizianten beruhe auf einer Fehleinschätzung der Arbeitsbelastung, berücksichtige vor allem aber nicht die Erweiterung des Polizeibezirks. Die Geschäfte des Magistrats, insbesondere aber die der Polizei, haben sich trotz aller Anstrengungen, […] die Schreibereien soviel als möglich abzukürzen und zu beseitigen […] so vermehrt, daß nur durch ein ununterbrochenes thätiges Ineinandergreifen […] aller höheren und niederen Glieder des Ganzen die Geschäftsmaschine in dem regen Gang gehalten werden kann […]. Diese Vermehrung der Geschäfte, und namentlich der Schreibereyen, ohne Zweifel eine Folge der [Erfordernisse] der Zeit, steht eben zur Vermehrung der [Offizianten] in [direktem] Verhältnisse.18
berg 1809, S. 281, resümiert die Bestimmungen mit der Formulierung, es bedürfe einer „hinlänglichen Anzahl rüstiger Polizeidiener“. Aufnahme und Entlassung von Polizeidienern gebührte dem Magistrat, „ohne Theilnahme der Gemeinde-Bevollmächtigten, und ohne daß die Einholung höherer Bestätigung nothwendig wäre“ (Barth, Handbuch [1821], S. 96). Im Gemeindeedikt von 1818 hieß es, die Gemeindebevollmächtigten „concurrieren mit dem Magistrate zur Besetzung des städtischen Dienst-Personals, und zwar in der Art, daß der Magistrat die von ihm ausgewählten Individuen für die zu besetzenden Stellen ihren bekannt macht, und sie mit ihren allenfallsigen Erinnerungen darüber vernimmt“ (Verordnung die künftige Verfassung und Verwaltung der Gemeinden im Königreich [1818], § 81). Zu den Regelungen für Nürnberg vgl. Hirschmann, Gerhard: Die Ära Wurm in Nürnberg 1806–1818, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 48 (1958), S. 277–304, hier: S. 282f. 16 Magistrat Nürnberg, an Kreisregierung des Rezatkreises, 5.9.1825, StAN, C6, 160. 17 Vgl. Kreisregierung des Rezatkreises, an Magistrat Nürnberg, 24.9.1825, StAN, C6, 160. 18 Magistrat Nürnberg, an Kreisregierung des Rezatkreises, 24.9.1825, StAN, C6, 160. Die Einstellung eines dritten Offizianten wurde nun genehmigt (vgl. Kreisregierung des Rezatkreises, 30.9.1825, StAN, C6, 160).
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Die Unstimmigkeiten, hier zwischen Magistraten und Gemeindebevollmächtigten, blieben auch in den 1860er Jahren erhalten.19 Der Regensburger Magistrat beschloss im März 1863 auch aus finanziellen Erwägungen heraus eine Reduktion der Polizeimannschaft auf künftig zwei statt drei Rottmeister und 25 Polizeidiener. Eine eventuell doch nötige dritte Rottmeisterstelle solle durch Nichtbesetzung einer Polizeidienerstelle geschaffen werden. Knapp zwei Monate später setzte man das so um.20 Die Gemeindebevollmächtigten bezweifelten, ob das sinnig sei. Es „haben sich im Gremium“, so berichteten sie dem Magistrat, „Gedanken erhoben, ob ein Stand von 25 Polizeidienern sich als ausreichend bewährt habe“.21 Um fundiert argumentieren zu können, wandte sich der Regensburger Magistrat im Mai 1865 an verschiedene bayerische Städte mit der Bitte um Auskunft über den personellen Stand der jeweiligen Polizeimannschaft. Die Antworten geben einen Einblick in die personelle Ausstattung. Dabei fällt einerseits die leicht höhere Polizeidichte in neubayerischen Städten auf, andererseits aber auch, dass die Unterschiede nicht sehr groß waren. Für bayerische Städte hatte sich in den 1860ern offensichtlich eine bestimmte Polizeidichte als wünschenswert und praktikabel erwiesen. Demnach hielten alle Magistrate ihre Polizeimannschaften in einer Stärke von etwas mehr oder etwas weniger als einem Polizeidiener je 1000 Einwohner.22 Der Vorschlag des Regensburger Magistrats, drei Rottmeister- und 25 Polizeidienerstellen zu schaffen, bewegte sich innerhalb dieser Bahnen und hätte Regensburg zu einer Polizeidichte im oberen Bereich bayerischer Städte verholfen. Eine gemeinsame Kommission aus Magistratsvertretern und Gemeindebevollmächtigten plädierte in der Folge für eine noch darüberhinausgehende Erweiterung. Die Kommission schilderte den Prozess eines sukzessiven Abschmelzens der Mannschaftsstärke seit 1836 – von ursprünglich einmal sechs Rottmeistern und 36 Polizeidienern auf 24 Mann im Jahr 1857 – und kam zu dem Schluss, die Polizeimannschaft benötige zur Erfüllung all ihrer Aufgaben 32 Polizeidiener; und selbst das wäre im Städtevergleich nicht viel. Als freilich die Kammer des Innern die zur Finanzierung der Mannschaftsvergrößerung beantragte Erhöhung der Zuschüsse nicht bewilligte, schien es den Gemeindebevollmächtigten plötzlich nicht mehr gänzlich ausgeschlossen, dass man – um die Stadtkasse zu schonen – vielleicht doch 19 Eine Alleinzuständigkeit des Magistrats für die „Feststellung der Zahl des niederen Dienstpersonals nach Maßgabe der hierfür bestimmten Mittel“ wurde erst 1869 festgesetzt (vgl. Gesetz die Gemeindeordnung für die Landestheile diesseits des Rheins betr., in: Gesetzblatt für das Königreich Baiern, 14.5.1869, § 73). 20 Vgl. Magistrat Regensburg, Beschluss, 1.3.1864; Magistrat Regensburg, an Gemeindebevollmächtigte, 24.4.1864 (beide in: StAReg, ZR I 10795). 21 Gemeindebevollmächtigte, an Magistrat Regensburg, 25.4.1864, StAReg, ZR I 10795. 22 Vgl. den Schriftwechsel des Regensburger Magistrats mit den Magistraten Bamberg, Bayreuth, Passau, Würzburg, Augsburg, Nürnberg (Magistrat Regensburg, Reorganisation/Vermehrung der Polizeimannschaft, 1864–1868, StAReg, ZR I 10795).
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mit nur dreißig Polizeidienern auskommen könnte.23 Der jeweilige Personalbedarf und die Mannschaftsstärke waren offenkundig stets verhandelbar. Sie waren Manövriermasse zwischen sicherheitspolitischen, fiskalischen und dienstpraktischen Erwägungen.
3.2 Probezeit, Diensteid, Instruktionen Im neunzehnten Jahrhundert wurden Polizeidiener auf Probe aufgenommen. Üblich war eine vierwöchige Probezeit. Unter Behörden und Polizeiwissenschaftlern bestand Konsens über die Notwendigkeit einer solchen Maßnahme. Die Anstellung der Unterbeamten ist immer für eine der schwierigsten Aufgaben gehalten und mit vieler und ängstlicher Behutsamkeit bewerkstelligt worden. Man hat Probejahre und Kündigungstermine von längerer oder kürzerer Frist eingeführt. Freilich sind solche Cautelen nothwendig, wo man hinsichtlich der innern Geltung der aus sehr verschiedenen und meistens verfahrenen Lebensverhältnissen geflüchteten Aspiranten wenige oder gar keine Garantien hat und bei der ganzen bisherigen Beschaffenheit der Polizei eben auch keine besondere berufsmäßige Ausbildung und sittliche Hebung durch die Anstellung selbst zu hoffen berechtigt ist.24
Am Ende der Probezeit bot sich die Möglichkeit einer zweiten Auswahlrunde. So wurde beispielsweise Friedrich Regner 1811 in Nürnberg nicht übernommen. „Er hat sich zwar“, so hieß es in der Beurteilung, „während seiner Probezeit keine groben Exzesse zu schulden kommen lassen, aber auch wenig Lust und guten Willen gezeigt.“ Alles, was man ihm auftrug, „schien er mit Verdruß und Widerwillen zu übernehmen, wozu sein kränklicher Körper, den er zu haben scheint, etwas beitragen mag“. Und so empfahl man Regner einen ruhigeren und bequemeren Posten als denjenigen eines Polizeidieners.25 Mehrheitlich wurden die Kandidaten allerdings übernommen. Das spricht dafür, dass die niedrigen und unspezifischen Hürden für den Eintritt in den Polizeidienst eine Aussortierung ungeeigneter Kandidaten relativ mühelos und effektiv bereits während der Vorauswahl ermöglichten, auch wenn die geringe Zahl der Fälle zu Vorsicht bei einer pauschalen Einschätzung zwingt. In der Probezeit konnte 23 Vgl. Magistrat Regensburg: Die Kommission betr. Reorganisation der Polizeimannschaft, 19.10.1864 und 4.1.1865; Magistrat Regensburg, an Regierung der Oberpfalz, 31.1.1865; Gemeindebevollmächtigte Regensburg: Reorganisation Polizeimannschaft, 28.4.1865 (alle in: StAReg, ZR I 10795). 24 Avé-Lallemant, Krisis [1861] S. 63f. Probezeit war generell charakteristisch für Dienstverhältnisse aller Art (vgl. Krajewski, Diener [2010], S. 50). 25 Polizeidirektion Nürnberg: Entlassung Regner, 15.5.1811, StAN, C2, 56.
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man sich schließlich auch bewähren und eventuelle Vorbehalte ausräumen. Über einen Kandidaten wurde vermerkt: Wer ihn aus früheren Jahren kenne, würde ihm nicht das beste moralische Zeugnis ausstellen, nun aber, „zu reiferen Jahren gekommen“, habe er die „größten Theils aus jugendlichem Leichtsinn begangenen Laster abgelegt“.26 In der Regel reichte es aus, wenn ein Bewerber guten Willen und ein tadelloses Verhalten zeigte. Wer fleißig und zuverlässig war und einen „Tatwillen“ zeigte, der vielleicht gar schon einige Verhaftungen einbrachte, durfte sich einer Übernahme gewiß sein.27 Teilweise wurden in den Einschätzungen geringe Vorbehalte formuliert, die aber nicht derart schwerwiegend waren, dass sie einer Übernahme im Weg gestanden hätten. Über einen Kandidaten hieß es, er habe sich gut betragen und sei gesund, seine Verstandes-Fähigkeiten sind freilich nicht sehr vorzüglich, doch ist wohl zu erwarten, daß wenn er weiter mit dem Dienst und seinen Obliegenheiten bekannt seyn wird er ein brauchbares Subjekt werden wird. Übrigens hat er sich bereits völlig uniformiert und scheint Lust zum Dienst zu haben.28
Nach überstandener Probezeit wurden die Neulinge vereidigt und mit ihren Aufgaben und Pflichten bekannt gemacht. Man schärfte den „neu ausgesuchten Polizeidienern“ ein, „sich in ihren Dienstverrichtungen stets wachsam, tüchtig und fleißig zu [zeigen], die ihnen ertheilten Aufträge mit Attention und Pünktlichkeit zu vollziehen, und überall Bescheidenheit zu beobachten“.29 Den Polizeidienern wurde bei dieser Gelegenheit eröffnet, sie hätten alle Polizeivergehen sogleich zur Anzeige zu bringen, verdächtige Personen zu beobachten, auf Bettler und Vagabunden ein besonderes Augenmerk zu haben und generell alle bei Patrouillen verdächtig vorkommenden Personen anzuzeigen sowie besonders auf Störungen der Ruhe, Volkszusammenkünfte, mutwilligen Unfug der Jugend oder betrunkener Personen zu achten. Schließlich sollten sie selbst einen sittlichen Lebenswandel an den Tag legen, dürften sich unter keinen Umständen bestechen lassen, an keinen Trinkgelagen teilnehmen, keine Schulden machen, müssten ihre Montur und Armaturstücke in Ordnung halten und dürften ohne Erlaubnis die Stadt nicht verlassen. In Verbindung mit dem „Vorhalt“ über diese Pflichten und „Dienst-Verrichtungen“ wurde einem Polizeidiener folgender Eid abgenommen:
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Emerndorfer, Johann Georg, an Polizeidirektion Nürnberg, 8.1.1811, StAN, C2, 56. Vgl. Polizeidirektion Nürnberg: Einstellung Polizeidiener, 1814–1818, StAN, C2, 77–87. Polizeidirektion Nürnberg: Einstellung Littig, 9.2.1817, StAN, C2, 86. Polizeidirektion Nürnberg: Dienstaufklärung neu eingestellte Polizeidiener, 5.5.1811, StAN, C2, 56.
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Ich schwöre Treue dem König, Gehorsam den Gesetzen und Beobachtung der Staatsverfassung. Ich schwöre, daß ich zu keiner dem Staate unbekannten oder von ihm nicht gebilligten Gesellschaft gehöre noch je gehören will. Ich schwöre ferner, daß Amthsgeheimnis jederzeit strengstens wahren und in dieser wie in jeder anderen Beziehung die mir bereits mitgeteilte und von mir wohl verstandene am 1.1.1838 eingeführte Dienstinstruktion für die Polizeimannschaft gewissenhaft beobachten, alle Vorschriften derselben getreulich erfüllen, und lediglich nach meinem besten Wissen und Gewissen meinen Pflichten nachkommen zu wollen. So wahr mir Gott helfe und sein heiliges Evangelium.30
Im Regelfall bekamen die Polizeidiener mit der Vereidigung eine Dienstinstruktion an die Hand.31 Darin wurden polizeilich zu ahndende Übertretungen, Handlungen und Verhaltensweisen aufgelistet. In einer quasioffiziellen Veröffentlichung zur Ausgestaltung des Polizeidiensts hieß es 1821: Jeder Polizei-Soldat soll vor dem Antritte seiner Function unter Vorhaltung seiner Obliegenheiten förmlich in Eid und Pflichten genommen, und hierüber ein Protocoll geführt werden. Die Obliegenheiten der Polizei-Soldaten müssen in eine eigene Instruction zusammengefaßt werden, und diese nicht nur der gesammten Mannschaft von Zeit zu Zeit verlesen, und erklärt, sondern auch jedem Individuum ein eigenes Exemplar zugestellt, und dasselbe zur genauesten Erfüllung der darin enthaltenen Vorschriften angewiesen werden.32
Was dann folgt, ist freilich nicht mehr als eine pauschale Auflistung allgemeiner Verhaltensweisen und Anforderungen. Handlungsanweisungen waren die Instruktionen nur in einem sehr abstrakten Sinn, Lehr- oder gar Trainingshandbücher waren sie nicht. Die in vielen Punkten mangelhafte Phase der Instruktion geriet seit den 1840er Jahren in die Kritik. In polizeiwissenschaftlichen Abhandlungen zeigen sich nun Versuche, das Instruktionswesen zu reformieren. Wilhelm Johann Behr widmete diesem Problem 1848 ein eigenes Kapitel seiner umfangreichen Polizei-Wissenschaftslehre. Das Polizeigesetzbuch, so schrieb er, bestimme, was zu geschehen habe und was zu verhindern sei. „Die Instruktion aber hat zu bestimmen, wie jenes geschehen, die Art und Weise, in welcher, oder die Mittel und Wege, durch welches bewirkt oder verhindert werden solle.“33 Wirklich greifbare Erläuterungen folgen nicht. Eher skiz30 Magistrat Regensburg: Verpflichtungsprotokolle Polizeimannschaft 1842–1876, StAReg, ZR I 10791. 31 In Kleinststädten war nicht einmal das üblich. So beschloss der Schwandorfer Magistrat erst Anfang 1908, eine Dienstinstruktion für die Polizeimannschaft zu erlassen (Magistrat Schwandorf: Ratsprotokolle, 24.1.1908, StAS, Akte des Stadtmagistrats). 32 Barth, Handbuch [1821], S. 108. 33 Behr, Polizei-Wissenschaftslehre [1848], S. 130.
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zierte Behr den Charakter der Instruktionen in einer Weise, die diese im Prinzip zu einer gekürzten Polizeiwissenschaftslehre machte. Der Kritiker „weitschweifiger“ Instruktionen brauchte gute fünfzehn Seiten, um auch nur die allgemeinen Prinzipien der Instruktion zu erläutern. Da drängt sich die Frage auf, wie kurz und knapp eine Instruktion unter diesen Umständen überhaupt hätte sein können. Mit Blick auf das Personal, das die Instruktionen lesen, verstehen und beherzigen sollte, stellte sich noch ein anderes Problem: Instruktionslektüre, so Gustav Zimmermann, war nicht alles, denn „der Mann von geringerer Bildung vermag wenig nach beschreibenden Worten aufzufassen und zu denken, sondern er ist mehr gewohnt, an Dingen zu lernen, die anschaubar vor ihm stehen“.34 Die Instruktionen müssten, so sekundierte ein Kollege Zimmermanns, den eigentümlichen Subalternenverstand reflektieren: Während jeder andere Beamte, sobald er durch die Staatsprüfung und sonstige Leistungen den Beweis seiner Kenntnisse und seiner Befähigung zum Amte dargelegt hat, in seiner Instruction nur die Unterweisung erhält, in welcher Ordnung, Zeit und Art er seine erwiesenen Kenntnisse für das Amt und den Staatsdienst in Anwendung zu bringen hat, ist die Instruction des Polizeisubalternen die ganze Encyclopädie seines Wissens selbst. Was daher nicht in seiner Instruction steht, macht ihn nicht heiß, es mag drüber oder drunter gehen. Daher wirken die kahlen polizeilichen Instructionen von Haus aus paralytisch auf das freie Denken und auf die Entwicklung und Bewahrung der freien Subjectivität.35
Aus dieser Problemdiagnose ergaben sich die Anforderungen an die Instruktion: Die Instruction muß sehr kurz und klar sein und darf nur die allgemeinen Züge der Aufgaben enthalten, welche der Beamte zu erfüllen hat. Eine lange oder gar zu einem Buche angeschwollene Instruction ist das verfehlteste, was es geben kann. Der Beamte betrachtet die ‚ausführliche‘ Instruction als die ganze Summe seiner Aufgabe und Wissenschaft und schließt mit beiden ab, sobald er die Instruction fertig memorirt hat. […] Die Instruction soll in kurzen Zügen die Pflicht des Beamten, das was er zu beobachten, zu thun und zu lassen hat, andeuten und dabei stets auf die einschlagende Gesetzgebung hinweisen. Schon dadurch wird der Beamte nicht mit seinem Wissen und seiner Leistung bei sich selbst abgefunden, sondern immer in natürlicher Weise darauf geführt, daß er weiter und nach höhern Wissen zu streben habe, und die ihm fehlende Kenntnis, Übung und Erfahrung stets zu vergrößern streben müsse.36
34 Zimmermann, Polizei [1845–1849], S. 1123. Lese- und Schreibkompetenz werden an anderer Stelle umfänglich analysiert. 35 Avé-Lallemant, Krisis [1861], S. 35f. 36 Ebd., S. 65f.
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Eid, Dienstaufklärung, Instruktionen usw. setzten Leitplanken, zwischen denen sich polizeidienerliche Selbstbildung bewegen musste. Allerdings waren derartige Versuche ambivalent: Einerseits beanspruchten sie Verbindlichkeit, andererseits ließen sie konkrete Fragen der Ausgestaltung des Diensts, der persönlichen Aufführung im Dienst sowie der Erledigung polizeidienerlicher Aufgaben offen. Sie ermöglichten und verlangten also durchaus ein bestimmtes Maß an Selbsttätigkeit seitens der Polizeidiener. Sie ließen Spielräume und etablierten, wenn auch implizit, die Spannung zwischen Ermessen, Gehorsam und Buchstabentreue (die Bedeutung dieser Topoi für Dienstverständnis und Dienstpraxis ist Gegenstand eines späteren Kapitels). Die verschiedenen Formen der Anleitung und des Anleitens machten nicht für alles genaue Vorgaben, aber sie schufen eine Situation, in der Polizeidiener wussten, dass sie nicht einfach so weitermachen konnten wie vor ihrer Einstellung. Dass damit Eingriffe in die polizeidienerliche Selbstbildung verbunden waren – und auch sein sollten – zeigen nicht zuletzt die zitierten polizeiwissenschaftlichen Ausführungen zu den Dienstinstruktionen, die auf den Subalternenverstand der Polizeidiener einwirken, das Denken nicht paralysieren und ein selbsttätiges Weiterführen der Instruktionen nicht blockieren sollten.
3.3 Des Polizeidieners neue Kleider Als Jacques Decour 1932 die Erfahrungen eines jungen französischen Austauschlehrers, den es in die fiktive deutsche Stadt Philisterburg verschlagen hatte, literarisch verarbeitete, teilte er eine scheinbar marginale, aber aufschlussreiche Beobachtung mit: Überhaupt sind die Mützen hier fast einzigartig, jedenfalls sehr besonders. Ich habe kaum weiche gesehen, man trägt meist steife, breite, imposante, mit einem Lederschirm. Diese Mütze, genauer Schirmmütze, gibt der Kleidung sofort etwas Uniformhaftes. Man sieht sie hier nicht nur bei Briefträgern, Eisenbahnern und Straßenbahnschaffnern, nein, selbst der Müllmann, der Pferdeäpfel in sein zweirädriges Wägelchen schippt, trägt sie voller Stolz.37
In Sachen männlicher Kopfbedeckung scheint sich im Verlauf des neunzehnten Jahrhunderts ein spezifisches Modebewusstsein herausgebildet zu haben, so dass Männer Mützen mochten, die einen militärisch-uniformierten Touch hatten; und das, obwohl die Uniformmode, gerade auf dem Kopf, ursprünglich aus der zivilen Mode hervorging. Der militärisch-polizeiliche Tschako wurde aus dem Zylinder 37 Decour, Jacques: Philisterburg, Berlin 2014 [1932], S. 36.
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geschneidert und war noch in den 1820er Jahren hoch und oben weitausladend, in den 1830ern immer noch hoch, nun aber konisch zulaufend. Erst in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts wurde er zum Käppi.38 Die besondere Liebe zur Schirmmütze hatte also durchaus eine polizeiliche Vorgeschichte – bevor sie von Männern außerhalb der Polizeimannschaften in einer derart obsessiven Weise entdeckt wurde, die einen jungen Franzosen irritierte. Bevor die polizeiliche Uniformierungsfrage in Gänze diskutiert wird, lohnt es daher, zunächst noch bei der Kopfbedeckung zu verweilen, erachteten Polizeidiener diese doch als entscheidenden Faktor ihres Erscheinungsbilds, das sie selbst (mit-)bestimmen wollten. Im Folgenden wird nun nachvollzogen, wie es dazu kam, dass ein im frühen neunzehnten Jahrhundert nur rudimentäres Interesse an Uniformfragen derart an Fahrt aufnahm, dass Wohl und Wehe eines Polizeidieners seit dem letzten Jahrhundertdrittel an den Uniformmützen festgemacht werden konnten – dass gelungene polizeidienerliche Selbstbildung davon abzuhängen schien, was Mann auf dem Kopf trug. Im Verlauf dieser Entwicklung griffen, so scheint es, Modebewusstsein, Statussymbolik und Fragen der Dienstalltagstauglichkeit ineinander. Im Oktober 1869 gestattete der Regensburger Magistrat unter Verweis auf eine „allerhöchste Verordnung“ der Polizeimannschaft, „sich außer feierlichen Anlässen statt des Tschakos einer dunkelblauen Schirmmütze von der für das Militär vorgeschriebenen Form zu bedienen“.39 Der Magistrat bat den Rottmeister um Auskunft über die Eignung der Schirmmütze zum Patrouillen- und Torwachdienst. Rottmeister Schiele sprach sich für die Einführung aus. Außerdem, so schrieb er, bitte die Mannschaft, da der Tschako beseitigt, auch die lästige Patronentasche, welche mit der Schirmmütze nicht harmoniert, zumal über dem Mantel, wobei derselbe sehr stark geschädigt wird, bey den Patrouillen Tag wie Nacht gnädigst zu beseitigen. Der Mann, der Ehrgefühl hat und seiner Dienstpflicht eifrig obliegt, wird auch ohne Patronentasche seine Pflicht erfüllen.40
Der Magistrat war einverstanden, auch mit dem Verzicht auf die Patronentasche – „soweit der Dienst ohne Bajonettklinge gemacht wird“.41 Kopfbedeckungen beschäftigten 1913 auch den Schwandorfer Magistrat, wenn auch in anderer Weise. Hier sah man Klärungsbedarf, ob „Kassenboten, Amtsboten und Hallenmeister des Schlacht38 Vgl. Brändli, Sabina: Von „schneidigen Offizieren“ und „Militärcrinolinen“. Aspekte symbolischer Männlichkeit am Beispiel preußischer und schweizerischer Uniformen, in: Frevert, Ute (Hg.), Militär und Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1997, S. 201–228, hier: S. 207. 39 Magistrat Regensburg, an Polizeimannschaft, 13.10.1869, StAReg, ZR I 10804. 40 Rottmeister Schiele, an Magistrat Regensburg, 13.10.1869, StAReg, ZR I 10804. 41 Magistrat Regensburg, an Rottmeister Schiele, 18.10.1869, StAReg, ZR I 10804.
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hauses Polizeimützen oder blaue Dienstmützen zu tragen haben“. Man kam zu dem Ergebnis, Kassenboten mit blauen, alle anderen mit Polizeimützen auszustatten.42 Und so beschloss der Magistrat, entsprechende Dienstmützen für die Schutzmannschaft und sonstige Boten auf Kosten der Stadt anzuschaffen. Alle wurden mit Mützen ausgestattet. Schwierigkeiten machte nur der Kassenbote Schwarz, denn dieser hatte sich, wie dem Magistrat berichtet wurde, bereits 1912 eigenmächtig eine Dienstmütze bestellt. Auf dem Bestellzettel für das kommende Jahr vermerkte der Bürgermeister ausdrücklich, dass auch für Schwarz eine neue Mütze bestellt werden sollte. Und was geschah? Schwarz bestellte sich erneut eigenmächtig und hinter dem Rücken des Chefs eine Polizeidienermütze, die er gar nicht tragen durfte, da er nicht mit polizeilichen Funktionen betraut war.43 So viel zur Mützenfrage, die darin gipfeln konnte, dass ein Kassenbote es für erstrebenswert hielt, seine Kopfbedeckung gegen diejenige eines Polizeidieners einzutauschen; nun aber zum Problem der Uniformierung insgesamt. Die Instruktion der Polizei-Direktionen in den Städten legte 1808 fest, jede Polizeiwache solle „vorschriftsmässig uniformiert werden“, führte das aber nicht weiter aus.44 „Ein Polizeibeamter“, so schrieb auch Johann Höck 1809 in seinen Erläuterungen der Polizeigesetze Bayerns, muss „durch eine wohlfeile und dem Zweck entsprechende Amtstracht von dem gemeinen Haufen unterschieden“ werden.45 Parallel zu diesen sehr basalen Bestimmungen wie auch den faktisch oft läppischen Uniformen bildete sich, vielleicht als bewusst gesetzter Kontrapunkt, eine geradezu poetische Sprache der Mode heraus, die über die bloße Beschreibung von Uniformstücken hinausweist. Entsprechende Ausführungen, zitiert wird ein Beispiel aus dem Jahr 1819, dokumentieren einen feinen Sinn für Akzentuierungen (und waren zugleich wohl eine notwendige Vorkehrung angesichts der dezentralen Beschaffung der Uniformen in den Städten und teilweise durch die einzelnen Polizeidiener, die der Einheitlichkeit des Erscheinungsbilds nicht gerade zuträglich war): Die Rottmeister tragen einen Rock von dunkelblauem Tuche mit dem Unter-Futter von gleicher Farbe, und einem scharlachrothen Vorstoße. Der Rock reicht bis an die Kniekehle, und ist unten an beiden Enden aufgeschlagen. Der stehende Kragen, die ErmelAufschläge, und die kurzen unten spitzig auseinander laufenden Brust-Klappen sind von dunkelblauem Tuche wie der Rock. Die Knöpfe sind von weißem Metalle, und mit dem gekrönten Löwen bezeichnet. Auf jeder Seite der Brustklappen sitzen fünf, und an jedem Ermel-Aufschlag zwei kleine dann an den längst den Falten herablaufenden Taschenklap42 43 44 45
Magistrat Schwandorf, 6.11.1913, StAS, P-3x 1 v. 2. Vgl. Maier, Eduard, an Magistrat Schwandorf, 13.3.1913, StAS, P-3x 1 v. 2. Instruktion der Polizei-Direktionen in den Städten [1808], Sp. 2512. Höck, Grundlinien [1809], S. 209f.
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pen, und an den Rockfalten beider Seiten drei grosse Knöpfe. Der Kragen und die Brustklappen sind mit einer sechs Linien breiten Borte von weißem Kameelgarn eingefasst. Auf den Schultern liegen Schleifen von dunkelblauem Tuche mit rothem Vorstoße, und auf der linken Seite hängt ein Achselband von weißem Kameelgarn darin. Der Säbel mit dem stählernen Griffe hängt an einer weissen Kuppel von der Schulter herab. Das PorteÉpée ist hellblau mit einem weißen Quasten von Kameelgarn, ebenso die Hutschnur und Schleife. Der Federbusch ist roth. Die Polizei-Corporale sind auf gleiche Art montirt, jedoch haben sie die weiße Borte nur auf dem Kragen allein, und nicht auf den Brustklappen. Die gemeinen Polizei-Soldaten sind von den vorigen darin unterschieden, daß sie keine Borte auf dem Kragen, keine Quasten auf dem Hute, kein Achselband und keine Porte-Épées haben. […] In der Regel hat die Mannschaft der Polizeiwache im Dienst nicht anders, als in voller Montur zu erscheinen, und Überröcke sollen nur bei schlechtem Wetter, bei strenger Kälte, und bei Transporten geduldet werden.46
In der Regel wartete im neunzehnten Jahrhundert keine komplette Montur auf diejenigen, die ihren Dienst antraten. Es existierten keine Inventarlisten, auf denen geregelt war, welche Kleidungs- und Ausrüstungsstücke einem Polizeidiener bei Dienstantritt zu überreichen waren beziehungsweise für deren jederzeit vollständiges Vorhandensein eine Behörde Sorge zu tragen hatte. Vereinzelt kam es vor, dass Magistrate bereits Anfang des neunzehnten Jahrhunderts für neu eingestellte Polizeidiener die „gewöhnliche Montur“ anschafften.47 Üblicher war allerdings, dass diese Aufgabe den Polizeidienern selbst zufiel. Ausschreibungen verkündeten, Bewerber sollten über eine Barschaft verfügen, die für die „Equippierung“ ausreichte.48 Bereits in ihren Bewerbungen oder während der Probezeit gaben Kandidaten daher zu verstehen, sich die Uniform auf eigene Kosten anschaffen zu können. Ein gelernter Nagelschmied beispielsweise konnte es kaum erwarten, sein kleines Vermögen auszugeben: „Die Lust zum Dienst und ganz uniformiert erscheinen zu können, ist die Ursach, daß er sich bereits ganz uniformiert hat“.49 Der vermögenslose angehende Polizeidiener Schäfer glaubte 1814, „überzeugt zu seyn, da er von Jugend auf an Sparsamkeit gewöhnt sey, sich in Bälde so viel ersparen zu können, um sich die Uniform anzuschaffen“. Lobend vermerkte die Polizeibehörde nach abgelaufener Probezeit: „Er mußte sich mehr als andere der Sparsamkeit befleißigen, indem er gar kein Vermögen hat, und sich die Kosten zur Beschaffung der Monturstücke ansparen muß.“50 Bei anderen 46 Barth, Handbuch [1821], S. 97–99. 47 Magistrat Regensburg: Montur Polizeidiener, 14.3.1804, StAReg, Magistratsregistratur, 219. 48 Magistrat Nürnberg: Gesuch des Nagelschmieds Paul Wolfgang Benjamin Ramstock um Aufnahme in die Münchener Polizeiwache betr., 5.11.1823, StAN, C6, 169. 49 Polizeidirektion Nürnberg: Einstellung Übelacker, 1818, StAN, C2, 87. 50 Polizeidirektion Nürnberg: Einstellung Schäfer, 18.11.1814, StAN, C2, 77.
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Bewerbern war ersichtlich, dass sie im Fall der Aufnahme einen Vorschuss für die Uniform bräuchten.51 Dass ein Bewerber noch 1850 angab, er sei „mit dem erforderlichen Vermögen versehen meine Equippierung aus eigenen Mitteln bestreiten zu können“52, ist allerdings ungewöhnlich, hatte sich die Praxis zu diesem Zeitpunkt doch geändert. Je weiter das Jahrhundert fortschritt, desto regelmäßiger wurde die Uniform vom Magistrat finanziert, etwa mittels Monturgeld.53 Reibungslos verlief die Durchsetzung einheitlicher Kleidung unter den skizzierten Voraussetzungen nicht; zum Unmut des Innenministeriums, das 1846 in einem Schreiben – in einem Schreiben von vielen dieser Art – an die Stadtmagistrate die „Beseitigung der in Bekleidung und Bewaffnung der städtischen Polizeimannschaften bestehenden Verschiedenheit“ einforderte. Diese Forderung war mit einer detaillierten, wenn auch weniger poetischen Uniformierungsrichtlinie verbunden: Die Bekleidung der Polizeidiener sollte zukünftig bestehen aus einem Tschako in Form desjenigen der Gendarmerie (mit dem Stadtwappen und einer Stirnbinde versehen); einem bis zur Schenkelmitte reichenden Waffenrock mit zwei Reihen von je acht weißmetallenen Knöpfen, aus blauem Tuch mit stehendem Kragen; Halbstiefeln und dunkelblauen, langen Beinkleidern; Handschuhen von gleicher Farbe; einem dunkelblauen Mantel. Die Bewaffnung sollte bestehen aus einem Säbel mit stählernem Griff und schwarzer Koppel, die „an den Schultern herabhängt“; einer Bajonett-Flinte und einer dazugehörigen Patronentasche mit schwarzem Riemenzeug und zwei Löwenköpfen aus schwarzem Metall auf der Kappe. Die Umrüstung der Polizeimannschaften sollte binnen dreier Jahre erfolgen. Bis dahin könnten zwecks Kostenersparnis vorhandene Uniformen abgetragen werden.54 Vor Ort setzte diese Maßgabe eine längere Phase des Ein- und Umkleidens in Gang. Die Städte waren nun gehalten, die 51 Polizeidirektion Nürnberg: Einstellung Bertel, 19.7.1817, StAN, C2, 83. 52 Friedrich, Franz Xaver, an Magistrat Stadtamhof, 21.3.1850, StAReg, ZR I 10862. Vereinzelt finden sich Angebote, sich die Uniform selbst und auf eigene Kosten zu beschaffen, aber auch noch deutlich später (vgl. Seemann, Josef, an Magistrat Schwandorf, 27.5.1900, StAS, Akte des Stadtmagistrats Schwandorf, P-3x 1 v .2). 53 Vgl. Magistrat Stadtamhof: Magistratlichen Botendienst hier die Anstellung eines dritten Polizeisoldaten dahier betr., 18.5.1895, StAReg, ZR I 10855. Ausnahmen von dieser Regel betrafen lediglich noch „Hilfs-Polizeisoldaten“, die sich weiterhin selbst zu uniformieren hatten (Magistrat Regensburg: Neueinstellung Hilfs-Polizeisoldaten, 28.9.1883, StAReg, ZR I 10807). Vollständig verschwunden war die Praxis der Finanzierung der Uniform durch die Polizeidiener selbst freilich auch nicht. „Die neueintretenden Schutzleute“, so stellte der Regensburger Magistrat 1905 fest, „kamen schon manchmal dadurch, dass sie nicht im Stande waren, ihre Uniformen sofort zu bezahlen, gleich mit dem Eintritte in Schulden.“ Um das zu vermeiden, wollte man zukünftig in solchen Fällen einen Vorschuss aus der Stadtkasse unter der Bedingung der ratenweisen Rückzahlung (in Form von Abzügen vom Monatsgehalt) gewähren (vgl. Magistrat Regensburg: Dienst- und Gehaltsverhältnisse der Schutzmannschaft. 31.3.1905, StAReg, ZR I 10819). 54 Ministerium des Innern, an Magistrat Schwandorf, 24.3.1846, StAS, VII-3.
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Erstausstattung bereitzustellen und bei Bedarf nachzurüsten. In kleineren Städten etablierte sich ein Verfahren, in dessen Verlauf jeder Polizeidiener für sich und im aktuellen Bedarfsfall die Bereitstellung oder finanzielle Erstattung eines bereits beschafften Kleidungsstücks beim Magistrat beantragte – und dieser wiederum jeden dieser Anträge als Einzelfall behandelte. Beide Seiten nahmen dabei natürlich Bezug auf frühere Entscheidungen. Bestimmte Dinge wurden zunehmend automatisch bewilligt, da man ihr Vorhandensein wohl als selbstverständlich erachtete, ohne dass das dazu geführt hätte, sie von vornherein zur Verfügung zu stellen. Unter Bezugnahme auf die Bestimmungen des Ministeriums beschloss der Schwandorfer Magistrat 1848, seinen Polizeidiener „auf Kosten der Kammer“ zu uniformieren und zu „armiren“, weil der „Dienstertrag nicht derart gestaltet sei, dass er entsprechende Ausgaben selbst bestreiten könne“.55 Die Beschaffung der Uniform aus städtischen Mitteln – anlässlich der Aufnahme des besagten Polizeidieners – lag zu diesem Zeitpunkt bereits vier Jahre zurück. Vor allem der Mantel war aufgetragen und bestenfalls noch bei der Stadtpatrouille zu verwenden. Aus eigenen Mitteln könne er ihn nicht ersetzen beziehungsweise es sich generell nicht erlauben, sich in dienstangemessener Weise zu kleiden. Er bekam seine aus Kommunalmitteln beschaffte Uniform, und in das Verfahren kam eine gewisse Regelmäßigkeit.56 In größeren Städten kam es eher zu gebündelten Anträgen einer größeren Anzahl von Polizeidienern beziehungsweise der Magistrat bevorratete sich von Zeit zu Zeit mit Uniformstücken. Das ähnelt allerdings mitunter eher einer Schnäppchenjagd. In Regensburg wurden 1871 vier neue Mäntel, sechs neue Garderöcke, sechs neue Schirmmützen beschafft, dazu allerdings auch noch drei alte Uniformröcke und Hosen, die man „nothdürftig zum Gebrauch ausgebessert“ 55 Magistrat Schwandorf: Ratsprotokolle, 21.1.1848, StAS, Akte des Stadtmagistrats. 56 Vgl. Großmann, Joseph, an Magistrat Schwandorf, 17.9.1848, StAS, VII-3. Als 1857 eine erneute Uniformbeschaffung für Großmann anstand, wurde das einfach durch Magistratsbeschluss erledigt (vgl. Magistrat Schwandorf: Ratsprotokolle, 6.1.1857, StAS, Akte des Stadtmagistrats). Polizeidiener Fischer, das als weiteres Beispiel, wurde 1862 eine Entschädigung zugesprochen, die für die Beschaffung seiner „vollen Uniform“ bestimmt war. Später wurde entschieden, ihm einen Dienstmantel aus Kommunalmitteln zu beschaffen, der laut Protokollvermerk auch nach dem Ende der Dienstzeit in seinem Eigentum verbleiben sollte. Gelegentlich einer erneuten Mittelbewilligung wurde ihm aufgetragen, die Uniform „gehörig zu schonen“ und nur zu dienstlichen Zwecken und im öffentlichen Gebrauch zu nutzen. Dieses Antrags- und Bewilligungsspiel wurde zur Regel, aber nicht zum Automatismus. In Schwandorf wurde 1868 eine beantragte Kostenübernahme mit dem Hinweis als verfrüht zurückgewiesen, eine Uniformierung solle alle drei Jahre erfolgen. In einem anderen Fall wurde zwar ein neuer Mantel bewilligt, die Anschaffung einer zweiten Uniform aber zunächst verweigert und erst im zweiten Anlauf, ein halbes Jahr später, zugestanden. In wieder anderen Fällen stoppelten sich Polizeidiener ihre Uniform geradezu zusammen: erst eine Uniformhose und Schirmmütze, dann einen Mantel, weil der alte „schadhaft“ war (vgl. Magistrat Schwandorf: Ratsprotokolle, 13.6.1862, 2.1.1865, 8.3.1866, 13.1.1867, 11.3.1867, 17.7.1868, 13.10.1869, 17.7.1874, 18.3.1875, 20.1.1876, 6.10.1876, StAS, Akte des Stadtmagistrats).
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hatte, zudem zwei getragene Tschakos und schließlich sechs Säbel und sechs Koppeln, da diese gerade günstig zu bekommen waren. Da sich zum Zeitpunkt dieser Shoppingtour bereits zwei Polizeidiener wegen ihrer „mangelhaften“ Ausrüstung Uniformröcke beschafft hatten, sollten den beiden die Kosten erstattet werden.57 Wenn sich keine günstige Gelegenheit zur Beschaffung bot, verzögerte man: Natürlich, so der Schwandorfer Magistrat 1888, leiste man der königlichen Anordnung Folge und schaffe für beide Polizeidiener je einen Säbel an, allerdings wollte man damit warten, „bis dieselben bei größerer Abnahme im Preise fallen und billiger als zur Zeit zu bekommen sind“. Im Übrigen seien „zum gewöhnlichen Gebrauche auch für die Zukunft die alten Säbel“ zu verwenden, „damit die neuen nicht zu rasch abgetragen werden“.58 Uniformen, das als Zwischenfazit, erzeugen Distanz. Distanzierung durch Uniformierung erlaubte es Polizeidienern, sich als besondere Gruppe zu sehen. Der militärische Hintergrund der Polizeidiener, so lässt sich vermuten, unterstrich diesen Effekt. So ist es vorstellbar, dass mit dem Ablegen der Militär- und dem Anlegen der Polizeiuniform der Versuch einer Prestigeübertragung verbunden war; auch wenn es sich nur um geliehenes oder imaginiertes Prestige gehandelt haben sollte, hatten Polizeidiener zwar einen längeren Militärdienst hinter sich, aber eben als gemeine Soldaten und nicht als Offiziere, deren auffällige und aufwändige Uniformen mit einer bestimmten Vorstellung von Männlichkeit verbunden waren. Im Geschlechterdiskurs der Zeit, so schreibt die Historikerin Sabina Brändli, „wird die Uniform nicht nur von Frauen als Preisschild auf der Ware ‚Mann‘ gelesen, denn an der Uniform ist der Rang des Trägers in dieser Organisation und sein Wert unter den Männern bezeichnet, der auch den Wert unter den Frauen bestimmt. […] Die Art jenes Habitus, der mit der Uniform verbunden und mit Männlichkeit assoziiert wird, ist dabei einem Wandel unterworfen: Während im frühen 19. Jahrhundert vor allem Eleganz, gesellschaftliche Gewandtheit und Weltläufigkeit der Offiziere auffielen, traten gegen Ende des 19. Jahrhunderts der Schneid, die stramme Haltung und das zackige Auftreten in den Vordergrund.“59 Die lange positiv konnotierte imposante Erscheinung der Offiziere, von der gemeine Soldaten, die nun Polizeiuniformen trugen, geträumt haben mochten, zog im Verlauf des neunzehnten Jahrhunderts zunehmend Kritik auf sich. Zunehmend fühlten sich zeitgenössische Kritiker beim Anblick von „Militärflitter“ und „Militärkrinolinen“ eher an weibliche Festkleidung als an die standesgemäße Kleidung
57 Magistrat Regensburg: Quartals-Anlagen Polizeimannschaft, 7.5.1871, StAReg, ZR I 10804. 58 Magistrat Schwandorf: Ratsprotokolle, 21.9.1888, StAS, Akte des Stadtmagistrats. 59 Brändli, Militärcrinolinen [1997], S. 205.
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eines Dieners erinnert.60 Hier zeigt sich, was als Sichtbarkeitsparadox des Dieners61 bezeichnet werden kann: Einerseits sollten und mussten Diener – Polizeidiener zumal – erkennbar sein, damit sie sowohl von den Herrschaften unterschieden als auch adressierbar blieben. Andererseits ging es um De-Personalisierung durch eine spezifische Einkleidungsprozedur. Polizeiuniformen folgten dann auch relativ rasch einer Linie, die weniger am Militärflitter, sondern stärker an zivilen Dienstuniformen orientiert war und in einem Zusammenhang mit Versuchen der Einführung von Ziviluniformen für Staatsbeamte (in Bayern 1799) stand.62 Die Uniform war hier im Wesentlichen nichts anderes als die Kleidung eines Dieners, egal ob zivil oder polizeilich, deren Funktion stets darin bestand, einen Unterschied zu markieren. Distinktionsgewinne durch Uniformierung stießen im Fall der Polizeidiener an eine Grenze, bewegte sich hier doch die Beschaffung der Dienstkleidung nah an der in den polizierten Schichten selbstverständlichen Suche nach guter und günstiger Kleidung, die dann möglichst schonend gebraucht werden sollte, um eine Abnutzung so lange wie möglich hinauszuzögern. Wie ‚besonders‘ konnte ein Polizeidiener sich selbst sehen, wenn er um die Ersetzung selbst arg zerschlissener Mäntel immer wieder umständlich bitten musste oder seine Kleidung davon abhing, was der Magistrat gerade zufällig gebraucht und günstig erworben hatte?
Exkurs: Vigilanten in Zivil Manchmal mussten Polizeidiener ihre Uniform ablegen, allerdings nicht eigenmächtig, wenn es ihnen ratsam erschien oder genehm war. Wer beispielsweise als Wachhabender bei einem Ball im Gesellschaftshaus nicht uniformiert, sondern in Zivil erschien, hatte mit Arrest zu rechnen.63 Lediglich der besondere Vigilanzdienst war ununiformiert zu versehen: Civil-Kleider im Dienste dürfen nur dann getragen werden, wenn es besonders so commandirt wird, was gewöhnlich geschieht, wenn man unbekannten Verbrechern und Polizei-Übertretern auf die Spur kommen, und sie auf der That erwischen will, weil in dieser Kleidung die Polizei-Soldaten minder leicht zu erkennen sind, also eher die bezielten Entdeckungen machen können, als wenn der Federbusch und Montur ihre Annäherung schon von Ferne verkünden.64 60 61 62 63 64
Vgl. ebd., S. 207–209. Dazu: Krajewski, Diener [2010], S. 37f., 86–95. Vgl. Wunder, Privilegierung [1978], S. 182–184. Vgl. Polizeimannschaft Regensburg: Mannschaftsbuch, 1851, StAReg, ZR I 10793. Barth, Handbuch [1821], S. 99.
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In der öffentlichen Wahrnehmung wurde in der Regel eine recht scharfe Grenze zwischen uniformierter Patrouillenpolizei und im Verborgenen ermittelnden ZivilVigilanten gezogen. Dabei begegneten Letztere erheblichen Vorbehalten. Der altliberale Polizeiwissenschaftler Behr beschwor 1848 das Prinzip der Offenheit polizeilichen Vorgehens, namentlich durch den „Gebrauch allgemein kenntlich gemachter Polizeidienstleute“. Heimliches Vorgehen sei nur in Ausnahmefällen gerechtfertigt, etwa um ihrerseits heimlich vorgehende Verbrecher auszuspähen oder faktisch bestehende, nicht bloß vermutete, geheime Verbindungen und Verschwörungen aufzudecken, immer dann also, wenn „das offene Verfahren der Polizei meist nur eine Steigerung der Heimlichkeit zur Folge haben“ würde. „Da aber, wo ausnahmsweise die Heimlichkeit der Polizei nöthig sein müßte, wäre eine ganz besondere Vorsicht in der Auswahl der dazu zu gebrauchenden Subjecte, und in der Prüfung ihrer Berichte unerläßlich.“65 Im Alltag erwiesen sich die Auswahl der Subjecte, ihre Handlungsspielräume und Überwachung tatsächlich als Herausforderung. War eine Stelle zu besetzen, wurde der Rottmeister gebeten, „gutachterliche Vorschläge“ zu machen, wobei „auf Tüchtigkeit, Treue, Dienstehre und unermüdeten Fleiß im Allgemeinen, auf große Aufmerksamkeit, Umsicht, Verschwiegenheit und Verlässigkeit im Besonderen das Gewicht zu legen“ war.66 Nicht jeder entsprach den Anforderungen: Da Pol-sold. Bäumel um Verleihung der Vigilanten-Stelle nachgesucht hat, so erlaubt sich Unterzeichneter, wie folgt zu erklären, daß über seine Dienstverrichtungen nichts einzuwenden ist, ob er aber zur Vigilanten-Stelle brauchbar ist, bezweifle ich sehr, denn er ist ein grobes Subjekt, das er schon oftmals bewiesen hat, durch sein rohes Benehmen, er ist auch der Spielsucht und Trunkenheit ergeben.67
Die Besonderheit des Vigilanzdiensts kam also in besonderen Anforderungen (keine groben Subjekte, kein rohes Benehmen, weder spielsüchtig noch der Trunkenheit ergeben – für die Ausübung des einfachen, uniformierten Diensts scheint all das im Umkehrschluss nicht übermäßig problematisch gewesen zu sein) zum Ausdruck, die einige nicht erfüllten. Der Vigilanzdienst brachte aber auch besondere Anstrengungen mit sich, die andere nicht (mehr) auf sich zu nehmen bereit waren. Dieser Dienst, so Polizeidiener Reinhart 1848, erheische „einen jungen und kräftigen Mann“; und da er selbst nun schon 56 Jahre alt war, das Alter und die Folgen der langen Dienstzeit spürte, so möge man ihn vom Vigilantendienst entbinden.68
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Behr, Polizei-Wissenschaftslehre [1848], Bd. 2, S. 146f. Magistrat Regensburg, an Rottmeister Wiedemann, 7.5.1864, StAReg, ZR I 10800. Rottmeister Speiser, an Magistrat Regensburg, 22.4.1847, StAReg, ZR I 10800. Polizeidiener Reinhart, an Magistrat Regensburg, 20.5.1848, StAReg, ZR I 10800.
Exkurs: Vigilanten in Zivil
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Innerhalb der Mannschaften hatten die Vigilanten keinen eindeutigen Stand. Einerseits bemühten sich uniformierte Polizeidiener regelmäßig um Vigilantenstellen, deren Verleihung einer (gefühlten) Beförderung gleichkam, zumindest aber mit einer Gehaltszulage einherging. 1860 wandten sich die Regensburger Vigilanten mit Bitte um eine Gratifikation an den Magistrat. Dabei äußerten sie sich über den besonderen finanziellen Aufwand des Vigilanzdiensts sowie Probleme der Lebenshaltung, da die gehorsamst Unterzeichneten in ihrem Dienst des Tages wie bey Nacht hart in Anspruch genommen werden, um ihren obliegenden Verbindlichkeiten genau und mit dem größten Eifer nachzukommen sich alle Mühe geben, ja sogar an verschiedenem kleine Opfer bringen müßen, um sicherheitsgefährdendem Gesindel auf die Spur kommen zu können, da sämtliche Lebensmittel seit langer Zeit in unverhältnismäßiger hoher Weise stehen und keine Aussicht auf eine Minderung derselben gegeben ist, sondern auch alle anderen Bedürfnisse namentlich Stiefel, Kleider und Wäsche.69
Der Magistrat sah das ein und bewilligte zwanzig Gulden, weil beide Vigilanten sich jüngst in einer Ermittlungssache hervorragend bewährt hatten. Der Magistrat verwandelte mit seiner Begründung ein Argument, das im Schreiben der Vigilanten um Bedürfnisse und Lebenshaltungskosten kreiste, in eine Belohnung für eine bestimmte Leistung. Wenige Monate darauf lag ein Antrag vor, die besonderen Leistungen und den Umfang des Diensts durch eine Anpassung der Bezüge zu würdigen. Der Magistrat beschloss daraufhin eine Erhöhung der jährlichen Zulage von 38 auf sechzig Gulden, schließlich waren die Vigilanten Tag und Nacht im Dienst und wiesen eine beeindruckende Zahl an Arretierungen vor.70 Die Vigilanzzulage wirkte als finanzielle Ergänzung und Unterstützung polizeiinterner Abgrenzung, die bereits mit dem Ablegen der Uniform markiert wurde. Die herausgehobene Stellung der ununiformierten Polizeidiener zog auch interne Konflikte nach sich. Die Zivil-Vigilanz setzte mannschaftsintern eine bestimmte Form distinguierter und distinguierender Selbstbildung ebenso in Gang wie sie ein eifersüchtiges Räsonnement über das eigene Selbstverständnis ermöglichte. Da Abgrenzung auch über eine Befreiung von bestimmten alltäglichen Diensten funktionierte, hatten 69 Polizeidiener Eberle und Schiele, an Magistrat Regensburg, 11.4.1860, StAReg, ZR I 10800 [meine Hervorhebung]. Zivilkleider, die im Dienst getragen wurden, warfen andere Probleme auf als abgenutzte Uniformen. So wurde einem Vigilanten, weil er „einen größeren Aufwand für Civilkleider gemacht hat“, eine Entschädigungszahlung gewährt (Magistrat Regensburg, 30.12.1876, StAReg, ZR I 10807). Für zahlreiche weitere Fälle, in denen entsprechende Zulagen beantragt und gewährt wurden, vgl. Regierung der Oberpfalz/Magistrat Regensburg: Betr. Polizey-Vigilanten 1837–1868, StAReg, ZR I 10800. 70 Vgl. Magistrat Regensburg: Vergütungen von Polizeisoldaten im Vigilantendienst, 20.8.1860, StAReg, ZR I 10800.
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diejenigen, die nicht als Vigilanten abgestellt wurden, nicht nur finanzielle und statusbezogene Gründe zum Unmut. So zeigte sich der Regensburger Polizeirottmeister Wiedemann besorgt darüber, dass es bezüglich des Vigilanzdiensts inzwischen zu einigen Reibereien kam. Traditionell waren die Vigilanten angesichts ihrer sonstigen Aufgabenfülle vom Wachdienst befreit. Darüber kam es nun aber zu Missstimmungen: „In jüngster Zeit“, so schrieb er, „besteht unter der Polizeywache ein beständiges Murren“ wegen der Freistellung der Vigilanten vom Wachdienst. Wiedemann wollte nun vom Magistrat wissen, wie er sich zukünftig verhalten solle. Unter Dienstgesichtspunkten, so resümierte er, sei die Befreiung sinnig, aber es bestehe nun einmal die Abneigung der übrigen Polizeidiener gegen die Regelung, und daher müsse man irgendwie „den Gehässigkeiten gegen die Vigilanten ein Ende machen“.71 Später wurde dieses Problem zu lösen versucht, indem ein regelmäßiger Personalwechsel verfügt wurde, um Vigilanten nicht völlig dem allgemeinen Dienst zu entfremden und auch anderen Polizeidienern Erfahrungen in diesem speziellen Dienst zu ermöglichen.72
3.4 Die häuslichen Verhältnisse Mit dem Dienstantritt, so stellt Joanne Klein in ihrer Arbeit über die englische Polizei im ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts fest, sahen sich Polizeidiener mit einem erhöhten Grad des – behördlichen – Eindringens in ihr Privatleben konfrontiert. Sie mussten sich daran gewöhnen und akzeptieren, dass Dienst- und Privatleben gleichermaßen reguliert wurden.73 Die Einbeziehung des Privaten markiert eine wichtige Kontinuität der Polizeigeschichte. Polizeidienerfamilien unterlagen, und das unterschied sie von Handwerker- oder Arbeiterfamilien, einer Quasi-Aufsicht durch ihre Behörde. Sowohl ihr eigenes als auch das Benehmen ihrer Familien, ihrer Ehefrauen zumal, standen potentiell im Fokus. Das begann bereits mit dem Zeitpunkt der Bewerbung und konnte Einfluss auf eine eventuelle Einstellung haben; beispielsweise dann, wenn ein Kandidat selbst zwar einen günstigen Eindruck machte und über ihn „nichts nachtheiliges bekannt“ war, aber der Verdacht aufkam, seine Ehefrau könnte „öfter wg. Bettel bestraft worden“ sein.74 71 72 73 74
Rottmeister Wiedemann, an Magistrat Regensburg, 6.3.1862, StAReg, ZR I 10800. Vgl. Magistrat Regensburg, an Polizeimannschaft Regensburg, 29.12.1876, StAReg, ZR I 10807. Vgl. Klein, Men [2010] S. 16f., 33, 250. Schmidt, Joseph, an Magistrat Regensburg, 14.1.1884, StAReg, ZR I 10803. In diesem Fall konnte der Verdacht durch ein Auskunftsgesuch des Regensburger Magistrats bei Schmidts Heimatgemeinde aus der Welt geschafft werden. Besagte Bettlerin, so lautete die Auskunft, sei die Ehefrau eines anderen Schmidt, eines Tagelöhners.
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Worauf Polizeibehörden stoßen konnten, wenn sie einen Blick in das Privatleben ihrer Polizeidiener riskierten, zeigt der Fall des Nürnberger Polizeidieners Laberer. Laberer war 1814 in die Polizeimannschaft aufgenommen worden. In seiner Bewerbung behauptete er, „alle zu einem Polizey-Soldaten erforderlichen Eigenschaften“ zu besitzen und gab zu Protokoll: „Ich kann schreiben und rechnen, bin noch in den besten Jahren, vollkommen gesund, auch nicht ganz ohne Vermögen, und habe besondere Lust zu den Verrichtungen der Polizeidiener.“ Während der Probezeit zeigte er guten Willen und ein tadelloses Verhalten, so „daß ihm eine Anstellung übergeben werden kann“, nur, so die Einschätzung der Behörde, fehlt es ihm noch an Gewandtheit, da er nie in Städten, sondern nur auf dem Lande aufgewachsen ist. Man war bisher bemüht ihn hierin zu recht zu [weisen] und ihn zu lehren, wie er sich als Pol.diener benehmen müsse, und mit Vergnügen hat man gesehen, daß er diese Lehren angenommen und sich hiernach gerichtet hat.75
Es dauerte zwei Jahre, bis die Erziehung des Laberer als gescheitert gelten konnte. Es fing harmlos an. Anfang November 1816 erschienen Laberer und ein anderer Polizeidiener nicht zum Dienst, da beide sich vormittags derart betrunken hatten, dass sie dazu nicht im Stande waren. Das brachte sechs Stockschläge. Drei Wochen später wurde Laberer wiederholt nicht auf seinem Posten angetroffen, war er doch – nach eigener Angabe – zwischendrin durstig geworden und hatte im Wirtshaus eine halbe Maß Weißbier getrunken. Das brachte acht Stockschläge. Als diese Strafe eine Woche später vollstreckt wurde, erlaubte sich Laberer vor versammelter Mannschaft derbste Ausdrücke: „Vergebens konnte dieser ungestüme rohe Mensch zur Ordnung gerufen werden.“ Die Lage beruhigte sich dann anscheinend wieder, bevor Laberer am 6. März 1818 zu einem 48-stündigen Arrest wegen Misshandlung seiner Frau verurteilt wurde. Die Ehefrau sagte aus: „Meines Mannes hitziges Temperament übersteigt alles Ziel. Seine Eifersucht artet in Mißhandlung aus.“ Er verzeche alles Geld im Wirtshaus und gerate außer sich, wenn sie ihm das vorwerfe. In der fraglichen Nacht, so schilderte sie den jüngsten Vorfall, „band er mir den Strick um den Hals, schleifte mich in die Stube […], schlug mit der Faust“. Laberer stritt alles ab; zumindest das, wovon er glaubte, dass es ihn in Bedrängnis bringen könnte. Er wollte erst einmal sehen, ob seine Frau ihre Anschuldigung mittels Zeugen untermauern könnte. Er habe sie nicht geschlagen und nicht misshandelt: „Maulschellen gab ich ihr des längeren nicht.“ Sie mache ihm eifersüchtige Szenen, dabei pflege er mit keiner anderen Frau vertrauten Umgang. Hass, Zank und Widerwillen zwischen ihm und seiner Frau kämen daher, weil sie seit zwei Jahren Umgang mit anderen Männern hätte. Am fraglichen Abend eskalierte die Situation: „Aber schlagen mußte ich sie, ich konnte mich nicht mäßi75 Polizeidirektion Nürnberg: Einstellung Laberer, 8.11.1814, StAN, C2, 78.
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gen, weil sie alles fortschleppt, weil sie unsere Wirtschaft nicht besorgte und sie vernachlässigte. […] Mit der Hand geb ich ihr Taschen aufs Maul, aber gedrosselt habe ich sie nicht.“ Als wenig später die Nürnberger Polizeidirektion aufgelöst wurde, gehörte Laberer zu denjenigen, die nicht in die neu gegründete Behörde übernommen wurden.76 Laberer war ein drastischer Fall. Aber es war keine Ausnahme, dass das Privatleben störend in die Dienstausübung hineinragte. Vielleicht war es also gar keine so schlechte Idee, Polizeidiener von der Ehe fernzuhalten. Bemühungen gab es reichlich. Heiraten war im neunzehnten Jahrhundert keine einfache Sache; zumindest nicht für jeden. Das überall verbreitete, wenn auch im Detail je anders ausgestaltete System der Ehebeschränkungen und behördlichen Verheiratungserlaubnis sorgte dafür, dass die Heirat keine Privatangelegenheit war.77 Brachte die napoleonische Zeit eine gewisse Liberalisierung mit sich, so kam es danach rasch wieder zu einer gegenläufigen Politik. Heiratserlaubnis, Bürgerrecht und Vermögensverhältnisse bildeten einen für viele kaum zu durchdringenden Komplex. Bevölkerungswachstum, Migration und fortschreitende Auflösung zünftisch und grundherrschaftlich gebundener Lebensformen zogen in zahlreichen deutschen Ländern und Städten Verschärfungen der Bürgerrechts- und Heiratsbestimmungen nach sich, die seit 1800 eine fortgesetzte Verschlechterung der Heiratsmöglichkeiten der Unterschichten in Gang setzten. In Bayern drangen spätestens seit den 1820er Jahren die Gemeinden auf eine Verschärfung der Regelungen. „Von nun an lag damit das Schicksal all derjenigen, die weder über Grundbesitz noch über einen Gewerbebetrieb verfügten, die kein eigenes Haus, das vor 1834 erbaut worden war, besaßen und auch nicht im Dienste einer Gemeinde, der Kirche oder des Staates standen, allein in der Gewalt der Gemeinden. […] Das kommunale Veto, das Recht des absolut hindernden Widerspruchs – ohne Beispiel und Vorbild in ganz Deutschland – es wurde in Bayern zum Grundpfeiler der Macht der Gemeinden über die Menschen.“78 In der faktischen Umsetzung waren davon vor allem Fabrikarbeiter und Taglöhner betroffen, geleitet von einem generellen Misstrauen gegen diese Personengruppe, ungeachtet des faktisch vorhandenen Vermögens. Polizeidiener bewegten sich an der Grenze zu diesem Milieu, auch wenn sie nicht zwingend Teil desselben waren. Ihre Einkommens- und Vermögensverhältnisse, davon wird im nächsten Kapitel zu reden
76 Polizeidirektion Nürnberg: Exzess Polizeidiener Laberer, 1816–1818, StAN, C2, 78; Magistrat Nürnberg: Bei Auflösung der Polizeidirektion nicht übernommene Polizeidiener 1819–1820 StAN, C6, 122. 77 Dazu und zum Folgenden: Matz, Klaus Jürgen: Pauperismus und Bevölkerung. Die gesetzlichen Ehebeschränkungen in den süddeutschen Staaten während des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1980; Gröwer, Karin: Wilde Ehen im 19. Jahrhundert. Die Unterschichten zwischen städtischer Bevölkerungspolitik und polizeilicher Repression, Berlin und Hamburg 1999. 78 Matz, Pauperismus [1980], S. 157.
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sein, rechtfertigten jedenfalls aus behördlicher Sicht Zurückhaltung bei der Verehelichung. Wollte ein Polizeidiener heiraten, dann war das entlang der Vorgaben der jeweiligen Kreisregierung vom Magistrat zu genehmigen und von den Gemeindebevollmächtigten zu bestätigen. Polizeidiener, so hieß es in einer Instruktion aus dem Jahr 1800, seien gehalten, „sich ohne vorher erhaltener Erlaubnis bei Dienstesverlust nicht zu verheurathen“.79 Ihnen soll, so präzisierte Anton Barth 1821 in seinem Practischen Handbuch der Polizei in Baiern, „die Verheiratung ohne Nachweisung anderer Nahrungs-Quellen nicht gestattet werden.“80 Und so wurden die Fälle gehandhabt. Das Heiratsgesuch des Regensburger Polizeidieners Jakob Kerz wurde 1804 abgelehnt, sprächen doch das geringe Vermögen des Bräutigams (36 Gulden), sein geringes Gehalt (zwanzig Gulden) sowie das unzulängliche Vermögen der Braut gegen eine solche Erlaubnis.81 Polizeidiener Wilhelm Heckel wurde dagegen 1807 die Erlaubnis zur Verehelichung erteilt. Der 29-jährige Heckel bat darum, die 38-jährige Witwe eines Polizeidieners, die zwei minderjährige Kinder hatte, zu heiraten. Die Gründe, die letztlich überzeugten: Die Witwe verfügte über einen gut eingerichteten Haushalt. Sie und ihr zehnjähriges Mädchen wären zudem im Nähen und Stricken vorzüglich und könnten sich damit einen Verdienst verschaffen. Insgesamt also würde „er seine individuelle Lage durch eine eheliche Verbindung mit der Wittib besonders in der Hinsicht zu verbessern glauben, daß ihn seine tägliche Kost nicht mehr so hoch zu stehen kommen würde, als bisher, da er im Wirthshaus essen müßte“.82 Im Fall Heckels mag eher die Verantwortung für eine Polizeidienerwitwe den Ausschlag für die Bewilligung gegeben haben, weniger die faktische Vermögenslage, denn in anderen Fällen zeigt sich hinsichtlich der ökonomischen Voraussetzungen einer Heiratsbewilligung ein eher striktes Vorgehen. Polizeidiener Hintels Bitte wurde 1810 abgewiesen, da die „Qualifikation zum Pol.diener ihm kein bleibendes Auskommen gewährt“ – obwohl er über eine Militärpension von 150 Gulden sowie ein kleines Vermögen von 300 Gulden verfügte und Mutter und Schwiegermutter es zusammen auf ein Vermögen von knapp 800 Gulden brachten.83 Polizeidiener Krämer wollte 1819 die Tochter eines Obsthändlers heiraten. Er besaß ein Vermögen von 400 Gulden, sie verfügte über 200 Gulden. Die beiden kannten sich seit drei Jahren. Die Polizeidirektion unterstützte das Gesuch gegenüber dem Magistrat. Krämer war in magistratlicher Einschätzung „ein gutwilliger, ehrlicher und braver Mensch, der aber von der Natur 79 Instruktion nach welcher sich die Polizeydiener zu München ihren abgeschworenen Pflichten gemäß zu verhalten haben, München 1800, S. 3f. 80 Barth, Handbuch [1821], S. 96. 81 Magistrat Regensburg: Verehelichungsgesuch Kerz, 28.1.1804, StAReg, Magistratsregistratur, 116. 82 Magistrat Nürnberg: Verehelichungsgesuch Wilhelm Heckel, 25.6.1807, StAN, C2, 133. 83 Magistrat Nürnberg: Verehelichungsgesuch Polizeidiener Hintel, 16.5.1810, StAN, C2, 65.
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nicht mit vorzüglichen Geistesgaben ausgestattet ist“, Viel erwarte man von ihm nicht, aber er sei willig und gewissenhaft; sie „nicht mehr so ganz jung“, aber eine ordentliche Person mit etwas Vermögen. Also sollen sie doch heiraten!84 Die Heiratserlaubnis wurde am 30. November 1819 erteilt. Angesichts all dieser Unwägbarkeiten versuchten andere Polizeidiener gar nicht erst, eine Heiratserlaubnis zu bekommen, sondern baten um Entlassung aus dem Dienst, sobald sie beschlossen hatten, die langjährige Verlobte zu heiraten.85 Die Problematik der Verheiratung begleitete Polizeidiener und Polizeibehörden durch das Jahrhundert. 1855 wurde der Regensburger Magistrat angehalten, dafür Sorge zu tragen, „daß die nicht vollkommen diensttauglichen verheirateten Polizeydiener nach und nach anderweitig im städtischen Dienste verwendet und durch neu aufzunehmende rüstige und gutbeleumundete Polizeidiener ledigen Standes ersetzt werden“.86 Zwei Drittel der Mannschaft sollten, diese Regel galt in den 1850er Jahren, ledig sein. Bis dieses Ziel erreicht war, durfte kein Polizeidiener ein Verehelichungsgesuch einreichen. Darüber hinaus war die „Erlaubnis zur Verehelichung […] von einer wenigstens 8jährigen Dienstzeit abhängig und kann nur in Folge wichtiger Dienstleistungen als besondere Auszeichnung bewilligt werden“.87 So richtig funktionierte das aber, zumindest in Regensburg, nicht immer. Da in rascher Folge mehrere Heirathsgesuche von Polizeisoldaten vorgebracht wurden, so notificiert man, daß in Zukunft keine Gewährung mehr ausgesprochen werden wird, wenn nicht dieselben, zu der bereits festgesetzten Bestimmung, daß ein Polizeisoldat nur im ersten Drittel eine Heirathsbewilligung erhält noch wenigstens eine 8jährige Dienstzeit nachweisen können.88
Die Regierung der Oberpfalz wies den Magistrat 1866 zum wiederholten Mal an, „daß keinem Polizeisoldaten der Stadt Regensburg die dienstliche Bewilligung zur Verehelichung ertheilt werden dürfe, welcher sich nicht in der ersten älteren Hälfte der Mannschaft befindet“. Man bestehe auf der „Ertheilung nur derlei dienstlicher Verehelichungsbewilligungen“, die einer angemessenen Beschränkung der Anzahl der verehelichten Polizeidiener insgesamt nicht zuwiderliefen. Gerade bei jüngeren Polizeidienern dürfte eine Bewilligung nur „auf Fälle beschränkt werden, welche 84 Vgl. Magistrat Nürnberg: Verehelichungsgesuch Polizeidiener Krämer, 29.10.1819; Polizeidirektion Nürnberg, an Magistrat Nürnberg, 23.11.1819, StAN, C2, 135. 85 Vgl. Polizeidirektion Nürnberg: Entlassung Polizeidiener Kaiser, 13.7.1817, StAN, C2, 81; Polizeidiener Probst, an Magistrat Nürnberg, 8.2.1826, StAN, C6, 162. 86 Regierung der Oberpfalz, an Magistrat Regensburg, 3.8.1855, StAReg, ZR I 10796. 87 Magistrat Regensburg: Reorganisation Polizeimannschaft, 19.5.1857, StAReg, ZR I 10796. 88 Gemeindebevollmächtigte, an Magistrat Regensburg, 3.5.1861, StAReg, ZR I 10796.
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durch ganz besondere Verhältnisse dringlicher Weise begründet werden“.89 Während eine Verehelichung mit einer Gesetzesreform in Bayern für breite Bevölkerungsschichten nach 1868 erleichtert wurde (die bis dato unumgängliche Prozedur der Ansässigmachung fiel als Voraussetzung der Verehelichung weg, und es bedurfte nunmehr lediglich einer behördlichen Erlaubnis90), schien sich die Handhabe bei Polizeidienern eher zu verschärfen. Erst Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts sollte sich das ändern und die Polizei eine gewisse Attraktivität für verheiratete Männer entfalten. „Wegen all zu langer Wartezeit zur dienstlichen Verehelichungsbewilligung im kgl. Bayerischen Gendarmeriekorps“, so schrieb beispielsweise Johann Estel 1911, „habe ich mich entschlossen aus demselben auszutreten und eine Schutzmannstelle anzustreben.“91 An den skizzierten Entwicklungen zeigt sich einerseits die Spannung zwischen Verehelichungsregeln und -praktiken innerhalb und außerhalb der Polizei. Andererseits dokumentieren sie, dass die polizeilichen Einstellungsvoraussetzungen, die auch Ledigkeit einschlossen, nicht immer bis ins letzte Detail allen Interessenten bekannt waren – oder man sich nicht sicher war, wie strikt derartige Kriterien faktisch gehandhabt wurden. Die Argumente und Positionen, die in Heiratsgesuchen sowie deren Bewilligung oder Ablehnung insgesamt zum Tragen kamen, verweisen auf den klassischen Topos, der überall der Praxis der Heiratsbeschränkungen zugrunde lag: mangelnde ökonomische Sicherheit, die zumindest implizit innerhalb einer malthusianisch grundierten Verelendungs- und Bevölkerungstheorie verortet wurde. Innerhalb solcher Vorstellungen galten Heiratsbeschränkungen als „Heilmittel des Pauperismus“.92 Verweigerte man Polizeidienern die Heiratserlaubnis, dann deshalb, weil ihr Gehalt nicht als ausreichend für eine Familiengründung angesehen wurde, auch wenn formal nicht jedem Polizeidiener zu jedem Zeitpunkt seiner Laufbahn die Heirat verwehrt blieb. Die Heiratsfrage berührte zudem das Problem der Männlichkeit, galt die Einrichtung eines eigenen Haushalts und dessen Unterhalt auf einem dem sozialen Status entsprechenden Niveau durch das Einkommen des Manns als notwendige Qualifikation des Mann-Seins.93 Anhand der Verheiratungsfrage konnten Polizei89 Regierung der Oberpfalz, an Magistrat Regensburg, 4.7.1866, StAReg, ZR I 10795. 90 Vgl. Matz, Pauperismus [1980], S. 153–174. 91 Estel, Johann, an Magistrat Stadtamhof, 25.3.1911, StAReg, ZR I 10852; ähnlich auch: Schaller, Karl, an Magistrat Stadtamhof, 29.11.1909, StAReg, ZR I 10851; Rupp, Johann, an Magistrat Stadtamhof, 21.3.1911, StAReg, ZR I 10852. 92 Matz, Pauperismus [1980], S. 84. Zur malthusianischen Matrix vgl. Etzemüller, Thomas: Ein ewigwährender Untergang. Der apokalyptische Bevölkerungsdiskurs im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2007, S. 23–26. 93 Vgl. Sieder, Familie [1987], S. 111–113; Tosh, John: Was soll die Geschichtswissenschaft mit Männlichkeit anfangen? Betrachtungen zum 19. Jahrhundert in Großbritannien, in: Conrad, Christoph/Kessel, Martina (Hg.), Kultur und Geschichte. Neue Einblicke in eine alte Beziehung, Stuttgart 1998, S. 160–206, hier: S. 171–173.
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diener sehr genau ihren Status und ihren Abstand zu Angehörigen anderer Gewerbe ablesen und vermessen.
3.5 Dienstalter Zahlreiche Polizeidiener gaben ihren Dienst bereits nach kurzer Zeit wieder auf; in der Regel deshalb, weil sich eine andere Beschäftigungsperspektive bot. Die Stellen, für die sie bereit waren, den Polizeidienst zu verlassen, ähnelten jenen Stellen, aus denen heraus sich viele für den Polizeidienst bewarben. Das spricht für die hohe Durchlässigkeit eines bestimmten Segments des Arbeitsmarkts und dafür, dass die Polizei, zumindest im ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts, nur wenig Distanz zu anderen Tätigkeitsfeldern innerhalb dieses Arbeitsmarkts hatte. Im Juli 1811 erschien Johann Leonhard Richter bei der Polizeidirektion Nürnberg und bat „um seine Entlaßung als Polizeidiener, indem er Lust habe sich unter das Militär engagieren zu lassen“.94 Ein anderer äußerte in seinem Entlassungsgesuch im selben Jahr den Wunsch, „eine andere Gelegenheit“ mit „gestiegenen Aussichten“ zu ergreifen.95 Polizeidiener Köster wollte 1816 auf seinen alten Wachtmeisterposten in seinem früheren Regiment zurückkehren und entschied sich, wieder Soldat zu werden. Andere zog es auf eine Stelle als Forstkommissar oder bei einem großen Kanalbau.96 Diejenigen, die nicht direkt nach Dienstantritt entlassen wurden oder sich kurzentschlossen anderweitig umsahen, brachten es mehrheitlich zu beachtlichen Dienstzeiten. Für sie entwickelte sich der Polizeidienst zu einer langfristigen und stabilen Beschäftigung. In einer Auflistung der Polizeidiener, die 1819 infolge einer personellen Umstrukturierung nicht in die neue Nürnberger Polizeidirektion übernommen wurden, wird das deutlich. Die zehn fraglichen Polizeidiener waren bis zu diesem Zeitpunkt im Durchschnitt über zehn Jahre im städtischen (Polizei-)Dienst. Der Dienstjüngste war knapp fünf, der Dienstälteste weit über zwanzig Jahre dabei.97 Eine Bestandsaufnahme der Regensburger Polizeimannschaft aus dem Jahr 1851 zeigt einen beachtlichen Grad an Diensterfahrung, die für 48 Polizeidiener rekonstruierbar ist. Zwanzig von ihnen dienten seit zehn und mehr Jahren, vier davon brachten es auf über fünfzehn Jahre. Die überwältigende Mehrheit der anderen hatte ihr fünftes Dienstjahr hinter sich, einige näherten sich ihrem zehnjährigen Dienstjubi94 Polizeidirektion Nürnberg: Entlassung Polizeidiener Richter, 31.7.1811, StAN, C2, 56. 95 Müller, Friedrich Adam, an Polizeidirektion Nürnberg, 26.10.1811, StAN, C2, 72. 96 Dazu: Polizeidirektion Nürnberg: Entlassung Polizeidiener Köster, 3.11.1816, StAN, C2, 82; Aschenbrenner, Franz, an Magistrat Nürnberg, 3.12.1845, StAN, C6, 162; Haupt, Johann Adam, an Magistrat Nürnberg, 29.10.1847, StAN, C6, 162. 97 Magistrat Nürnberg: Bei Auflösung der Polizeidirektion nicht übernommene Polizeidiener, 1819– 1820, StAN, C6, 122
Dienstalter
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läum.98 Eine spätere Momentaufnahme aus dem Jahr 1881 bestätigt diese Tendenz. Das durchschnittliche Dienstalter betrug fast neun Jahre. Es gab drei Neulinge, die noch kein Jahr Dienst taten. Insgesamt zehn Polizeidiener hatten drei und weniger Dienstjahre. Demgegenüber standen zehn Polizeidiener mit mindestens zehn Jahren Diensterfahrung. Einige standen kurz vor ihrem zwanzigjährigen Dienstjubiläum, zwei hatten das bereits hinter sich. Rottmeister Anton Dienberger war mit 24 Jahren Dienst der Dienstälteste.99 Innerhalb der Polizeimannschaften, das an dieser Stelle als kurzes Resümee, bewegten sich mithin zwei Polizeidienertypen: Die einen verließen den Polizeidienst – freiwillig oder nicht – rasch wieder und dokumentierten damit eine weiterhin bestehende Verbundenheit zu ihren Herkunftsmilieus. Zumindest blieb eine Rückkehr mittels eines Wechsels der Beschäftigung möglich und wurde allem Anschein nach – allzu gesprächig sind die Quellen in diesem Punkt nicht – auch nicht als ehrenrührig oder Ausdruck eines Scheiterns verstanden. Für viele andere galt dagegen: einmal Polizeidiener, immer Polizeidiener.
98 Vgl. Polizeimannschaft Regensburg: Mannschaftsbuch, 1851, StAReg ZR I 10792–94. 99 Vgl. Polizeimannschaft Regensburg: Mannschaftsbuch, 1881, StAReg, ZR I 10807.
4. Wie es bezahlt wird Ein Polizeibeamter muß […] von dem Staat für seine mühseeligen Dienste so belohnt werden, daß er ohne Nahrungssorgen seinen Beruf erfüllen kann; ohne zu Bestechungen und Schuldenmachen genöthigt zu seyn. Auch muß derselbe durch eine wohlfeile und dem Zweck entsprechende Amtstracht von dem gemeinen Haufen unterschieden und für seinen Diensteifer durch Verdienstorden und im Alter durch eine ansehnliche Pension belohnt werden.1
Der Aufbau eines Herrschaftsapparats erregte im Vormärz radikalen Zorn; nicht zuletzt deshalb, weil die Finanzierung dem Volk in Form von Steuern ‚abgepresst‘ wurde. Am berühmtesten brachte das Georg Büchners Hessischer Landbote zum Ausdruck: „Die Fräcke, Stöcke und Säbel [der] unverletzlichen Diener [der Regierung] sind mit dem Silber von 197.502 Gulden beschlagen (so viel kostet die Polizei überhaupt, die Gendarmerie u. s. w.).“2 Auch wer jenen Schichten angehörte, die Geld hatten und (oft genug unbegründet) fürchteten, es würde ihr Geld sein, das zur Finanzierung herangezogen werden könnte, schien gut beraten, aufmerksam zu sein. Robert Mohl bestritt 1844 zwar nicht die Notwendigkeit einer Polizeibehörde, wollte deren Umfang und Kosten aber begrenzt wissen. Wenn die vollständige Erreichung eines öffentlichen Zwecks, so schrieb er, „nur durch so zahlreiche, so theure oder so lästige Einrichtungen zu bewerkstelligen ist, daß dieser Nutzen mit diesen Mitteln in keinem richtigen Verhältnisse steht“, dann habe man sich „mit der ungefähren Bewerkstelligung zu begnügen“. Öffentliche Anstalten sollten zwar „in ihrem Äußern anständig und mit Geschmack, jeden Falles tüchtig und je nach dem Zwecke dauerhaft seyn“ und über ausreichendes Personal verfügen, „[a]llein jede überflüssige und doch kostspielige Zierde ist zu unterlassen; eben so jede Anstellung von unnöthig zahlreichen, zwecklos hochgestellten oder übermäßig bezahlten Dienern“.3 1 Höck, Grundlinien [1809], S. 209f. 2 Büchner, Georg: Der Hessische Landbote [1834], in: ders., Werke und Briefe, München 1980, S. 210–233, Zitat: S. 215. Zur vormärzlichen Bürokratiekritik vgl. Krosigk, Rüdiger von: Bürger in die Verwaltung! Bürokratiekritik und Bürgerbeteiligung in Baden. Zur Geschichte moderner Staatlichkeit im Deutschland des 19. Jahrhunderts, Bielefeld 2009. 3 Mohl, Robert von: Polizei-Wissenschaft nach den Grundsätzen des Rechtsstaates, 2., umgearbeitete Auflage, Tübingen 1844–1845, Bd. 1, S. 29.
Gehälter im Überblick
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Die einfachen Polizeidiener dürften sich von Mohls Warnung nicht angesprochen gefühlt haben. Weder dürfte bei ihnen der Eindruck geherrscht haben, zwecklos hochgestellt oder übermäßig bezahlt zu sein, noch, dass ihre jeweilige Polizeimannschaft unnötig zahlreich war. Der letzte Punkt wurde im vorangegangenen Kapitel abgehandelt. Nun geht es um die finanziellen Aspekte der Polizeigeschichte des neunzehnten Jahrhunderts: die Konflikte, die sich aus der staatlichen und städtischen Mischfinanzierung unter den Bedingungen finanzieller Engpässe und Sparimperative ergaben; das Ringen um Gehaltsverbesserungen; die Spannung zwischen dem Anspruch standesgemäßer Lebensführung und der Realität von Löhnen auf Subsistenzniveau (die im Mottozitat angesprochenen Nahrungssorgen); schließlich die komplexe Struktur der Entlohnung mit Grundgehalt, Zulagen, Sonderzahlungen und Belohnungen. Die Herauslösung der Polizeidiener aus ihren etablierten Subsistenzverhältnissen und ihre Einbindung in ein neues behördlich strukturiertes Entlohnungsgefüge wirkten als ein wichtiges Instrument sozialer Distanzierung, denn die unterschiedlichen Arten von Geldbeziehungen (oder Sachleistungen) etablierten, verstärkten, schwächten, verdrängten oder kappten je spezifische Formen der sozialen Bindung, die bereits bestanden oder sich einzuspielen drohten. Letzteres verweist auf die Frage des Schuldenmachens und der Bestechungen, die oft kaum von freundschaftlichen Gesten, Trinkgeldern oder Dankesgaben zu unterscheiden waren. Bevor dieser Zusammenhang im zweiten Teil des Kapitels diskutiert wird, ist jedoch ein allgemeiner Überblick über die Gehaltsstruktur und das Gehaltsniveau im Polizeidienst vonnöten.
4.1 Gehälter im Überblick Auseinandersetzungen um Polizeidienergehälter resultierten daraus, dass einerseits deren Höhe von oben reguliert wurde und diese Festsetzung die individuelle Finanzlage der jeweiligen Stadt nicht berücksichtigte, andererseits der Polizeietat sich aus städtischen und staatlichen Mitteln zusammensetzte, Anteile und Zuschüsse mithin Anlass zur Diskussion gaben. Die ehemals stolze Reichsstadt Nürnberg war Ende des achtzehnten Jahrhunderts bankrott und stand zwischen 1797 und 1806 unter Konkursverwaltung durch eine Kaiserliche Kommission. Im August 1806, kurz vor der Eingliederung in das neue Königreich Bayern, traf ein bayerischer Landesdirektorialrat mit der Aufgabe ein, die fiskalischen Angelegenheiten der Stadt zu überwachen.4 4 Bei Übergabe der städtischen Finanzen befanden sich in bar noch 713 Gulden in der Stadtkasse. Die Schulden beliefen sich auf 12,5 Millionen Gulden. Neben der sukzessiven Versteigerung ehemaligen Nürnberger Staatseigentums zur Schuldentilgung wurden ein Schuldenschnitt und eine deutliche Zinssenkung veranlasst, die vor allem die Nürnberger Bürger trafen, die ein gutes Drittel der Schulden als Kreditgeber in ihren Händen hielten. Erst 1819 wurde die Schuldenlast vollständig durch den bayerischen Staat übernommen (vgl. Liermann, Hans: Der Übergang der
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Nürnberg dürfte nicht die einzige Stadt gewesen sein, die sich Anfang des neunzehnten Jahrhunderts in angespannter finanzieller Lage befand.5 In der zeitgenössischen Literatur wurde das durchaus zur Kenntnis genommen, wenn es um die Ausstattung und Finanzierung städtischer Polizeimannschaften ging. Man müsse, so Friedrich Meinert 1807, nicht überall kostspieliges eigenes Polizeipersonal unterhalten, wenn doch vielerorts „garnisonierendes Militär“ vorhanden war. Im Wesentlichen war das ein Kostenargument, denn Soldaten würden so oder so bezahlt, bedeuteten also keinen zusätzlichen Aufwand. Sollte nun überdies eine jedem Orte und seiner Größe oder Volksmenge proportionierte Polizeiwache in jedem Orte aufgestellt und erhalten werden, so würde der gewöhnliche Staatsertrag kaum vermögend seyn, diese Sicherheitsanstalt zu unterhalten, und demnach würden die sonst gewöhnlichen Abgaben der Staatsbürger nicht hinreichen, die dazu erforderliche Aufwandsumme zu bestreiten.6
Enge finanzielle Spielräume der Städte trafen auf staatliche Vorgaben wie die im Oktober 1808 im Königreich Bayern in Kraft getretene Instruktion der Polizei-Direktionen in den Städten, die auch das Gehalt der Polizeidiener regelte. Städte mit einer Größe von über 20.000 Einwohnern, also namentlich: Augsburg und Nürnberg (für München, das ebenfalls in diese Gruppe fiel, galten eigene Regeln), sollten dem Polizeidirektor 1800 Gulden, Städte mit über 10.000 Einwohnern, also auch Regensburg, dem leitenden Polizeikommissar 1600 Gulden zahlen. Aktuare waren mit 600 Gulden, Offizianten mit 365 Gulden und einfache Polizeidiener mit 240 Gulden zu entlohnen. Besoldung, Gratifikationen und Bürokosten sollten aus dem Gemeindevermögen, staatlichen Zuschüssen sowie Einnahmen aus Gebühren und Polizeistrafen bestritten werden. Ausgaben, die nicht etatmäßig vorgesehen waren, musste die vorgesetzte Stelle bestätigen.7 Die Finanzierung der Polizei erwies sich vor diesem Reichsstadt Nürnberg an Bayern im Jahre 1806, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 48 (1958), S. 259–276, hier: S. 261–270). Die Lage der Rentkammer war zentraler Gegenstand zeitgenössischer Reformdiskussionen. Angesichts der desaströsen Finanzlage der Stadt diskutierte man unter anderem die Einbeziehung der Bürgerschaft bei der Bestätigung von Abgaben sowie die Notwendigkeit, erfahrene Kameralisten in die Finanzverwaltung zu berufen (vgl. Anonym: Ein prüfender Blick auf die neuesten innern Staatseinrichtungen der Reichsstadt Nürnberg gerichtet von einem Vaterlandsliebenden Bürger, Nürnberg 1801, insbes. S. 60–65, 72–74). 5 Als Überblick: Ullmann, Hans-Peter: Staatsschulden und Reformpolitik, Göttingen 1997. 6 Meinert, Friedrich: Der Soldat als Beistand der Polizei oder Anleitung zur Kenntniß der Garnisonspolizei nebst einem Anhange über Organisation und Pflichten der Bürger-Garden, Bürgerwachen oder National-Garden. Für junge Militärs und solche, die mit der besonderen Garnisonspolizei, besonders in Kriegszeiten unbekannt sind, Berlin 1807, S. 55. 7 Vgl. Instruktion der Polizei-Direktionen in den Städten [1808], Sp. 2511–13, 2530. Zum Vergleich: Bei der Polizeisektion im Innenministerium verdienten ein Protokollist 800 Gulden, ein Kanzlist
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Hintergrund als Herausforderung, zumal nicht nur die allgemeine Finanzlage angespannt war, sondern mit der Gemeindereform auch die Einnahmemöglichkeiten beschränkt wurden. Indirekte Gemeindesteuern wurden abgeschafft und die Mautund Zollregelungen vereinheitlicht. Das hatte erhebliche Einbußen für die Gemeinden zur Folge.8 Bei der Finanzierung der Polizei gerieten die Städte daher rasch in Abhängigkeit von staatlichen Zuschüssen. Die Nürnberger Polizeikasse verzeichnete für die Jahre 1809 bis 1815 im Durchschnitt einen monatlichen Zuschuss zum Gesamtetat von fast 63 Prozent.9 Bei Einnahmen von im Durchschnitt 2342 Gulden pro Monat war das eine erhebliche Summe. Seit der zweiten Jahreshälfte 1810 machten die durchschnittlichen Zuschüsse dauerhaft einen noch einmal höheren Anteil an den Gesamteinnahmen aus. Auf der Ausgabenseite machten die Gehälter den Löwenanteil aus. Es gab seltene Monate, in denen der Anteil der Gehaltszahlungen mit lediglich vierzig Prozent zu Buche schlug, während in anderen Monaten die Ausgaben nahezu vollständig aus Gehältern bestanden. In den meisten Monaten lag der Gehaltsanteil bei über achtzig Prozent. Mit dem Gemeindeedikt 1818 ging die Vermögensverwaltung wieder an die Gemeinden, die Lokalpolizei wurde mit Ausnahme Münchens an die Magistrate übertragen und jährliche staatliche Zuschüsse von 80.000 Gulden für die ersten sechs Jahre festgelegt. Danach sollte eine erneute Bedarfsprüfung erfolgen. Für den Bedarf war die Höhe der Gehälter und die Frage, wer diese festsetzte, von entscheidender Bedeutung. Die „Bestimmung des nach dem Verhältnisse der Anstrengung, und nach den Kräften der Communal-Casse zu bemessenden Soldes der Polizeiwache-Mannschaft“, so Anton Barth 1821, gebührte „dem Magistrate im Benehmen mit den Gemeinde-Bevollmächtigten, und unter Vorbehalt der Bestätigung oder Entscheidung der Kreis-Regierung“.10 Konkret bedeuteten die Regelungen, so die zeitgenössische Einschätzung einer Polizeidirektion, dass Polizeidiener ihre Gesundheit für eine Besoldung opferten, „die mit seinen Leistungen merklich in
600–700, ein Bürodiener 600 und ein Bote 450 Gulden. Der Generalkommissar des Rezatkreises mit Sitz in Ansbach verdiente im Jahr 2000 Gulden, das Unterpersonal, also Sekretäre, 800–1000 (vgl. Höck, Grundlinien [1809], S. 212–222). Der Nürnberger Polizeidirektor Wurm bekam mit seiner Ernennung am 3.4.1809 ein Jahresgehalt von 2500 Gulden zugewiesen (vgl. Hirschmann, Wurm [1958], S. 283). 8 Vgl. Weiss, Josef A.: Die Integration der Gemeinden in den modernen bayerischen Staat. Zur Entstehung der kommunalen Selbstverwaltung in Bayern (1799–1818), München 1986, S. 123–141. Ziel war die steuerliche Integration der Gemeinden in das staatliche Steuersystem. Die Ermittlung der Höhe statthafter Gemeindeumlagen – sie durften ein Sechstel der Staatssteuern nicht überschreiten – war umständlich und folgte einem komplizierten und langwierigen Genehmigungsverfahren. 9 Dazu und zum Folgenden: Polizeikasse Nürnberg, 1809–1815, StAN C2, 44–45, 47–48. 10 Barth, Handbuch [1821], S. 100; vgl. auch: Verordnung die künftige Verfassung und Verwaltung der Gemeinden im Königreich betr. [1818], §§ 20–23, 67–72.
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keinem Verhältnis stand“.11 Ohne sonstige Einnahmen oder ein etwaiges Vermögen – allein mit einer „spärlichen Besoldung“ – fiel es Polizeidienern schwer, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.12 Das Gehaltsniveau reichte Mitte der 1820er Jahre dennoch aus, um den Polizeidienst für Handwerker angesichts der dortigen Lohnentwicklung attraktiv zu machen. Der Polizeidienst bot ein Einkommen, das sich zwar auf vergleichsweise niedrigem Niveau bewegte (es übertraf das Einkommen hausindustrieller Produzenten, nicht aber das stetig beschäftigter Lohnarbeiter oder besser situierter Handwerker), dafür aber regelmäßig und konjunkturunabhängig war.13 Regelmäßig drängten Polizeidiener aller Dienststufen auf eine Besserung ihrer Lage. Ende August 1825 wandten sich die Rottmeister der Nürnberger Polizeimannschaft in einem gemeinsamen Schreiben an den Magistrat und baten um eine Gehaltserhöhung. In ihrem Schreiben finden auf eindrückliche Weise verschiedene Topoi zueinander, die in Selbstverständnis, Ansprüchen und Erwartungen von Polizeidienern immer wieder eine Rolle spielten: Die Rottmeister verwiesen auf die besonderen „Anstrengungen, Widerwärtigkeiten und Aufopferungen der Gesundheit“, mit denen der Dienst verbunden war; und sie betonten, „daß mit solchen schon bisher die angesetzte Besoldung nicht im billigen Verhältniß stand“.14 Die kürzliche Erweiterung des Polizeibezirks und die damit verbundene Vermehrung der Aufgaben habe dieses Missverhältnis noch verschärft. Angesichts eines Diensts ohne „regelmäßige Ruhestunden“ – eines Diensts, der „auch so viele Nächte in Anspruch nimmt, wobei man weder Regen noch Sturm scheuen darf “ – müsse es „gewiß niederschlagend seyn“, wenn der „durch die Natur seines Dienstes so vielen Unannehmlichkeiten ausgesetzte Diener zugleich mit bitteren Nahrungssorgen zu kämpfen hat“. Als Familienväter mussten sie schließlich für Kleidung, Lebensmittel, Licht, Holz und andere Bedürfnisse Sorge tragen. Zwar wollten sich die Rottmeister „nicht auf den Abstand unserer Besoldung von denjenigen berufen, welche hie und da Angestellte im minderen Dienst ohne bedrückende Anstrengung und Verantwortlichkeit“ beziehen. Damit legten sie einen solchen Vergleich – und damit die Idee einer mit Blick auf den Anstrengungs11 Polizeidirektion, an Generalkommission Nürnberg, 27.7.1812, StAN, C2, 61. 12 So die Einschätzung von Polizeidiener Wagner, an Polizeidirektion Nürnberg, 8.9.1812, StAN, C2, 61. 13 Vgl. zu dieser Gesamteinschätzung auch Lüdtke, Alf: „Gemeinwohl“, Polizei und „Festungspraxis“. Staatliche Gewaltsamkeit und innere Verwaltung in Preußen, 1815–1850, Göttingen 1982, S. 150f. Ähnlich für England: Emsley, Policeman [2000], S. 96–100; zu den in dieser Zeit tendenziell stagnierenden beziehungsweise, je nach Branche, leicht sinkenden Löhnen im Handwerk vgl. Kaufhold, Grundzüge [1979]. 14 Dazu und zum Folgenden: Rottmeister, an Magistrat Nürnberg, 30.8.1825, StAN, C6, 160. Die weiteren Ausführungen stützen sich zudem auf den sich diesem Gesuch um Gehaltsaufbesserung anschließenden Schriftwechsel zwischen Magistrat und Kreisregierung: Magistrat Nürnberg: Vermehrung Polizeipersonal, 1825/26, StAN, C6, 160.
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grad des Diensts angemessenen Besoldung – aber erst recht nahe. Eine konkrete Summe für eine Gehaltserhöhung schlugen die Rottmeister nicht vor, sondern baten nur allgemein um „gnädige Berücksichtigung, wie beschränkt die Aussichten auf Beförderung oder sonstige Verbesserung unserer Lage immer bleiben“. Der Magistrat beschloss, das Gehalt der Rottmeister von 395 auf 450 Gulden und dasjenige der Vizerottmeister von 325 auf 395 Gulden zu erhöhen und beantragte bei der Kreisregierung die Genehmigung der Gehaltserhöhung. Die Kreisregierung lehnte ab. Der Magistrat blieb allerdings beharrlich und wiederholte den Antrag mit dem energischen Hinweis, dass die Rottmeister vorzügliche Arbeit bei der Kontrolle der Polizeimannschaft wie auch der Ausübung einzelner Zweige der Polizei leisteten. Nun zeigte sich die Kreisregierung kompromissbereit. Sie genehmigte für die (Vize-)Rottmeister ein Gehalt von 400 beziehungsweise 450 Gulden – und bemerkte leicht süffisant, der Magistrat könne darüber hinaus gern Boni aus eigener Kasse zahlen. Der Magistrat machte davon Gebrauch und gewährte beispielsweise dem inzwischen als Offizianten tätigen Rottmeister Hüftlein eine Gehaltserhöhung auf 500 Gulden, erstattete der Kreisregierung Bericht und bekam zur Antwort, Hüftleins Gehalt sei auf 400 Gulden festzusetzen. Im Verlauf der interbehördlichen Gehaltsverhandlungen offenbarte sich der Grund dieses recht typischen Konflikts: Die Kreisregierung dachte vom Gesamtbudget der Polizeimannschaft her und legte Einzelgehälter so fest, dass dieses nicht erhöht werden musste; der Stadtmagistrat dagegen dachte vom Gehaltsgefüge her und bemaß die individuellen Gehälter so, dass zwischen den Polizeidienern möglichst kein Neid und keine Missgunst aufkamen und alle sich entsprechend ihrer Dienstleistungen als angemessen entlohnt ansahen. Würde man nun, so der Magistrat, Hüftlein für 400 Gulden als Offizianten beschäftigen, dann entstünde ein Missverhältnis zu den anderen Offizianten, die die gleiche Arbeit für 500 Gulden machten, aber auch zu den Rottmeistern, aus deren Kreis Hüftlein befördert und deren Gehalt inzwischen – von der Kreisregierung abgesegnet – auf 450 Gulden erhöht worden war. Diese Zurücksetzung, so schrieb man weiter, müsse auf einen so brauchbaren und fleißigen Mann nachteilig wirken. Mit behördlichem Humor lehnte die Kreisregierung das ab – weil der Magistrat schließlich bei der Einstellung neuen und der Beförderung alten Personals das bestehende Gehaltsgefüge ausreichend hätte berücksichtigen können, was aber nicht geschehen wäre. Letztlich gab der Magistrat auf und wies den Stadtkämmerer an, die Gehaltsdifferenz aus der Stadtkasse zu zahlen. Kaum war dieses Problem gelöst, tauchte ein neues auf. Nun meldeten sich nämlich die Polizeiaktuare Molitor und Schwemmer mit der Bitte um eine vermeintlich noch ausstehende Gehaltsnachzahlung wegen einer bereits genehmigten, aber nicht umgesetzten Gehaltserhöhung.15 Eine Nachzahlung fand nicht statt, aber es wurden die 15 Dazu und zum Folgenden: Polizeiaktuare Caspar Molitor und Friedrich Rudolf Schwemmer, an Magistrat Nürnberg, 13.3.1826, StAN, C6, 74; Magistrat Nürnberg: Besetzung Aktuarsstellen,
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Bezüge der Aktuare neuerlich festgestellt. Molitor sollte bei 600 Gulden im Jahr verbleiben, Schwemmer und den nun noch einmal beförderten Hüftlein wollte man mittels einer Erhöhung um einhundert Gulden gleichstellen. Die Kreisregierung untersagte die Erhöhung mit Verweis auf die Lage des Stadtkämmerers. Der Magistrat wiederholte seine Bitte um Genehmigung der Gehaltserhöhung mit der Begründung, dass es sich bei beiden um „ganz ausgezeichnete, fleißige und geschickte Leute“ handelte, welche „dem Dirigenten der Polizei in dieser Hinsicht keinen Wunsch übrig lassen“. Beide wären der Zulage zudem „höchst bedürftig“. Andere Beamte bekämen bei vergleichbarer oder gar geringerer Belastung bis zu 1000 Gulden. Außerdem fehlten die früher üblichen Zusatzeinnahmen (Gebühren, Polizeistrafen). Die Kreisregierung verweigerte die Gehaltserhöhung. Der Magistrat wies daraufhin den Kämmerer an, beiden am Jahresende eine Gratifikation von einhundert Gulden auszuzahlen. Offensichtlich gab es hier ein Muster. Bis zur Jahrhundertmitte verschob sich das Gehaltsniveau schrittweise, zunächst zögerlich und nicht ohne steten Druck durch die Polizeidiener selbst, die immer wieder Gehaltsaufbesserungen einforderten.16 Trotz sukzessiver Verbesserungen war gerade im kleinstädtischen Bereich die Lage heikel. Wenn sich ökonomische Not und psychische Auszehrung überlagerten, konnte es zu kleinen Dramen kommen. 1843 schrieb der Polizeidiener Lang an seinen Magistrat: Gehor. Unterzeichneter hatte während seiner Dienstzeit als Polizeidiener in Schwandorf ohnehin so wenig Gehalt, daß es unmöglich reichte um mit ehrlicher Kleidung zu erscheinen, und die nothwendigsten Lebensbedürfnisse zu befriedigen, nicht Schulden machen zu müssen. Da ich aus diesem gezwungenen Vorgehen meines Dienstes entlassen wurde, so irre ich schon meiner selbst unbewußt 8 Wochen herum, ohne irgendeine Unterstützung zu erhalten, selbst da nicht, als ich von quälenden Gedanken beinahe besinnungslos aufs Krankenlager geworfen, ich der ärztlichen Hilfe bedürftig war und selbst Herr Doctor, Arzt von hier, eine zweimalige Aufforderung an den Magistrat machte, mir jede Unterstützung zu geben, [welche] jeder verarmte Kranke nach den Gesetzen der höchsten Behörde zu genießen hat. Ich war daher gezwungen um mir einige Unterstützung zu verschaffen mehrere meiner besten Kleidungsstücke zu verkaufen. Da ich keine Taglöhner Arbeit kann noch verstehe indem ich als heranwachsender Jüngling 14 Jahre als Soldat 13.10.1826; Kreisregierung des Rezatkreises, an Magistrat Nürnberg, 2.12.1826; Magistrat Nürnberg, an Kreisregierung des Rezatkreises, 6.1.1827; Kreisregierung des Rezatkreises, an Magistrat Nürnberg, 23.1.1827; Magistrat Regensburg: Magistratsbeschluss, 23.2.1827 (alle in: StAN, C6, 159). 16 Teilweise sehr nachdrücklich, wie ein Vorkommnis um Franz Bäumel zeigt, der 1841 „wegen vorlauter und gemachter Drohung einer Beschwerde höheren Orts hinsichtlich angeblich verweigerter Besoldungserhöhung zurecht gewiesen“ wurde (Polizeimannschaft Regensburg: Mannschaftsbuch, 1851, StAReg, ZR I 10792).
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dem König und Vaterland diente, die übrige Zeit beim Ratsdienst gewesen bin, so war ich gezwungen, mich wieder um einen ähnlichen Dienst umzusehen, welchen ich auch in Roding wirklich erhielt.17
Polizeidiener Lang hatte allerdings kein Geld, um den Übergang in eine fremde Stadt zu bewerkstelligen. Daher bat er den Rat um einige Gulden, weil er ansonsten der örtlichen Armenunterstützung zur Last fallen müsste. Die Stellungnahme mag Übertreibungen beinhalten und magistratliche Erwartungen bedienen, dennoch berührt sie die zentralen Topoi polizeidienerlicher Verhältnisse: die knappe Kalkulation des Einkommens, das kaum ausreichte, um Sonderausgaben zu bestreiten, während gleichzeitig ein standesgemäßes Auftreten erwartet wurde – das ist die Frage der ehrlichen Kleidung; dann aber auch die Qualifikation von Polizeidienern, die ihnen oft nur wenig gewerbliche Alternativen zum Polizeidienst ließ, in diesem Fall selbst mit Blick auf Taglöhner Arbeit; schließlich Schuldennot und die Gefahr drohender Schulden. Die Grundkonstellation, dass nämlich die Städte in Polizeiangelegenheiten staatliche Vorgaben umsetzen, die Finanzierung aber selbst bewältigen mussten, wurde mit der bayerischen Gemeindeordnung von 1869 bestätigt.18 Dennoch wirkte diese Konstruktion nun immer häufiger in eine andere Richtung. Während Polizeidiener die Interventionen übergeordneter Behörden in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts wesentlich als Weitergabe fiskalischer Zwänge, das heißt in Form einer restriktiven, um Ausgabendeckelung bemühten Gehaltspolitik erlebten, folgte nun eine bis zur Jahrhundertwende anhaltende Phase, in der sie dieselben Behörden als Verbündete erleben konnten. Möglicherweise deutet das auf eine (von den Polizeidienern erfahrbare?) Verschiebung staatlicher Prioritäten hin, in deren Folge das 17 Lang, Jakob, an Magistrat Schwandorf, 27.10.1843. Ein anderer Polizeidiener verschwand Ende der 1850er Jahre, „ohne Anzeige gemacht zu haben und [es] konnte bis heute dessen Aufenthaltsort nicht bestimmt ermittelt werden“. Einige Wochen später griff ihn die Regensburger Polizei auf und lieferte ihn wegen seines offenkundig zerrütteten Gesundheitszustands ins Krankenhaus ein. Der zuständige Magistrat identifizierte Schulden und Krankheit als Auslöser der Angelegenheit (beide in: Magistrat Schwandorf, 4.6.1859, StAS, Akte des Stadtmagistrats, VII-103). 18 Demnach waren die Gemeinden „verpflichtet, soweit ihnen die Polizeiverwaltung zusteht, die damit verbundenen Obliegenheiten zu erfüllen und die dafür erwachsenen Kosten zu bestreiten. Zur Bestreitung des Aufwandes für Handhabung der Districtpolizei wird nach Maßgabe des jeweiligen Finanzgesetzes ein Beitrag aus Staatsmitteln geleistet“. Zu bestreiten waren die Ausgaben für die Ortspolizei aus Gemeindevermögen, Gemeindeaufschlägen und direkten Verbrauchssteuern. Gemeindebediensteten waren „angemessene Besoldungen oder Functionsbezüge“ zuzugestehen, allerdings keine Pensionierungs- oder Alimentationsansprüche. Die Gemeindebevollmächtigten waren bei der Festlegung der Besoldung und Funktionsbezüge des höheren Dienstpersonals einzubeziehen (vgl. Gesetz die Gemeindeordnung für die Landestheile diesseits des Rheins betr. [1869], §§ 38–41, 77, 95, 112).
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Interesse an einer effizienten Polizei gegenüber fiskalpolitischen Erwägungen in den Vordergrund trat. Begleitet wurde das von einem gewissen publizistischen Lärm. Dabei ging es, wie polizeiwissenschaftliche Abhandlungen der 1860er Jahre zum Ausdruck brachten, darum, wie geeignete Kandidaten für den Polizeidienst gewonnen und ihre Verelendung verhindert werden konnte. Die Besoldungen der Polizeibeamten sind meistens so armselig, daß der Beamte kaum für seine Person genug hat, geschweige denn im Stande ist, eine Familie durchzubringen. […] Wir können die, obendrein massenhafte, Anstellung so vieler knapp besoldeter Beamten nicht anders als unpolitisch und unverantwortlich nennen, weil dadurch eine Menge Familien begründet werden, um in bitterer Noth und tiefem Elend ein kummervolles Leben zu führen und nicht nur physisch, sondern auch moralisch zu Grunde zu gehen; die Prostitution haben wir grauenhafterweise nicht selten auch durch Töchter unterer Polizeibeamten vertreten gefunden.19
Eine mit der Reorganisation der Polizeimannschaft in Regensburg befasste Kommission aus Magistrat und Gemeindebevollmächtigten schlug im Januar 1865 vor, die polizeilichen Gehälter in drei Klassen festzusetzen. Polizeidiener I. Klasse sollten zukünftig 370, diejenigen II. Klasse 350 und Polizeidiener III. Klasse 320 Gulden erhalten. Kaum war das beschlossen, bat man die Kreisregierung um eine Erhöhung der Zuschüsse für die Polizeimannschaft.20 Die Umsetzung verlief allem Anschein nach zunächst provisorisch und unsystematisch. Im Juli 1865 wandte sich Polizeidiener Zeitler an den Magistrat und bemerkte, dass ihm im Gegensatz zur Polizeimannschaft insgesamt keine Gehaltsaufbesserung zu Teil geworden war. Aktuell verdiene er 325 Gulden plus 25 Gulden Zulagen im Jahr, während die anderen Polizeidiener 375 Gulden plus 25 Gulden bezögen. Der Magistrat argumentierte anlässlich dieses – letztlich abgelehnten – Gesuchs gegenüber den Gemeindebevollmächtigten, dass die eigentlich angedachte Gehaltserhöhung für alle Polizeidiener auf 350 Gulden momentan nicht zu realisieren war, langgediente Polizeidiener aber eine Jahresgratifikation von 25 Gulden erhalten sollten. Dieses Spiel wiederholte sich. Individuell oder gemeinsam baten Polizeidiener in den Folgejahren immer wieder um Gehaltsaufbesserung. Und jedes Mal wurde ihr Gesuch abgelehnt und ihnen stattdessen eine Gratifikation zugesprochen. Anfang 1867 war es aber doch soweit: der Magistrat 19 Avè-Lallemant, Krisis [1861], S. 60f. 20 Vgl. Magistrat Regensburg: Kommission betr. Reorganisation der Polizeimannschaft. 4.1.1865; Magistrat Regensburg, an Regierung der Oberpfalz, 31.1.1865, StAReg (beide in: ZR I 10795); sowie dazu und zu den im Folgenden diskutierten polizeidienerlichen Gesuchen um Gehaltsaufbesserung sowie den magistratlichen Reaktionen: Magistrat Regensburg: Besoldungsverhältnisse der Polizeidiener, 1867–1869, StAReg, ZR I 10788.
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beschloss eine dauerhafte Gehaltserhöhung. Im Verlauf des Jahres 1867 kam man in Regensburg zu der Erkenntnis, dass generell „die Bezüge der Polizeimannschaft gegenüber denen der K. Gendarmerie etwas gering gegriffen sind“. Und so beschloss man eine Anhebung (für Polizeidiener I. Klasse von 370 auf 400 Gulden, in der II. Klasse von 350 auf 375 und in der III. Klasse von 325 auf 350 Gulden). Allerdings sollten gleichzeitig die Gebührenanteile eingefroren werden. Inmitten all dieser Probleme, Unklarheiten und Zwickmühlen beschied die Regierung der Oberpfalz dem Regensburger Magistrat im Juli 1868, dass die in der Stadt auffälligen Sicherheitsprobleme nicht aus einer zu geringen Zahl oder mangelnden Qualifikation der Polizeidiener resultierten, sondern aus unzureichender Besoldung vor allem der Polizeidiener III. Klasse, die mit einem Gehalt von weniger als einem Gulden pro Tag oft gezwungen wären, Schulden zu machen.21 Bis zur Jahrhundertwende stiegen die Gehälter kontinuierlich an. Als der Regensburger Magistrat 1905 mit einer Bitte um Gehaltsaufbesserung seitens der Polizeimannschaft konfrontiert war, holte er bei verschiedenen bayerischen Städten – es handelte sich um Städte unterschiedlicher Größe und unterschiedlichen Charakters: Amberg, Ansbach, Aschaffenburg, Augsburg, Bamberg, Bayreuth, Fürth, Kempen, Landshut, Nürnberg, Passau, Straubing, Würzburg – eine Auskunft über die dortige Entlohnung ein, die einen guten Einblick in die allgemeinen Gehaltsverhältnisse gibt. Demnach verdienten bayerische Polizeidiener zwischen 900 und 1320 Mark (522– 765 Gulden) Grundgehalt im Jahr – das Durchschnittsgehalt belief sich auf 1034 Mark (600 Gulden). Mit unterschiedlichen Zulagen kamen sie auf 1160–1500 Mark (673–870 Gulden) jährlich, im Durchschnitt waren es 1338 Mark (776 Gulden).22 Die zentralen Fragen der vorliegenden Arbeit – die Frage nach Prozessen polizeidienerlicher Selbstbildung sowie diejenige nach der sozialen Distanzierung von Polizei und Publikum – lassen sich mittels einer nachträglichen Rekonstruktion der Gehaltsentwicklung nur indirekt beantworten. Zunächst muss offenbleiben, ob der einzelne Polizeidiener zu einem bestimmten Zeitpunkt wusste, ob der langfristige (Gehalts-)Trend sein Freund war und ob dieses Wissen, so es denn verfügbar war, Auswirkungen auf Selbstverständnis, Selbstpositionierung und Verhalten hatte. Schließlich konnte eine mitunter lange Zeit vergehen, bis es zu einer signifikanten Hebung des Gehaltsniveaus der Mannschaft (im Unterschied zu individuell häufiger gewährten Gehaltsaufbesserungen) kam. Was Polizeidiener allerdings schon als Unterschied zu anderen Tätigkeitsfeldern wahrgenommen haben dürften, ist der Umstand, dass sie zu keinem Zeitpunkt mit einem Absinken des Gehaltsniveaus konfrontiert waren. In den Quellen finden sich keine Belege dafür, dass die Polizeidiener genötigt waren, gegen Kürzungen des (Grund-)Gehalts zu kämpfen. Gekämpft 21 Regierung der Oberpfalz, Kammer des Innern, 14.7.1868, StAReg, ZR I 10795. 22 Vgl. Gehaltsverhältnisse Schutzmannschaft in 14 Bayerischen Städten, 1905, StAReg, ZR I 10819.
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wurde ausschließlich um Gehaltserhöhungen, die angesichts der Praxis der Magistrate und vorgesetzten Behörden eine reale Möglichkeit waren und von den Polizeidienern wohl auch als solche verstanden wurden. Die Begründungen, die sie in ihren Bitten um Gehaltsaufbesserung immer wieder vortrugen, zeigen eine Mischung von Argumenten: Einige deuten darauf hin, dass sich Polizeidiener weiterhin innerhalb einer „moralischen Ökonomie“ (Edward P. Thompson) bewegten, in der der Umstand, dass man arbeitete, einen Anspruch auf Sicherung der Subsistenz und Enthebung von Nahrungssorgen begründete; andere Argumente zielten auf das Verhältnis von Dienstanstrengung und Entlohnung, brachten also in gewisser Weise Leistungskriterien ins Spiel, die die Tendenz hatten, die besonderen Anstrengungen zu betonen, Polizeidiener also aus den diffusen Handwerks- und Dienstleistungsgewerben herauszuheben. Auffällig ist zudem, dass in den Gesuchen nur selten Vergleiche zu anderen Gruppen, etwa Handwerkern oder Dienstboten, gezogen wurden. Die Argumente beziehen sich entweder auf allgemeine Fragen der Subsistenzsicherung oder aber auf das Gehaltsgefüge innerhalb der Polizeimannschaften. Dieser Umstand ist, bei aller Vorsicht, ein Indiz für eine gewisse Distanzierung, scheint doch der Polizeidienst zum selbstreferentiellen Bezugspunkt in Gehaltsfragen geworden zu sein.23 Dass und wie eine nachhaltige Distanzierung gelang, ist erstaunlich, waren und blieben Polizeidiener finanziell doch in einer prekären Lage und entfernten sich in dieser Hinsicht mit dem Eintritt in den Polizeidienst keineswegs erheblich von ihren Herkunftsmilieus beziehungsweise den Milieus, die sie polizieren sollten. Mit Blick auf die verfügbaren (finanziellen) Ressourcen verlief zwischen „plebejischer Ökonomie“, unterschichtlicher „Ökonomie des Notbehelfs“24 und der Welt der Polizeidiener nicht zwingend ein Bruch. Wenn überhaupt, dann war es der kontinuierliche, kalkulierbare Charakter des Gehalts, der Polizeidiener in eine Lage versetzte, die sich von derjenigen von Handwerkern oder „casual labourers“ (Gareth Stedman Jones) unterschied.
23 Für eine Diskussion dieser Interpretation vgl. auch Steedman, Policing [1984], S. 108–114. 24 Dazu Kaschuba, Lebenswelt [1990]; Medick, Hans: Plebejische Kultur, plebejische Öffentlichkeit, plebejische Ökonomie. Über Verhaltensweisen Besitzarmer und Besitzloser in der Übergangsphase zum Kapitalismus, in: Berdahl, Robert M., u. a. (Hg.), Klassen und Kultur. Die sozialanthropologische Perspektive in der Geschichtsschreibung, Frankfurt/M. 1982, S. 157–204; Schindler, Norbert: Jenseits des Zwangs? Zur Ökonomie des Kulturellen inner- und außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft, in: ders., Widerspenstige Leute. Studien zur Volkskultur in der Frühen Neuzeit, Frankfurt/M. 1992, S. 20–46.
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4.2 Gratifikationen, Teuerungszulagen und einige Klafter Holz „Das Polizeipersonale“, so wurden die bayerischen Polizeidirektionen 1808 instruiert, „soll ausser des ihm angewiesenen Gehaltes keinen Antheil an den Polizeistrafen beziehen; wohl aber kann der Polizei-Direktion jährlich eine Summe zur Belohnung besonderen Fleißes, und ausserordentlicher Dienste angewiesen werden.“25 Innerhalb der städtischen Polizeien bildete sich in den Folgejahrzehnten ein Geflecht von Zusatzleistungen heraus. Der Effekt dieses Systems von Gratifikationen bestand aus behördlicher Sicht in der Erzeugung von Abhängigkeit und Loyalität. Zugleich konnte es als Steuerungsinstrument und Anreiz wirken, um nicht nur allgemein Dienstwilligkeit sicherzustellen, sondern ganz bestimmte Verhaltensweisen und Aktionen zu unterstützen. Für die Polizeidiener eröffnete das umgekehrt die Möglichkeit, einen Lebensstandard zu erreichen – über Wohnungszuschüsse, Holzzuteilung, Teuerungszulagen usw. –, den viele ihrer ehemaligen Handwerks- oder Dienstkollegen gerade in Krisenzeiten nicht oder nur unter erheblichem Aufwand halten konnten. Zusatzleistungen, die auf der einen Seite disziplinierende Implikationen hatten, wurden auf der anderen Seite zum Instrument sozialer Distanzierung. Polizeidienergehälter setzten sich überall aus einer regulären Besoldung, Wohnungszuschüssen und Uniformgeldern, Sondergratifikationen und Leistungszulagen zusammen. Von regelmäßigen Gratifikationen wurde rasch und umfassend Gebrauch gemacht. Der Regensburger Magistrat legte zum Beispiel 1869 eine Quote für Belobigungen fest: Rottmeister und Vigilanten sollten bei löblicher Leistung sieben, einfache Polizeidiener fünf Gulden erhalten. Zudem konnte es kurzfristige Zuschläge als Entschädigung für Mehrarbeit geben, wenn man den Dienst eines erkrankten Kollegen mit zu erledigen hatte.26 Neben Zulagen aufgrund besonderer Dienstverrichtungen erhielten (oder beantragten) Polizeidiener Teuerungszulagen oder Unterstützungen ihres Lebensunterhalts in Form von Wohnzuschüssen oder Holzzuweisungen („einige Klafter Holz“).27 Wiederholt wandten sich etwa die Angehörigen der 25 Instruktion der Polizei-Direktionen in den Städten [1808], Sp. 2513. 26 Vgl. Magistrat Regensburg: Quartals-Anlagen für die Polizeimannschaft, 14.4.1869, StAReg, ZR I 10804; Magistrat Schwandorf: Ratsprotokolle, 17.3.1870, StAS, Akte des Stadtmagistrats. Teilweise wurde einfach dem kranken Polizeidiener ein Teil vom Gehalt abgezogen, den der andere dann als Bonus bekam (vgl. Magistrat Schwandorf: Ratsprotokolle, 22.7.1875, StAS, Akte des Stadtmagistrats). 27 Vgl. die Anträge des Polizeidieners Wagner auf Teuerungszulage: Magistrat Schwandorf: Ratsprotokolle, 23.4.1874, 7.5.1874, StAS, Akte des Stadtmagistrats. Für eine – abgelehnte – Bitte um einige Klafter Holz vgl. Magistrat Schwandorf: Ratsprotokolle, 17.6.1873, StAS, Akte des Stadtmagistrats; für einen erfolgreichen Antrag auf Dienstwohnung: Stadtmagistrat Schwandorf: Ratsprotokolle, 8.6.1876, StAS, Akte des Stadtmagistrats. Zu Wohnungszuschüssen und Zuteilung von Dienstwohnungen vgl. Magistrat Schwandorf: Ratsprotokolle, 4.9.1876, 6.10.1876, 26.10.1876, 2.7.1877, StAS, Akte des Stadtmagistrats. Vergleichbare Anträge waren und blieben auch um die
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Regensburger Polizeimannschaft 1867 mit der Bitte um eine Zulage von fünfzehn Gulden an den Magistrat. Die Lebensmittelpreise, so führten sie aus, stiegen schließlich seit geraumer Zeit immer weiter, ebenso die Kosten für andere Bedürfnisse wie Kleidung, Wäsche, Schuhwerk. Gerade diejenigen Dinge, an denen man nicht sparen könne (unter anderem: die Pflege der Uniform), verzehrten einen großen Teil des Gehalts – und Schulden sollte man ja schließlich nicht machen müssen. Außerdem hätten Gendarmerie und Militär sowie die Polizeibehörden anderer Städte schon mit Gehaltsaufbesserungen reagiert.28 Parallel dazu setzte sich bei der Wohnungsfrage im Verlauf des Jahrhunderts eine gewisse Erwartung fest. Der Umstand, dass nicht alle Polizeidiener Dienstwohnungen gestellt oder Wohnzuschüsse gewährt bekamen, diente den nicht berücksichtigten Kollegen als Argument für eine – dieses Ungleichgewicht ausgleichende – Gehaltsaufbesserung. Aus einer im Ermessen des Magistrats liegenden zusätzlichen, freiwilligen Leistung leiteten Polizeidiener Schritt für Schritt einen Anspruch ab, der schließlich dazu führte, städtischen Polizeidienern, sofern ihnen keine Wohnung gestellt wurde, jährlich ein pauschales Wohnungsgeld zuzuweisen.29 Innerhalb dieses Systems der Adjustierung des Einkommens blieben auch Teuerungszulagen ein wichtiges Instrument. Die Regensburger Schutzleute baten 1905 kollektiv um Gewährung einer dreimonatigen Teuerungszulage von dreißig Pfennigen pro Tag. Vor allem „für die mittleren und unteren Bevölkerungsschichten“ (denen man sich also zugehörig fühlte), so schrieben sie, werde alles teurer. Für einen Schutzmann und seine Familie sei es nicht leicht, ohne Schulden über die Runden zu kommen. Dem Gesuch war eine Aufstellung über die monatlichen Ausgaben für Miete, Pflege der Uniform, Brennmaterial und Beleuchtung, Beiträge zur Pensionsund Sterbekasse, Fleisch, Brot und Milch, Gemüse und Viktualien sowie Zivilkleidung, Familienkleidung, Lernmittel für die Kinder, ärztliche Behandlung, Apotheke beigelegt. Jeder Lebensmittelpreisanstieg erschwerte die Ernährung der Familie: Wende zum zwanzigsten Jahrhundert allgegenwärtig. 1893 wurden im Rahmen einer Gehaltsaufstockung den Schwandorfer Polizeidienern zusätzlich je zwei Klafter Holz pro Jahr zugewiesen (Magistrat Schwandorf: Ratsprotokolle, 23.5.1893, StAS, Akte des Stadtmagistrats; vgl. auch ebd., 8.11.1894). In einer Stellenausschreibung im Jahr 1900 lockte der Schwandorfer Magistrat potentielle Bewerber nicht nur mit einer fixen Jahresbesoldung von 720 Mark und dem Hinweis, dass Uniform und Armatur von der Stadt beschafft würden, sondern auch mit sechs Klaftern Holz (Magistrat Schwandorf: Bekanntmachung, 22.7.1900, StAS, Akte des Stadtmagistrats, P-3x 1 v. 2). Und noch einige Jahre später wurden einem Polizeidiener einmalig drei Klafter Scheitholz bewilligt (Magistrat Schwandorf: Ratsprotokolle, 9.3.1906, StAS, Akte des Stadtmagistrats). 28 Vgl. Polizeimannschaft Regensburg, an Magistrat Regensburg, 16.7.1867, StAReg, ZR I 10805. 29 Als Beispiele: Polizeimannschaft, an Magistrat Schwandorf, 27.8.1901, StAS, Akte des Stadtmagistrats, P-3x 1 v. 2; sowie Jäger, Anton, an Magistrat Schwandorf, 5.5.1904; Magistrat Schwandorf, an Jäger, Anton, 6.5.1904 (beide in: StAS, Akte des Stadtmagistrats, 0370/72); für eine pauschale Gehaltserhöhung als Ersatz für eine Dienstwohnung: Magistrat Schwandorf: Ratsprotokolle, 30.10.1907, StAS, Akte des Stadtmagistrats.
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zumal die Lebensweise eines Schutzmannes infolge des unregelmäßigen Dienstes im Verhältnis zu einem anderen Bediensteten zum mindesten eine doppelte ist. Der Schutzmann ist infolge der Rathaus- und Bahnhofswache, sowie der Nachtpatrouillen genötigt, außerhalb der Familie zu leben, was bedeutende Ausgaben verursacht.30
Der Magistrat bewillige die Zulage für drei Monate. Ein halbes Jahr später baten die Schutzleute um Verlängerung, da die Preise noch nicht gefallen wären. Diesmal lehnte der Magistrat ab. Initiativen in diese Richtung gingen im Übrigen nicht nur von den Schutzleuten selbst aus. Angesichts hoher Lebensmittelpreise, so schrieb die Bezirksregierung der Oberpfalz 1908 an den Regensburger Magistrat, sei eine Erhöhung der Dienstbezüge der Schutzmannschaft angezeigt. Die Regensburger gaben der Bezirksregierung recht, betonten aber, dass es keinen Grund zur Sorge gäbe, schließlich zeigten die Haushaltspläne, dass man sich stetig um die Aufbesserung des Gehalts kümmere und bisher jeder Etat Verbesserungen oder Zulagen brachte – und man das auch weiter so handhaben werde. Resümiert man das Zulagensystem mit seinen teilweisen Automatismen und zahlreichen Ad-hoc-Lösungen, dann zeigen sich die langsame Etablierung bestimmter Ansprüche und ein sich durchsetzender Konsens über den polizeidienerlichen Lebensstandard, und damit: eine schrittweise Heraushebung aus prekären und plebejischen Einkommensverhältnissen. Dieser sozial absondernde Effekt dürfte gegenüber den disziplinierenden Aspekten wirksamer gewesen sein, zumal er durch Pensionen und Hinterbliebenenversorgung erweitert und verlängert werden konnte.
4.3 Quieszierte und Witwen Zwischen 1799 und 1803 wurden in Bayern erstmals Regelungen für die Pensionierung von Staatsdienern getroffen. Einerseits sollten diejenigen eine Pension erhalten, „die ihr Amt ohne ihr Verschulden durch politisch-organisatorische Entscheidungen verloren hatten“, andererseits wurde eine Quieszierung aufgrund altersbedingter Gebrechen möglich. Die untere Dienerschaft blieb von diesen Regelungen jedoch ausgeschlossen. Ein Pensionierungsanspruch ab einem bestimmten Alter etablierte sich allerdings erst gegen Ende des Jahrhunderts. Bis dahin waren Invalidität und Verschleiß der Arbeitskraft, nicht Altersgrenzen oder Dienstjahre, die Hauptwege 30 Polizeimannschaft Regensburg, an Magistrat Regensburg, 26.7.1905. Zum Folgenden auch: Polizeimannschaft Regensburg, an Magistrat Regensburg, 7.3.1906; Regierung der Oberpfalz an Magistrat Regensburg, 22.6.1908; Magistrat Regensburg, an Regierung der Oberpfalz, 1908 (alle in: Magistrat Regensburg: Dienst- und Gehaltsverhältnisse der Schutzmannschaft, 1899–1926, StAReg, ZR I 10819).
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zur Altersversorgung.31 Für einige Polizeidiener endete der Dienst mit Pensionierung, auch wenn das Verhältnis zu den anderweitig aus dem Dienst Ausgeschiedenen kaum exakt zu bestimmen ist, da Pensionierungsangelegenheiten regelmäßiger dokumentiert wurden.32 Im Juni 1813 legte das bayerische Staatsministerium des Innern eine monatliche Normalpension für Polizeirottmeister (zwanzig Gulden) sowie für gemeine Polizeisoldaten (zehn Gulden) fest. Diese Regelung sollte bei jedem Polizeidiener Anwendung finden, der zwanzig Dienstjahre (unter Berücksichtigung der Militärzeit sowie Zeiten in anderen Diensten des Staats) verbracht hatte und bei ärztlichem Attest und Bezeugung des Vorgesetzten ohne eigenes Verschulden dienstunfähig geworden war. Bei Dienstunfähigkeit vor Erreichen der Mindestdienstzeit war die Pension zu reduzieren. Bei einer Dienstzeit von unter zwei Jahren sollte keine Pension gewährt werden, es sei denn, es liege ein „Militärvorleben“ vor. Eine Erhöhung der Normalpension war nur zulässig, wenn während des Diensts eine Verstümmelung oder Vergleichbares eintrat und der Polizeidiener fortgesetzter fremder Hilfe bedürfe.33 Diese ministerielle Regelung war Ausgangspunkt zahlreicher Pensionierungsgesuche, in denen Polizeidiener – offenkundig unter Kenntnis der Regelung – ihren Gesundheitszustand unter Beigabe von Attesten schilderten und ihre Dienstzeiten hervorhoben. Polizeidiener Rösch wollte 1816 unter Bezug des vollen Gehalts im Alter von 54 Jahren in den Ruhestand versetzt werden. Er hatte 25 Jahre Militärdienst hinter sich und diente seit sieben Jahren als Polizeidiener. Bewilligt wurden fünfzehn Gulden monatliche Pension, also ein erhöhter Satz. Die gesundheitlich zerrütteten Polizeidiener Finster 31 Für die spezifischen Regelungen bei der bayerischen Beamtenschaft vgl. Wunder, Privilegierung [1978], S. 141f.; sowie Conrad, Christoph: Vom Greis zum Rentner. Der Strukturwandel des Alters in Deutschland zwischen 1830 und 1930, Göttingen 1994, insbes. S. 109f., 237, 329–335. 32 Für England kommt Steedman, Policing [1984], S. 102f., zu dem Schluss, dass die regulär Pensionierten lange Zeit Ausnahmeerscheinungen waren. Für das Ruhrgebiet um 1900 rekonstruiert Jessen, Polizei [1991], S. 172–175, dass 38 Prozent der Polizeidiener mit Pension in den Ruhestand versetzt wurden und 18 Prozent der Tod im Dienst ereilte. 33 Dazu und zum Folgenden: Pensionierung Polizeisoldaten, 1813–1817, StAN, C2, 125; sowie Pensionierung Polizeisoldaten, 1818, StAN, C2, 136. Dieser Bestand enthält neben dem angesprochenen Schreiben der Staatsregierung über die formalen Regelungen verschiedene Pensionsanträge von Polizeidienern sowie vor allem den Schriftwechsel zwischen Polizeidirektion, Kreisregierung, Finanzdirektion, Magistrat und Generalkommission, der sich der Initiierung eines Pensionierungsverfahrens in der Regel anschloss. Dabei war über eine Bewilligung des Antrags zu entscheiden, gegebenenfalls unter Prüfung des faktischen Gesundheitszustands und der Pensionswürdigkeit des jeweiligen Polizeidieners. Es war die Höhe der Pension festzusetzen, sofern sie über den Basisbetrag hinausgehen sollte, und es waren die Auszahlungsmodalitäten festzusetzen. Die folgenden Ausführungen werfen einige Schlaglichter auf die Pensionierungsproblematik im frühen neunzehnten Jahrhundert. Die zur Illustration herangezogenen Einzelfälle entstammen dem angesprochenen Archivbestand. Auf Einzelnachweise wird daher verzichtet.
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und Helbel waren zum Zeitpunkt ihres Pensionierungsantrags 48 beziehungsweise 28 Jahre alt. Die Polizeidirektion schlug eine erhöhte monatliche Pension von fünfzehn Gulden vor, bewilligt wurde allerdings lediglich der normale Satz (zehn Gulden). Ähnlich verhielt es sich in den Fällen des 52-jährigen Polizeidieners Fuseneker oder des Polizeidieners Meister im Jahr 1818. Pensionierungsangelegenheiten liefen nicht immer reibungslos. Polizeidiener Palzer, der an verschiedenen Krankheiten litt, bat im Alter von 39 Jahren um Pensionierung. Die Polizeidirektion unterstützte das Gesuch, bat die Kreisregierung um schnelle Behandlung. Da man eine Normalpension bei Palzers vermögenslosem Zustand für zu knapp bemessen hielt, ersuchte man um Bewilligung von fünfzehn Gulden, schließlich bedürfe Palzer dauerhaft fremder Hilfe. Die Finanzdirektion verweigerte die Auszahlung, weil sich die Pensionsverordnung ihres Wissens nach auf die Gendarmerie bezog, Palzer als Polizeidiener also nicht beträfe. Die Polizeidirektion schaltete daraufhin – in der Überzeugung, die Finanzdirektion kenne die Verordnung nicht richtig – die Generalkommission ein und bat diese, die Pensionszahlung rasch durchzusetzen, „damit der kränkliche Palzer nicht von den Beschwerlichkeiten des Winterdienstes vollends aufgerieben werde“. Die Generalkommission erinnerte daran, dass sie in der Sache noch gar nicht entschieden hatte, weshalb bisher auch noch keine Auszahlung (egal in welcher Höhe) erfolgen konnte. Die Polizeidirektion drängte weiter auf eine schnelle Behandlung im Falle Palzers, „ehe der Tod ihn von seinem Posten ablöst“, und schrieb daher an den Nürnberger Generalkommissar: Der Anblick dieses Mannes wird mehr als jede nachgebrachte Schilderung ergeben, daß es grausam seyn würde, ihn zum activen Dienst noch länger anzustrengen und von diesem ausgemergelten Skelett dasjenige zu fordern, was nur ein gesunder Mann zu leisten vermag.
Währenddessen war eine (Normal-)Pension von zehn Gulden gewährt worden. Nach einer Reihe von Pensionierungen, die immer wieder die Frage der angemessenen Höhe der Pension aufgeworfen hatten, setzte das königliche Rentamt gegenüber dem Magistrat 1819 erneut die Ruhestandsgehälter fest: für Aktuare 640 beziehungsweise 420 Gulden, für Offizianten 400 Gulden, für Rottmeister 144 Gulden, für einfache Polizeidiener 120 Gulden. Sollte bisher in einzelnen Fällen zu viel gezahlt worden sein, so seien bis zum Ausgleich der Überzahlung nur zwei Drittel der Pension auszuzahlen. Diese Politik brachte einzelne pensionierte Polizeidiener in Schwierigkeiten. Der 53-jährige Rottmeister Schneider, der 25 Jahre Militär- und dreizehn Jahre Polizeidienst hinter sich hatte, klagte darüber, dass er vom Rottmeistergehalt (390 Gulden) auf ein Ruhegehalt von 144 Gulden gefallen war, „davon er offenbar mit seiner Familie nicht leben kann“. Der Bitte um Erhöhung wurde nicht stattge-
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geben.34 Das Ruhegehalt war derart knapp, dass einige Polizeidiener eine bereits gewährte Pensionierung rückgängig machten, so etwa Polizeidiener Schäfer: So dankbar ich diese Hohe Gnade anerkenne, so fällt es mir in meinen Umständen doch schwer meinen Dienst zu verlassen, weil ich gegenwärtig durchaus gar keine Beschäftigung oder Erwerb weiß, mich und meine Frau zu ernähren. Um keinen Müßiggang machen zu müßen, wäre es mir daher sehr erwünscht, wenn ich so lange, bis ich nun meinen Umständen angemessene Unterkunft finden werde, meine Dienstverrichtungen unter der Polizeiwache fortsetzen dürfte.35
Die faktisch auf 120 Gulden festgesetzte Pension wurde vom Magistrat regelmäßig erhöht, so dass die pensionierten Polizeidiener acht Zehntel ihres früheren Gehalts weiterbezogen, also 216 statt 270 Gulden.36 Die Auszahlungsmodalitäten waren freilich nicht unproblematisch. Nachdem einem Polizeidiener 1826 in Nürnberg 216 Gulden bewilligt worden waren, wies der Magistrat den Stadtkämmerer an, zuerst einmal nur den regulären Satz auszuzahlen und die zusätzlich bewilligten 96 Gulden aus der Armenkasse zuzuschießen – bis die Kreisregierung die volle Pension abgesegnet habe. Die Kreisregierung bestand in diesem wie auch in anderen Fällen allerdings auf dem regulären Satz von 120 Gulden, die aus der Kämmereikasse zu leisten waren. Der Magistrat, so teilte man mit, könne diesen Betrag aus Mitteln der Wohltätigkeitskasse aufstocken, sollte ein Polizeidiener „nach seinen individuellen VermögensVerhältnissen dann wegen zu geringer oder gänzlich mangelnder Erwerbsfähigkeit einer weiteren Unterstützungsleistung dringend bedürftig sein“. Der Magistrat wies Polizeidienern in der Folge regelmäßig eine erhöhte Pension zu – und das bedeutete stets: 120 Gulden reguläre Pension plus 96 Gulden Zuschuss aus der Armenkasse. Die Kreisregierung tolerierte das, wies aber darauf hin, dass ein Mehrbezug nicht generell, sondern nur bei drückenden Vermögensverhältnissen zu gewähren war. Ein weiteres Instrument der Loyalitätserzeugung und sozialen Distanzierung der Polizeidiener von ihrem sozialen und ökonomischen Umfeld (neben der Gewährung einer Pension nach dem Ausscheiden aus dem Dienst) war die Versorgung der Hinterbliebenen im Todesfall. Von den Pensionsregelungen für Staatsdiener sowie der Anerkennung von Witwen- und Waisenpensionen, die in Bayern um 1800 eingeführt wurden, wurde „die untere Dienerschaft, die nicht wie die Schreiber oder Akademi34 Vgl. Rentamt Nürnberg, an Magistrat Nürnberg, 16.7.1819; Magistrat Nürnberg, 2.8.1819; Kreisregierung des Rezatkreises, an Magistrat Nürnberg, 17.9.1819; Magistrat Nürnberg, 3.8.1819 (alle in: StAN, C6, 122). 35 Magistrat Nürnberg: Pensionsgesuch Polizeisoldat Paulus Schäfer, 16.3.1821, StAN, C6, 169. Der Magistrat genehmigte den Antrag auf Belassung im Dienst und hob den Pensionierungsbeschluss auf. 36 Dazu und zum Folgenden: Pensionierung der Polizeisoldaten, 1826–1833, StAN, C6, 174.
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ker eine besondere Ausbildung für die Staatstätigkeit genossen hatten“, zunächst ausgeschlossen.37 Anton Barth hielt 1821 fest, dass für die Hinterbliebenen eines Polizeidieners zwar kein förmlicher Pensionsanspruch, bestehe, Witwen und Waisen aber – wie alle anderen in dieser Lage auch – aus der Armenkasse versorgt würden. Diese Leistungen könnten ergänzt werden: Stirbt der Mann in der Ausübung des Dienstes, oder ist sein Tod unmittelbare Folge desselben; so giebt man gewöhnlich den Hinterlassenen eine grössere oder geringere, nach den Verdiensten des Verstorbenen bemessene Pension, um den Eifer im Dienste rege zu halten.38
Entsprechend waren Witwen darauf verwiesen, auf Wohlwollen zu hoffen oder aktiv eine Unterstützung zu beantragen.39 So bemühte sich die Witwe des Polizeidieners Wagner 1830 um eine Pension. Sie war zu diesem Zeitpunkt 26 Jahre alt, hatte zwei Kinder von ihrem verstorbenen Mann, der drei Jahre Polizeidiener gewesen war. Ihr wurde ein Fünftel des Gehalts, also 54 von 270 Gulden als Witwenpension gewährt. Nach der ersten Auszahlung machte Anna Wagner allerdings geltend, dass ihr laut Pensionsregularien nicht 54, sondern 78 Gulden zustünden: der fünfte Teil des Gehalts ihres verstorbenen Mannes für sie selbst und davon wiederum je ein fünfter Teil für jedes der Kinder. Sie fügte eine detaillierte Berechnung des aus ihrer Sicht ausstehenden Betrags bei und bat um dessen Auszahlung. Magistrat und Gemeindebevollmächtigte erhoben daraufhin Bedenken, ob die Berechnung überhaupt auf der Grundlage der Regeln der Pensionskasse erfolgen könne oder ob die Regelungen für sonstige städtische Bedienstete griffen. In anderen Fällen ging es darum, welches Gehalt des Verstorbenen als Berechnungsgrundlage dienen sollte: das zuletzt als Torschreiber oder das zuvor im Polizeidienst bezogene (höhere) Gehalt? Pensionsregelungen wie auch Hinterbliebenenversorgung markierten einen besonderen Status der Polizeidiener zumindest gegenüber anderen Dienstverhältnissen oder dem prekären Handwerk. Ob diese Regelungen ein Grund waren, sich bei der Polizei zu bewerben, lässt sich nicht sagen; explizit angesprochen wurde dieser Punkt in den Anstellungsgesuchen nicht. Was seitens der Behörden als Instrument der Loyalitätserzeugung und Disziplinierung gedacht und eingesetzt werden mochte, stellte für die einzelnen Polizeidiener ein Angebot dar, ihren Dienst und ihre Dienstleistung als etwas zu verstehen, das einen mittel- und langfristigen Versorgungsanspruch begründete. Die Gehalts- und Pensionsregelungen machten den Polizeidienst sozial 37 Wunder, Privilegierung [1979], S. 147f. 38 Barth, Handbuch [1821], S. 97. 39 Zum Folgenden: Magistrat Nürnberg: Pensionierung der Polizeisoldaten, 1830–1838, StAN, C6, 174.
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und ökonomisch zu einem ‚geschützten‘ Bereich, der den „Zufällen der Gewerbelotterie“ ( Jacques Rancière) entzogen war. Stetigkeit und Erwartbarkeit hinsichtlich des Einkommens über einen langen Zeitraum waren freilich nur eine notwendige, keine hinreichende Bedingung für die erfolgreiche Herauslösung der Polizeidiener aus dem Publikum. Distanzierung musste nicht zwingend die dauerhafte Etablierung eines Einkommensunterschieds bedeuten. Die Pension als solche mochte zwar einen besonderen Status des Polizeidiensts anzeigen, in Subsistenzperspektive bedeutete ihre Höhe jedoch oft ein (ökonomisches) Zurückfallen der pensionierten Polizeidiener oder ihrer Witwen in jene Verhältnisse, aus denen sie aufwändig herausgelöst werden sollten und wurden. Distanzierung war bis zu einem gewissen Punkt eher ideologisches als materielles Programm und zudem nicht zwingend auf Dauer angelegt, sondern umkehrbar. Paradoxerweise konnten Schulden, deren Möglichkeit soziale Nähe anzeigte, weil man sich unter Seinesgleichen etwas lieh, zur Stabilisierung eines Abstands im Lebensstandard beitragen.
4.4 Verschuldung und Kreditlosigkeit Eine wesentliche Voraussetzung für die Distanzierung der Polizeidiener von ihrer Herkunft und ihrem Umfeld, war ihre Herauslösung aus den etablierten Kreditnetzwerken der ‚kleinen Leute‘, in die sie als ehemalige Handwerker, Dienstboten usw. selbstverständlich eingebunden waren. Das war umso bedeutsamer, als dass Kreditnetzwerke in der Regel nicht von einem Geflecht sozialer Beziehungen und Verpflichtungen zu trennen waren.40 Etablierte Bindungen zu kappen und neue Abhängigkeiten zu schaffen: Das war seitens der Magistrate das zentrale Ziel von Schuldenverbo40 Die jüngere Forschung zu Klein- und Kleinstkrediten betont diese Zusammenhänge ausdrücklich. „Im Kreditverhältnis“, so heißt es bei Suter, Mischa: Jenseits des „cash nexus“. Sozialgeschichte des Kredits zwischen kulturanthropologischen und informationsökonomischen Zugängen, in: WerkstattGeschichte 53 (2009), S. 89–99, Zitat: S. 90–92, „werden Aussichten und Erwartungen abgewogen, während Wahrnehmung und soziale Konvention über den Austausch von Ressourcen entscheiden. Die verpflichtende Bindung von Gabe und Schuld wird in Kreditbeziehungen wirksam gemacht. Doch zugleich öffnet der Kredit als riskante Vorleistung auch Raum für Unwägbarkeiten. […] Kredit erscheint als ein Medium von agency ebenso wie als Instrument zur Schaffung von Abhängigkeit, zeigt sich als Medium, das Sozialkontrolle einzuebnen wie auch aufzubauen vermochte. Ein wiederholtes Umschichten, Stunden und ein partieller Erlass von Schulden gehörten zur moralischen Ökonomie, die ökonomische und politische Abhängigkeiten begründete.“ Für eine detaillierte Auseinandersetzung mit dem Problem des Kredits aus sozial- und alltagsgeschichtlicher Sicht vgl. auch: Lipp, Carola: Aspekte der mikrohistorischen und kulturanthropologischen Kreditforschung, in: Schlumbohm, Jürgen (Hg.), Soziale Praxis des Kredits: 16.–20. Jahrhundert, Hannover 2007, S. 15–36; Muldrew, Craig: The Economy of Obligation. The Culture of Credit and Social Relations in Early Modern England, London und Basingstoke 1998.
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ten und Kreditlosigkeitserklärungen. Die Nürnberger Polizeidirektion etwa veröffentlichte am 10. Oktober 1810 im Wochenblatt und zwei Tage später im Intelligenzblatt des Pegnitzkreises eine Erklärung der Kreditlosigkeit von Polizeidienern. Darin hieß es: Da das Gehalt der Polizeisoldaten zu deren ordentlichen Auskommen hinreicht, somit selbige, ohne Schulden machen zu müssen, ihre Bedürfnisse bar bezahlen können, so wird Jedermann erinnert, keinem Pol.Soldaten ohne Vorwissen und Genehmigung des Unterzeichneten etwas zu borgen, weil weder auf den Sold des Pol.Dieners Beschlag gelegt, noch an dessen Montierungs-Stücke sich gehalten werden kann.41
Diese Einschätzung teilten Polizeidiener sicher nicht, und der Umstand, dass sie regelmäßig Schulden machten, spricht auch eine andere Sprache, wenn man nicht pauschal Verschwendungssucht unterstellt. Die Kreditlosigkeitserklärung war entsprechend nur bedingt wirksam. So teilte das Nürnberger Stadtgericht der dortigen Polizeidirektion Ende Mai 1813 mit, man möge ein Drittel des Gehalts von Polizeidiener Moritz so lange einbehalten, bis eine sich aus Unterhaltszahlungen für ein uneheliches Kind ergebende Schuld von achtzehn Gulden gegenüber einer Einwohnerin Burglengenfelds getilgt sei. In seiner beigefügten Aussage wies Moritz darauf hin, „wie wenig ein Polizeidiener von seinem Gehalt etwas [erübrigen] kann“. „Dennoch“, so schrieb er, „will ich mir einen monatlichen Abzug von 2fl zur Befriedigung der Lengenfelderin gefallen lassen, deren Forderung von 18fl ich aus Liebe zum Frieden anerkenne, ob ich gleich dagegen gegründete Einwendungen vorbringen könnte.“42 Die Polizeidirektion bekräftigte ihre Position in Sachen Kreditlosigkeit von Polizeidienern gegenüber dem Stadtgericht erneut, da deren Sold so bestimmt nach ihren dringendsten Bedürfnissen abgemessen ist, daß durch jede Verkürzung die Subsistenz des Mannes und folglich auch das Beste des öffentlichen Dienstes offenbar leiden muß. Der Polizei-Soldat ist durch öffentliche Bekanntmachungen für creditlos erklärt, entzieht man ihm daher einen Theil seines unentbehrlichen Einkommens, so wird er gezwungen auf unredliche Weise sich zu entschädigen, wozu ihm seine Funktionen so mancherlei verführerische Gelegenheiten darbieten.43
Das Stadtgericht machte geltend, von einer entsprechenden Verordnung überhaupt nicht offiziell in Kenntnis gesetzt worden zu sein (und im Regierungsblatt auch nichts Derartiges gelesen zu haben). Vor allem aber zog das Gericht in Zweifel, ob Kredit41 Polizeidirektion Nürnberg: Kreditlosigkeit der Polizeisoldaten, 10.10.1810, StAN, C2, 117. 42 Stadtgericht Nürnberg, an Polizeidirektion Nürnberg, 22.5.1813, StAN, C2, 117. 43 Polizeidirektion Nürnberg, an Stadtgericht Nürnberg, 22.5.1813, StAN, C2, 117.
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losigkeitserklärungen auch dann griffen, wenn es – wie im vorliegenden Fall – um Alimente für ein uneheliches Kind ging. Eine solche Praxis wäre problematisch, wenn nicht zugleich der Staat oder der Stadtkämmerer die Alimentierungsverpflichtung übernähme. In anderen Fällen wäre eine Anwendung von Regelungen zur Kreditlosigkeit aber denkbar.44 Die Polizeidirektion bemühte sich in der Folge darum, ihre Linie durchzusetzen, und erläuterte gegenüber der Königlichen Generalkommission: „Mehrfältige Erfahrungen haben bewiesen, daß der Sold eines Polizeisoldaten schlechterdings nicht verkürzt werden darf, wenn nicht der betreffende Polizeisoldat an seiner nothdürftigsten Subsistenz leiden, und der Dienst gefährdet werden soll.“45 Aktuell bezögen Polizeidiener im Jahr 240 Gulden, zuzüglich dreißig Gulden Monturgeld. Das sei zwar knapp bemessen, aber ein guter Haushälter könne damit ohne Schulden bestehen; daher auch die Bestimmung über die Kreditlosigkeit. Ein Verbot des Schuldenmachens sei allerdings, und damit ging die Polizeidirektion von einer paternalistischen zu einer sicherheitspolitischen Argumentation über, auch ein dienstliches Erfordernis. So scharf auch die Aufsicht auf die Polizeisoldaten ist, so kann er doch einer gewissen Selbständigkeit nicht ganz entzogen werden, und die Mißbräuche und deren Folgen lassen sich nicht berechnen, welche entstehen müssen, wenn die Polizei-Soldaten Schuldner der Bürger werden.46
Die Anrufung des Polizeidieners als eines angesichts des knapp kalkulierten Gehalts idealerweise guten Haushälters wie auch die Beobachtung, dass er einer gewissen Selbständigkeit nicht ganz entzogen werden könne, lassen sich als Anknüpfungspunkte für die Hervorbringung eines – aus bürgerlicher Perspektive – rationalen Subjekts interpretieren, das zwar auch, aber eben nicht nur durch äußere Vorgaben und Zwänge zu einem solchen Subjekt wurde. Der Alltag der Polizeidiener war schließlich durch die notwendige Gewährung von Ermessensspielräumen und das ebenso notwendige selbsttätige Aktivwerden gekennzeichnet. Aus pragmatischen Gründen konnte man einen Polizeidiener gar nicht immer und überall überwachen; und aus prinzipiellen Gründen durfte das auch nicht geschehen, wollte man nicht die Dienstausübung behindern (in einem späteren Kapitel wird das ausführlich diskutiert). Die Kalkulation des Gehalts, so ließe sich zuspitzen, versetzte die Polizeidiener effektiv in eine Lage, in der sie gezwungen waren, sich – auf dem Weg der Haushaltung – Eigenschaften und Verhaltensweisen anzutrainieren, die für die Dienstausübung erforderlich waren. Das Verbot, Schulden zu machen, und damit der Zwang, mit seinem knapp 44 Vgl. Stadtgericht Nürnberg, an Polizeidirektion Nürnberg, 14.6.1813, StAN, C2, 117. 45 Polizeidirektion Nürnberg, an Generalkommission Nürnberg, 10.7.1813, StAN, C2, 117. 46 Ebd.
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bemessenen Gehalt auszukommen, so erläuterte die Nürnberger Polizeidirektion in ihrer bereits zitierten Erklärung der Kreditlosigkeit von Polizeidienern, habe die Leute bisher „in guter Ordnung gehalten“. Nun kamen aber doch einige Fälle vor, in denen Polizeidiener in Haftung gekommen seien – als Väter unehelicher Kinder. Die Polizeidirektion ging allerdings weiter davon aus, dass die für diesen Fall erlassenen Regelungen (Gehaltsabzug zwecks Deckung der gerichtlich festgestellten Alimentierungspflicht) lediglich auf „Staatsbeamte“ anzuwenden waren, nicht auf Polizeidiener. Der Pol.soldat ist kein Staatsdiener. Er kann zu allen Zeiten entlassen werden, und hat keinen Anspruch auf Entschädigung, Pension oder Quieszenz-Gehalt. Er heißt nicht bloß Soldat, sondern er ist es auch, wenn er gleich in der Regel nicht gegen Battailn geführt wird. Er widmet seine ganze Existenz seiner nüchternen undankbaren Bestimmung, und sein Loos ist wirklich nicht beneidenswerth. Die Regierung bezahlt ihn für seine Functionen gerade so mäßig, als es für seine dringenden Bedürfnisse nothwendig ist. Sie entzieht ihm alle anderen Erwerbsquellen.47
Im September 1813 schuf schließlich eine Königliche Verordnung Klarheit. Da der Gehalt der Polizei-Soldaten jeden Falls so zugemessen ist, daß derselbe nur zur nothwendigen Subsistenz hinreicht, und daher durch Einziehung eines Theiles desselben der Dienst leiden würde; so ist verordnet, daß bei den gegen Polizei-Soldaten eingeklagten Privat-Forderungen weder eine Beschlagnahme auf ihre Montierungs-Stücke, noch ein Abzug an ihrem Solde statt finden, sondern die Kläger lediglich an das allenfallsige übrige Vermögen der Beklagten gewiesen werden.48
Die Diskussion um die Kreditlosigkeit von Polizeidienern bewegte sich innerhalb eines Rahmens, der ihren prekären ökonomischen Status auf Subsistenzniveau anerkannte. Das hatte allerdings keine Bemühungen um Verbesserung der finanziellen Lage mittels Gehaltserhöhung zur Folge, sondern führte zu Vorgaben hinsichtlich des Umgangs mit dem Einkommen, das als zwar kärglich, aber ausreichend definiert wurde. Dass diese Definition problematisch war, zeigt sich daran, dass kleine Kredite offenkundig zum Alltag der polizeidienerlichen Ökonomie des Notbehelfs gehörten, in der dem Polizeidiener alle anderen Erwerbsquellen entzogen und Nahrungssorgen nie weit entfernt waren. Auch das wurde im Grundsatz anerkannt. Die Kreditlosigkeitserklärungen zielten schließlich – in Intention und Wirkung – nicht darauf, die kleine Geldleihe, Ratenzahlungen oder dergleichen per se zu verunmöglichen, sondern
47 Polizeidirektion Nürnberg, an Generalkommission Nürnberg, 10.7.1813, StAN, C2, 117. 48 Zitiert nach Barth, Handbuch [1821], S. 100f.
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wollten sie lediglich in geordneten, vor allem: überschaubaren Bahnen halten.49 Indem automatische Pfändungen und Gehaltsabzüge ausgeschlossen wurden, wurde die Kreditwürdigkeit der Polizeidiener minimiert und den potentiellen Gläubigern signalisiert, dass Polizeidiener als Schuldner nur über wenig Sicherheiten verfügten, eine zurückhaltende Kreditvergabe mithin geboten sei. Indem die Kreditlosigkeitserklärungen darüber hinaus einen Zusammenhang zwischen Verschuldung und effektiver Dienstausübung herstellten, zeigten die Beteiligten ein Gespür für den gegenseitig verpflichtenden und Abhängigkeiten begründenden Charakter von Schulden, der der Besonderheit von Kreditverhältnissen in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts geschuldet war: Man nahm schließlich keinen anonymen Kredit bei einem Bankhaus auf, sondern wurde Schuldner der Bürger. Schulden blieben Dauerthema. Um das zu verdeutlichen, möchte ich hier etwas ausführlicher auf die Finanzlage des Nürnberger Polizeidieners Johann Caspar Neudecker eingehen, die in den 1820er Jahren Gegenstand einer behördlichen Prüfung war. Neudecker, das wurde bereits an anderer Stelle angeführt, hatte sich 1817 erfolgreich für den Polizeidienst in Nürnberg beworben, um „ein besseres Auskommen“ zu sichern. Vermögend war er bereits zu diesem Zeitpunkt nicht, hatte er doch in seinem Anstellungsgesuch vermerkt, er sei darauf angewiesen, „einen Freund [zu] finden“, der ihm „so viel vorstreckt, als [er] zur Beschaffung der nothwendigen Uniformstücke gebrauche“. Während seiner Probezeit betrug er sich gut und erledigte alle Aufträge. Defizite waren entschuldbar, denn er war „von Jugend auf Soldat“ und „noch mit dem Dienst eines Pol.-Soldaten sowie mit dem hiesigen Localgang unkundig, und möchte hierin der Grund liegen, daß er bei allen Verrichtungen etwas Ängstlichkeit und nicht die gehörige Kraft bezeugt.“ Zu Dienstgeschäften, die eine gewisse Gewandtheit erfordern, dürfte er, so die Einschätzung der Behörde, nicht zu gebrauchen sein. Gutwilligkeit und die seit seiner Jugend erlernte Gewohnheit, Anweisungen zu folgen, glichen das aber aus.50 Neudeckers Schuldendrama begann im Mai 1824, also nach einigen Jahren reibungslosem Polizeidienst, als ein Bäckermeister den Magistrat in Kenntnis darüber setzte, dass er Neudecker vor einiger Zeit sechs Gulden geliehen habe und die vereinbarte Rückzahlung bisher nicht erfolgt wäre. Er bat, den Betrag vom nächsten 49 Für eine Rekonstruktion der Kreditwirtschaft der ‚kleinen Leute‘ vgl. Benson, John: The Penny Capitalists. A Study of Nineteenth-century Working-class Entrepreneurs, Dublin 1983, S. 89–97; Führer, Karl Christian: Pawning in German Working-Class Life Before the First World War, in: International Review of Social History 46 (2001), S. 29–44; Suter, Mischa: Rechtstrieb. Schulden und Vollstreckung im liberalen Kapitalismus 1800–1900, Konstanz 2016; Tebbutt, Melanie: Making Ends Meet. Pawnbroking and Working-class Credit, Leicester 1983. 50 Vgl. Anstellungsgesuch Johann Caspar Neudecker. 23.5.1817, StAN, C6, 181. Zum Folgenden: Magistrat Nürnberg: Schulden Polizeisoldat Johann Caspar Neudecker, 1824–1827, StAN, C6, 170.
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Gehalt einzubehalten und ihm auszuzahlen. Neudecker bestätigte den Sachverhalt, gab an, die Schulden momentan nicht begleichen zu können, war mit einem Gehaltsabzug Ende des Monats aber einverstanden. Wenig später tauchte erneut ein Schuldschein auf. Diesmal hatte Neudecker einen noch ausstehenden Betrag von wiederum sechs Gulden für einen Säbel nicht, wie vereinbart, bezahlt. Der Gläubiger ersuchte darum, monatlich einen Gulden von Neudeckers Gehalt einzubehalten und ihm auszuzahlen. Auch diesen Sachverhalt bestätigte der Polizeidiener, und er brachte seine Dankbarkeit darüber zum Ausdruck, dass man sich mit einem Gulden pro Monat, den er gerne gewähren wolle, begnügte. Ende Juli wurde im Magistrat eine Auflistung aller Schuldsachen und Abzüge Neudeckers erstellt. Anders war der Überblick wohl nicht zu wahren. Die Liste war beträchtlich. Über das gesamte Jahr verteilten sich immer wieder ausstehende und eingehaltene Beträge von jeweils fünf oder sechs Gulden. Neudecker hatte und machte regelmäßig Schulden beim Bäcker, Schneider, Wirt und Metzger. Insgesamt wurden zwischen Mai und November 87 Gulden zur Schuldentilgung vom Gehalt einbehalten, bei einem monatlichen Gehalt von 22,5 Gulden. Neudecker wurde nun (unter Androhung von Arrest für den Fall einer unvollständigen Angabe) angewiesen, alle Schulden aufzulisten und anzugeben, ob und wie er zum Schuldendienst in der Lage sei. Im Januar 1825 kamen 42 Schuldenposten zusammen, deren Summe sich – bei einem Jahresgehalt von 270 Gulden – auf 220 Gulden belief. Die meisten Posten bewegten sich zwischen einem und vier Gulden. Kein Einzelposten überschritt zehn Gulden. Gleichzeitig machte Neudecker weiter Schulden. Zur Erklärung seiner Schuldenlast gab er an: Seine Frau war vor vier Jahren gestorben. Er wiederverheiratete sich mit einer Polizeidienerwitwe. Diese brachte drei Kinder zur Erziehung mit in die Ehe; und „anstatt Geld, Schulden“, die sie ihm verschwieg, andernfalls er sie nicht geheiratet hätte. Dann kam ein viertes Kind. Bei seiner Entlohnung konnte er steigende Haushaltskosten und das gleichzeitige Bedienen der Gläubiger nicht leisten. Er sei immer ein sparsamer Mann gewesen, „dem übermäßigen Trunke nicht ergeben“. Abschließend bat er den Magistrat, ihm ausreichende Bezüge zu lassen und die monatlichen Abzüge auf vier Gulden zu begrenzen. Zweimal waren ihm sechzehn Gulden abgezogen worden und das brachte ihn in erhebliche Schwierigkeiten, hatte er doch kein Holz mehr und war daher gezwungen, sich erneut etwas zu leihen. Er wüsste wohl, dass er keine Schulden mehr habe machen dürfen, aber die Not trieb ihn dazu. Bei einem geringeren Gehaltsabzug, so sein Versprechen, werde er das in Zukunft aber vermeiden. Neudecker kam aus den Schulden nicht heraus. Eine Auflistung vom 22. Januar 1825 ergab 55 Posten mit insgesamt 290 Gulden. Immer wieder wurden kleine Beträge bedient, teilweise hälftig aus der Stadtkasse, teilweise über die Gewährung von Vorschüssen. Der vermeintliche Widerspruch – Kreditlosigkeitserklärungen einerseits, teilweise Übernahme des Schuldendiensts der Polizeidiener andererseits – deutet darauf hin, dass es den Behörden nicht um die Zerschlagung der lokalen Kreditnetz-
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werke, sondern um deren punktuelle Kontrolle ging. Vielleicht spielten auch Überlegungen eine Rolle, dass jemand wie Neudecker – wenn die Verschuldung erst einmal ein solches Maß angenommen hatte – im Kleinen too big to fail war; ein Totalausfall des Schuldendiensts zumindest aber viele Einwohner negativ getroffen hätte.51 Kurze Zeit später tauchten Gerüchte auf, wonach Neudecker beim Kartenspiel heftig verloren haben sollte, und es wurde untersucht, ob das die Erklärung der Schulden war. Neudecker hatte in einem Bierlokal tatsächlich um einen erheblichen Betrag gespielt – und verloren. Der Polizeidiener bestritt das nicht, relativierte aber seine Verluste (eher fünf bis sechs Gulden als dreißig). Seit diesem Unglück habe er „keine Karte mehr berührt“. Vor Neudecker lagen noch zwei Jahre voller Schulden. Am 17. März 1827 vermerkte der Magistrat, sein Polizeidiener sei „in Dürftigkeit verstorben“. Neudeckers Beerdigung wurde „vorschussweise“ aus der Armenkasse beglichen. Polizeidiener Neudecker mag ein besonderer Fall gewesen sein. Unbestreitbar verschwand das Problem der Verschuldung von Polizeidienern aber nie gänzlich. Die Warnungen und Verhaltensmaßregeln, die sich in Handbüchern des frühen zwanzigsten Jahrhunderts finden, scheinen die bisher skizzierten Entwicklungslinien und Zusammenhänge dann schließlich zu bündeln: Der Beamte muß sich mit seinem Einkommen einzurichten verstehen; gerät er jedoch ohne sein Verschulden durch ernste und langwierige Krankheitsfälle in seiner Familie, durch Sterbefälle usw. in Not, so hat er sich unter wahrheitsgetreuer Darlegung der Verhältnisse an seine Behörde zu wenden und sie um eine Unterstützung zu bitten. Unter keinen Umständen darf er sich an Personen wenden, mit denen er dienstlich in Berührung kommt, wie Wirte und Gewerbetreibende seines Bezirks. Leichtsinniges Schuldenmachen wird disziplinarisch bestraft, leichtsinnig ist es stets, wenn es nicht in Folge einer völlig unverschuldeten Notlage geschieht.52
Noch einmal kommt hier zum Ausdruck, was der eigentliche Grund der Schuldendebatte war: die mit Schulden- und Kreditverhältnissen einhergehenden Abhängigkeiten, die die angestrebte Distanzierung von Polizei und Polizierten zu unterlaufen drohten. Alles, so scheint es, was vergesellschaftende Wirkung hatte, also die sozialen Bindungen der Beteiligten stärkte und stabilisierte, stand unter Verdacht, wenn Polizeidiener involviert waren. Für die Polizeidiener wurden Beziehungen, die bis 51 Derartige Überlegungen finden sich jedenfalls in Diskussionen zur Zwangsvollstreckung von Schulden in der ländlichen Schweiz (vgl. Suter, Rechtstrieb [2016], S. 85). 52 Bartels, Ludwig: Polizeilehrbuch. Zum Unterrichte für die Aus- und Fortbildung von Polizeibeamten, Berlin 1913, S. 12, ähnlich auch Geyger, Arthur: Der Polizeidienst. Ein Hilfs- und Nachschlagebuch für preußische Polizeibeamte. Unter Mitwirkung hervorragender Fachmänner, 2., überarbeitete Auflage, Berlin 1909, S. 283.
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dato selbstverständlich waren, zum Problem (gemacht). Das führte ihnen vor Augen, dass ein gewisses Maß an Ent-Bindung und eine Neuformatierung ihrer sozialen Einbettung wesentlicher Bestandteil der Polizeidienerwerdung war. In der zitierten Passage aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert zeigt sich noch ein weiterer Aspekt: die Erzeugung einer zunehmenden Selbstbezüglichkeit von Polizeidienern und Polizeibehörden. In der Not solle der Polizeidiener unter wahrheitsgetreuer Darlegung der Verhältnisse an seine Behörde wenden und sie um eine Unterstützung bitten, nicht aber an jene, mit denen er dienstlich in Berührung kommt, wie Wirte und Gewerbetreibende seines Bezirks. Innerhalb der allgemeinen Tendenz einer sozialen Distanzierung verwandelten sich die Kreditnetzwerke der ‚kleinen Leute‘, in die Polizeidiener lange wie selbstverständlich verstrickt waren, in ein innerbehördliches Unterstützungssystem unter Ausschaltung von Freunden, Bekannten, Nachbarn usw.
4.5 Geschenke, Trinkgelder, Bestechung Die Tendenz, Polizeidiener zumindest in finanzieller und ökonomischer Hinsicht von Freunden, Bekannten, Nachbarn usw. abzuschneiden, betraf neben der Frage, ob und bei wem man Schulden machen konnte, ungezählte kleine Gesten der Dankbarkeit und Gegenseitigkeit, die nun immer sofort darauf zu prüfen waren, wann ein Geschenk oder Trinkgeld zur Bestechung wurde. Der Austausch von Geld und Gaben zwischen Polizeidienern und Polizierten gehört zu den intimsten wie auch problematischsten sozialen Gesten. Die Grenzen zwischen (halb-)offiziellen Gebühren, Trinkgeldern und Korruption waren fließend. Was der eine als Bestechungsversuch interpretierte, wollte der andere als Missverständnis verbucht haben. Die Geld-undGaben-Kommunikation kannte unterschiedliche Formen, beruhte aber doch auf einer eingespielten, gegenseitigen Praxis von Gefälligkeiten, die, ebenso wie Kredit und Geldleihe, immer auch ein erhebliches Maß positiver Beziehungen zwischen Polizei und Polizierten dokumentieren. Der Gabentausch, das hat Marcel Mauss bereits 1923 betont, ist eben nur scheinbar eine freiwillige, einseitige Angelegenheit. Erkennbar sei vielmehr der „sozusagen freiwillige, anscheinend selbstlose und spontane, aber dennoch zwanghafte und eigennützige Charakter dieser Leistungen. Fast immer nehmen sie die Form des Geschenks an, des großzügig dargebotenen Präsents, selbst dann, wenn die Geste, die die Übergabe begleitet, nur Fiktion, Formalismus und soziale Lüge ist und es im Grunde um Zwang und wirtschaftliche Interessen geht.“53 Gaben verpflichten. Sie verpflichten zur Annahme und zur Erwiderung; und sie begründen eine spezifische Art von Darlehen und Kreditbeziehung, denn die 53 Mauss, Marcel: Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, Frankfurt/M. 1984 [1923], S. 18; für eine kluge Rekonstruktion des Gabeparadigmas vgl. Gode-
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Erwiderung erfolgt stets zeitversetzt. Geschenke unter Nachbarn und Freunden, Einladungen in Wirtshäusern usw. waren eingespielte Praxis. Seit Jahrhunderten existierte „ein fortwährendes Wechselspiel zwischen Geschenksystemen und dem Bereich des geschäftsmäßigen Kaufens und Verkaufens“.54 Unbestritten war, dass Polizeidiener sich nicht bestechen lassen durften. Gleichzeitig wurde aber immer wieder auch zur Sprache gebracht, dass ein zu geringes Gehalt die Ursache war, wenn Polizeidiener sich auf andere Weise „versorgten“.55 Die sich im Dienstalltag reichlich bietenden Gelegenheiten bei nicht immer üppigem Gehalt, so Gustav Zimmermann, könnten die Polizeidiener zur Bestechlichkeit verleiten. Die „Unsitte“, Gebühren und Strafen vor Ort selbst einzukassieren, begünstigte das nur noch. Überhaupt sei es abzulehnen, die Bürger für Dienste bezahlen zu lassen, denn das „vermehrt das Gehässige, was ohnedies die polizeilichen Thätigkeiten verfolgt, und scheucht die Bürger vom Gebrauch der Polizei weg“.56 Das Eintreiben von Gebühren samt der in diesem Zitat zum Ausdruck kommenden Befürchtungen hinsichtlich bestimmter, schädlicher Folgen lässt sich, greift man auf die Überlegungen von Marcel Mauss zurück, als eine Art erpresste (freilich nicht im spezifisch justiziablen Sinn) Gabe interpretieren. Unmut folgte hier möglicherweise daraus, dass diese Form der Gabe in einer Weise obligatorisch wurde, die über die von Mauss benannte moralische Verpflichtung hinausging. Damit unterschieden sich kassierte Gebühren von formal freiwilligen Gaben, die dem einen oder anderen Polizeidiener – unerklärlicherweise – zu Hause dargebracht wurden. So zeigte ein argloser Polizeidiener 1847 beim Nürnberger Magistrat an, dass seine Frau ihm vom Besuch einer „Mannsperson“ berichtete, die sich nach ihm erkundigte und beim Gehen, zunächst unbemerkt, eine versiegelte Packung zurückließ, ohne deren Bestimmung zu erläutern. Dem Polizeidiener war das nicht geheuer. Er meldete den Vorfall und übergab dem Magistrat das Päckchen zur Prüfung. Die unter Einbeziehung des Apothekers eingeleitete Untersuchung ergab: Die sich im Päckchen befindende zuckerhaltige, alkoholische Flüssigkeit war nicht giftig. Es handelte sich um so genannten „Likör“, der nun der Armenpflege übergeben werden sollte.57 Ähnliches trug sich auch in anderen Fällen zu, wenn Polizeidiener ein (vermeintliches) Vergehen beobachteten, unmittelbar einschritten und damit Reaktionen der Betroffenen hervorriefen, die – je nach Perspektive – die Grenze zum Bestechungsversuch überschritten oder eben nicht. Als sie vorschriftsmäßig „nicht in ihrer Dienst-
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lier, Maurice: Das Rätsel der Gabe. Geld, Geschenke, heilige Objekte, München 1999; Hénaff, Marcel: Der Preis der Wahrheit. Gabe, Geld und Philosophie, Frankfurt/M. 2009. Davis, Natalie Zemon: Die schenkende Gesellschaft. Zur Kultur der französischen Renaissance, München 2002, S. 69. Instruktion Polizeydiener zu München [1800], S. 41f. Zimmermann, Polizei [1845–1849], S. 676; vgl. auch: ebd. S. 1117–1119. Polizeisenat Nürnberg: Bestechung der Beamten, 26.7.1847, StAN, C7/I, 2745.
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sondern Civil-Kleidung“ auf Vigilanz unterwegs waren, so die Nürnberger Polizeidiener Weber und Helbig, sahen sie, wie jemand – verbotenerweise – mit seinem Hund ins Wirtshaus ging. Sie folgten dem Mann und machten ihn auf sein Vergehen aufmerksam. Daraufhin rief der Hundebesitzer dem Wirt zu, er zahle das Bier der Polizeidiener. Weber und Helbig lehnten nach eigener Aussage ab und zahlten selbst, worauf sich der Beschuldigte angeschlichen und einem der Polizeidiener Geld in die Hand gedrückt habe. Die ehrbaren und geduldigen Polizeidiener wiesen ihn darauf hin, diesen nun schon zweiten Bestechungsversuch zur Anzeige bringen zu müssen. Daraufhin bemerkte der verhinderte Spender, er tue das doch nicht wegen der Anzeige, sondern er wollte einfach nur einen ausgeben. Das Verfahren gegen den spendablen Hundebesitzer wurde eingestellt, weil er sich letzten Endes darauf berief, nicht gewusst zu haben, dass die beiden – in Zivil und, wie Weber angab, ohne sich auszuweisen – Polizeidiener waren. Zugleich erging eine Weisung an die Polizeimannschaft, die bisherige Regelung, wonach die Legitimationskarten nur auf Verlangen vorzuzeigen sind, zu überdenken. Das Geld, das Weber und Helbig zugesteckt worden war, wurde zurückgegeben.58 Zugestecktes Geld bedeutete also nicht automatisch Bestechung beziehungsweise wurde nicht automatisch als solche bestraft. Es bedurfte nur einer plausiblen Erzählung, die den Akt der Gabe in einen alternativen Kontext rückte. Ähnlich gestaltete sich das, als sich ein Nürnberger Polizeidiener, während er seiner Pflicht als Fleischbeschauer nachkam, plötzlich mit einigen Geldstücken in der für ihn bestimmten Tüte konfrontiert sah, die er als Angebot des Fleischers an ihn interpretierte. Der Metzger sagte aus, es habe sich um den Lohn für den Gesellen gehandelt, den er diesem übergeben wollte, dann aber irgendwie im Gespräch vergaß. Wie ich an die Waage kam, da zeigte mir Polizeisoldat Dorn einen Zettel, welcher auf einer Portion Fleisch aufgeklebt war und veranlaßte mich, ihm zu sagen, welches Gewicht auf diesem Zettel angegeben sei. Ich nahm den Zettel zur Hand, sagte dem Dorn das aufgezeichnete Gewicht und mag in Gedanken das eingewickelte Geld auf die Waage gelegt haben.59 58 Magistrat Nürnberg: Anzeige gegen den Holzhändler Volklein dahier wegen Bestechung, 20.2.1856, StAN, C7/I, 2745. Im Wirtshaus einen ausgeben, sich freihalten zu lassen – das war der Klassiker, auf den auch spätere Handbücher regelmäßig zu sprechen kamen (vgl. zum Beispiel: Gaißert, E.: Leitfaden für Polizeibeamte in Frage und Antwortform. Für den Unterricht in Polizeischulen und Polizeifortbildungsschulen sowie zum Selbstunterricht für Beamte der Kriminal- und Exekutivpolizei, Berlin 1909, S. 18–20). Der Polizeibeamte, so Bartels, Polizeilehrbuch [1913], S. 13, dürfe sich nicht dazu verleiten lassen, „von Personen, mit denen er dienstlich zu tun hat, Getränke anzunehmen, wodurch er sich selbst die Hände bindet“. 59 Magistrat Nürnberg: Anzeige gegen Metzgermeister Moelsner wegen Bestechung, 8.9.1856, StAN, C7/I, 2745.
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Der Polizeidiener könnte nicht behaupten, dass ihm das Geld gezeigt oder irgendetwas besprochen wurde. Auch dieses Verfahren wurde „wegen ungenügenden Beweises“ eingestellt, wenngleich der Beschuldigte „wegen des immerhin aber bestehenden dringenden Verdachts“ die Untersuchungskosten zu tragen hatte. Andere Fälle waren eindeutiger. Der Nürnberger Polizeidiener Frank gab 1853 im Rahmen einer Untersuchung an, ein gewisser Johann Droner sei kürzlich verhaftet worden, nachdem er laut Aussage des Torwächters unter Angabe eines falschen Namens versucht hatte, ein Kalb ohne Zahlung der Einfuhraufschläge in die Stadt zu bringen. Dabei hätte er dem Torwächter, um eine Anzeige zu vermeiden, zunächst ein Stück Fleisch und dann Geld angeboten. Der Beklagte schob Unwissenheit hinsichtlich des zu entrichtenden Aufschlags vor. Eine Erklärung für sein Verhalten hatte er auch: [D]a ich dadurch in Verlegenheit kam, so sagte ich [dem Thorschreiber], daß ich zum Spittlerthor hineingehen würde, ohne daß ich ihm meinen Namen angab. [Ich] gab allerdings den Namen des Metzgers Stein an. […]. Meinen Namen wollte ich nicht gern angeben, weil es mir unangenehm war, in den Verdacht als Schmuggler zu kommen.60
Andernorts, beim zweiten Versuch, das Kalb ordentlich in die Stadt zu verfrachten, verstand man ihn schlicht falsch. Er nannte sich nicht fälschlich „Thoma“, sondern gab seinen richtigen Namen an, was der Schreiber falscsh gehört haben müsse.61 Den Aufschlag fürs Kalb wollte er zahlen, gleichzeitig war ihm aber daran gelegen, Unannehmlichkeiten zu vermeiden – und daher versprach er dem Thorschreiber, ihm ein 60 Magistrat Nürnberg: Anzeige gegen Johann Droner wegen Bestechung, 2.12.1853, StAN, C7/I, 2745. 61 Die polizeiliche Obrigkeit nahm „falsche Namensangaben“ ernster als man meinen könnte. Passierende hatten, so Meinert, Soldat [1807], S. 84–87, am Tor ihren wahren Namen anzugeben „doch in jedem Falle einen solchen Namen und Karakter an[zu]zeigen, der leicht zu schreiben und denkbar gebräuchlich ist, und nicht an diesem Orte auf eine zweckwidrige Art seiner Laune und seinem Witz freien Lauf lassen; ein Spas an solchen Örtern angebracht, ist immer ein sehr gemeiner Spas zur Unzeit und am unrechten Orte, und kann für den Spasmacher üble oder wenigstens unangenehme Folgen haben. […] Allerhand lose Streiche in Betreff der Namens und Karakterangaben bei Thorwachen, in Gasthöfen etc., schreiben sich größtentheils von reisenden Studenten, Kaufmannsdienern und dergleichen her, und werden anfänglich in kleinen Landstädten geübt, und sodann in größeren, in Festungen, und in Haupt- und Residenzstädten angebracht; rechtliche Personen unternehmen nie etwas, das irgend einmal nachtheilig für sie werden kann. In manchen Ländern und Provinzen, oder an manchen Örtern liegt auch die Veranlassung zu lächerlichen und absurden Angaben des Namens, Karakters etc. der Reisenden in den Wachen selbst, die aus dem ganzen Examen am Thore keinen rechten Ernst machen, oder auch wirklich so examiniren, daß der Fremde sogleich merkt, der Examinator sucht nur seine Neugierde zu befriedigen oder sich die Zeit zu vertreiben.“
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Stück Fleisch zu schicken. Geld habe er ihm nicht versprochen. Unser Kalbstransporteur endete mit 36 Stunden Arrest und der Übernahme der Verfahrenskosten. Zu ‚Missverständnissen‘ gesellten sich Trinkgelder und pekuniäre Dankesgesten, die sich in gefährlicher Nähe zum Bestechungsproblem bewegten. Trinkgelder für Boten und Diener waren seit langem üblich, ebenso für Handwerker, Gesellen, Arbeiter. Sie gaben, so schreibt Natalie Zemon Davis, „dem Arbeitgeber eine doppelte Autorität, die eine von den Regeln des Verkaufsvertrags definiert, die andere vom offenen, auf Reziprozität gerichteten Geist des Geschenks; und sie gaben der angestellten Person ein doppeltes Selbstverständnis, das eine bestimmt durch genau bemessene Arbeit, das andere durch eine Beziehung persönlichen Dienstes.“62 Waren Polizeidiener beteiligt, verkomplizierte sich die Lage. Da berichtete ein Nürnberger Polizeidiener zum Jahresbeginn 1873, er sei nachts an einem Stall vorbeigekommen, fand diesen offen, schöpfte Verdacht und ließ daher die Metzgersfrau wecken, um einen eventuellen Diebstahl festzustellen. Man stellte nichts fest, worauf die Metzgersfrau sich dennoch für die Aufmerksamkeit bedankte. Anderntags schaute er vorbei, um sich zu vergewissern, ob nicht inzwischen doch ein Diebstahl entdeckt worden wäre. Das war nicht der Fall. Die Metzgersfrau bedankte sich erneut und drängte dem Polizeidiener ein Guldenstück auf, was dieser mit dem Hinweis ablehnte, dass die nächtliche Aufmerksamkeit ohnehin die Pflicht im Polizeidienst sei. Das Landgericht erkannte auf Basis dieser Schilderung keine strafbare Tat. Das Geld sollte unter „zweckmäßiger Belehrung“ zurückgegeben werden.63 Einem anderen Polizeidiener erging es genau so, als er zu einem Diebstahl gerufen wurde und bei einer Leibes- und Haussuchung an der verdächtigen Person das Diebesgut sicherstellte. Als Belohnung wurde ihm wiederholt ein Halbguldenstück angeboten und zugesteckt. Auch hier konnte das Landgericht keine strafbare Handlung erkennen und ordnete die Rückgabe des Gelds unter Belehrung an.64 In gleicher Weise, wie bereits beim Problem von Kredit und Verschuldung gezeigt, versuchten Behörden auch in der Frage von Geschenken und Gaben, die je nach Perspektive als Gesten der Dankbarkeit, Trinkgeld, Bezahlung für eine vermeintlich zu entlohnende Dienstleistung oder als Bestechung beschreibbar waren, die finanziellen Außenbeziehungen der Polizeidiener zu regulieren und zu beschneiden. In dem Maß, wie das gelang, wechselten die Polizeidiener (nicht immer leicht und freiwillig) aus der relativ offenen, informellen Struktur der in der Welt der Handwerker, Dienstboten usw. gängigen Geld-und-Gaben-Beziehungen samt eingespielter Kreditprak62 Davis, Gesellschaft [2002], S. 83f.; vgl. auch Krajewski, Diener [2010], S. 175. 63 Magistrat Nürnberg: Anzeige gegen Metzgerfrau Becherlein wegen Bestechung, 4.1.1873, StAN, C7/I, 2745. 64 Magistrat Nürnberg: Anzeige gegen Kleidermacher Schiffmann wegen Bestechung. 10.1.1873, StAN, C7/I, 2745.
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tiken in eine zunehmend selbstreferentielle Behörde, die für Polizeidiener und Polizeimannschaft zunächst als finanzielle und ökonomische Ordnung erschien, über diesen Weg aber auch zu einer sozialen Ordnung werden konnte und sollte. Eine Ablehnung von Trinkgeldern durch die Polizeidiener selbst dürfte vor diesem Hintergrund nicht nur den Zweck gehabt haben, dem Vorwurf der Bestechlichkeit zu entgehen. Sie lässt sich vielmehr auch als Versuch interpretieren, sich von Boten, Handwerkern, Gesellen und Arbeitern zu unterscheiden, denen man gewöhnlich ein Trinkgeld gab – und dadurch „eine Beziehung persönlichen Dienstes“ (Natalie Zemon Davis) begründete. Wenn überhaupt, dann sollte eine solche Beziehung nicht mit den Polizierten, sondern mit der Behörde bestehen.
5. Wer sich einmischt
Die Herausbildung und Konsolidierung einheitlicher und eigenständiger Polizeibehörden vollzog sich unter drei Voraussetzungen, die nicht nur erheblichen Einfluss auf die Ausgestaltung der Behörden hatten, sondern zudem das Feld absteckten, auf dem Polizeidiener agieren mussten: erstens die jahrzehntelange Spannung zentralstaatlicher Zugriffe und kommunaler Selbstverwaltung in Polizeiangelegenheiten, in der unterschiedliche Interessen und Bedürfnisse zum Ausdruck kamen (die staatlichen und kommunalen Anforderungen und Erwartungen gingen mitunter weit auseinander).1 Zweitens wurde ‚Polizei‘ lange Zeit nicht als monolithische Behörde gefasst, sondern als ein Knotenpunkt innerhalb eines behördlichen Netzes. Für die Polizeidiener ergab sich daraus eine ambivalente Situation. Einerseits konnten sie ihre Interessen durchsetzen, indem sie versuchten, verschiedene Behörden gegeneinander auszuspielen, andererseits konnte sich ein Gefühl des Ausgeliefertseins und der Undurchschaubarkeit einstellen. Die Polizei war drittens nicht die einzige Einrichtung, der die Aufrechterhaltung von Ruhe, Sicherheit und Ordnung oblag. Polizeiliche Aufgaben wurden von Polizei, Militär und Gendarmerie sowie Bürgerwehren und städtischen Nacht- beziehungsweise Sicherheitswachen ausgeübt, darüber hinaus von militärischen Jägerkorps, Invalidenkorps, hauptamtlichen Gerichtsdienern, Forstpersonal, Nachtwächtern usw.2 1 Vgl. Eibach, Joachim: Konflikt und Arrangement. Lokalverwaltung in Bayern, Württemberg und Baden zwischen Reformära und 48er Revolution, in: Laux, Eberhard/Teppe, Karl (Hg.), Der neuzeitliche Staat und seine Verwaltung. Beiträge zur Entwicklungsgeschichte seit 1700, Stuttgart 1998, S. 137–162; Koch, Rainer: Staat oder Gemeinde? Zu einem Zielkonflikt in der bürgerlichen Bewegung des 19. Jahrhunderts, in: Historische Zeitschrift 236 (1983), S. 73–96; Krabbe, Wolfgang R.: Von der „guten Policey“ zur gegliederten Lokalverwaltung. Die Verwaltung deutscher Städte seit dem 18. Jahrhundert, in: Reinke, Herbert (Hg.), „... nur für die Sicherheit da?“. Zur Geschichte der Polizei im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt/M. und New York 1993, S. 158–169; Langewiesche, Dieter: „Staat“ und „Kommune“. Zum Wandel der Staatsaufgaben in Deutschland im 19. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 248 (1989), S. 621–635. Die angesprochene Spannung zeigt sich nicht zuletzt in einem begriffsgeschichtlichen Wandel. Traditionell bezog sich der Polizeibegriff auf das städtische Gemeinwesen. Erst im achtzehnten Jahrhundert wurde er auf die Landesebene übertragen. Schritt für Schritt wurde „Landespolizei“ zum Inbegriff von Polizei, während die städtische Polizei nur noch als Sonderfall, als Polizei „im engsten Sinne“, adressiert wurde (vgl. Preu, Polizeibegriff [1983], S. 31f., 53). 2 Vgl. Küther, Carsten: Räuber, Volk und Obrigkeit. Zur Wirkungsweise und Funktion staatlicher Strafverfolgung im 18. Jahrhundert, in: Reif, Heinz (Hg.), Räuber, Volk und Obrigkeit. Studien zur Geschichte der Kriminalität in Deutschland seit dem 18. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1984, S. 17–42, hier: S. 24–37; Nitschke, Verbrechensbekämpfung [1990], S. 53–57.
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Im Folgenden wird herausgearbeitet, wie sich polizeidienerliche Selbstentwürfe innerhalb eines behördlichen Wandels und im Verhältnis zu anderen als den Polizeibehörden ausgestalteten. Mit Blick auf die Beziehungen der Polizei zum Militär, zur Gendarmerie und zu Bürgerwehren werden dabei zwei Ebenen sichtbar: Auf der einen ging es darum, wer die Vorgaben für polizeidienerliches Agieren machte und damit Anforderungen und Erwartungen an polizeidienerliche Selbstbildung formulierte; auf der anderen ging es darum, wie diese Vorgaben, Anforderungen und Erwartungen angeeignet und habituell transformiert wurden – und zwar explizit im Rahmen einer faktischen Kooperation und Konkurrenz von Polizeidienern mit Angehörigen anderer Einrichtungen. Selbstbildung erweist sich als relationale Praxis des Sich-Vergleichens und Sich-Messens. Der Bezugsrahmen beinhaltete die direkten oder indirekten Vorgaben polizeilicher und anderer Sicherheitsbehörden sowie die habituellen Unterschiede von Polizeidienern, Soldaten, Gendarmen usw.
5.1 Ein Handwerksgeselle, ein Polizeipraktikant und die Behörden – der Fall Schadeloock Wer am Beginn des neunzehnten Jahrhunderts Polizeidiener war, musste sich in einer komplizierten Umgebung orientieren. Das brachte Schwierigkeiten mit sich, die hier am Beispiel einer Auseinandersetzung zwischen einem Handwerksgesellen, einem Polizeipraktikanten namens Schadeloock und verschiedenen Behörden analysiert werden. Dieser Fall wird im Detail vorgestellt, da er Einblick in die Interessenlagen sowie die Logik und Dynamik von Konflikten innerhalb eines noch nicht endgültig stabilisierten Behördenarrangements gewährt. Die Analyse verfolgt ein doppeltes Ziel: Einerseits wird ein Überblick über das zeitgenössische Behördengeflecht geboten, in das die Polizei eingebunden war; andererseits wird exemplarisch diskutiert, wie ein subalterner Angehöriger der Polizei innerhalb dieses Geflechts agierte und eine bestimmte Selbstpositionierung zu verteidigen suchte. Diese Zielsetzung prägt die narrative Struktur des Folgenden: den steten Wechsel kontextualisierender Erläuterungen und mikrohistorischer Fallschilderung. Die süddeutschen Staaten waren Anfang des neunzehnten Jahrhunderts in einer vergleichbaren Lage. Alle hatten sie an Gebieten und Untertanenzahl gewonnen, mussten sich in der Folge allerdings mit einer erheblichen Heterogenität der alten und neuen Territorien und Bevölkerungen auseinandersetzen, hatten mit erheblichen finanziellen Problemen sowie ineffizienten Verwaltungen zu kämpfen. Mit napoleonischem Rückenwind kamen um 1800 in Bayern Reformbemühungen in Gang, die als Wiederaufnahme des frühneuzeitlichen Staatsbildungsprozesses interpretiert
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worden sind.3 Ein wesentliches Spielfeld dieser Umwälzung war die Verwaltung. Der Staat, wie er sich im neunzehnten Jahrhundert konsolidierte, war „bürokratischer Obrigkeitsstaat“ (Thomas Nipperdey). Die Verwaltungsreformen wirkten dabei stets als erster Baustein staatlicher Integration, denn sie ermöglichten einen rascheren und umfassenderen Zugriff auf die Bevölkerung.4 In Bayern vollzog sich die Schaffung des Berufsbeamtentums – als Träger von Modernisierung und innerer Staatsbildung – innerhalb eines recht schmalen Zeitfensters (1805–1821), während sich der Prozess in anderen deutschen Ländern bis weit in die zweite Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts hinzog. Dabei ging es um die Trennung von Kompetenzen, den Umbau von Ministerien, die Absicherung von Staatsdienern samt Einführung des Leistungsprinzips. Die seit 1805 ausgearbeitete Staatsdienerpragmatik wandte sich gegen Ämtererblichkeit und Sportelwesen (also die Erhebung von Gebühren für bestimmte administrative Tätigkeiten seitens der ausführenden Staatsdiener selbst). Ihr Geltungsbereich wurde allerdings aufgrund massiv gestiegener Personalkosten rasch eingeschränkt, so dass lediglich ein Siebtel der Staatsdiener „pragmatisch“ und die Kluft zwischen ihnen und den „nicht-pragmatischen“ Beamten (Gerichtsärzte, Subalterne, Lehrer, Gemeindebeamte) erheblich war.5 Die Polizeidiener gehörten zu den nicht-pragmatischen Staatsdienern, denen bestimmte Ansprüche verwehrt blieben, die aber dennoch innerhalb eines sich professionalisierenden Umfelds situiert wurden, das neue Anforderungen mit sich brachte. Parallel zu dieser Entwicklung gerieten ständisch-korporativ geprägte Vorstellungen kommunaler Selbstverwaltung ins Wanken.6 Klagen über den schlechten Zustand der Gemeinden und ihrer Verwaltung, über mangelndes oder ungeeignetes Personal prägten die öffentlichen Diskussionen in der (nach-)napoleonischen „Umbruchkrise“ (Werner K. Blessing). Mit der Gemeindegesetzgebung von 1808 wurden die Gemeinden unter staatliche Kuratel gestellt – ausgeübt durch das Innenministerium und delegiert an Generalkommissariate. Die neue Gemeindeordnung erwies sich mit ihrer vielfach und früh kritisierten zentralistischen, bürokratischen und etatistischen Ausrichtung als unbefriedigend. In Teilen wurden die Regelungen in der Folgezeit rückgängig gemacht. Mit der revidierten Gemeindeordnung des Jahres 1818 wurde die Stellung der Gemeinden neu justiert, das heißt eine Phase der eigentlichen kommunalen Selbstverwaltung eingeleitet. Deren Umfang und Ausmaß wurden jedoch nur unzureichend geregelt. Vor allem betraf das die Abgrenzung kommunaler und staatlicher Polizei. 3 4 5 6
Vgl. Eibach, Konflikt [1998], S. 138f. Vgl. Blessing, Staatsintegration [1978], S. 665. Vgl. Wunder, Privilegierung [1978], S. 12–21; Krauss, Herrschaftspraxis [1997], S. 185–203. Dazu und zum Folgenden: Weiss, Integration [1986]; Weis, Eberhard: Montgelas. Eine Biographie 1759–1838, München 2005, Bd. 2, S. 519–530.
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Die skizzierten Veränderungen bedeuteten eine erhebliche Verschiebung der polizeibehördlichen Architektur. Bayerische Polizeidiener waren Anfang des neunzehnten Jahrhunderts gezwungen, sich in die neuen Verhältnisse einzupassen – und dabei den Vorstellungen nicht nur einer vorgesetzten Behörde, sondern gleich mehreren Instanzen Rechnung zu tragen. Der Fall Schadeloock erlaubt nicht nur Einblick in die Behördengeschichte der Polizei, sondern auch in die Bemühungen, ein gewisses Selbstbewusstsein und Selbstverständnis gegen Widerstände zu wahren. Schadeloocks Selbstbildung war nicht literarische Selbstbespiegelung oder reflektierender Selbstentwurf (in diesem Sinn war er eben kein ‚Mann des Bürgertums‘), sondern ein Ringen um Position und Anerkennung. Wie kam dieses Ringen nun in Gang? Am 4. September 1811 gab der Goldarbeitergeselle Karl Kirchberg bei der Generalkommission des Rezatkreises mit Sitz in Ansbach zu Protokoll, von einem Nürnberger Polizeipraktikanten namens Schadeloock bei der Durchreise schikaniert worden zu sein.7 Als er abends in Nürnberg ankam, legte Kirchberg, dessen Aussage ich hier paraphrasiere, sein Wanderbuch bei der dortigen Polizeidirektion vor. Dort habe ein „junger Mann“ ein fehlendes Visum des Landgerichts moniert. In Feuchtwangen, dem Sitz des Landgerichts, hatte Kirchberg am frühen Morgen freilich niemanden angetroffen und war daher gleich nach Ansbach weitergewandert – das Ansbacher Polizeikommissariat beanstandete das fehlende Visum nicht. Im Glauben, das Wort einer Polizeikommission gelte ebenso viel wie dasjenige eines Landgerichts, beließ er es dabei. Nun aber habe sich der Polizeipraktikant darauf nicht einlassen wollen, sich stattdessen abfällig über die Ansbacher Behörde geäußert und den Gesellen zum Landgericht zurückgeschickt. Noch wenige Jahre zuvor, als Nürnberg Freie Reichsstadt war, hätte sich ein Handwerksgeselle in vergleichbarer Lage nur bei den städtischen Behörden beklagen können. Diese hätten sich den Fall aller Wahrscheinlichkeit nach angehört, sich dann aber wohl auf die Seite ihres Polizeipraktikanten gestellt und die Sache beendet. 1811 hatte sich das geändert. Zum Zeitpunkt des Übergangs Nürnbergs an Bayern und der Einrichtung einer Königlichen Generalkommission in der Stadt (1806) war der Abbau der Selbstverwaltung bereits im Gange. Verschärft wurde diese Situation durch die zentralistische Stoßrichtung der Gemeindereform, deren Umsetzung aber nicht ohne Probleme verlief.8 All das verwies auf einen bayerischen und nicht mehr aus7 Dazu und zum Folgenden: Ermittlung gegen Polizeipraktikant Schadeloock, 1811–1812, StAN, C2, 70. Dieser Bestand umfasst den Schriftwechsel zwischen den Generalkommissionen des Rezatkreises und der Stadt Nürnberg, der Nürnberger Polizeidirektion und dem Polizeipraktikanten Schadeloock sowie die Protokolle der Befragung Schadeloocks wie auch des Handwerksgesellen Kirchberg. Auf Einzelnachweise wird in der folgenden Fallkonstruktion, sofern auf diesen Bestand Bezug genommen wird, im Sinn der Lesbarkeit verzichtet. 8 So beschwerten sich zahlreiche Stadtkommissare, unter ihnen der Nürnberger, immer wieder über die praktische Undurchführbarkeit des Gemeindeedikts (vgl. Liermann, Übergang [1958]; Wüst,
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schließlich reichsstädtischen Rahmen, der für diejenigen, die in der Stadt Dienst taten, neu hinzutrat. Dieser Umstand versetzte den Praktikanten Schadeloock in eine Lage, in der er nicht mehr nur vom Wohlwollen der unmittelbar vorgesetzten städtischen Behörde abhing, sondern sich im Zentrum eines dreifachen Konflikts wiederfand: erstens die unklaren Kompetenzverhältnisse von Polizei und Justiz; zweitens eine regionale Konkurrenz neuer und alter Verwaltungsbezirke; drittens eine Auseinandersetzung zwischen kommunaler Selbstverwaltung und staatlichem Zentralismus. Teilweise gewann die Auseinandersetzung um Schadeloock dadurch Brisanz, dass die Trennung von Justiz und Verwaltung im ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts nur schleppend vorankam. Was der Handwerksgeselle als alltagsplausible Annahme präsentierte, dass nämlich das Wort einer Polizeikommission ebenso viel gelte wie dasjenige eines Landgerichts, war so selbstverständlich nicht. 1802 kam es in den Städten mit landesherrlicher Zuständigkeit zur Trennung von Justiz, Polizei und eigentlichen Gemeindeangelegenheiten. Das betraf zunächst nur die Mittel- und Unterbehörden, nicht die Ebene der Landgerichte, deren Rolle neu zu bestimmen war.9 Erste Überlegungen gingen in Richtung einer landgerichtlichen Aufsicht der magistratlich ausgeübten Polizeigewalt. Damit kam ein neuer Akteur ins Spiel, der in die bestehende administrative Ordnung einzubinden war. So wies dann auch die Instruktion der Polizei-Direktionen aus dem Jahr 1808 bereits vorsorglich darauf hin, die Landgerichte seien angewiesen, „allen Requisitionen der Polizei-Direktionen jedesmal schnell zu entsprechen, und jedes Schreiben mit der Anzeige der getroffenen Verfügung zu beantworten“.10 Das Landgericht wurde mit der Reform der Sicherheitsarchitektur 1808 in Polizeisachen als „staatliche Unterbehörde“ wichtig und markierte damit zumindest den Anspruch des Staats als Ordnungsmacht. Die angedachten Abläufe funktionierten nicht immer. Aus den Kreisen hieß es wiederholt, die Ämter seien zu groß und mit einem zu umfangreichen Geschäftsgang belastet (die 214 Landgerichte, die 1808 geschaffen worden waren, verwalteten durchschnittlich je 16.000 Einwohner), als dass ein Landrichter mit wenig Personal alle anfallenden Arbeiten erledigen könnte. Deshalb komme es mitunter zu erheblichen Rückständen. Der Umstand, dass der Handwerksgeselle Kirchberg überhaupt erst in Schwierigkeiten kam, weil er beim Landgericht in Feuchtwangen niemanden antraf, scheint zeitgenössische Diagnosen in dieser Hinsicht zu bestätigen. Wolfgang: Franken unter Bayerns Krone. Integration im langen 19. Jahrhundert, in: Schmid, Alois (Hg.), 1806. Bayern wird Königreich, Regensburg 2006, S. 170–194; Weis, Montgelas [2005], Bd. 2, S. 525). 9 Die folgenden Ausführungen stützen sich auf: Blessing, Staatsintegration [1978], S. 670–672; Eibach, Konflikt [1998], S. 140f.; Weiss, Integration [1986], S. 29, 42f., 157–161; Weis, Montgelas [2005], Bd. 2, S. 516–522. 10 Instruktion der Polizei-Direktionen in den Städten [1808], Sp. 2529.
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Nach der eingangs skizzierten Aussage Kirchbergs, die abfällige Äußerungen eines Nürnberger Polizeipraktikanten über das Ansbacher Polizeikommissariat behauptete, nahm das Ganze seinen behördlichen Lauf. Der Generalkommissar des Rezatkreises schrieb aus Ansbach einen geharnischten Brief an die Generalkommission der Stadt Nürnberg und berichtete darüber, „welcher pöbelhaften Ungezogenheiten ein junger Mensch namens Schadeloock, der bei der Polizei-Direktion Nürnberg Assistent oder etwas dergleichen seyn soll, sich schuldig gemacht hat“.11 Die Öffentlichkeit, die von den Ereignissen höre, wisse ja nicht, dass die Grobheiten von jemandem kämen, der gar kein richtiger Polizeidiener sei, und schriebe selbige daher der Polizei zu. Die Amtsführung der Ansbacher Behörde zu tadeln, stehe einem Polizeipraktikanten, der nicht einmal Angestellter der Behörde war, keinesfalls zu. Derartige interne Differenzierungen – ein Polizeipraktikant und die ‚eigentliche‘ Polizei – deuten auf eine sich abzeichnende habituelle Verfestigung im Polizeidienst hin. Für einen ‚eigentlichen‘ Polizeidiener reduzierten sich die möglichen und erwartbaren Verhaltensweisen (auch wenn ein Assistent oder etwas dergleichen das nicht begreifen wollte). Individuelles Verhalten ließ sich auf die Position innerhalb der behördlichen Hierarchie beziehen. Schadeloocks Einschätzung des Sachverhalts, so fuhr der Generalkommissar fort, war außerdem falsch. Wenn aber das Landgerichts-Visa absolut nothwendig gewesen wäre (was es nicht war!), so hätte der Gesell schon von deshalb nicht zurückgewiesen werden und bestraft werden sollen, weil das Polizey-Commissariat diesen Fehler entweder übersehen oder aber aus anderen Gründen nachgesehen hat. Hätte der Sch. nur einige Kenntnisse von der Polizey, so würde er sich haben leicht bescheiden können, dass Handwerks-Burschen, die auf der Wanderschaft begriffen sind, und keine Arbeit finden, nirgends weiter aufzuhalten, nirgends weiter zu behindern sind, weil arbeitslose Leute am Ende durch die Noth gezwungen werden, unerlaubte Mittel zu ergreifen und der öffentlichen Sicherheit gefährlich zu werden. 11 Dass hier eine Königliche Generalkommission, die des Rezatkreises, an eine andere Königliche Generalkommission, diejenige Nürnbergs, schrieb, um sich über das Verhalten eines Angehörigen der Polizeidirektion auszulassen, verweist nicht nur auf eine behördliche Reorganisation, sondern auch auf die territoriale Neuordnung: auf die Eingliederung zunächst der fränkischen Gebiete, dann der (ehemaligen) Reichsstadt Nürnberg in den bayerischen Staat sowie auf den Neuzuschnitt der Gemeindegrenzen. Nach französischem Vorbild wurde 1808 die Bildung neuer Kreise initiiert, in der Regel benannt nach einem im neuen Kreisgebiet verlaufenden Fluss. Diese Kreise waren durch und durch künstliche Gebilde, die einen bewussten Bruch gegenüber früheren Einteilungen darstellten. Einer dieser neuen Kreise war der Rezatkreis, das spätere Mittelfranken, mit Sitz der Königlichen Generalkommission in Ansbach und direkt angrenzend an Nürnberg (vgl. Weis, Montgelas [2005], Bd. 2, S. 516–519; Weiss, Integration [1986], S. 154). Es lässt sich freilich aus dem hier analysierten Fall nicht schließen, dass regionalistische Ressentiments eine entscheidende Rolle spielten.
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Die Generalkommission Nürnbergs überwies die Ermittlungssache gegen den Polizeipraktikanten wegen beleidigenden Benehmens gegenüber Karl Kirchberg an das Gericht und teilte das der Polizeidirektion auch so mit. Sie setzte also wieder explizit beim Umgang mit einem Handwerksgesellen an – eine Frage, die die Generalkommission des Rezatkreises geflissentlich ignoriert hatte, um stattdessen der Frage nachzugehen, ob Schadeloock die Behörde beleidigt und ausreichende Kenntnis der Polizei hatte. In Nürnberg waren die Befindlichkeiten der Ansbacher Kollegen zu diesem Zeitpunkt der Untersuchung kein Thema. Schadeloock sollte über die Eröffnung des Verfahrens unterrichtet und ihm bis zum Zeitpunkt einer Entscheidung der Zutritt zum Polizeibüro untersagt werden. Dass hier Generalkommission und Polizeidirektion innerhalb ein und derselben Stadt miteinander in Korrespondenz traten, reflektiert die Doppelstruktur, die sich in den größeren Städten Bayerns in Polizeiangelegenheiten inzwischen herausgebildet hatte, das heißt die Einsetzung Königlicher Generalkommissare als Aufsichtsbehörden über die städtischen Polizeidirektionen.12 Für die neuen fränkischen Provinzen wurde 1803 beschlossen, die Polizei durch Einrichtung von Polizeidirektionen gewissermaßen zu ‚verstaatlichen‘. Die schon früher angedachte Verschmelzung von Stadtkommissariat und Polizeikommissariat wurde nun realisiert.13 Mit dem Gemeindeedikt von 1808 wurden in Städten wie Nürnberg und Augsburg (in kleineren Städten verblieb die Erledigung der Polizei bei den Bürgermeistern und Landrichtern) schließlich staatliche Polizeibehörden eingerichtet. Im Edikt hieß es, „daß die Polizei-Verwaltung in größeren Städten durch eigene königliche Beamte verwaltet werden soll“. Die Polizeidirektionen seien den General-Kreiskommissionen untergeordnet, „an welche sie in allen vorkommenden Fällen ihre Berichte und Anfragen zu richten haben“.14 Die Direktionen durften laut Instruktion zwar „keine Verordnungen erlassen, und die bestehenden Verordnungen nicht abändern; wohl aber die Polizei-Verordnungen für den Fall und Ort erneuern, und nach geschehener Anfrage bei den höheren Stellen, Reglements erlassen, welche derselben angemessen 12 Erste Erfahrungen mit solchen Aufsichtsbehörden hatte man in Bayern bereits in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts gesammelt, damals noch beschränkt auf die Haupt- und Residenzstadt München (vgl. dazu: Bauschinger, Gerhard: Das Verhältnis von städtischer Selbstverwaltung und königlicher Polizei in München im 19. Jahrhundert, München 1968, S. 28–37; Biernath, Manfred: Die bayrische Polizei. Geschichte, Sozialstruktur und Organisation, München 1977, S. 46–49; Breibeck, Otto Ernst: Bayerns Polizei im Wandel der Zeit. Achthundert Jahre bayerische Polizeigeschichte, München 1971, S. 45–52; Brunbauer, Wolfgang: Bayerische Skandalchronik. Polizei und Kriminalität im München des frühen 19. Jahrhunderts, Rosenheim 1984; Leppert, Adam: Kleine Chronik der bayerischen Polizei, in: Farin, Michael (Hg.), Polizeireport München 1799–1999, München 1999, S. 130–148; Weiss, Integration [1986], S. 11–15). 13 Vgl. Weiss, Integration [1986], S. 52f. 14 Organisches Edikt über die Bildung der Gemeinden [1808], Sp. 2509, 2528f.
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sind.“ Zu ihren Aufgaben gehörten Entscheidungen über Streitigkeiten zwischen Dienstboten, Handwerksgesellen und Lehrlingen oder „zwischen den Handwerkern unter sich über die Grenzen der Gewerbes-Ausübung“, aber auch die Handhabung „geringer Injurienhändel, welche nicht zur cognition eines Gerichtshofes geeignet sind, und an öffentlichen Orten vorfallen“. „Eigentliche Rechtssachen“ hatten die Polizeidirektionen an die Gerichte zu verweisen und sich lediglich damit zu befassen, „was zur Verhaftnehmung des Thäters, zur Versicherung der Effekten, und zur Erhaltung der Anzeigen des Verbrechers erforderlich“ war. Allerdings wurde auch bestimmt, dass ihre Gewalt „nicht auf die Grenzen der Städte eingeschränkt“ ist, sondern sich „auf alle Umgebungen, ohne Rücksicht der Gerichtsbarkeit“ erstreckt. Innerstädtisch bündelten die Polizeidirektionen eine erhebliche Machtfülle. Die Instruktion regelte, dass der Polizeidirektor den jeweiligen Munizipalrat einberufe und dirigiere, Gegenstände zur Beratung bringe und über Beschlüsse, welche der „Kuratel bedürfen, an das General-Kreis-Kommissariat“ berichte.15 In Nürnberg wurde Christian Wurm am 15. September 1806 zunächst provisorisch, am 3. April 1809 dann definitiv zum Polizeidirektor ernannt. Wurm, geboren am 22. September 1771 in Ansbach, entstammte einer Staatsdienerfamilie. Nach dem Jurastudium in Erlangen trat er 1795 eine Stelle als Regierungsrat in Ansbach an, wo er zum Verwaltungsjuristen ausgebildet wurde. 1800 wurde er Assessor bei der Polizeikommission in Fürth – und dort 1802 im Rahmen einer Affäre um Willkür, Gewalt und Amtsmissbrauch „gegen mehrere Individuen“ von seiner Stelle abberufen. 1806 wurde er, nun jedoch angestellt durch Bayern, nicht mehr durch Preußen, erneut zum Polizeiassessor in Fürth – und dort, vor seinem Wechsel nach Nürnberg, Polizeidirektor.16 Die Polizeiangelegenheiten der ehemaligen Reichsstadt waren zu diesem Zeitpunkt in keinem guten Zustand; zumindest genügten sie den Ansprüchen der bayerischen Verwaltungsmodernisierer nicht. Die reichsstädtische Bürgerwache war in den letzten Jahrzehnten schleichend einem System von Lohnwächtern gewichen, die, wie Wurm 1806 in einem Bericht schrieb, „wohl schwerlich in Deutschland mehr 15 Instruktion der Polizei-Direktionen in den Städten [1808], Sp. 2515, 2527f. Dabei gab es gewisse Spielräume für die Städte, von der Notwendigkeit eines in größeren Städten mitwirkenden königlichen Beamten mit Vetorecht und Eingriffsmöglichkeiten verabschiedete man sich aber nicht. Im Normalfall sollte jedoch der Magistrat die Polizei besorgen. 1818 wurde beschlossen, in Augsburg, Nürnberg, Würzburg, Erlangen und Landshut königliche Kommissäre einzusetzen. Diese sollten „das unmittelbare Organ der Regierung für die höhere Polizei seyn“, aber im Gegensatz zu den alten Stadtkommissaren nicht den Vorsitz bei Magistratsverhandlungen führen. In der letztlich verabschiedeten Instruktion wurden dann allerdings die Magistrate in Polizeiangelegenheiten zugunsten der Kommissäre nahezu völlig entmachtet. Die Ortspolizei wurde damit faktisch verstaatlicht, die Gemeinden dann allerdings mit der Ausführung beauftragt (vgl. Weiss, Integration [1986], S. 220–228, 260; Weis, Montgelas [2005], Bd. 2, S. 529f.; Bauschinger, Verhältnis [1968] S. 38–44; Biernath, Polizei [1977], S. 50–56; Breibeck, Polizei [1971], S. 46–52). 16 Dazu und zum Folgenden: Hirschmann, Wurm [1958].
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ihresgleichen finden. Alt und gebrechlich, zerlumpt, halbverhungert, schweifen diese traurigen Gestalten herum wo man sie hinstellt, Mitleid und Spott erregend“.17 Mit dem Gemeindeedikt und der sich anschließenden Instruktion für Polizeidirektionen von 1808 wurde dieses System grundlegend reformiert. In der Polizeidirektion war das Nürnberger Patriziat (auf der Ebene der Offizianten) gut vertreten, während Altbayern mit einer Ausnahme keine wichtigen Stellen besetzte. Besonders auffällig ist allerdings der hohe Anteil ehemaliger Ansbacher Staatsdiener. Der fränkische Landeshistoriker Gerhard Hirschmann hat daher den „ganzen Vorgang dieser Stellenbesetzung und insbesondere die Herrschaft Wurms“ als „späten Sieg des Fürstentums Ansbach über die Reichstadt Nürnberg“ gedeutet.18 Allerdings hatte das, wie die Auseinandersetzung um den Polizeipraktikanten Schadeloock zeigt, nicht automatisches Einvernehmen zwischen der Nürnberger Polizeidirektion und der Ansbacher Generalkommission zur Folge. Die konkrete Sachfrage, die den Fall Schadeloock entstehen ließ, spielte sich innerhalb eines im Grundsatz – eigentlich – geregelten Verfahrens mit entsprechenden Zuständigkeiten ab. Demnach, so hieß es in einer zeitgenössischen Erläuterung, sind die Leitung der Polizei in Ansehung der Reisenden und Fremden, die Vollziehung der Verordnungen über das Paßwesen, die Ausstellung und Visitirung der Pässe, und sogar die Visitirung der von den Magistraten ausgestellten Wanderbücher der ausschließenden Beschäftigung der königlichen Commissarien vorbehalten. Die Magistrate der Städte, in welchen sich königliche Commissarien befinden, haben sich daher mit der Prüfung und Visitirung der Pässe und Wanderbücher durchaus nicht zu befassen, sondern dieses Geschäft den königlichen Commissarien zu überlassen. […] Übrigens gilt hier, wie für alle anderen Fälle die Bemerkung, daß hinsichtlich der Fremden die Magistrate durchaus nichts ohne Einverständnis und Zustimmung der königlichen Commissarien verfügen sollen, weil denselben die Leitung gebührt, und sie für die getroffenen Verfügungen vorzugsweise verantwortlich sind.19
Die Polizeidirektion vernahm Schadeloock und verteidigte sein Vorgehen mit beachtlicher Buchstabentreue. Der Geselle war nach den gesetzlichen Regelungen ohne Zweifel ein Vagant. Er habe mehrfach Passgesetze übertreten, es fehlten Aufenthaltseinträge im Wanderbuch usw. Das Vorgehen der Ansbacher Behörde, darüber einfach hinwegzugehen, nur um ihn loszuwerden, sei nicht akzeptabel. Wandernde Gesellen, wie andere auch, so belehrte man die Generalkommission, müssten dem Gesetz Folge leisten und könnten aus einmaliger nachsichtiger oder fehlerhafter 17 Zitiert nach ebd., S. 281f. 18 Ebd., S. 283f. 19 Barth, Handbuch [1821], S. 30–32.
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Behandlung durch eine Behörde nicht einen Anspruch auf eine ähnliche Behandlung durch alle Behörden ableiten. Polizeipraktikant Schadeloock versuchte lediglich den Fehler beziehungsweise die laxe Handhabung der Passgesetze zu korrigieren, ohne jemanden zu beleidigen. Im Übrigen diene er seit drei Jahren als Praktikant und habe sich gut bewährt und qualifiziert. Es könnte, zumal die Beschuldigungen nicht bewiesen waren, niemandem gleichgültig sein, „die Ehre eines jungen Mannes zu Boden getreten zu sehen, welcher sich“, so schloss der Polizeidirektor, „unter meiner Leitung [die] zur Verwendung im Staatsdienst [notwendigen Kenntnisse] erworben hat“. Das eigentliche Problem, so eröffnete man der Generalkommission der Stadt, war das Verhalten der Ansbacher Behörde, weil diese nicht ein klärendes Gespräch mit der Nürnberger Polizeidirektion gesucht, sondern eine „Denunciation“ bei höherer Stelle eingereicht habe. In der Folge wurde ein bisher tadelloser junger Mann mit kränkenden Vorwürfen belegt und seine Hoffnung auf Anstellung bedroht. Die Sorge um das Fortkommen eines jungen Manns im Staatsdienst wie auch der Verweis auf seine tadellose Aufführung lässt sich freilich nicht nur als ‚väterliche‘ Sorge einer Behörde um das Schicksal ihrer subalternen Angehörigen deuten, sondern auch als Versuch der Polizeidirektion, sich innerhalb eines noch wenig systematisierten Beurteilungswesens zu positionieren und personell Einfluss zu nehmen.20 Das Verhalten eines Polizeipraktikanten wurde zum Gradmesser der Zuständigkeit, Kompetenz und Qualität einer Behörde, denn es galt als Ausdruck gelungener oder misslungener Anleitung des Praktikanten seitens der Behördenspitze. Die Frage der Identität des Polizeipraktikanten drohte aus dieser Perspektive in den Hintergrund zu treten – und musste durch Schadeloock selbst behauptet werden. Schadeloock sagte aus, Kirchberg die Regeln erläutert und dabei bemerkt zu haben, wegen der Nachsicht, die ihm in Ansbach gewährt wurde, auf einen Abtransport zu verzichten. Das Visum aus Feuchtwangen sei aber dennoch nachzuholen. Er habe dem Gesellen mitgeteilt, keine Behörde könnte von den gesetzlichen Bestimmungen abweichen. Kirchberg wollte das nicht akzeptieren und unterstellte ihm Unkenntnis des Passgesetzes. Er persönlich ist nun zwar der Ansicht, der Ansbacher Kollege dokumentierte durch die Absegnung des Wanderbuchs seine Unkenntnis des Gesetzes, doch würde er, Schadeloock, nie eine Beleidigung gegenüber diesem vor den Ohren anderer fallen lassen. Er habe angesichts des andauernden Unverständnisses von Kirchberg, weil er nicht habe zuhören wollen, diesen dann wohl einen Esel geheißen. Beleidigungen waren in sozialen Interaktionen wie der hier angesprochenen 20 1811 waren für das Personal im Staatsdienst Qualifikationsbücher eingeführt worden, für die im Fall des Subalternpersonals zunächst die Appellationsgerichte zuständig waren. Erst 1825 übernahm das Innenministerium den Aufbau einer „eigenen kompletten Übersicht über das gesamte Personal der Inneren Verwaltung“ (Götschmann, Dirk: Das bayerische Innenministerium 1825– 1864. Organisation und Funktion, Beamtenschaft und politischer Einfluss einer Zentralbehörde in der konstitutionellen Monarchie, Göttingen 1993, S. 153).
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an der Tagesordnung. Dass es nun aber gerade der Esel war, mag die Sache nicht gerade entspannt haben, handelte es sich dabei doch um eine in hohem Maß symbolisch aufgeladene Zuschreibung.21 Nach der Versicherung, er habe zwar den Handwerksgesellen, nicht aber den Ansbacher Beamten einen Esel genannt, machte der 28-jährige Schadeloock noch eine persönliche Bemerkung zum Schreiben der Ansbacher Behörde: Woher will der Polizey-Commissar zu Ansbach mein Alter so genau wissen? Was kann diese Behörde veranlassen, mich […] einen jungen Menschen zu heißen? Was kann dieser Ausdruck wohl anders heißen als einen unanständigen Menschen? Die Folge ergibt wenigstens diese Auslegung so ziemlich. Wahr ist es, ich bin kein abgelebter Greis […]. Ich bin allerdings noch in meinen jüngeren Jahren, doch bestimmt alt genug, um in der Eigenschaft zu wirken, in der ich nun bald 3 Jahre dem Staat nützliche Dienste […] geleistet habe. Was weiß das Polizey-Commissariat Ansbach von meinen Kenntnissen und ob ich den Dienst verstehe? Ich habe doch dieser Behörde noch keinen Anlass gegeben, mich für einen Dummkopf zu halten. […] Ich habe getadelt, weil ich gerechten Anlaß hatte, ich habe aber auch mit Bescheidenheit getadelt. […] Es ist mir nicht bekannt, daß allgemein über die Grobheit und Impertinenz der Polizey-Beamten geklagt wird. Sollte dies in Ansbach geschehen, so läßt es sich wohl erklären, wenn selbst wirkliche Behörden in ihren Berichten an höhere Instanzen sich eine Sprache erlauben, welche [anständigen] Personen nicht eigen ist.
Kurze Zeit später fügte Schadeloock der Angelegenheit eine letzte Stellungnahme hinzu, in der er seinen Wunsch nach einem Ende des sich seit Monaten hinziehenden Verfahrens ausdrückte, hatte die schwelende Angelegenheit doch seiner Ansicht nach eine „Menge im Publikum verbreitete, meiner Ehre und meinem guten Ruf höchst nachtheiliger Gerüchte über die zwischen mir und dem Kgl. Polizei-Commissariat zu Ansbach vorgefallene Irrung“ erzeugt. Er bestand allerdings weiter darauf, dass er gekränkt worden war, zumal die Beschwerde der Ansbacher Generalkommission auf unzureichender Tatsachenkenntnis beruhte. Und so demonstrierte er noch einmal seine Sachkenntnis: 21 Zu den Bedeutungsschichten und Verwendungskontexten vgl. Person, Jutta: Esel. Ein Portrait, Berlin 2013. Handwerksgeselle Kirchberg sollte deshalb ein Esel sein, weil er nicht zuhören wollte und dem Polizeipraktikanten begriffsstutzig vorkam. Damit konnte diese Beleidigung eine Brücke schlagen zur „blöden Verlegenheit“, die im neunzehnten Jahrhundert als Distinktionsformel prominent wurde. Galt der ‚Blöde‘ im Bürgertum einerseits als jemand, der sich freiwillig in fremde Gewalt gibt, so sollte es doch andererseits gerade ihre ‚Blödigkeit‘ sein, die die unteren sozialen Schichten – und die Frauen! – zu dankbaren Objekten von Erziehung, Disziplinierung und Kontrolle machte (vgl. Stanitzek, Georg: Blödigkeit. Beschreibungen des Individuums im 18. Jahrhunderts, Tübingen 1989, insbes. S. 119f., 123, 227–236).
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Wenn auch im Allgemeinen es bloß der Zweck der Paßgesetze seye, daß keine verdächtigen Reisenden passiert werden, während bey anderen unbescholtenen Reisenden auf die vorgeschriebenen Förmlichkeiten nicht zu dringen ist, so hat es doch damit seine unbezweifelte Richtigkeit, daß verdächtige Reisende ja meistentheils nur an der Unvollständigkeit ihrer Papiere erkannt werden und jeder rechtliche Reisende sich daher bemühen muß, seine Reise-Legitimation auf der durch das Gesetz befohlene Art zu vervollständigen.
Wenn von zahlreichen anderen Beschwerden über das Passbüro die Rede ist, so sei darunter wenig Substanzielles. Man müsse aber einräumen, einige Leute fühlten sich beleidigt, wenn man Versäumnisse ahndete und Vorschriften so umsetzte, wie es gesetzlich verlangt war. Das Gekränktsein, das Schadeloock für sich in Anspruch nahm, war offenkundig eine stete Gefahr und Drohung, wenn Polizei und Polizierte aufeinandertrafen. Schadeloock selbst scheint seine persönliche Ehre durchaus auch an seine dienstliche Kompetenz gekoppelt zu haben. Die Unterstellung – seitens einer höhergestellten Behörde oder eines Teils der Polizierten –, er kenne die Passgesetze nicht genau, nahm er als ehrverletzend wahr. Dieser Rekurs auf Ehre und Ehrverletzung wies eine entschieden kollektive Dimension auf und hob sich damit von individuellem Beleidigtsein ab. Ehrverletzungen resultieren aus Herausforderungen mittels eines expliziten Bruchs mit den erwartbaren Umgangsformen, die erwidert werden mussten. Zudem ist ihnen eine Eskalationsdynamik eigen, die daher rührt, dass man plötzlich ins Bodenlose fallen kann. „Verletzungen der Ehre funktionieren von ihrer öffentlichen Logik her nicht als schleichender Abbau von Vermögen, sondern als drohender plötzlicher Verlust.“22 Das erklärt die erhebliche Dynamik, die scheinbare Kleinigkeiten und beiläufige Reden entfalten konnten. Für den Fall Schadeloock lassen sich vor diesem Hintergrund einige Schlussfolgerungen ziehen, die über das bereits angesprochene Problem der behördlichen Überformung polizeidienerlicher Selbstbildung (etwa die Anrufung eines Polizeipraktikanten als Produkt behördlicher Anleitung und Kontrolle) hinausgehen. Erstens ereignete sich die Begebenheit in einer Phase des Übergangs, die Schadeloock irgendwo zwischen der alten Unehrlichkeit des Schergen und der neuen Amtsehre des Staatsdieners platzierte. Dabei zeigen sich in den je aktuellen Auseinandersetzungen erhebliche Abgrenzungsprobleme – nicht primär bei eindeutig unehrlichen Gewerben wie Abdeckern, sondern bei den innerhalb dieses Kontinuums am wenigs22 Schreiner, Klaus/Schwerhoff, Gerd: Verletzte Ehre. Überlegungen zu einem Forschungskonzept, in: diess. (Hg.), Verletzte Ehre. Ehrkonflikte in Gesellschaften des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Köln u. a. 1995, S. 1–28, Zitat: S. 11; vgl. auch: Dinges, Martin: Die Ehre als Thema der Historischen Anthropologie. Bemerkungen zur Wissenschaftsgeschichte und zur Konzeptualisierung, in: ebd., S. 29–62.
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ten unehrlichen Gruppen: Schergen, Amtsknechte, Gerichts- oder Stadtdiener. In Ausweitung der engeren juristischen Regelungen tendierten vor allem Handwerker dazu, diese Gruppen als unehrlich zu behandeln. Und der bayerische Staat unternahm allem Anschein nach nichts dagegen, dass ein großer Teil seines Apparats als unehrlich eingestuft wurde.23 Zweitens war nicht nur die Position eines Polizeipraktikanten gegenüber Polizeidienern und einem Generalkommissar beziehungsweise Aktuaren im Generalkommissariat in Ehrfragen unklar (es muss offenbleiben, was sich reguläre Polizeidiener angesichts dieses Umgangs mit einem Polizeipraktikanten gedacht haben mögen), sondern vor allem geriet die Ehre einer Behörde mit derjenigen eines Behördendieners in Konflikt. Die Ehre einer Polizeibehörde galt es notfalls auch gegen einen ihrer unteren Angehörigen zu verteidigen. Eine Behörde, die sich beleidigt fühlte, konnte das zum Ausdruck bringen, indem sie einen Angehörigen ihrer Schwesterbehörde beleidigte. Einmal als Behörde verstanden und mit Polizeidienern, die als Staatsdiener agierten, griff ein Konzept administrativer Ehre als nach innen gerichtete Deutungsweise. Dieses Konzept verknüpfte die Lebensführung der Beamten mit der allgemeinen Zwecksetzung ihres Handelns und diente der Machtsicherung des Einzelnen wie auch des Apparats.24 Schadeloock blieb der Behörde erhalten, obwohl die Generalkommission weiter auf seiner Entfernung aus dem Passbüro bestand. Wenige Monate später wurde er für eine Beförderung auf eine freigewordene Offiziantenstelle vorgeschlagen. In der Begründung führte die Polizeidirektion aus, Schadeloock tue seit vier Jahren guten Dienst mit lobenswürdigem Eifer, zeige eine hohe Brauchbarkeit und habe „eben dadurch aber die gerechtesten Ansprüche auf eine Anstellung im Dienste sich erworben“.25 Schadeloock selbst betonte in seiner Bitte um Verleihung der Stelle, er verrichte bereits jetzt den Dienst eines Offizianten – also eines polizeibehördlichen Schreibprofis –, ohne die entsprechende Entlohnung zu genießen. „In diesem langen Zeitraum“, so schrieb er, „habe ich mir die nötigen Kenntnisse und Fähigkeiten zu verschaffen gesucht, um den Posten eines Polizei-Beamten mit Ehren versehen zu können.“26 Zwar bekam Schadeloock die Stelle nicht verliehen, dass er überhaupt im Gespräch war, mag zur Einordnung der vorangegangenen Querelen ausreichen. Es kam nicht zu einer nachhaltigen Abwertung einer diensttuenden Person, wenn zumindest der Rückhalt einer Behörde bestand. Vor allem aber zeigt der Ausgang des Falls die langfristige Wirkung von Selbstbildung: Aus einem vermeintlich ahnungs- und 23 Vgl. Nowosadtko, Jutta: Umstrittene Standesgrenzen. Ehre und Unehrlichkeit der bayerischen Schergen, in: ebd., S. 166–182, hier: S. 166f., 173–175. 24 Vgl. Lüdtke, Gemeinwohl [1982], S. 133–140; Wunder, Privilegierung [1978], S. 228f. 25 Polizeidirektion Nürnberg, an Königliche Generalkommission, 27.7.1812, StAN, C2, 61. 26 Polizeipraktikant Schadeloock, an Polizeidirektion Nürnberg, 8.9.1812, StAN, C2, 61.
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respektlosen, aber selbst- und ehrbewussten Polizeipraktikanten, der sich im Alter von 28 Jahren für zu erfahren und zu qualifiziert hielt, um ein junger Mensch genannt zu werden, war ein polizeidienerlicher Schreibprofi geworden, der Beförderungsansprüche erheben konnte.
5.2 Der Soldat als Beistand Die Frage nach dem Zusammenhang polizeidienerlicher Selbstbildung und der Ausgestaltung des behördlichen Arrangements, innerhalb dessen diese Selbstbildung ablief, fördert im Fall des Verhältnisses von Polizei und Militär eine Viererbeziehung zutage. Polizeidiener hatten den Anforderungen und Erwartungen ihrer Behörden zu entsprechen; Polizeibehörden kooperierten und konkurrierten mit Militärbehörden; Militärbehörden formulierten Vorgaben für Soldaten, die temporär und unterstützend mit polizeilichen Aufgaben betraut wurden; mit diesen Soldaten wiederum hatten die Polizeidiener bei der Ausübung gemeinsamen Diensts vor Ort umzugehen. Polizeidiener mussten ihre Rolle und ihr Auftreten einerseits in einem konfrontativen, abgrenzenden und kooperativen Bezug zum Soldatischen entwickeln. Die militärische Männlichkeit, der man nacheifern mochte, taugte (und das erlebten Polizeidiener im Dienstalltag) trotz aller ideologischen Überhöhung selbst im militärnahen Polizeidienst nicht sonderlich viel. Polizeidiener bewegten sich zwischen den Polen des Militärischen und des Zivilen, wobei letzteres im neunzehnten Jahrhundert nicht mehr bloßes Synonym für bürgerlich war, sondern zunehmend eine bestimmte Haltung bezeichnete: „gesittet, gesellschaftlich verfeinert, taktvoll und gewandt auftretend, von geschliffenem benehmen, höflich, umgänglich“.27 Das implizierte ein Abgrenzungs- oder zumindest Spannungsverhältnis von Polizeidienern und Soldaten, das nicht zuletzt bei der Begegnung beider im gemeinsamen Dienst zu verhandeln war. Andererseits resultierte die fortdauernde Präsenz des Militärs in einer Doppelstruktur. Als es schrittweise zum Aufbau örtlicher Polizeien kam, spielte das Militär personell, organisatorisch und als Handlungsmodell eine bedeutende Rolle. Die bevorzugte Rekrutierung ehemaliger Militärangehöriger kennzeichnete die meisten Polizeimannschaften. Der militärische Geist der Polizei wurde zeitgenössisch immer wieder beobachtet.28 Zwischen Militär und Stadtmagistraten war umstritten, ob es 27 Art. zivil, in: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Online-Version vom 31.3.2014. 28 Das gilt besonders ausgeprägt für Preußen, verschärft noch einmal für die Garnisonsstädte. Die traditionelle Rolle des Militärs als Ordnungsmacht ließ dort zunächst nur wenig Raum für die Herausbildung anderer Sicherheitsinstitutionen (vgl. Funk, Polizei [1986], S. 40–51, 181–186,
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sich bei den militärischen Wachmannschaften um eine Hilfspolizei handelte, die im Bedarfsfall von den Polizeibehörden in Anspruch genommen werden konnte, oder ob die Militärmannschaften ein eigenständiges Polizeiorgan mit eigener Kompetenz waren. Die Stadtkommandanten zögerten gegenüber dem zu häufigen Einsatz des Militärs als Hilfspolizei, befürchteten sie doch, die Soldaten könnten nicht-militärische oder gar anti-militärische Verhaltensweisen übernehmen, das heißt: sich von den Polizeidienern abschauen. Städtische Beamte wiederum zeigten sich reserviert gegenüber regelmäßiger Militärhilfe, weil Soldaten die polizeilich erforderliche „Besonnenheit“, die auch Polizeidiener erst erlernen müssten, abginge; ja, eine solche Besonnenheit von Soldaten überhaupt nicht an den Tag gelegt werden dürfte, da sie im Kriegsfall kontraproduktiv wäre.29 Gerade die Unterschiede von Polizeiarbeit und Kriegseinsatz, das betonten zeitgenössische Polizeiwissenschaftler, setzten einer personellen und Aufgabenvermischung Grenzen. Wählte man nun Militair zu Handhabern der polizeilichen Function, so würde man einen unmittelbaren Widerspruch mit jenen aufgestellten Schutzregeln in das polizeiliche Institut tragen. Denn der militairische Geist ist ernst, streng, gewaltthätig, wie es der Krieg, für den er gebildet ist, mit sich bringt: er behandelt den Frieden mit derselben Härte wie den Krieg.30
In Bayern legte die Instruktion der Polizei-Direktionen in den Städten 1808 die Rolle der Stadtkommandantschaften im Verhältnis zu den Polizeidirektionen fest: Die Kommandantschaften waren angewiesen, „den Polizei-Direktionen auf ihr Ansuchen jederzeit die erforderliche militärische Unterstützung unverweilt zu leisten“. Polizeidirektionen und Militärkommandanten teilten zwar nicht die polizeiliche Verantwortung, hatten aber „immer das zur Beförderung des Dienstes erforderliche gute Benehmen zu pflegen“. Die Mahnung richtete sich an die Polizeidirektionen, die angehalten wurden, „wo es die öffentliche Ordnung und Sicherheit nothwendig 193, 292; Jessen, Polizei [1991], S. 40–43, 75–101; Spencer, Elaine G.: Police-Military Relations in Prussia, 1848–1914, in: Journal of Social History 19 (1985), S. 305–317). Die Garnisonsstädte lassen ein auch darüber hinaus bedeutsames Muster erkennen: das enge Verwobensein von Militär und ziviler Verwaltung. Daraus resultierten von Alf Lüdtke als „Festungspraxis“ beschriebene administrative Verhaltensweisen, die wiederum eine Militarisierung des Zivilen, das heißt eine „Übernahme militärischer Handlungsmuster durch die Polizeiverwaltung“ mit sich brachten (vgl. Lüdtke, Gemeinwohl [1982], S. 323f., 335). Ein zeitgenössischer Polizeitheoretiker und -praktiker bemerkte 1861 allerdings lapidar: Bei den ohnehin existierenden Garnisonen sei nicht zu verstehen, warum nun auch noch die Polizei militärisch sein solle (vgl. Avé-Lallemant, Krisis [1861], S. 19f.). 29 Vgl. Lüdtke, Gemeinwohl [1982], S. 238–282. Die Besonnenheit wird in späteren Kapiteln wiederholt aufgegriffen. 30 Zimmermann, Polizei [1845–1849], S. 856f.
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macht, die militärische Assistenz zu requiriren“.31 Ein Handbuch, das ein Jahr nach der Instruktion veröffentlicht wurde, schärfte den Polizeiämtern ein, zur Erhaltung der öffentlichen Sicherheit „die Kommandantschaften zu ihren Verhandlungen beizuziehen, und mit denselben gemeinschaftlich zu überlegen und zu bestimmen, welche Maasregeln zu Erreichung des vorgesetzten Endzwecks zu ergreifen seyen“.32 Ein anderer Kommentar zu den gesetzlichen Bestimmungen betonte die Notwendigkeit guten Einvernehmens und gegenseitiger Abstimmung beider Behörden. Diese Gegenstände sind vorzüglich die Bestimmung der Polizeistunden, die Assistenz der Militärcommandos bei entstehendem Brande, oder sonstigen Unglücksfällen, der Beistand des Militärs bei Feierlichkeiten zur Erhaltung der Ordnung, und die Verabredung der Maßregeln zur Entdeckung und Ergreifung der Thäter eines Verbrechens, wenn man Muthmaßungen hat, daß Militär-Personen darein verwickelt sind, oder wenn eine verdoppelte Aufsicht an den Thoren auf die hinein und herausreisenden Personen nöthig wird.33
Bei nicht erzieltem Einverständnis ordne die Polizei die ihr nötig erscheinenden Maßnahmen an. Ein massiver Einsatz des Militärs sei allerdings auf Fälle einer außerordentlichen Störung der allgemeinen Ruhe und Sicherheit zu beschränken. Übrigens versteht es sich ohne weitläufige Anmerkung von selbst, daß einzelne Exzesse, und einzelne, wenn auch wiederholte Verbrechen noch nicht als Bedrohung oder Störung der öffentlichen allgemeinen Sicherheit anzusehen seyen; sondern daß dieser Zustand erst dann eintrete, wenn durch offene oder geheime Verbindungen, Zusammenrottirungen, Tumulte, oder Aufruhr die Sicherheit des Staates oder der Staats-Verfassung, oder die Wirksamkeit der Gesetzgebung und Polizei-Verwaltung bedroht, oder wenn durch fortgesetzte Verbrechen, deren Urheber man entweder nicht kennt, oder wenigstens noch nicht zur Haft bringen konnte, die Sicherheit der Einwohner oder ihrer Güter in bedeutendem Grade gefährdet wird.34
Mitunter liefen zwei Prozesse parallel: Magistrate und Polizeimannschaften beschwerten sich über das Verhalten von Soldaten, die immer wieder die öffentliche Ordnung störten, und baten zeitnah um militärische Unterstützung bei der Aufrechterhaltung eben dieser Ordnung.35 Erste Wahl war das Militär dabei kaum. Der Nürnberger 31 32 33 34 35
Instruktion der Polizei-Direktionen in den Städten [1808], Sp. 2517, 2529. Höck, Grundlinien [1809], S. 277f. Barth, Handbuch [1821], S. 227. Ebd., S. 230f. Verstärkt an ausgehfreien Wochenenden begegneten die Polizeidienern immer wieder Soldaten, die unter Alkoholeinfluss Schlägereien nicht nur untereinander, sondern auch mit Zivilisten anzettelten, oft ausgelöst durch ein (Miss-)Verstehen von Gesten oder Blicken als Angriffe auf soldatische
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Magistrat, das als eines von vielen Beispielen, bevorzugte 1819 einen Einsatz der Landwehr zur punktuellen Verstärkung der Polizeimannschaft. Die Kreisregierung lehnte das mit Verweis auf die in Nürnberg vorhandene Garnison und die damit verbundene Möglichkeit gemeinschaftlicher Patrouillen von Polizei und Militär ab.36 Das geschah nahezu gleichzeitig mit dem Versuch des Landgerichts, das Kommando des ansässigen Infanterieregiments dahin zu bewegen, uniformierten Soldaten den Besuch der örtlichen Wirtshäuser zu erschweren, weil gerade sie es wären, die immer wieder Händel mit den Bürgern austrügen.37 Aus soldatischer Sicht ergaben sich andere Schwerpunkte. Die Notwendigkeit einer Zusammenarbeit, so schrieb Friedrich Meinert 1807 in seinem Handbuch Der Soldat als Beistand der Polizei oder Anleitung zur Kenntniß der Garnisonspolizei, resultiere aus einem doppelten Umstand: Einerseits überschritt die Bedrohung der öffentlichen Ordnung hin und wieder ein bestimmtes Maß, andererseits fehlten den lokalen Obrigkeiten die Mittel, um in solchen Fällen effektiv einzuschreiten. So lange nun keine der Polizeiverfassung entgegenstrebende Widersetzlichkeit eintritt, so lange also die Einwohner eines Landes oder eines Orts, die ihnen von Seiten der Polizei zukommenden Pflichten erfüllen, bedarf es auch keiner Unterstützung oder keines Beistandes der Polizei von Seiten des Militärs, und in diesem Zustande bedarf auch selbst das keine ernstlichen Maaßregeln zur Aufrechterhaltung ihrer eigenen und besondern Militärverfassung. […] Da nun die Obrigkeiten, hohe und niedere, keine andere wirkende Gewalt haben, als die Güte der Gesetze und nur solche schwachen Mittel besitzen, Ungehorsame und Widersetzliche zu ihrer Pflicht zurückzubringen, als das gewöhnliche untere Dienstpersonale, gemeine Justiz- und Polizeibediente, muß, wenn diese mit Ernst und Gewalt nichts mehr zu bewirken im Stande sind, das Militär nothwendig ins Mittel
Ehre. Frevert, Ute: Das Militär als Schule der Männlichkeiten, in: Brunotte, Ulrike/Herrn, Rainer (Hg.), Männlichkeiten und Moderne. Geschlecht und Wissenskulturen um 1900, Bielefeld 2008, S. 57–75, Zitat: S. 65, führt das auf eine „eigentümliche Ambivalenz“ in der Prägung soldatischen Verhaltens zurück: „Einerseits trug es deutliche Zeichen standesbedingter Machtanmaßung, gepaart mit einer spannungsvollen Mischung aus jugendlich-männlicher Statusunsicherheit und physischer Selbstbestätigung; andererseits unterlag es einem engmaschigen System militärischer Kontrolle und Disziplinierung. Unverkennbar aber war die Frontstellung gegen (junge) Männer, die die Uniform nicht trugen; ihnen fühlte man sich überlegen und verlieh diesem Gefühl offensiv Ausdruck.“ Unter Umständen waren das im polizeilichen Dienstalltag die gleichen Soldaten, mit denen man kurze Zeit vorher oder nachher gemeinsam patrouillieren sollte. 36 Vgl. Magistrat Nürnberg: Magistratsprotokoll, 1.3.1819; Regierung von Mittelfranken, an Magistrat Nürnberg, 18.3.1819 (beide in: StAN, C6, 81). 37 Vgl. Landgericht Rezatkreis, an Kommando 5. Linien-Infanterie-Regiments, 26.3.1819; für einen ähnlichen Fall vgl. Gemeindebevollmächtigte Wöhrd, an Magistrat Nürnberg, 1.3.1819 (beide in: StAN, C6, 81).
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treten, und das mit hinreichender äußerer Gewalt zu bewirken suchen, was auf dem gewöhnlichen Wege der Güte und des Ernstes zu bewirken unmöglich ist.38
Militärisches Einschreiten wurde aus dieser Perspektive zum Gradmesser der latenten Mangelhaftigkeit städtischer Behörden und als Eingeständnis eines Scheiterns des gewöhnlichen unteren Dienstpersonals, also der gemeinen Justiz- und Polizeibedienten, interpretierbar. Soldaten wussten (beziehungsweise ihnen wurde gesagt), dass – wann immer sie unterstützend antraten – die Polizeidiener bereits kapituliert hatten. Und sie wussten (beziehungsweise ihnen wurde gesagt), dass diese Kapitulation die Folge einer nicht hinreichend eingesetzten äußeren Gewalt war. Entsprechend dürfte sich (solange sie im aktiven Militärdienst waren) ihr Bild vom Polizeidienst gestaltet haben – und den Polizeidienern (die in der Regel auch einmal Soldaten gewesen waren) dürfte nicht entgangen sein, was Soldaten von ihnen hielten. Für die Polizeidiener hieß die Anordnung einer gemeinsamen Patrouille, dass man ihnen nicht zutraute, einer Situation Herr zu werden. Begleitet von Soldaten konnte mancher Polizeidiener seinen Status wohl als minderwertig erleben. Für die zum gemeinsamen Patrouillendienst abkommandierten Soldaten stellte sich das gleiche Problem des Selbst- und Standesbewusstseins mit umgekehrten Vorzeichen. Friedrich Meinert scheint geahnt zu haben, dass Soldaten gewisse Vorbehalte hatten, zu bestimmten polizeilichen Diensten herangezogen zu werden, denn er nahm in seiner bereits zitierten Anleitung zur Kenntniß der Garnisonspolizei eine Differenzierung der Dienste vor, die auf derartige Befürchtungen zu reagieren scheint. Ungeachtet der Soldat im Kriege und Frieden als Beistand der Polizei dienen soll und kann, und welches seiner anderweitigen Bestimmung auch nicht zuwider ist, so muß er doch dabei in den gehörigen Schranken bleiben, und die Gränzen seiner Gewalt nie überschreiten; auch ist das Militär nicht zum sogenannten kleinen Dienste der Polizei bestimmt, denn dazu hat diese ihr eigenes Personale, sondern nur dazu, der Polizei beizustehen, wo äußere Macht mit ernstlichem Nachdrucke angewendet werden muß. […] Bedarf demnach die Polizei Militärunterstützung, so handelt dabei das Militär nicht als Polizei, sondern behält auch bei diesem Gebrauche seine eigentliche Würde; daher leidet weder der Offizier, Unteroffizier, noch der gemeine Soldat, bei Vorfällen dieser Art nicht etwa eine Erniedrigung oder Herabwürdigung seiner Bestimmung, sondern für jede Mi-
38 Meinert, Soldat [1807], S. 50f. In militärischer Sicht war das polizeiliche Ersuchen um Assistenz stets noch ein Schwächeeingeständnis: „Wenn die Civilobrigkeiten nicht physische Kraft und Nachdruck genug haben, und der Verbrecher, Beschuldigte oder Widersetzliche alle Sittlichkeit aufgegeben hat, den Gesetzen Folge zu leisten, und daher nur militärische Gewalt es vermag, ihn in gerichtlichen Verwahrsam zu bringen“ – dann sei die Zeit der militärischen Assistenz gekommen (ebd., S. 91).
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litärbranche ist ein solcher Gebrauch eben so ehrenvoll (obgleich traurig) als wenn sie im Kriege ihre wahre Bestimmung gegen den Feind erfüllte.39
Nur vordergründig handelt es sich hier um einen Versuch, bestimmte Kompetenzen zu begrenzen oder ein allzu ruppiges Vorgehen der Soldaten zu verhindern.40 Vielmehr geht es um die Wahrung der eigentlichen Würde eines Soldaten, die offenkundig davon abhing, der Polizei nur dort beizustehen, wo äußere Macht mit ernstlichem Nachdrucke angewendet werden muß. Jede andere Art des Beistands, etwa im sogenannten kleinen Dienste der Polizei, so muss man folgern, konnte sehr wohl entwürdigend sein, zumindest so empfunden werden. Nur stellt sich dann die Frage, wie es um Ehre und Würde stand, wenn diese Soldaten nach dem Ausscheiden aus dem Militärdienst dauerhaft zu Polizeidienern wurden – und sei es nur deshalb, weil sich keine gewerbliche Alternative bot. Friedrich Meinert adressierte auch dieses Problem, fügte er seinen Ausführungen doch wenige Seiten später eine beruhigende Passage hinzu, die versicherte, der Polizeidienst sei nicht in Gänze und nicht mehr überall ehrenrührig. Am Häufigsten hat sich der unrechte Begriff eines gewissen Grades von Ehrlosigkeit bei solchen untern Gerichtsdienern oder Polizeibedienten […] erhalten, wo diese Stellen an ihre Familien gebunden waren oder es noch sind; an Örtern aber, wo solche niedere Gerichts- und Polizeibedientenstellen schon längst an invalide Soldaten ertheilt werden, hat er sich schon verloren, und es wäre niederdrückend, ja sogar schrecklich, wenn ein wohl39 Ebd., S. 57f. 40 Im Gegenteil, oft genug gingen die Zivilobrigkeiten „bei Arretirungen solcher Personen, die vom Civil sind, mit aller Bedachtsamkeit“ vor und schauten „nicht selten mit übertriebener Pünktlichkeit darauf […], daß keine gesetzliche und observanzmäßige Verletzung in Rücksicht der gesammten Civilverfassung, noch irgend eine, vielleicht durch zufällige Umstände herbeigeführte harte, und vielleicht nicht einmal blos ernstliche Behandlung der arretirten Person statt finde“ (ebd., S. 94). Spätere Polizeitheoretiker kehrten die Blickrichtung um: Der „bisherige incarnirte Gehorsam“ des Soldaten, so Avé-Lallemant, Krisis [1861], S. 17, habe zur Folge, dass „von dieser Seite die meisten Ausschreitungen und Gewaltthätigkeiten“ kommen: „Diensteifrig reitet er die an seinen Fürsten sich andrängende Volksmenge nieder, und mit sittlicher Entrüstung packt er den mißliebigen Bürger oder Handwerksburschen oder ertappten Verbrecher und würgt ihn, wenn er auch nur ‚inwendig raisonniren‘ sollte“. Diese unterschiedlichen Bewertungen von Körperlichkeit und in gewisser Weise auch Temperament des Soldatischen (und in Abgrenzung dazu: des Polizeidienerlichen) hatten sicher auch mit sich wandelnden Entwürfen militärischer Männlichkeit und Verhaltensanforderungen zu tun. Militärkonzepte kreisten nämlich seit der Französischen Revolution und den Napoleonischen Kriegen nicht mehr ausschließlich um Dressur und Disziplin, sondern zudem um Enthusiasmus, „starke Anregung der Gemüter“ oder „natürliche Kraft“. Nach dem Ende der Befreiungskriege verschob sich die Bewertung dieser Eigenschaften erneut. Der zuvor noch geforderte leidenschaftliche Enthusiasmus galt nun wieder zunehmend als unmilitärisch und als Fanatismus, der auf Seiten des tumultierenden Pöbels zu Hause war (Bröckling, Disziplin [1997], S. 90f., 142).
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gedienter Soldat und braver Krieger durch die Art und Weise verunehrt werden sollte, womit er sich sein Brod verdient und auch dem Staate noch nützlich bleibt.41
Wie gestaltete sich nun die konkrete Zusammenarbeit? 1824 ordnete die Kreisregierung gegenüber dem Nürnberger Magistrat an, dass das Linienmilitär zu nächtlichen Patrouillen in den Wirtshäusern nicht herangezogen, sondern diese Funktion vollständig von der Polizeimannschaft übernommen werden sollte.42 Der Polizeisenat kam dem nach, bemerkte aber sofort: „Der Kgl. Regierung ist anzuzeigen, daß die bisherige Einrichtung sich sehr wohlthätig bewiesen habe, und eine Abänderung nachtheilige Folgen haben würde.“ In einem Bericht der Polizeidirektion an die Regierung der Oberpfalz vom 29. Juni 1824 wurde erläutert: Das Militär mache seit je her die Patrouille, während die Polizei die Abschaffung oder Verhaftung der aufgegriffenen Personen besorge, wobei das Militär lediglich im Falle von Widersetzlichkeiten helfe. Das geschehe in Absprache mit dem Militärkommandanten und habe sich bewährt. Infolge des eingespielten Verfahrens seien Exzesse selten beziehungsweise geringfügig und schnell im Griff. Die Ausführungen der Polizeidirektion machten dabei, gewollt oder ungewollt, den Polizeidiener zu einem Mängelwesen, dessen Defizite, so könnte man hier folgern, im Habituellen lagen, ging ihm doch das imponierende Auftreten ab. In den Worten der Polizeidirektion: Ganz anders würde es dagegen zugehen, wenn die Abschaffungspatrouillen ausschließlich der Polizeiwache blieben. In einer großen Stadt, wo starke Garnison liegt, sind Übertretungen der Polizeistunde und Exzesse unvermeidlich. Die Polizeiwache allein macht auf rohe Menschen den Eindruck nicht, welcher durch das Linien-Militär erwirkt wird, und gemeine Soldaten respektieren ohnehin die Polizeiwache in der Regel wenig. Sollte daher das Linienmilitär künftig diesen Dienst nicht mehr leisten, so würden die Exzesse, welche bisher meistens im Entstehen unterdrückt werden konnten, oft einen gefährlichen Grad erreichen, weil durch das Herbeirufen der Militärwache zu viel Zeit verloren ginge, die Ruhestörer sich bis dahin wieder entfernen und gar nicht [ergriffen] werden könnten.
Wo einerseits um militärische Unterstützung gebeten wurde, zeigten sich andererseits Versuche, das hinzugezogene Militär in Auftreten und Erscheinungsbild zu verpolizeilichen – während doch, das zeigt das vorangegangene Zitat, das soldatische Auftreten als Garant angesehen wurde, um einen entsprechenden Eindruck zu machen, 41 Meinert, Soldat [1807], S. 61. 42 Dazu und zum Folgenden: Polizeipatrouillen, 1824–1839, StAN, C7/I, 2711. Dieser Bestand, der hier pauschalierend resümiert wird, umfasst unter anderem die wiederkehrenden Verhandlungen von Polizeidirektion, Polizeisenat, Magistrat und Stadtkommandantschaft hinsichtlich der militärischen Unterstützung von Polizeipatrouillen sowie deren Ausgestaltung.
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der Polizeidienern scheinbar abging. Der Nürnberger Magistrat hätte Mitte der 1830er Jahre gern weiter Soldaten als Verstärkung der patrouillierenden Polizeidiener herangezogen, wünschte sich aber, dass diese ohne Gewehr und Tasche erschienen; ein Wunsch, der so „außergewöhnlich“ war, dass der Stadtkommandant nicht ohne Rücksprache mit dem Armeekommando darüber entscheiden wollte. Eine vollbewaffnete Patrouille, so teilte er dem Magistrat mit, könnte er aber sofort veranlassen. An vollbewaffneten Soldaten hatte der Magistrat nun aber gerade kein Interesse und wies das Angebot zurück. Das Armeekommando beschied kurz darauf, eine Bewaffnung lediglich mit Säbel sei nicht möglich, denn es bestehe das „gegründete Bedenken“, der „Dienst könne in Fällen wo es sich um den Gebrauch der Waffen zum Angriff oder zur Vertheidigung handelt, dadurch compromittiert werden, weil der Soldat nur auf seinen dazu wenig verwendbaren Säbel beschränkt wäre“. Der Magistrat bat weiterhin regelmäßig um Männer, („ohne Gewehr und Tasche, nur mit Schirmmütze und Mantel, dann mit dem Säbel bewaffnet“), und der Stadtkommandant teilte wiederholt mit, die in den Anfragen beschriebene Kleidung und Ausstattung, in der die Soldaten erscheinen sollten, verstoße gegen die gültigen Militärbestimmungen. Er könnte zwar Männer abordnen, diese müssten aber doch vorschriftsmäßig bewaffnet sein. Der Bitte des Magistrats könne daher nur insofern stattgegeben werden, als dass man den Soldaten das Tragen der Schirmmütze (Männer und ihre Mützen!) anstelle der üblichen Kopfbedeckung erlaube. Dabei blieb es. Die Anfragen um Patrouillenunterstützung gingen regelmäßig ein und wurden kontinuierlich bewilligt, mit den genannten Einschränkungen. Dem Magistrat blieb nicht viel mehr, als die Frage der Bewaffnung immer mal wieder auf die Tagesordnung zu setzen und so vielleicht doch ein weniger militärisches Erscheinungsbild zu erreichen. Volle soldatische Montur erschien aus Magistratssicht als kontraproduktiv, „da durch die vollständige Bewaffnung zu viel Aufsehen erregt und die Soldaten selbst bey der Verfolgung von verdächtigen Individuen dadurch verhindert würden“. Uniformierungsfragen waren nicht das einzige Problem bei der Zusammenarbeit. Als es 1845 in der Nürnberger Vorstadt Wöhrd wiederholt zu erheblichen Ruhestörungen kam und der dortige Polizeidiener nicht mit der nötigen Energie einschritt, bat der Polizeioffiziant den Magistrat darum, an den fraglichen Tagen (Samstag, Sonntag, Montag) vier weitere Polizeidiener nach Wöhrd abzukommandieren und gleichzeitig vier Liniensoldaten zur Verstärkung der Polizeiwache abzustellen.43 Der Stadtkommandant schickte einen Korporal, einen Gefreiten und zwei Gemeine und bat den Magistrat darum, „bei eintretender Entbehrlichkeit Nachricht geben zu wollen“. Am 29. September 1845 berichtete der Wöhrder Polizeidiener Jäger, dass durch die Hilfe der abgestellten Liniensoldaten die Ruhe und Ordnung inzwischen 43 Dazu und zum Folgenden: Aufrechterhaltung der Sicherheitsmaßregeln Nürnberg und Wöhrd, 1845–1862, StAN C6, 81.
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nicht mehr gestört sei. Wenige Tage später bestellte der Magistrat die Verstärkung beim Stadtkommandanten ab. Gleichzeitig ermahnte man die eigenen Polizeidiener, ihren Dienst sorgfältiger zu versehen. Gerade Jahrmärkte und sonstige öffentliche Feste boten regelmäßigen Anlass, um soldatische Verstärkung der Polizeikräfte zu erbitten. In der Regel entsprach die Stadtkommandantur derartigen Wünschen, gleichwohl konnten die städtischen Magistrate und Polizeimannschaften nicht mit letzter Gewissheit darauf zählen (entgegen der eingeübten Praxis beschied der Stadtkommandant ein Ansinnen im November 1857 negativ). Und ebenso, wie die Hilfsgesuche sich wiederholten, kam es wiederholt zu magistratlichen Beschwerden: Soldaten griffen bei Auseinandersetzungen schnell zur Waffe, infolgedessen staue sich der Unmut der Bürger auf, und Gewalt drohe mit Gewalt beantwortet zu werden – und dies just bei jenen besonderen Ereignissen wie Jahrmärkten, bei denen die Polizeimannschaft in besonderem Maß auf soldatische Verstärkung angewiesen war. Während man also einerseits um Verstärkung ersuchte, bat man denselben Militärkommandanten andererseits darum, den Soldaten den Besuch des Jahrmarkts bei Strafe zu verbieten, oder aber generell darum, dass Soldaten die örtlichen Wirtshäuser nie anders denn als Gast, das heißt „ohne Seitenwaffe“, betreten sollten. Offene Ohren fand man damit nicht immer.44 Das von verschiedenen Seiten vorgetragene Für und Wider militärischer Assistenz wie auch die zähen Verhandlungen darüber, wie die Soldaten uniformiert und bewaffnet sein und insgesamt auftreten sollten, verweisen darauf, dass die Ausübung des Polizeidiensts eine habituelle Seite hatte, die sich im Aufeinandertreffen mit konkurrierenden habituellen Prägungen vor Ort ausbildete. Erst diese Konstellation ermöglichte ein Reflexivwerden des Auftretens von Polizeidienern. Die Abgrenzung von Polizeidienern und Soldaten, das klang vielfach an (etwa in der der Frage des Imponierens), umfasste neben der Positionierung der Beteiligten in administrativen und Zuständigkeitsfragen auch eine Differenz im körperlichen Auftreten, die in einem späteren Kapitel verhandelt wird. Militärischer Drill überschrieb die Haltung, Bewegungen und Gesten der individuellen Soldaten, also ihr vor Dienstantritt ausgeprägtes körperliches Auftreten und Agieren. Aus militärischer Perspektive verwies die „Norm des ‚strammen‘ Soldaten“ auf eine überlegene Form von Körperlichkeit, vor deren Hintergrund andere Formen plump und ungelenk erschienen. So wirkte die durch militärischen Drill erworbene Körperlichkeit nach dem Ausscheiden aus dem Militär als Quelle des Stolzes und eines Überlegenheitsgefühls fort. Auch im Zivilleben wurde mit militärischen Griffen, Bewegungen und 44 Nach 1848 wurde das Militär immer seltener zur Aufrechterhaltung der inneren Ordnung herangezogen, war doch verschiedentlich beobachtet worden, dass der Militäreinsatz eher zur Eskalation führte. Der Höhepunkt von militärischen Assistenzeinsätzen lag in den 1850er Jahren. Danach zeigt sich ein erheblicher Rückgang (vgl. Krauss, Herrschaftspraxis [1997], S. 299–315).
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Stellungen „als Ausdruck kraftvoller Männlichkeit bei Aufzügen aller Art ‚schneidig‘ renommiert“.45 Dieses Körperbewusstsein dürfte auch im Zusammentreffen mit Polizeidienern eine Rolle gespielt haben. Polizeidiener, die gerade erst aus dem Militär ausgeschieden waren, dürften also weiterhin jenes imponierende körperliche Auftreten gepflegt haben, das den Polizeimannschaften als Ganzes – glaubt man den bisher zitierten Ausführungen auch von Polizeidirektionen – vermeintlich abging. Die Frage der militärischen Assistenz der Polizei verweist so auf eine Situation, in der zwar noch einige, bei weitem aber nicht mehr alle Polizeidiener mittels körperlicher Präsenz Eindruck machten. Aus polizeilicher Sicht, und das ist die Kehrseite, waren zwar imponierende Körper erwünscht. Die steife Militärkörperlichkeit war allerdings nicht das, was Polizeitheoretiker Mitte des neunzehnten Jahrhunderts von Polizeidienern verlangten. Dem polizeilichen Kenner wird heiß und kalt, wenn er polizeilichen Tölpeln begegnet, die nicht zu sehen vermögen, ohne den Kopf stets rechts und links zu wenden, und die an jeder Straßenecke sich dreimal um die eigene Axe drehen, so daß man Viertelstunden weit erkennen kann, wohin die guten Herren ihre Augen wenden. Und wie oft übersehen jene Grünlinge dennoch das Wichtigste trotz des Halswendens, oder durch dieses!46
Die Distanzierung der Polizeidiener (die in Teilen eine Distanzierung von der eigenen Militärzeit bedeutete) konnte nur von bestimmten soldatischen Verhaltensweisen erfolgen, nicht vom Militärischen insgesamt, wirkte der Topos wehrhafter Ermannung doch schließlich als „dominierender Männlichkeitsentwurf “.47 Solange es, in zeitgenössischer Perspektive, das Militär war, das ‚richtige Männer‘ erzog, konnte es zwischen Polizeidienst und Militär keinen Bruch geben, sondern nur das stete Bemühen, bestimmte Nebenfolgen militärischer Männlichkeit abzumildern und durch einen anderen, polizeilichen Rahmen aufzufangen. In dem Maße, wie das Militär der Ort blieb, an dem, „Männlichkeit zum Objekt der Geschlechterkonstruktion“ wurde, männliche Eigenschaften also „ausdrücklich benannt und festgeschrieben“ wurden, während sie im allgemeinen Geschlechterdiskurs indirekt über die Ausbuchstabierung
45 Blessing, Disziplinierung [1991], S. 466f. 46 Zimmermann, Polizei [1845–1849], S. 1129. Irgendwann wären (ehemalige) Soldaten schlicht „überhaupt zu alt und steif für eine neue Laufbahn, geschwiege denn für die durchaus behende und bewegliche polizeiliche Thätigkeit“ (Avé-Lallemant, Krisis [1861], S. 63f.). 47 Dazu: Frevert, Militär [2008]; Hagemann, Karen: Der „Bürger“ als „Nationalkrieger“. Entwürfe von Militär, Nation und Männlichkeit in der Zeit der Freiheitskriege, in: dies./Pröve, Ralf (Hg.), Landsknechte, Soldatenfrauen und Nationalkrieger. Militär, Krieg und Geschlechterordnung im historischen Wandel, Frankfurt/M. 1998, S. 74–102.
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von Weiblichkeit verhandelt wurden48, mussten polizeidienerliche Entwürfe von Männlichkeit instabil und unterbestimmt bleiben. Das änderte sich erst mit der expliziten Ausformulierung polizeidienerlicher Verhaltenslehren entlang des Topos des ganzen Manns, der im weiteren Verlauf der vorliegenden Studie wiederholt eine Rolle spielen wird.
5.3 Gendarmerie Abgrenzungsbemühungen und Konflikte zwischen Gendarmerie und Polizei traten im Dienstalltag seltener hervor als diejenigen zwischen Polizei und Militär. Die Diskussionen beschäftigten hier eher die Behördenspitzen, und sie blieben stärker auf administrative Zuständigkeiten fokussiert. Die Besonderheit der Beziehungen von Polizei und Gendarmerie lag im ‚Professionalisierungsvorsprung‘ der Gendarmerie, den Gendarmen Polizeidienern auch gern vorhielten. Die Intensivierung des polizeilichen Zugriffs verlief in vielen deutschen Ländern zunächst nicht über städtische Polizeimannschaften, sondern über die Schaffung von Landespolizeien, Gendarmerien oder Landjägerkorps. Diese Einrichtungen wurden gerade im Vormärz Quelle des Unmuts, da sie als Bruch gegenüber der traditionellen Ausübung der Polizeifunktion, vor allem durch ihre stärkere Militarisierung, wahrgenommen wurden.49 Die seit Ende des achtzehnten Jahrhunderts europaweit etablierten, quasimilitärischen Gendarmerien waren nicht in erster Linie mit der Aufrechterhaltung der alltäglichen Ordnung vor Ort beschäftigt, sondern durchstreiften – unter Ausklammerung ortspolizeilicher Aufgaben – den ländlichen Raum beziehungsweise überzogen die jeweiligen Territorien mit einem Netz von Stützpunkten. Die Gendarmerie französischen Modells war auf dem Land stationiert. Sie bestand aus (ehemaligen) Soldaten und unterstand dem jeweiligen Kriegsministerium. Gleichzeitig wurden sie in inneren Angelegenheiten tätig, weshalb auch das Innenministerium 48 „Um militärische Männlichkeit abzugrenzen“, so erläutert Däniker, Kathrin: Die Truppe – ein Weib? Geschlechtliche Zuschreibungen in der Schweizer Armee um die Jahrhundertwende, in: Eifler, Christine/Seifert, Ruth (Hg.), Soziale Konstruktionen – Militär und Geschlechterverhältnis, Münster 1999, S. 110–134, Zitat: S. 119f., diese eigentümliche Umkehrung, „wurden unerwünschte Eigenschaften als unmännlich bzw. weiblich dargestellt, ohne aber Weiblichkeit eindeutig zu definieren. Im Militär konstituierte sich Männlichkeit also nicht oder erst in zweiter Linie aus der Negation der Weiblichkeit, sondern im Militär wurde der ‚positive Teil‘ der männlichen Identität entworfen. Der Soldat wurde jedoch nicht als Individuum definiert, sondern als Repräsentant seines Geschlechts verstanden.“ 49 Dazu und zum Folgenden: Emsley, Clive: Gendarmes and the State in Nineteenth-Century Europe, Oxford u. a. 2002; Wirsing, Bernd: „Gleichsam mit Soldatenstrenge“. Neue Polizei in süddeutschen Städten, in: Lüdtke, Alf (Hg.), „Sicherheit“ und „Wohlfahrt“. Polizei, Gesellschaft und Herrschaft im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt/M. und New York 1992, S. 65–94.
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(begrenzt) Zugriff hatte. In Bayern wurde unter Maximilian III. 1745 eine im Erscheinungsbild militärische Policey-Miliz, eine „truppenmäßig organisierte Exekutivpolizei für das flache Land“, eingerichtet, 1751 allerdings bereits wieder aufgelöst und durch diverse andere Einrichtungen ersetzt. Drei Jahre später kam es zur Abstellung eines Husarenkorps für polizeiliche Zwecke, bevor die Polizei 1773 wegen Finanznot wieder ganz dem Militär übertragen wurde. Seit 1800 wurden regelmäßig kleinere Militärkommandos zwecks Herstellung von Sicherheit auf dem Land eingesetzt. 1812 wurde die Einrichtung der Königlich Bayerischen Gendarmeriekorps verfügt.50 Das Zusammenspiel von Gendarmerie und Polizei war detailliert geregelt. Der Gendarmerie war aufgetragen, auf das herrenlose Gesinde, auf Leute, welche sich der Arbeit entziehen, und einer herumschweifenden Lebensart ergeben, dann überhaupt auf verdächtige und solche Personen, von denen sich nach ihrer Aufführung von sonstigen Verhältnissen annehmen läßt, daß sie zu Verbrechen und Polizeiübertretungen aufgelegt sind, ein wachsames Auge zu haben, dieselben scharf zu beobachten, und, sobald sie von ihnen etwas unerlaubtes, das der öffentlichen Sicherheit gefährlich ist, oder werden könnte, sehen oder hören, es sogleich der Polizei anzuzeigen, und nach Umständen die Thäter zur Haft zu bringen.51
Mit Anzeigen geringerer Polizeiübertretungen sollten sich Gendarmen nicht befassen, sondern sie sofort an die Polizeibehörde verweisen. Ebenso waren arretierte Personen „von der Gendarmerie auf der Stelle an die nächste Polizeibehörde“ abzugeben (sofern es sich bei diesen nicht um bei Truppenmärschen aufgegriffene Soldaten handelte, die nach Möglichkeit zu ihrer Einheit zu verbringen waren). Hausvisitationen durften nur als Assistenz der Polizei, nicht aber selbständig durchgeführt werden. Beim Transport gefährlicher Arretierter war es möglich, eine Eskorte abzustellen, nicht aber, wenn es um den Transport von „Bettel-Weibern und Kindern“ ging. Zu „LocalPolizei-Diensten“ waren Gendarmen in keinem Fall zu verwenden, wohl aber begrenzt zu Patrouillen. Auch dafür existierten genaue Vorgaben. Die Anordnung von Streifen, oder das Recht zu bestimmen, daß eine Streife vorgenommen werden solle, steht den Polizeibehörden zu. Die Gendarmen müssen sich den angeordneten Streifen unterwerfen, und auf Requisition der Civilbehörde die Streife mitmachen. Bei Local-Streifen, das ist bei denjenigen, welche ein Polizeibeamter in einem Theile seines Districts, oder nach vorläufiger Verabredung gegen die Grenzen eines andern mit 50 Vgl. Biernath, Polizei [1977]; Küther, Carsten: Räuber und Gauner in Deutschland. Das organisierte Bandenwesen im 18. und frühen 19. Jahrhundert, 2., durchgesehene Auflage, Göttingen 1987, S. 19–22; Leppert, Chronik [1999], S. 133–135. 51 Barth, Handbuch [1821], S. 45.
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Beiziehung der ihm zu Gebote stehenden Gendarmen und der Local-Polizeiwache anstellt, – hat der Polizei-Beamte auch das Recht, die Streife anzuführen, und die zu bestreifenden Puncte zu bestimmen. Kein Gendarme oder Unteroffizier kann sich ohne spezielle Requisition des Gerichts anmassen, das Streifenkommando zu führen; so wie aber auch der Polizei-Vorstand keinen Polizeisoldaten oder Diener, sondern nur bei Magistraten ein Magistratsmitglied oder einen Actuar, und bei den Landgerichten einen Assessor oder Actuar substituieren, das ist für sich und statt seiner mit der Leitung und Anführung der Streife beauftragen darf.52
Gendarmen hatten sich also den jeweiligen Anordnungen der Polizeibehörden zu unterwerfen. Die Art der Ausführung der Patrouillen wurde durch die Polizeibeamten bestimmt. Formale beziehungsweise operative Verantwortung und unterstützende Tätigkeit auf Anforderung und Abordnung waren mithin klar geschieden. Die Rolle der Gendarmen bei der Unterstützung der Polizei spiegelte in gewisser Weise das militärische Befehls- und Subordinationsverhältnis der Gendarmerie selbst, nur, dass für Fälle, in denen das Gendarmeriekommando Teile seines Personals verlieh und der Polizeibehörde überließ, die Befehlsgewalt personell auf letztere übertragen wurde, ohne dass sich strukturell etwas änderte. Freilich: Einem Gendarmen war offenkundig nicht zuzumuten, sich jedem unterzuordnen. Ausübung und Akzeptanz der Befehlsgewalt hingen davon ab, wer der Befehlende war. Die zitierte Passage stellte das unmissverständlich dar: Befehlsgewalt – die Leitung und Anführung der Streife – komme nur dem Polizeivorstand, einem Magistratsmitglied, einem Aktuar oder einem Gerichtsassessor, keinem Polizeisoldaten oder Diener zu. Gendarmen wurden darauf hingewiesen, dass sie der jeweiligen Civil-Obrigkeit und ihren „öffentlich angestellten Dienern“ „jederzeit und in allen Fällen die gebührende Achtung“ schuldeten; umgekehrt aber auch erwarten konnten, mit „Anstand“ behandelt zu werden. Angehörige ziviler Behörden, so hieß es, müssen den Gendarmen, welche Unteroffiziers-Rang haben, und in der Regel aus den gebildeteren Unteroffizieren der Linie gewählt sind, durchaus das Prädikat (den Titel) ‚Sie‘ ertheilen, wie den Gendarmen solches auch von den Offizieren der Armee, und von ihren eigenen Offizieren im Corps beigelegt wird.53
Faktische Berührungspunkte zwischen Polizei und Gendarmerie ergaben sich tatsächlich nur in bestimmten Bereichen. Entsprechend unterschied sich das Kooperations- und Konkurrenzverhältnis von demjenigen, das Polizei und Militär unterhielten. Infolge der räumlich klar abgesteckten Einsatzorte (entlang der Grenzen des 52 Ebd., S. 64f. 53 Ebd., S. 68f.
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jeweiligen Stadtbezirks und geschieden durch die Stadttore) begegnete man sich im Wesentlichen bei Übergabe und Übernahme Arretierter und deren Verfrachtung in die oder aus der Stadt oder bei der Regulierung von Mobilität insgesamt. Es wird daher verständlich, warum die Nürnberger Polizeidirektion in ihren Berichten an die Kreisregierung das Verhältnis zur Gendarmerie vor allem mit Blick auf Fremdenpolizei und Passwesen ansprach. Mit „schuldigem Pflichteifer“ habe man bei der Überprüfung der Legitimation aller Reisenden zahlreiche Vaganten und Bettler festgesetzt und dabei, so lobte man sich selbst, der Gendarmerie gegenüber einiges Entgegenkommen gezeigt. Allerdings brächte das eben auch Belastungen mit sich. Die Polizeidirektion hätte zwar keine Verbindlichkeit gehabt, die nicht allhier, sondern vor der Stadt Aufgegriffenen von der Gensdarmerie zu übernehmen und deren Verhältnisse zu untersuchen, da jedes außerhalb der Stadt aufgegriffene Individuum zu dem polizeilichen Ressort des hiesigen Landgerichts gehört, da indessen das hiesige Landgericht die Meinung angenommen, nur diejenigen aufgegriffenen Individuen zu behandeln, welche aus dem hiesigen Landgerichtsbezirk gebürtig sind, alle übrigen aus anderen Landgerichtsbezirken gebürtigen [und] in den Grenzen des Landgerichts Nürnberg als Vaganten und Bettler arretierten Individuen aber, ohne weiteres der hiesigen Pd. zu verweisen, weil durch die Polizeimannschaft in den neuen Zeiten der Transport zu geschehen hat, so hat man lediglich nur um den Dienst nicht zu hindern dergleichen Arretanten aufgenommen und behandelt, sich aber sofort mit dem Landgericht sowohl als mit den GensdarmerieLegionscommando dahier […] in Correspondenz gesetzt und dem Gend. als der competenen Polizeibehörde außerhalb der Stadt zuletzt erklärt, daß man bereits keine Personen mehr übernehme, welche durch die Mannschaft der hiesigen Gensdarmerie-Station irgendwo ausserhalb der Stadt arretiert wurden.54
Die Polizeidirektion wollte verhindern, dass ihr schleichend Aufgaben der Gendarmerie aufgebürdet wurden. Sie beharrte auf dem „Unterschied zwischen der Übernahme eines Arretanten zum bloßen Transport und [der] Untersuchung der näheren Verhältnisse“. Die Polizei könne keine zusätzlichen Untersuchungen außerhalb ihrer Kompetenz durchführen, da sie „ohnehin schon mit Arbeiten überhäuft ist“.55 Möglicherweise handelt es sich bei derartigen Argumentationsstrategien um den polizeibehördlichen Versuch, der Behauptung eines höheren Professionalitätsgrads der Gendarmerie gegenüber dem oft in traurigen Farben gemalten Bild der Polizei und Polizeidiener etwas entgegenzusetzen. Je weiter das neunzehnte Jahrhundert voranschritt und man sich von den Wirren der (nach-)napoleonischen Zeit entfernte, desto erfolgreicher konnte das sein, schien die Zeit der Gendarmerie doch abzulaufen. 54 Polizeidirektion Nürnberg: Quartalsbericht III.1815/1816, StAN, C2, 48. 55 Ebd.
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Entsprechend kippte langsam auch deren Image. Noch in den 1820er Jahren dokumentierte die Gendarmerie ein eher gesteigertes Selbstbewusstsein und Überlegenheitsgefühl und war peinlich darauf bedacht, dass die Unterstützung der Polizei oder die punktuelle Übernahme polizeilicher Aufgaben sie keineswegs auf eine Stufe mit den städtischen Polizeimannschaften drückte. Polizeidirektionen mussten zu diesem Zeitpunkt daher stets entschieden für die Anerkennung ihrer Arbeit als gleichwertig werben. Um die Jahrhundertmitte setzte sich allerdings ein polizeiliches Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl durch, das den Anspruch der Gendarmerie als Vorbild nicht nur in Frage stellte, sondern die Verhältnisse umkehrte. Aus dem Vorbild wurde ein abschreckendes Beispiel. So gab Gustav Zimmermann Polizeiinspektoren Ende der 1840er Jahre mit auf den Weg, sie sollten nicht „ohne die größte Noth“ ihren Degen ziehen und vor allem nicht um sich schlagen „wie ein wuthentbrannter Gensdarm oder ein betrunkener Husar“.56 Gendarmerieskepsis durchzog auch spätere Überlegungen zur Polizei. Die Gendarmerie könne Massenansammlungen zersprengen und erfolgreich Räuberbanden verfolgen, aber für „den eigentlichen Polizeidienst war sie stets zu unbeweglich und unpraktisch“ und inzwischen, nach der Zerschlagung der kriegsbedingt entstandenen Räuberbanden, auch überlebt. Eine fortgesetzte Gendarmerisierung der Polizei galt nun als Ursache polizeilicher Defizite. „Die Gensdarmerie ist der graue Grund, auf welchem das Constablerthum, grau in grau gemalt, seine Figuren zum ganzen, düsteren, unerfreulichen Gemälde liefert.“57
5.4 Nächtliche Sicherheitswache Neben der nicht immer leicht zu handhabenden Einbettung der Polizei in ein sicherheitsbehördliches Arrangement aus Militär und Gendarmerie berührten sich bei der Erledigung sicherheitsrelevanter Aufgaben Polizei und „Civile Ordnungsformationen“ (Ralf Pröve). Die Einbindung der Bürger in den städtischen Sicherheitsdienst war eine in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts stets präsente, wenn auch nicht von allen favorisierte Möglichkeit.58 Das deutet zumindest darauf hin, dass man 56 Zimmermann, Polizei [1845–1849], S. 1188. 57 Avé-Lallemant, Krisis [1861], S. 17–19. 58 Der Einsatz von Hilfspolizeidienern war überall üblich. In Britannien wurden so genannte Specials eingesetzt, um Unruhen einzudämmen, die Sicherheit an Wahltagen zu gewährleisten, öffentliche Gebäude zu schützen oder auch nur zur Unterstützung der regulären Polizeiarbeit. Die Specials waren eine etablierte Einrichtung, die sich in den Zusammenhang traditioneller Vorstellungen kommunaler Selbstpolizierung fügte. Berufen wurden diese Hilfspolizeidiener von den jeweiligen Friedensrichtern oder Magistraten, die unter Einbindung der regulären Polizei regelmäßig Listen mit geeigneten Personen erstellten (vgl. Swift, R.E.: Policing Chartism, 1839–1848. The Role of the Specials Reconsidered, in: English Historical Review 122 (2007), S. 669–700).
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im Polizei- und Sicherheitsdienst nichts sah, was eine langjährige Ausbildung erforderte und nur von ganz bestimmten Personen versehen werden konnte oder sollte. Mehr als einen gewissen Common Sense in Sachen öffentlicher Ordnung schien man nicht mitbringen zu müssen. So sahen beispielsweise 1848 in Nürnberg „58 Bürger aus allen Klassen“, die sich an den Magistrat wandten, eine potentielle Störung der öffentlichen Ruhe und Ordnung aufziehen, behaupteten angesichts dieser Gefahr eine Unzulänglichkeit der Ordnungskräfte – und forderten, um Abhilfe zu schaffen, keine Erweiterung der eigentlichen Polizeimannschaft, sondern eine Einbeziehung der engagierten Bürger.59 Das Ansinnen erhielt Unterstützung von den Gemeindebevollmächtigten, die nun ihrerseits vom Magistrat die Unterstützung der bereits in der freiwilligen Stadtwache aktiven Bürger durch eine nächtliche Sicherheitspatrouille forderten. Die Gemeindebevollmächtigten machten damit von ihrem Recht Gebrauch, dem Magistrate eine schriftliche Erinnerung zu übergeben: so oft sie einen bedeutenden Nachtheil für das Gemeinde-Wohl wahrnehmen, oder einen das Gemeinde-Beste fördernden Vorschlag machen zu müssen glauben: auch steht es ihnen frey, Beschwerden über die Gemeinde-Verwaltung, wenn sie von dem Magistrate nicht erledigt werden sollten, bey der Kreis-Regierung und resp. bey dem vorgesetzten Land- oder Gutsherrlichen Gerichte, durch schriftliche Vorstellungen anzubringen.60
Gerade in der „jetzigen bewegten Zeit“, so die Gemeindebevollmächtigten im konkreten Fall, wenn auch die biedere Gesinnung unserer Mitbürger und der Einwohner Nürnbergs überhaupt eine feste Garantie für Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung […] zwar biethet, so läßt sich doch andererseits nicht absprechen, ob nicht durch äussere Einwirkung eine Bewegung entstehen kann, deren Bekämpfung [der] Gesamtkraft [aller Bürger] bedarf.
Gerade weil die Bürger in dieser Sicht nicht als Unruhestifter, sondern als verlässlich an Ruhe und Ordnung interessiert wahrgenommen wurden, boten sie sich offenkundig als Ressource intensivierten Sicherheitsdiensts an. Dass Bürger und Einwohner, die scheinbar seit Jahrzehnten kaum Neigung zeigten, sich in städtische Gremien 59 Dazu und zum Folgenden: Sicherheitspatrouillen/Bürgerpatrouillen, 1848, StAN, C7/I, 2755; sowie Nächtlicher Sicherheitsdienst, 1848, StAN, C7/I, 2756. An der in diesem Bestand dokumentierten Diskussion um die Einrichtung und Zweckmäßigkeit einer nächtlichen Sicherheitswache beteiligten sich der Nürnberger Magistrat, die Gemeindebevollmächtigten und – mittels Eingabe – zahlreiche Nürnberger Bürger. Alle folgend zitierten Dokumente entstammen diesem Schriftwechsel und den dazugehörigen Stellungnahmen. 60 Verordnung die künftige Verfassung und Verwaltung der Gemeinden im Königreich [1818], § 83.
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wählen und delegieren zu lassen61, nun plötzlich mit Eifer im Namen der Sicherheit nächtlich zu patrouillieren anfingen, war alles andere als gewiss. Zwar gab der Magistrat dem Wunsch nach, ruderte aber bereits wenige Wochen später – zum Unmut der Gemeindebevollmächtigten – wieder zurück. Begründet wurde die Abschaffung der nächtlichen Sicherheitswache mit zahlreichen Beschwerden der Dienstleistenden, denen „diese Dienste in gegenwärtiger Zeit […] unerträglich wurden“. Es wuchs ein Bewusstsein dafür, dass die Einbindung der Bürger in den Polizei- und Sicherheitsdienst Belastungen mit sich brachte, die immer weniger Bürger in Kauf zu nehmen bereit waren. Die Gemeindebevollmächtigten sahen dagegen die Belastungen für die Bürger angesichts einer verbesserten Sicherheitslage als gerechtfertigt und tragbar an. Schließlich würde so dafür Sorge getragen, dass zu jeder Nachtzeit eine erhebliche Zahl Männer patrouilliert und dies „so manchen Spitzbuben“ abgeschreckt haben dürfte. Seit dem Ende des Patrouillendiensts stieg die Zahl der Diebstähle und Einbrüche dagegen wieder. In der gegenwärtigen Zeit, wo Verdienst und Erwerb allenthalben fehlen, ist die Überwachung der Sicherheit für Person und Eigenthum doppelt nothwendig, und wir können uns im allgemeinen Interesse der Einwohnerschaft dabei nicht beruhigen, daß sie bloß den dazu disponierten Polizei-Soldaten […] anvertraut ist.
In einer eigens zur Prüfung der Sicherheitslage eingesetzten Kommission berichtete der Bürgermeister freilich, dass sich bezüglich der Zahl der Einbrüche keine wesentliche Differenz ergeben habe. Die Kommission beschloss, wenigstens alle Nachtwächter, die älter als fünfzig Jahre waren, gründlich auf ihre Diensttauglichkeit untersuchen zu lassen und gegebenenfalls durch Jüngere (30- bis 45-Jährige) zu ersetzen. Zudem kam man überein, anstelle der abgeschafften Stillwache ein neues, organisatorisch verbessertes Institut namens „nächtliche Sicherheitswache“ einzurichten.
61 Der Topos des in innerstädtischen Angelegenheiten nicht eben aufrührerischen (und auch nicht sonderlich engagierten) Nürnberger Bürgers hatte zu diesem Zeitpunkt eine längere Geschichte. Ein anonym gebliebener Bürger verwies 1801 darauf, dass seine Standesgenossen „die Anhänglichkeit für [ihre] Obrigkeit noch zur Stunde nicht verloren“ hätten. Genau diese – vermeintliche – habituelle Eigenheit des reichsstädtischen Patriziats sei nun aber auch für eine gewisse Zurückhaltung, fast schon ein Desinteresse an der Mitarbeit in öffentlichen Angelegenheiten verantwortlich. Dem Nürnberger Bürger sei wohl dabei, „daß Andere […] das Regierungsgeschäfte über sich nehmen, damit er ungestört sein Gewerb treiben könne“ (Anon., Blick [1801], S. 45). Mit Gewissheit könne man behaupten, „daß nichts dem Geist des Nürnbergischen Bürgers so sehr widerstrebe, als sich in Regierungsgeschäften einzulassen. Er findet zwar Behagen an dem freyen Urtheil über die Handlungen des regierenden Körpers, aber selbst an dem Ruder zu arbeiten, daran denkt er nicht, und man kann ihn mit dem bloßen Vorschlag schon weit zurückscheuchen“ (ebd., S. 78).
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Dem folgte eine Eingabe einiger Bürger, die ihr Befremden über die Wiedereinführung der Sicherheitswache artikulierten, „ohne daß hierzu weder eine Nothwendigkeit vorhanden wäre, noch daß das hiesige Publicum eine solche beantragt hätte.“ Die Bürgerschaft wollte keine neu eingerichtete Sicherheitswache, im Gegenteil: Unter den Bürgern wäre größte Freude ausgebrochen, als das alte Institut endlich eingestellt wurde. Schließlich verfügte die Stadt doch neben den Nachtwächtern über fünfzig Polizeidiener, von denen problemlos ein Drittel zur nächtlichen Patrouille eingesetzt werden könnten, wenn man sie von anderen „Civildiensten“ verschonte. Darauf folgte ein durchaus hinterhältiger, belehrender Vergleich: „Bei der vormaligen Polizeidirektion haben die Polizeisoldaten sogar bei Tag wie bei Nacht zwei Stunden lang auf der Straße mit Armatur Wache stehen müssen.“ Von einer Sicherheitswache war zu Zeiten der alten Polizeidirektion keine Rede; und das obwohl seither die Zahl der Polizeisoldaten deutlich erhöht wurde. Auch in anderen Städten ginge es, ohne dass man die Bürger zu derartigen Diensten heranziehe. Zudem hätte man früher gesehen, dass ein solches System nicht funktioniere: Ein Teil der Leute kauft sich frei, der andere Teil bietet seine Dienste als Ersatzmann feil, um leicht Geld zu verdienen. Begleitet wurde die Eingabe von einer über fünfzigseitigen Unterschriftenliste. Ein Mitarbeiter der Magistratsverwaltung zählte 2442 Unterschriften, während sich im gleichen Zeitraum 190 Personen für die Beibehaltung des Beschlusses erklärten. Der Magistratsmitarbeiter ließ es sich in seinem Bericht an den Magistrat nicht nehmen, Argumente der Gegner zu korrigieren: Das Protestschreiben gründe in der irrigen Annahme, es stünden immer alle Polizeidiener zur Verfügung, wo das doch krankheits- oder urlaubsbedingt nie der Fall war. Für die Nachtpatrouille wären daher oft nur vierzehn Polizeidiener verfügbar, was nicht ausreiche. Auch stimme die Annahme, die jetzige Polizeimannschaft sei vergrößert worden, faktisch nicht. Der Vergleich mit Städten wie Augsburg sei aufgrund der unterschiedlichen Stadtgröße auch nicht zulässig. Auch habe die alte Stillwache nicht nur Mängel gehabt, sondern auch einiges geleistet. Der Magistratsmitarbeiter versicherte dem Magistrat, dass man den Opponenten sachlich einiges entgegenhalten und ihre Position entkräften könnte. Aber, so schloss er resignativ: Eine zwangsweise Dienstverpflichtung wäre gewagt und würde auf massive Schwierigkeiten stoßen – „und am Ende würde die ExekutivMacht fehlen“. Der Beschluss über die Wiedereinsetzung der Stillwache wurde fallengelassen. „Die Zeit wird lehren“, so äußerte sich der Magistrat, „ob der Sicherheitszustand unserer Stadt so vortrefflich bleibt, als er merklich seit Monaten es ist, und was im entgegengesetzten Falle zu geschehen haben wird, müssen die Umstände ergeben.“ Die „nächtliche Sicherheitswache“ kam also über einen Beschluss, der zurückgenommen beziehungsweise nicht umgesetzt wurde, nicht hinaus. Damit war die Sache fast erledigt. Lediglich die Gemeindebevollmächtigten machten ihrem Unmut angesichts dieses Einknickens noch einmal Luft. „Es ist eine beklagenswerthe Erscheinung
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der jetzigen Zeit“, so schrieb man an den Magistrat, „daß so vieles, was Behörden zum allgemeinen Nutzen anordnen, bekrittelt und dem Vollzuge entgegen bearbeitet wird.“ Man hielt die Stillwache weiterhin für ein bewährtes Instrument, das mit nicht stichhaltigen Argumenten niedergerungen worden wäre, und forderte, die bereits einmal eingesetzte Kommission möge erneut zusammentreten. Die Kommission trat Anfang November 1848 erneut zusammen – und stellte fest: Eine Wiedereinführung war bei all dem öffentlichen Widerwillen nicht zu bewerkstelligen. Die unterschiedlichen Einschätzungen (und Wertschätzungen) bürgerlicher Ordnungsformationen, die in den Nürnberger Diskussionen greifbar werden, reflektieren erstens (folgt man an dieser Stelle der Binnenperspektive der Bürger) eine Spannung zwischen bürgermännlichem Idealbild und Alltagserfordernissen, die sich aus diesem Bild ergeben konnten. Die in sozialer Hinsicht exklusiven, eben bürgerlichen, Ordnungsformationen wurden als Orte körperlicher Ertüchtigung und einer gleichzeitigen Ausbildung von Körperhaltung und Geisteshaltung diskutiert. „Als Stadtbürger und Bürgergardist wurde man, so die verlockende Botschaft, zum ‚Mann des Mannes‘.“62 Die Problematik bestand darin, dass damit Ansprüche an (die eigene) Männlichkeit formuliert wurden, die schwerlich umzusetzen waren. Anspruch und Wirklichkeit klafften, wie man in solchen Fällen gemeinhin zu sagen pflegt, auseinander. Pathetische Beschwörungen bürgerlicher Wehr- und Mannhaftigkeit trafen auf eine klägliche „nächtliche Realität in den Straßen und an den Stadttoren“.63 Der Sicherheitsdienst bedeutete Anstrengungen, die man faktisch doch lieber anderen überließ, auch wenn man von diesen anderen – den eigens dafür bezahlten Polizeidienern – ansonsten nicht immer viel halten mochte. Für Polizeidiener hieß das: Die potentiell demütigende Situation, in der sich Bürger zutrauten, den Sicherheitsdienst nebenher besser als die eigentlichen Polizeidiener versehen zu können, konnte, mit 62 Pröve, Ralf: „Der Mann des Mannes“. ‚Civile‘ Ordnungsformationen, Staatsbürgerschaft und Männlichkeit im Vormärz, in: Hagemann, Karen/Pröve, Ralf (Hg.), Landsknechte, Soldatenfrauen und Nationalkrieger. Militär, Krieg und Geschlechterordnung im historischen Wandel, Frankfurt/M. 1998, S. 103–120, Zitat: S. 112. Für eine vergleichbare Diskussion in Britannien vgl. McCormack, Matthew: A Species of Civil Soldier. Masculinity, Policing and the Military in 1780s England, in: Barrie, David G./Broomhall, Susan (Hg.), A History of Police and Masculinities, 1700–2010, London u. a. 2012, S. 55–71, hier: S. 64. 63 Pröve, Ordnungsformationen [1998], S. 114. „Die Euphorie über den politischen Erfolg und der Stolz über den eigenen Statusgewinn verflogen schnell während eines 24stündigen Wachdienstes. […] Obwohl beispielsweise in den Sonntagsreden Virilität, gesellschaftliches Ansehen und Staatsbürgerstatus mit den Ordnungsformationen in Zusammenhang gebracht wurden, schoben viele Männer gesundheitliche Probleme vor, um dem Dienst zu entgehen. Da die Regularien keine eindeutigen und einheitlichen medizinischen Richtlinien vorgaben, reichten ein geringfügiger Anlaß, die Bezahlung der Gebühren und ein geneigter Arzt, um ein entsprechendes Attest zu bekommen. So genügten als Begründung schon ein Zustand allgemeiner Schwäche, eine ‚Verwachsung der großen Zehe‘, Schmerzen im Hals, allgemeines Unwohlsein oder Hautausschläge“ (ebd.).
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ein wenig Phantasie, eine Quelle der Wertschätzung und eines neuen Selbstbewusstseins werden – schienen doch nun auch andere zu erkennen, dass Polizeidiener etwas taten, wozu sonst niemand bereit war, obwohl es getan werden musste. Es scheint zweitens kein Zufall gewesen zu sein, dass sich die Nürnberger Bürger über die vermeintlich unzumutbaren Beschwernisse der nächtlichen Sicherheitswache beklagten. Einerseits war der nächtliche Dienst für diejenigen, die es gewohnt waren, nachts zu schlafen, sicher in der Tat beschwerlicher, zumindest aber mit besonderen Herausforderungen an rechtzeitiges Erscheinen und Wachbleiben verbunden. Andererseits begann die Polizei seit dem Vormärz die Nacht als überwachungsbedürftigen Gefahrenraum zu entdecken und zu erobern. Im Effekt wurden die alten Nachwächter wie auch die unwilligen Bürger zunehmend als ungeeignet angesehen, um nachts für Ruhe, Ordnung und Sicherheit zu sorgen.64 Drittens war die Jahrhundertmitte eine Phase des Umbruchs in der Geschichte der Bürgerwehren – und damit des Verhältnisses verschiedener Sicherheitseinrichtungen, zu denen auch die Polizei gehörte. Wurde Bürgerwehren oder Nachtwachen vor 1848 eine Doppelfunktion zugeschrieben (einerseits als „Sicherungsorgan für Besitzende und Reiche, um Übergriffe der ärmeren Bevölkerung auf Grundeigentum und Besitz zu verhindern“, andererseits als „machtpolitischer Kontrahent des Stehenden Heeres“65), so sahen sie sich im Verlauf der Revolution heftigen Anfeindungen ausgesetzt, weil sie einerseits ihre hilfspolizeilichen Aufgaben vermeintlich kaum erledigten und zudem die revolutionären Kräfte zu unterstützen schienen. Mit der Revolution verlor das Ideal einer „klassenlosen Bürgergesellschaft“, also eine der legitimatorischen Hintergrundannahmen der Bürgerwehren, an Überzeugungskraft. Zudem wurde die wahrgenommene „Sicherungslücke“, der Mangel geeigneter staatlicher Exekutivmittel, der den Bürgerwehren überhaupt erst Raum bot, zu schließen versucht.66 Die mit der Idee der Bürgerwehren verbundene Möglichkeit einer Selbstpolizierung der bürgerlichen Gesellschaft – unter expliziter oder impliziter Ausschaltung, oder besser: Verhinderung einer eigenständigen Polizei – machte zunehmend der Überzeugung Platz, Ruhe, Ordnung und Sicherheit nun eben doch den bloß dazu disponierten Polizei-Soldaten anzuvertrauen. Gleichzeitig machte, so könnte im Rah64 Der Effekt dieser Verpolizeilichung der Nacht war ambivalent: „Die Nachtwacht“, so Schlör, Joachim: Nachts in der großen Stadt. Paris, Berlin, London 1840–1930, München und Zürich 1994, S. 77, „hat ganz offenbar eine doppelte Funktion; indem sie die Straßen zur Nachtzeit nun aufmerksamer und systematischer patrouilliert als zuvor, öffnet sie die nächtliche Stadt für einen größeren Kreis von Unternehmungslustigen. Als Versuch der Erhaltung der alten Nacht-Ordnung gedacht, trägt die Neuorganisation der Nachtwacht effektiv zur Entgrenzung bei.“ 65 Pröve, Ralf: Bürgergewalt und Staatsgewalt. Bewaffnete Bürger und vorkonstitutionelle Herrschaft im frühen 19. Jahrhundert, in: Lüdtke, Alf (Hg.), Polizei, Gewalt und Staat im 20. Jahrhundert, Wiesbaden 2011, S. 61–80, Zitat: S. 62. 66 Vgl. ebd., S. 71, 76.
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men der vorliegenden Arbeit spekuliert werden, mit dem Verschwinden der Bürgerwehren das romantische Ideal einer Identität von Polizierenden und Polizierten einer notwendig komplizierteren und gestaltungsbedürftigen Gegenüberstellung von Polizei und Publikum Platz. So zeichnet sich ab, dass die Zukunft der personellen Ausdifferenzierung gehören, dass Sicherheit immer weniger eine allgemeine Bürger aufgabe und immer mehr Aufgabe einer eigenständigen Polizei werden würde. Das führte zu intensiven Bemühungen um eine Reorganisation der Polizeimannschaften – und damit verschoben sich die Rahmenbedingungen, unter denen Polizeidiener agierten, erneut.
5.5 Die Reorganisation der Polizeimannschaft und der Polizeidiener Sperl Unter unmittelbarem Eindruck der Geschehnisse von 1848, so schrieb Gustav Zimmermann, „schien es, als sollte nicht blos das Institut der Polizei völlig sterben seit jener Revolutionsepoche, sondern auch der Name ‚Polizei‘ vertilgt werden vom deutschen Boden“. Inzwischen gelangte man immerhin zu der Erkenntnis, „daß nicht blos das Polizeiinstitut an und für sich zu verwerfen sei[,] sondern nur dessen Mißbräuche und argen Fehler“.67 Die Revolution, diese Perspektive hat auch die Forschung übernommen, hatte vor allem in den Metropolen gezeigt, wo und wie eine Modernisierung der Polizeigewalt geboten war. Die Folgejahre brachten einen Schub in der Polizeientwicklung.68 Das bedeutete einerseits eine Verstärkung der organisatorischen Bemühungen um eine zivile und straff organisierte Polizeiexekutive, andererseits ein entschiedeneres Interesse an der zahlenmäßigen Stärke der Polizeimannschaften sowie der Qualität der einzelnen Polizeidiener. In den deutschen Ländern übersetzte sich das in einen unterschiedlich langen Zeithorizont. Neuerungen traten mehr oder weniger unmittelbar in Kraft, zogen sich teilweise aber bis in die 1860er Jahre.69 67 Zimmermann, Polizei [1845–1849], S. 651f. 68 Vgl. Dreßen, Wolfgang: Nach 1848. Innere Mission, Polizei, Gefängnis, in: ders., Gesetz und Gewalt. 1848: Revolution als Ordnungsmacht, Berlin 1999, S. 167–180; Hachtmann, Epochenschwelle [2002], S. 131f. 69 Den Anfang machte Preußen mit der Einrichtung einer königlichen Schutzmannschaft in Berlin. Dabei ging es vor allem um eine organisatorische Straffung, Stärkung und Kompetenzerweiterung der Polizei. Die institutionelle und personelle Stabilisierung sollte via Absicherung der Schutzmänner gegenüber berufsbedingten Risiken, Pensionsberechtigung, Regelung des Zugangs und der Qualifikation, Disziplinarbefugnisse des Präsidenten gegenüber Dienstversäumnissen, Freistellung vom Landwehrdienst während der Dienstzeit usw. erreicht werden (vgl. Eibich, Stephan M.: Polizei, „Gemeinwohl“ und Reaktion. Über Wohlfahrtspolizei als Sicherheitspolizei unter Carl Ludwig Friedrich von Hinckeldey, Berliner Polizeipräsident von 1848 bis 1856, Berlin 2004, S. 63–80; Funk, Polizei [1986], S. 55–93). Auch ohne notwendig mit einer Organisationsreform
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Parallel dazu kam es zu einem schärferen disziplinarischen und disziplinierenden Zugriff auf die Beamten70 und – in behördengeschichtlicher Perspektive – zu einer endgültigen Trennung von Justiz und Verwaltung. In Bayern geschah das 1862.71 Die Trennung wurde nun auch auf der Ebene der Landgerichte durch die Einführung der Bezirksämter vollzogen. Vor dieser Reform waren Landrichter gleichzeitig die behördliche Exekutive vor Ort und unter anderem mit der Verwaltung der Polizei befasst. Die Relevanz des Themas wurde von Polizeiwissenschaftlern um die Jahrhundertmitte durchaus erfasst, galt es doch als dringlich, sich „der Stellung, welche die Polizei insbesondere der Justiz gegenüber einzunehmen hat“, bewusst zu werden.72 Die Vermischung beider Funktionen, so Albert Schäffle, schade beiden, „indem die Justiz nothwendig gewaltthätig und die Polizei schwerfällig und pedantisch wird“. Begründet wurde die Trennung von Justiz und Verwaltung von Schäffle mit dem sehr verschiedenen Charakter beider: Die Polizei ist ihrer Natur nach die spontane, aggressive, expansive, daher auf allen neuen socialen Lebensgebieten sich ausbreitende und nächst angerufene Verwaltungsthätigkeit. Sie darf diesen Character ebenso wenig ablegen, als die Justiz den ihrigen, welcher fast diametral entgegengesetzt ist. Dieser Character der Polizei ist allerdings der gefährlichere gegenüber der individuellen Freiheit. Doch liegen die Corrective nicht in der Lahmlegung der nothwendig höchst elastischen polizeilichen Springfedern, sondern in der Anbringung von anderweitigen Gegengewichten, welche die Polizei rechtlich und moralisch verantwortlich machen, ohne sie in ihrer eigenthümlichen Technik zu beengen.73
nach hauptstädtischem Muster verbunden zu sein, kam es in Preußen nach 1848 zu einer signifikanten Steigerung der städtischen Polizeikräfte, aber auch, gerade mit Blick auf Organisation und Professionalisierung, zu einer stärkeren Ungleichheit zwischen Berlin und dem Rest (vgl. Jessen, Polizei [1991], S. 58–70; Spencer, Elaine G.: State Power and Local Interests in Prussian Cities. Police in the Düsseldorf District, 1848–1914, in: Central European History 19 (1986), S. 293– 313, hier: S. 298–304). Weitere polizeihistorische Neuerungen waren bestimmte Formen länder übergreifender Kooperation sowie die verstärkte Institutionalisierung einer (geheimen) politischen Polizei (vgl. Siemann, Wolfram (Hg.): Der „Polizeiverein“ deutscher Staaten. Eine Dokumentation zur Überwachung der Öffentlichkeit nach der Revolution von 1848/49, Tübingen 1983; ders.: „Deutschlands Ruhe, Sicherheit und Ordnung“. Die Anfänge der politischen Polizei 1806–1866, Tübingen 1985). 70 Vgl. Krauss, Herrschaftspraxis [1997], S. 211–217; Götschmann, Innenministerium [1993], S. 162–168. 71 Dazu: Weis, Eberhard: Die Trennung zwischen Justiz und Verwaltung bei den bayerischen Unterbehörden. Zur Vorgeschichte des Gerichtsverfassungsgesetzes von 1861, in: Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte 50 (1987), S. 749–766. 72 Funke, Polizei [1844], S. 1f. 73 Schäffle, Stellung [1871], S. 241f.
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Diese behördengeschichtliche Entwicklung machte die Polizei nun erstmals und entschieden zu einer eigenständigen Behörde, für die gewisse Qualitätsstandards als unerlässlich galten. Im Folgenden wird dieser Vorgang am Beispiel der Reorganisation der Regensburger Polizeimannschaft, die von der Regierung der Oberpfalz angeordnet und vom Magistrat nolens volens umgesetzt wurde, nachvollzogen. Neben der Rekonstruktion der behördlichen Diskussionen geht es dabei um die Frage, wie sich diese Reorganisation auf die Position des einzelnen Polizeidieners auswirkte. Die folgende Fallschilderung soll in gewisser Weise eine Brücke schlagen von den weiter oben diskutierten Schwierigkeiten des Polizeipraktikanten Schadeloock, sich zwischen verschiedenen – Anfang des neunzehnten Jahrhunderts neuen – Behörden zu orientieren, hin zu den Bemühungen eines Polizeidieners namens Sperl, der sich in den späten 1850er und frühen 1860er Jahren inmitten einer großangelegten Behördenreorganisation zunächst mit Entlassung beziehungsweise Versetzung in den niederen Kommunaldienst bedroht sah, dann aber mit Unterstützung seines Magistrats erfolgreich um eine Beförderung zum Rottmeister kämpfte. Sperls Lage war, ebenso wie diejenige Schadeloocks, durch ein konkurrierendes Neben- und Miteinander verschiedener Behörden gekennzeichnet, die ganz unterschiedliche Erwartungen an einen Polizeidiener formulierten und nicht immer kompatible Anforderungen stellten. In Regensburg setzte die Diskussion Anfang August 1855 ein. Der langwierige Aushandlungsprozess zwischen der Regierung der Oberpfalz, dem Regensburger Magistrat und den dortigen Gemeindebevollmächtigten drehte sich um nahezu alle Belange des Polizeidiensts.74 Die Bezirksregierung buchstabierte die Grundsätze, um die es ihr mit der angestrebten Reorganisation ging, wiederholt aus: erstens die Trennung von Sicherheits- und Kommunaldienst; zweitens das Ausscheiden der Untauglichen aus dem Sicherheitsdienst und die Ergänzung der Polizeimannschaft durch taugliche und tüchtige Männer „in ausreichender Zahl“; drittens die Einstellung eines „militärisch bewanderten Polizeiinspektors“ für die Leitung der Polizeimannschaft; viertens die Kasernierung der Polizeimannschaft zwecks Vermeidung disziplinarischer Verfehlungen. Und man stellte klar: Steigende Kosten für die Stadt sind kein Argument, die erforderlichen Veränderungen hinauszuzögern oder abzulehnen – das hätte man sich früher überlegen sollen. „Der Stadtgemeinde Regensburg war Gelegenheit geboten, die Polizey an den Staat abzutreten, sie hat den Besitz eines verfassungsmäßigen Rechtes der Minderung der Verwaltungsausgaben vorgezogen 74 Dazu und zum Folgenden: Reorganisation der Polizeimannschaft, 1855–1861, StAReg ZR I, 10796. Dieser Bestand, auf dessen Grundlage die folgende Rekonstruktion erfolgt, umfasst den Schriftwechsel zwischen der Regierung der Oberpfalz und dem Magistrat Regensburg sowie zwischen letzterem und den Regensburger Gemeindebevollmächtigten. Auf Einzelnachweise wird, soweit auf diesen Bestand Bezug genommen wird, weitgehend verzichtet.
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und bleibt mithin gehalten die Mittel zur Bestreitung oder Aufnahme“ der Polizeimannschaft aufzubringen.75 Durch die gegenwärtig in Regensburg und andernorts noch anzutreffende Vermischung der Aufgaben von Sicherheits- und Kommunaldienst seien, so die Bezirksregierung, die Polizeimannschaften nicht immer in der Lage, ihre Aufgaben zu erfüllen. Außerdem solle speziell der Regensburger Magistrat prüfen, welche der vorhandenen Polizeidiener sich nach aktuellem Stand überhaupt für den Sicherheitsdienst eigneten – und welche nicht. Im Zuge dieser Prüfung möge man feststellen, wie viele Polizeidiener man faktisch benötige, um den Erfordernissen zu genügen. Der Magistrat habe Sorge zu tragen, „daß die nicht vollkommen diensttauglichen verheirateten Polizeydiener nach und nach anderweitig im städtischen Dienste verwendet und durch neu aufzunehmende rüstige und gutbeleumundete Polizeidiener ledigen Standes ersetzt werden“. Bereits diese ersten Vorgaben legen die Vermutung nahe, dass die anstehenden Veränderungen die polizeidienerlichen Selbstentwürfe nicht unberührt gelassen haben dürften, wurde doch seitens der Bezirksregierung die Möglichkeit einer Kluft zwischen faktisch vorhandenem und wünschenswertem Personal explizit angesprochen. Wer bisher Dienst tat, konnte qua Gewohnheit oder stillschweigender Übereinkunft davon ausgehen, dass sein Verhalten, seine Fähigkeiten, seine Dienstauffassung usw. einigermaßen im Einklang mit den Anforderungen und Erwartungen an einen Polizeidiener standen. Kleinere Abweichungen mochten disziplinarisch sanktioniert und korrigiert werden. Die Gefahr, dass jemand zwar als Polizeidiener angestellt war, in den Augen der vorgesetzten Behörde nun aber plötzlich – gemessen an seinen Eigenschaften und seinem Charakter – gar kein wirklicher Polizeidiener sein und daher aus dem Dienst entfernt werden sollte: Das war in dem Maß neu, wie die 75 In der Kostenfrage – also der Frage des Preises kommunaler Selbstverwaltung in Polizeiangelegenheiten – berieten sich die bayerischen Städte in den folgenden Jahren gegenseitig. Die Regensburger wandten sich Anfang 1863 an die Nürnberger – in Reaktion darauf, dass das neue Polizeistrafgesetz die Polizeistrafgewalt an die Gerichte verlagert und den Städten nur „die kostspielige Präventivpolizei“ überlassen habe, „ohne daß für die Früchte der Polizei-Gewalt ein Ersatz ausgesprochen worden ist“. Angesichts der knappen Staatszuschüsse könnten die Kosten der Präventivpolizei nur zu einem kleinen Teil gedeckt werden. Der Magistrat sehe sich nun mit einem Antrag der Gemeindebevollmächtigten konfrontiert, der verlange, „diese kostspielige Präventivpolizei der Stadt vom Hals zu schaffen“. Wissen wollte man, wie man diese Probleme in Nürnberg handhabe (vgl. Magistrat Regensburg, an Magistrat Nürnberg, 1.2.1863, StAN, C7/I, 2776). In seiner Antwort schrieb der Nürnberger Magistrat, man habe nichts unternommen, um die Präventivpolizei loszuwerden, werde in diese Richtung auch nichts unternehmen, sondern im Gegenteil solchen Versuchen entgegentreten. Mit Blick auf die Verlagerung der Polizeistrafsachen an die Gerichte habe man von der Möglichkeit zur Anstellung eines staatsanwaltlichen Vertreters „aus unserer Mitte“ Gebrauch gemacht und halte so Verbindung zur gerichtlichen Behandlung der Polizeistrafsachen. Der den Gemeinden eingeräumten Autonomie lege man viel zu viel Wert bei, um sie auszuschlagen (vgl. Magistrat Nürnberg, an Magistrat Regensburg, 6.2.1863, StAN, C7/I, 2776).
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Bemühungen um Reorganisation der Polizeibehörden deren Grundlagen neu verhandelten. Betroffen von dieser Situation war, unter anderem, Polizeidiener Sperl, der nun in vergleichbarer Weise wie Polizeipraktikant Schadeloock zu Beginn des Jahrhunderts ins Blickfeld geriet. Sperl sah sich, wie Schadeloock damals, einer kontroversen Evaluation seiner Person ausgesetzt, deren Integrität und Fortkommen er nun zu verteidigen und zu sichern hatte. Der Streit über Sperls Verwendung wurde zunächst als scheinbar einfache Personaldebatte ausgetragen, dann als behördliche Auseinandersetzung um Kompetenzen und Weisungsbefugnisse und schließlich, jedenfalls lässt sich der Streit unter diesen Vorzeichen interpretieren, als konflikthaftes Aufeinandertreffen unterschiedlicher Entwürfe der Subjektform Polizeidiener. Während die Reorganisation der Polizeimannschaft in vollem Gang war, hatte die Bezirksregierung eine Visitation unternommen, deren Ergebnisse sie dem Regensburger Magistrat Ende Mai 1857 mitteilte: Neben den vom Magistrat selbst als dienstuntüchtig eingestuften vier Polizeidienern seien fünf weitere, darunter Polizeidiener Sperl, aus disziplinarischen Gründen zum Sicherheitsdienst nicht zu gebrauchen. Der Magistrat beschloss schließlich, sechs Polizeidiener aus dem Sicherheitsdienst zu entfernen und zukünftig zum Kommunaldienst zu verwenden. Drei weitere – die Polizeidiener Schiele, Ortmann und Sperl –, bei denen eine solche Versetzung ebenfalls zur Debatte stand, sollten jedoch im Sicherheitsdienst verbleiben, da sie nach wie vor rüstig seien und gute Arbeit leisteten. Außerdem, so der Magistrat, habe man für mehr als sechs Kommunaldiener keine Verwendung. Sperl wollte man zudem ab sofort zum Rottmeister machen. Die Bezirksregierung erklärte sich mit den meisten Punkten einverstanden. Einige Beanstandungen gab es aber doch; und sie betrafen, unter anderem, Polizeidiener Sperl. Der Weiterbeschäftigung von Schiele, Ortmann und Sperl im Sicherheitsdienst wolle man nicht im Wege stehen, erwarte aber deren sofortige Beendigung, sollten sich Beschwerden einstellen. Der darüberhinausgehenden Beförderung von Sperl zum Rottmeister widersprach man allerdings, handle es sich doch um einen Vorgang, der „vorzugsweise deshalb beanstandet werden mußte, weil Sperl wegen Excessen bereits abgestraft wurde, weil er zu schriftlichen Arbeiten nicht genügend befähigt“ ist. Zudem war Sperl „im Alter schon ziemlich vorgerückt“ und stehe „mit der übrigen Polizey-Mannschaft in bekannter Familiarität, so daß er sich zum Polizey-Rottmeister durchaus nicht eignet“. Die Stelle sei daher auszuschreiben und nur im Einvernehmen mit dem noch zu bestellenden Polizeiinspektor zu besetzen. Der Magistrat wiederholte das Anliegen, Sperl auf die Stelle befördern zu dürfen. Dabei zeichnete er nicht nur das Bild eines idealen Polizeidieners und Rottmeisters, sondern beschrieb Sperl zudem als vollkommen im Einklang mit diesem Bild. Man pries Sperls Vorzüge: Während seiner Militärzeit wurde er aufgrund seiner Fähigkeiten sehr schnell zum Korporal befördert; diente danach lange erfolgreich bei der Gendarmerie (nach bereits einem Jahr als Stationskommandant). Dass er einen Exzess
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begangen habe, sei richtig, dieser wurde aber von einem anderen Polizeidiener veranlasst. Außerdem läge das schon lange zurück. Seitdem habe Sperl ohne alle Klagen dreizehn Jahre gedient. Es wird, so der Magistrat, „gewiß zu den Seltenheiten gehören, daß ein Soldat, Gendarm, oder Polizeisoldat während einer so langen Dienstzeit ganz ohne Strafe bleibe“. Sperls Arbeit sei in allen Belangen hervorragend, so dass sich der Magistrat geradezu in der „Pflicht“ sah, ihn zu befördern. „Was die schriftlichen Arbeiten des Polizeisoldaten Sperl betrifft“, so berichtete man, Sperl vertrete „seit 3 Monaten den Dienst eines Polizeirottmeisters“, und konnte dabei nachweisen, dass „er befähigt ist, alle seine schriftlichen Arbeiten vorzunehmen, die von einem Polizeyrottmeister verlangt werden“. Im Übrigen war Sperl erst 55 Jahre alt und „völlig rüstig“. Dennoch, der Magistrat schrieb die Stelle wie angeordnet aus. Aber wer sollte sich darauf schon melden, der besser geeignet gewesen wäre als Sperl? Es meldeten sich interne und externe Bewerber.76 Die Gesuche der Interessenten sind vor allem hinsichtlich des Selbstverständnisses ambitionierter Polizeidiener wie auch der dem Rottmeisterdienst zugeschriebenen Anforderungen aufschlussreich. So hielt sich Polizeidiener Steinert für geeignet, da er „den ganzen Umfang des Polizeidienstes wohl erfaßt und kennengelernt habe, auch in der Anfertigung schriftlicher Rapporte ziemlich erfahren“ war. Der Bewerber Franz Lundstek vermerkte: Meine Befähigung zum Rottmeister dürfte mir kaum abgesprochen werden, da ich während meiner langen Dienstzeit Gelegenheit hatte, auch diesen Dienst vollständig kennen zu lernen und ich auch im Schreiben und dersonstigen Elementargegenständen die erforderlichen Kenntnisse besitze.
Schriftkompetenz war hier offenkundig ein entscheidendes Distinktionsmerkmal – wer die schriftlichen Herausforderungen nicht meisterte, scheint von vornherein für den Rottmeisterdienst disqualifiziert. Daneben wurde lange Diensterfahrung, die in umfangreicher Sachkenntnis aller Polizeigeschäfte mündete, als entscheidend erachtet. Einige Interessenten hielten die Anwendung des Senioritätsprinzips für zwingend und machten damit ihren Anspruch auf die Stelle geltend; so etwa Christoph Colditz, der sich bewarb, „da auch andere jüngere Bedienstete […] sich bewerben“ oder, noch deutlicher, Johann Schmelmer, der schrieb:
76 Dazu und zum Folgenden: Reorganisation der Polizeiwache und die erledigte Rottmeisterstelle betr., 1857–1858, StAReg, ZR I 10797. Die folgenden Zitate entstammen den in diesem Bestand befindlichen Anstellungs- beziehungsweise Beförderungsgesuchen verschiedener Interessenten für die Rottmeisterstelle.
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Dem allgemeinen Vernehmen nach sollen zwei Rottmeister aufgenommen werden, und mehrere Polizeisoldaten, welche meine Vorleute sind, demnächst eine anderweitige Verwendung erhalten. Hierdurch würde ich soweit vorrücken, daß ich nach der Rangliste der nächste bin, welchen die Beförderung zum Rottmeister trifft.
Eine Entscheidung traf der Magistrat nicht. Immer wieder drang die Bezirksregierung auf zügige Umsetzung des Verfahrens. Die Verschleppungs- und Verzögerungstaktik ging jedoch weiter. Am 20. Oktober 1857 forderte die Kammer den Magistrat erneut auf, einen weiteren Rottmeister anstelle Sperls aufzunehmen. Als man allein nicht weiterkam, schaltete man die Staatsregierung in München ein, erhielt von dieser aber nicht die erhoffte Unterstützung. Am 19. Dezember leitete die Bezirksregierung ein Schreiben an den Regensburger Magistrat weiter, das sie selbst kurz zuvor aus München erhalten hatte. Darin heißt es: Nach Einsicht der bisherigen Verhandlungen in der umstrittenen Sache wird der kgl. Regierung erwidert, daß nachdem Michael Sperl seit einiger Zeit bereits als Rottmeister fungiert und gegen dessen Verhalten seit dieser Zeit kein Anstand sich ergeben hat, ferner gegen dessen Befähigung für den Dienst eines Rottmeisters im Allgemeinen kein erhebliches Bedenken zur Zeit obwaltet, auf der Entfernung des Genannten von dem Dienste eines Rottmeisters nicht zu bestehen vielmehr derselbe auf Wohlverhalten und in widerruflicher Weise in dem ihm von dem Magistrate der Stadt Regensburg zugedachten Dienste als Rottmeister zu belassen sei.
Polizeidiener Sperl durfte nun endlich Rottmeister sein. Vergessen war die Eigensinnigkeit des Regensburger Magistrats aber nicht. Hatte die Bezirksregierung in Sachen Sperl nachgeben müssen, so hieß das noch lange nicht, dass man die Besetzung von Rottmeisterstellen oder die Zusammensetzung der Polizeimannschaft insgesamt überhaupt nicht mehr zu beeinflussen suchte. Ständig war die Kammer des Innern mit barschem Ton hinterher, mit wem Stellen besetzt wurden, wer welchen Dienst zu machen habe usw. Der Magistrat mauerte permanent, schob Personal hin und her, um die Kosten gering zu halten, und verzögerte die Ausführung selbst direkter Anweisungen so lange es irgend ging. Neben Fragen polizeidienerlicher und rottmeisterlicher Selbstentwürfe und ihrer Behauptung angesichts veränderter Anforderungen und neuer Zumutungen drehte sich die Reorganisation der Polizeimannschaft, die sich von Mitte der 1850er bis weit in die 1860er Jahre zog, um noch einmal auf diesen Punkt zurückzukommen, um die Trennung von Kommunal- und Sicherheitsdienst. Dieser Diskussionsstrang schlägt eine Brücke zur Analyse der Dienstaufgaben und Einsatzgebiete einfacher Polizeidiener im folgenden Kapitel. Dass die Bezirksregierung auf dem Grundsatz der Trennung beharrte, wurde bereits angesprochen. Dieses Beharren zeigte sich auch in
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abschlägigen Reaktionen, wann immer ein Magistrat den einen oder anderen Polizeidiener temporär für andere Aufgaben verwenden wollte – etwa für die Erhebung der Marktgebühren (weil die kommunalen Diener dies allein nicht schafften). Wenn die Kommunaldiener eine Aufgabe nicht erfüllen könnten, so belehrte die Bezirksregierung stets, müsse man eben mehr und bessere Kommunaldiener einstellen statt auf den Einsatz von Polizeidienern zu spekulieren. Um die Umsetzung derartiger Vorgaben wurde auch innerstädtisch zwischen Magistraten und Gemeindebevollmächtigten gerungen – und in diesem Ringen zeigt sich ein Grundkonflikt im Verständnis des Polizeidiensts im neunzehnten Jahrhundert: Waren Polizeidiener Spezialisten für Fragen der öffentlichen Ruhe, Ordnung und Sicherheit, oder ging es um ihre möglichst unbeschränkte, universelle und multiple Verwendung und Verwendbarkeit? Als beispielsweise der Regensburger Magistrat im März 1863 auch aus finanziellen Erwägungen heraus eine Reduktion der Polizeimannschaft anregte, wandten sich die Gemeindebevollmächtigten entschieden gegen dieses Ansinnen und erreichten sogar eine Vermehrung Mannschaft. Damit sollte allerdings die künftige Verwendung der Polizeidiener im Kommunaldienst einhergehen, also die Aufhebung der erst wenige Jahre zuvor vorgenommenen Trennung von Sicherheits- und Kommunaldienst.77 Einerseits erledigte die Polizei bisher mit großem Erfolg beides; andererseits gingen beide Dienstbereiche oft Hand in Hand. Schließlich sei nicht einzusehen, warum die von der Gemeinde bezahlten Polizeisoldaten während sie keinen Sicherheitsdienst haben, nicht zu derlei gemeindlichem Dienste herangezogen werden sollen und weil durch die Verrichtung derselben die für einen Polizeisoldaten so höchst unentbehrlichen Lokal- und Personenkenntniße nur gewinnen kann.
Kaum war die Einstellung weiterer Polizeidiener beschlossen, bat man die Bezirksregierung um eine Erhöhung der Zuschüsse für die Polizeimannschaft. Die Kammer des Innern bewilligte das, machte die ausschließliche Verwendung der Polizeidiener zum Sicherheitsdienst allerdings zur Voraussetzung erhöhter Zuschüsse. Diese Maßgabe wiederholte die Kammer zwei Monate später. Immer wieder, das als Fazit, versuchten Magistrate oder Gemeindebevollmächtigte, ihre Verfügung über Polizeidiener und deren Aufgabenbereiche so offen wie möglich zu halten, etwa indem bereits bei der Einstellung solche Bewerber, „welche nebenbei zum Kanzleidienste verwendet werden können, besonders berücksichtigt werden“
77 Dazu insgesamt: Kommission betr. Reorganisation der Polizeimannschaft, 1864–1865, StAReg, ZR I 10795. Die folgend resümierten und zitierten Stellungnahmen von Magistrat, Gemeindebevollmächtigten und Kammer des Innern sind allesamt in diesem Bestand dokumentiert.
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sollten.78 Kreis- und Bezirksämter ließen den flexiblen Einsatz von Polizeidienern ausnahmsweise und temporär zu, hoben seit den späten 1850er Jahren aber entschieden darauf ab, die Aufgabenbereiche prinzipiell getrennt zu halten. Wenn einem Magistrat kurzfristig die Verwendung eines neu eingestellten Polizeidieners im Kanzleidienst genehmigt wurde, folgte dem doch der Hinweis, dass das „nicht dahin verstanden werden [sollte], dass der Polizeidiener in der Kanzlei zur Anfertigung von Reinschriften zu verwenden“ sei. Da namentlich die Gendarmerie nicht zur Unterstützung der Lokalpolizei verwendet werden dürfe, diese Aufgabe also allein dem Polizeidiener zukomme, dürfe dieser nicht durch Kanzleidienste seiner eigentlichen Aufgabe entzogen werden.79 Auch wenn Magistrate Polizeidienern einzelne Aufgaben, etwa des Distriktvorstehers, übertrugen, wurde seitens der Bezirksregierung zumindest darum gebeten, die Gründe im Einzelfall anzugeben.80 Zwei im Grundsatz zu trennende Aufgabenbereiche auf der einen Seite; Polizeidiener, die von einigen beteiligten Akteuren am liebsten für alles eingesetzt worden wären, was vor Ort gerade anstand, auf der anderen Seite: Innerhalb dieser Spannung bewegten sich die einzelnen Polizeidiener. Da diese Spannung unterschiedliche behördliche Logiken, Präferenzen und Interessen reflektierte, schlugen sich Behördenkonflikte auch auf der Ebene polizeidienerlicher Selbstbildung nieder, das heißt es entstanden Anforderungen und Erwartungen, wie ein Polizeidiener zu sein und was er wie zu tun hatte. Darum geht es in den nun folgenden Kapiteln.
78 Magistrats Schwandorf, Protokoll, 4.6.1859, StAS, Akte des Stadtmagistrats, VII-103. In diesem Fall knüpften einige Bewerber explizit an diesen Aspekt an. Der pensionierte Sergeant Johann Baptist Schopper wies darauf hin, dass er bereits als Gerichtsdienergehilfe gearbeitet und sich dort „durch Belastbarkeit, namentlich auch in schriftlichen Arbeiten“ ausgezeichnet habe. In dem Wissen, dass Schriftkompetenz allein nicht ausschlaggebend war, fügte Schopper seiner Bewerbung das Schreiben eines Arztes bei, wonach er zu niederem Zivildienst körperlich und geistig fähig sei (Schopper, Johann Baptist, an Magistrat Schwandorf, 20.6.1859, StAS, Akte des Stadtmagistrats, VII-103). Auch ein anderer Bewerber betonte, für die Verwendung im Kanzleidienst geeignet zu sein, da er früher Kompanieschreiber und gegenwärtig Gerichtsschreiber war (Eckmann, Christoph, an Magistrat Schwandorf, 18.6.1859, StAS, Akte des Stadtmagistrats, VII-103). 79 Bezirksamt Burglengenfeld, an Magistrat Schwandorf, 13.12.1862, StAS, Akte des Stadtmagistrats, VII-103. 80 Vgl. Regierung von Mittelfranken, an Magistrat Nürnberg, 18.2.1860, StAN, C7/I, 2718.
6. Der Polizeidiener als Faktotum und das „freie Ermessen“ Von der einen Seite ward der Polizei alles zugewiesen, was man zur Bequemlichkeit des Lebens und zum äußeren Wohlstande nöthig hielt, von der anderen ward ihr die Beförderung jeder Art Glückseligkeit der Unterthanen auferlegt. […] Auch bürdete man ihr gerne alle Verrichtungen auf, welche man bei anderen Verwaltungszweigen nicht glaubte unterbringen zu können. Das, was in der Gegenwart als ihre eigentliche Aufgabe erscheint, die Hemmung von Störungen der öffentlichen bürgerlichen Ordnung, ward selten mit Sachkenntniß und eingehend behandelt.1 Man muß Tag und Nacht und überall bemüht sein, den reißenden Strom der aus begreiflichen Gründen undisziplinierten Existenzen zu kanalisieren. Wie soll man bei den Aufgaben nicht außer Atem geraten, die sich pausenlos aus Polizeiverfügungen ergeben, welche man ihrer Wirkungslosigkeit Monat für Monat wiederholen muß?2
Die Bestimmung der Aufgaben von Polizeidienern beschäftigte Polizeiwissenschaftler, Regierungen, Magistrate, Gerichte, Polizeibehörden und auch die Polizeidiener selbst durch das gesamte neunzehnte Jahrhundert. Im Zentrum stand einerseits die Frage nach Ausdehnung und Begrenzung polizeilicher Tätigkeiten, andererseits nach Ausgestaltung und Ausübung konkreter Dienste. Dabei trafen zwei Perspektiven aufeinander, die sich grundsätzlich unterschieden, aber dennoch miteinander in Einklang zu bringen waren: zum einen die Perspektive von Polizeiwissenschaftlern und Magistraten, die den Aufgabenbereich möglichst allumfassend definierten; zum anderen die Perspektive der Polizeidiener, die diese Vorgaben in ein handhabbares Dienstverhalten übersetzen mussten. Die in Polizeiwissenschaftslehren ablesbaren Allzuständigkeitsbehauptungen müssen freilich nicht als Beleg für die Existenz eines ‚Polizeistaats‘ (als modernisierte Fortsetzung des frühneuzeitlichen ‚Polizey-
1 Ackermann, Polizei [1896], S. 16. 2 Farge/Foucault, Konflikte [1982], S. 271.
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Der Polizeidiener als Faktotum und das „freie Ermessen“
staats‘3) interpretiert werden, war die faktische Polizei doch weit davon entfernt, ein flächendeckendes Netz der Repression zu knüpfen.4 Erst langsam intensivierte sich seit dem achtzehnten, merklicher dann im neunzehnten Jahrhundert die Eindringtiefe des Staats, und die Beamten vor Ort folgten nun langfristig einem Muster, „in dem sich eigene alltägliche Erfahrungen bündelten und mit den Vorgaben ‚von oben‘ zwanglos vereinbarten“.5 Jenseits ihrer Überhöhung als bewaffneter Arm der Staatsgewalt wurde die Polizei zu einem Instrument niederschwelliger, auf die konkreten Formen sozialen Zusammenlebens gerichteter Intervention. Sie war ein Element im Prozess der Transformation der Techniken der Machtausübung.6 Die zugeschriebene Allzuständigkeit veränderte ihren Charakter bereits dadurch, dass sie von Polizeidienern umzusetzen war – und diese Umsetzung nicht zuletzt von polizeidienerlichen Selbstentwürfen abhing. Im Verlauf des achtzehnten Jahrhunderts kristallisierte sich ein institutioneller Polizeibegriff heraus – und mit ihm ein neuer Blick auf das Personal. „Dienstbezeichnungen wie ‚Polizeidirektor‘, ‚Polizeikommissar‘, ‚Polizeiinspektor‘, ‚Polizeiknecht‘“ wurden ebenso üblich, wie sich „für die Gesamtheit dieser Beamten der Name ‚Polizei‘“ einbürgerte.7 Die derart titulierten Beam3 Dazu: Raeff, Marc: Der wohlgeordnete Polizeistaat und die Entwicklung der Moderne im Europa des 17. und 18. Jahrhunderts. Versuch eines vergleichenden Ansatzes, in: Hinrichs, Ernst (Hg.), Absolutismus, Frankfurt/M. 1986, S. 310–343; ders.: The Well-Ordered Police State. Social and Institutional Change Through Law in the Germanies and Russia 1600–1800, New Haven 1983. 4 Vgl. Evans, Richard J.: Szenen aus der deutschen Unterwelt. Verbrechen und Strafe, 1800–1914, Reinbek 1997, S. 11. 5 Lüdtke, Alf: Herrschaft als soziale Praxis, in: ders. (Hg.), Herrschaft als soziale Praxis. Historische und sozial-anthropologische Studien, Göttingen 1991, S. 9–63, Zitat: S. 39; vgl. auch Blasius, Dirk: Kriminalität und Alltag. Zur Konfliktgeschichte des Alltagslebens im 19. Jahrhundert, Göttingen 1978, S. 25–33. 6 Foucault, Überwachen [1975], S. 181, beschreibt diesen Vorgang als Aufstieg einer neuen Disziplinarmacht: „Eine minutiöse Beobachtung des Details und gleichzeitig eine politische Erfassung der kleinen Dinge durch die Kontrolle und die Ausnutzung der Menschen setzen sich im Laufe des klassischen Zeitalters zunehmend durch und bringen eine Reihe von Techniken, ein Korpus von Verfahren und Wissen, von Beschreibungen, Rezepten und Daten mit sich.“ Foucault folgt der Ausweitung von Disziplinarmechanismen durch einerseits die Vervielfältigung der Disziplinarinstitutionen (Militär, Gefängnis, Schule, Fabrik usw.) und andererseits die „Desinstitutionalisierung“ der Disziplinarmechanismen. Am Ende sieht er die Formierung einer Disziplinargesellschaft, „die von den geschlossenen Disziplinen, einer Art gesellschaftlicher ‚Quarantäne‘, zum endlos verallgemeinerungsfähigen Mechanismus des ‚Panoptismus‘ führt“ (ebd., S. 277). Polizeigeschichtlich bleiben Foucaults Ausführungen in der Schwebe, denn sie pendeln zwischen einem engen und einem weiten Polizeibegriff, ohne dass das expliziert würde. Polizei als umgrenzte Institution fügt sich in ein Verständnis von Polizei als umfassender Herrschaftslogik ein (zum letzten Punkt vgl. auch die ähnlich gelagerte Unterscheidung von Polizei und Politik bei Rancière, Jacques: Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, Frankfurt/M. 2002, S. 40–49). 7 Knemeyer, Franz-Ludwig: Art. Polizei, in: Brunner, Otto/Conze, Werner/Koselleck, Reinhart (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in
Gehässigkeit, Pedanterie und Hegel
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ten sollten nicht mehr die Gesamtheit der inneren Verwaltung bewältigen, sondern lediglich den Bereich der Sicherungsaufgaben. Auch innerhalb dieses begrenzenden Rahmens war eine stete Vervielfältigung der Aufgaben freilich nicht ausgeschlossen. Im Dienstalltag wurde der Polizeidiener zum (magistratlichen) Faktotum: Er tut, was auch immer getan werden muss, um Ordnung in die Gesellschaft zu bringen, Hindernisse zur Seite zu räumen usw. Es gehört zu den charakteristischen Merkmalen des Polizeidiensts des neunzehnten Jahrhunderts, dass Polizeidiener neben der Polizeiarbeit im engeren Sinn stets auch allgemeine administrative Aufgaben übernahmen, weil den lokalen Behörden in den meisten Fällen kein anderes Exekutivpersonal zur Verfügung stand. Polizeidienerliche Selbstbildung, darum geht es im Folgenden, changierte zwischen dem Bemühen von Polizeidienern um eine eigenständige Identität als Angehörige einer spezialisierten und besonderen Gruppe und dem Fortwirken eines älteren Dienstverständnisses. Diese grundlegende Spannung führte dazu, dass Polizeidiener und Magistrate jeweils andere Aufgaben als eigentliche Polizeiarbeit ansahen. Auf der einen Seite bemühten sich verwaltungswissenschaftliche Abhandlungen um die rationale Durchgestaltung von (staatlicher) Verwaltung und Gesellschaft – und die Polizei wurde in diese Systematik eingepasst. Auf der anderen Seite erwiesen sich die daraus abgeleiteten Aufgaben praktisch als undurchführbar, produzierten strukturelle Überforderungen der Polizeidiener oder setzten eine häufig kritisierte polizeiliche „Kleinlichkeitsjagd“ (Wilhelm Joseph Behr) in Gang. Die Auflösung dieser Spannung wurde – und das gehört zu den entscheidenden Koordinaten polizeidienerlicher Selbstbildung – ins Innere der Akteure verlagert: durch die fast stereotype Betonung, nicht alles könnte vorab und restlos erfasst werden. Die Praxis wurde in die Verantwortung genommen, um die Probleme der Theorie zu lösen. Im Folgenden wird herausgearbeitet, dass dieser Zusammenhang zwei historische Formen annahm: erstens eine Aktualisierung der Polizey- und Diensttradition, vor allem in den 1820er Jahren, die mit Rekurs auf Topoi wie Gehässigkeit und Pedanterie gefasst werden konnte; zweitens die Modellierung des Polizeidieners über Handlungs- und Ermessensspielräume seit der Jahrhundertmitte.
6.1 Gehässigkeit, Pedanterie und Hegel In (nach-)napoleonischer Zeit konnte es zunächst so scheinen, als sollte sich rasch ein Einschnitt in Sachen Polizei abzeichnen. Einerseits vollzog sich ein „gefühlskonnotativer Wandel“ des Polizeibegriffs: „Unter Polizei stellte man sich nun weniger eine saubere Straße, gerechte Preise und eine vor Räuberbanden gesicherte Stadt vor, als vielmehr kaltblütige Polizisten, Spioniererei und Zensur. Dementsprechend fand Deutschland, Bd. 4, Stuttgart 1978, S. 875–897, hier: S. 887.
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Der Polizeidiener als Faktotum und das „freie Ermessen“
man das Wort Polizei in Schriften kaum noch unter Wortkombinationen wie z. B. ‚gute Polizey‘, sondern immer mehr als ‚geheime Polizei‘, ‚Polizeistaat‘, ‚Rettungsanstalt der Despotie‘ oder ‚Knechtungsmaschine der Freiheit‘.“8 Andererseits schien sich das schleichende Unbehagen gegenüber dem eudämonistischen Verständnis von Polizei in der älteren Polizeywissenschaft in einer Reihe von Verwaltungsreformen niederzuschlagen. Einiges davon wurde im vorangegangenen Kapitel bereits angesprochen. So zeigten sich auch im preußischen Allgemeinen Landrecht Tendenzen, Polizei und allgemeine Rechtspflege zu trennen und bestimmte Wohlfahrtsfunktionen aus dem Bereich der Polizei auszulagern. Der Wirkungsbereich der Polizei wurde auf die Wahrung der „öffentlichen Ruhe, Sicherheit und Ordnung“ festgeschrieben, auch wenn die polizeiliche Tätigkeit nicht vollends in Gefahrenabwehr aufging.9 Bei der Übersetzung derartiger Bemühungen in einen konkreten Katalog von Dienstaufgaben, die die Polizeidiener dann zu bewältigen hatten, zeigt sich ein erhebliches Maß an Kontinuität gegenüber älteren Bestimmungen, in denen es noch stets um Polizey – mit Ypsilon – gegangen war, also Polizey im Sinn der Gesamtheit der inneren Verwaltungstätigkeiten eines Staats. Seit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts wurde die Unterscheidung von Zwang und Förderung bestimmter Zwecke durch den Staat zwar gängig, das bedeutete aber kein vollständiges Verschwinden der polizeywissenschaftlich konnotierten Ideen eines sozialpräventiven Rechtsschutzes, die immer eine Ausweitung der Staatstätigkeit ermöglichten (zumindest in der Theorie). Polizei wurde als repressives Instrument und als „unterstützende Anstalt“ verstanden und auf einen gedoppelten Staatszweck – Sicherheit und Wohlfahrt – bezogen.10 So blieben beispielsweise mit dem Verweis auf ‚Ruhe und Ordnung‘ (am Beginn des neunzehnten Jahrhunderts war das zu einem „stehenden politischen Schlagwort“ geworden) Bezüge auf klassische Staats- und Sicherheitskonzeptionen gewahrt.11 Die 8 Matsumoto, Polizeibegriff [1999], S. 187. 9 Vgl. Nitschke, Peter: Von der Politeia zur Polizei. Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte des Polizei-Begriffs und seiner herrschaftspolitischen Dimensionen von der Antike bis ins 19. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Historische Forschung 19 (1992), S. 1–27, hier: S. 18f; Unruh, GeorgChristoph von: Polizei, Polizeiwissenschaft und Kameralistik, in: Jeserich, Kurt G.A./Pohl, Hans/ Unruh, Georg-Christoph von (Hg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 1: Vom Spätmittelalter bis zum Ende des Reichs, Stuttgart 1983, S. 388–427, hier: S. 423–426. Wie weitreichend oder auch intendiert das war, ist in der Forschung umstritten. So kommt Peter Preu zu dem Schluss, dass die im Allgemeinen Landrecht angedeutete punktuelle Beschränkung der Polizei keineswegs eine Suspendierung des weiten, wohlfahrtlich gedachten Polizeibegriffs bedeutete (vgl. Preu, Polizeibegriff [1983], S. 315–319). 10 Vgl. Matsumoto, Polizeibegriff [1999], S. 22f., 41–47; Preu, Polizeibegriff [1983], S. 226–243. 11 Vgl. Saupe, Achim: Von „Ruhe und Ordnung“ zur „inneren Sicherheit“. Eine Historisierung gesellschaftlicher Dispositive, in: Zeithistorische Forschungen 9 (2010), H. 2, S. 170–187. Während der 1830er Jahre wurde zunehmend der Gegensatz von Aufruhr versus Ordnung etabliert. „‚Ruhe und
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Berufung auf den Topos des Gemeinwohls ermöglichte es, ‚sozialpolitisches‘ Handeln mit der Sorge um Ruhe, Sicherheit und Ordnung sowie dem Bemühen um Gefahrenabwehr und Straftatverfolgung zu begründen. Der Gemeinwohlauftrag legitimierte Polizei und Verwaltung als solche, ließ jedoch unterschiedliche Auslegungen zu und erforderte sie sogar.12 Es ist bezeichnend für das Polizeiverständnis des frühen neunzehnten Jahrhunderts, dass Georg Wilhelm Friedrich Hegel die Polizei in seinen Grundlinien der Philosophie des Rechts (1820) in der Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft verortete, die er sorgfältig von Familie und Staat unterschied. Polizei wurde von Hegel auf einer Ebene mit dem „System der Bedürfnisse“ und der „Rechtspflege“ angesiedelt. Aufgabe „polizeilicher Vorsorge“ sei es, „zunächst das Allgemeine, welches in der Besonderheit der bürgerlichen Gesellschaft enthalten ist“, zu verwirklichen und zu erhalten. Es gehe darum, die „Interessen, die über diese Gesellschaft hinausführen“, zu tragen, also die Allgemeinheit auch vor „besonderen Zwecken und Interessen“ zu schützen.13 Entscheidend ist dabei, dass die Bestimmung von Polizei im Allgemeinen und die sporadischen Ausführungen zu polizeilichen Aufgaben im Einzelnen weitgehend unvermittelt blieben; und Polizei in der Folge nur additiv zu bestimmen, also nicht prinzipiell zu begrenzen war. Dieser Umstand markierte für Hegel das eigentliche Charakteristikum von Polizei. Es sind die Sitten, der Geist der übrigen Verfassung, der jedesmalige Zustand, die Gefahr des Augenblicks usf., welche die näheren Bestimmungen geben. Zusatz. Es sind hier keine festen Bestimmungen zu geben und keine absoluten Grenzen zu ziehen. Alles ist hier persönlich […]. Durch diese Seiten der Zufälligkeit und willkürlichen Persönlichkeit erhält die Polizei etwas Gehässiges. Sie kann bei sehr gebildeter Reflexion die Richtung nehmen, alles Mögliche in ihren Bereich zu ziehen, denn in allem läßt sich eine Beziehung finden, durch die etwas schädlich werden könnte. Darin kann die Polizei sehr pedantisch zu Werke gehen und das gewöhnliche Leben der Individuen genieren, aber welcher Übelstand dies auch ist, eine objektive Grenzlinie kann hier nicht gezogen werden.14
Ordnung‘ ist nun – in einem viel engeren Sinne als im 18. Jahrhundert – eine ‚bürgerliche‘ Parole, ein mit der bewaffneten Ordnungsmacht verknüpftes Schlagwort, das sich zunehmend gegen die erstarkende Arbeiterbewegung richtet“ (Frühwald, Wolfgang (Hg.): „Ruhe und Ordnung“. Literatursprache – Sprache der politischen Werbung, München und Wien 1976, S. 107). 12 Vgl. Lüdtke, Gemeinwohl [1982], S. 74–82. 13 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse [1821], in: ders., Werke, herausgegeben von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. 7, Frankfurt/M. 1970, § 249. 14 Ebd., § 234.
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Der Polizeidiener als Faktotum und das „freie Ermessen“
Gehässigkeit und Pedanterie sind also die entscheidenden Merkmale der Polizei, auch wenn sie, so legt Hegel nahe, eher eine in Kauf zu nehmende Nebenfolge wären. Die Tätigkeit der Polizei wird mit dieser Zuschreibung als „schulsteife, geschmacklose Einseitigkeit und Kleinigkeitskrämerei“, als „grüblerische Peinlichkeit“ und „unnütze Genauigkeit in Formalien“ markiert: „eben das ist pedanterie, im geringfügigen eigensinnig zu widerstreben und nicht zu gewahren, dasz uns daneben ein groszer gewinn entschlüpft“, so die im Grimm’schen Wörterbuch zusammengetragenen Bedeutungen.15 Gehässigkeit hatte zum Zeitpunkt, als Hegel den Begriff auf die Polizei bezog, bereits von seiner älteren Schärfe verloren. Die starke Bedeutung von Hass und offener Feindschaft stand nicht mehr im Vordergrund. Es ging nun eher um die mildere Empfindung, jemand wäre einem nicht wohlgesonnen oder machte einem das Leben schwer.16 Der Verweis auf den gehässigen, pedantischen Charakter der Polizei ist ein wiederkehrender, freilich auch variierender Topos. Hinsichtlich der polizeidienerlichen Selbstbildung ergeben sich daraus verschiedene Konsequenzen. Während Pedanterie vornehmlich als Problem des Charakters, der Eigenschaften und des Vorgehens von Polizeidienern erschien und nirgends diskutiert wurde, dass Schwierigkeiten auch aus einem etwaigen pedantischen Auftreten des Publikums entstehen könnten, konnte sich eine gehässige Haltung sowohl bei Polizeidienern als auch bei den Polizierten zeigen. Die Bedeutung beider Topoi für die Ausformulierung polizeidienerlicher Verhaltenslehren war dementsprechend nicht identisch. Pedantisches Vorgehen, das bei Hegel als notwendiges Übel erschien, wurde bei Georg Büchner zur metaphorischen Figur des Polizeisoldaten, als jemand, der sich berufsmäßig in Dinge einmischt, die ihn persönlich gar nicht berühren.17 Ein Behördenhandbuch aus dem Jahr 1821 riet der Polizei entsprechend zu klugem Abwägen beim Einschreiten, denn so „werden die Forderungen einer guten und vorsichtigen Polizei mit der Achtung der Rechte eines jeden Einzelnen vereinigt, die Polizei wirkt wohlthätig, ohne lästig zu fallen“.18 Hegels Bedenken gingen nicht in diese Richtung, rechtfertigte der übergeordnete Polizeizweck für ihn doch gewisse Unannehmlichkeiten. Auffällig ist vor allem die Übersetzung dieses Zwecks in eine Addition polizeialltäglicher Verrichtungen.
15 Art. Pedanterie, in: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Online-Version vom 15.11.2016 [Kleinschreibung im Original]. 16 Vgl. Art. gehässig, Gehässigkeit, in: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Online-Version vom 15.11.2016. 17 Büchner, Georg: Dantons Tod [1835], in: ders., Werke und Briefe, München 1980, S. 7–68, Zitat: S. 25, lässt Robespierre einen „Polizeisoldaten des Himmels“ nennen, der „aus der Guillotine einen Waschzuber für die unreine Wäsche anderer Leute“ gemacht habe. 18 Barth, Handbuch [1821], S. 481. Mohl, Polizei-Wissenschaft [1844–1845], S. 37, wies darauf hin, dass „der Bürger durch Aufdringung ungewünschter Wohltaten sehr belästigt“ werde.
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Zusatz. Die polizeiliche Aufsicht und Vorsorge hat den Zweck, das Individuum mit der allgemeinen Möglichkeit zu vermitteln, die zur Erreichung der individuellen Zwecke vorhanden ist. Sie hat für Straßenbeleuchtung, Brückenbau, Taxation der täglichen Bedürfnisse sowie für die Gesundheit Sorge zu tragen. Hier sind nun zwei Hauptansichten herrschend. Die eine behauptet, daß der Polizei die Aufgabe über alles gebühre, die andere, daß die Polizei hier nichts zu bestimmen habe, indem jeder sich nach dem Bedürfnis des anderen richten werde. Der Einzelne muß freilich ein Recht haben, sich auf diese oder jene Weise sein Brot zu verdienen, aber auf der anderen Seite hat auch das Publikum ein Recht zu verlangen, daß das Nötige auf gehörige Weise geleistet werde.19
Hegels Bestimmung von Polizei als eines der zentralen Ordnungsinstrumente der bürgerlichen Gesellschaft war Teil einer Strategie der Pöbelprävention. Indem es der bürgerlichen Gesellschaft nicht gelingt, jedem die Mittel zur selbständigen Subsistenzsicherung bereitzustellen und eine Versorgung der Armen durch Mildtätigkeit allein nicht praktikabel scheint, entstanden für Hegel Notwendigkeit und prinzipiell unbegrenzbares Operationsfeld einer Polizei. „Als letzte Instanz“, so schreibt Frank Ruda, „legitimiert sich ihr Verfahren daher durch den Verstand und Charakter derer, die ihr Geschäft betreiben.“20 Die Hegel’sche Bestimmung macht Polizei also zu etwas Allzuständigem und den einzelnen Polizeidiener (obwohl Hegel sich für das Personal der bürgerlichen Gesellschaft nicht interessierte) damit nicht zum Spezialisten für Sicherheitsbelange und konkrete Aufgaben, sondern zum Faktotum. Polizeidiener waren in erster Linie eben Diener. Die Aufgaben, die ihnen zugeteilt wurden, die Art und Weise, wie sie für die Erledigung dieser Aufgaben zur Verfügung zu stehen und sich zu verhalten hatten, zeichneten die Bahnen einer bestimmten Selbstbildung vor. Als Faktotum gehörten sie zum Gesinde, also zur Gruppe der Arbeitskräfte, die auf einer niedrigeren sozialen Stufe als ihre jeweiligen Arbeitgeber standen, eine als inferior etikettierte manuelle Arbeit verrichteten und einer gesetzlich und vertraglich festgeschriebenen Arbeitspflicht unterlagen, die nicht auf einzelne Handlungen und Tätigkeiten bezogen war.21 Polizeidiener taten also Dienst, und sie taten das zu einem Zeitpunkt, als die einsetzende Ökonomisierung des Arbeitsbegriffs Dienstverhältnisse in eine neue Perspektive rückte. Angesichts der sich durchsetzenden „Scheidung zwischen ‚nützlichen‘, schaffend tätigen Menschen einerseits, ‚unnützen‘, privilegiert Genießenden andererseits“ und der Erhebung des „ökonomisch und moralisch begriffenen Leistungsprin19 Hegel, Grundlinien [1821], § 236. Der oben angesprochene „gefühlskonnotative Wandel“ des Polizeibegriffs hatte Hegel offenkundig nicht erfasst – oder er wollte ihm etwas entgegensetzen. 20 Ruda, Frank: Hegels Pöbel. Eine Untersuchung der „Grundlinien der Philosophie des Rechts“, Konstanz 2011, S. 51. 21 Vgl. Müller-Staats, Klagen [1987], S. 11f.; Krajewski, Diener [2010], S. 43.
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Der Polizeidiener als Faktotum und das „freie Ermessen“
zips zum Maßstab der (nicht mehr traditionell gesehenen) Gesellschaft“ transportierten Polizeidiener die ältere Figur des Dieners in eine moderne Umgebung. Sie durchkreuzten damit Fassungen der neuen „ökonomisch begriffenen Leistungsgesellschaft“, zu der – etwa für Adam Smith – „nur die produktiven Tätigkeiten (Urproduktion, Verarbeitung, Verteilung)“ gehörten, „wogegen die unproduktiven, ökonomisch nicht wertschaffenden Dienstboten, Landesregenten, Militär- und Zivilbeamte, Pfarrer, Ärzte, überhaupt alle Gelehrte, ferner Schauspieler, Tänzer, Sänger usw. nichts hervorbrachten, wofür man eine gleiche Quantität Arbeit erkaufen könnte.“22 Diese drastische Scheidung von Arbeit und Dienst – deren sozialhistorisches Gegenstück in der Auflösung des Gesindewesens und der Entstehung der Arbeiterschaft zu finden ist23 – rief um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts eine konservativ-romantische Gegenbewegung auf den Plan, die wieder den Dienstcharakter der Arbeit betonte und die liberal-ökonomische „Aufhebung allen Dienstes im Reiche Gottes auf Erden, die allmähliche Herauspraktizierung aller Ehre aus den Arbeiten, das Brechen aller Schranken im Leben, welche diesem Streben im Wege waren“, kritisierte.24 Die Figur des Polizeidieners konnte in einer vom Ideal produktiver Arbeit bestimmten Gesellschaft dem alten Ideal des Dienens neue Legitimität verschaffen. Polizeidiener waren als Diener in einer ähnlichen Lage wie Dienstboten und Dienstmädchen seit jeher. Im Gegensatz zum modernen Arbeiter, der an seiner Produktivität gemessen wird, für den also entscheidend war, eine bestimmte Aufgabe in einer bestimmten Zeit zu erledigen, waren Dienstverhältnisse durch die Abwesenheit derart strukturierter Zeitbezüge gekennzeichnet. Diener hatten stattdessen auf Verlangen der Herrschaft jederzeit zur Verfügung zu stehen. Im Dienstverhältnis vermietete man sich als Person mit der ganzen Arbeitskraft. Die skandalös langen Arbeitszeiten wurden damit zu rechtfertigen gesucht, dass es sich nicht durchgehend um Arbeitszeit, sondern vielfach um Phasen der Arbeitsbereitschaft handelte. Dienstverhältnisse waren durch die unmittelbare Abhängigkeit der Arbeitsabläufe von der persönlichen Willkür der Dienstgeber gekennzeichnet.25 Polizeidienern dürfte das vertraut gewesen sein. Sie hatten dem Magistrat zur Verfügung zu stehen, wann und wozu auch immer. Es gab viel zu tun und kaum etwas, das nicht hin und wieder zur Erledigung aufgetragen wurde. (Die im vorangegangenen Kapitel nachgezeichneten Diskussionen um die Verwendung der Polizeidiener 22 Conze, Werner: Art. Arbeit, in: Brunner, Otto/Conze, Werner/Koselleck, Reinhart (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1, Stuttgart 1972, S. 154–215, S. 174, 180. 23 Vgl. Kocka, Arbeiterleben [2015], S. 38–47. 24 Hermann Wagener, zitiert nach Conze, Art. Arbeit [1972], S. 196. 25 Vgl. Müller-Staats, Klagen [1987], S. 175; Wierling, Dorothee: Mädchen für alles. Arbeitsalltag und Lebensgeschichte städtischer Dienstmädchen um die Jahrhundertwende, Berlin und Bonn 1987, S. 88f., 121.
Gehässigkeit, Pedanterie und Hegel
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im Kommunaldienst gaben bereits einen Hinweis darauf.) Die in städtischen Polizeiinstruktionen zusammengetragenen – oft lediglich aufgezählten – Gegenstände polizeilicher Aufmerksamkeit erzeugten und verstärkten einen von einfachen Polizeidienern, Offizianten usw. wahrgenommenen Handlungsdruck, der durch die Notwendigkeit gekennzeichnet war, stets zahlreiche Dinge gleichzeitig handhaben zu müssen. Freilich gaben Instruktionen „kaum eine brauchbare Hilfe, um die Grenzen der Eingreifmöglichkeiten wie -verpflichtungen, aber auch der dabei erlaubten Mittel des polizeilichen Handels ‚vor Ort‘ eindeutig zu markieren“.26 In einer 1800 für die Polizeidiener Münchens erlassenen Instruktion findet sich nicht viel mehr als eine Auflistung der zu bestrafenden und nach Möglichkeit zu verhindernden Vergehen: Störung der Ruhe an Feiertagen und während des Gottesdiensts; Kontrolle fremder, durchreisender, „lüderlicher“, verdächtiger, müßig gehender Personen; Verhinderung von Diebereien; Nachhauseschaffen lärmender Kinder; Vorgehen gegen Falschspieler; Einhaltung von Sperrzeiten; Verbringung von ‚rasenden‘ Menschen in ein Heim oder Hospital; Habhaftwerdung wütiger Hunde und sonstiger schädlicher Tiere; Aufmerksamkeit bei großen Versammlungen; Abbau von Feuergefahren sowie Gefahren und Hindernissen auf den Straßen; Sorge um die Reinlichkeit der Stadt und die „Bequemlichkeit für das Volk“; wohlfeile Preise, Marktaufsicht usw. usf.27 Auch die im Oktober 1808 für Bayern erlassene Instruktion der Polizei-Direktionen in den Städten bestimmte die Aufgaben der Polizei durch additive Abhandlung: Sicherheit, Armenpflege, Sanität, Lebensmittel, Unglücksfälle, Dienstboten-Ordnung, Religion und Unterricht, Reinlichkeit, Bauwesen, Gewerbe, öffentliche Vergnügungen, Intelligenzwesen. Aber auch – vermeintliche – Kleinigkeiten fanden hier ihren Platz: Den Unglücksfällen, welche sich in grösseren Städten öfter durch wüthende Hunde, schädliche Thiere, Wahnsinnige, verbotenes Schiessen, schnelles Fahren und Reiten u. d. gl. ereignen, müssen die Polizei-Direktionen durch angemessene Reglements und genaue Aufsicht vorbeugen.28
26 Lüdtke, Alf: Polizeiverständnis preußischer Polizeihandbücher im 19. Jahrhundert. Zur Folgenlosigkeit akademischer Diskurse, in: Heyen, Volkmar Erik (Hg.), Wissenschaft und Recht der Verwaltung seit dem Ancien Régime. Europäische Ansichten, Frankfurt/M. 1984, S. 307–346, Zitat: S. 317. Lüdtke sieht hier einen Grund für die Entstehung von Handbüchern und Kommentaren, die sich erkennbar von klassischen Polizeiwissenschaftslehren unterschieden und sich mit ihrer Mischung aus Systematisierung, Zusammenfassung und Bewertung unmittelbar an Praktiker richteten. Dieser Aspekt wird im folgenden Teilkapitel vertieft. 27 Vgl. Instruktion Polizeydiener zu München [1800]. 28 Instruktion der Polizei-Direktionen in den Städten [1808], Sp. 2521.
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Der Polizeidiener als Faktotum und das „freie Ermessen“
Die Monats- und Quartalsberichte der Nürnberger Polizeidirektion an den Generalkommissar der Stadt aus den 1810er Jahren geben einen Einblick in die Tätigkeitsfülle städtischer Polizeimannschaften in dieser Zeit.29 Die Berichte umfassten Tabellen über Verhaftete, Insassen der Armen- und Korrektionsanstalten, Lebensmittelpreislisten, Ausgaben der Wohltätigkeitskasse usw. Sie waren allgemein gehalten und befassten sich nur selten mit der konkreten Polizeiarbeit oder der Aufführung und Vorgehensweise der Polizeidiener. Neben der Sicherheitslage beinhalteten sie – ganz im Sinn eines allgemeinen Verwaltungsverständnisses – die Berichtskategorien Armenpflege, Sanität, Lebensmittel, Unglücksfälle, Dienstbotenordnung, Religion und Unterricht, Reinlichkeit, Bauwesen, Gewerbe, öffentliche Vergnügung, IntelligenzWesen. Die Teile zur Sicherheitslage waren in der Regel die kürzesten. Darin verzeichnet wurden Zahl und Ausmaß vorgefallener Tumulte und Exzesse, Trunkenheit und Wirtshausdelikte sowie die Zahl und Schwere der Diebstähle und schließlich die Zahl der Bettler und Vaganten beziehungsweise der Personen, mit deren Legitimationspapieren etwas nicht in Ordnung war. Gelegentlich betonte man die Effizienz einzelner Maßnahmen, beispielsweise der Polizeiwache oder der Nachtwächter und Streifendienste. Wiederholt ist die Rede von „pflichtmäßiger ununterbrochener Wachsamkeit auf alles, was Veranlassung zu Verletzung der allgemeinen Sicherheit hätte geben können“. Verschiedentlich wurde über tägliches und nächtliches Patrouillieren berichtet oder über die Einführung eines neuen Patrouillensystems. Gelobt wurde die „scharfe Aufmerksamkeit der polizeilichen Vigilanz-Posten“, dass man die Vorschriften des Pass- und Meldewesens „auf das pünktlichste befolgt“, entschlossen und erfolgreich die Einhaltung der Sperrstunde durchgesetzt sowie Trunkenbolde und Radaumacher auf den Straßen aufgegriffen und entsprechend bestraft habe. Im zweiten Quartal 1813/1814 resümierte man die eigene Tätigkeit in der Überzeugung, daß die P[olizei]d[irektion] stets eingedenk ihrer Pflichten in dem ihr anvertrauten Wirkungs-Kreis auch in der abgelaufenen Periode alles gethan hat, was sich nach Maßgabe der Umstände und der ihr zu Gebote stehenden – leider! oft genug beschränkten Mittel mit Recht und Billigkeit erwarten läßt. […] Durch stete ununterbrochene Aufmerksamkeit auf die Meinung des Volks, – durch schleunige Untersuchung und Abstellung vorgekommener gegründeter Beschwerde, – durch die bei öffentlichen Volks-Versammlungen angeordnete Vigilanz, – durch direkte und indirekte Aufsicht auf diejenige Klasse von Bürgern, welche ein gemeinsames Interesse vereinigt, – durch die dem Thor- und Wachpersonal ertheilten, die Habhaftwerdung durch Steckbriefe verfolgter Verbrecher betreffenden Instruktionen, – durch Entfernung solcher Leute, die ohne Heimath, ohne Nei29 Dazu und zum Folgenden: Polizeidirektion Nürnberg: Monatsberichte, 1809–1810, StAN, C2, 44–45; Polizeidirektion Nürnberg: Quartalsberichte, 1813–1816 StAN, C2, 47–48. Auf Einzelnachweise wird, sofern auf diese Berichte Bezug genommen wird, verzichtet.
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gung zur Arbeit, unbekümmert im erdlichen Erwerb sich herumzutreiben versuchten, ist jede der öffentlichen Sicherheit gefährliche Störung abgewendet worden.
Aber auch noch sehr viel Wichtigeres hatte man zu tun, so lässt sich dem Bericht für das dritte Quartal 1815/1816 entnehmen, schließlich gab es auch in Nürnberg wütige Hunde, derer man habhaft zu werden hatte. Oder besser: Bekam man den Hund nicht rechtzeitig in den Griff, regulierte man den entstandenen Schaden: „Ein Einwohner, dessen Hund eine vorübergehende Frau angefallen, wodurch letztere veranlaßt wurde, einiges in ihrem Rock gehabte Geschirr fallen zu lassen, ist zum Schadenersatz angehalten.“ Hunde und Geschirr also. Für einen Polizeidiener war das sicher eine greifbare Aufgabe, und für einen Polizeidirektor konnte es immerhin als Nachweis der Diensttüchtigkeit seiner Polizeimannschaft dienen. Wach- und Patrouillendienste gehörten im Gegensatz zu den diffusen anderen Aufgaben, die teilweise von jedem kommunalen Diener ebenso hätten erledigt werden können, zum Kerngeschäft der Polizei. Gleichzeitig war es der am stärksten sichtbare und auf Sichtbarkeit angelegte Teil des Diensts. Noch im achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhundert war das Durchstreifen bestimmter Gegenden zwar eine übliche Praxis, geschah aber in der Regel ad hoc auf Initiative einer lokalen Obrigkeit – und lebte von der Hoffnung, zufällig auf Kriminelle, Bettler, Vaganten usw. zu stoßen. Man hat es in der Frühphase der Polizei eher mit aktionistischem Vorgehen als mit konstanter Dienstverrichtung zu tun. In den Hauptstädten setzten dann aber doch verstärkt Versuche ein, ein kontinuierlicheres Patrouillenwesen zu etablieren. Im städtischen Umfeld verschob sich die Bedeutung der Patrouille seit dem frühen neunzehnten Jahrhundert.30 Regelmäßige Patrouillen sollten stattfinden, um bei Tage, und besonders des Abends Anständigkeit, Ordnung und Ruhe auf den Strassen, in den Tabagien etc. zu erhalten, und Unordnungen zu stillen; des Nachts bezwecken
30 Vgl. Nitschke, Verbrechensbekämpfung [1990], S. 54–57. Die Etablierung eines regelmäßigen Streifendiensts, die durchaus einen Bruch mit der alten Polizeitradition darstellte, gelang auch in England erst mit der Etablierung der Metropolitan Police, und dann zunächst auch nur auf London beschränkt (vgl. Ascoli, David: The Queen’s Peace. The Origins and Development of the Metropolitan Police 1829–1979, London 1979; Emsley, Clive: The English Police. A Political and Social History, London 1996, S. 24–42; Knöbl, Polizei [2001], S. 166–205). Mit der Gründung der Metropolitan Police wurden die Bedeutung des Patrouillierens betont und der Ablauf von Patrouillen reguliert. „Patrolling meant maintaining a steady pace trough a fixed series of streets for a six- or eight-hour shift.“ Aber auch in England dauerte es bis in die 1860er Jahre, bis die Patrouille als reguläre und regulierte Praxis etabliert war und damit eine tendenziell konstante Überwachung bestimmter Stadt- und Bevölkerungsteile möglich wurde ( Jones, David J.V.: The New Police, Crime and People in England and Wales, 1829–1888, in: Transactions of the Royal Historical Society 33 (1983), S. 151–168, Zitat: S. 162).
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sie öffentliche Sicherheit und benehmen Dieben und anderm Gesindel die Gelegenheit zu schaden.31
In einer Instruktion für die Münchener Polizeidiener aus dem Jahr 1800 wurde besondere Aufmerksamkeit bei größeren Versammlungen angemahnt, dabei „haben die Patrouillen, jedoch ohne Insultierung der Leute, besondere Aufmerksamkeit zu tragen, damit kein Unglück geschehe“.32 Aufgabe der Polizeidiener war es, sich „eine schnelle zuverlässige und vollständige Kenntnis über alle örtlichen und persönlichen Verhältnisse in ihrem Bezirk“ zu verschaffen, sowie zu verschiedenen Stunden und in allen Richtungen täglich wenigstens zweymal außerdem aber noch so oft als es vorkommenden besonderen Umständen nach nothwendig oder durch besondere Aufträge befohlen wird mit aller Aufmerksamkeit zu begehen.33
In den bereits zitierten Berichten der Nürnberger Polizeidirektion an die Generalkommission aus den Jahren 1809 bis 1816 wurde die – ordnungsgemäße – Verrichtung von Patrouillen- und Wachdiensten regelmäßig hervorgehoben. Die Polizeiwache, so hieß es für die Monate April bis Juni 1809, sei „Tag und Nacht in der Stadt vertheilt, daß alle Vorfälle sogleich zur Kenntnis kommen. Besondere Nachtwächter durchstreifen die Stadt in allen Richtungen“. Der Dezemberbericht erwähnte die Pflichterfüllung durch Patrouillen. Im März 1810 hieß es: „Die Polizei-Wache patrouilliert Tag und Nacht […]. Jeder Gefahr der allgemeinen Sicherheit wurde hierdurch vorgebeugt, wie jedes Ereignis wodurch dieselbe nur im mindesten hätte gestört werden können, gleich in der Geburt erstickt.“ Die Berichte für die Folgemonate vermerkten: „Die Polizei-Wachen haben durch Patrouillen bei Tag und bei Nacht ihre Schuldigkeit erfüllt.“; sowie: „Die Polizei-Wachen haben durch beständiges Patrouillieren und sonst durch genaue Dienstbesorgung ihre Pflicht erfüllt.“ Im Juli 1810 hieß es: „Die Polizei-Wache setzt ihre Visitationen, Patrouillierungen und Beobachtungen nicht nur innerhalb der Stadt mit demselben Eifer fort.“ Im September wich man von diesem Berichtsschema ab, hatte man nun doch eine Neuigkeit. Eingeführt worden war inzwischen ein neues Patrouillensystem, das vorsah, tagsüber stabile Posten in der Stadt einzurichten, „wodurch soviel erreicht wird, daß keine Straße oder Platz zu irgend einer Tageszeit ohne Aufsicht ist“. „Die fragliche neue Einrichtung gewährt übrigens noch den Vortheil, daß die Controlle der Dienstleistung der gemeinen Mannschaft sehr erleichtert ist.“
31 Meinert, Soldat [1807], S. 202. 32 Instruktion Polizeydiener zu München [1800], S. 15. 33 Zitiert nach Breibeck, Polizei [1971], S. 48.
Polizeiwissenschaft um 1850
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Sieht man von den Spezifika des Patrouillierens, das im frühen neunzehnten Jahrhundert die einzige tatsächlich polizeispezifische Tätigkeit innerhalb einer Ansammlung ganz unterschiedlicher Verwaltungsaufgaben war (während die Vorgaben, bei der Patrouille im Grunde auf alles zu achten, sie wiederum zum Bestandteil pedantischer Kleinlichkeitsjagd machten), ab, so kann an dieser Stelle resümiert werden, dass polizeidienerliche Selbstbildung im ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts innerhalb eines in anderen Bereichen seit langem etablierten Dienstparadigmas ablief. Der Polizeidiener war Faktotum, der tat, was ihm aufgetragen wurde, wann es ihm aufgetragen wurde und so, wie es ihm aufgetragen wurde. Da ihm, dem Polizeiverständnis von städtischen Magistraten geschuldet, mehr oder weniger alles aufgebürdet werden konnte, konnte sein Dienst in zeitgenössischer Perspektive gehässig und pedantisch anmuten. Die Subjektivierungsform des Polizeidieners ermöglichte eine universelle Einsetzbarkeit, erforderte aber auch einen eingreifenden und beauftragenden Dienstherrn. Seit der Jahrhundertmitte, darum geht es nun im Folgenden, rückte dieses Paradigma in den Hintergrund. Es wurde ersetzt durch – polizeiwissenschaftliche – Appelle an ein „selbstthätiges“ Eingreifen von Polizeidienern.
6.2 „Den Polizeibeamten für eine vernünftige Selbstthätigkeit Raum geben“ – Polizeiwissenschaft um 1850 Der Staat, so Pierre Bourdieu, erzeugt einen „Effekt der Departikularisierung“, indem „die Gesamtheit von Institutionen, die wir ‚Staat‘ nennen, das Offizielle und Allgemeine theatralisieren, […] das Spektakel des öffentlichen Respekts vor öffentlichen Wahrheiten bieten, des öffentlichen Respekts vor offiziellen Wahrheiten, in denen sich vorgeblich die Gesellschaft als Ganzes wiedererkennt.“ Der Staat, so heißt es weiter, sei „zum großen Teil das Produkt von Theoretikern“, die freilich unter sozialen Bedingungen theoretisieren, „die bewirken, daß diese Fiktion nicht fiktiv, sondern wirksam, ‚operativ‘ ist“. Bourdieu betont die Rolle, die Juristen bei der schrittweisen Errichtung des Staats spielen: Sie tragen zur Bereitstellung jenes „Ensembles spezifischer Ressourcen“ bei, „die ihre Besitzer berechtigen zu sagen, was für die soziale Welt als Ganzes gut ist, was offiziell anerkannt ist, und Worte zu äußern, die in Wahrheit Befehle sind, weil sie die Kraft des Offiziellen im Rücken haben“.34 Polizeiwissenschaftliche Abhandlungen des neunzehnten Jahrhunderts hatten maßgeblichen Anteil daran, den Staat als „wohlbegründete Illusion“ (Bourdieu) hervorzubringen. Die polizeiwissenschaftliche Theorie, vor allem in Form zahlreicher Polizeiwissenschaftslehren, trug zur Konstruktion des Staats bei, indem sie von kon34 Bourdieu, Staat [2014], S. 63, 66f., 70.
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kreten polizeilichen Praktiken abstrahierte und der Polizei eine grundlegende Stellung im staatlichen Ganzen zuwies. Einerseits hatten sie mit der Bestimmung von Staatsund Polizeizweck teil an der Erzeugung des Allgemeinen und Universellen, andererseits setzten sie die Polizei als Verkörperung der Staatsgewalt ein. Diese Dopplung erzeugte den Effekt einer scheinbar selbstverständlichen, unmittelbaren Evidenz des Staats vor Ort (der aber als Effekt polizeiwissenschaftlicher „Departikularisierung“ allein noch nicht „operativ“ wurde). Trotz aller Eigenheiten teilten Polizeiwissenschaftslehren ein Streben nach systematischer Entfaltung der Polizei als einheitlichen Gegenstand. Diese Epistemologie geriet nach 1848 in eine Krise. Die Kluft zur Praxis, die von Autoren verschiedener Polizeiwissenschaftslehren selbst beklagt wurde (natürlich stets nur bei Kollegen) und die bei der Lektüre förmlich greifbar ist, wurde nun ebenso zum Problem wie die Ausblendung der fragmentierten und fragmentierenden Ebene der Polizeidiener. Damit wurden die Grundlagen der Polizeiwissenschaft als Instrument der theoretischen Vereinheitlichung des Staats fraglich. Schließlich verlangte, in der Terminologie Bourdieus, das Operativwerden des Staats nach Operateuren vor Ort. Und es warf die Frage auf, wie diese beschaffen sein und sich verhalten sollten, damit der ansonsten fiktive Staat „operativ“ werden konnte. Die Konsolidierung ‚eigentlicher‘ Polizeiaufgaben vollzog sich langsam. Polizeiwissenschaftliche Debatten um eine Begrenzung der Staatsgewalt und damit eben auch eine funktionale Engführung von Polizei und Polizeibegriff verebbten in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts.35 Unterscheidungen, wie diejenige zwischen Zivil- und Justizverwaltung oder die Trennung von Zuständigkeiten, erlangten kaum praktische Bedeutung. Vor allem die Kopplung von Polizei- und Gemeinwohlbegriff ermöglichte den dauerhaften Fortbestand entgrenzter Zugriffe. An die Stelle aufklärerischer Theorieabhandlungen traten nun verstärkt Polizeihandbücher, die die Lücke „zwischen ministerieller Weitschweifigkeit und täglichem Handlungsdruck“ zu schließen versprachen. Diese Textgattung überging in der Regel die in theoretischen Abhandlungen heftig diskutierte Frage nach der Unterscheidung von Zivil- und Justizverwaltung oder getrennten Zuständigkeiten. Stattdessen betonten verschiedene Autoren die Notwendigkeit von Spielräumen für die Polizeidiener. Zwar bedürfe es allgemeiner Prinzipien polizeilichen Handelns und Einschreitens, so die regelmäßig vertretene Position, diese müssten aber angesichts der Fülle und Vielfalt der Erfahrungen im Dienst vor Ort zwangsläufig unzureichend sein. Nicht immer 35 Dazu und zum Folgenden: Lüdtke, Alf: Von der „tätigen Verfassung“ zur Abwehr von „Störern“. Zur Theoriegeschichte von „Polizei“ und staatlicher Zwangsgewalt im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Der Staat 20 (1981), S. 201–228; ders.: Zurück zur „Policey“? Sicherheit und Ordnung in Polizeibegriff und Polizeipraxis vom 18. bis ins 21. Jahrhundert, in: Goch, Stefan (Hg.), Städtische Gesellschaft und Polizei. Beiträge zur Sozialgeschichte der Polizei in Gelsenkirchen, Essen 2005, S. 26–35.
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könnte man jeden Schritt eines polizeilichen Geschäfts vorschreiben, weshalb der Praktiker auf Grundlage seiner Erfahrungen eigene Regeln ableiten müsse, wolle er nicht „regellos herumtappen“. Innerhalb derartiger Bestimmungen war das so genannte allgemeine Wohl „unmittelbar dem Ermessen der Administration, genauer: dem ihrer regionalen und lokalen ‚Offizianten‘ anheimgegeben. Die Erfordernisse des ‚gemeinen Besten‘ verknüpften normative Leerformeln mit delegierter Interpretationsbefugnis“.36 Auf dem letzten Höhepunkt der geschwätzigen Polizeiwissenschaftslehre präsentierte Robert Mohl 1844 einen seitenreichen Entwurf, der die Polizei auf rechtsstaatliche Grundsätze verpflichten, mithin begrenzen wollte. Unfreiwillig dokumentierte er damit aber zugleich, dass der Polizeiwissenschaft kein Hebel zur Verfügung stand, um die ausufernden Aufgabenzuschreibungen in den Griff zu bekommen. Das Sammelsurium der Aufgaben verweist auf das Konzept einer allgemeinen Verwaltung, während die Frage der Umsetzung auf eine konkrete Behörde und ihr Personal verweist. Im polizeiwissenschaftlichen Verzicht darauf, diesen Punkt zu explizieren, lag der Grund der theoretischen Schwierigkeiten einer nun erkennbar unzeitgemäßen Wissenschaft. Polizei, so schrieb Mohl, sei auf das Notwendigste zu beschränken, und es müsse klar sein, „daß sie nicht zu viel zu regiren habe“.37 Sie sei der Inbegriff aller jener verschiedenartigen Anstalten und Einrichtungen, welche dahin abzwecken, durch Verwendung der allgemeinen Staatsgewalt die äußeren Hindernisse zu entfernen, welche der allseitigen erlaubten Entwicklung der Menschenkräfte im Wege stehen, und welche der Einzelne nicht wegräumen kann.38
Entsprechend weit und vielfältig waren die Aufgaben. Bei Mohl umfassten sie: Art und Zahl der Bevölkerung, Krankheit und deren Ursachen, Befriedigung notwendiger Lebensbedürfnisse, Maßnahmen gegen Teuerung, Hilfe bei Nahrungslosigkeit Einzelner wie auch Massenarmut, Verstandesbildung, sittliche und religiöse Bildung, 36 Ders., Polizeiverständnis [1984], S. 324. 37 Mohl, Polizei-Wissenschaft [1844–1845], S. 28f. Zu Mohls Versuchen einer rechtsstaatlichen Begrenzung des Regierens vgl. Angermann, Erich: Die Verbindung des „polizeistaatlichen“ Wohlfahrtsideals mit dem Rechtsgedanken im deutschen Frühliberalismus. Eine Studie über die Verwaltungslehre Robert von Mohls, in: Historisches Jahrbuch 74 (1954), S. 462–472, hier: S 464, der resümiert: „Es stellte sich daher für den bürgerlichen Liberalismus am Anfang des 19. Jahrhunderts die Aufgabe, den Staat so mit rechtsstaatlichen Elementen zu durchdringen, daß er den ihm eigenen polizeistaatlichen, das heißt autoritär-kollektivistischen Charakter, nicht aber die Möglichkeit verlor, den Bedürfnissen der lebendigen Wirklichkeit zu genügen. [...] [A]m Zuständigkeitsbereich des Staates sollte sich mithin nichts ändern; aber er sollte nur ‚unterstützend und nachhelfend‘ wirken. Die Impulse seines Handelns sollten also nicht von ihm selbst als einem kollektiven Ganzen ausgehen, sondern durch die Interessen der einzeln, in Gruppen oder in ihrer Gesamtheit auftretenden Individuen ausgelöst werden.“ 38 Mohl, Polizei-Wissenschaft [1844–1845], S. 11.
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Der Polizeidiener als Faktotum und das „freie Ermessen“
Geschmacksbildung. Mohls gesamter zweiter Band entfaltet diese Aufgabenbereiche noch einmal im Detail: die Sorge des Staats für das Vermögen der Bürger, für eine Begünstigung des Erwerbs von Eigentum, für die Aufhebung persönlicher Gewerbeunfähigkeit, für eine Erleichterung des Erwerbs von Grundeigentum und Kapital, für eine Sicherung des erworbenen Eigentums gegen Elementarereignisse. Wer sich behördlich und personell darum kümmern sollte, und wie das geschehen sollte – damit belastete Mohl sich nicht. Im Gegensatz zu Mohl und anderen war Gustav Zimmermann kein Verfechter rechtsstaatlicher Begrenzung der Polizei, aber doch bemüht, in der Praxis tragfähige Grenzen der Polizeiaufgaben festzulegen und überhaupt erst einmal zu einer klaren Aufgabenbestimmung zu kommen. Das gegenwärtige Zeitalter, so schrieb er, sei gewillt, der Polizei zu übertragen, was als polizeiliche Aufgabe erkannt ist. Daneben zeige sich aber der bedenkliche Trend, „daß nämlich die Polizeibranche wiederum zu einem Asyl für allerlei Functionen gemacht wird“.39 In der Folge würden die eigentlichen Aufgaben wie auch die Erzeugung eines bestimmten Personals vernachlässigt. Die schädliche Wirkung jener Cumulation des polizeilichen Geschäftes mit fremden Functionen auf die Ausbildung und Thätigkeit der Polizeibeamten läßt sich fast mit mathematischer Sicherheit zeigen. […] Die Verbindung heterogener Functionen in denselben Beamten erzeugt halbe Geschicklichkeiten. Da aber zwei und selbst zehn halbkunstfertige Diener keinen ganzen machen, so kann der geschätzte Leser ermessen, wie ein Staatsdienst bestellt sein muß, wo diese Halbheit der Ausbildung und Fertigkeit zur Regel erhoben ist. Das Substitutionswesen und eine unbegrenzte Vermehrung der Diener folgt außerdem von selbst aus dieser Cumulation.40
Aufgabenbestimmung und -begrenzung wurden bei Zimmermann stärker als bei seinen zeitgenössischen Kollegen an die Problematik des Personals und seiner Ausbildung gekoppelt. Gerade angesichts der Aufgabenfülle stellte sich die Frage der Anleitung zum Dienst. Das war der Ort, an dem das freie Ermessen als mögliche Antwort in den Blick geriet. In diese Richtung führen die Überlegungen von Gottlob Leberecht Funke, der sich im gleichen Jahr wie Robert Mohl anschickte, dem Polizeibeamten einen „wissenschaftlichen Leitfaden“ bereitzustellen. Funke rekapitulierte die Aufgaben der Polizei in polizeiwissenschaftlicher Tradition, griff von dort aus dann aber die Notwendigkeit einer Handreichung zwecks Orientierung der Polizeibehörden und Polizeidiener auf, denn, so schrieb er, je weniger die Gesetzgebung
39 Zimmermann, Polizei [1845–1849], S. 691. 40 Ebd., S. 696–698 [meine Hervorhebungen].
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die polizeiliche Thätigkeit nach allen Seiten hin scharf zu begrenzen vermag, um so öfter kommt der Polizeibeamte in den Fall, auf allgemeine Grundsätze zurückzugehen, um bemessen zu können, ob er einzuschreiten habe, was ihm obliege und wie weit er gehen dürfe.41
Mit dieser Bestimmung bot Funke eine Lösung für das Problem, das früher über Dienstparadigma und Adressierung des Polizeidieners als Faktotum zu lösen versucht wurde. Während man, und darin liegt die entscheidende Verschiebung, einem Diener schließlich immer sagen musste, was er wann wo und wie zu tun hatte, sollte der Polizeibeamte nun reflektierend selbst bemessen, ob er einzuschreiten habe, was ihm obliege und wie weit er gehen dürfe. Die selbsttätige Entscheidung der Polizeidiener über ihr Einschreiten beschäftigte die Polizeiwissenschaftler der Jahrhundertmitte aus der Notwendigkeit heraus, die ausufernden Tätigkeitsfelder in eine praktikable Form zu übersetzen. In der Regel, so behauptete Funke, wären Gefahren für Leben, Gesundheit und Eigentum „großentheils unschwer zu bestimmen“, „wenn es auch schwierig sein mag, im Voraus Alles genau zu bezeichnen, was deshalb nicht zu dulden sei“. Allerdings bliebe stets ein Rest und daher müsse „auch in sofern dem Ermessen im einzelnen Falle ein größerer Spielraum gelassen werden, als sich die Voraussetzung, unter welcher eine Gefährdung Platz greift, oft nicht genau begrenzen läßt“.42 Polizeiwissenschaft und Polizeigesetzgebung, so auch der fränkische Jurist und Politiker Wilhelm Joseph Behr, könnten sich noch so sehr um Vollständigkeit bemühen – ihre Bestimmungen können und werden immer nur allgemeine, umfassende Gattungs-Bestimmungen sein, ohne sich auf die möglichen Modifikationen konkreter, individueller Fälle einzulassen. Wenn nun aber den Organen der Polizeiverwaltung solche Fälle vorkommen, an denen es nie fehlen wird, in welchen die Subsumtion schwieriger wird, oder gar allgemeine Regeln, unter die zu subsumieren wäre, mangeln, worin sollen sie dann den positiven Kompaß ihrer Richtung, den Maßstab ihrer Handlungsweise suchen, wenn ihnen nicht wenigstens das von der Polizei zu erstrebende Ziel deutlich vorgesteckt, die Aufgabe derselben im allgemeinen vorgezeichnet ist?43
Dieses Eingeständnis der Unvermeidbarkeit einer Modifikation konkreter, individueller Fälle bei der Ausübung des Diensts ist umso aufschlussreicher, als dass sein 41 Funke, Polizei [1844], S. 1f. 42 Ebd., S. 64. Dinge, so Funke weiter, die die Sinne und das Gefühl verletzen (schiefe Häuser in einer geraden Straße, stinkende Betriebe in einem bewohnten Viertel, der Aushang das sittliche Gefühl verletzender Bilder etc.), könnten kaum in allgemeinen Grundsätzen festgelegt werden, weil der Übergang zwischen statthaft und unstatthaft „zu unmerkbar“ ausfalle. 43 Behr, Polizei-Wissenschaftslehre [1848], S. 61f. [meine Hervorhebung].
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Autor ein entschiedener Verfechter einer rechtsstaatlichen Begrenzung der Polizeigewalt und von eindeutig liberaler Reputation war. Jede Gesetzgebung müsse, so schrieb Behr, so beschaffen sein, dass sie „zugleich den Polizeibeamten für eine vernünftige Selbstthätigkeit Raum zu geben gestattet, während in Fällen des Bedürfnisses augenblicklichen Einschreitens der Polizei der Verzug im Einholen höherer Befehle den Zweck vereitelt“.44 Die Notwendigkeit der Selbstthätigkeit resultierte aus dem Umfang polizeilicher Aufgaben und der Unvorhersehbarkeit der Dinge, die da kommen mochten. Vor dem Hintergrund dieser Diskussionen unternahm das 1862 in Kraft getretene Polizeistrafgesetzbuch für das Königreich Bayern den Versuch, eine einheitliche und verbindliche Systematisierung der Aufgabenfelder der Polizei zu leisten, das heißt Polizeivergehen, Strafmaß und Strafarten, Vollzugsmaßregeln, Richtlinien polizeilichen Einschreitens usw. zu regeln.45 Das Polizeistrafgesetz band Polizeivorschriften an eine ausdrückliche gesetzliche Ermächtigung, und die Polizei verlor mit Ausnahme relativ eng definierter Polizeiübertretungen ihre Strafkompetenz. Orts- und distriktpolizeiliche Vorschriften waren nun der Kreisverwaltungsstelle und den Gemeindebevollmächtigten vorzulegen. Der Hauptteil des Gesetzbuchs bestand aus einer dem Anspruch nach vollständigen Palette der Übertretungen, das heißt der Fälle, in denen polizeiliches Handeln als notwendig erachtet wurde. Dabei zeigt sich ein klassischer Katalog an Polizeiübertretungen.46 Joseph Pözl versuchte in seinem als Kommentar 44 Ebd., S. 62 [meine Hervorhebung]. 45 Bereits im Vorfeld der Verabschiedung intervenierten Bezirksregierungen, um Missstände bei Polizeistrafsachen in den Griff zu bekommen. Bis das neue Polizeistrafgesetz verabschiedet war, sollte das auf dem Verordnungsweg geschehen (vgl. Regierung der Oberpfalz: Missstände Polizeistrafgesetzbuch, 21.5.1859, StAN, C7/I, 2776). 46 Vgl. Polizeistrafgesetzbuch für das Königreich Bayern, Bamberg 1862, § 41. Seit Mitte des neunzehnten Jahrhunderts fand nicht nur in Bayern eine Erweiterung des Tätigkeitsfelds der Ortspolizeien sowie ein ausgeprägtes und wirkmächtiges wohlfahrtspolizeiliches Engagement statt – gerade auch im Kontext der Neuorientierung der kommunalen Verwaltungen. Soziale Probleme wurden als Ordnungsfragen wahrgenommen und damit der Zuständigkeit der Polizei zugewiesen. „Die staatsinterventionistische Wende seit den ausgehenden siebziger Jahren aktualisierte nicht nur einen Grundgedanken des vormodernen Wohlfahrtsstaats, nämlich die Zuständigkeit des Staates für die aktive Förderung des allgemeinen Wohls, sondern erhöhte auch sprunghaft den Bedarf nach administrativen Eingriffskapazitäten“ ( Jessen, Ralph: Polizei, Wohlfahrt und die Anfänge des modernen Sozialstaats in Preußen während des Kaiserreichs, in: Geschichte und Gesellschaft 20 (1994), S. 157–180, Zitat: S. 166f.). Die Folgen waren sichtbar: „In der Kasuistik der Polizeilehrbücher und Handbücher für den praktischen Dienst schwollen die Pflichten des Revierbeamten zu einem umfassenden Leistungskatalog an, der von der Überwachung der Meldepflicht über die Revision der Gastwirtschaften und Gewerbebetriebe und die Kontrolle des Sicherheitszustandes von Gebäuden bis hin zur Registrierung und Anzeige von Gesetzesverstößen aller Art reichte“ (ders., Polizei [1991], S. 112). Verstärkt wurde das durch die Neigung der Kommunen, für alles und jedes Verordnungen vorrätig zu halten, die man bei Bedarf herauskramen konnte.
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zum Polizeistrafgesetzbuch angelegten und 1866 veröffentlichten Grundriß zu Vorlesungen über Polizei den Aufgabenbereich zu präzisieren und zu erläutern. Pözl (1814–1881) – Staatsrechtsprofessor zunächst in Würzburg und seit 1847 in München, 1848 Abgeordneter zweier oberpfälzischer Wahlkreise in der Paulskirchenversammlung, in den 1850er Jahren ‚fortschrittlicher‘ Vertreter in der bayerischen Abgeordnetenkammer – war einer der profiliertesten bayerischen Verwaltungs- und Polizeiwissenschaftler seiner Zeit, dessen Arbeiten wesentlich durch den Versuch gekennzeichnet waren, staatsphilosophische Überlegungen stärker als bisher in konstruktive Gesetzeserläuterung zu überführen. In seinem Grundriß folgte er der expansiven Logik der Aufgabenbestimmung, die das Gesetz vorgab. Und so hob er an, die Polizei ist die Staatsthätigkeit, welche das Bestehende vor Gefährdung und Verletzung zu sichern, und für die Wohlfahrt des Staates, so ferne und so weit diese als die unerläßliche Bedingung der Sicherheit des Bestehenden erscheint, mit obrigkeitlichem Zwang zu wirken und zu handeln berufen ist.47
Zwar sei es geboten, nur solche Handlungen zu verfolgen, welche vorher als strafbar bestimmt wurden, allerdings bringe es – und hier scheint der Topos der Selbsttätigkeit und des Ermessens, der als zentraler Bezugspunkt polizeidienerlicher Selbstbildung seit der Jahrhundertmitte interpretiert werden kann, wieder durch – die Natur der polizeilichen Aufgaben mit sich, daß das Polizeigesetz sehr oft nur das durch die Strafbestimmung zu schützende Verhältnis im Allgemeinen bezeichnen, und die zulässige Strafart sowie das unüberschreitbare Strafmaß festsetzen kann. Die Ausfüllung dieser Lücke des Gesetzes und seine Anwendung auf die concreten Verhältnisse des Lebens wird den Verwaltungs-Organen überlassen.48
Resümiert man Joseph Pözls ausholende Überlegungen zu den polizeilichen Aufgaben, wie er sie im bayerischen Polizeistrafgesetz intendiert sah, dann zeigt sich, dass er, ausgeprägter als das bei vielen seiner Kollegen der Fall war, immerhin ein Gespür für die heikle Abgrenzung von Wohlfahrt und Sicherheit hatte. Und so beschrieb er immer wieder bestimmte Themen zwar im Allgemeinen als Teil der Polizeiwissenschaft, erachtete sie im Speziellen aber nicht als Teil des Polizeidiensts. Vieles, so schränkte er immer wieder ein, war „nicht eigentlich Aufgabe der Polizei“, auch wenn es im Rahmen einer polizeiwissenschaftlichen Abhandlung zum Polizeistrafgesetzbuch zu
47 Pözl, Grundriß [1866], S. 1. 48 Ebd., S. 11 [meine Hervorhebung].
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erörtern sei. Um nun zwischen summarischer Aufgabenbestimmung und konkreter Dienstausübung zu vermitteln, bot sich der Topos des Ermessens als Schlüssel an. Die gute Einrichtung des gesellschaftlichen Lebens lässt sich aber nicht durchaus durch formale Subsumtion unter vorausbestimmte Satzungen vollziehen. Es ist weiter die sorgfältige Beobachtung und Überwachung der gesellschaftlichen Vorgänge, rascher und energischer Zugriff, Handeln nach Umständen für das Rechte, rasche Entscheidung in kurzem Process, zum Theil Auffindung und Aufstellung der richtigen Regel erst unter concreten Verhältnissen, und für all dieses der entsprechende Apparat wachsamer, schlagfertiger, mit den besonderen Verhältnissen bekannter, an sofortigen ordnenden Zugriff gewöhnter Organe erforderlich. In den letzteren haben wir die Polizei oder die politische Verwaltung vor uns.49
Gesetze, so schrieb und las man immer wieder, könnten niemals alle Verhältnisse im Vorhinein fassen. Daher bedürfe es der Verwaltung als konkretisierender Instanz, gekennzeichnet durch „große Elastizität und Unabhängigkeit von detaillirten Gesetzesbestimmungen“.50 Auch wenn der Polizei als Teil der Verwaltung, so der Hamburger Polizeipräsident noch Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts, gesetzliche Schranken gezogen seien, so ist ihr doch innerhalb dieser Grenzen ein Spielraum gewährt, wie er jeder Verwaltung zustehen muß, wenn sie segensreich wirken soll. Mit Recht hält man daher die Polizei für die beste, durch welche das Gemeinwohl unter möglichster Schonung der Rechte des einzelnen gefördert wird. Den billigen und befriedenden Ausgleich zwischen den öffentlichen und privaten Interessen durch ‚freies Ermessen‘ zu schaffen, ist die vornehmste Pflicht des Polizeileiters, zu deren Erfüllung sowohl umfassende Rechtskenntnisse wie offenes Verständnis für die tausendfältigen Forderungen des praktischen Lebens gehören.51
Die Betonung des freien Ermessens oder des selbständigen Tätigwerdens des Polizeidieners, also Situationsbewertung und Handlung vor Ort, war notwendiges Gegen49 Schäffle, Stellung [1871], S. 235 [meine Hervorhebung]. „Die Bewertung einer Situation“, so resümiert Lüdtke, Verfassung [1981], S. 229, derartige Ausführungen, „blieb den jeweils eingreifenden oder lokal zuständigen Behörden vorbehalten; dasselbe gilt für die Wahl der Mittel, um die ‚Störung‘ oder ‚Gefahr‘ zu beseitigen. Die Rechtsfiguren des pflichtgemäßen ‚Ermessens‘ und der ‚Verhältnismäßigkeit‘ (der Mittel) konnten die Durchschlagskraft der polizeilich-administrativen ‚Definitionsmacht‘ kaum oder gar nicht steuern. Faktisch ausschlaggebend blieben im polizeilichen ‚kurzen Prozeß‘ (A. Schäffle) die alltagspraktischen Handlungsregeln der Beamten ‚vor Ort‘.“ 50 Ackermann, Polizei [1896], S. 55f. 51 Roscher, Gustav: Großstadtpolizei. Ein praktisches Handbuch der deutschen Polizei, Hamburg 1912, S. 31 [meine Hervorhebung].
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stück zur unbegrenzten und unbegrenzbaren Aufgabenfülle der Polizei. Es war paradox: Die Gewährung von Spielräumen, die aktive Polizeidiener erforderte, musste in Einklang gebracht werden mit dem seitens der Behörden rudimentär formulierten Ideal des pflichttreuen Dieners, der sich eher über Gehorsam als über eine besondere Auffassungsgabe auszeichnete, also im Grunde passiv zu bleiben hatte. Die britische Historikerin Carolyn Steedman hat argumentiert, die erste Lektion englischer Polizeidiener bestand im neunzehnten Jahrhundert darin, eine außerordentliche Passivität in Verhalten und Auftreten zu kultivieren. Sie mussten lernen, auch angesichts von Beleidigungen oder Drohungen keine Regung zu zeigen. Kein Konstabler, so Steedman, wäre auf die Idee gekommen, zu einem Vorgehen aus eigenem Antrieb berechtigt zu sein.52 Derart eindeutig scheint sich die Situation für Deutschland nicht darzustellen. Eher war es gerade die Gewährung von Ermessensspielräumen, die eine ruhige, besonnene Haltung überhaupt erst zu einem Erfordernis polizeidienerlichen Handelns machte. Nach innen hatte der Polizeidiener pflichttreuer Diener zu sein (und das brachte eine gewisse Passivität mit sich). Nach außen, im Angesicht des Publikums, hatte er jedoch selbständig aktiv zu werden – und das erforderte perspektivisch die Herausbildung und Verinnerlichung einer bestimmten Verhaltenslehre, die Freiheiten und Selbstregulierung einzuschließen scheint. Muss man sich den Polizeidiener also, in Anlehnung an Albert Camus, als glücklichen Menschen vorstellen – solange er nur draußen unterwegs war und dort lediglich punktuell kontrolliert und herumkommandiert werden konnte? Ließ sich auf der Straße, weit ab von der Stube, die Freiheit erleben, die Sisyphos jedes Mal aufs Neue erlebt, wenn er dem nach unten rollenden Stein folgt, bevor er ihn wieder nach oben bewegen muss?53 Und ließ sich das sogar noch als notwendiges Erfordernis effektiver Dienstausübung rechtfertigen? Um deutlich zu machen, dass Ermessen und Selbstthätigkeit nicht bloß einen Freifahrtschein für die Exekutivbehörden bedeuteten, sondern eine fast unerhörte Neuerung waren, ist hier daran zu erinnern, dass die Spielräume und Freiheiten, die Polizeidienern nun gern eingeräumt und als dienstnotwendig erachtet wurden, noch wenige Jahrzehnte zuvor als Grund einer notwendig verschärften disziplinarischen Aufsicht angeführt wurden. So wurden Rottmeister in einem Handbuch aus dem Jahr 52 Vgl. Steedman, Policing [1984], S. 147. 53 Selbst wenn das so war, dürfte es von einer anderen Realität des Draußen überlagert worden sein: Die Tätigkeit im Freien griff die Gesundheit an und war oft genug Ursache früh eintretender Dienstuntauglichkeit. Daher sehnten sich Polizeidiener immer wieder nach einem Posten in der warmen Stube. Zeitgenössische Beobachter erstaunte der mitunter rasche körperliche und gesundheitliche Verfall zahlreicher Polizeidiener. Als Gründe verwies man auf Unfälle im Dienst oder den Umstand, dass Polizeidiener Wind und Wetter ausgesetzt waren (vgl. für diese Beobachtung am britischen Fall: Shpayer-Makov, Policeman [2002], S. 134). Das Problem (des Ertragens) körperlicher Strapazen wird in einem späteren Kapitel ausführlich diskutiert.
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1821 angewiesen, „den Patrouillen von Zeit zu Zeit nachzugehen“.54 Gerade während der Patrouille, so wurde vermerkt, könnten sich Polizeidiener der Aufsicht durch ihre Vorgesetzten entziehen. Anton Barth, von dem diese Problemdiagnose stammt, bot freilich zugleich eine Lösung: Zur Controlle des Patrouillen-Dienstes dient es, wenn den patrouillierenden PolizeiSoldaten eigene Marken mitgegeben werden, welche sie zur festgesetzten Stunde an die Districts-Vorsteher, deren Bezirk sie bei der Patrouille berühren, bei den Wachen, oder an bestimmten Orten abzugeben haben. Umgekehrt können sie auch beauftragt werden, die Marken dort abzulangen.55
Und so war es im ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts nicht unüblich, dass ein Rottmeister einer Patrouille nachts nachging, „weil man sich ohne beständige Controlle und Nachsicht sehr ungewiß darauf verlassen kann, daß die Polizeidiener ihrer Schuldigkeit nachkommen“.56 Der Umstand des Unbeaufsichtigtseins bei Patrouillen bot Gelegenheit für Fehlverhalten. Dem Nürnberger Polizeidiener Scheck etwa wurde vorgeworfen, bei seinem Gang über den Obstmarkt mehrere Äpfel unbemerkt in seinen Mantel gesteckt zu haben, während er die Verkäuferin mit der Bitte ablenkte, sie solle ihm einige Tüten zusammenstellen, die er später abholen wollte. Scheck sagte aus, er habe sich eine Tüte gleich für den Weg geben lassen und diese auch gleich bezahlt. Von diesen bezahlten Äpfeln steckte er einige in seinen Mantel. Es handelte sich um ein Versehen, dass er in Gedanken versunken wohl auch aus einer anderen Tüte Äpfel genommen habe. Da ihm das natürlich peinlich war, wollte er die besagten Äpfel aber umgehend zurückgeben. Scheck wurde mit einem dreitätigen Arrest bestraft und aus dem Kreise der Polizeisoldaten als unwürdig ausgestoßen, weil „diese Handlung aber umso strafbarer erscheint, als Scheck zu deren ungestörten Begehung die Aufmerksamkeit der [Marktfrau] anderwärts zu beschäftigen wußte“.57 Die disziplinarischen Probleme anlässlich unbeaufsichtigter Patrouillen waren faktisch allerdings seltener, als zeitgenössische Befürchtungen oder dieser kurz skizzierte Einzelfall vermuten lassen. Im Mannschaftsbuch der Regensburger Polizei findet sich für die Frühphase lediglich ein Eintrag über eine vernachlässigte Patrouille aus dem 54 Barth, Handbuch [1821], S. 103f. 55 Ebd., S. 106f. Bei der Londoner Metropolitan Police befassten sich die Vorgesetzten ebenfalls mit der Frage, wie das tatsächliche regelmäßige Ablaufen der festgelegten Routen sicherzustellen war. Eine Möglichkeit war es, die Konstabler Journale anlegen zu lassen, die detaillierte Beschreibungen der Vorkommnisse umfassen sollten. Diese Journale musste man gegenzeichnen lassen und regelmäßig Inspektoren vorlegen (vgl. Emsley, Policeman [2000], S. 100–103; ders., Police [1996], S. 224f.) 56 Überschreitung Polizeistunde Rottmeister Martin, 3.8.1811, StAN, C2, 56. 57 Anzeige gegen Polizeidiener Scheck, 12.11.1810, StAN, C2, 56.
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Jahr 1819. Auch in den 1840er Jahren tauchen lediglich einige wenige Einträge über Vergehen bei Patrouillen auf. Das Patrouillenwesen fällt hier unter der Vielzahl an Vergehen, Nachlässigkeiten usw. kaum ins Gewicht. Polizeidiener Gabriel Schroeder unterließ 1841 eine aufgetragene Alleepatrouille, Alois Moser wurde 1846 während seiner Nachtpatrouille beim Zechen im Wirtshaus gesichtet, und Johann Ortmann wurde 1847 mit einem zweitägigen Arrest unter Androhung von Dienstentlassung bestraft, weil er „in der Nacht vom 2. auf den 3. Febr. als Abschaffungspatrouille so betrunken war, daß er durch eine Militärpatrouille auf das Rathhaus getragen werden mußte“.58 Die Warnungen blieben noch eine Weile bestehen, nur wurde um die Jahrhundertmitte erkannt, dass die potentiellen Probleme auch aus den Besonderheiten des polizeilichen Diensts resultierten. Nötig sei es daher, strenge Aufsicht über die gemeinen Polizeidiener auszuüben, denn „die meiste Zeit befinden sie sich draußen; sie würden polizeilich verwildern, wenn keine Einrichtung getroffen wäre, daß Lehre, Warnung, Muster zu ihnen heraus kömmt und ihnen folgt“.59
58 Vgl. Polizei Regensburg: Mannschaftsbuch, 1851, StAReg, ZR I 10972–74. 59 Zimmermann, Polizei [1845–1849], S. 1192.
7. „Bequeme Sitzämter“ und „handfeste Executionen“ Lasst ein Fünftel oder auch nur ein Zehntel eures unnützen, unpractischen Schreibens weg: da habt ihr die Zeit zur nothwendigen Erziehung.1 [S]o wird auch die Polizei überhaupt mehr thun, also auch weniger schreiben, so wird überhaupt jene viele, unnütze, versessene, ekle, todte Schreiberei in den Bureaux auf das vernünftige Maß reducirt werden. Wir öffnen daher nicht noch einmal die dunklen Pforten der dumpfen, widrigen Bureaux, um den Blick über so viele elende, verkommene Jammergestalten gleiten zu lassen, welche das ganze Leben und Treiben der Polizei im eigensten Sinne des Wortes in die Tinte gebracht haben und selbst nur in Tinte leben, weben und sterben, ohne je einen frischen Athemzug, ohne je einen herzerquickenden Blick in das helle, schöne, klare Leben der reichen Menschenseele und der herrlichen Gottesnatur gethan zu haben.2 Das Verfahren der Polizeibehörden soll ein möglichst einfaches und rasches – summarisch – sein. Daher Vermeidung aller unnöthigen Schreibereien, kurze Fristen und Termine.3
In seinem Film Kaspar Hauser – Jeder für sich und Gott gegen alle aus dem Jahr 1974 bietet Werner Herzog beiläufig eine Interpretation des Polizeidiensts im ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts an. Diese Interpretation bezieht sich auf die Frage, wie zwei zentrale Aspekte polizeidienerlicher Tätigkeit – das Schreiben und das Zupacken – in Beziehung standen. In Kaspar Hauser tritt ein seltsames Paar auf, das gelegentlich von weiteren Figuren gerahmt wird: Polizeidiener und Amtsschreiber. Die Szene, in der die beiden, begleitet von einem Rittmeister, das geheimnisvolle Findelkind inquirieren, führt eine typische Form amtlichen Handelns anno 1828 vor: Der Rittmeister 1 Zimmermann, Polizei [1845–1849], S. 1164. 2 Avé-Lallemant, Krisis [1861], S. 67. 3 Pözl, Grundriß [1866], S. 154.
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diktiert, der Schreiber protokolliert, der Polizeidiener bekräftigt und verhört, er packt zu und schüttelt den Befragten. Die Fragen des Polizeidieners, die weniger um Antworten bitten, als dass sie die Erteilung von Auskunft befehlen, führen zu nichts, ignorieren sie doch die allen anderen offenkundige Unfähigkeit Hausers, sie zu verstehen. Der Polizeidiener fragt dennoch das Übliche ab: „Name! Woher kommt er? Pass! Sein Reisepass! Gewerbe! Woher kommst Du?“ Es ist der Rittmeister, der dieses Schauspiel beendet. „Mit polizeilichen Amtsfragen“, so stellt er fest, „ist bei dem nichts zu machen.“ Schließlich resümiert der Polizeidiener: „Wie die Lage der Dinge ist, muss der Bursche der Obrigkeit unterstellt werden.“ Und der Rittmeister bestätigt: „Selbstverständlich. Genauestens Protokollieren!“ Die Rollen sind klar verteilt. Polizeidiener (und Rittmeister) stellen fest, damit protokolliert wird. Der Schreiber begegnet nahezu jeder Aussage mit einem „Soll ich das zu Protokoll geben?“. Ermittlung und Protokollierung treten stets zusammen auf. In Herzogs Interpretation wird Schreiberei ausgelagert und zur Sache eines nur damit beschäftigten Personals. Der Polizeidiener schreibt nicht. Seine Tätigkeiten sind aber auf das Schreiben bezogen. Für den Polizeidienst an der Wende zum 21. Jahrhundert hat der Polizeisoziologe Rafael Behr eine Interpretation vorgelegt, die ebenfalls um das Verhältnis von Schreiben und Zupacken kreist. Die Doppellogik von Polizei, so Behr, bestehe darin, „dass die Bürokratieförmigkeit staatlicher Herrschaft notwendig ihrer Durchbrechung bedarf, und zwar durch die nicht-bürokratieförmigen Handlungsmuster der street cops“.4 Überlagert und stabilisiert werde das von einem spannungsreichen Verhältnis verschiedener Männlichkeiten. „Street cops schöpfen ihr Selbstwertgefühl aus Körperlichkeit und Konfrontationsbereitschaft, während Leitungsbeamte oder Sachbearbeiter diese physische Konfrontation nicht einzugehen brauchen. Deren Kompetenz bezieht sich auf die Verfahrensförmigkeit eines ‚Vorgangs‘ und die Einhaltung der Verwaltungsroutinen im Alltag der Polizei.“5 Der Dualismus von Schreiben und Handeln, den Herzogs Interpretation für das erste Drittel des neunzehnten Jahrhunderts in eine Gegenüberstellung zweier Personen übersetzt, wird von Behr für die 2000er Jahre ins Innere der Polizei verlegt und als Konflikt zweier Polizeilogiken beschrieben. Im Folgenden geht es darum, die Dynamik zwischen den beiden zeitlichen Schnitten zu thematisieren. Dabei gerät eine Konstellation in den Blick, in der Schreiben und Zupacken als polizeiliche oder polizeirelevante Tätigkeiten adressiert wurden, dies aber vor dem Hintergrund einer (noch) nicht vollzogenen personellen Trennung. Die ersten beiden Teilkapitel zeigen auf, wer im Rahmen der Ausübung des Polizeidiensts schreiben (können) sollte und schrieb. Die Gegenüberstellung der rudimentären Schriftlichkeit der einfachen Polizeidiener und der geübten Schriftlichkeit der Aktuare und Offizianten stabilisierte eine Distanz beider Personenkreise, die hin4 Behr, Cop Culture [2008], S. 12. 5 Ebd., S. 15f.
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sichtlich der sozialen Herkunft bereits bestand und sich in Status und Position innerhalb der Mannschaften spiegelte. Die Frage polizeidienerlicher Selbstbildung tritt hier als Problem der Schriftfähigkeit, der Zuweisung und des Stellenwerts schreibender Dienste sowie der Abgrenzung und Hierarchie unterschiedlicher polizeilicher Funktionen zutage. Dementsprechend werden im Anschluss an die Ausführungen zum schreibenden Personal verschiedene Formen des Schreibens diskutiert. Auch diese Frage nach dem Wie des Schreibens verweist auf einen Prozess der Distanzierung innerhalb der Behörden und gibt Aufschluss über die Positionierung einfacher Polizeidiener, die im Dienst pragmatische Formen von Schriftlichkeit entwickelten, damit aber von der behördenoffiziellen Schreibkultur abwichen. Die Statushierarchie von Gelegenheitsschreibern und Schreibprofis sowie die Ausdifferenzierung einer pragmatischen Schriftlichkeit der einfachen Polizeidiener begünstigten schließlich, das wird im abschließenden Teilkapitel gezeigt, ein Deutungsmuster, in dem die handfesten Executionen als „Polizei im eigensten Sinne des Wortes“ (Avé-Lallemant) den schreibenden Tätigkeiten auf bequemen Sitzämtern gegenübergestellt wurden. In dieser Zuschreibung, die erhebliche Auswirkungen für polizeidienerliche Selbstbildung hatte, ging es nicht nur um eine Gewichtung bestimmter Dienstbereiche, sondern vor allem auch um den Entwurf polizeilicher Körper- und Männlichkeit.
7.1 Lesen, Schreiben, Rüstigkeit Wer sich als Polizeidiener bewarb, um hier noch einmal auf die Quellengattung der Anstellungsgesuche zurückzugreifen, rechnete damit, schreiben und zupacken zu müssen. Entsprechend waren der Ausweis von Schriftkompetenz und die Vorführung körperlicher Fähigkeiten miteinander verwoben. Im Verlauf des Jahrhunderts zeigt sich ein Wandel der Selbstverständlichkeiten und Prioritäten. Die 1840er und 1850er Jahre markieren dabei einen Umschlagpunkt. Allerdings erhielten sich bestimmte Topoi, so dass sich die skizzierten Polizistentypen – street cop und Schreibtischpolizist – kaum in scharfer Abgrenzung herausbildeten. Vielmehr dominierte im neunzehnten Jahrhundert ein Mischverhältnis, das in beide Richtungen ausformuliert werden konnte. Was sich wandelte, war die Gewichtung der Fähigkeiten und die Beantwortung der Frage, was jeweils performativ – durch persönliche Vorstellung oder durch eine schriftliche Bewerbung – dokumentiert und bekräftigt wurde. Anfang des neunzehnten Jahrhunderts liefen die Anstellungsgesuche weitgehend mündlich ab. Wenn ausnahmsweise eine schriftliche Bewerbung einging, teilte die Verwaltung dem Bewerber mit, er möge sich persönlich vorstellen.6 Für den Polizei6
Lediglich vier von sechzehn Nürnberger Bewerbungen der Jahre 1810–1811 gingen schriftlich ein. Die 1814–1818 aufgenommenen zehn Polizeidiener, deren Bewerbung dokumentiert ist, stellten
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dienst des frühen neunzehnten Jahrhunderts ergeben sich daraus zwei Schlussfolgerungen. Erstens scheint aus Sicht der Interessenten der Nachweis von Lese- und Schreibfähigkeiten nicht oberste Priorität gehabt zu haben, das heißt Schriftkompetenz war (noch) keine unverzichtbare polizeiliche Kompetenz. Diese Annahme wird vor allem dann plausibel, wenn man berücksichtigt, dass beispielsweise Bittsteller – im Gegensatz zu Bewerbern für den Polizeidienst –, obwohl sie bei ihren Eingaben nicht zur Schriftform gezwungen waren, zumeist doch den schriftlichen Weg wählten.7 Das war möglich, weil bereits im beginnenden neunzehnten Jahrhundert in den unteren Schichten zwar nicht jeder literat war, entsprechende Fertigkeiten aber selbst für illiterate Personen innerhalb ihres sozialen Umfelds verfügbar waren und, wenn es die Sache erforderte, auch genutzt wurden (schreibkundige Verwandte oder Bekannte, Sportelschreiber, Konzipienten oder Winkeladvokaten, in Massenauflagen verbreitete Briefsteller, Anweisungen für Behördenschreiben, Titularverzeichnisse und Wörterbücher). Dass Polizeibewerber anfangs des Jahrhunderts darauf nicht zurückgriffen, lässt vermuten, eine Polizeidienerstelle lohnte aus Sicht der Bewerber den Aufwand, der für eine schriftliche Bewerbung zu betreiben war, möglicherweise nicht. Zweitens verhinderte die persönliche Vorstellung zwar den performativen Nachweis von Schriftkompetenz, ließ aber den Körper unmittelbar begutachtbar werden. Es waren die in persönlicher Vorstellung vorgeführten Körper der Bewerber, die über frühere (körperliche) ‚Taten‘ Auskunft gaben – und damit wiederum belegten, wozu der Körper früher im Stande war und für die Zukunft im Stande zu sein versprach.8 Schriftliche Bewerbungen kehrten die Zuordnung von Fähigkeiten, die performativ vorgeführt wurden, und denen, die implizit blieben, um. Dass Schreibfähigkeit zu diesem Zeitpunkt überhaupt keine Rolle spielte, lässt sich aus der weitgehenden Mündlichkeit des Bewerbungsverfahrens allerdings nicht schließen. Von den elf Nürnberger Bewerbern des Jahres 1810/1811 wurde bei zweien protokolliert, sie könnten lesen und schreiben.9 Die Abwesenheit der Fähigkeit des Lesens und Schreibens bei allen anderen fand der protokollierende Magistratsmitarbeiter jedoch nicht erwähnenswert. Wie exotisch Schreibfähigkeiten waren, zeigt die Bewerbung von Johann Georg Sammet, der zum Zeitpunkt der Bewerbung ohne sich alle persönlich ohne schriftliche Bewerbung vor (vgl. Polizeidirektion Nürnberg: Anstellungsgesuche als Polizeidiener, 1810–1818, StAN, C2, 56, 76–87. 7 Dazu und zum Folgenden: Grosse, Vorbemerkung [1989], S. 13; Karweick, Nahrungssorgen [1989], S. 18–21; Sokoll, Introduction [2006], S. 4f. 8 Dieses Argument wird in anderem Kontext von Butler, Judith: Körperliche Geständnisse, in: dies., Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen, Frankfurt/M. 2011, S. 261–280, entwickelt. 9 Dazu und zum Folgenden: Polizeidirektion Nürnberg: Anstellungsgesuche als Polizeidiener, 1810–1811, StAN, C2, 56.
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bestimmte Beschäftigung war und zunächst darauf hinwies, „sein Körper sey von guter Constitution“. Schreibstolz reichte er dann jedoch eine „Probe seiner Handschrift“ ein; ein kleines Stück Papier, auf dem zu lesen stand: „Ich heiße Johann Georg Sammet, aus Beyreuth gebürtig, bin 29 Jahre alt.“ Diese Kopplung körperlicher und schriftlicher Fähigkeiten zieht sich durch. Ohne einen ‚guten‘ Körper waren Schreibfähigkeiten nichts wert. Anders herum galt das nicht. Zwei der Bewerber unterschrieben ihr Aufnahmegesuch 1811 mit den sprichwörtlichen drei Kreuzen, ohne dass das in irgendeiner Form problematisiert wurde oder einer Aufnahme im Weg stand.10 Mangelnde Kenntnisse im Schriftfache galten offenkundig zu diesem Zeitpunkt nicht als Einstellungshindernis. Gegenüber den nur sporadischen und allem Anschein nach auch nicht entscheidenden Bezügen auf Schriftkompetenz wussten dagegen alle Bewerber um die Bedeutung der körperlichen Konstitution. Immer wieder wurde vermerkt, dass die Kandidaten sich für den Dienst als „gesund und tauglich“ erachteten, „ohne Gebrechen“ waren, über „einen gesunden und rüstigen Körper“ verfügten usw. So gab Andreas Rigel an, „ohne körperlichen Fehler“ zu sein und, „da er sich gesund fühlt, sich zum Polizeidienst zu qualifizieren“. Rüstigkeit, Tauglichkeit, Gesundheit waren allerdings keine absoluten Größen. Der eine oder andere Bewerber musste zugeben, dass körperlich nicht mehr alles intakt war. Andreas Riest, der im Dezember 1810 in Nürnberg vorstellig wurde, war „übrigens dem äußeren nach von gesunder 10 Der zweite schreibfähige Bewerber glaubte geeignet zu sein, „da er von guter Leibes-Constitution sey, auch lesen und schreiben könne“. Bei der skizzierten Praxis verwundern die regelmäßigen Klagen kaum, dass es bei der Polizei „mit dem Schriftlichen nicht zum besten bestellt“ war. So schrieb der Münchener Polizeidirektor von Stetten 1811, keiner der Offizianten habe wissenschaftliche Bildung oder Sprachkenntnisse, und „gerade diejenigen, die der Polizei keine Schande bereiteten, weil sie sich in der Öffentlichkeit zu benehmen wüßten […], könnten wegen ihrer schlechten Handschrift, dem Mangel an Orthographie und überhaupt wegen Mangel an Kenntnis der Teutschen Sprache auf der Kanzlei kaum verwendet werden“ (zitiert nach Brunbauer, Skandalchronik [1984], S. 124). Um das Niveau zu verdeutlichen: Unter einer Nürnberger Belehrung über die Einhaltung der Sperrstunde in den Wirtshäusern fanden sich 1811 vierzig polizeidienerliche Unterschriften, von denen immerhin noch eine aus drei Kreuzen bestand – ob alle namentlich Unterzeichneten mehr als ihren Namen schreiben konnten, lässt sich nicht nachprüfen, ist aber unwahrscheinlich (vgl. Polizeidirektion Nürnberg: Bekanntmachung Polizeistunde, 4.2.1811, StAN, C2, 56). Polizeidiener, so beobachtet Lüdtke, Gemeinwohl [1982], S. 150f., für Preußen, waren bis in die 1850er Jahre „in der Regel den Anforderungen, Dienstbücher oder Berichte zu schreiben, nicht gewachsen, so daß die Schriftlichkeit ihres Dienstes auf ein Minimum beschränkt bleiben mußte“. Bei der Beurteilung der Polizeidiener dominierte diese Frage allerdings nicht. Das Mannschaftsbuch der Regensburger Polizei, in dem Vergehen, Belobigungen und allgemeine Bemerkungen zu den Polizeidienern für einen Zeitraum von den 1820er bis in die späten 1850er Jahre vermerkt sind, spricht das Thema lediglich zweimal an. So heißt es über Polizeidiener Albrechtskirchinger: „Hat guten Vortrag in Erstattung mündlichen und schriftlichen Rapports.“ Polizeidiener Jacob Loetsch galt als „gewandt in Erstattung schriftlichen Rapports“ (Polizei Regensburg: Mannschaftsbuch, 1851, StAReg ZR I 10793).
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Leibes Constitution“, wenngleich er selbst zu Protokoll gab, während des Militärdiensts zwei Blessuren im Felde erlitten zu haben, die ihn militärisch dienstunfähig machten. Zur Erfüllung der Pflichten eines Polizeidieners fühlte er sich dennoch „gesund und tauglich“ und glaubte, „die mit diesem Posten verbundenen Beschwerden ertragen zu können“. Wenige Jahre später kam es bereits zu einer leichten Verschiebung. Die Protokolle der immer noch mündlich vorgetragenen Einstellungsgesuche der Jahre 1814–1818 verzeichneten für die überwältigende Mehrheit der Bewerber gewisse Fähigkeiten im Schriftlichen.11 Es war zumeist die Rede davon, jemand könne „etwas lesen und schreiben“ beziehungsweise sei „des Lesens und Schreibens sehr kundig“. Teilweise wurden die Fähigkeiten in Beziehung zu den (vermuteten) Aufgaben eines Polizeidieners gesetzt. Über einen Bewerber vermerkte das Protokoll: „Er könne auch fertig Lesen und Schreiben, so daß er auch in dieser Hinsicht alles leisten würde, was von ihm gefordert werden könne.“ Was „schreiben und lesen […] so viel hierzu erforderlich ist“ im Detail hieß, wird nicht immer deutlich. Dass daneben auf körperliche Tüchtigkeit, Gesundheit und Rüstigkeit explizit einzugehen war, scheint weiterhin Common Sense gewesen zu sein. Konsens bestand freilich nicht in der Frage, wie anstrengend der Polizeidienst war, was genau angehende Polizeidiener also zu ertragen und an Strapazen zu erwarten hatten. Müllergeselle Klein gab 1817 an, dass ein ausreichendes Einkommen in seiner Profession Anstrengungen erforderte, die sein Körper nicht gut mitmache. Für die Ausübung des Polizeidiensts fühlte er sich allerdings nicht beeinträchtigt. Die offiziellen Anforderungen, wenn sie – in dieser Zeit selten genug – überhaupt expliziert wurden, betonten, dass die Bewerber „ohne körperliche Mängel und Gebrechen“ und „des Lesens und Schreibens wohl kundig“ sein sollten.12 Der Nagelschmied Paul Wolfgang Benjamin Ramstock, der sich auf die eben zitierte Ausschreibung aus dem Jahr 1823 meldete, gab an: „Des Lesens und Schreiben bin ich wohl kundig, doch habe ich keinen Schul-Entlaßschein in den Händen, weil zu meiner Zeit dergleichen noch nicht ausgestellt zu werden pflegte.“ Dieser Bewerber wusste um die Notwendigkeit einer ärztlichen Beglaubigung des aktuellen körperlichen Zustands wie auch dessen zukünftiger Fähigkeit, den Polizeidienst versehen und ertragen zu können. Im November 1823 ließ er sich attestieren, dass er von „mittlerer Statur, guten Körpers, […] ganz gesund und ohne alle sichtbare körperlichen Gebrechen befunden“ wurde und „auf Befragen weder mit der fallenden Sucht noch sonst einem geheimen Gebrechen belastet“ sei.
11 Dazu und zum Folgenden: Polizeidirektion Nürnberg: Anstellungsgesuche als Polizeidiener, 1814–1818, StAN, C2, 77–87. 12 Dazu und zum Folgenden: Gesuch des Nagelschmieds Paul Wolfgang Benjamin Ramstock um Aufnahme in die Münchener Polizeiwache, 1823, StAN, C6, 169.
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Basale Lese- und Schreibfähigkeiten wurden um die Jahrhundertmitte zur Einstellungsvoraussetzung. Gleichzeitig trat die persönliche Vorstellung in den Hintergrund. Schriftliche Bewerbungen wurden üblich. Im Effekt kehrten sich die früheren Wertigkeiten um. Im schriftlichen Verfahren waren es Schriftkompetenzen, die unmittelbar performativ nachgewiesen wurden, während körperliche Rüstigkeit nicht mehr mittels Augenschein sofort erfassbar war. In den 1840er und 1850er Jahren wurden Hinweise auf ein gewisses Maß an Schriftkompetenz unter den Bewerbern die Regel. Das ist ein Indiz, dass der performative Nachweis mittels schriftlicher Bewerbung allein (noch) nicht auszureichen schien beziehungsweise Bewerber nicht generell davon ausgingen, dass ihre schriftlichen Bewerbungen als eigenhändig verfasst akzeptiert wurden. Schriftlichkeit scheint wichtiger, aber noch nicht selbstverständlich geworden zu sein. Dafür ist der Tonfall zu schreibstolz. So bemerkte ein Kandidat 1843 gegenüber dem Schwandorfer Magistrat, er sei in der Schule „stets unter den ersten im Lesen und Schreiben“ gewesen, verwies unmittelbar im Anschluss aber sogleich darauf, dass er „auch ein männlich imponierendes Ausmaß in [s]einer Körpergestalt darstelle“.13 Ein anderer Bewerber schloss die Ausführungen zu seinen Fähigkeiten 1850 mit den Worten: „Übrigens bin ich auch in Latein und Schreiben gut [bewandert].“14 Greifbarer wird nun auch die Vorstellung schriftlicher Arbeiten als Teil des Polizeidiensts. Zunächst blieb das aber noch unbestimmt, wenn man etwa formulierte, dass man „zu dem Polizeidienste durch nothwendige Kenntnisse im Schreiben, Lesen und Rechnen vollkommen qualifiziert“ sei. Parallel zur erhöhten Bedeutung von Schriftlichkeit blieb die körperliche Eignung weiterhin Thema. Auch die Relativität von Kategorien wie Rüstigkeit oder Tauglichkeit verflüchtigte sich um die Jahrhundertmitte nicht. Zwar schied er, so schrieb Georg Heinrich 1850, aufgrund gesundheitlicher Beeinträchtigungen als untauglich aus der Gendarmerie aus, doch seien diese „nicht von der Art, daß sie mich für den ziemlich leichten Dienst eines Polizeidieners untauglich machen würden“. Seitens der auswählenden Magistrate zeigt sich eine leichte Verschiebung der Beurteilungsmaßstäbe. In den Einschätzungen der Bewerber in Regensburg 1857 lässt sich ein neuer Akzent erkennen. Die Feststellung, Matthias Altmann sei in „seinen Schreib- und Rechnungsgeschäften als Listenführer sehr gewandt“, bewegte sich noch im etablierten Rahmen. Wenn es über den Bewerber Johann B. Mayer aber hieß, er „[i]st zwar gut qualifiziert, hat aber eine äußerst schlechte Schrift“15, dann bekommt Schriftkompetenz eine neue Wertigkeit. 13 Magistrat Schwandorf: Entlassung Polizeidiener Lang, Aufnahme neuer Polizeidiener, 6.9.1843, StAS, Akte des Stadtmagistrats, VII-3. 14 Dazu und zum Folgenden: Magistrat Stadtamhof: Besetzung der erledigten Polizeidienerstelle betr., 1850, StAReg, ZR I 10862. 15 Magistrat Regensburg: Bewerber Polizeidienerstelle, 16.10.1857, StAReg, ZR I 10798.
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Die stärker hervortretende beziehungsweise zur Schau gestellte Schriftlichkeit der 1840er und 1850er Jahre, das an dieser Stelle als kleines Zwischenfazit, reflektiert nicht nur einen polizeihistorischen, sondern auch einen bildungshistorischen Trend. In Bayern wurde 1802 Schulpflicht auf rudimentärem Niveau eingeführt, die für große Teile der Bevölkerung „einen einschneidenden Wandel von Bildungsprozeß und mentaler Haltung“ bedeutete.16 Wer sich in den 1840er und 1850er Jahren im besten Mannesalter als Polizeidiener bewarb, gehörte zu einer Alterskohorte, die davon bereits profitierte. Damit verfügten diese Bewerber über etwas, das ihren Vorgängern noch abging. Da die Effekte der Bildungsexpansion ungleich verteilt waren, konnten diejenigen, die als schreibfähige Bewerber hervortraten, weiterhin als etwas Besonderes gelten. Trotz der Bildungsexpansion verfügte vor allem die Landbevölkerung nur über rudimentäre Lese- und Schreibkenntnisse. Das erklärt möglicherweise die auffällige Abwesenheit von Landarbeitern im weitesten Sinn unter den Bewerbern für den Polizeidienst. Darin ließe sich auch ein Beleg dafür entdecken, dass der Eintritt in den Polizeidienst das Überschreiten einer Schwelle rudimentärer Schriftlichkeit implizierte, den Handwerker und Soldaten – und damit, wie bereits herausgearbeitet wurde, das Gros der Bewerber – meisterten. Handwerker und Soldaten, die Polizeidiener werden wollten, setzten sich de facto über die parallel zur Bildungsexpansion immer wieder artikulierte Furcht vor „Überbildung des gemeinen Mannes“ hinweg. Konservative Stimmen hoben Mitte der 1850er Jahre hervor, „die Kinder von Bauern, Tagelöhnern, armen Handwerkern, die wieder nur Bauern, Tagelöhner, Handwerker werden, könnten ihrem Lebensberufe vollkommen genügen, wenn sie auch in der Schule nichts lernten, als Lesen, Schreiben und Rechnen neben dem Religionsunterrichte“.17 Dagegen nutzten die in den Polizeidienst strebenden kleinen Handwerker und verabschiedeten Soldaten die neuen Bildungsmöglichkeiten, als deren Folge nun auch handwerkerliche, bäuerliche und kleinbürgerliche Schichten „über den Erwerb der grundlegendsten Schreibkenntnisse hinaus bereits gelernt [hatten], eigene Gedanken, Ideen und Erlebnisse frei zu formulieren und aufzuschreiben“18, durchaus im Sinn der Bildungsreformer. Sie nutzten erworbene Schriftkompetenz als Hebel einer Erweiterung der ihnen subjektiv verfügbaren Arbeitsmärkte, lebten also in gewisser Weise das neue Ideal des Menschen, der nicht für eine bestimmte Tätigkeit und Stellung prädisponiert, sondern für die unterschiedlichsten Formen des Erwerbs qualifiziert sein sollte. 16 Blessing, Werner K.: Allgemeine Volksbildung und politische Indoktrination im bayerischen Vormärz, in: Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte 37 (1974), S. 479–568, hier: S. 480; für Preußen: Kuhlemann, Frank-Michael: Modernisierung und Disziplinierung. Sozialgeschichte des preußischen Volksschulwesens 1794–1872, Göttingen 1992. 17 Vgl. Kuhlemann, Modernisierung [1992], S. 57–76. 18 Schikorsky, Isa: Private Schriftlichkeit im 19. Jahrhundert. Untersuchungen zur Geschichte des alltäglichen Sprachverhaltens „kleiner Leute“, Tübingen 1990, S. 52.
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Schriftliche Bewerbungen waren gegen Ende der 1860er Jahre tatsächlich zur Norm geworden. In den Bewerbungen ging es darüber hinaus nicht mehr um die bloße Feststellung des Lese- und Schreibkönnens, sondern um die Vertrautheit mit schreibenden Tätigkeiten. Bewerber betonten nun regelmäßig, dass sie in ihren bisherigen Stellungen „zu schriftlichen Arbeiten verwendet“ und „zum stenographieren“ eingesetzt wurden, „in schriftlichen Arbeiten die nothwendigen Kenntnisse besitzen“ oder „im Lesen, Schreiben und Rechnen gute Kenntnisse erworben haben“.19 Schriftkompetenz war inzwischen zwar durchgängig Thema, aber noch immer nicht über jeden Zweifel erhaben. Der Nagelschmied Johann Grader schrieb, ergänzt um einen pauschalen Verweis auf Gesundheit und Rüstigkeit, er sei „im Kenntnisfache der Schrift in jeder Hinsicht bewandert, so daß auf Verlangen ich mich einer Prüfung unterziehen würde“. Ein anderer schrieb: „Daß ich in den elementaren Gegenständen als Lesen, Schreiben und Rechnen vollständig bewandert bin, will ich durch Ablegung einer Probe dieser Eingabe durch eigene Handschrift beweisen.“ Der Schneider Joseph Weigert fügte in seiner Bewerbung den Hinweis ein, dass er diese selbst verfasst habe: „Gegenwärtiges“, so schrieb er, „ist meine Handschrift, die sich sicher durch Übung verbessern würde“.20 Dass Weigert über Schreibfähigkeit und eine Handschrift verfügte, deren Qualität er entschuldigte, scheint der Magistrat nicht bemerkenswert gefunden zu haben. Im Gegensatz zur Welt der Aktuare und Offizianten (dazu weiter unten mehr) blieb die Qualität der Handschrift im einfachen Polizeidienst irrelevant, jedenfalls aus Sicht der offiziellen Stellen.21 Schulbesuche und schulische Leistungen wurden zu diesem Zeitpunkt, also in den 1870er Jahren, vergleichsweise selten angeführt. Wahrscheinlich wurden sie bereits vorausgesetzt. In früheren Zeiten hatten sie allerdings überhaupt keine Erwähnung gefunden. Der Schreiner Georg Kemeter glaubte, für die Polizeidienerstelle unter anderem deshalb „voll qualifiziert“ zu sein, weil er sich „in der Schule im Lesen und Schreiben die Note I erworben“ habe und zudem seit zwei Jahren im Dienst eines Herren stehe, der ihn regelmäßig mit „Schreibarbeiten“ betraue.22 Der schreibstolze Kemeter, der in dieser Bewerbungsrunde nicht berücksichtigt wurde, bewarb sich 19 Die folgend zitierten Beispiele sind entnommen aus: Magistrat Regensburg: Gesuche um Aufnahme als Polizeidiener, 1867–1887, StAReg, ZR I 10803. 20 Weigert, Joseph, an Magistrat Schwandorf, 13.6.1874, StAS, Akte des Stadtmagistrats, P-2. 21 Einige Jahre vor Weigerts Bewerbung hatte eine Abhandlung über die Krisis der deutschen Polizei diesen anhaltenden Trend zwar entschieden missbilligt, damit im Grunde aber bestätigt: „Da wird denn alles, was nicht vermöge einer guten Handschrift ohne Anstand zur Completirung der ungeheuren Schreiberschar in die dumpfen Kasematten der Schreibstuben verwiesen wird, unter die heikle elastische Rubrik der ‚Gesinnungstüchtigkeit‘ und ‚besonderen Brauchbarkeit‘ gebracht und mit diesen ‚Gesinnungstüchtigen‘ und ‚besonders Brauchbaren‘ das niedrigste Proletariat, das wahre Gift der Polizei, statuirt“ (Avé-Lallemant, Krisis [1861], S. 21). 22 Kemeter, Georg, an Magistrat Schwandorf, 15.6.1874, StAS, Akte des Stadtmagistrats, P-2.
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drei Jahre später erneut – und hatte nun Erfolg. Auch diesmal wies er mit identischem Wortlaut auf die Schulnote I im Lesen und Schreiben hin.23 Der Verweis auf den Volksschulbesuch musste allerdings nicht allzu viel bedeuten, konnte er doch auch Verlegenheitslösung sein, weil man nichts anderes anzuführen hatte.24 Seitens der Magistrate wurde Schriftlichkeit zunehmend als selbstverständlich vorausgesetzt und nicht mehr eigens betont. „Befähigte Bewerber um diese Dienststelle haben“, so hieß es in einem Ausschreibungstext 1874, „ihre mit den Nachweisen über Alter, Leumund und Gesundheit belegten Gesuche binnen 8 Tagen“ beim Stadtmagistrat einzureichen.25 Weitere Anforderungen wurden nicht genannt. Der Magistrat, so ist zu vermuten, ging davon aus, dass das Einreichen einer schriftlichen Bewerbung das Vorhandensein der entsprechenden Fähigkeiten bereits hinreichend belege beziehungsweise eine Beurteilung derselben zulasse. Dies vorausgesetzt, wurde es möglich, einen genaueren Blick auf die Körper der Kandidaten zu richten. Bewerber folgten dem in ihren Ausführungen. Mitunter verdichtete sich das zu einer regelrechten Poesie der Körperbeschreibung: „Bezüglich der Rüstigkeit erlaubt der Unterzeichnete sich zu bemerken, daß er 7‘‘ 5‘‘‘ mißt, sein Körperbau nicht sehr stark ist, derselbe aber doch gesund und kräftig ist.“26 Die regelmäßige Betonung körperlicher Rüstigkeit darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, auf welchem Niveau sich das bewegte. Bis es jemand als aussichtslos erachtete, sich als Polizeidiener zu bewerben, musste ein Körper wohl sehr mitgenommen sein. Ein im Krieg verlorener kleiner Finger jedenfalls hielt ebenso wenig von der Bewerbung ab wie das Ausscheiden aus dem Militärdienst wegen körperlicher Beeinträchtigungen.27 Seit den 1880er Jahren war dann allen klar, dass ein gewisses Maß an Schriftkompetenz unumgänglich war. „Zudem ich im Lesen und Schreiben gut bewandert bin“, 23 Vgl. Magistrat Schwandorf: Ratsprotokoll, 18.1.1877, StAS, Akte des Stadtmagistrats, P-2; Kemeter, Georg, an Magistrat Schwandorf, 23.1.1877, StAS, Akte des Stadtmagistrats, P-2. Ähnlich: Flahser, Josef, an Magistrat Regensburg, 10.6.1874; Gebhardt, Georg, an Magistrat Regensburg, 12.10.1875 (beide in: StAReg, ZR I 10803). 24 Gerade Fragen der schulischen Bildung waren in Bayern noch bis in die 1860er Jahre ein heikles Thema. In den Physikatsberichten der Jahre 1858–1862 wurde den Einwohnern Mittelfrankens zwar ein ‚gesunder Menschenverstand‘ bescheinigt, das „schloss allerdings in vielen Fällen die Klage über Trägheit, Phlegmatismus, mangelnde Phantasie, fehlende Regsamkeit und Strebsamkeit, Nichtentwicklung der vorhandenen Anlagen nicht aus“ (Bergmeier, Wirtschaftsleben [1990], S. 242). Den Bewohnern der Oberpfalz wurden in diesen Berichten rundweg ein geringer Bildungsstand und mangelnde Bildungsneigung attestiert. 25 Vgl. Amberger Tagblatt, 10.6.1874; sowie Regensburger Morgenblatt, 11.6.1874; StAS, Akte des Stadtmagistrats, P-2. 26 Grasmann, Karl, an Magistrat Regensburg, 12.6.1874, StAReg, ZR I 10803. 27 Vgl. Senftlinger, Sebastian, an Magistrat Regensburg, 11.6.1874, StAReg, ZR I 10803; Schickhofer, Josef, an Magistrat Stadtamhof, 23.2.1876, StAReg, ZR I 10856. Im letzteren Fall war die Bewerbung erfolgreich.
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so schrieb Johann Georg Fischer 1884, „so würde ich gehorsamst um eine Polizeidienstliche Stelle nachsuchen.“28 Fähigkeiten im Lesen und Schreiben wurden weiterhin erwähnt, aber nicht mehr wirklich als eine besondere, von anderen vielleicht angezweifelte oder einen gewissen Stolz begründende Qualifikation präsentiert. Eher schon zeigt sich nun Understatement: „Ich bin auch im Lesen, Schreiben pp. gut gewandet.“ Besonderheiten ergaben sich nur noch dann, wenn Schriftlichkeit in den Kontext beruflicher Aus- und Weiterbildung gestellt, das heißt: eine spezifische Schriftlichkeit angesprochen wurde; wenn ein ehemaliger Gendarm, der aktuell als Güterlader an einem Bahnhof beschäftigt war, zum Beispiel versicherte, dass er „stets bestrebt war mich sowohl im Dienst als auch schriftlichen Arbeiten immer mehr auszubilden und zu einem richtigen Civildienste zu qualifizieren“. Die Maßstäbe verschoben sich insoweit, als dass ein Mangel an schulischer Ausbildung einem Bewerber nun schmerzlich bewusstwerden konnte. So schrieb Johann Goetz: „Die Ausbildung während meiner Jugend beschränkte sich leider auf den Besuch der Volksschule, der ich bis zum 13. Jahre angehörte, doch war ich nach verlassen derselben stets bemüht, meine Kenntnisse mit allem Fleiße zu vermehren.“29 Auch die Auswählenden schauten inzwischen genauer hin. Die früher kaum überprüften und oft nicht wirklich gewürdigten, rudimentären Schriftkompetenzen scheinen nicht mehr ausgereicht zu haben.30 Auf der Bewerbung von Thomas Niedermeyer vermerkte ein Regensburger Magistratsmitarbeiter mit Bleistift: „Schrift und Stilisierung gut“.31 Diese Art der Evaluierung konnte auch peinlich werden, wenn jemand beispielsweise angab: „Im Lesen, Schreiben und Rechnen bin ich voll28 Für dieses und die folgenden Beispiele: Gesuche um Aufnahme als Polizeidiener, 1867–1887, StAReg, ZR I 10803. 29 Frühzeitiger Schulabgang war in agrarischen, aber auch hausindustriell-gewerblichen Regionen bis weit in die zweite Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts verbreitet; auch wenn, wie etwa in Preußen schon mit dem Allgemeinen Landrecht, die Schulpflicht bis zum vierzehnten Lebensjahr festgeschrieben war, zugleich aber durch die Bestimmung relativiert wurde, dass sie abgegolten wäre, wenn notwendige Kenntnisse vermittelt waren, wobei das praktisch oft nicht mehr als basales „Lesenkönnen“ meinte (vgl. Kuhlemann, Modernisierung [1992], S. 109f.). 30 Eine stärkere Berücksichtigung der Schreibfähigkeiten trat in den 1880er Jahren auch bei der Beurteilung der Dienstleistung bereits eingestellter Polizeidiener zutage. „Der Polizeisoldat Josef Bäumer“, das als Beispiel, „wurde am 1.4. hier angestellt. Dieser Mann ist in schriftlichen Arbeiten sehr schwach, was beiliegende Handschrift bekunden dürfte. Derselbe kann auch nicht fertig lesen und hat in Bezug auf Gesetze und Vorschriften bereits gar keine Kenntnisse trotzdem er 4 Jahre in Augsburg Polizeisoldat war. Auch was ich bis jetzt beobachten konnte so hat derselbe wenig militärischen Takt. – Dessen Dienstleistung besteht zur Zeit in einer einzigen Arretierung“ (Rottmeister Huber, an Magistrat Regensburg, 11.4.1885, StAReg, ZR I 10804). Wenige Monate später hieß es fast schon resignativ: „Bäumer ist willig und gibt sich in schriftlichen Arbeiten Mühe, jedoch ist derselbe nicht besonders brauchbar und hat etliche Aufträge schon sehr oberflächlich erledigt“ (Rottmeister Huber, an Magistrat Regensburg, 4.7.1885, StAReg, ZR I 10804). 31 Niedermeyer, Thomas, an Magistrat Regensburg, 30.12.1880, StAReg, ZR I 10803.
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kommen bewandert, so daß ich in allen Anforderungen entsprechen kann“, der Magistratsmitarbeiter dann aber mit einem Rotstift zur Fehlerkorrektur schritt. Ein Gendarm, der sich 1881 in Regensburg mit den Worten bewarb, er suche eine Stelle „als Polizeidiener bei fähiger Polizeiwache“ und dabei explizit auf seine Lese- und Schreibfähigkeiten hinwies, traf unglücklicherweise auf einen aus heutiger Sicht ironisch anmutenden Korrekturleser in der Magistratsverwaltung. Dieser unterstrich mit dickem Rotstift die Datumsangabe („Oktober 1881“) und schrieb daneben: „Tag vergessen!“. Ebenso markierte er den vorgetragenen Wunsch nach Einstellung bei einer „fähigen“ Polizeiwache. Geschehen war es um unseren Korrekturleser aber wohl schon bei der Adressierung der Bewerbung „An den hohen körperlichen Rat“ – das musste dann nicht nur unterstrichen, sondern mit drei dicken, roten Ausrufezeichen versehen werden.32 Wie sonst kaum fassbar, verdeutlicht der magistratliche Korrekturleser die mitunter immer noch recht große Kluft der Selbst- und Fremdeinschätzung in Sachen Qualifikation. Auch nach 1900 findet sich in unterschiedlichen Kombinationen die Rede von „genügende[n] Elementarkenntnisse[n]“, „ledigem Stand, körperlicher Rüstigkeit, guten natürlichen Anlagen und Gewandtheit im Lesen, Schreiben und Rechnen“.33 Das war ausbaufähig, je weiter das zwanzigste Jahrhundert voranschritt. 1912 forderte selbst eine kleine Stadt wie Schwandorf nicht nur „Gewandtheit in schriftlichen Arbeiten“, sondern ergänzte: „gewünscht wird Kenntnis der Stenographie und des Maschinenschreibens“.34 Es wirkte nun doch schon als anachronistischer Überhang, dass der 26-jährige Schneider Josef Seemann seine – erfolglose – Bitte um Übertragung einer Polizeidienerstelle mit dem Hinweis verband, er sei als Hospitant beim Stadtmagistrat mit der „Fertigung schriftlicher Arbeiten beschäftigt“ – und dabei seinem Glauben Ausdruck verlieh, „eine gute Schrift zu haben und auch in der Fertigung schriftlicher Arbeiten die nötige Gewandtheit zu besitzen.“35 Aus der Zeit gefallen wirkte auch ein Zusatz zur Bewerbung eines weiteren Schneiders aus dem Jahr 1909. Dort heißt es: „Daß vorstehendes Gesuch von dem Gesuchsteller eigenhändig geschrieben und unterzeichnet wurde, wird hiermit bestätigt. 29. November 1909, Die Gemeindeverwaltung Flischbach.“36 Die vom Bildungshistoriker Peter Lundgreen für das Kaiserreich festgestellte „tiefgehende Kluft zwischen niederer und höherer Bildung, die eine wichtige, vielleicht entscheidende Klassenlinie der bürgerlichen 32 G., Josef, an Magistrat Regensburg, Oktober 1881, StAReg, ZR I 10803. 33 Vgl. Vakanzliste für Militäranwärter, 15.9.1908, StAS, P-3x 1 v. 2; Magistrat Stadtamhof: Wiederbesetzung der erledigten Schutzmannstelle durch Nachtschutzmann Josef Sparrer 1.1.1910. StAReg, ZR I 10851; Magistrat Stadtamhof: Wiederbesetzung der erledigten Schutzmannstelle durch den Schutzmann Martin Schmitt, 1. Mai 1911, ZR I 10852. 34 Vgl. Magistrat Schwandorf: Ausschreibung Polizeidienerstelle, 20.7.1912, StAS, P-3x 1 v 2. 35 Seemann, Josef, an Magistrat Schwandorf, 27.5.1900, StAS, Akte des Stadtmagistrats, P-3x 1 v. 2. 36 Häusler, Konrad, an Magistrat Stadtamhof, 1909, StAReg, ZR I 10851.
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Gesellschaft dieser Zeit konstituierte“ und für über neunzig Prozent der Volksschulabsolventen noch um 1900 jede weiterführende Bildung ausschloss37 – diese Kluft, so lässt sich resümieren, prägte die Beschäftigungsperspektiven und erklärt ein Stück weit den sozialen Bias auch des Polizeidiensts.
Exkurs: Aktuare und Offizianten Einfache Polizeidiener hatten gelegentlich zu schreiben und sollten es daher rudimentär beherrschen. Ihr Lese- und Schreibkönnen spielte freilich stets nur im Verhältnis zu anderen, körperlichen Fähigkeiten eine Rolle. Ihre eigentliche Aufgabe war das Schreiben nicht. Für dieses Tätigkeitsfeld existierte in der Regel ein eigenes Personal. So verfügte die Nürnberger Polizeidirektion Anfang des neunzehnten Jahrhunderts über drei Aktuare und sechs Schreiber sowie gewöhnlich mehrere Praktikanten, die die „bureaumäßigen“ Angelegenheiten „geflissentlich höchst professionell“ handhabten. Dass dieser Personalstand einige Jahre später nicht mehr gehalten wurde, obwohl inzwischen der Umfang der Verwaltungsgeschäfte – gerade auch derjenigen Geschäfte, die schriftlich beziehungsweise schreibend zu erledigen waren – erheblich angewachsen war, konnte durchaus Anlass zur Beschwerde bieten, weil Polizeidiener dadurch möglicherweise von der Erledigung ihrer eigentlichen Aufgaben abgehalten wurden.38 Interessanterweise wurden die scheinbar nachgeordneten Schreibaufgaben nun allerdings Aktuaren und Offizianten zugewiesen, die sich als behördliche Schreibprofis nichts nur in erster Linie durch Schriftfähigkeit definierten, sondern in sozialer Hinsicht gleichzeitig einer anderen Schicht entstammten als die einfachen Polizeidiener. Die soziale Distanz zeigte sich bereits darin, dass Bewerber als Offizianten und Aktuare – im Unterschied zu solchen für den einfachen Polizeidienst – in ihren Anstellungsgesuchen regelmäßig ihre sozialen Verbindungen thematisierten. Der Unterschied mag daraus resultieren, dass sie Kontakte ‚nach oben‘ hatten, sich also höheres Sozialprestige leihen konnten, während die sozialen Netzwerke der Bewerber für den gemeinen Dienst flacher waren und sich auf diejenigen sozialen Gruppen konzentrierten, die als zu polizierendes Publikum angesehen wurden. Bei Bewerbungen für Aktuars- oder Offiziantenstellen ließen sich Argumente vorbringen, die anderen Bewerbern so nicht zur Verfügung standen. Ein 22-jähriger, vom Militärdienst befreiter Landgerichtsschreiber, der in Nürnberg Polizeioffiziant werden wollte, führte nicht nur an, dass er „in Schreiberey-Sachen bei 3 verschiede37 Lundgreen, Peter: Die Eingliederung der Unterschichten in die bürgerliche Gesellschaft durch das Bildungswesen im 19. Jahrhundert, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 3 (1978), S. 87–107, hier: S. 88f. 38 Zum Beispiel: Magistrat Nürnberg, an Gemeindebevollmächtigte, 27.2.1823, StAN, C2, 74.
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nen Landgerichten beschäftigt“ war und nebenher die Familienstiftung verwaltete, sondern er verwies ausdrücklich auf die Verdienste seiner Familie für die Stadt: Da ich zu Wöhrd, der Nürnberger Vorstadt, geboren bin, meine Mutter überdies an einen Bürger Nürnbergs […] verheiratet ist, so bin ich dadurch einem Nürnberger Stadtkind gleich zu achten. […] Es haben schon seit 200 Jahren Fronmüller der ehemaligen Reichsstadt Nürnberg als geistliche und weltliche Beamte, und namentlich mein obenerwähnter Großvater 39 Jahre lang gedient.39
Die soziale Stellung der Bewerber und die Aufgabenbereiche von Offizianten und Aktuaren scheinen einander zu spiegeln und am Punkt der Schriftkompetenz verzahnt zu sein. Aktuare, so die Instruktion der Polizei-Direktionen in den Städten aus dem Jahr 1808 waren „zur Aufsicht über die Registratur, zur Führung der Protokolle, zu der Konskription und zu den verschiedenen Polizei-Bureaus zu gebrauchen“, während die Offizianten „nach der Anordnung des Direktors die Ausfertigung der Pässe, Aufenthaltskarten, Wanderbücher, Attestate und andere Kopisten-Dienste“ zu verrichten haben.40 Die qualifikatorischen Anforderungen für den Aktuars- und Offiziantendienst waren höher, spezifischer und homogener als bei den Kandidaten für die einfachen Polizeidienerstellen; auch wenn es mitunter einen Bewerber gab, der in einer erbetenen Einschätzung geschildert wurde als „Mann von sehr beschränkten Kenntnissen und Fähigkeiten“, der „in seiner Jugend die Schreiberei“ zwar lernte und sich seither als Registrator für gebildet halte, es aber nicht wäre, und zudem keinen Begriff von
39 Fronmüller, Friedrich Wilhelm Carl, an Magistrat Nürnberg, 4.9.1826, StAN, C6, 159. Ein anderer Bewerber, Sohn eines Nürnberger Braumeisters, setzte im gleichen Jahr auf eine ähnliche Strategie. Er käme für die Stelle in Frage, weil man ihn „als einen älteren competenten und resp. Bürger hiesiger Stadt“ kenne. Er versicherte dem Magistrat halb untertänig, halb gönnerhaft, die in Anschlag gebrachten Auswahlkriterien seien die richtigen. „Daß die Grundsätze Eines Hochverehrtesten Stadtmagistrats bei Besetzung der städtischen Dienstesposten eine besondere Begünstigung für die Eingeborenen der hiesigen Stadt zur Versorgung derselben aussprechen, hat sich bei den bisherigen Anstellungen dieser Diener fast durchgehend bewährt“ (Saalwirth, Andreas, an Magistrat Nürnberg, 3.9.1826, StAN, C6, 159). In ihrer Grundausrichtung ähneln Anstellungsgesuche von Polizeiaktuaren und -offizianten den Bewerbungsschreiben junger Juristen, die eine Laufbahn als Ortsbeamte beginnen wollten: „Zwei Elemente gehen in die Argumentationen der Bewerbungsschreiben ein, ein sozusagen genetisches, wenn sie von ihrer angeborenen Neigung zum landesherrlichen Dienst sprechen, und ein sozialisatorisches, wenn sie ihre frühzeitige Bekanntschaft mit den Erfordernissen der Amtmannstätigkeit betonen“ (Brakensiek, Stefan: Fürstendiener – Staatsbeamte – Bürger. Amtstätigkeit und Lebenswelt niederhessischer Ortsbeamter 1750–1830, Göttingen 1998, S. 305f.). 40 Instruktion der Polizei-Direktionen in den Städten [1808], Sp. 2512.
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polizeilich zu ahndenden Vergehen hätte.41 Bei angehenden Aktuaren und Offizianten traf man auf Gerichtsschreiber, die „zu allen Geschäften verwendet“ wurden und – das ist das Alleinstellungsmerkmal gegenüber den Polizeidienerbewerbern – ein erkennbares Maß an Selbständigkeit und Eigeninitiative in ihrem Berufsfeld an den Tag legten beziehungsweise legen mussten. Wer sich hier bewarb, dem wurde in zahlreichen Zeugnissen bescheinigt, über die entsprechenden Kenntnisse und Fähigkeiten zu verfügen: dass er „einen großen Theil der Verhandlungen in Administrations- und Polizeisachen selbständig aufgenommen, Erkenntnisse gefestigt“ habe, dass er „besonders in Administrations- und Polizeigegenständen die Verhandlungen selbständig auf[nahm]“ und „die hierauf geeigneten Beschlüsse“ entwarf. Auffällig häufig wurden den Bewerbern „gute Bildung“, „viele Geistesgaben“, „ausgezeichnete Geistesfähigkeiten“ usw. bescheinigt. Über einen Bewerber hieß es durchaus typisch, „daß er überhaupt einen hellen Kopf, richtige Beurtheilung und einen scharfen Geschäftsblick, demnach eine ausgezeichnete Geschäftsgewandtheit besitzt“, und mit seinem „scharfen Überblick in den schwierigsten Rechnungsgeschäften“ ein „vorzügliches Talent zu einem sehr brauchbaren Geschäftsmann entwickelt“. Andere besaßen „sehr viele Kenntnisse im Polizei- und Administrationsfach, und im Rechnungswesen, vorzügliche Geschäftsgewandtheit“ oder waren „mit schönen praktischen Kenntnissen ausgerüstet“.42 Hier traten erfahrene Behördenschreiber hervor, die auf Tätigkeiten als „StaatsBeamte“ verwiesen und glaubten, ihre „Brauchbarkeit in polizeilichen Geschäften“ bereits bewiesen zu haben.43 Johann Heinrich Frauenknecht – ein Oberschreiber, der Aktuar werden wollte – fügte seiner Bewerbung über zehn Zeugnisse bei, um seine lange und durchaus erfolgreiche Schreiber- und Verwaltungskarriere zu dokumentieren (und dokumentierte damit zugleich, dass er sich jede Tätigkeit akribisch bestätigen ließ). Darunter waren Zeugnisse verschiedener Landgerichte und Rentämter, der Kreisfinanzdirektion sowie die Bestätigung einer erfolgreich absolvierten 41 Polizeidirektion, an Magistrat Nürnberg, 23.9.1812, StAN, C2, 61. 42 Magistrat Nürnberg: Besetzung Aktuarsstellen, 8.10.1826, StAN, C6, 159. All diese Einschätzungen, die sich in Zeugnissen finden, die die Interessenten aus früheren Arbeitsverhältnissen mitbrachten, weisen einen ähnlich hohen Grad stereotyper Wendungen auf, wie das in Bewerbungsschreiben auch der Fall war; schließlich gab es Vorlagen, derer sich frühere Dienstherren bedient haben dürften, wenn es nicht schon Routine geworden war (vgl. zum Beispiel: Rammler, Otto Friedrich: Universal-Briefsteller oder Musterbuch zur Abfassung aller in den allgemeinen und freundschaftlichen Lebensverhältnissen sowie im Geschäftsleben vorkommenden Briefe, Documente und Aufsätze. Ein Hand- und Hülfsbuch für Personen jeden Standes, 8., umgearbeitete und stark vermehrte Auflage, Leipzig 1848, S. 385). 43 Dazu und zum Folgenden: Wiederbesetzung Aktuarsstelle, 1822, StAN, C6, 74; sowie: Besetzung Aktuarsstellen, 1825–1827, StAN, C6, 159. Auf Einzelnachweise auf die in diesen Beständen vorhandenen Anstellungsgesuche wird verzichtet, da es lediglich um ein pauschales Resümee der Konturen des Bewerberfelds für den polizeibehördlichen Schreibdienst gehen soll.
Exkurs: Aktuare und Offizianten
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Prüfung für den mittleren Finanzdienst. All diese Zeugnisse, so schrieb er, bekundeten seine „Qualifikation in Verwaltungs- und Polizeysachen vollkommen“. Das deckte sich mit der Einschätzung eines früheren Arbeitgebers, wonach er „neben ausgezeichneten Geistesfähigkeiten sehr viele Kenntnisse in Polizey- und Administrationssachen und im Rechnungswesen, so wie vorzügliche Geschäftsgewandtheit“ besitze und „bisher immerhin den lobenswürdigsten Lebenswandel geführt“ habe. Über Einzelfälle hinaus erweist sich die Welt der Aktuare und Offizianten als außerordentlich homogen. In einer Auflistung aller Bewerber aus dem Oktober 1826 für diesen Dienst verzeichnete der Nürnberger Magistrat vier Landgerichtsschreiber und zwei Landgerichtsoberschreiber, einen Rentamtsschreiber und zwei Rentamtsoberschreiber, zwei Magistratsschreiber, einen amtlichen Aktuar und einen Offizianten. Von wenigen internen Beförderungen abgesehen, traten hier keine einfachen Polizeidiener oder Bewerber mit anderweitigen Erfahrungen in diesem oder jenem Sicherheitsdienst hervor. Die Bildungsmaßstäbe waren entsprechend. Landgerichtsschreiber Christian Friedrich Franz, der 1822 Aktuar werden wollte, bemerkte: Da ich in Graefenberg nicht Gelegenheit habe mich in der lateinischen und französischen Sprache gehörig auszubilden, so ist mein Wunsch, in meiner Geburtsstadt eine Unterkunft zu finden, weil ich dort viel leichter dasjenige was mir in wissenschaftlicher Schulung noch fehlt, erlangen könnte.
Ein anderer Kandidat hatte „die sämtlichen Cameral-Wissenschaften zu Erlangen in einem 4jährigen Cursus absolvirt, und in einer beinahe vierjährigen Praxis bei dem hiesigen Magistrat durch Talente, Fleiß und Sittlichkeit sich ausgezeichnet“. Die Bildungswege nahmen einen Verlauf, der sich bei einfachen Polizeidienern nicht fand. In seiner Bewerbung schrieb ein Landgerichtsoberschreiber 1826, er konnte aufgrund familiärer Umstände „kein Gymnasium und folglich auch keine Universität besuchen“ und musste sich entschließen, „die Schreiberey zu erlernen.“ Ein anderer Interessent für den Offiziantendienst gab den Besuch einer Studierschule und einigen Privatunterricht an und betonte, dass er während der langjährigen Schreibertätigkeit beim Landgericht sowohl in gerichtlichen als polizeilichen Geschäften mich auszubilden Gelegenheit hatte. Dabei habe ich durch Privatstudium mir Kenntnisse in [polizeilicher] Hinsicht zu erwerben gesucht und fühle die Überzeugung, daß ich die Dienste eines Polizei-Offizianten zu versehen im Stande sein werde.
Bloße Vermerke über einfaches Lese- und Schreibkönnen reichten nicht aus, um für eine Stelle in Betracht zu kommen. Der Ratsdiener und Landgerichtsschreiber Johann Michael Arld etwa hatte sich in seinen bisherigen Anstellungen
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in den Kanzlei-, Registratur- und Rechnungsgeschäften mit dem größten Fleiß und sichtbarem Erfolg geübt. Verbindet mit einer korrekten und reinlichen Handschrift sehr viele Talente, besitzt in Aufnahme von Protokollen, in Fertigung schriftlicher Aufsätze, in Rechnungssachen viele Fertigkeit.
Den meisten Bewerbern wurde eine vorzügliche und gewandte Führung schriftlicher Geschäfte bescheinigt. Darüber hinaus hielt man – wie das vorangegangene Zitat zeigt – die Qualität der Handschrift für ein hervorzuhebendes Merkmal. Aktuar Christoph Andreas Endler attestierte man, dass er „eine schöne Handschrift hat, insbesondere auch zur schnellen und pünktlichen Protokollführung geeignet ist“. Andreas Saalwirths früherer Arbeitgeber, das Landgericht, bezeugte ihm „vorzügliche Gewandtheit im Entwerfen schriftlicher Aufsätze“ und gab, an, er zeichne sich „ferner durch eine reine hübsche Handschrift“ aus. Dass Magistrate bei Aktuars- oder Offiziantenstellen Wert auf eine schöne Handschrift legten, stand im Einklang mit dem, was einer der damals verbreitetsten Ratgeber für schriftliche Kommunikation betonte: „[E]ine schöne Handschrift empfiehlt sehr; nur vermeide man alle unnöthigen Schnörkel.“44 Das Lob der hübschen Handschrift weist die Welt der Aktuare und Offizianten als Teil jenes Aufschreibesystems ‚um 1800‘ aus, das Friedrich A. Kittler rekonstruiert hat. Darin lag besondere Emphase auf dem Erlernen einer selbständigen, individuellen Handschrift. Es liegt nahe, dass diese Bildungs- und Individualisierungsperspektive nicht bruchlos auf die Welt des polizeilichen Kanzleischreibens zu übertragen war, wies diese schreibpraktisch doch, auch wenn es noch nicht die Welt der Schreibmaschinen war, perspektivisch auf technische Exaktheit und Reproduzierbarkeit statt Individualität.45 Konnten Aktuare und Offizianten wenigstens die verstohlene Ambition hegen, einem Aufschreibesystem anzugehören, dass sie – entgegen ihrer faktischen sozialen und beruflichen Stellung – als Beamten-Persönlichkeit auszuweisen versprach, so galt das für Polizeidiener nicht. Wer protokollierte Anstellungsgesuche oder Dienstinstruktionen knapp namentlich zeichnen konnte oder mit 44 Rammler, Otto Friedrich: Universal-Briefsteller oder Musterbuch zur Abfassung aller im Geschäftsund allgemeinen Leben, so wie in freundschaftlichen Verhältnissen vorkommenden Aufsätze. Ein Hand- und Hülfsbuch für Personen jeden Standes, 6., ganz umgearbeitete und stark vermehrte Auflage, Leipzig 1838, S. 95–98. 45 Vgl. Kittler, Friedrich A.: Aufschreibesysteme 1800/1900, 4., vollständig überarbeitete Neuauflage München 2003 [1987], S. 103, 407f. An die Stelle des „Schreibenden als Genie und Heros“ trat der „von allem höheren Glanz befreite Abschreiber. […] Er hat es mit den monotonen Pflichten des Alltags zu tun, mit den trivialen Geschäften von Administration und Buchhaltung. Sein Schreiben ist eingesenkt in die Prosa eines modernen Lebens. Es erscheint als mühselige Kleinarbeit, tägliche Fron, ohne Anspruch auf die eine große Wahrheit oder darauf, Geschichte zu machen“ (Mainberger, Sabine: Schriftskepsis. Von Philosophen, Mönchen, Buchhaltern, Kalligraphen, München 1995, S. 136).
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zittriger Hand seine Kreuze machte, wer nur elementare Kenntnisse im Lesen und Schreiben vorweisen konnte und wessen Handschrift nicht einmal der Thematisierung würdig erachtet wurde – der konnte sich nicht für einen würdevollen Staatsbeamten halten. Für ihn musste der schreibende Dienst eine andere Bedeutung annehmen. Darum geht es in den folgenden beiden Teilkapiteln.
7.2 Eine schreibende Behörde Um 1800 wurde bei den Polizeibehörden regelmäßig geschrieben und zugleich die materielle Basis dieser Schriftlichkeit geschaffen. Die überlieferten Etatbücher der Nürnberger Polizeikasse (1809–1815) führten eine eigene Rubrik für „Schreibmaterial und Kanzleibedürfnis“.46 In absoluten Zahlen kamen keine exorbitanten Summen zusammen. Die durchschnittlichen Ausgaben bewegten sich bei 28 Gulden pro Monat (ein einfacher Polizeidiener verdiente zu dieser Zeit ungefähr zwanzig Gulden monatlich) und machten damit in der Regel knapp anderthalb Prozent der Gesamtausgaben aus. Hinter diesem Durchschnittswert verbergen sich allerdings beachtliche Schwankungen. Schreibmaterialien wurden auf Vorrat beschafft, vorhandene Materialien dann über Monate hinweg aufgebraucht, ohne dass es zu größeren Nachbeschaffungen kam. Die Ausgaben für Schreibmaterialien und Kanzleibedürfnisse bewegten sich auf dem gleichen Niveau wie die Durchschnittsausgaben, die für Buchdrucker und Buchbinder anfielen, lagen deutlich über den zehn Gulden, die für Unterhaltung und Auffrischung von Utensilien verbucht wurden, schlugen allerdings erkennbar niedriger zu Buche als die Kosten für Beheizung und Beleuchtung (ungefähr 47 Gulden). Der entscheidende Punkt ist, dass Schreibmaterial überhaupt als gesonderte Kategorie geführt wurde. Die Einrichtung einer festen Rubrik normalisierte das Schreiben als polizeiliche Tätigkeit, die laufende Kosten verursachte, und sie machte Schreibmaterial zum Teil der polizeilichen Infrastruktur, bedeutend genug, um nicht unter Sonstiges rubriziert oder unmerklich nebenbei erledigt zu werden. Freilich, die kommunale Ordnungspolizei verwandelte sich nicht unmittelbar in einen bürokratischen Verwaltungsstab, verfügten ihre Angehörigen doch weder über eine Fachausbildung noch folgte ihr Handeln schriftlichen Grundsätzen. Dennoch ging mit der Verschriftlichung behördlicher Verfahren in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts eine Vervielfachung der ‚Schreiberei‘ einher; und das erzeugte gewisse Personalnöte, denn der Schriftverkehr nahm „rascher zu als der Mitarbeiterstab, der den jeweiligen Verwaltungschef der untersten Ebene umgab“.47 Dieser 46 Vgl. Polizeikasse Nürnberg, 1809–1815, StAN, C2, 44–45, 47–48. 47 Raphael, Recht [2000], S. 88; vgl. auch: Eibach, Joachim: Der Staat vor Ort. Amtmänner und Bürger im 19. Jahrhundert am Beispiel Badens, Frankfurt/M. 1994, S. 87.
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Umstand war einer der Gründe, weshalb – davon war in einem früheren Kapitel bereits die Rede – magistratliche Wünsche einer Personalvermehrung regelmäßig auch mit einer Vermehrung der Schreibarbeiten begründet wurden. Der Aufbau einer Schreibinfrastruktur reflektierte und ermöglichte die langsame Veränderung behördeninterner Abläufe vor dem Hintergrund der allgemeinen Alphabetisierung seit Beginn des neunzehnten Jahrhunderts. Auch wenn Polizeidiener mit der Einführung des „gemeinen Styls“ (Hardenberg) in die Verwaltungspraxis und dem Ende einer spezifisch-privilegierten Beamten-Schriftlichkeit in die Position gebracht wurden, dienstlich schreiben zu können und zu sollen, so bestand doch die Besonderheit um 1800 darin, dass das alltägliche Schreiben einfacher Polizeidiener hier eben nicht das zentrale Thema war. Im Mittelpunkt stand vielmehr das Berichtswesen, also jene Schreibpraxis, die in den Händen der Leitung der Polizeibehörden lag und die eine ganz bestimmte Funktion hatte: „Ein Bericht“, so Pierre Bourdieu, „ist kein gewöhnlicher, sondern ein performativer Diskurs, der demjenigen erstattet wird, der ihn angefordert hat und der diesem Diskurs, indem er ihn angefordert hat, vorab eine Autorität verliehen hat.“48 Die zahllosen Berichte von Polizeidirektionen an ihre vorgesetzten Behörden bekräftigten eine bestimmte Behördenhierarchie und setzten die einfachen Polizeidiener einem kontrollierenden Blick aus. Einfache Polizeidiener waren gleichermaßen Quelle und Objekt der Berichte. Hinsichtlich der Gewinnung berichtbarer Informationen wurden sie zu Augen und Ohren der Behörde. Sie lieferten das Material, das nach oben weitergeleitet zum Bericht wurde. Ihre Beobachtungen transformierten sich auf diese Weise in etwas zu Berichtendes. Zugleich waren sie allerdings selbst Berichtsgegenstand, verweist die Vollständigkeit und Korrektheit eines Berichts doch unmittelbar auf die Leistungen und Fähigkeiten derjenigen, die die Informationen zusammentragen. Es war polizeiliche Aufgabe, „von den Zuständen und Ereignissen ihres Wirkungskreises genau und vollständig unterrichtet“ zu sein; und dieses Unterrichtetsein schloss die Forderung nach „ununterbrochener Umschau“ im jeweiligen Bezirk ein, „um soviel als möglich durch eigene Wahrnehmung und unmittelbar von den für ihr Wirken wichtigen Verhältnissen Kenntniß zu erhalten“.49 Die Polizeidirektionen, die nach oben zu berichten hatten, bewegten sich, zwangsläufig, in diesem Kosmos. In gewisser Weise war hier ein Wechsel der Register verlangt. Einerseits war die traditionelle, polizeywissenschaftliche Einheit von Sicherheits- und Wohlfahrtspolizei 48 Bourdieu, Staat [2014], S. 59. 49 Pözl, Grundriß [1866], S. 15. Diese Zuschreibung hatte eine lange Tradition. Die Aufgabe der Polizei bestand seit dem achtzehnten Jahrhundert darin, „Daten zu sammeln, sie auszuwerten, zu kombinieren, sie immer wieder zu Zwischenbilanzen zu verdichten, um auf deren Grundlage weitere Recherchen zu veranlassen“ (Taeger, Angela: Intime Machtverhältnisse. Moralstrafrecht und administrative Kontrolle der Sexualität im ausgehenden Ancien Régime, München 1999, S. 79f.).
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immer schwerer zu bewerkstelligen, entstanden doch beim Hineinwirken in die Polizeibehörde und Polizeimannschaft neue Aufgaben und Herausforderungen. Andererseits waren die Direktoren gehalten, in ihren Berichten eine statistischtabellarische Expertise einzusetzen, die die in der Polizeipraxis kaum relevante Polizeywissenschaft erdacht hatte. Beide Dimensionen – Kontrolle und (tabellarischer) Überblick – liefen in der 1808 für die bayerischen Städte erlassenen Instruktion der Polizei-Direktionen zusammen. Die Polizei-Direktionen haben mit den General-Kreis-Kommissariaten in einem ununterbrochenen Rapporte über ihre Geschäfts-Führung zu stehen. Sie sollen ihnen täglich die Fremden-Listen mittheilen und andere wichtige Polizei-Vorfälle anzeigen. Sie sollen monatlich einen Bericht über ihre Administration durch alle Zweige der Polizei erstatten. Sie sollen jährlich eine Übersicht über den Zustand der Orts-Polizei und der noch bestehenden Gebrechen, nebst Vorschlägen, wie denselben abgeholfen werden könne, liefern.50
Den monatlichen Berichten waren, so hieß es weiter, „nach den beiliegenden Tabellen“ Übersichten der Geborenen, Getrauten und Gestorbenen, der „vorgefallenen Polizeistrafen und der im Laufe des Monats verhafteten und gelieferten Personen“, der in den öffentlichen Armen- und Krankenstiftungen aufgenommenen und ausgetretenen Personen, der Getreide- und Lebensmittelpreise sowie eine Übersicht der Einnahmen und Ausgaben der Polizei beizufügen. Die Generalkommissariate wiederum waren in der Pflicht, vierteljährig über die Geschäftsführung der Polizei-Direktionen ihren Bericht an das Ministerium der Innern Angelegenheiten zu erstatten, und die Übersicht über den Zustand der Polizei in den Städten, wie schon verordnet ist, mit dem Jahresberichte zu verbinden.51
Die Nürnberger Polizeiverwaltung war Anfang des neunzehnten Jahrhunderts also in Berichterstattungspflicht gegenüber der Königlichen Generalkommission der Stadt. Die dafür notwendigen Ausgaben für Schreibmaterial waren im Etat fest verankert und ein entsprechender Personalbedarf – in einem gewissen Umfang – 50 Instruktion der Polizei-Direktionen in den Städten [1808], Sp. 2530f. Das ging einher mit der konkreten Ausgestaltung der Berichte, die durch gewisse Überhänge aus der Hochphase der Polizeywissenschaft früherer Zeiten gekennzeichnet war und entlang der Vorstellung einer „Tabellenwissenschaft“ (Cornelia Vismann) einer eigenen Epistemologie folgte – einer Logik des Überblicks (vgl. Vismann, Cornelia: Akten. Medientechnik und Recht, Frankfurt/M. 2011, S. 226f.; aber auch: Reiffers, Moritz: Das Ganze im Blick. Eine Kulturgeschichte des Überblicks vom Mittelalter bis in die Moderne, Bielefeld 2013, S. 185–187). 51 Instruktion der Polizei-Direktionen in den Städten [1808], Sp. 2531f.
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anerkannt. In monatlichen Berichten musste über die allgemeine Sicherheitslage sowie die Tätigkeit der Polizeidiener Auskunft gegeben werden. Die Berichte folgten formal den bereits genannten Vorgaben der Instruktion für die Polizei-Direktionen. Die Ausführungen in der Rubrik Sicherheit nahmen meist den kleinsten Teil ein und waren auffällig stereotyp gehalten.52 Es gab Berichte, etwa im August 1809, in denen nicht viel mehr berichtet wurde, als dass es nichts zu berichten gab oder dass der September 1809 „der P[olizei]D[irektion] wenig Stoff zu besonderen Bemerkungen in dem gegenwärtigen Bericht“ bot. Aber auch dann, wenn es etwas zu berichten gab, wurde es kaum konkret. „Durch pflichtmäßige ununterbrochene Wachsamkeit auf alles, was Veranlassung zu Verletzung der allgemeinen Sicherheit hätte geben können“, so der Januarbericht 1810, „ist die öffentliche Ruhe stets aufrechterhalten worden.“ Einige Diebstähle seien aufgeklärt und der Justiz übergeben worden, in anderen ermittle man. Man habe einen „höchst gefährlichen Menschen“ aufgegriffen, der andernorts einer Räuberbande vorstand. Gefährliche Äußerungen in Wirtshäusern seien festgehalten worden. So wiederholte sich das Monat für Monat. Voller Eigenlob konstatierte die Polizeiverwaltung, dass die öffentliche Sicherheit „nicht unterbrochen“ und kleinere Störungen schnell unterdrückt worden waren. Daneben berichtete man, selten konkret, über die Arbeitsweise der Polizeimannschaften. „Zur Erhaltung der öffentlichen Ruhe und Sicherheit“, so präzise wurde der zusammengezogene Bericht für die Monate April bis Juni 1809, „hat die Polizei alles gethan, was in ihren Kräften steht. Die Polizei-Wache ist Tag und Nacht in der Stadt vertheilt, daß alle Vorfälle sogleich zur Kenntnis kommen. Besondere Nachtwächter durchstreifen die Stadt in allen Richtungen“. Nur selten wurde, wie im Juli 1810, die Feststellung, dass die öffentliche Sicherheit „auch in der verflossenen Periode durch den genauen Vollzug der in dieser Beziehung bestehenden Erwartungen ohne alle Unterbrechung erhalten“ wurde, durch konkrete Hinweise auf zum Beispiel die Art der Personenkontrollen an den Stadttoren oder eine Ausweitung der Patrouillenbezirke ergänzt. Der Bericht vom September 1810 war dann einer der wenigen, in denen praktische Abläufe erläutert wurden, weil sich hier die Gelegenheit bot, sich für eine Neuerung im Patrouillensystem kräftig selbst zu loben. Mit den Quartalsberichten der Folgejahre verhielt es sich ähnlich: stereotype Meldungen, dass die öffentliche Sicherheit und Ruhe ununterbrochen erhalten, Vorschriften „auf das pünktlichste befolgt“ wurden; dass die Polizeidiener tags und nachts mit aller Vorsicht und Wachsamkeit auf Patrouille waren, es dennoch aber nicht möglich war, „alle Verletzung des Eigenthums zu beseitigen“. Nicht immer wurde die Berichterstattung zur vollsten Zufriedenheit erledigt. Das dürfte neben administrativen Professionalisierungsdefiziten auch dem Wissen 52 Zum Folgenden: Polizeidirektion Nürnberg, Monatsberichte 1809–1810, StAN, C2, 44; Quartalsberichte 1813–1814; Quartalsberichte 1815–1816, StAN, C2, 47–48.
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um den Disziplinierungs- und Kontrollcharakter des Berichtswesens oder schlicht der Unlust geschuldet sein. Mangelhafte oder formal nicht korrekte Berichte waren das erste Feld, auf dem sich Polizeibehörden staatlicher Disziplinierung und Kontrolle, die sie gerade zu umgehen und abzufedern suchten, ausgesetzt sahen. Dienstvorgaben und die Bemängelung von Nachlässigkeiten betrafen auch das Berichtswesen selbst, das auf diesem Weg als Teil der Polizeiarbeit adressiert wurde. So wie der Informationsgehalt der Berichte nicht immer besonders ausgeprägt war53, wurden auch die formalen Vorgaben oft nachlässig gehandhabt. Nach nahezu jedem Bericht bemängelte die Generalkommission dessen unvollständigen und fehlerhaften Charakter oder die mangelhafte Gestaltung. Als die Nürnberger Polizeidirektion im August und September 1809 Berichte vorlegte, in denen man lediglich die Abwesenheit berichtenswerter Dinge konstatierte und dann einfach kommentarlos einen Wust an Tabellen beilegte, hatte die Generalkommission genug. Anfang November teilte man der Polizeidirektion in barschem Ton mit, die eingereichten Berichte dürften laut Königlicher Anordnung nicht nur aus Tabellen und Verzeichnissen bestehen. Ab November 1809 wurden die Berichte umfangreicher, weil die Polizeidirektion nun einfach zu einer Verfließtextung der Tabellen überging. Als die Monatsberichte später durch Quartalsberichte ersetzt wurden, mussten auch diese immer wieder angemahnt und eingefordert werden. Kaum ein Bericht traf pünktlich ein.54 Der Magistrat bat wiederholt um Fristverlängerung und machte eine Überhäufung mit Arbeit für Verzögerungen verantwortlich. So ging es über Jahre. Am 17. Januar 1821 erschien dann im Intelligenzblatt des Rezatkreises eine Bekanntmachung, in der alle Magistrate, die mit Berichten noch im Rückstand waren, aufgefordert wurden, diese binnen zwei Tagen einzureichen. Die mangelhafte beziehungsweise bemängelte Qualität der Berichte hatte sicher auch etwas damit zu tun, dass diejenigen, die sie faktisch aufsetzten, das entweder mit wenig Engagement taten oder ihnen – wenn diese Aufgabe nach unten delegiert wurde – teilweise auch die Fähigkeit ordentlichen Berichtens abging. Daneben hatten viele Männer, die in den Polizeidienst eintraten, wohl gewisse Berührungsängste, die man ihnen zunächst einmal nehmen musste. So wurde beispielweise Militäranwärtern, die mit dem Gedanken spielten, Polizeidiener zu werden, 1807 tröstlich versichert:
53 Es sei denn, man interessierte sich für allgemein Bekanntes, wie die „vorzüglich merkwürdig[e]“ Anwesenheit des Kronprinzen, die alle Einwohner herzlich erfreut habe und durch ehrfurchtsvollste Devotion begleitet gewesen sei (Polizeidirektion Nürnberg: Monatsbericht Dezember 1809, StAN, C2, 44). 54 Dazu und zum Folgenden: Kreisregierung des Rezatkreises, an Magistrat Nürnberg, 7.1.1819; dass., 21.1.1819; Magistrat Nürnberg, an Kreisregierung des Rezatkreises, 16.8.1819; Intelligenzblatt des Rezatkreises, 17.1.1821 (alle in: StAN, C6, 65).
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Wer schreiben kann, und im Stande ist, sich eine geordnete und deutliche Vorstellung von irgend einer Sache, die einen Auftrag, Vorfall, eine Begebenheit oder so etwas betrifft, in Gedanken zu machen, der kann einen Bericht davon auch schriftlich abfassen. Die Sache oder der Vorfall selbst, die Entstehungsgründe oder die Veranlassung, die Haupt- und Nebenumstände, und der Ausgang oder die Folgen, bleiben immer die Hauptsache. Daß die Namen der interessierten Personen angezeigt, und in manchen Fällen nähere Verhaltungsbefehle erbeten werden, versteht sich von selbst.55
Gerade Unteroffizieren wurde empfohlen, ihre Schriftfähigkeit im Hinblick auf eine spätere Zivilversorgung auszubauen. Zu den bessern und höhern militärischen Versorgungsposten für alt und schwach gewordene Staabsoffiziere, gehören die nicht zu mühevollen Kommandantenstellen in Städten und Festungen. Der Kommandant hat aber nicht blos militärische, sondern, was am meisten der Fall ist, Civil- und besonders Polizeigeschäfte, diese aber können ohne den steten und fertigen Gebrauch der Feder kaum in Friedenszeiten, vielweniger im Kriege zum allgemeinen Besten geführt werden, und kein Kommandant kann gänzlich von der Hülfe anderer in allen Fällen abhängen. So wie die Kommandantenstellen beschaffen sind, so sind verhältnismäßig auch alle Civilversorgungen, denn nur sehr selten trifft man auch eine Civilstelle, die nicht den fertigen Gebrach der Feder erforderte. […] Schon für den Unteroffizier ist es sehr vortheilhaft, wenn er die Feder gut zu gebrauchen versteht, und auch dieser hat die Hoffnung im Alter ein gutes Schicksal zu haben, wenn seine körperlichen Kräfte dem beschwerlichen Militär- und Kriegsdienste nicht mehr entsprechen.56
55 Meinert, Soldat [1807], S. 211. Was es brauchte, war also nicht mehr als der Rückgriff auf einige rudimentäre Techniken unterschichtlicher Textproduktion, die wesentlich durch eine Dominanz des Berichtens und Beschreibens, insbesondere einer strukturellen Ausrichtung an Linearität und Chronologie, gekennzeichnet war (vgl. Schikorsky, Schriftlichkeit [1990], S. 141–152). Das im Schriftalltag der so genannten kleinen Leute präsente Genre des Berichtens und Mitteilens, oft in der schriftlichen Kommunikation mit Behörden zum Einsatz gebracht, schwankte „je nach Gegenstand und Charakter des Schreibens stark zwischen Formelhaftigkeit und gefühlsbetontem Erzählen“. Beim Seitenwechsel, also beim Eintritt in eine Behörde, etwa als Polizeidiener, wurde eine Verbehördlichung dieser Form von Schriftlichkeit nötig. Auch hier halfen Hand- und Lehrbücher, beispielsweise für Militäranwärter, die „auch für diese Textart eine große Anzahl an Musterbeispielen bereit[hielten], die fast alle möglichen und unmöglichen Berichtsfälle abdecken, vom ‚Bericht über eine gefundene Leiche‘ über eine ‚Meldung über unverschuldeten Pferdeverlust‘ bis zur ‚Anzeige wegen unterlassener Meldung betreffs eines neu angeschafften Gährbottichs‘. Diese […] dienstlichen Berichte zeigen ihre Verfasser in der Not, weitgehend banale Sachverhalte in das steife Gewand der Behördensprache zu kleiden. Eine Aufgabe, der sie sich im allgemeinen recht routiniert entledigen“ (Karweick, Nahrungssorgen [1989], S. 81). 56 Meinert, Soldat [1807], S. 219f.
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Bis sich ein gewisses Schriftniveau auch auf der Ebene der einfachen Polizeidiener durchsetzte, dauerte es eine ziemliche Weile. Klagen über mangelhafte Berichte, wie sie sich auch in den 1850er Jahren noch regelmäßig fanden, zeigen aber auch, dass Berichterstattung zu diesem Zeitpunkt bereits nicht mehr vornehmliche Aufgabe des „Verwaltungschefs“ und seines Mitarbeiterstabs war, sondern es nun eben auch einfachen Polizeidienern zukam, an höhere Stellen zu berichten – und sich für die Art der Berichte kritisieren zu lassen. Die Distriktpolizeien wurden vor diesem Hintergrund angewiesen, ihre Polizeidiener dazu zu bringen, bei Erstattung von Anzeigen alle Hinweise und Quellen erschöpfend, aber unter Vermeidung von Überflüssigem darzulegen und vor allem die Ermittlungsumstände anzugeben.57 So vollzog sich der Übergang von einer schreibenden Behörde, in der höhere und förmliche Schriftlichkeit eine Angelegenheit von Vorgesetzten und Schreibprofis war, zur Figur des schreibenden Polizeidieners, dessen lange Zeit randständiges Schreiben nun selbstverständlicher Teil des alltäglichen Diensts wurde.
7.3 Schreibende Polizeidiener Nicht gerade schreibaffine Polizeidiener eigneten sich Schriftlichkeit im Dienst in einer bestimmten Weise an, die – bei aller Vorsicht – einen Souveränitätsgewinn und eine Aufwertung der polizeidienerlichen Identität bedeuten konnte. Dabei entwickelten sie untereinander ganz eigene Formen schriftlicher Kommunikation. Ein erstes Beispiel zeigt, wie eine unter Polizeidienern eingespielte Praxis die Aufmerksamkeit der Vorgesetzten erregte. Die Polizeidiener hatten ein pragmatisch-effizientes System gegenseitiger Information entwickelt, das an wohngemeinschaftlichen Zettelverkehr mittels Kühlschrankmagneten und Pinnwänden erinnert, dem aber verfahrensbürokratische Korrektheit nicht von allen bescheinigt wurde. Ein Nürnberger Magistratsmitarbeiter hatte im Februar 1860, an dem Anschlagbrette der Polizeiwachstube die anliegenden drei Zettel vorgefunden, ausweislich deren der Polizeirottmeister Klaus und der Stationist die Anordnung erlassen haben, daß auf bestimmte Individuen zu vigilieren und solche im Betretungsfall vorzuführen seyn. Die beiden Bediensteten sind vor allem darüber zu vernehmen, wie sie sich zu derley Aufträgen berechtigt erachten konnten.58
Interessieren soll hier weniger die Frage, wer unter welchen Umständen wozu berechtigt war, als vielmehr der Umgang der Polizeidiener mit schriftlicher Kommunikation. 57 Vgl. Regierung Mittelfranken, an alle Distriktspolizeien, 26.5.1859, StAN, C7/I, 2718. 58 Dazu und zum Folgenden: Polizeisenat Nürnberg: Dienstübertretungen, 1860, StAN, C7/I, 2718.
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„Bequeme Sitzämter“ und „handfeste Executionen“
Auf Befragen erläuterte der Rottmeister das Verfahren, das zur Debatte stand und die Aufmerksamkeit der Magistratsverwaltung auf sich gezogen hatte. Seit ich bei der Polizei bin, wird das Vigilanz-Brett dazu benützt, die Polizeimannschaft, welche nur ausnahmsweise als Ganze zusammenkommen kann, auf das Treiben solcher Individuen aufmerksam zu machen, wenn noch keine bestimmten Anzeigen erstattet worden sind / mitunter nicht erstattet werden können, und so haben sowohl Rottmeister als auch Polizeisoldaten, wenn sie derlei Fälle erfahren haben, auf diese Weise sich hierüber verständigt, weil eine solche Sache nicht in das Berichtsbuch eingetragen wird (erfolgt später!).
Diese Erläuterung bringt ein Spannungsverhältnis zwischen offiziell-bürokratischen Vorgaben und dem vor Ort entwickelten Vorgehen zum Ausdruck. Entscheidend scheint aus Sicht des Rottmeisters die Frage gewesen zu sein, welche Praxis den alltäglichen Erfordernissen am besten entsprach. Die faktischen Arbeitsumstände – es kommen eben nicht immer alle Polizeidiener zusammen – sowie der Verweis auf Informationen, die man sich zwar gegenseitig mitteilen müsse, die aber außerhalb des offiziellen Berichtsbuchs verbleiben müssten, werden hier als wesentliche Rechtfertigung angeführt. Hinzu kommt, auch wenn diese weiterreichende Interpretation ein wenig spekulativ ist, dass die von den einzelnen Polizeidienern entwickelte Form schriftlicher Kommunikation nicht unerheblich dazu beizutragen schien, die Polizeimannschaft zu konstituieren. Auf dem „Anschlagbrette“ wenigstens konstituierte sich eine Mannschaft, die kaum jemals als ganze zusammenkam, deren Angehörige aber offenkundig die Notwendigkeit erkannten, als Ganzes zu agieren – und diese polizeimannschaftliche Vergesellschaftung erfolgte auf Initiative der Polizeidiener. Der ebenfalls zum Sachverhalt befragte Stationist eröffnete noch eine weitere argumentative Linie, die ebenfalls in Richtung einer polizeidienerlichen Ermächtigung angesichts vorgegebener bürokratischer Abläufe interpretiert werden kann. Das praktizierte Vorgehen, so führte er aus, habe erhebliche Vorzüge, während durch eine frühere Bekanntgabe der Zweck der Sicherheit in Folge des baldigen und raschen Einschreitens ungleich mehr erreicht werden kann, wie es auf ähnliche Weise bei der Gendarmerie gehalten ist, welche sich von Station zu Station mündlich Mittheilungen macht, während schriftliche Mittheilungen ziemlich oft sehr langsam und dem Recht oft nachfolgend, wenn auf die mündlichen Mittheilungen Verhaftungen vorgenommen sind. Nach dem bisherigen Usus habe ich auch die beiden Vigilanzzettel angeklebt und glaube ich hierdurch auch meine Pflicht erfüllt zu haben und mithin auch hierzu berechtigt gewesen zu sein.59 59 Die Gendarmerie – auf die hier als Vorbild rekurriert wird – hatte nun allerdings ebenfalls mit einem stetig wachsenden Schreibaufwand zu kämpfen. So beschwerte sich der Gendarmeriekom-
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Die Trägheit schriftlicher Kommunikation bezieht sich offenkundig auf die bürokratischen Berichtswege. Demgegenüber rückt der Zettel am Anschlagbrett in Sachen Schnelligkeit, Flexibilität und Effizienz in die Nähe mündlicher Mitteilungen. Der abschließend befragte Polizeioffiziant – also der polizeiliche Verwaltungs- und Schreibexperte – bestätigte, dass die Zettelwirtschaft mannschaftsintern einen gewissen Zweck erfüllte, problematisierte aber, was in welcher Form auf die Zettel zu schreiben war. Das Vigilanz-Brett hat allerdings den vom Rottmeister Klaus angegebenen Zweck, nur hätte bey den Anschlägen die Bemerkung ‚Arretierung und Vorführung‘, welche einer Verfügung sehr gleich ist, ausbleiben sollen, während sie streng genommen auch wieder darin schon enthalten ist, da das Eine nur der Zweck für das andere ist. Für den Theil mögen die Anschläge der Beamten aber als Muster gedient haben.
Als Experte für bürokratische Abläufe und Formulierungen demonstrierte der Offiziant also immerhin seine prinzipielle Fähigkeit zu formalistischer Differenzierung (manchem Polizeidiener oder Rottmeister mag das spitzfindig vorgekommen sein), machte nach dieser Zurschaustellung seiner amtsschreiberlichen Kompetenz aber sofort das Zugeständnis, dass den Polizeidienern Derartiges wohl egal sei und ihren alltäglichen Dienst nicht berühre. Der Büropolizist zeigte sich mithin verständig gegenüber den Befindlichkeiten der street cops. Die abschließende Verfügung stellte klar: Eine Anordnung zur Vorführung Verdächtiger habe „von nun an von den treffenden Instanzen auszugehen“, und zukünftig dürften Anordnungen am Vigilanzbrett ausschließlich mittels „anliegendem Formular“ erfolgen – und auch das erst, nachdem das jeweilige Formular dem Amtsvorstand zur Kenntnis vorgelegt worden war. Die Formularisierung polizeidienerlichen Schreibens erreichte nun also auch die Ebene kurzer Mitteilungen unter Kollegen, die sich nicht immer persönlich begegneten; und damit erreichte diese „schreiböko-
mandant der Oberpfalz 1878 gegenüber der Bezirksregierung, dass den Wachtmeistern vor allem seitens der zivilen Behörden regelmäßig schriftliche Aufgaben aufgebürdet würden, während laut Königlicher Dienstinstruktion „alle nicht nothwendigen Schreibereien von der GendarmerieMannschaft fern zu halten“ seien. Die „lästige Vielschreiberei“ ergebe sich darüber hinaus auch aus dem Umstand, dass einige Zivilbehörden immer wieder eine „schriftliche Rapporterstattung“ vorgefallener Sicherheitsstörungen verlangten, wo die Dienstinstruktion explizit eine mündliche Rapporterstattung vorsehe (Gendarmerie-Compagnie der Oberpfalz, an Regierung der Oberpfalz, 7.11.1878, StAAm, Regierung der Oberpfalz, 3681). Die Bezirksregierung reagierte umgehend und untersagte das Verlangen schriftlichen Rapports (vgl. Regierung der Oberpfalz, an sämtl. Bezirksämter des Regierungsbezirks, 10.11.1878, StAAm, Regierung der Oberpfalz, 3681).
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nomische Neuerung von großer Reichweite“ auch die einfachen Polizeidiener. „Aus Vorschriften werden so Vordrucke.“60 Im Dienstalltag ebenso bedeutsam, das als zweites Beispiel, war das Führen von Wachbüchern, das zunächst dazu diente, Ereignisse (Verhaftungen usw.) zu fixieren, dann dazu, den Kommunikationsfluss zwischen den Polizeidienern (und Rottmeistern) zu systematisieren, schließlich dazu, polizeiliches Handeln für die Vorgesetzten und Magistrate nachvollziehbar und kontrollierbar zu machen. So stellte die Polizeiverwaltung in Nürnberg bei der Durchsicht des Wachbuchs in den 1870er Jahren fest, dass zahlreiche Anzeigen nicht vorschriftsmäßig verzeichnet worden waren (zwei Anzeigen tauchten nicht auf, einige andere rückdatiert).61 Die Polizeidirektion erklärte, das Wachbuch sei im Moment der Anzeige nicht immer verfügbar, vor allem dann nicht, wenn sich eine Anzeige draußen auf dem Markt ergab. In der Folge spielte sich eine Routine ein: Quartalsweise erhielt die Polizeimannschaft ein Schreiben, in dem alle Polizeidiener aufgefordert wurden, rückständige Anzeigen „schleunigst“ nachzumelden. Ab 1874 folgte jeder Nachmeldung die Rückfrage, warum die betreffende Anzeige nicht sofort gemeldet worden sei. So richtig in den Griff bekam man das Problem nicht. Nach fortgesetzten pauschalen Ermahnungen wurden am 10. November 1876 einzelne Polizeidiener vorgeladen, um die nicht ordnungsgemäße Eintragung zu erklären. Er habe, so Polizeidiener Helbig, die fragliche Anzeige rechtzeitig erstattet, sich dies aber erst vor zwei Tagen vom Rottmeister bestätigen lassen. Helbig war der Überzeugung, keine Strafe zu verdienen, weil „es fast eine Unmöglichkeit ist, innerhalb einer gewissen Zeit die Anzeige bestätigen zu lassen, da man oft stundenlang das Wachbuch nicht haben kann, ja oft gar nicht bekannt ist, wo sich solches befindet“. Auch Helbigs Kollegen erklärten, dass sie ordnungsgemäße Eintragungen nicht vornehmen konnten, weil der Aufenthaltsort einer Person nicht zu ermitteln war, weil die Sache aus dem Gedächtnis kam, weil man nicht wusste, dass die Einlieferung einer Person aufgrund eines Strafvollzugsbefehls ebenfalls einzutragen war, weil eine Person wegen fallengelassener Anzeige schon wieder entlassen war, weil einfach ein Eintrag übersehen wurde, weil eine Verhaftung gar nicht selbst vorgenommen, sondern der Verhaftete lediglich auf der Wache übernommen und die Stellung des Strafantrags erledigt wurde (es also gar nicht die Aufgabe war, den Eintrag ins Wachbuch vorzunehmen), und schließlich: weil immer wieder das Wachbuch nicht zeitnah verfügbar war, wenn man es brauchte. Ende Januar 1877 wiederholte sich die Befragungsrunde. Die Erklärungen (oder Ausreden) blieben die gleichen. In einem Disziplinarbeschluss vermerkte die Poli60 Vismann, Akten [2011], S. 160f. 61 Dazu und zum Folgenden: Polizeidirektion Nürnberg Erstattung der Anzeigen durch die Schutzmannschaft allgemein, 1870–1889, StAN, C7/I, 2802.
Schreibende Polizeidiener
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zeiverwaltung, dass das Unterlassen der Bestätigung von Anzeigen in einer Reihe von Fällen „einigermaßen entschuldbar“ war. Man solle in diesen Fällen die betroffenen Polizeidiener auf ihr unkorrektes Verhalten hinweisen und verwarnen. In anderen Fällen stellte sich das Unterlassen allerdings als mit einem Verweis zu bestrafende Nachlässigkeit im Dienst dar. Das war der Fall, wenn eine Bestätigung übersehen und nicht im Wachbuch kontrolliert wurde oder ein Polizeidiener einfach stillschweigend davon ausging, die Bestätigung erfolge automatisch, weil dem aufsehenden Beamten das Wachbuch bei Protokollierung der Aufnahme ohnehin vorliege. Ebenso als Nachlässigkeit bestraft wurde es, wenn jemand die Einholung der Bestätigung einem anderen überließ, ohne zu überprüfen, ob und wie diese erfolgt war. Im Fall eines lang gedienten Polizeidieners wurde das mit einer Geldstrafe von einer Mark verbunden, weil besagter Polizeidiener sich in vier Fällen zusichern ließ, die Anzeigen würden später bestätigt, dies aber nicht prüfte. Anzeigen, so bekräftigte man bei dieser Gelegenheit erneut, waren in jedem Fall zu bestätigen, und diese Aufgabe durfte in keinem Fall delegiert werden. Die laxe Handhabung der Wachbucheinträge begleitete die Nürnberger Polizeimannschaft noch eine Weile. Mitte Januar 1879 meldete die Polizeidirektion jedoch, dass nichts zu beanstanden sei. Das Wachbuch wurde nun alle zehn Tage kontrolliert und Nachlässigkeiten rechtzeitig behoben. Breit angelegte Vorladungen und Erklärungen blieben nun aus. Anfang der 1880er Jahre ergaben Überprüfungen wiederholt, dass keine Rückstände in der Bestätigung von Anzeigen bestanden. In Einzelfällen kam es allerdings noch vor. Die Gründe für die Nachlässigkeiten blieben dieselben, die sie immer schon waren. Der verfahrenstechnisch heikle Status von unter der Hand entwickelten, pragmatischen Kommunikationsformen war nicht der einzige Anlass für eine Evaluation schriftlicher Polizeiarbeit. Die verschiedenen Formen dienstalltäglicher Subjektivierung durch Schreibpraxis wurden gestützt durch die Herausbildung einer Schriftlichkeit, die sich vom behördlichen Schreiben unterschied und als ‚eigenes‘ Schreiben wahrgenommen werden konnte. Die Polizeidiener erlebten sich als schreibende Subjekte, deren Schreiben aber eine eigene Form und einen eigenen Bereich hatte. Die Situationen, in denen sie schrieben, legten es nahe, sich nicht ausschließlich oder auch nur in erster Linie über dieses Schreiben zu identifizieren. Das kleine Schreiben der einfachen Polizeidiener ließ der Selbstbildung und Identifizierung über andere Tätigkeiten ausreichend Raum. Schreiben war lästig, man vergaß es, und wenn man es vergaß oder nachlässig handhabte, wurde man gerügt. Was war dann aber die eigentliche Tätigkeit eines einfachen Polizeidieners, von der die Schreiberei im Zweifelsfall nur ablenkte?
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7.4 Schreiben versus Zupacken Mit Blick auf das polizeidienerliche Schreiben fällt auf, dass Schreiben als entkörperlichte Tätigkeit adressiert, während der eigentliche Polizeidienst als körperlichzupackend beschrieben wurde. Der Versuch, schreibende und körperliche Tätigkeiten in ein Spannungsverhältnis zu bringen, scheint über eine gewisse Alltagsplausibilität zu verfügen.62 Plausibilität erhielt diese Perspektive dadurch, dass die Dienstaufgaben von Polizeidienern über körperliche Anstrengung definiert wurden, ihre alltäglichen Routinetätigkeiten sich gleichzeitig jedoch zu einer beachtlichen und konstant wachsenden Menge an Schreibarbeit aufsummierten. Gustav Zimmermanns Abhandlung Die deutsche Polizei im neunzehnten Jahrhundert scheint das zu stützen. Sie erschien 1845–1849 in mehreren Bänden, also zu einem Zeitpunkt, der bereits als Umschlagpunkt in Sachen polizeiinterner Schriftlichkeit identifiziert wurde. Bei Zimmermann kam das Bestreben nach Einrichtung und Abgrenzung eigenständiger Polizeibehörden hinzu. Diese mittelfristig in Gang kommende (und bereits diskutierte) Reorganisation der Polizei, sollte ihren Ausgang in einer notwendigen Trennung von Justiz und Polizei nehmen, schließlich seien beide „in der Grundanlage himmelweit verschieden“: bei der Polizei einheitliches, centralisiertes Wesen, bureaucratisches System, Raschheit der Bewegungen, physische Macht und thatsächliche Operationen, bei der Justiz hingegen mehr Einzelstand jedes Gerichtes, collegialische Form vorherrschend, förmlicher und folglich stets mit etwas Langsamkeit gemischter Gang nothwendig selbst bei einer justitiellen Einrichtung, in welcher ‚schreiben‘ und ‚handeln‘ keine gleichbedeutenden Begriffe sind; logische Thätigkeit in Schlüssen und Urtheilen ungleich häufiger als handfestes Zugreifen.63
Vor diesem Hintergrund ist es vielversprechend, einen genaueren Blick in die dicken Bände zu werfen, um die Frage zu beantworten, wie der Dualismus von Schreiben und Zupacken erzeugt und beides in ein asymmetrisches Verhältnis gebracht wurde. Folgend wird argumentiert, dass die für den Polizeidienst des neunzehnten Jahrhunderts konstitutive Artikulation eines Dualismus von Schreiben und zupackendem Handeln, von bequemen Sitzämtern und handfesten Executionen an frischer Luft, eine Verdopplung der für moderne Gesellschaften charakteristischen „Polarisierung der 62 Selbstverständlich war und ist ein solcher Dualismus nicht. Er musste diskursiv erzeugt und performativ stabilisiert werden. Es gab Zeiten in der europäischen Geschichte, da galt Schreiben als niedere, weil körperliche Arbeit. In klösterlichen Ordensregeln, in denen Handarbeit vorgeschrieben war, erfüllte das Schreiben diese Funktion, handelte es sich doch um ein oft stundenlanges Kopieren, das in der Antike von Sklaven besorgt worden war (Mainberger, Schriftskepsis [1995], S. 47f.). 63 Zimmermann, Polizei [1845–1849], S. 692f. [meine Hervorhebungen].
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Geschlechtercharaktere“ (Karin Hausen) mit sich brachte. Männlichkeit wurde in diesem Kontext assoziiert mit Energie, körperlicher und Willenskraft, Festigkeit, Tapferkeit, Kühnheit usw.; vor allem aber über die Kopplung an eine bestimmte sozial-räumliche Tätigkeitssphäre. Ein ‚Mann‘ bewies sich seit Mitte des neunzehnten Jahrhunderts durch seine Aktivitäten außerhalb der Familie und der Sphäre des Heimelig-Gemütlichen. „Wegen der physischen Stärke“, so fasst Claudia Honegger diesen Diskurs zusammen, „ist der Mann weniger sensibel, seine Aufmerksamkeit wird nicht von Kleinigkeiten gefesselt, sondern nur durch große Gegenstände erregt. Der Mann will seine Muskeln bewegen, eine sitzende Lebensart ist ihm lästig, er sehnt sich nach draußen und ‚trotzt der Rauhigkeit der Luft‘.“64 Wo man sich aufhielt und wo man agierte, war auch im Polizeidienst eine entscheidende Variable. Unterschieden wurde dabei zwischen einer handfesten und zupackenden Männlichkeit derjenigen, die auf der Straße agierten und einer erschöpften, versehrten Männlichkeit derjenigen auf bequemen Sitzämtern. Der vornehmliche Gegenstand polizeilicher Tätigkeit, so Gustav Zimmermann, sei „das Draußen“, während die Geschäftsstube nicht mehr als ein „Ort der Einkehr“, „Sammelpunkt der Leute“ und „Aushängeschild für Hülfesuchende Bürger“ sei.65 Das Begriffspaar drinnen/draußen strukturierte mithin die Topographie des Polizeidiensts beziehungsweise: leistete eine topographische Übersetzung verschiedener Tätigkeiten, Anforderungen, Männlichkeitsentwürfe usw. Man solle, so Zimmermann an anderer Stelle, nicht denjenigen Polizeidiener „in die Stube setzen zum Schreiben und Protocolliren, welcher den auswärtigen Polizeidienst kunstmäßig erlernt hat und trefflich versteht, und dagegen den stillen Mann des Bureaus zum Außendienst verwenden“. Auch solle man das Personal nicht willkürlich zwischen den Bereichen verschieben, denn die Unterschiede „zwischen dem auswärtigen Agiren und dem innern schreibenden Dienste [sind] zu groß“.66 Körperlich-zupackende Tätigkeiten wurden als eigentliche Polizeiarbeit privilegiert, und das eröffnete eine Perspektive auf den schreibenden Dienst als polizeiliches Altenteil und Ort des Ausruhens erschöpfter Polizeidiener64 Honegger, Claudia: Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib, 1750–1850, Frankfurt/M. und New York 1991, S. 159; vgl. dazu insgesamt: Hausen, Karin: Die Polarisierung der „Geschlechtercharaktere“. Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbsund Familienleben [1976], in: dies., Geschlechtergeschichte als Gesellschaftsgeschichte, Göttingen 2012, S. 19–49; Frevert, Ute: „Mann und Weib, und Weib und Mann“. Geschlechter-Differenzen in der Moderne, München 1995; Kessel, Martina: The Whole Man. The Longing for a Masculine World in Nineteenth-Century Germany, in: Gender & History 15 (2003), S. 1–31. Zur Lockerung der Bindung von Häuslichkeit und Männlichkeit im viktorianischen England vgl. Tosh, John: Domesticity and Manliness in the Victorian Middle Class. The Family of Edward White Benson, in: ders./Roper, Michael (Hg.), Manful Assertions: Masculinities in Britain Since 1800, London und New York 1991, S. 44–72. 65 Zimmermann, Polizei [1845–1849], S. 1189. 66 Ebd., S. 1104, 1199.
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körper, könnten doch beispielweise die bewaffneten Polizeiagenten nicht „bis in das hohe Alter bei der Polizei dienen; denn die Beweglichkeit und Anstrengung des äußern Agirens fordert körperliche Rüstigkeit und Gelenkigkeit: man verpflanze also die ältern Beamten dieser Gattung auf bequeme Sitzämter“.67 Die im äußeren Dienst tätigen bewaffneten Polizeiagenten hatten „weder alt, noch schwächlich, oder gebrechlich; nicht klein und unansehnlich, sondern mehr groß, als mittelgroß“ zu sein, „kräftigen Aussehens; jung, gesund und fehlerfrei; munter und hurtig, nicht schwerfälligen und trägen Kalibers und mit einer äußern Anstelligkeit begabt“. Schließlich, so begründete Zimmermann diese Forderung, wäre „bekannt genug, daß unansehnliche oder schwache Agenten den Spott und die Verachtung des Pöbels reizen, während Größe und physische Kraft imponieren“.68 Bei der Wahl der Civilagenten seien nicht blos verkrüppelte Constitutionen auszuschließen, weil sie zu leicht Gegenstand des Spottes für den gemeinen Haufen werden, sondern auch schwächliche Staturen zu meiden, da der polizeiliche Agentendienst jeder Gattung strapaziös ist und einen guten Grad körperlicher Kraft selbst für den gewöhnlichen Dienstberuf fordert.69 67 Ebd., S. 1202. Was Zimmermann nicht thematisiert, was sich aber indirekt aufgrund der Abstufungslogik und des Abschreitens der Hierarchieleiter erschließt, ist der Umstand, dass gehobene Anforderungen im Schriftlichen nicht nur auf dem Weg zum polizeilichen Altenteil, sondern auch als Karriereoption relevant waren. Denn trotz aller Polemik wuchs die Bedeutung von Schreiberei mit jeder Stufe der Karriereleiter – und damit hatte jeder, der innerpolizeilich aufsteigen wollte, es auch mit gehobenen Anforderungen an die eigene Schriftlichkeit zu tun. Wer vom einfachen Polizeidiener zum Rottmeister werden wollte (und sich damit immer noch in Zimmermanns Kosmos der „handfesten Executionen“ bewegte), sah sich bereits bei diesem Schritt genötigt, eine gesteigerte Schriftnähe und Schriftgewandtheit anzuführen. In den Diskussionen um das Beförderungswesen im Allgemeinen wie auch der Besetzung von Aktuars- und Offiziantenstellen klang das bereits an. 68 Ebd., S. 1112f. 69 Ebd., S. 1146. An diesem Punkt markierte Zimmermann auch den Unterschied: Bei Zivilagenten brauche man „nicht eben so eine vorzügliche Körperstärke zu fordern, wie beim bewaffneten Agenten: der Civilagent ist nicht dazu bestimmt, regelmäßig mit mechanischen Kräften zu wirken, folglich überwiegt auch bei seiner Wahl nicht die physische Kraft“ (ebd., S. 1146f.). Der Hinweis auf die unterschiedliche Bedeutung „mechanischer Kräfte“ und „physischer Kraft“ lässt sich zunächst interpretieren als Stellungnahme zu zeitgenössischen Vorstellungen, die im Polizeidiener gerade aufgrund seiner spezifischen Körperlichkeit eine Art archetypischen Arbeiter sahen. Diese Identifizierung, das hat Clive Emsley am Beispiel der Polizei im viktorianischen England herausgearbeitet, gründete im körperlichen Auftreten der Polizeidiener, das heißt ihrem beständig-gleichmäßigen, fast maschinellen Schritt beim Patrouillen (vgl. Emsley, Police [1996], S. 246f.). Daneben kommt hier eine Spannung zwischen polizeidienerlicher und soldatischer Körperlichkeit zum Ausdruck. Militärkonzepte setzten seit der Frühen Neuzeit auf körperliche Dressur der Rekruten und auf eine systematische Normierung von Handgriffen und Körperhaltungen (vgl. Bröckling, Disziplin [1997], S. 69f.). Als Zimmermann seine Skepsis gegen eine ausschließliche Konzentration „auf
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Auffällig ist, dass Zimmermann die Körper potentieller Polizeidiener in vergleichender Perspektive beschrieb. Stünde die gesamte männliche Bevölkerung zusammen, wäre es mit Zimmermanns Kriterien möglich, die für den Dienst in Frage kommenden Exemplare mit einem Blick zu identifizieren. Neben der Größe operierte Zimmermann allerdings auch mit Merkmalen, die weniger am einzelnen Körper abzulesen sind, als dass sie sich bei der Verrichtung des Diensts erweisen müssten, also Dinge, die nur von einem Körper in actu abgelesen werden können. Darüber hinaus führte Zimmermann einige der Kriterien, die eine zumindest erste Vorauswahl geeigneter Subjekte nach dem Augenschein ermöglichen, an Überlegungen zur Wirksamkeit von Polizei heran. Die imponierende Wirkung polizeilicher Körper war bereits Teil des Polizeidiensts. Sie erleichterte die Arbeit und schien bestimmte Gefahren abwehren oder eindämmen zu können, ohne dass es handgreiflich werden musste. Der „Pöbel“ ließ sich, zumindest unter bestimmten Umständen und in der Perspektive Zimmermanns, leicht beeindrucken, und es bestand für den polizeidienerlichen Alltag die Hoffnung, dass er beim bloßen Anblick von Größe und physischer Kraft zurückwich. Mochte ein imponierendes Äußeres im Angesicht des Pöbels genügen; für den Polizeidienst insgesamt bedurften selbst bewaffnete Polizeiagenten mehr. Neben die körperlichen traten geistige Fähigkeiten. Es ist allerdings nicht genug, daß der Bewerber überhaupt Augen und Ohren besitzt; auch hat das Haupt des Mannes keineswegs bloß die Bestimmung, als Amboß zu dienen in den polizeilichen Kämpfen gegen Raufbolde und Excedirende. Doch darf man andererseits eben so wenig zu hohe Anforderungen an seinen Kopf stellen. Wenn er gesunde Urtheilskraft, einige Lokalkenntniß, Fertigkeit im Lesen und Schreiben und gute sinnliche Werkzeuge zur Thätigkeit der Wahrnehmung besitzt, so ist wider die geistige Mitgift wohl wenig einzuwenden.70
Der Verweis auf Raufbolde und Excedirende, denen gegenüber Polizeidiener zwar keineswegs bloß, hin und wieder aber doch auch als Amboß dienten, bezeichnet ein bestimmtes Männlichkeitsideal beziehungsweise die Schwierigkeiten, die sich für Polizeidiener aus ihrer ambivalenten Stellung ergaben. Insbesondere in Fällen einer wie auch immer gearteten oder als notwendig angesehenen Gewaltanwendung grifmechanische Kräfte“ im Polizeidienst formulierte, existierte allerdings auch schon seit einiger Zeit eine Kritik an der „maschinenhaften Künstlichkeit der absolutistischen Heere“ (ebd., S. 94). Darüber hinaus schrieb Zimmermann sich implizit in einen physiologisch-hygienischen Diskurs ein, der Körpervorstellungen an Topoi und Metaphern vom menschlichen Motor beziehungsweise reizbaren Maschinen band (vgl. Rabinbach, Anson: The Human Motor. Energy, Fatigue, and the Origins of Modernity, Berkeley und Los Angeles 1992; Sarasin, Philipp: Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 1765–1914, Frankfurt/M. 2001). 70 Zimmermann, Polizei [1845–1849], S. 1113.
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fen schichtenspezifische Männlichkeitsvorstellungen. Die Herausforderung bestand darin, der (vermeintlich) harten, körperlichen und gewaltaffinen Männlichkeit der zu Polizierenden entgegen-, ohne selbst wie ein Raufbold aufzutreten. Gleichwohl, der Polizeidiener war höchstens situationsbezogener Teilzeitamboss, der grundlegenden, dann aber auch wieder nicht zu hohen Anforderungen an Lesen und Schreiben zu genügen hatte. In Zimmermanns Ausführungen bestätigt sich der bereits aus den Anstellungsgesuchen herausgearbeitete Dualismus im Anforderungsprofil – und zwar auf allen Ebenen der polizeibehördlichen Hierarchie. Auch Polizeiinspektoren, für Zimmermann das Herzstück jeder Polizei, wurden durch ihr Verhältnis zu schriftlichen und körperlichen Verrichtungen charakterisiert. Die Bestimmung dieser Beamten im Allgemeinen ist: den ganzen Tag auf den Beinen zu sein, um persönlich (nicht blos mittelbar durch ihnen zugetragene Rapporte) die öffentliche Sicherheit und Ordnung und deren grobe oder kleine Störung zu überwachen; persönlich die polizeilichen Maßnahmen an Ort und Stelle zu leiten, wenn kein höherer Beamter dort befehligt; persönlich das Thun und Treiben der civilen und bewaffneten Agenten zu controliren und sich stetig mit dieser Mannschaft zu beschäftigen. Er ist Aufseher und Arbeiter zu gleicher Zeit, ohne daß man sagen kann, welche der beiden Eigenschaften in ihm vorherrscht.71
Körperlichkeit, so wie sie für Polizeiinspektoren relevant wurde, meinte dann aber doch etwas anderes als im Fall von bewaffneten und Civilagenten. Den ganzen Tag auf den Beinen zu sein war nicht identisch mit der gelegentlichen Notwendigkeit, Amboß zu sein. Vielmehr ging es hier darum, zu überwachen, zu leiten und zu kontrollieren, also ganz wörtlich: herumzulaufen statt zuzupacken, ohne dass das die gelegentliche Notwendigkeit ausschloss, an polizeilichen Aktionen selbständig und körperlich teilzunehmen. Doch bemerke ich noch ausdrücklich, daß seine zugreifende Thätigkeit nur so weit geht, als sie für einen Beamten schicklich ist. Er braucht nicht den Bettelvogt und den mit dem Stocke dreinschlagenden Agenten zu spielen; er soll nicht unter dem diebischen Gesindel umherschleichen in allerlei Verkleidungen, wie weiland Hr. Vidocq; er entwürdigt sich, wenn er ohne die größte Noth seinen Degen zieht und um sich schlägt, wie ein wuthentbrannter Gensdarm oder ein betrunkener Husar. […] Diesem Manne der polizeilichen Thatsachen und handfesten Executionen sind auch völlig fremd und seinem Zwecke schnurstracks zuwiderlaufend: großer Zeitaufwand zum Schreiben von Acten, Journalen,
71 Ebd., S. 1186f.
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gutachtlichen Berichten; Aufhäufen von Acten und überhaupt Geschreibsel (ausgenommen die Tagesbefehle, Steckbriefe und nothwendigen Einzelstücke).72
Ein Polizeiinspektor brauche „kein studierter Mann“ zu sein, auch wenn die geistigen Anforderungen höher seien als bei bewaffneten und auch Civilagenten. Ihm thut ferner keineswegs Noth, die Kunst schriftliche Ausarbeitungen anfertigen zu können, welche umfassende, wissenschaftliche Bildung oder gar Gelehrsamkeit voraussetzen. Zum Schreiben ist er nicht bestimmt: er soll Handeln. Wenn er einen guten, deutlichen Rapport und gewöhnliche Aufsätze gehörig zu machen versteht, so ist er im Schreibfache complett. Protocolle über Verhöre und Vernehmungen in gerichtlicher Kunstform aufsetzen, ist eben so wenig sein Beruf.73
In derartigen Zuschreibungen spiegeln sich Fragen des (sozialen) Stands. Für den – bürgerlichen – Beamten galt eine übermäßig praktizierte zugreifende Thätigkeit offenkundig als nicht schicklich. Standesgemäßes Verhalten stand in einem Zusammenhang mit Art und Ausmaß der im Dienst an den Tag gelegten Körperlichkeit. Fehlgriffe bedeuteten hier, dass der Beamte sich entwürdigt. Zimmermanns Bestimmung des Verhältnisses der Polizeiinspektoren zum körperlich-robusten Zupacken macht deutlich, dass Inspektoren bereits in einer gewissen Distanz zu bewaffneten und Civilagenten standen. Es scheint eine Distanz der Herkunft – eher bürgerlich beziehungsweise eher handwerklich – zu sein. Für Handwerker-Polizisten bedeutete Körperlichkeit etwas anderes als für Männer des Bürgertums oder der Arbeiterklasse. Entscheidend war die Verhältnisbestimmung körperlicher Tätigkeit zum Problem der körperlichen Arbeit. Die Idealisierung körperlicher Aktivität seit der Aufklärung bedeutete nicht, dass körperliche Arbeit zum primären Ausweis von Bürgerlichkeit, oder: genauer: von bürgerlicher Männlichkeit wurde. Vielmehr ging sie einher mit einer „tiefsitzenden Mißachtung von körperlicher Arbeit“ und einer „Hochschätzung von sauberen, makellosen Händen und reinlicher Kleidung“.74 Konkurrenz erwuchs diesem Entwurf aus arbeiterlichen und handwerklichen Männlichkeitsvorstellungen, die die harte Körperlichkeit der Arbeit als qualifizierendes Merkmal betonten. Im neunzehnten Jahrhundert zeichnete sich neben der bürgerlichen eine „Produzentenkultur“ ab, die 72 Ebd., S. 1188f. 73 Ebd., S. 1197. 74 Davidoff, Leonore/Hall, Catherine: Family-fortunes neu betrachtet. Geschlecht und Klasse im frühen 19. Jahrhundert, in: Barrow, Logie, u. a. (Hg.), Nichts als Unterdrückung? Geschlecht und Klasse in der englischen Sozialgeschichte, Münster 1991, S. 225–247, Zitat: S. 240; vgl. auch Frevert, Geschlechter-Differenzen [1995], S. 29; Göckenjan, Gerd: Kurieren und Staat machen. Gesundheit und Medizin in der bürgerlichen Welt, Frankfurt/M. 1985, S. 67.
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ihren Ausgang in der „Welt der Handarbeit“ nahm. Diese Kultur ging „von der besonderen Wertigkeit physischer Konstitution für die Arbeitsfähigkeit und von der besonderen Produktivität manueller Arbeit“ aus. Ihr „Verständnis von Persönlichkeit, von existentieller Selbständigkeit, von sozialer Handlungskompetenz“ baute „primär auf diesem Nachweis auf, zur vollen Arbeitsleistung und zur selbständigen Existenzsicherung fähig zu sein“.75 Polizeidiener gehörten keiner dieser Männlichkeitskulturen und Körperlichkeitskulturen in Gänze an. Sie wurden gleichermaßen aus der hegemonialen bürgerlichen wie auch der herausfordernd-konkurrierenden arbeiterlichen Männlichkeit herauskatapultiert. In dieser Hinsicht konnten sie durchaus dem „armen Büroangestellten“ ähneln: „aus bürgerlicher Sicht war seine Beschäftigung servil, während die Arbeiter seine zarten Hände und schwächliche Statur verachteten“.76 Der klassenspezifische Bruch wiederholte sich innerpolizeilich zwischen bewaffneten Agenten und Zivilagenten sowie Polizeiinspektoren auf der einen und dem Polizeidirektor auf der anderen Seite. Ganz oben hatte sich das Verhältnis von körperlichen und schriftlichen Fähigkeiten nämlich umgekehrt. Auf Körperbau ist bei [dem Polizei-Direktor] (und beim Commissair) nicht so zu sehen wie bei den Beamten des äußeren Dienstes und bei den Agenten. Ein Athlete braucht er nicht zu sein, 6 3/4 Fuß hoch und mit Stentorstimme: mit Muskeln und Sehnen soll er ja nicht dienen, sondern hauptsächlich mit dem Kopfe, da die Polizei ihren Krieg nicht achilleisch führt, sondern tactisch.77
Polizeidirektoren gehörten – und darin lag der Bruch gegenüber allen anderen Positionen innerhalb der Polizei – eindeutig der Welt der bürgerlichen Berufe an. In sichtlicher Umwertung wurde Schriftlichkeit nun zum Ausweis von Intellektualität und Gelehrsamkeit. Was sich bei Aktuaren und Offizianten andeutete, nahm beim Polizeidirektor konkrete Gestalt an: Er war ein Staatsbeamter, dessen bürgermännliche Individualität durch eine bestimmte Schreibpraxis und ein bestimmtes Verhältnis zum Körper stabilisiert wurde. Zimmermanns augenzwinkernder Verweis auf das Ideal des Athleten – die Betonung, der Polizeiinspektor diene nicht mit Muskeln und Sehnen – gibt Aufschluss über ein spezifisch bürgerliches Verhältnis zu Körper und Körperlichkeit78, in das sich einfache Polizeidiener weder bruchlos fügen konnten 75 Kaschuba, Wolfgang: Volkskultur und Arbeiterkultur als symbolische Ordnungen. Einige volkskundliche Anmerkungen zur Debatte um Alltags- und Kulturgeschichte, in: Lüdtke, Alf (Hg.), Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebenswelten, Frankfurt/M. und New York 1989, S. 191–223, Zitat: S. 201f. 76 Tosh, Männlichkeit [1998], S. 174. 77 Zimmermann, Polizei [1845–1849], S. 1237f. 78 Das wirft, zumindest indirekt, die Frage nach der Stellung innerhalb der Konzepte des „modernen Leistungskörpers“ auf. Körperliche Stärke und Muskelkraft waren in diesem Zusammenhang
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noch durften oder sollten. Der Blick auf den Polizeidirektor führte allen anderen vor, was sie jeweils nicht waren – und er zeigte den Polizeidienern, dass sie ihre Identität nicht aus ihrem kleinen Schreiben, sondern aus handfestem Zupacken zu ziehen hatten.
durchaus ambivalent. „Einerseits gelten [Muskeln] – ‚gestärkt‘ – als Signifikant kapitalistischer Leistungsethik und bürgerlicher Leistungsbereitschaft. […] Andererseits waren die ‚Muskelmänner‘ des 19. Jahrhunderts bestenfalls eine Zirkusattraktion, und die geblähten groben Muskeln schwitzender Arbeiter berührten das sensible bürgerliche Empfinden eher peinlich“ (Sarasin, Maschinen [2001], S. 262f.). Die bürgerliche Antikenbegeisterung ließ dagegen schnell den „Athleten“ zur Ikone von Kraft, Ausdauer, Schnelligkeit werden, als Beweis für die schrankenlose menschliche Leistungsfähigkeit und erstaunliche Formbarkeit des Körpers. „Ist der Athlet nicht jener zugleich bürgerliche wie proletarische Held, der die fatigue überwindet, und insofern ein eigentlicher Fluchtpunkt der Verbesserung des Körpers jenseits hygienischer Leibesübungen?“ (ebd., S. 325).
8. Männer und ihre Körper
Polizeidienst und Polizeidienerkörper wurden formatiert durch die Topoi der Ermüdung, der Erschöpfung und des Ertragens von Strapazen. Polizeidiener erschienen zeitgenössisch als Reservoir an Körperkraft, aus dem man schöpfte, bis es zu Neige ging. Das hatte – in Verbindung mit den Besonderheiten der Pensionierungsregeln des neunzehnten Jahrhunderts – zur Folge, dass der Dienst so lange versehen wurde, bis die Körper eine nicht mehr zu ignorierende Auszehrung artikulierten. Dieser Zusammenhang wird im Folgenden vornehmlich mittels einer Analyse verschiedener Pensionierungsgesuche von Polizeidienern, ärztlicher Gutachten sowie deren behördlicher Behandlung herausgearbeitet. Diese Quellen ermöglichen es, die zeitgenössischen Rahmungen polizeidienerlicher Körper zu konturieren. Quellenkritisch ist dabei in Rechnung zu stellen, dass Polizeidiener ein entschiedenes Interesse daran hatten, ihre Dienstuntauglichkeit aufgrund körperlicher Auszehrung und gesundheitlicher Probleme feststellen zu lassen, war das doch, wie bereits ausgeführt wurde, über weite Strecken des neunzehnten Jahrhunderts der einzige Weg, in den Genuss einer Pension zu kommen. In ihren derart formatierten und umkämpften Selbstbeschreibungen werden aber dennoch Vorstellungen davon greifbar, was es körperlichgesundheitlich hieß, ein Polizeidiener zu sein und (nicht mehr) bleiben zu können, zu wollen oder zu dürfen. Der Polizeidienst setzte bestimmte Körper voraus und erforderte sie, veränderte (verbrauchte) diese Körper dann aber bis zu dem Punkt, an dem ihre Tauglichkeit fraglich wurde. Mit Blick auf polizeidienerliche Selbstbildung griffen körper- und geschlechtergeschichtliche Dimensionen ineinander. Es geht also stets auch um die Effekte (und Tücken) dessen, was Pierre Bourdieu als „körperliche Erkenntnis“ beschreibt. Menschen lernen durch den Körper, und in diesem Prozess dringt die Gesellschaftsordnung in die Körper ein. So werden Verhaltensweisen erzeugt, die einer bestimmten Gesellschaftsordnung „unmittelbar angemessen“ sind.1 Dabei sind – und hier ist Judith Butler präziser als Bourdieu – weder die Grenzen einzelner (polizeilicher) Körper stabil noch deren Bestimmung und Bedeutung eindeutig zu fixieren. Körper lassen sich nur als dynamische Gegebenheiten fassen, die in die umgebende Gesellschaft und Kultur dergestalt verwoben sind, dass weniger Abgrenzungs- als vielmehr Austauschprozesse zum Vorschein kommen. Die Materialität der Körper tritt zudem vergeschlechtlicht auf.2 1 Bourdieu, Pierre: Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft, Frankfurt/M. 1997, S. 184. 2 Vgl. Butler, Judith: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Frankfurt/M. 1999, S. 21.
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8.1 Vom Ertragen der Strapazen Es dürfte kaum jemals vorgekommen sein, dass ein Magistrat auf all seine Polizeidiener ohne Einschränkung zugreifen konnte. Zwischen formaler und faktischer Mannschaftsstärke bestand immer eine Kluft. Das zeigt der Hinweis eines Nürnberger Magistratsmitarbeiters aus dem Jahr 1848, wonach von den angestellten fünfzig Polizeidienern krankheits- oder urlaubsbedingt stets nur maximal 44 verfügbar waren,3 oder die Feststellung des Regensburger Magistrats aus dem Jahr 1869, wonach die Polizeimannschaft – eigentlich – 33 Mann stark sein sollte, faktisch aber nur über 29 Leute verfügte.4 Typisch war auch die Bestandsaufnahme des Regensburger Polizeiinspektors Neumeyer im Jahr 1907. Neumeyer berichtete, dass die Polizeimannschaft momentan aus vier Wachtmeistern, einem Vizewachtmeister und 44 Schutzleuten bestehe. Allerdings: Ein Wachtmeister war bereits seit mehreren Wochen krank und längerfristig dienstunfähig, ein Schutzmann für einen dreimonatigen Sanatoriumsaufenthalt beurlaubt, ein anderer hatte sich ein Fußleiden zugezogen und war nun für den Sicherheitsdienst „sehr wenig zu gebrauchen“. Schutzmann Holzer war entlassen und die Stelle noch nicht wiederbesetzt worden. Effektiv verfügbar seien also nur drei Wachtmeister, ein Vizewachtmeister und vierzig Schutzleute.5 Dieser Umstand lässt für die individuellen Polizeidiener den Schluss zu, dass deren Realität nicht nur durch einen mittel- und langfristig wirksamen Erschöpfungsweg, sondern ebenso durch ein Pendeln zwischen Krankheit und Gesundheit, Erschöpfung und Erholung, Dienstfähigkeit und Dienstunfähigkeit gekennzeichnet war. Gerade der Umstand, eine Anstrengung dauerhaft zu ertragen, charakterisiert Dienstverhältnisse im Unterschied zum Konzept der Arbeit, das die Erledigung bestimmter Aufgaben innerhalb einer bestimmten Zeit bezeichnet. Verstärkt wurde diese Differenz durch die Verschiebung im Arbeitsbegriff selbst. Im Polizeidienst blieb präsent, was der ältere Begriff der Arbeit fasste: Die „ursprünglich vorwaltende passive Bedeutung ‚Mühe, Qual, Last‘ im manuellen Sich-Plagen“ behauptete sich hier gegenüber der neueren, zunehmend bedeutsameren „aktiven Bedeutung einer bejahten und gesuchten Anstrengung um eines Zieles willen“.6 Innerhalb dieses Rahmens evaluierten Polizeibewerber ihre Körper im Lichte ihrer Vorstellungen vom Polizeidienst; und andersherum: Sie entwarfen ein Bild von 3 Vgl. Magistrat Nürnberg, an Gemeindebevollmächtigte, 7.8.1848, StAN, C7/I, 2756. 4 Vgl. Magistrat Regensburg: Quartals-Anlagen für die Polizeimannschaft, 14.4.1869, StAReg, ZR I 10804. 5 Vgl. Polizeimannschaft, an Magistrat Regensburg, 10.12.1907, StAReg, ZR I 10811. Neumeyer bemühte sich über Jahre um eine Vermehrung seiner Mannschaft. 1912 verfügte er über zwei Oberwachtmeister, zwei Wachtmeister, einen Vizewachtmeister, vier Sergeanten und 45 Schutzleute (vgl. Polizeimannschaft Regensburg an Magistrat Regensburg, 3.10.1912, StAReg, ZR I 10812). 6 Conze, Art. Arbeit [1972], S. 154.
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Polizeidienst, das die eigenen körperlichen Fähigkeiten (und Grenzen) reflektierte. Ein „vollkommen gesunder“ Bewerber gab zu Protokoll, den Dienst bewältigen zu können, da er durch die Feldzugstrapazen der letzten Jahre abgehärtet sei.7 Der Körper eines 24-jährigen Soldaten war von guter „Constitution“, „so daß derselbe alle Strapazen, welche einem Polizeidiener öfter zufallen, sicher zu ertragen im Stande seyn würde“. Als Anton Mildner im Juni 1811 zur persönlichen Vorstellung bei der Nürnberger Magistratsverwaltung erschien, trug er laut Protokoll vor: „mein Körper ist vollkommen und gesund, und fehlerfrey, so daß ich jede fatigue zu ertragen im Stande bin.“ 1817 wurde in Nürnberg ein Kandidat aufgenommen, da er sich während der Probezeit als „ein junger, starker Mann“ erwies, „der alle mit diesem Posten verbundenen Strapazen ertragen kann“.8 1823 schrieb ein Interessent, dass er „ohne körperliche Gebrechen, und kräftig genug sey zur Ertragung der Strapazen, welche mit dem Dienste eines Polizeysoldaten immer verbunden sind“.9 Mit Blick auf den Polizeidienst fällt in dieser Perspektive ein Punkt besonders auf: Niemand gab an, was sein Körper aktiv zu tun im Stande war. Angesprochen wurden ausschließlich passive Fähigkeiten, eben das Ertragen von Strapazen. Das Modell der Erschöpfung, das im Rahmen des Polizeidiensts wirksam wurde, erinnert an vorindustrielle Produktivitätsregime, die nicht von der Produktion immer zahlreicherer Güter, sondern vom Abbau von Rohstoffen her gedacht wurden. Ermüdung und Erschöpfung galten im Kontext des Polizeidiensts noch als etwas, das nicht zu vermeiden und daher zu ertragen war. Die physiologischen Utopien der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts entfalteten hier keine Wirkung. Es ging nicht um den produktivistischen Traum, Ermüdung zu überwinden, um dem gesellschaftlichen Fortschritt das hartnäckigste Hindernis aus dem Weg zu räumen. Ebenso wenig griff das damit verbundene Konzept der Arbeitskraft als Ausdruck einer Gesellschaft, die die endlose Produktivität der Natur idealisierte und den menschlichen Motor nie seine Kräfte erschöpfen sah. Polizeidienerkörper waren keine produktiven Körper in dem Sinn, die die Metapher des menschlichen Motors nahelegte. Sie produzierten nicht, sondern sie ertrugen. Wenn sich Anknüpfungspunkte an zeitgenössische Ermüdungsdiskurse zeigten, dann eher an hygienische als an utopisch-physiologische Positionen. Diese artikulierten in den 1820er Jahren vornehmlich eine Kritik an körperlicher Überanstrengung unter Betonung, dass Ermüdung ein natürliches, körperliches Zeichen sei, dessen Missachtung Schäden nach sich ziehen müsse.10 Die 7 8 9 10
Dazu und zum Folgenden: Anstellungsgesuche als Polizeidiener, 1810–1811, StAN, C2, 56. Polizeidirektion Nürnberg: Anstellungsgesuch Kuhn, 26.7.1817, StAN, C2, 85. Ramstock, Paul Wolfgang Benjamin, an Magistrat Nürnberg, 26.11.1823, StAN, C6, 169. Dazu insgesamt: Bänziger, Peter-Paul/Suter, Mischa (Hg.): Histories of Productivity. Genealogical Perspectives on the Body and Modern Economy, New York u. a. 2017; Rabinbach, Motor [1992], S. 2–4, 51–55; Sarasin, Maschinen [2001], S. 319. Darüber hinaus unterscheidet sich der Topos der Erschöpfung, so wie er im neunzehnten Jahrhundert mit Polizeidienern in Verbindung gebracht
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Thematisierung des Körpers erfolgte mit Fokus auf Tauglichkeit und Arbeitsfähigkeit. Als gesund galt ein Körper, der zu einem bestimmen Dienst tauglich war; und war ein Körper tauglich, so konnte er auch als gesund gelten. Beide Punkte wurden als Abwesenheit von „Gebrechen“ oder „körperlichen Fehlern“ definiert.11 Die Erschöpfung polizeidienerlicher Körper vollzog sich über längere Zeiträume. Und um diese Prozesse wird es im Folgenden vornehmlich gehen, weniger um Unfälle im Dienst oder plötzlich eintretende gesundheitliche Ereignisse, etwa Schlaganfälle.12 War jemand schon einige Zeit ausgefallen, fragten Magistrats- oder Polizeibehörden wie im Fall des Nürnberger Aktuars Schenk beim behandelnden Arzt nach, ob Hoffnung auf eine Wiedererlangung der Dienstfähigkeit bestünde. Der Stadtarzt konnte wurde, auch von heutigen Diskussionen. Letztere fokussieren vor allem auf psychische Erschöpfung (vgl. Graefe, Stefanie: An den Grenzen der Verwertbarkeit. Erschöpfung im flexiblen Kapitalismus, in: Becker, Karina (Hg.), Grenzverschiebungen des Kapitalismus. Umkämpfte Räume und Orte des Widerstands, Frankfurt/M. und New York 2010, S. 229–252; dies.: Formierte Gefühle – erschöpfte Subjekte, in: Koppetsch, Cornelia (Hg.), Nachrichten aus den Innenwelten des Kapitalismus. Zur Transformation moderner Subjektivität, Wiesbaden 2011, S. 139–154). Was hier als Merkmal des „neuen Geists des Kapitalismus“ ausgeflaggt wird, nämlich Entgrenzung der Arbeit, scheint neu aber nur im Vergleich zu den betrieblich eingehegten Arbeitswelten des industrialistischen Zeitalters zu sein. Die Nähe zu frühkapitalistischen Entwürfen, vor allem den zahlreichen Formen von Dienstverhältnissen (im Gegensatz zu Lohnarbeitsverhältnissen), ist unverkennbar. 11 Bezogen auf Arbeiterinnen und Arbeiter lässt sich spätestens seit 1850 eine Identifizierung von Gesundheit und Arbeitskraft feststellen. Dieser Gesundheitsbegriff reduzierte sich auf Arbeitsfähigkeit (vgl. Ellerkamp, Marlene: Industriearbeit, Krankheit und Geschlecht. Zu den sozialen Kosten der Industrialisierung: Bremer Textilarbeiterinnen 1870–1914, Göttingen 1991, S. 45f.). 12 In derartigen Fällen waren die Abläufe und Implikationen andere. Polizeidiener Donnerlein war beispielsweise „seit dem 11. Juni [1833] in Folge eines Schlaganfalls krank“, und es war „nicht zu erwarten, daß er wieder dienstfähig werde“ (Magistrat Nürnberg, an Gemeindebevollmächtigte, 18.10.1833, StAN, C6, 174). Allerdings setzten selbst Schlaganfälle die Tendenz, Diensttauglichkeit schrittweise zu verhandeln, nicht in Gänze außer Kraft. Als der Schwandorfer Polizeidiener Vogl 1888 vom Schlag getroffen wurde und seine linke Körperhälfte dadurch gelähmt war, ging der ärztliche Bericht zunächst von einer mehrmonatigen Dienstunfähigkeit aus. Der Magistrat bereitete sich darauf vor, dass Vogl möglicherweise gar nicht in den Dienst zurückkehren werde. Vier Monate danach vermerkte der Magistrat, Vogl genese langsam und erledige bereits wieder kleine Dienstgänge, den Polizei- und Sicherheitsdienst könne er aber noch nicht wieder ausüben. Man beschloss eine vorläufige Beurlaubung bei reduziertem Gehalt. Weitere drei Monate später war Vogls Dienstfähigkeit noch nicht wiederhergestellt. Der Magistrat erneuerte die Beurlaubung, verlangte nun aber ein Zeugnis über den Krankheitszustand samt Auskunft über den erwarteten Krankheitsverlauf. Vogls Arzt teilte mit, dass eine vollumfängliche Wiederherstellung des Gesundheitszustands und damit die Fähigkeit zur Ausübung des Sicherheitsdiensts nicht zu erwarten sei. Lediglich eine Verwendung zu leichtem Kanzleidienst wäre denkbar. Daraufhin wurde Vogl vom bisherigen Dienst entbunden und als Magistrats- und Kanzleidiener beschäftigt (vgl. Magistrat Schwandorf: Ratsprotokolle: 11.10.1888, 31.1.1889, 26.3.1889, 26.4.1889. StAS, Akte des Stadtmagistrats).
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die Dauer der Erkrankung nicht bestimmen. Hoffnung auf Genesung bestand aber.13 Schenk schleppte sich mit einigem Auf und Ab dahin, bat anderthalb Jahre später dann aber um einen vierwöchigen Urlaub. „Mehrere körperliche Schwächen und Kränklichkeiten“, so schrieb er an den Magistrat, „zwingen mich leider dieses Frühjahr eine förmliche Cur zu unternehmen.“ Der Urlaub wurde bewilligt. Kurzfristig mag die Kur geholfen haben, allzu lange dauerte es dennoch nicht mehr, bis Schenks Pensionierung aus gesundheitlichen Gründen notwendig wurde. Schenk bedankte sich bei seiner Behörde ausdrücklich für die angesichts langer Krankheit immer wieder gewährte „Nachsicht und Schonung“. Umso mehr schmerzte ihn, trotz aller gewissenhaften Medikation seinen ihm „am Herzen gelegenen Dienst“ nicht mehr ausüben zu können. Das beigefügte ärztliche Schreiben bestätigte: Das jahrelange Leiden an Unterleibsbeschwerden war nicht nur unheilbar, sondern in letzter Konsequenz tödlich. Die Polizeidirektion leitete Schenks Pensionierung ein und bescheinigte ihm gegenüber der Kreisregierung, immer und überall Fleiß, Akkuratesse und Pünktlichkeit an den Tag gelegt zu haben: „es kann dem Schenk das amtliche Zeugnis nicht verweigert werden, daß derselbe seine Gesundheit dem öffentlichen Dienste geopfert hat.“ Kaum drei Monate später blieb nichts mehr als die Meldung, dass Schenk „mit Tod abgegangen sei“, der Antrag auf Gewährung der vollen Pension sich also erledigt habe. Schenks gesundheitliche und körperliche Entwicklung verweist auf einen relativ typischen Weg der Erschöpfung. Offiziant Holzschuher, zweites Beispiel, erinnerte 1817 daran, dass bekannt sei, in welch hohem Grad von Schwäche meine körperliche Constitution schon seit einem Zeitraum von 6 Jahren gelitten hat […] – wie oft ich zu dem Dienst mich unbrauchbar gefühlt habe, wie häufig ich auf Schonung und Nachsicht, die mir zu meinem tiefgefühltesten Dank zu Theil worden, Anspruch machen mußte. Von Zeit zu Zeit habe ich mich mit der schmeichelnden Hoffnung getröstet, daß meine geschwächte Natur sich erholen, und ich, wie vormals, dienstbrauchbar werden würde. Ein neuerlicher Anfall hat jedoch auch diesen letzten Funken von Hoffnung verlöscht, indem mein Arzt in Vereinigung mit dem Kgl. Stadtgerichtsarzt mein Unbill für permanent erklärt hat.14
Als Familienvater müsse er seine Gesundheit im Blick haben und könne daher den Polizeidienst nicht mehr versehen. Die Polizeidirektion genehmigte die Pensionierung, drückte ihr Bedauern darüber aus, Holzschuher zu verlieren, und übermittelte Genesungswünsche.15 13 Dazu und zum Folgenden: Polizeidirektion Nürnberg: Genesung Aktuar Schenk, 1809–1817, StAN, C2, 67; Polizeidirektion Nürnberg: Urlaubsgesuch Aktuar Schenk, 1811, StAN, C2, 62. 14 Polizeioffiziant Holzschuher, an Polizeidirektion Nürnberg, 29.11.1817, StAN, C2, 69. 15 Vgl. Polizeidirektion Nürnberg, an Polizeioffiziant Holzschuher, 30.1.1818, StAN, C2, 69.
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In einem weiteren Fall berichtete Polizeioffiziant Worack im Sommer 1819 mit kollegialem Mitgefühl, dass auch „die Lage der beiden Polizei-Rottmeister [Schneider und Müthling] sehr mitleidswürdig“ wäre und eine Versetzung in den Ruhestand nötig mache. Schneider war in „vorgerücktem Lebensalter“ und „die dadurch entstandene Unfähigkeit, die Strapazen des Wachdienstes, besonders der Nachtwache, zu ertragen, verhinderte seine Übernahme in den Dienst der Kommune“. Müthling befand sich in einer ähnlichen Lage, weil „die Strapazen seiner Dienstzeit seinen Körper sehr geschwächt haben“. Der Magistrat bewilligte die Pensionierung und ergänzte: „Wir bedauern das Schicksal dieser im Dienst grau gewordenen Männer.“16 Das Erscheinungsbild so manchen Polizeidieners am Ende der Karriere war elend. Über Polizeidiener Schuller hieß es, er „hat immer Schmerzen, sein Gesicht wird schwach, sein Gedächtnis verliert sich, und sein Gang ist äußerst unsicher, sowie seine Kräfte gleich erschöpft werden.“17 Der langjährige Nürnberger Polizeidiener bat folgerichtig im November 1826 um Versetzung in den Ruhestand: [I]m Jahr 1818 hatte ich das Unglück, gelegentlich des mir allein übertragenen Transports zweier zum Zuchthaus verurtheilten Verbrecher, […] am Kopf schwer verwundet und auf den Tod mißhandelt zu werden. Dieses unglückliche Ereignis ließ die traurig sten Einflüsse auf meine Kräfte und Gesundheit zurück, ich wurde in den letzten Jahren mehrmals vom Schlagfluss befallen, und suchte gleichwohl so lange als es möglich war, dem Dienst vorzustehen. [Nun fühle ich aber], daß das Ende meiner Dienstleistung mit schnellen Schritten vorgerückt ist.18
Einige Polizeidienerkörper artikulierten eine Dringlichkeit, der der Verwaltungsweg nicht immer entsprechen konnte. Polizeidiener Lauter, wurde schon im Jahr 1810 von einem hautbrennenden Fieber befallen, […] war aber seit jener Zeit fast immerwährend kränklich. Die Beschwerden des Dienstes und hauptsächlich die außerordentliche Anstrengung, welche die Besorgung der Details des Einquartierungs-Wesens [mit sich brachte], bewirkten eine fast plötzliche Abnahme der körperlichen Kräfte des Lauter und führten einen solchen Schwächezustand herbei, daß Lauter in Gefahr schwebt, durch Abzehrung sein Leben zu verlieren. Um dieser Gefahr möglichst [zu begegnen], ist es erforderlich, sich von den Beschwerden des Polizeidienstes zu entfernen.19 16 Magistrat Nürnberg: Quieszierung Polizeirottmeister Schneider und Müthling, 2.8.1819, StAN, C6, 122. 17 Stadtgerichtsarzt Dr. Preu, an Magistrat Nürnberg, 16.10.1826, StAN, C6, 174. 18 Magistrat Nürnberg: Pensionierung der Polizeisoldaten, 12.11.1826, StAN, C6, 174. 19 Polizeidirektion, an Generalkommission Nürnberg, 27.7.1812, StAN, C2, 61.
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Lauter war verheiratet und Vater von vier unmündigen Kindern. Die Behörde sah sich daher in der Verantwortung, dass die Familie nicht durch frühzeitigen Tod ihren Fürsorger verlöre. Lauter wurde von seinen Pflichten entbunden und zumindest so lange in Ruhestand versetzt, bis er sich körperlich so weit erholt habe, um eine weniger beschwerliche Stelle antreten zu können.20 Erschöpfung und Auszehrung waren Effekt der mit dem Dienst verbundenen Aufgaben und Anstrengungen – und das wurde von den Beteiligten im Grundsatz auch so anerkannt. Polizeidienerkörper waren ertragende Körper, und sie mussten, um ihren Dienst versehen zu können, genau das sein. Im Folgenden wird diskutiert, was genau sie zu ertragen hatten und wie sich das in die Körper einschrieb.
8.2 „Gichtarische Leiden und noch andere Krankheits-Umstände“ Schwer atmende, frühvergreiste Gichtarier – dieses strategische Selbstbild, so könnte man zuspitzen, boten Polizeidiener ihren Vorgesetzten an, wenn sie um Pensionierung oder auch nur um Versetzung in einen leichteren Dienst baten; ein Selbstbild, das sich schrittweise rekonstruieren lässt. Anfang Januar 1821 bat der 48-jährige Nürnberger Polizeidiener Johann Weil nach siebenjährigem Dienst um Pensionierung aus gesundheitlichen Gründen. „Gichtarische Leiden und noch andere KrankheitsUmstände“ machten ihn nach eigener Aussage „untauglich zum teuren Polizeydienst“. Die „Krankheit“ habe ihm die „Subsistenz bis jetzt sehr erschwert, der Kampf mit den Nahrungssorgen“ werde „täglich größer, und daher [die] Lage in ökonomischer Hinsicht immer bedrückender“.21 Weils Arzt bestätigte, dass der Polizeidiener seit einigen Jahren nicht nur an Gicht, vor allem im Hüftgelenk, sondern zudem an chronischer Lungenentzündung litt. Diese Beschwerden schlügen vor allem bei Witterungsveränderungen und „starker Anstrengung“ an und machten ihn „in obgleich noch nicht bedeutendem Alter zu den Verrichtungen eines Polizei-Soldaten im strengen Sinn unfähig“. Der auf Wunsch des Magistrats hinzugezogene Stadtgerichtsarzt unterstützte diese Einschätzung und war überzeugt, dass das ausgesprochene Urtheil über die Dienstfähigkeit des Weil für das richtig wahre gehalten werden müsse, daß Weil für die Verrichtungen eines Polizeisoldaten im strengen Sinn un-
20 Vgl. Polizeidirektion, an Generalkommission Nürnberg, 27.7.1812; Polizeidirektion Nürnberg: Anstellung Polizeiaktuar, 2.5.1813 (beide in: StAN, C2, 61). 21 Dazu und zum Folgenden: Pensionsgesuch Polizeidiener Johann Weil, 1821–1823, StAN, C6, 166. Auf Einzelnachweise der folgend zitierten Schreiben von Weil selbst, seinem Arzt Dr. Schramm, dem Nürnberger Magistrat sowie dem Stadtgerichtsarzt Dr. Preu, die in diesem Bestand gesammelt sind, wird verzichtet.
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fähig sey. Schildwach-Stehen und Patrouillen-Gehen bei Tag und Nacht, bei Sturm und Wetter, im Zugwind Transporte machen kann Weil bei seiner Coxalgie und mit seinen Luftbeschwerden nicht mehr, ohne baldigst zum hilflosen Krüppel zu werden. Aber gar wohl langt es zu anderen minder anstrengenden [Diensten], z. B. die Dienste eines Magistrats-Bothen, eines Examinators u. a. m.
Der Nürnberger Magistrat teilte Weil mit, er habe seinen Pensionswunsch an die Kreisregierung zu richten, von deren Genehmigung eine Pensionierung letztlich abhing. Weil folgte dem. Die Sache zog sich hin, so dass er sich ein gutes Jahr später erneut an die Kreisregierung wandte, sein Gesuch erneuerte und um Auskunft in der Sache bat, da er bisher von niemandem etwas gehört habe. Nach einigem administrativen Hin und Her bekam er eine Pension bewilligt, sollte sich aber zur anderweitigen Verwendung bereithalten. Weil zeigte sich dankbar, aber nicht im Stande, die angebotene Pension anzunehmen, da er glaubte, davon mit seiner Familie nicht leben zu können. Seine Frau war krank und größtenteils bettlägerig, weshalb er zur Pflege und Haushaltsführung und für den zwölfjährigen Sohn eine Magd haben müsse. Und bei seinem eigenen Gesundheitszustand wüsste er nicht, „auf welche Weise“ er sich „einen Verdienst verschaffen könnte“. Daher sah er sich gezwungen, seinen Dienst vorerst weiter zu versehen. Das tat er dann auch, unternahm aber einige Monate später einen neuen Anlauf in Richtung Pensionierung. Im neuerlichen ärztlichen Attest hieß es, Weil „kränkelt schon seit 1800“, er habe sich 1813 in Russland beide Füße erfroren und wurde im Vorjahr von einem heftigen Gichtfieber befallen, das nun in Gicht übergegangen ist. „Er klagt fortwährend über Stechen auf der Brust, kurzen Athem und über ein ganz eigenthümliches Lähmungsgefühl und Brennen im rechten Schenkel, das sich vom Knie aufwärts bis zur Hüfte erstreckt.“22 Im Januar 1823 bekundete Weil seine Absicht, sich auf eine Regimentsfuhrmeisterstelle zu bewerben. Er ließ sich ein Dienstzeugnis ausstellen und verließ die Polizei. Polizeidiener Weil war nicht der Einzige mit „gichtarischen Leiden“. Als aufgrund einer institutionellen Umstrukturierung der Nürnberger Polizei 1819–1820 einige der bisherigen Polizeidiener nicht übernommen wurden, beschrieb der Magistrat einen der freigestellten Polizeidiener als „in einem hohen Grade“ von Gicht geplagt („seine körperliche Lage ist traurig“).23 Polizeidiener Palzer ging es ähnlich. Er litt zudem seit Jahren unter rheumatischen Beschwerden, gastrischen Fiebern und Magenbeschwerden, als er im Oktober 1814 sein Pensionierungsgesuch einreichte. Im gerichtsärztlichen Gutachten hieß es: „Schon der äußere Anschein dieses Joseph 22 Stadtgerichtsarzt Dr. Preu: Attest Gesundheitszustand Polizeidiener Johann Weil, 8.7.1822, StAN, C6, 174. 23 Magistrat Nürnberg: Bei Auflösung der Polizeidirektion nicht übernommene Polizeidiener, 1819– 1820, StAN, C6, 122.
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Palzer zeigt einen hektischen Menschen.“24 Palzer gab an, an „körperlichen Übeln in so hohem Grad [zu leiden], daß ich künftig des Polizei-Dienstes unfähig erachtet worden bin“. Der Stadtarzt unterstrich die Dringlichkeit der Pensionierung, „als durch längeren Verzug die ohnehin im höchsten Grad zerrüttete Gesundheit dieses Menschen bei seinem dennoch immer regen Diensteifer gefährdet werden würde“. „Gichtbeschwerden und allgemeine Schwäche“ standen auch im Hintergrund der 1816 anstehenden Pensionierung des 48-jährigen Polizeidieners Finster, wenngleich zunächst Hoffnung bestand, dass er sich irgendwann vielleicht so weit erholte, um einen weniger beschwerlichen Dienst antreten zu können. Ein neuerliches ärztliches Gutachten konstatierte dann allerdings nicht mehr nur die eingetretene Dienst-, sondern prognostizierte eine zu erwartende Erwerbsunfähigkeit.25 Die Gicht war dauerhaft geworden, und in ihrer Folge, so schrieb Polizeidiener Finster, „hat eine solche Schwäche sich in meinem Körper verbreitet, daß ich nie mehr meine vollständige Gesundung hoffen darf, folglich auch die Kräfte nicht mehr erlange, welche erforderlich sind, wenn ich meine Funktion als Polizeisoldat versehen solle.“ Das neben gichtarischen Leiden zweite Beschwerdebündel von Polizeidienern bezog sich auf Erkrankungen der Atemwege. Zwei Beispiele26: Polizeidiener Forst war im Jahr 1827 schon „seit einigen Jahren […] mit einer Lungenkrankheit behaftet“. Er benötige, so schrieb er, durchgehend ärztliche Hilfe und beachte eine besondere Diät. „Aber ungeachtet meiner strengen Mäßigkeit nimmt dieses Unbill wieder sehr überhand.“ Das Atmen falle ihm so schwer, daß ich, wenn ich nun etwa hohe Treppen oder Anhöhe rasch besteige, oft auf der Stelle stehen bleiben muß, um wieder Athem zu bekommen. Noch schlimmer ist aber mein Zustand, wenn ich gedrungen bin alle meine Kräfte in Anspruch zu nehmen, als bei Arretierungen u. d. g., denn wenn diese Anstrengung nun einige Minuten dauert, so verliere ich ganz den Athem und bin dem Hinsinken nahe.
24 Dazu und zum Folgenden: Polizeidirektion Nürnberg: Pensionierung Polizeidiener, 1813–1817, StAN, C2, 125. Die nachfolgend diskutierten Pensionierungsfälle entstammen alle diesem Bestand. 25 Dienst- und Erwerbsunfähigkeit waren nicht dasselbe. In Pensionsangelegenheiten wurden die Abgrenzungsnöte und -notwendigkeiten besonders drängend. „Mit der Feststellung eines Kriteriums für ‚dauernd völlige‘ Erwerbsunfähigkeit waren zwangsläufig auch Abgrenzungen zum Begriff der Krankheit und der Arbeitslosigkeit verbunden. Die Beziehung zwischen Berufs- und Erwerbsunfähigkeit war zu klären. […] Fragen nach den Chancen eingeschränkter Erwerbstätigkeit auf dem Arbeitsmarkt, nach der Gefahr von ‚Simulation‘ sowie nach der Berücksichtigung längerer, aber vorübergehender oder dauernder, aber nur teilweiser Erwerbsunfähigkeit wurden aufgeworfen“ (Conrad, Greis [1994], S. 253). 26 Die beiden Beispiele, die Pensionierungsangelegenheiten der Polizeidiener Forst und Grafenau, finden sich in: Pensionierung der Polizeisoldaten, 1826–1833, StAN, C6, 174.
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Laut ärztlicher Auskunft war die Krankheit unheilbar, und Forst wusste nun, „daß ich nur durch fortgesetzte strenge Diät und gemächliche Ruhe des Körpers mein Leben vielleicht noch einige Jahre fristen könne.“ Und so resümierte er in resigniertem Ton: Obwohl mein gewohnter Thätigkeitstrieb noch keineswegs erschlafft ist, auch mir keine Zeit lästiger wird, als die ich in Unthätigkeit zubringen muß und ob ich mich wohl schäme, mich in diesem Alter nicht mehr ernähren zu können, so zwingt mich doch, einerseits mein elender Zustand und andererseits die unbezwingliche Liebe zum Leben zu [diesem] Entschluß. Ich bin zwar erst 42 Jahre alt, aber in diesem erbärmlichen Zustande doch schon ein Greis.
Forst wurde pensioniert, sollte sich aber entsprechend seines Gesundheitszustands gegebenenfalls zu „anderweitigen gemeindlichen Diensten verwenden lassen“ – und hätte in diesem Fall auf die Pension zu verzichten. Polizeidiener Grafenau konnte seit November 1832 seinen Nachtdienst wegen eines attestierten Lungenleidens nicht mehr versehen. Ich habe bei Nacht keinen Schlaf, lege ich mich auf die Seite, so bekomme ich auf der linken Milzstechen und auf der rechten Schmerzen in dem Schenkel, weil ich seit 3 Monaten auch mit gichtischen [Beschwerden] belastet bin, lege ich mich aber auf den Rücken, so habe ich am anderen Tag solche Brustbeschwerden, daß ich sie kaum ausstehen kann.
Bereits achtmal ereilte ihn eine Lungenentzündung. Gerade bei gegenwärtiger Witterung könne er sich kaum „fortschleppen“, wenn er „Treppe zu machen habe“. Und da mich meine Körperleiden ohnehin sehr mißmutig und verdrießlich machen, so wird mein Zustand durch die mit dem Polizeidienst überhaupt verknüpften sonstigen [Anstrengungen] noch verschlimmert und ich muß nothwendig zu Grunde gehen, wenn ich des Dienstes nicht enthoben werde. […] Kein anderer Beweggrund, einzig und allein mein zerrütteter Gesundheitszustand haben mich daher veranlaßt, und gezwungen, um Versetzung in den Pensionsstand zu bitten.
Grafenaus Gesuch wurde abgelehnt, da er, so resümierte der Magistrat, „wenn auch nicht ganz rüstig, doch in jedem Fall noch gesund, stark und jung genug ist, um leichten Polizeidienst leisten zu können“. Die angedachte Verwendung zum (leichteren) Tordienst zerschlug sich, weil, so die Angabe des Polizeioffizianten, die zu diesem Dienst bereits eingesetzten Polizeidiener älter oder schwächer als Grafenau waren, eine Versetzung sich daher nicht rechtfertigen ließe. Allerdings könnte man Grafenau zur Beschäftigungsanstalt abkommandieren, wo ein Polizeidiener „alle
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Nacht“ Wache halten muss, „welcher Dienst auch leichter ist wie auf den übrigen Wachen, so könnte Grafenau, so oft ihn ein Nachtdienst trifft, in besagte Anstalt kommandiert und ihm eine Erleichterung dadurch [gewährt] werden“. Grafenau bat nach dieser Ablehnung erneut um Pensionierung und behauptete nun, unterstützt von einem ärztlichen Attest, den Examinatorendienst an einem Stadttor ebenso wenig versehen zu können wie den regulären Polizeidienst. Der Magistrat gewährte daraufhin eine „temporäre Quieszierung“: „Obgleich sein Äußerliches schon seinen leidenden Zustand anzeigt“, so glaubte man zunächst, „ihn als Examinator verwenden zu können, allein er hält sich dazu unfähig, und dieses wird auch von den beiden Gerichtsärzten bezeugt.“ Die Beispiele lassen verschiedene interpretatorische Schlussfolgerungen zu. Zunächst fügen sich die Erkrankungen in ein Muster polizeitypischer Leiden. Fragt man genauer, was sich hinter der kränklichen Lage von Polizeidienern verbarg, ergibt sich ein Bild, das den Problemzusammenhang von Krankheit und sozialem Wandel, von (sozialer) Schichtposition und Erkrankungsrisiko sowie von Arbeitswelt und gesundheitlicher Schädigung berührt. Jenseits des Polizeidiensts nahmen Diskussionen um Berufskrankheiten und Berufsrisiken seit Mitte des neunzehnten Jahrhunderts Fahrt auf. Im Mittelpunkt stand dabei allerdings die Regulierung gefährlicher beziehungsweise gesundheitsgefährdender Stoffe, nicht der Anstrengungsgrad einer Tätigkeit oder Fragen körperlicher Erschöpfung.27 Diese Schwerpunktsetzung hatte zur Folge, dass der Polizeidienst wie auch andere Dienstverhältnisse jenseits der Welt der Fabriken nicht thematisiert wurden. Entsprechend treten Krankheit und Gesundheit in den zeitgenössischen Quellen zum Polizeidienst stets als ausschließlich individuelle Problemlagen hervor. Gicht und Atemwegserkrankungen als solche – beide einschlägig prominent in den diskutierten Fällen – waren zwar keine polizeispezifischen, wohl aber polizeitypische Leiden, auch wenn sie nicht als Berufskrankheiten im engeren Sinn verhandelt wurden. Als relativ kohärentes Beschwerdebündel reflektieren sie die „ecology of police work“ (Haia Shpayer-Makov), das heißt die charakteristischen physischen Anstrengungen des Diensts. Aufschlussreich sind hier die Schlagworte, die in den zitierten Gutachten und Stellungnahmen immer wieder 27 Vgl. Bartrip, Peter/Burman, Sandra: The Wounded Soldiers of Industry. Industrial Compensation Policy 1833–1897, Oxford 1983; Bartrip, Peter: The Home Office and the Dangerous Trades. Regulating Occupation Disease in Victorian and Edwardian Britain, Amsterdam 2002; Rainhorn, Judith/Bluma, Lars: History of the Workplace: Environment and Health at Stake – an Introduction, in: European Review of History 20 (2013), S. 171–176. Selbst dort, wo die Möglichkeit von Berufskrankheiten anerkannt war und zumindest dem Anspruch nach dagegen vorgegangen werden sollte, etwa in der Textilindustrie, blieb die Diagnose in der Regel oberflächlich und wies nur geringe Treffgenauigkeit auf. „Nicht die Diagnose von Krankheit, sondern ein Austauschverfahren, das erschöpfte Arbeitskraft durch unverbrauchte ersetzte, war das Resultat dieser Untersuchung, die die Fabrikärzte vornahmen“ (Ellerkamp, Industriearbeit [1991], S. 195).
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Verwendung fanden: Witterungsveränderungen, Sturm und Wetter, Zugwind, Tag und Nacht, starke Anstrengung, Schildwach-Stehen, Patrouillen-Gehen, Polizeidienst im strengen Sinne. Gesundheitliche Fragen standen mithin in einem direkten Zusammenhang zum Ort der Dienstausübung: drinnen in der Stube oder draußen auf der Straße. Dass Polizeidiener derartigen Bedingungen nicht nur regelmäßig ausgesetzt waren, sondern das auch ertragen mussten, wurde wiederholt betont.28 Darüber hinaus referieren die diskutierten Beispiele auf einen schichtenspezifischen Gesundheitsbegriff. Für Männer des Bürgertums war Gesundheit eng mit der „Aufforderung zur aktiven Lebensgestaltung, zum tatkräftigen Bemühen um einen möglichst ‚haushälterischen‘ Umgang mit dem Körper und seinen Potenzen“29 verbunden. Im Polizeidienst war die (bürgerlich konnotierte) „männliche Tatkraft“ ebenfalls bedeutsam. Das zeigt sich im polizeidienerlichen Verweis auf den eigenen gewohnten Thätigkeitstrieb oder dem Hinweis, keine Zeit sei einem lästiger als die in Unthätigkeit zugebrachte. Freilich: Polizeidiener waren gezwungen, sich und gegenüber ihren Vorgesetzten mit Bedauern einzugestehen, dass das allein nicht ausreichte, wenn man in vergleichsweise jungen Jahren schon ein Greis war.30 Schließlich bestätigten die Beispiele die Vermutung, dass der Polizeidienst tatsächlich als in besonderer Weise körperlich anstrengend problematisiert wurde. Sowohl der Status des Polizeidiensts im Verhältnis zu anderen Diensten als auch mögliche Abstufungen zwischen verschiedenen Aufgaben im Polizeidienst wurden 28 Keinesfalls dürfe ein Polizeidiener eine Patrouille auslassen, weil ihm das Wetter nicht passte (vgl. Zimmermann, Polizei [1845–1849], S. 1120f.). Noch im frühen zwanzigsten Jahrhundert ertönte die Warnung: „Untertreten bei Regenwetter nur an Orten, von welchen Postenstrecke übersehen werden kann. (Nicht in Hausflure oder Torwege von Schankwirtschaften.)“ (Gaißert, Leitfaden [1909], S. 23). 29 Frevert, Ute: Krankheit als politisches Problem, 1770–1880, Göttingen 1984, S. 35. 30 Das Verhältnis alters- und dienstbedingter Schwächen und Leiden war nicht immer klar: „In der Polizeiwache wurde ich schon vor Jahren der dienstälteste Mann“, so argumentierte Anton Herrmannsdörfer 1827 in seinem Pensionierungsgesuch, weil viele seiner früheren Kameraden versetzt oder „untauglich geworden sind, weil sie die übermäßigen Anstrengungen des Polizeidienstes in den Kriegszeiten von 1806 bis 1815 und alsdann die der Theuerungsperiode von 1816 bis 1818 mit mir gleich lange zu ertragen nicht im Stande waren.“ Nun wäre aber der Zeitpunkt gekommen, an dem auch er aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr völlig diensttauglich sei. „Unheilbare Übel an den Oberschenkeln quälten mich seit 1 ½ Jahren weit mehr als ich mir öfters merken lassen wollte.“ All diese Leiden machten ihn zum Polizeidienst gänzlich untauglich, „als es auch meine Pflichten als Familienvater fordern, daß ich mein Leben durch Ruhe und nothwendige Körperpflege möglichst zu fristen suche.“ Das Pensionierungsgesuch wurde abgewiesen, da Hermannsdörfer „noch in den besten Jahren steht und die angegebenen Beschwerden, denen viele Menschen in seinem Alter unterworfen sind, welche mehr leisten müssen, als der Dienst eines Polizeisoldaten erfordert, ihn keineswegs dienstuntauglich machen, wogegen derselbe bei wirklicher Krankheit ohnehin geschont wird“ (Hermannsdörfer, Anton, an Magistrat Nürnberg, 21.3.1827, StAN, C6, 174).
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wesentlich über den körperlichen Anstrengungsgrad bestimmt. Tauglichkeit wurde so zur relativen Größe und Verhandlungssache – zum Ausdruck gebracht in der Möglichkeit der temporären Quieszierung. Das reflektierte auch eine Relativität der jeweiligen Erkrankungen. Gicht und Atemwegsbeschwerden wurden von Stadtmagistraten nicht zwingend als unüberwindbares Schicksal angesehen. Bei Aktuaren und Offizianten galt nämlich eine Heilung nicht als unwahrscheinlich, weshalb eine Pensionierung in der Regel nicht geraten und stattdessen Kur und Urlaub die geeignetere Option zu sein schien.31 Bei einfachen Polizeidienern dagegen unterblieben Maßnahmen, die eine Wiederherstellung der vollen Diensttauglichkeit hätten erreichen können. Entscheidend war also nicht die Art der Krankheit, sondern soziale Differenzierung und unterschiedliche gesundheitliche Anforderungen der jeweiligen Dienste. Magistrate hielten es für möglich, Gicht und Atembeschwerden zwar so weit zu mildern, dass der Betroffene wieder als Aktuar oder Offiziant arbeiten konnte, ein darüber hinaus gehender Stand an Gesundheit, der im Polizeidienst nötig war, galt jedoch als unerreichbar.
8.3 Polizeidiener Roth und die Ärzte Um die Diskussion polizeidienerlicher Körperlichkeit abzuschließen, wird im Folgenden ein noch einmal genauerer Blick auf eine ausgewählte Pensionierungsangelegenheit gerichtet: die Pensionierung des Polizeidieners Roth. In Vielem ähnelt dieser Fall, auch wenn er langwieriger und komplizierter war, anderen Pensionierungsprozeduren, die in diesem Kapitel mit unterschiedlichen Fluchtpunkten analysiert wurden. Im Fall Roth kamen in besonders greifbarer Weise alle Aspekte zueinander, die im neunzehnten Jahrhundert hinsichtlich Körperlichkeit, Gesundheit, physischer Anstrengung und Arbeitsbedingungen des Polizeidiensts eine Rolle spielten. Der Fall zeigt, wer alles beteiligt war an der körperlichen Selbstbildung von Polizeidienern und welche Kontexte dabei wirksam wurden. Ende März 1820 bat der 32-jährige Nürnberger Polizeidiener Georg Michael Roth aus gesundheitlichen Gründen um Pensionierung. Sein Gesuch verwies auf einen zweieinhalbjährigen, stets zufriedenstellenden Dienst in der Polizeiwache. Nun aber hielt der Arzt seinen Gesundheitszustand für unvereinbar mit den Anstrengungen des Polizeidiensts. Seit einiger Zeit haben aber meine Kräfte mich so stark verlassen, daß ich meinen Wunsch, länger unter der Polizeywache zu dienen, unerfüllt sehen muss. Seit 14 Wochen bin ich 31 Vgl. Polizeiaktuar Worack, an Magistrat Nürnberg, 15.6.1821; Polizeioffiziant Berninger, an Magistrat Nürnberg, 28.4.1821 (beide in: StAN, C6, 200).
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völlig bettlägerig, und ohngeacht ich alles aufbot, um meine vorige Gesundheit wieder zu erlangen, […] sehe ich keiner besseren Zukunft entgegen.32
Roth litt laut ärztlichem Attest seit November an einer Leberentzündung, ging gebückt und war teilweise gelähmt. Hinzu kam die Entzündung eines Auges, weshalb die „Vernachtung desselben“ drohte. Roths Arzt attestierte Untauglichkeit zum Polizeidienst, nicht aber für anderweitige Verwendung. Die Differenzierung in Tauglichkeitsfragen war üblich, vor allem in ärztlichen Gutachten. Die begutachtenden Ärzte reagierten damit wohl auf magistratliche Vorgaben und die etablierte Praxis, Untauglichkeit nicht pauschal zu erklären, sondern Schritt für Schritt zu ertasten. Angeleitet wurde das vom Bemühen, eine Tätigkeit zu finden, die den faktischen körperlichen Fähigkeiten entsprach. In Gang kam so eine Abstufung nach unten, die die meisten Polizeidiener auf ihrem Weg vom zupackenden Handeln über die Sitzämter hin zum Ruhestand durchschritten. Nahezu alle bereits erwähnten kranken und erschöpften Polizeidiener fanden sich in einer Situation wieder, in der mitunter minutiös ausgelotet wurde, wozu ihre Körper noch in der Lage waren – und wozu nicht. Dabei kommen Vorstellungen über den faktischen körperlichen Anstrengungsgrad des Polizeidiensts zum Vorschein, indem in Sachen Tauglichkeit zwischen den Verrichtungen eines Polizeisoldaten im strengen Sinn und leichten Diensten unterschieden wurde. Im Polizeidienst war die Hierarchisierung und Evaluierung einzelner Tätigkeiten entlang des Grads körperlicher Anstrengungen üblich – und die ärztlichen Gutachter wussten das offenkundig ebenso wie die Polizeidiener. Ein Polizeidiener, der trotz seines Ausscheidens aus dem Polizeidienst „ganz wohl noch kräftig genug [war], [eine] Stelle z. B. im Kanzleydienst, Boten- oder Nachtdienststelle zu versehen“, bat den Nürnberger Magistrat 1819 um eine solche Verwendung, damit er so sein kärgliches Ruhegehalt aufbessern konnte; ein anderer gab an, er habe aus gesundheitlichen Gründen keine Chance, irgendwo angestellt zu werden, weshalb er beim Magistrat nach einer anderweitigen Verwendung bat.33 Ähnlich erging es Polizeidiener Ziegler. Die ärztlichen Atteste, so führte er aus, bezeugten, „daß meine körperlichen Kräfte, die durch die langjährige Dienstzeit sehr gelitten haben, mir nicht mehr erlauben, ferner fort zu dienen“. Er habe sich um eine andere Beschäftigung, namentlich eine in Erledigung gekommene Torschreiberstelle, 32 Soweit nicht anders vermerkt, beziehen sich die Ausführungen zum Fall Roth auf: Entlassung Polizeisoldat Georg Michael Roth/Einstellung des Gendarmen Johann Faber, 1820–1821, StAN, C6, 165. Dieser Bestand umfasst den umfangreichen Schriftverkehr zwischen Roth, seinem Arzt, dem Gerichtsarzt, dem Magistrat, den Gemeindebevollmächtigten und der Kreisregierung. Auf Einzelnachweise kann insofern verzichtet werden, als dass sich die jeweilige Autorschaft und genaue Datierung der einzelnen Schreiben aus der Fallkonstruktion ergibt. 33 Magistrat Nürnberg: Löhne und Gehälter an nicht übernommenes ehemaliges Personal der aufgelösten Polizei-Direktion, 3.8.1819, StAN, C6, 122.
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bemüht, aber keinen Erfolg gehabt, „und so bleibt mir dann, da es mir nicht gelang, eine mit weniger Anstrengung des Körpers verbundene andere Anstellung zu erhalten, nichts übrig, als unterthänigst um Pension“ zu bitten. Falls eine andere Stelle frei werde, ließe er sich gern wieder aktivieren. Nur dürfte dieser Dienst „nicht mit mehr Anstrengung verknüpft sein, als mein durch Kriegs- und Dienststrapazen sehr mitgenommener Körper ertragen kann.“ Ein magistratlicher Kommentar vermerkte, zwar hätte man, gemessen am Alter, „erwarten können, daß Ziegler den Dienst eines Polizeisoldaten noch länger versehen könne, allein es ist dem nicht so“. Zieglers Arzt bekräftigte diese Einschätzung, relativierte aber die Diagnose einer potentiellen Dienstuntauglichkeit sofort: „könnte ihm ein ruhigeres Dienstverhältnis zugewiesen werden, so würde er noch mehrere Jahre dienstfähig bleiben, aber zum Polizeisoldaten taugt er länger nicht.“ Der Magistrat verfügte Zieglers Pensionierung, vorbehaltlich einer anderen Verwendung, „weil er wegen körperlicher Gebrechen den beschwerlichen Dienst nicht mehr ertragen kann“.34 Polizeidiener Roth war also in bester Gesellschaft, als ihm Untauglichkeit zum Polizeidienst, nicht aber für eine andere Dienstverwendung attestiert wurde. (Un-) Tauglichkeit existierte stets nur in Abstufungen und Grauzonen. Sie war kein eindeutig feststellbarer und gegebener oder eben nicht gegebener Zustand, sondern eine sich langfristig einspielende Konvention. Die Problematisierung der körperlichen A-Normalität der Polizeidiener verwies auf die Kategorie der Invalidität als zentralen Bezugspunkt des Diskurses über Altersversorgung im neunzehnten Jahrhundert. Der Invaliditätsbegriff verband juristische, ökonomische und medizinische Fragen und wies Ärzten eine Scharnierstellung zu. Zudem waren juristische Bestimmungen nicht immer mit den täglichen Erfahrungen von Invalidität deckungsgleich.35 34 Dazu insgesamt: Stadtgerichtsarzt Dr. Preu, an Magistrat Nürnberg, 27.5.1830, 20.11.1830, 28.1.1831; Polizeidiener Ziegler, an Magistrat Nürnberg, 30.10.1830; Magistrat Nürnberg, an Gemeindebevollmächtigte, 26.10.1830; Gemeindebevollmächtigte, an Magistrat Nürnberg, 11.1.1831 (alle in: StAN, C6, 174). 35 Der Begriff wurde aus dem Militärwesen übernommen und in zivile Bereiche übertragen. „Die Unfähigkeit, weiter den Dienst zu versehen, oder die aus dem Krieg mitgebrachten körperlichen Einbußen waren die Grundlage für jede weitere Versorgung, ob nun in Anstalten, durch passende zivile Beschäftigung oder durch ‚Gnadengehälter‘. Diese Orientierung an physischen und psychischen Leistungsdefiziten fand Anwendung auch bei den Zivilbeamten und pflanzte sich bis in die Sozialversicherung fort. […] Damit war gleichzeitig der Wortsinn von ‚invalide‘ als ‚un-wert‘, ‚unbrauchbar‘ umgedeutet in einen Ehrentitel, der vergangene Pflichterfüllung anerkannte und an kriegerische Glorie anklang“ (Conrad, Greis [1994], S. 235; vgl. auch ebd., S. 342f.). Ähnlich anderen Etiketten zur Markierung körperlicher A-Normalität handelt es sich um eine historisch kontingente Konstruktion, die „als Differenzierungskategorie der gesellschaftlichen Ordnung verstanden [werden kann], die aus diskursiven und sozialen Kräfteverhältnissen herrührt und diese wiederum beeinflusst“ (Bösl, Elsbeth: Dis/ability History: Grundlagen und Forschungstand, in: H-Soz-uKult,7.7.2009, S. 1f.; vgl. auch dies./Klein, Anne/Waldschmidt, Anne: Disability History. Einlei-
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Entsprechend der skizzierten Logik wurde Georg Michael Roth zunächst nicht pensioniert, sondern auf den Posten eines Torexaminators versetzt. Roth versah diesen Dienst einige Zeit, schrieb Ende 1820 aber erneut an den Magistrat. „Leider hat sich inzwischen meine Gesundheit durch den beschwerlichen Dienst, den meine Thätigkeit ohne Unterlaß in Anspruch nimmt, so sehr verschlimmert, daß ich nicht im Stande bin, länger denselben auszustehen.“ Immer wieder wurde er mit der Aussicht auf einen anderen Posten vertröstet, nur tat sich bisher nichts. Also ging er daran, selbst Abhilfe zu schaffen. Auf sehr ungewöhnlichem Weg. Ich bin daher, um in meiner Gesundheit nicht noch weiter herunterzukommen und es am Ende dahin zu bringen, daß ich zu gar keinem Geschäft mehr tauglich bin, mit einem gewissen Joh. Faber […], der die erforderlichen Qualifikationen in einer gesonderten Eingabe nachweisen wird, daher übereingekommen: daß derselbe in meine Stelle als Polizeisoldat tritt, und dagegen so lange bis ich andernwärts eine meinen Gesundheitsumständen angemessenen Beschäftigung […] erhalte, die Hälfte meines Gehalts bezieht.36
Faktisch setzten Pensionsgesuche eine behördliche Maschinerie (Magistrat, Gemeindebevollmächtigte, Gerichtsarzt, Kammer des Innern, Staatsministerium) in Gang und zogen sich manchmal über Jahre hin. Roth dürfte das aus Erfahrungen von Kollegen gewusst haben, merkte es aber rasch auch am eigenen Fall. Pensionierungsanträgen folgte die Bestellung gerichtsärztlicher Gutachten. Temporäre Versetzungen dienten der Hinauszögerung endgültiger Entscheidungen und zwangen den Betroffenen, immer wieder nachzuhaken. Selbst die Bewilligung einer Versetzung in den Ruhestand bedeutete nicht zwingend das Ende, konnten dann doch die Verhandlungen darüber einsetzen, wer – Stadtmagistrat, Kreisregierung oder gar das Staatsministerium – die Pensionskosten übernahm. Und so gestaltete sich auch der weitere Verlauf im Fall Roth. Gegenüber der Kreisregierung brachte Roth am 23. Januar 1821 sein Gesuch „in Erinnerung“, unterstrich die Dringlichkeit und breitete noch einmal die Gründe aus, da er glaubte, sein früheres Gesuch, „nicht genug substanziert zu haben“. Vierzehn Tage später wiederholte er seine Erinnerung, da „die Gründe meiner Dienstentlassung tung, in: diess. (Hg.), Disability History. Konstruktionen von Behinderung in der Geschichte. Eine Einführung, Bielefeld 2010, S. 7–10). 36 Roths kreative Reaktion auf die behördliche Verschleppungstaktik, die vorgeschlagene Ersatzmannlösung, verfing natürlich nicht. Schließlich sahen die offiziellen Regelungen unmissverständlich eine persönliche Erledigung des Diensts vor. Im „legalen Verhinderungs-Falle“ konnte dann „auf geschehene Meldung bei der Polizei-Behörde, wenn die Entschuldigungs-Ursache sich begründet zeigt, die Dispension vom Dienste ertheilt“ und „die Dienstes-Leistung einem Andern, ohne irgend einen Anspruch auf Entschädigung von seite desjenigen, welcher den Dienst persönlich zu machen verhindert ist“, übertragen werden (Barth, Handbuch [1821], S. 108f.).
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immer dringlicher werden“. Am 29. April 1821 versandte er eine weitere Erinnerung. So ging das eine Weile, bis der Magistrat Mitte Juli 1821 die Entlassung Roths in den Ruhestand bewilligte, aber auch beschloss, den Staat zur Übernahme der Pension zu bewegen. Nun, da Roth selbst für den ihm zur Schonung zugewiesenen Dienst als Torexaminator nicht mehr eingesetzt werden kann, „der Sommer verflossen ist, und der Herbst mit seinem schädlichen Einflusse auf seinen von Krankheit geschwächten Körper heran nahet“, so schrieb der Magistrat Ende September an die Kreisregierung, müsse die Pensionierung „ohne längeren Verzug“ umgesetzt werden. Da Roth nur drei Jahre gedient habe und schon bei seiner Einstellung unmittelbar nach der Militärzeit „kränklich“ war, möge die Regierung die Kosten der Pensionierung übernehmen. Die Kreisregierung erwiderte, es war damals wie heute der Stadt überlassen, wen sie für brauchbar erachte und einstelle, daher könne von einer Kostenübernahme keine Rede sein. Der Magistrat war mit seinem Latein nach dieser Absage noch nicht am Ende: Unter dem Schreiben der Kreisregierung vermerkte man: „Es ist bei dem Kgl. Staatsministerium der Finanzen der Versuch zu machen, ob nicht die Pension des Roth aus der Kgl. Staatskasse übernommen werden wolle.“ Das war im November 1821. Im Februar 1822 wandte sich Roth wieder selbst an den Magistrat. Nach dem ganzen Hin und Her wisse er nicht, woran er sei. Er erinnerte – wieder einmal – an sein Gesuch und bat darum, die von der Kreisregierung im Prinzip festgesetzte Pensionszahlung aus der Stadtkasse zu veranlassen. Vier Wochen später berichtete er auf Verlangen des Magistrats noch einmal über seine bisherigen Dienstzeiten – und bat erneut um Auszahlung der Pension, weil er inzwischen auch wegen „der nächtlichen Unruhe und der Gelegenheit zu Verkältungen“ den Examinatorenposten nicht länger ausüben könne. Am 28. Juni 1822 – nachdem er aus gesundheitlichen Gründen bereits im dritten Jahr den Posten eines Examinators verrichtete – teilte Roth dem Magistrat mit, er habe sich nun, da er seinen Lebensunterhalt sichern und gleichzeitig auf seine Gesundheit Rücksicht nehmen müsse, um einen leichten Dienst beim Oberzollamt beworben. Das zerschlug sich allerdings. Roth fragte monatelang (Tag für Tag, wie er anmerkte) nach einem leichteren Dienst, hatte damit aber keinen Erfolg. Am ersten Dezember 1822 ließ er sich nun auch über die Schwere des Diensts aus. Der Magistrat habe früher festgestellt, dass mein gegenwärtiger Posten mit den Verrichtungen eines anderen Polizey-Soldaten nicht zu vergleichen sey und eine außerordentliche Anstrengung nicht erfordere. […] Während auch schon der Polizeidienst bey Nachtzeit beschwerlicher ist als der meinige am Thor, so hat gleichwohl der Polizey-Soldat bey Tage mehr Muße, wenigstens hat derselbe doch von 12–2 Uhr Mittags frey, und übrigens noch Reservetage, dahingegen ich – so lange ich diesen Posten begleite – auch nicht eine Stunde frey hatte, nicht einmal zum Essen
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gehen noch die gehörige körperliche Reinigung unternehmen kann, welches für meinen geschwächten Körper ein nothwendiges Bedürfnis ist.
Roths Bitten wurden wiederholt mit Verweis auf eine ärztliche Stellungnahme abgelehnt, in der eine weitere Verwendung als Examinator als möglich erachtet worden war. Dabei blieb es für zwei Jahre – bis neue medizinische Fakten vorgelegt wurden, die eine Erklärung der Dienstunfähigkeit nach sich zogen. Eine neuerliche Untersuchung ergab, dass Roth nicht wie bisher angenommen an Gicht leide, sondern an einer Deformierung des linken Kniegelenks durch Knochenverschiebung. „Unerträgliche Schmerzen im Innern sind mit diesem Übel verbunden. Heilung ist unmöglich und [es droht ein] baldiger Übergang in gänzliche Steifheit.“ Nun wurde Roth pensioniert – und die ärztlichen Diagnosen und Stellungnahmen spielten dabei eine entscheidende Rolle, die noch einmal vertiefend in den Blick zu nehmen lohnt. Dass Ärzte in zunehmendem Maß als Gutachter ins Spiel kamen, reflektiert zunächst die im neunzehnten Jahrhundert voranschreitende Professionalisierung dieser Berufsgruppe, die seit den 1820ern an Fahrt aufnahm.37 Gutachterliche Tätigkeiten in amtlicher oder quasi-amtlicher Eigenschaft boten den Ärzten einerseits die Möglichkeit, ihren Status zu festigen oder gar auszubauen. Andererseits konnten sie als Hebel für eine Medikalisierung bisher kaum erreichter sozialer Schichten wirken und damit perspektivisch neue Einnahmen erschließen, die angesichts einer scharfen Konkurrenz und einer eng begrenzten Nachfrage nötig waren. Die Amtsperspektive bot sich da nicht nur als statuspolitisches Instrument, sondern auch als willkommene Quelle von Nebeneinkünften an. So bestand die Möglichkeit, sich als Kreis-Physicus anzudienen. Zu den Aufgaben gehörte dann auch die Begutachtung von Gendarmen und Bürodienern.38 Die Ausweitung des Markts für medizinische Dienstleistungen, der Wandel in der sozialen Struktur und Zusammensetzung der ‚Kunden‘ sowie das amtliche Tätigwerden von Ärzten erzeugte ein Netz ambivalenter Abhängigkeiten. Wo im frühen und mittleren neunzehnten Jahrhundert die Macht beim Patienten lag, hatte sich dieses Verhältnis im frühen zwanzigsten Jahrhundert umgekehrt. Claudia Huerkamp benennt hierfür zwar in erster Linie die mit dem rasanten medizinischen Fortschritt deutlichere Wissenskluft zwischen Arzt und Laien39, ebenso entscheidend scheint mir aber der Umstand zu sein, dass Ärzte in verschiedenen 37 Vgl. dazu und zum Folgenden: Frevert, Krankheit [1984]; Göckenjan, Kurieren [1985]; Huerkamp, Aufstieg [1985]; Spree, Reinhard: Soziale Ungleichheit vor Krankheit und Tod. Zur Sozialgeschichte des Gesundheitsbereichs im Deutschen Kaiserreich, Göttingen 1981. 38 Vgl. Huerkamp, Aufstieg [1985], S. 167–173; aber auch: Bergmeier, Wirtschaftsleben [1990], S. 30–41. Die spärlich besoldete Aufgabe eines Kreis-Physicus wurde als Nebentätigkeit von privat praktizierenden Ärzten erledigt. Erst seit den 1880er Jahren wurden hauptamtliche Medizinalbeamte bestellt – nun bei explizitem Verbot, parallel eine Privatpraxis zu führen. 39 Vgl. Huerkamp, Aufstieg [1985], S. 131–136.
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Kontexten mit geliehener (Amts-)Autorität agieren konnten. Zwar wurden Arbeitsund Gewerbemedizin zunächst kein bedeutendes Betätigungsfeld, weil Armut und sozialer Status der Betroffenen gegenüber dem privaten Praxiswesen den Ärzten keinen ökonomischen oder Prestigegewinn in Aussicht stellten; und auch im Gewerbeinspektionswesen wurden Mediziner oft bewusst außen vor gehalten. Über den Weg von Einstellungsuntersuchungen rückten Ärzte aber doch in eine relative Machtposition, vergleichbar mit der gutachterlichen Stellung von Amtsärzten.40 Polizeidiener Roth halfen neue medizinische Fakten. Komplizierter wurde die Sache, wenn neben dem behandelnden und attestierenden Stadtarzt noch ein amtlich bestellter Gerichtsarzt hinzugezogen wurde – und die Kollegen sich nicht einig waren. Während Roth anfing, seine Pension zu genießen, erfuhr Rottmeister Meyer, welche Auswirkungen es hatte, wenn zwei Ärzte zwei Meinungen hatten. Der folgende kleine Umweg über die Pensionierungsangelegenheit des Rottmeisters Meyer ist nicht nur gerechtfertigt, um die Uneinigkeit zweier Ärzte zu illustrieren, sondern auch deshalb, weil er am Ende wieder zu unserem Polizeidiener Roth führen wird. Im November 1825 forderte der Nürnberger Magistrat den Stadtarzt Dr. Schramm auf, sich zum Gesundheitszustand des bei ihm in Behandlung befindlichen Meyer zu äußern. Vor allem wollte der Magistrat wissen, ob eine Wiederherstellung der Dienstfähigkeit für den mit Nachtwachen verbundenen Dienst zu erwarten oder die Quieszierung einzuleiten sei.41 Meyer, so stand es in Schramms Gutachten, war 41 Jahre alt, litt seit mehreren Monaten unter massiven Durchfällen und Unterleibsbeschwerden sowie einer Schwäche der unteren Extremitäten, die in eine vollkommene Lähmung überzugehen drohte. Gerade bei diesem Leiden waren die bisher eingesetzten Heilmittel ohne Erfolg geblieben. Eine Wiederaufnahme des beschwerlichen Rottmeisterdiensts dürfte daher kaum zu erwarten sein. Der Stadtgerichtsarzt Dr. Preu, der den Rottmeister daraufhin ebenfalls untersuchte, wollte seinem Kollegen „gar nicht zustimmen“. Meyer sei noch nicht so lange krank, als dass daraus auf Unheilbarkeit zu schließen wäre; schließlich waren zwischen Krankheitsbeginn und Diagnose noch nicht einmal sechs Wochen vergangen. Meyers jetziger Zustand lasse nicht nur eine Besserung, sondern die völlige Wiederherstellung erhoffen, „denn Maier [sic] ist vor meinen Augen schon wieder recht kräftig auf und ab gegangen“. Er könne also nicht einsehen, warum Meyer nach einer gesundheitlichen Wiederherstellung den Dienststrapazen nicht gewachsen sein sollte, schließlich sei er erst vierzig Jahre alt und „sieht jetzt schon wieder kräftig und munter aus“.
40 Zu diesem Komplex: Ellerkamp, Industriearbeit [1991]. 41 Dazu und zum Folgenden: Pensionierung Rottmeister Stephan Meyer / Pensionsgesuch seiner Witwe, 1825–1832, StAN, C6, 173.
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Viele Übel, […] woran der Maier [sic] leidet, können gar wohl bei einem ansonsten nicht sehr zerrütteten Körper von Grund auf behoben werden. Nur muss man nicht alles gleich in den ersten Monaten erwarten, und wenn es nicht eingetroffen ist, nicht gleich muthlos verzweifeln. Leider aber tappt unsere bisherige Medizin bei lähmungsartigen Krankheiten noch immer gar sehr im Finsteren.
Mögen die unterschiedlichen Einschätzungen vielleicht tatsächlich in diagnostischen Unwägbarkeiten oder auch einem sich ändernden Gesundheitszustand gründen, so zeigt sich darin doch auch, dass das ärztliche Gutachterfeld für Polizeidiener ein durchaus heikles Terrain sein konnte. Wenn verschiedene Ärzte ins Spiel kamen, war immer mit den gerade in kleineren Städten verschärften Konkurrenzverhältnissen zu rechnen (die im Übrigen auch zur Folge hatten, dass ärztliche Kollegen in der Regel nur wenig sozialen Umgang miteinander pflegten).42 Daraus ergaben sich unterschiedliche Interessenlagen, die unterschiedliche Diagnosen nach sich zogen, mit denen wiederum die betroffenen Polizeidiener und Magistrate umzugehen hatten. Wo aus welchen Gründen auch immer keine einheitliche Expertise zustande kam, galt es, administrative Zwischenlösungen zu finden. Im skizzierten Fall ließ der Magistrat die von Meyer ausgeübte Funktion des Rottmeisters vertreten (geeignete Polizeisoldaten sollten sich dabei im vierwöchigen Rhythmus ablösen). Dieses Spiel ging über ein Jahr, bis Ende Februar 1828. Fünfzehn Monate nach seiner ersten, doch sehr optimistischen Einschätzung gestand der Stadtgerichtsarzt nun doch die Wirkungslosigkeit aller Behandlungen und Heilbäder ein. Meyers „allgemeines Befinden“ habe sich „ins Gleichgewicht gestellt“ und daher könne „sein gegenwärtiger Zustand als ein abgeschlossener“ gelten. Die frühere Dienstfähigkeit dürfte er nicht wiedererlangen. Derart gewappnet beantragte Meyer Pensionierung wegen „nicht zu beseitigender Lähmung der unteren Gliedmaßen“. Sollte er wieder so weit hergestellt sein, dass er zu irgendeinem Dienst zu gebrauchen ist, so werde er sich reaktivieren lassen. Der Antrag wurde von den Gemeindebevollmächtigten bewilligt. Im gleichen Zug stießen sie jedoch eine Debatte an, in deren Verlauf unser Polizeidiener Georg Michael Roth ein unfreiwilliges Comeback feierte. Roth war inzwischen einige Jahre pensioniert, als die Gemeindebevollmächtigten im Rahmen des Pensionierungsverfahrens von Rottmeister Meyer dem Magistrat Druck machten, die Gesundheit und Dienstfähigkeit der pensionierten Polizeidiener zu überprüfen. Dabei wiederholten die Gemeindebevollmächtigten den Wunsch, daß bei Anstellung von Polizeisoldaten ein vorzügliches Augenmerk auf Gesundheit, Tüchtigkeit und auch auf Moralität gerichtet werden möge. Ihr Dienst, in seinen vielen Verzweigungen und den nahen Beziehungen zu dem Publikum aller Stände, ist von gro42 Vgl. Huerkamp, Aufstieg [1985], S. 127.
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ßer Bedeutsamkeit und wichtigem Einfluß, fehlen aber dazu die nöthigen Eigenschaften, so hat die Commune die mit Recht zu fordernden, ersprießlichen Dienste nicht zu erwarten und die Bürgerschaft kann ihnen nicht jene Achtung schenken, welcher jeder öffentliche Bedienstete, welchen Grade er sei, genießen muß, wenn seine Wirksamkeit Erfolg haben soll. Noch dürfte wohl auch auf die aus Krankheits-Ursachen quieszierten Subjecte geachtet – und deren Reaktivierung bewirkt werden, wenn sich ihr Gesundheits-Zustand so bessert, daß sie darum fähig zu achten sind, wie mit dem quieszierten Polizei-Soldaten Roth der Fall ist, der sich dem Vernehmen nach jetzt wieder vollkommen kräftig und wohl befinden soll, und daher wenigstens wieder unter den Thoren gebraucht werden könnte.43
Eine Woche später präzisierten die Gemeindebevollmächtigten: [N]ach umgehend eingegangener Erkundigungen war der quieszierte Polizeisoldat Roth nie so sehr mit körperlichen Leiden geplagt, daß er unfähig gewesen wäre, die Dienste eines Polizey-Soldaten zu verrichten, wohl soll er es aber in der Verstellungskunst sehr weit gebracht haben. […] Seine Verwendung [zum Examinatorendienst] dürfte dahingehend auch rätlicher erscheinen, als eine zum öffentlichen Polizey-Dienst, weil er während seiner [Pensionszeit] in Nürnberg im bürgerlichen Leben zu viel Freunde sich erworben und deshalb nicht wie es der Dienst erfordert einschreiten würde.44
Der Magistrat widersprach den allgemeinen Ausführungen der Gemeindebevollmächtigten zur Frage der Eignung und Tauglichkeit nicht, sondern bekräftigte die Gültigkeit der angesprochenen Prinzipien. Übrigens bemerkt der Magistrat zu der Erklärung der Gemeindebevollmächtigten, daß bei Annahme für Polizeisoldaten ohnehin schon auf deren Tüchtigkeit, Sittlichkeit und Gesundheitszustand Rücksicht genommen wird, daß die bisher vorgekommenen Quieszierungen nur solche Individuen betroffen haben, welche bei der vormaligen Polizeidirektion angestellt waren und deren Gesundheit in Folge der früheren Kriegsstrapazen zerrüttet worden ist, und daß der Magistrat die Reaktivierung eines Polizeisoldaten vornehmen wird, sobald er wieder diensttauglich erscheint, weshalb auch hinsichtlich des Roth eine Untersuchung vorgenommen und nach den Umständen weiter verfügt wird.45
Pensionierung unter Vorbehalt, wiederholte Tauglichkeitsuntersuchungen und mögliche Reaktivierung – das waren die wesentlichen Koordinaten der Problematisierung 43 Gemeindebevollmächtigte, an Magistrat Nürnberg, 9.5.1828, StAN, C6, 173. 44 Gemeindebevollmächtigte, an Magistrat Nürnberg, 16.5.1828, StAN, C6, 165. 45 Magistrat Nürnberg: Pensionierung Rottmeister Stephan Meyer, 16.5.1828, StAN, C6, 173.
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polizeidienerlicher Körper, wenn sie nicht mehr zu vollster Zufriedenheit funktionierten. Und so standen polizeidienerliche Körper in Dienst und Ruhestand stets unter dem Verdacht, mehr leisten zu können als sie vorgaben. Der Magistrat setzte in Reaktion auf die gegen Roth geäußerten Verdächtigungen eine Untersuchung in Gang, verzichtete aber im Gegensatz zu den Gemeindebevollmächtigten darauf, Hörensagen in seine Beweisführung einzubeziehen. Der Magistrat bestellte ein ärztliches Gutachten. Darin hieß es, Roth – ein Mann „hageren Körperbaus“ – habe an den Unterschenkeln Ausstellungen und ein lädiertes linkes Knie, vermutlich ein Ergebnis früherer Gicht. „[S]o wenig [er] auch hier jetzt zu leiden aussieht und seine Körperhaltung auch kräftig zu seyn scheint, so gestatten doch diese Blutgefäßauswucherungen“ keine Körperanstrengungen, kein ausdauerndes Laufen oder gar Rennen, kein Reiten. Lediglich aufgrund der momentanen Schonung durch den Ruhestand („günstige Umstände“) litte er aktuell nicht unter Gichtschüben. Den „Dienste eines Polizeisoldaten, der mit so vielfachen, nicht zu berechnenden Strapazen verbunden ist“, könne Roth „nicht mehr befähigt versehen“.46 Ein halbes Jahr später teilte der Magistrat den Gemeindebevollmächtigten mit: „Da Roth durchaus als dienstuntauglich erscheint, so ist derselbe nicht weiter in Anspruch zu nehmen.“47 Damit war die Angelegenheit geklärt, Roths dauerhafte Untauglichkeit festgestellt und die Pension gewährt.
46 Dr. Schramm, an Magistrat Nürnberg, 27.6.1828, StAN, C6, 165. 47 Magistrat Nürnberg, 21.11.1828, StAN, C6, 165.
9. Die verschiedenen Classen des Publikums
Ende April 1811 bewarb sich Johann Richter in Nürnberg als Polizeidiener. Er wurde aufgenommen, da er sich während der Probezeit „bisher ganz gut betragen, und seinen Dienst ordentlich versehen“ hatte. Nur fehlten ihm „noch hohe Gewandtheit und gesetztes Betragen, doch da er erst 20 Jahr alt, und nie in Städten gewesen ist, so kann es wohl nicht anders seyn, daß er nicht gleich das ist was er seyn solle“. Da er jedoch „einen guten Willen“ und „sehr große Lust zu allen polizeilichen Verrichtungen“ hatte, erwartete man in der Polizeibehörde, „daß aus ihm in der Folge ein recht tüchtiger Polizeidiener werden kann“.1 Es waren also nicht nur Polizeidirektoren, die sich einer „attica urbanitas“ zu befleißigen hatten.2 Auch für einfache Polizeidiener wurde urbanes Benehmen offenkundig als Hebel sozialer Distinktion und Distanzierung in Stellung gebracht. Das Leben in Städten galt als Voraussetzung und Garant der praktischen Einübung bestimmter Verhaltensweisen; Verhaltensweisen, über die ein Polizeidiener verfügen sollte. Dazu gehörte – und das war und ist das Charakteristikum städtischen Lebens überhaupt – eine gewisse Gewandtheit im Umgang mit verschiedenen Bevölkerungsschichten. Der zahlreichsten Classe des Publikums, so die zeitgenössische Terminologie, entstammten einfache Polizeidiener nicht nur mit hoher Wahrscheinlichkeit selbst, sondern sie unterhielten zu ihr zudem vielfältige Beziehungen, die über den Dienstantritt hinaus wirksam blieben und so manche Schwierigkeit bedeuteten. Konflikte, die sich funktional als Begegnung von Ordnungsmacht und Untertanen gestalteten, waren in sozialer Hinsicht oft Begegnungen von Angehörigen gleicher Milieus, die sich voneinander entfernt hatten. Im Zentrum der folgenden Miniaturen stehen daher Begegnungen von Polizeidienern mit Handwerkern, Kaufleuten, Wirten, Buchhändlern, Mägden usw. Natürlich entstanden Konflikte auch dann, wenn Polizeidiener Höhergestellten begegneten. Allerdings war für weite Teile des neunzehnten Jahrhunderts zutreffend, was ein zeitgenössischer Beobachter schrieb: „Da die bewaffneten Agenten selten mit den höheren Classen der Gesellschaft zu thun bekommen, so genügt es für sie, wenn sie die mittlere und untere Volksschicht kennenlernen.“3 Meine Fallbeispiele zielen darauf, verschiedene Konstellationen des polizeidienerlichen Publikumsverkehrs herauszuarbeiten. Einerseits geht es um die Besonderheiten verschiedener Situationen (außerdienstliches Beisammensein, geselliger Umgang und dienstliches Eingreifen im Wirtshaus, Behauptungskämpfe am Stadttor, lärmende 1 Anstellungsgesuche als Polizeidiener, 1810–1811, StAN, C2, 56. 2 Zimmermann, Polizei [1845–1849], S. 1235f. 3 Ebd., S. 1132.
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Aneignung des Straßenraums, handgreifliche Auseinandersetzungen bei Verhaftungen, Misshandlung von Arretierten). Andererseits werden diese Situationen und das polizeidienerliche Agieren in ihnen daraufhin befragt, wie sich soziale Nähe und Distanz von Polizei und Publikum ausgestalteten, welche Distanzierungsstrategien griffen und welche Effekte das auf Selbstbild und Selbstbildung von Polizeidienern hatte. Entsprechend der Quellenlage und Fragestellung der vorliegenden Studie geht es mir in erster Linie um die Perspektive der Polizeidiener, nicht um diejenige des Publikums, das in den folgenden Schilderungen lediglich vermittelt zu Wort kommt und teilweise als bloßes Objekt von Polizierung erscheinen mag. Demgegenüber ist jedoch die aktive Rolle der Polizierten, also ihr eigensinniges Verhalten, zu betonen, auch wenn das in den Quellen nicht immer greifbar ist. Polizeidiener stießen auf alltägliche Formen eines niederschwelligen Widerstands: Verschleppung und Verzögerung in der Befolgung von Aufforderungen, Ausflüchte, Heuchelei, vorgetäuschte Zustimmung, vorgebliche Unwissenheit, Irreführung und Trickserei, üble Nachrede, Verleumdung und Verunglimpfung. All das erfordert wenig Koordination und maskiert Konfrontationen mitunter durch symbolische Konformität.4 In dieser Perspektive tritt ein Kräftefeld zutage, in dem, so eine treffende Formulierung Alf Lüdtkes, der wie kaum ein anderer Eigensinnigkeit und alltägliche Handlungssituationen zum Gegenstand der Geschichtswissenschaft gemacht hat, „Akteure in Beziehung treten und stehen, in dem sie miteinander umgehen, auch wenn sie einander ausweichen oder sich zu ignorieren suchen“.5 Polizeidiener trafen also nicht auf ein passives, zu polizierendes Objekt. Sie mussten immer wieder nicht nur mit Verletzungen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit umgehen, sondern auch damit, dass das Publikum die Ausübung des Diensts in ganz unterschiedlicher Weise begleitete, störte oder behinderte. „Es wurde“, so rügte der Nürnberger Magistrat einen Teil der städtischen Einwohnerschaft in einer Bekanntmachung vom 23. März 1868, „hin und wieder die Beobachtung gemacht, daß sich Unbetheiligte bei Arretierungen einmischen, neugierig andrängen, oder gar, mehr oder weniger offen, Parthei für die zu Verhaftenden nehmen“. Die Polizei, so klärte man auf, handle „im Interesse der Gesamtheit, somit aller einzelnen Bürger“ und müsse daher unterstützt werden; und 4
Der bereits zeitgenössisch gebräuchliche Begriff des Eigensinns markierte seit dem späten achtzehnten Jahrhundert „ein zutiefst abstoßendes und ‚fremdes‘ Verhalten“ […]: Unrat, Unflat. Unmündige aus den ‚niederen Klassen‘ zeigten Eigensinn.“ Als Fremdbeschreibung war die Etikettierung eines Verhaltens als eigensinnig stets ein Verweis auf die beanspruchte „Wächterrolle“ der Beobachtenden (Lüdtke, Alf: Geschichte und Eigensinn, in: Alltagskultur, Subjektivität und Geschichte. Zur Theorie und Praxis von Alltagsgeschichte, Münster 1994, S. 139–153, hier: S. 140). Zu den Formen niederschwelligen Widerstands vgl. Scott, James C.: Weapons of the Weak. Everyday Forms of Peasant Resistance, New Haven und London 1985, S. 29–33. 5 Lüdtke, Herrschaft [1991], S. 12f.
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da die „Polizeimannschaft ohnehin zu möglichst urbanem Benehmen gegen Jedermann und zur Vermeidung aller unnöthigen Verhaftungen angewiesen ist“, dürfe „mit Grund erwartet werden, daß die oben bezeichneten Vorkommnisse in Zukunft unterbleiben“.6 Einen Monat nach der soeben zitierten Bekanntmachung wandte sich der Nürnberger Magistrat erneut an das Publikum. Diesmal hieß es: Nicht selten verlangen Privatpersonen von der Polizeimannschaft die Vornahme von Verhaftungen in Fällen, in welchen gesetzlich eine Verhaftung nicht gerechtfertigt ist oder selbst ohne Angabe irgend eines Verhaftungsgrunds auf die bloße Angabe hin, daß der Antragsteller ansässiger Bürger sey, der zu Verhaftende aber nicht. Es halten sich solche Antragsteller darüber auf, wenn die Polizeimannschaft ihrem willkürlichen Verlangen keine Rechnung trägt. Es wird deshalb in Erinnerung gebracht, daß Verhaftungen von der Polizeimannschaft nicht beliebig, sondern nur in den gesetzlich genau erwähnten Fällen vorgenommen werden dürfen, daß es ein Vorrecht wegen Haftantragsstellung zwischen ansässigen und nicht ansässigen Bürgern nicht gibt und daß die Polizeimannschaft angewiesen ist, nur beim Vorhandenseyn der gesetzlichen Vorbedingungen zu Arretierungen zu schreiten.7
Diese Bekanntmachung legt nahe, dass die Beziehungen zwischen Polizei und Publikum im neunzehnten Jahrhundert nicht in Repression aufgingen – und dass sich keine monolithischen Blöcke mit klar verteilten Rollen gegenüberstanden. Vielmehr zeigt sich ein Modus der Interaktion, den Michel Foucault und Arlette Farge für den französischen Spätabsolutismus herausgearbeitet haben, der offenkundig aber auch in altehrwürdigen deutschen Städten und noch bis weit ins neunzehnte Jahrhundert Bestand hatte: die wechselseitige Instrumentalisierung von Polizei und Polizierten.8 Die magistratliche Betonung der Regelgebundenheit polizeilichen Eingreifens in der zitierten Bekanntmachung verweist zwar auf die Existenz formaler Rechtsstaatlichkeit. Sie zeigt aber auch, dass Bürger bei ihren Versuchen, die Polizei in Dienst zu nehmen, entweder mit den Regularien nicht vertraut waren oder – was wahrscheinlicher ist – darauf spekulierten, der eine oder andere Polizeidiener würde vielleicht nicht so genau nachfragen. Formal korrektes Verhalten von Polizeidienern wiederum konnte 6 Magistrat Nürnberg: Bekanntmachung, 21.3.1868, StAN, C7/I, 2718. 7 Magistrat Nürnberg: Bekanntmachung, 18.4.1868, StAN, C7/I, 2718. Die Frage, ob und wie sich die Tücken lokaler Zugehörigkeit – angesichts einer in dieser Hinsicht heterogenen Stadtgesellschaft wie auch der durchaus vorhandenen Mobilität der Interessenten für den Polizeidienst und der Angehörigen der Polizeimannschaften – im polizeidienerlichen Publikumsverkehr bemerkbar machten, kann hier im Detail nicht diskutiert werden, vgl. aber: Harders, Levke: Mobility and Belonging. A Printer in Nineteenth-century Northern Europe, in: InterDisciplines 1 (2016), S. 87–114. 8 Vgl. Farge/Foucault, Konflikte [1982], S. 274; sowie: Taeger, Machtverhältnisse [1999].
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durch die Brille öffentlicher Erwartungen zum Auslöser von Unmut werden, wenn es als mangelnde Parteinahme zugunsten ansässiger Bürger gegenüber Nicht-Ansässigen interpretiert wurde. Die beiden Bekanntmachungen wurden hier einleitend erwähnt, um das thematische Feld der folgenden Miniaturen abzustecken: Einmischung, (wechselseitige) Provokation und Herausforderung, Parteinahme. Die Bekanntmachungen zeigen zudem, dass Polizeidiener zur Bewältigung verschiedener Situationen auf eine bestimmte Verhaltensweise verwiesen wurden, in der sich Anforderungen und Erwartungen an den Dienst der Polizei und den Charakter von Polizeidienern spiegelten. Um derartige Zusammenhänge zu verstehen, bedarf es eines genauen Blicks in den Dienstalltag.
9.1 Polizeidiener Schneider und ein sechzehnjähriges Mädchen Im Februar 1822 bat der Distriktvorsteher der Vorstadt Wöhrd beim Nürnberger Magistrat um Versetzung des Polizeidieners Schneider.9 Im Fall Schneider, der in diesem Gesuch einerseits kulminierte, andererseits noch einmal Fahrt aufnahm, ging es um den privaten Umgang eines Polizeidieners, konkret: um Vertraulichkeiten und übergriffiges Verhalten gegenüber einem jungen Mädchen. Es ging um die Anforderungen an das außerdienstliche Benehmen, darum, wie auf Verfehlungen in diesem Bereich reagiert wurde und welche Auswirkungen das auf Reputation und weiteren Dienst hatte. Der Fall gewährt schließlich auch Einblicke in die situative Ausformung polizeidienerlicher Männlichkeit. Schneider sollte also, jedenfalls nach dem Willen des Distriktvorstehers von seinem Posten in Wöhrd abberufen werden. Eine Versetzung selbst zu veranlassen oder dem Magistrat eine Entscheidung vorzugeben, lag nicht in seiner Kompetenz. Distriktvorsteher, die vom jeweiligen Magistrat unter den Bürgern der Stadtbezirke 9 Vgl. Magistrat Nürnberg: Abberufung des zu Wöhrd stationierten Polizeisoldaten Schneider von seiner Station, StAN, C6, 178. Die folgende Fallkonstruktion stützt sich auf diesen Bestand. Auf Einzelnachweise wird, sofern aus den darin enthaltenen Vernehmungsprotokollen und dem dazugehörigen Schriftverkehr zitiert wird, verzichtet. Quellenkritisch ist dabei vorauszuschicken, dass derartige Protokolle, das hat unter anderem Gleixner, Ulrike: „Das Mensch“ und „der Kerl“. Die Konstruktion von Geschlecht in Unzuchtsverfahren der Frühen Neuzeit (1700–1760), Frankfurt/M. und New York 1994, S. 16–20, betont, als „komplex konstruierte bürokratische Texte“, nicht als Widerspiegelung realer Rede zu lesen sind. Sie bilden das rechtspolitisch Gewollte ab und bringen Verhandlungsabläufe in eine verfahrens- und erwartungsgemäße Form. Einerseits ist zu vermuten, dass alle Beteiligten auf bestimmte Argumente und Bilder zurückgriffen, weil sie annahmen, die städtische Obrigkeit damit für sich einzunehmen. Andererseits verweisen diese Argumente und Bilder in indirekter Weise auf alltägliche Denk- und Verhaltensweisen.
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ausgewählt und für drei Jahre ernannt wurden, waren laut bayerischer Gemeindeordnung dem Magistrat lediglich als „Beyhülfe untergeordnet“. Sie führen hiernach die Aufsicht über Brücken, Wege, Stege, Brunnen und Wasserleitungen; sie wachen für die Erhaltung der öffentlichen Sicherheit, der Ruhe und Ordnung in ihrem Bezirke, für die Abwendung unglückdrohender Gefahren; – alle policeylichen Vorfälle, deren Abstellung nöthig ist, oder die sonst der Policey-Behörde zu wissen erforderlich sind, haben sie derselben sogleich anzuzeigen.10
Unter anderem sollten Distriktvorsteher die Magistrate bei der Kontrolle der Polizeiwachen unterstützen, das heißt „auf das Benehmen derselben, ihre Wachsamkeit, Thätigkeit und Unbescholtenheit ein ununterbrochenes Augenmerk“ richten.11 Die Polizeidiener hatten, wenn die Distriktvorsteher „zur Ausübung ihrer Functionen erscheinen“, diesen „auf Verlangen den nöthigen Beistand zu leisten“ und die „Anordnungen derselben“ zu vollziehen, „in so weit es ohne Unterbrechung der ihnen von der Polizei-Behörde übertragenen wichtigeren Dienstesverrichtungen geschehen kann“. Allerdings unterstanden die Polizeidiener dem Magistrat, die Distriktvorsteher konnten ihnen daher nicht befehlen, sondern sie lediglich an die Erfüllung ihrer Pflichten und Aufgaben „erinnern“ und „anzeigen“, wo sie ein Einschreiten für nötig erachteten. Diese Konstellation gab den Weg vor, der zu gehen war, wenn man einen Polizeidiener loswerden wollte. Der Wöhrder Distriktvorsteher musste dem Magistrat glaubhaft machen, dass Polizeidiener Schneider seinen Dienst dauerhaft und in erheblichem Maß vernachlässigte oder durch sein Verhalten ein der „Erhaltung der öffentlichen Sicherheit, der Ruhe und Ordnung“ abträglicher Zustand eingetreten war. Eine Garantie bot das nicht. Der Magistrat blieb in Personalfragen souverän. Was war nun 1822 in Wöhrd passiert? Polizeidiener Schneider wurde vorgeworfen, die sechzehnjährige Anna Margarethe Ruth Horn belästigt zu haben. Laut Vernehmung wollte der Wöhrder Bürger Gutmann, der die Tochter seiner Schwester als Magd aufgenommen hatte, „schon seit einiger Zeit“ bemerkt haben, „daß der PolizeiSoldat Schneider diesem Mädchen nachschleicht“.12 Weiter führte er aus: 10 Verordnung die künftige Verfassung und Verwaltung der Gemeinden betr. [1818], §§ 90–91. 11 Dazu und zum Folgenden: Barth, Handbuch [1821], S. 122–124. 12 Dieses „Nachschleichen“ wurde weder in Gutmanns Aussage noch von einer der anderen beteiligten Personen als Hinweis auf ein nachhaltiges amouröses Interesse gedeutet. Ob Schneider sich, unabhängig von mittel- oder längerfristigen Interessen, gelegentlich „etwas herausnahm“, weil er privaten Umgang mit Gutmann pflegte oder imaginierte, dass von ihm als Träger einer polizeilichen Uniform die gleiche Anziehungskraft auf junge Mädchen ausging, wie sie zeitgenössisch den Trägern militärischer Uniformen zugeschrieben wurde, kann an dieser Stelle nicht entschieden werden. Ganz auszuschließen ist die letztere Möglichkeit nicht, wurde doch – wie an anderer Stelle bereits ausgeführt – „die Uniform nicht nur von Frauen als Preisschild auf der Ware ‚Mann‘ gele-
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Vor etwa 4 Wochen schickte ich das Mädchen nach Bier, wo Schneider gerade bei mir im Hause war, und bemerkte, daß Schneider […] nachdem das Mädchen aus dem Hause war, auch ging, welches mich aufmerksam machte und die Veranlaßung gab, ihm nachzugehen. Wie dieses Mädchen auf mein Haus zugehen wollte, sprang ihr Schneider nach und rief: Margareth geh nicht hinein!
Folgt man dieser Schilderung, so handelt es sich um eine durchaus typische Geschichte: Typischerweise waren es ledige junge Frauen, überwiegend Dienstmägde beziehungsweise Frauen „ohne Beruf “, die Opfer von Übergriffen wurden; und die Vorfälle ereigneten sich zumeist, wenn eine Magd allein im Auftrag des Meisters unterwegs und daher gezwungen war, aus dem Schutz des Hauses hinauszutreten.13 Derartige Aussagen bedienten die allgemeine Erwartung, Väter, Vormünder, Dienstherren usw. hätten rechtzeitig einzugreifen und Schlimmeres zu verhindern, wenn sich vergleichbare Situationen abzeichneten. Gutmann jedenfalls schilderte die Situation in einer Weise, die präventiv auf mögliche Rückfragen (etwa, warum er nicht nach draußen ging, um die Geschichte sofort zu beenden) zu reagieren scheint. Daß es die Absicht des Schneider war, dieses Mädchen zur Unzucht zu gebrauchen, konnte ich bemerken, daß er es aber wirklich gethan hat, bezweifle ich. Wie das Mädchen zu Haus kam, stellte ich sie erstens darüber zur Rede, und bestrafte sie auch noch sowohl für ihre ausgesagten Unwahrheiten als auch über ihr leichtsinniges Betragen. Hierdurch wurde die Sache zu Wöhrd ruchbar und [ging] von Mund zu Mund, so daß dieser Vorfall iezt überall bekannt ist. Ich sehe die Sache nicht als so wichtig an und würde auch, da mir an der Ehre des Mädchens besonders gelegen ist, hier nun nicht so viel Aufhebens gemacht und keine Klage geführt haben, da ich aber hierüber befragt wurde, so habe ich gesagt, was die Sache ist.
Eine Sache wurde ruchbar und ging von Mund zu Mund: Diese Formulierung verweist auf einen Gang der Ereignisse, der in vergleichbaren Angelegenheiten bereits seit der Frühen Neuzeit immer wieder derselbe war. Offizielle Untersuchungen begannen in der Regel mit „Gerede“, das irgendjemand an die zuständige Behörde durchstellte. Fortgesetztes, hartnäckiges Gerede veranlasste – weil es steter Quell von Unruhe war – Dienstherrschaften, Eltern, Amts- oder Würdenträger dazu, „den Faden des Geresen“ (Brändli, Militärcrinolinen [1997], S. 205; vgl. auch: Frevert, Militär [2008], S. 61–64). Nur war der Preis im Fall eines Polizeidieners nicht besonders hoch. 13 Vgl. Töngi, Claudia: „Er versprach mir die Ehe, während er mich im Bett tractirte ...“. Gewalthafte Sexualität zwischen Unzucht und Notzucht. Fallbeispiele aus Uri (Schweiz) im 19. Jahrhundert, in: Künzel, Christine (Hg.), Unzucht – Notzucht – Vergewaltigung. Definitionen und Deutungen sexueller Gewalt von der Aufklärung bis heute, Frankfurt/M. und New York 2003, S. 99–118, hier: S. 106f.
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des aufzunehmen und eine Klärung der Situation herbeizuführen“.14 Längere Zeit kursierende Gerüchte wirkten als informelle Anzeige, der die Verantwortlichen letztlich nachgehen mussten, auch wenn niemand eine förmliche Anzeige gemacht hatte. Wenn es zu einer offiziellen Untersuchung kam, hatte sich zumeist schon eine relativ stabile Einschätzung des Geschehens herausgebildet. Die Magd, nach eigener Aussage sechzehn und dreiviertel Jahre alt, bestätigte, dass Schneider und weitere Bekannte öfter im Hause Gutmann waren, ihr aber nicht nachgestiegen wären. „Sie haben wohl Spaß gemacht, allein weiter ist es niemals gekommen.“ Interessanterweise sind die hier angesprochenen privaten Beziehungen in der weiteren Untersuchung kein Thema, obwohl die soziale Einbettung der Polizeidiener im gesamten neunzehnten Jahrhundert immer wieder verhandelt wurde. Zwar galten Personen- und Lokalkenntnisse bei Polizeidienern als wünschenswert, zu große Vertraulichkeit aber auch als Hindernis erfolgreicher Dienstausübung. Wie ein Polizeidiener Personen- und Lokalkenntnisse erwerben sollte, ohne dabei vertrauliche Beziehungen einzugehen, blieb offen – ebenso wie die Frage, ob es von Vor- oder Nachteil war, dass ein Polizeidiener vor Ort über verwandtschaftliche oder freundschaftliche Bindungen verfügte.15 Warum Schneider nicht für seinen vertraulichen Umgang mit Gutmann gerügt oder diese Vertraulichkeit als Grund für sein Fehlverhalten angesprochen wurde, lässt sich aus den Vernehmungsprotokollen nicht erschließen. Die von allen Beteiligten beschriebene Konstellation kann aber zumindest als Beleg für die faktische Einbindung von Polizeidienern in ihr soziales Umfeld gelten, also dafür, dass trotz pauschaler Warnungen, etwa in Handbüchern oder 14 Gleixner, Mensch [1998], S. 188; vgl. auch: Hommen, Tanja: Sittlichkeitsverbrechen. Sexuelle Gewalt im Kaiserreich, Frankfurt/M. und New York 1999, S. 170–175; Sabean, David Warren: Das zweischneidige Schwert. Herrschaft und Widerspruch im Württemberg der Frühen Neuzeit, Frankfurt/M. 1990 [1986], S. 174f. 15 Die soziale und familiäre Einbindung wurde bereits in Anstellungsgesuchen thematisiert. Er sei zum Polizeidienst geeignet, so Joseph Großmann 1843, weil er vor Ort mit niemandem in freundschaftlichem oder verwandtschaftlichem Verhältnis stehe (Großmann, Joseph, an Magistrat Schwandorf, 15.9.1843, StAS, Akte des Stadtmagistrats, VII-3). Der Erlanger Schutzmann Friedrich Hübner schrieb, er bewerbe sich in eine neue Stadt, da er nach einer Verehelichung nun Verwandte in Erlangen habe, was ihn bei der Dienstausübung behindere (Hübner, Friedrich, an Magistrat Schwandorf, 10.11.1900, StAS, Akte des Stadtmagistrats, P-3x 1 v. 2). Erhard Gessler sah es dagegen als Argument für seine Einstellung an, dass er Verwandte in Regensburg hatte, als er sich dort um eine Stelle bewarb – diese seien sogar selbst Polizeidiener (vgl. Gessler, Erhard, an Magistrat Regensburg, 17.7.1874, StAReg, ZR I 10803). Ob ein Polizeidiener ein Einheimischer sein sollte oder nicht, war nicht einheitlich geregelt. Wenn etwa Gemeindebevollmächtigte den Wunsch formulierten, der Magistrat möge einen „hiesigen Einwohner“ berücksichtigen, so stand dahinter keine polizeitheoretische Überlegung, sondern der pragmatische Ansatz, einen örtlichen Bedürftigen zu versorgen (vgl. Gemeindebevollmächtigte, an Magistrat Schwandorf, 12.6.1900, StAS, Akte des Stadtmagistrats Schwandorf, P-3x 1 v. 2).
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allgemeinen Dienstvorschriften, im Alltag keine allzu große Distanz bestand, jedenfalls keine, die von regelmäßigen Besuchen, gemeinsamem Biertrinken und Spaß machen mit jungen Mädchen abgehalten hätte. Nach der Schilderung der Art der sozialen Beziehung ihrer Familie zu Schneider beschrieb Margarethe den eigentlichen Vorgang: Ohnweit unserem Hause steht Schneider und wartet auf mich, springt dann hervor, fasst mich an und will mich herumdrehen und am Busen fassen. Ich aber wollte dieses nicht machen und sträubte mich so viel ich konnte, weil ich den Bierkrug in der einen Hand hatte. […] [Kurz darauf ] ließ er mich gehen, und wie ich zu Haus kam sagte mir mein Vetter, daß er gesehen hätte, daß mich Schneider weggezogen hatte, und bestrafte mich deshalb. Daß Schneider mich zur Unzucht hat gebrauchen wollen, kann ich nicht sagen, doch glaube ich, daß wenn ich ihm Freiheiten gestattet hätte, es dazu hätte kommen können, so aber, da er sah, daß ich das Mädchen nicht war, hat er mir nichts zugemutet.
Unabhängig vom faktischen Hergang wirkte die Erklärung Margarethes, sie sträubte sich so viel sie konnte, als präventive Entlastungsstrategie in einer Vernehmungssituation. So kam sie gar nicht erst in den bei derartigen Verhandlungen unterschwellig stets präsenten Verdacht, den Vorfall selbst provoziert zu haben. „Die Ansicht, daß junge Mädchen des öfteren ehrbare Männer verführten“, so resümiert Tanja Hommen den strafrechtlichen (und sexualmoralischen) Common Sense über weite Teile des neunzehnten Jahrhunderts, „war fest im Denken der Juristen verankert; mit einem Anflug von Bedauern beharrten sie jedoch darauf, daß der Schutz der Jugend wichtiger war als das Verständnis für die Schwäche des männlichen Geschlechts“.16 Gegenwehr war ein entscheidendes Kriterium in offiziellen Untersuchungen um Sittlichkeitsvergehen. Regelmäßig wurde argumentiert, der Mann könnte oft gar nicht entscheiden, ob Widerstand ernst gemeint war – schließlich wurde auch von ‚anständigen Mädchen‘ ein gewisser passiver Widerstand dem aufdringlichen Werben gegenüber erwartet. Daher wäre es an der Frau, die Ernsthaftigkeit ihrer Gegenwehr eindeutig zum Ausdruck zu bringen, könnte die Aufgabe des Widerstands doch andernfalls als Einwilligung gelten. Das Misslingen der Notzucht aufgrund von Gegenwehr galt als Beleg der Ernsthaftigkeit des Widerstands; dann aber auch wieder als mögliches Argument dafür, dass der Mann gar keine wirklichen Absichten gehabt hätte. Auch der Hinweis, Polizeidiener Schneider und andere Bekannte machten regelmäßig Spaß mit ihr, das Ganze wäre aber immer harmlos, dürfte als präventive Entlastungsstrategie gewirkt haben. Möglicherweise fungierte aus Sicht der Magd der Spaß
16 Hommen, Sittlichkeitsverbrechen [1999], S. 55; vgl. dazu und zum Folgenden auch: ebd., S. 33–40; sowie: Gleixner, Mensch [1994], S. 76, 84f.
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in Situationen, in denen ihr nichts zugemutet wurde, als Beweis, dass sie Schneider zu nichts ermutigt oder gar verführt hatte. Polizeidiener Schneider führte nicht seine Schwäche oder die Verführungskunst der Magd an, sondern betonte die Harmlosigkeit der ganzen Angelegenheit. Er habe das Mädchen vor dem Haus angehalten, wo ich Spaß mit ihr mache, sie an die Mauer nehme und sie betaste, daß es aber meine Absicht war, sie zur Unzucht zu gebrauchen, muß ich in Abrede stellen, und wird das Mädchen selbst sagen müssen, daß ich dieses gar nicht verlangt habe. Auch war der Ort hierzu nicht da.
Allen Schilderungen des Vorfalls ist gemein, dass sie eine rhetorische Figur bedienen, die Carolyn Steedman an einem englischen Beispiel aus dem frühen neunzehnten Jahrhundert als typisch für die zeitgenössische Rahmung von Männlichkeit und Sexualität identifiziert: das plötzliche Hereinbrechen männlichen (sexuellen) Verlangens in alltägliche Handlungssituationen.17 In Schneiders Fall übersetzten die Aussagen das in eine körperliche Aktivität, das Springen. Auffällig ist zudem der Tempuswechsel etwa in der protokollierten Aussage Margarethes, die bereits umfangreich zitiert wurde: Schneider agiert im Präsens, er steht unweit des Hauses, wartet auf sie, springt dann hervor, fasst sie an, will sie herumdrehen und am Busen fassen. Die Schilderung ihres Verhaltens wechselt dagegen in die einfache Vergangenheitsform (sie sträubte sich so viel sie konnte). Die Dramatik der Situation hängt an Schneiders auch sprachlich veranschaulichtem Drängen. Margarethes erfolgreiche Abwehr entschärft(e) die Situation, und auch das zeigt sich sprachlich. Aus einer akut bedrohlichen Lage wird eine rückblickend glimpflich ausgegangene, abgehakte Geschichte. 17 Dazu und zum Folgenden: Steedman, Everyday Life [2013], S. 112–116. Grobheit, Direktheit und Aggressivität der männlichen Sexualität wurden seit der Frühen Neuzeit immer wieder thematisiert. Ebenso langlebig scheint die Neigung von Männern zu sein, ihr Verhalten mittels launiger Bemerkungen als harmlosen Spaß herunterzuspielen (vgl. Schindler, Norbert: „Heiratsmüdigkeit“ und Ehezwang. Zur populären Rügesitte des Pflug- und Blochziehens, in: ders., Widerspenstige Leute. Studien zur Volkskultur in der Frühen Neuzeit, Frankfurt/M. 1992, S. 175–214, hier: S. 183f.). Ulrike Gleixner, Mensch [1994], S. 92f., zeigt für das achtzehnte Jahrhundert zudem, dass Überredung und Versprechen „Bestandteil dieses gewaltsamen Drängens“ waren und „in ein Muster männlicher sexueller Gewalt“, gehörten, „in dem Opfer und Täter sich kannten“. Gleixner betont zudem, dass „eher arme als besitzende unverheiratete Töchter mit Gewaltsamkeiten ‚umworben‘ wurden. Der ökonomische Status eines Haushalts scheint über die körperliche Integrität seiner Töchter mitbestimmt zu haben“. Dass eine Magd sich der Zudringlichkeit eines Polizeidieners zu erwehren hatte, war also wahrscheinlicher, als dass es der Tochter eines Distriktvorstehers so ging. Möglicherweise hatte das auch damit zu tun, dass der Vetter der Magd sich nicht weiter zu kümmern schien, während der Distriktvorsteher – aus welchem Grund, das sei dahingestellt – eine Untersuchung initiierte.
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Das männliche Drängen, das Schneider ganz sicher nicht als einziger Zeitgenosse an den Tag legte, konnte im Kontext des frühen neunzehnten Jahrhunderts sowohl der Lächerlichkeit preisgegeben als auch als psychologisches Motiv eines bestimmten (Fehl-)Verhaltens identifiziert werden. Auf dieser Linie liegt auch die Verharmlosung versuchter Unzucht als Spaß. Der Topos hatte für Schneider aber offensichtlich eine andere Funktion als für die Magd. Der Vorfall wirft so Licht auf die sich überlagernden Praktiken hegemonial-männlichen Spaßes und einer aus männlicher Perspektive alltäglichen und unproblematischen Sexualisierung des Umgangs mit jungen Mädchen. Die männliche Kultur der Polizeimannschaften tendierte dazu, Frauen als unterlegen und untergeordnet zu behandeln. Unter diesen Voraussetzungen bildeten sich Regularien für den polizeidienerlichen Umgang mit Frauen heraus, die relativ strikt waren und den Kontakt zu minimieren suchten, sah man doch, welchen Einfluss das Verhalten gegenüber Frauen auf das öffentliche Ansehen hatte. Es war dieser Umstand, den Schneider als Ungerechtigkeit empfand. Er beklagte, Teile der Öffentlichkeit maßen mit zweierlei Maß und nutzten jede Gelegenheit, um einem Polizeidiener das Leben schwer zu machen: Von jedem anderen Mann würde man um eine solche geringe und unbedeutende Sache gar nicht reden, weil es sich der Mühe nicht lohnt, allein der Pol.-Soldat der seine Schuldigkeit thut, hat nur Feinde und sucht ein ieder [aus Verdruß] alles hervor […]. Dieses ist auch der Grund, weshalb hiervon so viel Aufhebens gemacht wird.
Der Magistrat ermahnte Schneider zu einem sittlichen Lebenswandel und setzte den Distriktvorsteher davon in Kenntnis, „daß nach der eigenen Erzählung des Gutmann die Sache sich nicht so schlimm verhält, als es den Anschein hatte“. Die Wöhrder Gemeindebevollmächtigten sahen sich daraufhin zu einer Stellungnahme veranlasst, die ihr Versetzungsansinnen mit dem irreparablen Ansehensverlust des Polizeidieners begründete. Schneider war ihrer Einschätzung nach ein sehr tauglicher Polizeidiener, umso mehr fiele auf, wie nachteilig er sich in besagter Sache verhalten habe. Auch angenommen, daß Schneider eine wirkliche Absicht auf die 17jährige Tochter nicht gehabt haben mag, […]; so ist doch der ganze Vorfall hier in der Vorstadt ausgebreitet, daß die Töchter vor der Sonntagsschule zu Hause davon sprechen, und junge Leute in den Wirthshäusern ein auf diesen Vorfall gefertigtes Liedchen auf den Schneider singen, so wie er sich als Polizeisoldat zeigt. Schuldlos ist Schneider bei dem Vorfall nicht, dies ist erwiesen, und eben dadurch hat seine Achtung dahier gegen ihn dermaßen abgenommen. […] Ob nicht in Zukunft weiteres unangenehmes Lachen aus diesem Vorfall entstehen könne, ist nicht vorauszusehen.
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Für die Gemeindebevollmächtigten war Schneider „durch diese Handlung“ zum „Gegenstand des öffentlichen Spotts“ geworden. Sein Fehlverhalten wäre „zu ganz Wöhrd bekannt, so daß die Kinder auf der Gasse darüber reden“. Das Verhalten gegenüber dem Mädchen, „das besonders unter der Jugend so bekannt geworden ist“, habe „ihm alle Achtung benommen“. Diese Argumentation und die darin beschriebenen alltäglichen Vorgänge in einer Vorstadt verweisen auf eine eingespielte Strategie, die für viele ähnliche Fälle sexueller Übergriffe im neunzehnten Jahrhundert überliefert ist: Gemeindemitglieder waren zwar nicht immer zu einer Anzeige bereit, aber zu informellen Sanktionen. Vor allem baute sich oft eine Welle herabwürdigender ‚Titulierungen‘ auf, die die Reputation der fraglichen Person erodieren ließ.18 Deutlich wird dabei die strategische Position der Jugend: als Objekt besonderer polizeilicher Aufmerksamkeit wie auch als Akteur im Spiel vorstädtischer Provokationen. Traditionell wurde unter männlichen Jugendlichen „auf der Straße darüber geredet und gewacht, welcher Mann welche Frau besuchte“.19 Dieses Wissen, das zeigt der Fall Schneider, konnte in Spottliedern gipfeln. Die Jugend begriff also, dass im Umgang mit Polizeidienern – weil deren intakte Reputation ein entscheidender polizeilicher Aktivposten war – Verleumdung, Rufmord und üble Nachrede eine recht effektive Waffe der Schwachen sein konnten. Polizeiautoren wussten das natürlich auch: [Solange] die Jugend durch die Langeweile zum Herumschwärmen aufgefordert wird, muß unser Volk, oder vielmehr der Pöbel desselben, bei jeder Gelegenheit zu jedem Unfuge bereit seyn. […] Fabrikstädte und andere industriöse Örter haben wenig oder gar keinen müßigen Pöbel, folglich ihre Polizei keinen unnützen und sittenlosen Zuschauer bei ihren Verwaltungsgeschäften in Ordnung zu halten […]. In arbeitsamen Örtern, wo jung und alt zweckmäßig beschäftigt wird, sind Marktplätze und Straßen menschenleer, und an solchen geht alles mit Ruhe und Ordnung zu.20
Der Magistrat blieb dabei, Schneider wegen der „vorgefallenen Unbesonnenheit“ lediglich einen Verweis auszusprechen und „ein streng sittliches Benehmen zu emp18 Vgl. Hommen, Sittlichkeitsverbrechen [1999], S. 178–181. 19 Gleixner, Mensch [1994], S. 183. 20 Meinert, Soldat [1807], S. 97. Die Nürnberger Vorstadt Wöhrd, traditioneller Standort des Müller- und Färbergewerbes und seit dem sechzehnten Jahrhundert für Nürnberg bedeutender Handwerkerort, wurde 1818 eingemeindet. 1809 entstand eine Tuchmanufaktur, 1820 die erste Tuchfabrik, 1841 die Cramer-Klettsche Maschinenfabrik (vgl. Art. Wöhrd, in: Stadtlexikon Nürnberg, herausgegeben von Michael Diefenbacher und Rudolf Endres. Online-Version vom 1.3.2017). Man kann davon ausgehen, dass Wöhrd mit seinen knapp 2000 Einwohnern Mitte der 1820er Jahre einer jener industriösen Orte war, in dem es eigentlich weder gelangweilt herumschwärmende Jugend noch müßigen Pöbel hätte geben dürfen. Eigentlich.
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fehlen“. Eine Versetzung hielt man für eine „mit dem Vergehen nicht im Verhältnis stehende harte Strafe“, die vor allem deshalb „nicht anwendbar“ sein sollte, weil Schneider „in seinem Dienst allenthalben das beste Zeugnis zur Seite steht“. „Ein Vergehen der Art, welches nicht aus dem Dienstverhältnis, sondern aus menschlicher Schwäche entsprang“, so gestand der Magistrat zu, könnte natürlich das Ansehen eines Polizeidieners so sehr schädigen, dass eine Dienstausübung nicht mehr möglich ist. Wäre das in Wöhrd der Fall, so müsste man Schneider ganz vom Dienst entbinden. Das wiederum fordere niemand. Dass Schneider völlig die Achtung verloren oder auch nur ein einziger Einwohner Wöhrds etwas gegen ihn unternommen hätte, sei „übrigens von allen Beweisen entblößt“. Freilich, auch die Einschätzung seitens der Vorstädter blieb stabil, wenn auch gegenteilig. In einer Beschwerde bei der Kreisregierung berichteten sie, Polizeidiener Schneider „scheute sich nicht ein kaum 16jähriges Mädchen zur Abendzeit auf öffentlicher Straße zu verspaßen, es anzusprechen und zum Opfer seiner Begierde machen zu wollen, und nur mit Noth entging sie seiner gewaltsamen Zudringlichkeit“. Eine solche „öffentliche Unsittlichkeit“ sei „doppelt strafbar“, wenn ein Polizeidiener sie begehe, „dessen Bestimmung es ist, für die öffentliche Ordnung zu wachen, und die Sicherheit der Person, der Ehre und des Eigenthums zu handhaben“. Einerseits wird hier erneut in eigentümlicher Ambivalenz die männliche Begierde als etwas angesprochen, das ein Mädchen zum Opfer macht, gleichzeitig aber als Verspaßen kodiert werden kann. Andererseits werden die in sittlicher Hinsicht besonderen Anforderungen an Charakter und Verhalten eines Polizeidieners unterstrichen. Schneider musste lernen und anerkennen, dass es für einen Polizeidiener nicht anging, sich wie jeder andere Mann aufzuführen. Was Schneider selbst als Ungerechtigkeit empfand und der Magistrat menschliche Schwäche nannte, war aus Sicht der Gemeindebevollmächtigten ein eklatanter Bruch jenes Nexus aus väterlicher Sorge, obrigkeitlicher Autorität und Sittlichkeit, in dessen Dienst sowohl Gemeindebevollmächtigte und Distriktvorsteher als auch Magistrat und Polizeidiener standen. Ein Teil des Eifers und der moralischen Empörung rührte daher, dass Polizeidiener Schneider den ihm eigentlich qua Amt angestammten Platz in der Kette (quasi-)väterlicher Autoritäten verlassen hatte. Schneider war aus jenem Kontinuum ausgeschert, das mehrere Personen und Verhaltensweisen miteinander verband: angefangen mit einem Hausvater, der eine junge Verwandte wegen ihres leichtsinniges Betragens zur Rede stellte und sich um die Ehre des Mädchens besorgt gab (diese Sorge zeigte sich freilich in der Bestrafung der Nichte; nicht darin, dass der Polizeidiener zur Rede gestellt worden wäre), bis hin zu Gemeindebevollmächtigten, die sich um die Töchter in der Sonntagsschule, die Kinder auf der Gasse und die jungen Leute in den Wirtshäusern sorgten.21 21 Es gehört zu den Ironien der Geschichte, dass sich gar nicht lange nach dem Fall Schneider in der frühen Arbeiterbewegung ein ähnliches Modell etablierte: ein „ritterliches Stellvertretungsargu-
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In einem letzten Anlauf zur Verhinderung der Versetzung Schneiders verwies der Magistrat auf ein verdecktes Motiv der Gemeindebevollmächtigten, sähen diese doch nun endlich eine günstige Gelegenheit gekommen, den dritten stationierten Polizeidiener und damit Kosten einzusparen. (Tatsächlich hatten sie dieses Anliegen einzuschmuggeln versucht. Ein neuer Polizeisoldat, das ließen die Gemeindebevollmächtigten beiläufig in ein früheres Schreiben einfließen, müsste nach einer Versetzung Schneiders nicht eingestellt werden, weil man gern einen Gemeindediener für den Polizeidienst verwenden würde.) Die Kreisregierung ließ sich darauf nicht mehr ein. Sie verfügte eine Versetzung und ordnete die Stationierung eines anderen Polizeidieners an Schneiders Stelle an.
9.2 Wirtshausgesellschaft: zwei Polizeidiener und der „gemeine Pöbel“ Bei Vorkommnissen, die in Zusammenhang mit polizeidienerlichem Alkoholkonsum standen, handelte es sich um eine fast normale Angelegenheit. Leichte Trunkenheit im Dienst wurde regelmäßig nachsichtig (mit einer kleinen Geldstrafe oder einem je nach Schwere sechsstündigen bis zweitägigen Arrest) bestraft. Erst im wiederholten Wiederholungsfall oder in Verbindung mit anderen Auffälligkeiten wurde das zu einem ernsten Vergehen.22 Trunkenheit im Dienst resultierte etwa bei Polizeidiener Kaspar Kreis 1820 in rohem Betragen, galt Kreis auch so schon als „doch etwas vorlaut“. Trunkenheit und „unbescheidenes Benehmen“ gingen im gleichen Jahr auch bei Joseph Schmidt Hand in Hand. In beiden Fällen waren die Probleme mit einem Wirtshausaufenthalt verbunden; nicht nur in diesen Fällen. Polizeidiener Franz Egidius Lex zeigte 1844 vorlautes Benehmen und nicht zum Dienst gehörige Aussagen, erging sich bei anderer Gelegenheit in Beschimpfung eines Wirts, zechte im Wirtshaus während seiner Nachtpatrouille und ließ sich zu „ungeeignetem Benehmen“ gegen einen Gast hinreißen. Jacob Heinert erhielt 1845 einen Verweis „wegen Zechens über die Polizeistunde mit Polizeysoldat Meißner“, Johann Michael Schille einen eintägigen Arrest „wegen eigenmächtiger Verlängerung der Polizeystunde in der Weissen Lilie“. Was sich Polizeidiener Hannsmann zu Schulden kommen ließ, darüber mag man spekulieren: 1838 wurde er (nicht zum ersten Mal) mit dreitägigem ment, das den Männern die Aufgabe zuwies, durch mutiges öffentliches Engagement Frauen die Möglichkeit der politischen Bildung zu erkämpfen“ (vgl. Welskopp, Thomas: Das Banner der Brüderlichkeit. Die deutsche Sozialdemokratie vom Vormärz bis zum Sozialistengesetz, Bonn 2000, S. 603–607). 22 Dazu allgemein: Polizeimannschaft Regensburg: Mannschaftsbuch, 1851, StAReg, ZR I 10792– 94.
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Arrest wegen Trunkenheit und ungeeignetem Benehmen bestraft – und für den Wiederholungsfall mit Entlassung bedroht. Zudem schloss man ihn für ein Jahr vom Dienst bei Hochzeiten und Bällen aus. Auffällig regelmäßig spielten also das Wirtshaus und wirtshausähnliche Vergnügungen eine zentrale Rolle als Konfliktort. In der Wirtshausgesellschaft überlagerten sich soziale Beziehungen und Bindungen der Polizeidiener mit ihren Dienstaufgaben. Polizeidiener hatten im Wirtshaus sehr direkt und unmittelbar eine Balance zwischen Nähe und Distanz zu finden. Sie waren Gäste, und sie waren diejenigen, die Aufsicht und Kontrolle auszuüben hatten. Im Wirtshaus konnten die Grenzen zwischen Polizeidienern und Polizierten verschwimmen. Problematisch wurde die Anwesenheit von Polizeidienern insbesondere beim Nahen der Polizeistunde. Grundsätzlich war es natürlich auch Polizeidienern unter Androhung von Strafe untersagt, „nach dem Zapfenstreiche in einem Wirthshause zechend betrunken“ zu sitzen.23 Allerdings war der Übergang von erlaubtem Feierabendvergnügen und strafwürdigem Zechen fließend. Polizeidiener wussten natürlich, dass sie im Dienst kein Bier trinken durften, im Verlauf einer längeren Patrouille bekam man aber doch Durst und hoffte, solange es im Rahmen blieb, dafür Verständnis zu finden. Rottmeister Martin traf 1811 bei einem nächtlichen Kontrollgang auf Polizeidiener Deinhardt, der in seinem Auftrag unterwegs war. Deinhardt bat ihn, als ich im Begriff war meinen gehabten Durst am Brunnen zu stillen, […] kein Wasser zu trinken, er wüßte daß der Wirth Meyer die Erlaubnis habe, bis 1 Uhr Gäste haben zu dürfen, daselbst es sehr gutes Weizenbier giebt und wir im Vorbeigehen eine Maß mitnehmen könnten. […] An einem abgesonderten Tisch tranken wir daselbst 3 Maas Weizenbier, welche ich bezahlte, und gingen etwa 6 Minuten nach ½ 2 Uhr nach geschehener Aufforderung an die Gesellschaft, daß die Erlaubnis-Zeit abgelaufen sey und jetzt Feyerabend werden muß, unseres Weges auf das Bureau zu. […] [D]aß ich und Deinhardt bis 2 Uhr bei ihm geblieben sind, ist eben so falsch, als es eine offenbare Unwahrheit ist, wenn derselbe behauptet, daß ich auf Bitten der Gesellschaft Nachsicht gestattete, denn wenn ich nachts bis 2 Uhr im Wirthshaus geseßen wäre, hätte ich nicht von dort aus auf das Pol. bureau kommen und mit dem Schlag 2 Uhr wieder in der Wache seyn und die Posten [einteilen] können, welches doch bewiesen ist, und zweitens hatte ja die Gesellschaft es nicht nötig um Nachsicht zu bitten, so lange ich selbst unter derselben mich aufhielt.24
Die Vorwürfe zweier Kollegen – er sollte angeblich bis zwei Uhr nicht nur Bier, sondern auch Branntwein getrunken haben und „im größten Rausch“ auf der Wache erschienen sein – hielt Martin für einen Racheakt, hatte er die beiden doch vor eini23 Polizeidirektion Nürnberg: Bekanntmachung Polizeistunde, 4.2.1811, StAN, C2, 56. 24 Überschreitung Polizeistunde Rottmeister Martin, 3.8.1811, StAN, C2, 56.
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ger Zeit wegen Dienstvernachlässigung angezeigt. Martin dachte gegenüber dem Magistrat offen darüber nach, ob die Aussagen der beiden Kollegen nicht gar den Tatbestand der mutwilligen Verletzung der Ehre eines Vorgesetzten erfüllten. Die Aussage des Rottmeisters wie auch die erhobenen Vorwürfe und Beschuldigungen zeigen die flexible Handhabung der konkreten Uhrzeit des Zechens und damit auch des Zeitpunkts des definitiven Eintretens der Polizeistunde an (bis 1 Uhr; etwa 6 Minuten nach ½ 2 Uhr; bis 2 Uhr) – und den Rollenwechsel der Polizeidiener. Man kann nur darüber spekulieren, wie die polizeidienerliche Praxis, zu bereits fraglicher Stunde ein Bier zu trinken, und dann just in dem Moment, als man selbst ausgetrunken hatte, verkündete, dass die Erlaubnis-Zeit abgelaufen sey, auf die anderen Gäste und den Wirt wirkte. Zumindest wird deutlich, dass hier Verhandlungsspielräume und Grauzonen offenkundig nicht nur geduldet, sondern als Normalität betrachtet und gehandhabt wurden. Unter derartigen Voraussetzungen überraschen die wiederkehrenden, scheinbar allgegenwärtigen Verstimmungen im Zusammenhang mit der Einhaltung der Polizeistunde durchaus nicht. Es handelte sich um ein allnächtliches Ritual, an dem alle Beteiligten im Regelfall mehr oder weniger desinteressiert teilgenommen haben dürften, das wahrscheinlich aber auch ein gewisses Maß ritualisierter, wechselseitiger Herausforderung und inszenierten, allerdings niederschwelligen Widerspruchs einschloss. Laut verschiedener Regularien galt es zwar als legitim und polizeilich geboten, Gasthäusern besondere Aufmerksamkeit zu widmen, allerdings hieß es auch, die Polizei müsse „dem friedlichen und rechtlichen Bürger den Genuß seines erlaubten Vergnügens“ sichern. Sie würde aber eben deswegen ihren Endzweck verfehlen, und statt einer wohlthätigen Schützerin der Freiheit, und des geregelten Vergnügens eine drückende Last, und die Störerin aller Freuden und aller Geselligkeit werden, wenn sie kleinliche inquisitorische Controlle oder Spähe ausüben, jeden lebhafteren Ausdruck der Freude unterdrücken, den Reden und Äußerungen Einzelner oder der ganzen Gesellschaft nachspüren, und jeden kleinen Vorfall zur Rüge ziehen wollte.25
25 Barth, Handbuch [1821], S. 503. Ein wesentliches Charakteristikum derartiger Bestimmungen, mit denen Polizeidiener im Alltag umzugehen hatten, bestand in der konstanten Überhöhung jeder noch so unspektakulären sicherheitspolizeilichen Alltagsroutine mit einer wohlfahrtspolizeilich grundierten Gemeinwohlrhetorik. Die Polizeistunde „hat nicht nur den Zwecke, die Polizei-Aufsicht zu erleichtern, und die Excesse zu verhüten, die durch übermäßiges, in die späte Nacht fortgesetztes, Zechen entstehen könnten; sondern verbindet damit auch noch die weitere wohlthätige Absicht, daß die Bürger nicht die ganze Nacht hindurch schwelgen, und ihr Vermögen vergeuden, dann daß sie, indem sie sich zu gehöriger Zeit zur Ruhe begeben, des anderen Tages ihren Arbeiten wieder, wie es sich gebührt, obzuliegen vermögen“ (ebd., S. 506).
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Ob und inwieweit friedliche und rechtliche Bürger lediglich ihr erlaubtes Vergnügen genossen, die Polizeidiener kleinliche inquisitorische Controlle oder Spähe ausübten und zur drückenden Last und Störerin aller Freuden und aller Geselligkeit wurden (erinnert sei an den bereits diskutierten Topos der Pedanterie der Polizei) oder ein Exzess vorlag, der die Ruhe und Ordnung wirklich störte – das war die offene Frage, als die Nürnberger Polizeidiener Weber und Probst mitten im Sommer 1826 den Wirt Kohlenberger wegen Überschreitung der Sperrstunde anzeigten.26 Kohlenberger betrieb ein Wirtshaus in Glockenhof, einem Ortsteil der Nürnberger Südstadt, der seit 1808 zur Gemeinde Gleißhammer und seit 1825 zu jenem Teil Gleißhammers gehörte, der von Nürnberg eingemeindet worden war. Es handelte sich um einen der frühen Industrialisierungskerne Nürnbergs, wurde doch bereits 1826 die erste Fabrik für Strumpfwaren und Strickgarne eingerichtet. Dennoch galt weiterhin patrimonialgerichtliche Zuständigkeit.27 Und so war es auch das Patrimonialgericht Glockenhof, das die Sache ins Rollen brachte. Es war das Patrimonialgericht, das den Wirt vernahm und weitere Schritte initiierte. Zur Sache befragt, sagte Kohlenberger aus, die Vorwürfe träfen nicht zu, indem der Lärm und das Geschrei und Singen nicht so war wie angegeben; und [ich] habe die Leute zur Kasse verwiesen, aber nicht in dem in der Anzeige angegebenen höhnischen Tone und ich als Wirth kann den Gästen nicht auferlegen, daß sie meine Befehle befolgen sollen.28 26 Dazu und zum Folgenden: Untersuchung gegen die Polizei-Soldaten Weber und Probst wegen dienstwidrigen Benehmens bei dem Wirth Kohlenberger, 1826, StAN, C6, 183. Alle folgenden Zitate sind, soweit nicht anders angegeben, dieser Akte entnommen. 27 Vgl. Art. Glockenhof, in: Stadtlexikon Nürnberg, herausgegeben von Michael Diefenbacher und Rudolf Endres. Online-Version vom 1.3.2017. Zur Patrimonialgerichtsbarkeit bereits zeitgenössisch: Hellersberg, Karl Heller Reichsedeln von: Beiträge zur neuern Geschichte der Patrimonialgerichtsbarkeit in Baiern, München 1802; sowie: Wienfort, Monika: Patrimonialgerichte in Preußen. Ländliche Gesellschaft und bürgerliches Recht 1770–1848/49, Göttingen 2001. 28 Angesprochen werden hier Aufgaben, Verantwortung und Handlungsmöglichkeiten des Wirts beim Nahen der Polizeistunde. Detaillierte Verfahrensvorgaben gab es in den 1820er Jahren nicht. Jedenfalls taucht Derartiges in Handbüchern und Polizeiwissenschaftslehren der Zeit nicht auf. Allerdings gab es wohl eine mehr oder weniger eingespielte Routine. Was in spätere Lehrbücher aufgenommen wurde, scheint eine Kodifizierung dieser älteren Praxis gewesen zu sein. Ludwig Bartels‘ Polizeilehrbuch bietet als eines der späteren Beispiele eine anschauliche Beschreibung der Situation: „Der Wirt ist dafür verantwortlich, daß die Gäste bei Eintritt der Polizeistunde die Schankräume verlassen; er hat sie daher in ernster Form auf den Eintritt der Polizeistunde hinzuweisen und diesem Hinweis durch Zusammenstellen der Stühle, Auslöschen eines Teils der Beleuchtung usw. Nachdruck zu verleihen. Der Polizeibeamte, der feststellt, daß eine Überschreitung der Polizeistunde vorliegt, wird sich daher in erster Linie an den Wirt wenden, ihn auf die von ihm begangene Übertretung hinweisen und ihn auffordern, unverzüglich das Versäumte nachzuholen und die Gäste zu entfernen; nur für den Fall, daß der Wirt sich weigern sollte, wird er die Aufforde-
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Soweit war die Aussage des Wirts unspektakulär. Was nun folgte, hatte dagegen Sprengkraft. Kohlenberger erläuterte nämlich die Gründe seines Verhaltens und legte dar, in welcher Beziehung er zu den Polizeidienern stand. Genau hieran hatte das Patrimonialgericht seine Intervention überhaupt erst festgemacht. Man berichtete dem Nürnberger Magistrat, dass man Kohlenberger wegen einigen seiner Gäste zulasten gelegten „unanständigen und den polizeylichen Verordnungen zu wider laufenden Betragens“ vernommen hatte. Dabei trat zutage, „daß die Polizeysoldaten Weber und Probst mit anderen Personen über die gesetzliche Polizeystunde bei ihm geblieben, gekartelt und gesungen haben“. Die daraufhin angeordneten Vernehmungen kreisten um die soziale Einbettung der beiden Polizeidiener in die Wirtshausgesellschaft, ihr Verhalten als Stammgäste, ihre Beziehungen zum Wirt sowie ihren Rollenwechsel angesichts der nahenden Sperrstunde, die den polizeidienerlichen Blick auf die Wirtshausgesellschaft schlagartig verschob. Erstens bemerkte der Wirt, die beiden Polizeidiener „dürfen gar nichts sagen, sie sind selbst schon bis um 12 Uhr bei mir gewesen und Herr v. Grundherr und sein Verwalter sind öfters als einmal bis 1 und 2 Uhr bei mir sitzen geblieben“. Polizeidiener Probst – die Aussage seines Kollegen war in allen Punkten nahezu identisch – gestand danach gefragt ein, dass sie vor drei Wochen in ihrer Montur in Kohlenbergers Wirtshaus waren. Sie hatten keinen Dienst, und da ihnen verraten worden war, dass andere Gäste dort bis zwölf Uhr kartelten, wollten sie herausfinden, ob das der Fall wäre.29 „Daß ich gesungen habe“, so Probst, „gestehe ich zu, aber nur kurze Zeit.“ Zudem habe der anwesende Forstkontrolleur Herr von Grundherr gegenüber Polizeidiener Weber geäußert: „Wenn ordentliche Leute im Wirthshaus wären, hätte er nichts zu sagen, wenn es auch ½ Stunde länger dauere, nur müsse es ordentlich zuge-
rung an die Gäste selbst richten. Hierbei sind alle kleinlichen Maßregeln unbedingt zu vermeiden“ (Bartels, Polizeilehrbuch [1913], S. 120). „Erst wenn die Gäste der Aufforderung des Wirts zum Verlassen des Lokals keine Folge leisten“, so Gaißert, Leitfaden [1909], S. 37, „oder wenn dieselben ruhestörenden Lärm verüben […], hat der P.-Beamte gegen diese mit Aufforderung zum Verlassen des Schanklokals, im Weigerungsfalle Abführung nach der Wache, einzuschreiten und Anzeige zu erstatten. Weigert sich der Wirt, die Gäste zum Verlassen der Schankstube aufzufordern, und der Aufforderung ernstlichen Nachdruck zu geben, so ist gegen denselben Anzeige zu erstatten, und die Räumung der Schankstube zu erzwingen.“ 29 Über die Glaubwürdigkeit dieser feierabendlichen Ermittlungsinitiative lässt sich bestenfalls spekulieren. Dass sich Polizeidiener in und außer Dienst in Uniform in einem Wirtshaus zeigten, war im ersten Jahrhundertdrittel aber keine Seltenheit und weniger reguliert als Ende des Jahrhunderts. „Muß der Beamte im Helm mit dienstlichem Interesse eine Wirtschaft betreten“, so hieß es in einer späteren Bestimmung, „so hat er sich nur so lange in derselben aufzuhalten, als unbedingt zur Erledigung nötig ist; er darf aber keinerlei Erfrischungen zu sich nehmen“ (Geyger, Polizeidienst [1909], S. 289). Als Probst und Weber gute achtzig Jahre vor dieser Bestimmung im Gasthaus Kohlenberger eintraten, spielten derart feingliedrige Regelungen keine Rolle.
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hen. Dies war nun der Fall.“ Daher glaubten sie, es ginge in Ordnung, bis zwölf Uhr zu verweilen. Bis halb zwei blieben sie nicht. Zweitens problematisierte der Wirt in seiner Aussage das konkrete Verhalten der beiden Polizeidiener beim Heranrücken der Sperrstunde. Als es elf Uhr schlug, so Kohlenberger, wies er die Anwesenden darauf hin und wollte schließen. Die beiden Polizeidiener bedeuteten ihm aber bei Gesang, es ginge in Ordnung, wenn er länger geöffnet ließe, schließlich habe er die Polizei schon im Haus, und sie nähmen es auf sich, falls etwas käme. Die Polizeidiener glaubten offenkundig, so der Wirt, ihnen wäre die Übertretung der Polizeistunde erlaubt. Andere Gäste setzen sich daraufhin wieder und bemerkten: „[W]arum dürfen die Polizeysoldaten so lange singen, während wir von der Polizeystunde [an] ruhig seyn müssen?“ Das wiederum provozierte Polizeisoldat Weber zu dem Ausdruck: „‚Der gemeine Pöbel sey wieder so ausgelassen‘, worauf die Gäste worunter auch Handwerksleute und Bürgersleute waren, äußerten: ‚daß er als Polizeysoldat sich solche Ausdrücke auch nicht erlauben dürfte‘.“ Ein später vom Patrimonialgericht befragter Tabakarbeiter namens Michael Eickel gab an, in Gesellschaft des Tagelöhners Eibich, des beurlaubten Soldaten Hoheneder und der beiden Polizeisoldaten im Wirtshaus gesessen zu haben – und unterstützte in allen weiteren Punkten die Aussage des Wirts.30 Beide Polizeidiener bestritten sowohl die Bemerkung über die Gültigkeit der Polizeistunde als auch die Bezeichnung der Anwesenden als gemeiner Pöbel. Außerdem wären der Wirt und der befragte Zeuge derart betrunken gewesen, dass sie selbst nicht mehr gewusst hätten, wie spät es war, als sie gingen. Drittens brachte der Wirt noch einen gänzlich anders gelagerten Zusammenhang ins Spiel. Kohlenberger wehrte sich nämlich mit einem Argument, das sein eigentlich gutes Verhältnis, vor allem zu einem der beiden Polizeidiener, herausstellte: „Auch begreife ich nicht, warum Weber gegen mich so gehässig ist, indem ich ihn doch mit Geld noch und noch unterstützt habe und ich an solchen [für] die Kost, die er bei mir hatte 30fl 20x zu fordern habe.“ Diesen Punkt bestätigte Weber. Es stimme wohl, dass er dem Wirt ungefähr dreißig Gulden schulde, allerdings habe Kohlenberger die Leihe selbst angeboten. Weber erklärte sich bereit, die Schulden bis kommenden Monat, auf Wunsch aber auch schon eher, zu begleichen. Genau solche Situationen waren es, die Polizeibehörden vermeiden wollten, wenn sie, davon war bereits die Rede, die Kreditlosigkeit von Polizeidienern durchzusetzen suchten.
30 Diese Schilderung wurde in der später nachgereichten Aussage des zu diesem Zeitpunkt beurlaubten Soldaten Hoheneder genauso bestätigt: Der Wirt habe die Runde elf Uhr aufgefordert, Schluss zu machen und zu gehen. Polizeidiener Weber habe gesagt, eine Überschreitung der Sperrstunde gehe diesmal in Ordnung. Kohlenberger erklärte sich einverstanden, unter der Bedingung, dass Weber die Verantwortung übernähme. Weber sagte das zu.
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In Abwägung aller Aussagen sah der Magistrat die beiden Polizeidiener als überführt an. Die Angelegenheit endete mit einem zweitägigen Arrest für Weber und Probst. Verlauf und Ausgang des Falls dokumentieren das Scheitern zweier Polizeidiener, die rechte Balance von Nähe und Distanz zu wahren. Die Sperrstunde scheint dabei nicht nur als Fanal eines Rollenwechsels fungiert, sondern zugleich eine zeitweise egalitäre Trink-, Karten- und Gesangsrunde grundlegend verändert zu haben. Sperrstunde und Zusammensetzung der Wirtshausgesellschaft schufen im konkreten Fall eine Situation, in der eine Fortsetzung des Beisammenseins von Zustimmung und Erlaubnis der Polizeidiener abhing. Deren Position war ambivalent: Inmitten des Geschehens konnte die ihnen nun zugefallene Autorität zu einem gesteigerten Selbstwertgefühl führen, mit der Folge, dass diejenigen, mit denen man gerade noch zusammen getrunken, gespielt und gesungen hatte, plötzlich als gemeiner Pöbel wahrgenommen wurden. Im Nachhinein fiel genau das auf die Polizeidiener zurück, denn von außen betrachtet machte ihr Verhalten bis dahin sie selbst zum Teil des gemeinen Pöbels. It’s the company you keep. Die in Glockenhof versammelte wirtshäusliche Runde aus Forstkontrolleur, Tabakarbeiter, Tagelöhner, Soldat, Polizeidienern usw. zeigt, dass es sich nicht um ein ‚besseres Lokal‘ im Sinne eines Refugiums der ‚besseren Gesellschaft‘ handelte. Für solche Lokale empfahlen spätere Polizeilehrbücher, „daß der Beamte nicht im Lokal verbleibt, bis die Gäste es verlassen haben, weil sie dadurch sehr leicht veranlaßt werden könnten, absichtlich langsam der Aufforderung sich zu entfernen nachzukommen“.31 Die soziale Zusammensetzung der Gäste wirkte sich aber auch im Glockenhofer Fall auf die polizeidienerlichen Interpretations- und Handlungsspielräume aus. Die selbstverständliche und offenbar regelmäßige Anwesenheit des Forstkontrolleurs von Grundherr verbürgte, dass die Anwesenden als ordentliche Leute gelten konnten. (Bei der Familie Grundherr von Altenthann und Weiherhaus handelte es sich um eine alteingesessene Nürnberger Patrizierfamilie, die in Glockenhof die Patrimonialgerichtsbarkeit ausübte.32) In Glockenhof zeigte sich 1826 noch keine harte Differenzierung der Lokale. Kohlenbergers Wirtshaus bewahrte das klassische gemischte Sozialprofil. Natürlich war Glockenhof selbst keine größere Stadt mit entsprechender gewerblicher Vielfalt, doch kamen auch in dem kleinen Nürnberger Vorort Leute aus verschiedenen Gewerben zusammen; und auch hier 31 Bartels, Polizeilehrbuch [1913], S. 120. 32 Vgl. Art. Grundherr von Altenthann und Weiherhaus, in: Stadtlexikon Nürnberg, herausgegeben von Michael Diefenbacher und Rudolf Endres. Online-Version vom 1.3.2017. Zudem war ein Angehöriger der Familie, Karl Gottfried von Grundherr, seit 1809 über lange Jahre als Offiziant erster Klasse in der Nürnberger Polizeidirektion beschäftigt (vgl. Hirschmann, Wurm [1958], S. 283f.; sowie Polizeidirektion Nürnberg, an Regierung von Mittelfranken, 14.2.1818, StAN, C2, 69).
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dürfte das Wirtshaus eine seiner zentralen Funktionen erfüllt haben: Es ermöglichte soziale Kontakte, „die nicht so eingegrenzt und hierarchisch abgestuft waren wie etwa die Beziehungen am Arbeitsplatz“.33 Die spontane Intervention des Forstkontrolleurs – er hatte nichts zu sagen, wenn es auch ½ Stunde länger dauere – zeigt darüber hinaus ein Abschmelzen der traditionellen, von den Unterschichten stets argwöhnisch beäugten „Zeit- und Nachtprivilegien der gehobenen Stände“.34 Unter diesen Voraussetzungen konnte ein Forstkontrolleur Punkte machen (und vielleicht seine Stellung festigen), indem er andere an seinen Privilegien teilhaben ließ und allen ein längeres Wirtshausvergnügen bescherte. All das geschah freilich auf Kosten zweier Polizeidiener, die sich in angetrunkener Stimmung als Teil dieser kleinen Gesellschaft der ordentlichen Leute wahrnahmen und darüber vergaßen, dass sie sich als Polizeidiener in einem Wirtshaus beim Nahen der Polizeistunde aus dieser Gesellschaft zu lösen hatten, um den polizeilichen Vorschriften gegenüber genau dieser Gruppe Geltung zu verschaffen. In einem solchen Umfeld, das mussten die Polizeidiener Weber und Probst lernen (wenn sie es nicht schon wussten und lediglich ignoriert hatten), wurde Pöbel zur Reizvokabel, deren Verwendung riskant war. Wesentliches Charakteristikum des älteren „Pöbelstands“, so Werner Conze in einem klassischen Aufsatz der Sozialgeschichte, war dessen Begrenzung „auf engem Lebensraum“; und genau diese Begrenzung löste sich im Übergang zum neunzehnten Jahrhundert auf. Hier stellten sich nicht mehr lediglich armutspolitische Herausforderungen, sondern zunehmend auch solche der Ordnung und Sicherheit der bürgerlichen Gesellschaft. Conze analysierte diesen Umbruch der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts in Begriffen einer konservativen Sorge und stellte fest: „In dieser Lage, in der die Armen ebenso aus den alten Schranken herausbrachen und ihre materiellen Ansprüche stellten wie die anderen Schichten des Volkes, war es folgenschwer, daß sie nicht mehr genügend 33 „Auf diese Weise“, so Roberts, James S.: Wirtshaus und Politik in der deutschen Arbeiterbewegung, in: Huck, Gerhard (Hg.), Sozialgeschichte der Freizeit. Untersuchungen zum Wandel der Alltagskultur in Deutschland, Wuppertal 1980, S. 123–139, Zitat: S. 126f., „ergab es sich, daß der Fabrikarbeiter und der Gemüsehändler, der Briefträger und der Metzgergeselle, der Kutscher und der Schiffszimmermann sich an einem Tisch gegenübersaßen und regelrecht gezwungen waren, ihre Interessen und Erwartungen, über die sie sich einig sein konnten oder auch nicht, miteinander zu erörtern.“ Roberts betont die Bedeutung dieses Umstands für die Bildung politischen Bewusstseins der Unterschichten. Diese Dimension steht im Fall der Polizeidiener Weber und Probst und des Glockenhofer Wirtshauses eher im Hintergrund. 34 So eine Formulierung von Schindler, Norbert: Nächtliche Ruhestörung. Zur Sozialgeschichte der Nacht in der frühen Neuzeit, in: ders., Widerspenstige Leute. Studien zur Volkskultur in der frühen Neuzeit, Frankfurt/M. 1992, S. 215–257, Zitat: S. 217. Schindler zitiert als Beleg einen wandernden Buchbindergesellen, der die Zustände in Leipzig um 1800 beschrieb: „Eine strenge Polizey wurde gehandhabt. Um zehn Uhr waren alle Schenken geschlossen, und die Straßen verödet, nur die Lokalitäten, wo die Notablen sich versammelten, waren billig von der Strenge ausgenommen.“
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umgriffen wurden, weder in zwingender noch in sorgender Umfassung.“35 Polizierung (Conzes zwingende Umfassung des Pöbelstands) war eines der Mittel, die angesichts dieser Situation in den ersten Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts entwickelt wurden, sozialpolitische Initiativen folgten später. Aus polizeidienerlichem Mund klang Pöbel nicht lediglich wie ein verbaler Ausrutscher angesichts eines vielleicht alkoholbedingt ruppigeren, ausgelasseneren und lauteren Beisammenseins. Der Ausdruck war gleichzeitig Beleidigung, Provokation und Drohung. Nicht nur rückte er die so Bezeichneten in die Nähe ‚armer Schlucker‘, sondern er näherte sie jenen Armen an, „die neben allem Besitz auch ihre Ehre, die eigene Subsistenz durch Arbeit zu sichern, Teil eines Standes zu sein, und überdies die Einsicht in das Vernünftige Ganze des organisch gegliederten Staates verloren haben“.36 Pöbel fungierte immer auch als Signalwort einer Konfrontation von Obrigkeit und unteren Schichten, das heißt vor allem: eines drohenden harschen Vorgehens der Vertreter der einen gegen die Angehörigen der anderen. Allerdings, so beklagte ein Polizeiautor Anfang des neunzehnten Jahrhunderts, mangelte es dabei mitunter an Unterstützung: Wird der müßige und sich häufende Pöbel bei irgend einer Gelegenheit nun noch von den bessern Volksklassen unterstützt, oder reden diese demselben das Wort, so ist es immer mit Schwierigkeiten verbunden, der Gerechtigkeit und Billigkeit genüge zu leisten, wenn ein Offizier oder ein Militärkommando überhaupt zu irgend einer Verhaftung einer oder mehrerer Civilpersonen gebraucht wird.37
Vielleicht war genau das im Glockenhofer Wirtshaus das Problem: Hatte nicht Forstkontrolleur von Grundherr – bevor das Ganze seinen Lauf nahm – den Polizei35 Conze, Werner: Vom „Pöbel“ zum „Proletariat“. Sozialgeschichtliche Voraussetzungen für den Sozialismus in Deutschland, in: Wehler, Hans-Ulrich (Hg.), Moderne deutsche Sozialgeschichte, Köln u. a. 1968, S. 111–136, hier: S. 115, 126f. Die für diese Epoche (und Theorietradition) konstitutive Spannung ergab sich aus der Notwendigkeit, einerseits „den Pöbel möglichst effizient in die kapitalistische Produktion einzubinden“, ihn andererseits „dem politischen System auch weiterhin fern[zu]halten“ (Blättler, Sidonia: Der Pöbel, die Frauen etc. Die Massen in der politischen Philosophie des 19. Jahrhunderts, Berlin 1995, S. 14). 36 Ruda, Pöbel [2011], S. 65. 37 Meinert, Soldat [1807], S. 97f. „Giebt die höhere Obrigkeit“, so schreibt Meinert, ebd., S. 95, „dem Pöbel auch nur in einigen Stücken nach, oder läßt ihn glimpflich behandeln, so baut er hierauf, als auf Schwächen, wiederholte Versuche seiner Ausschweifungen, und verlangt zuletzt das was Güte war, als vollkommenes ihm gebührendes Recht.“ Immer wieder wiesen Zivilbehörden die Polizei zu einem zu sanften und zu nachsichtigen Vorgehen an. „Diese sonst so löbliche Verfahrensart macht den schlechten Theil der Nation und den Pöbel nur noch dreuster und kühner und giebt sicher öfters statt einer Warnung, den Übelgesinnten eine Veranlassung, ungescheut und im Vertrauen auf eine gelinde Behandlung und die Hoffnung durchzukommen, gegen Gesetze und Verordnungen zu handeln, und so von kleinen Vergehungen zu Verbrechen vorwärts zu schreiten“ (ebd., S. 99).
Mit Ruhe und Besonnenheit – zwei Polizeiaktuare
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dienern bedeutet, er habe nichts dagegen, wenn es im Wirtshaus auch einmal eine halbe Stunde länger ging und dabei den potentiellen Pöbel als ordentliche Leute adressiert? War das nicht eine opportunistische Unterstützung des müßigen und sich häufenden Pöbels von einem Angehörigen der bessern Volksklassen?
9.3 Mit Ruhe und Besonnenheit – zwei Polizeiaktuare Mitte der 1820er Jahre kam es in Nürnberg zu einer Stellenrochade unter den Offizianten und Aktuaren der Polizeimannschaft. Offiziant Schenk bat um Beförderung auf die durch den Tod des Amtsinhabers frei gewordene Stelle als Aktuar. Zu seinen Gunsten führte er an, seine Vorgesetzten hätten ihn während seiner mehrjährigen Dienstzeit immer für gut befunden. Zudem sei es ihm über all die Jahre gelungen, „die Achtung und die Zufriedenheit des Publikums zu erwerben“.38 Ein Konkurrent um die zu besetzende Stelle hatte mit dem verstorbenen Aktuar vier Jahre im selben Büro gearbeitet und konnte sich dabei laut eigener Aussage Kenntnis von dessen Geschäften verschaffen. Ergänzend machte er geltend, dass ein Kollege im gleichen Dienstalter bereits befördert worden war. Auch der dritte Kandidat, der sich für die Stelle ins Spiel brachte, glaubte, gemäß dem Prinzip der „Ancieneeté“ ein „Avancement“ zu verdienen. Die „huldvolle Gewährung“ dieser Bitte, so schrieb er, würde er als „neuen Beweis der Gerechtigkeits- und Billigkeitsliebe“ des Magistrats dankbar aufgreifen. Der Magistrat erbrachte den erhofften Beweis. Caspar Molitor wurde Aktuar. Die kleine Geschichte um sein Dienstverhalten und dasjenige eines seiner Aktuarskollegen, die nun geschildert werden soll, gewährt einen Einblick in den Zusammenhang von Polizeidienst und Affektkontrolle. Letztere war es nämlich, die einen Polizeidiener gegenüber dem Publikum auszeichnen sollte. Gelassenheit, ruhiges Gemüt und ausgeglichenes Temperament machten den Polizeidiener aus. Einige Jahre nachdem der Magistrat ihm mittels Beförderung den Beweis der Gerechtigkeits- und Billigkeitsliebe erbracht hatte, bot Polizeiaktuar Molitor Anlass für Verstimmungen. Allerdings hatte er nicht seinen Magistrat verärgert, sondern das Appellationsgericht in Ansbach. Der Ärger entzündete sich an Molitors Umgang mit dem Publikum. So berichtete das Appellationsgericht am 6. März 1832 an die Kreisregierung, Molitor hätte zum wiederholten Mal jemanden verhaftet, ohne dass die Bedingungen für eine alleinige Polizeiverhaftung gegeben waren. Bei der Lektüre des Berichts kann man das Kopfschütteln des Gerichtsmitarbeiters förmlich mitlesen. Molitor habe auf Anzeige eines Diebstahls durch einen Schreinermeister bei einem Verdächtigten eine Hausdurchsuchung unternommen, zwei Personen verhaftet und über Nacht festgehalten. Nachdem man Ermittlungen in diese Richtung rasch aus38 Dazu und zum Folgenden: Besetzung Aktuarsstellen, 1825–1827, StAN, C6, 159.
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schloss, wurde der Arretierte vom Gericht „wegen Mangel irgend eines speziellen Verdachtsgrundes folglich freigelassen“. Ausgehend von diesem konkreten Vorkommnis ersuchte das Gericht die Kreisregierung, „das Publikum vor den Gewaltthätigkeiten des Magistrats durch empfindliche Person zu schützen, weil sonst der Rechtszustand gerade durch diejenige Behörde gefährdet wird, welche ihn beschützen sollte“.39 Die Kreisregierung informierte den Magistrat über die Angelegenheit und bekräftigte dabei die Feststellungen des Gerichts. Der Arretierte sowie seine Frau wären trotz der bestehenden gesetzlichen Regelungen „ungerecht aus ihrer Wohnung gerissen und eine ganze Nacht und einen halben Tag in einem Gefängnis gehalten worden“. In dem Schreiben finden sich zudem Verweise auf die rechtlichen Voraussetzungen, die bei Verhaftungen unbedingt zu beachten waren. Wenn der Beamte diese gesetzlichen Schranken willkürlich überschreitet, wo es ihm gut dünkt, dann kann es sich wohl fügen, daß auch ein Schuldiger leichter entdeckt werde, aber diese ungewisse Möglichkeit müssen alle übrigen Staatsbürger mit der Unsicherheit ihres Rechtszustands erkaufen, weil um einen Schuldigen durch rechtswidrige Mittel aufzufinden alle übrigen Unschuldigen willkürlicher Verhaftung ausgesetzt sind.
Polizeiaktuar Molitor gab zu seiner Rechtfertigung an, der Bestohlene habe den „dringendsten Verdacht“ gegenüber der verhafteten Person ausgesprochen. Nach dieser Aussage „konnte der Diebstahl durch niemand anderes […] begangen worden seyn“. Zudem handelte es sich bei dem Beschuldigten Häberlein um einen „übel berüchtigten“ Mann, über den ein entsprechendes Strafregister vorliege. Häberlein und seine Familie wären „durchaus die Leute nicht, die eine so zarte Sicherung verdienen“, wie sie Gesetzgeber und Gericht bei den Bestimmungen über „Verhaftungen und Verfügungen von Haussuchen im Sinne gehabt haben mögen“. Und gar so falsch lag er schließlich mit seinem Verdacht auch nicht. Im Haus fand man zwar kein Diebesgut, wohl aber entdeckte man, dass Häberlein eine nicht legitimierte Dirne beherbergte. Nach Prüfung der Sachlage verzichtete der Magistrat auf disziplinarische Schritte gegen Molitor; auch deshalb, weil man den Aktuar für einen der tüchtigsten, gewandtesten und geschätztesten Polizeidiener hielt. Molitors Verhalten und Vorgehen, soweit lässt sich das kleine Vorkommnis interpretieren, weisen auf die Spannung zweier Logiken hin: Gerichte gingen entlang der 39 Schriftwechsel, Befragungen und Aussagen zum dienstwidrigen Verhalten der Polizeiaktuare Molitor und Hüftlein finden sich in: Überschreitung der Grenze der Polizeigewalt, dann dienstliche Exzesse der Polizeibeamten, StAN, C7/I, 2720. Die Diskussion um das Verhalten der Aktuare zog sich durch den Zeitraum von 1832 bis 1836. Beteiligt waren, neben den Aktuaren selbst, das Appellationsgericht, der Magistrat und die Kreisregierung. Auf Einzelnachweise wird im Folgenden, sofern auf die fallspezifischen Dokumente in diesem Bestand Bezug genommen wird, verzichtet.
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Überzeugung der Allgemeingültigkeit des Rechts davon aus, dass die rechtlich geregelten Schutzmechanismen allen Bürgern unabhängig von ihrem Verhalten oder Leumund zustanden – und die Polizei sich darüber definierte, bestimmte Standards ohne Ansehen der Person einzuhalten. Polizeiaktuar Molitor und seine unmittelbaren Vorgesetzten gingen dagegen, so hat es den Anschein, davon aus, dass es in ihrem Ermessen lag, wer eine zarte Sicherung verdiente und wer nicht. Einerseits scheinen hier unterschiedliche Konzeptionen des Publikums durch (abstrakte, durch das Recht konstituierte Gesamtheit aller Bürger versus konkrete, in sich differenzierte und abgestufte Ansammlung besser oder schlechter beleumundeter Individuen), andererseits verschiedene Charakterisierungen polizeidienstwürdigen Benehmens (als Rechtsanspruch der Bürger auf eine bestimmte Behandlung beziehungsweise als situationsabhängige Wahl des jeweiligen Polizeidieners). Auch Molitors Kollege, Polizeiaktuar Hüftlein, geriet aufgrund seiner Amtsführung in die Kritik. Als ein Buchhändler, der 1835 die Abschrift eines Dokuments abholen wollte, im Nürnberger Polizeibüro ohne Behandlung der Sache weiterverwiesen wurde, erachtet er das als Schikane und beklagt sich. Darauf der Aktuar: „Sie sind ein Rabulist! Sie machen Umtrieb!“ Der Buchhändler quittiert das mit dem Vorwurf der Parteilichkeit. Dieser Vorwurf rekurrierte einerseits auf einen als verbindlich anerkannten Wert, war es doch unbestritten, dass ein Polizeidiener seine Pflicht ohne Parteilichkeit erfüllen [soll], nicht den ärmern und hülflosen Bürger ‚muthig‘ anpacken, dagegen reiche oder mächtige Übertreter des Gesetzes und ihre Schützlinge feig durchschlüpfen lassen. Ein Polizeiagent, der schrickt und um Verzeihung bittet, wenn er einen Contravenienten nach dem Namen fragt und erfährt, daß er einen Grafen oder einen Verwandten des Herrn Polizeidirectors oder Polizeiministers vor sich hat, sollte augenblicklich aus der Polizei entfernt werden.40
Andererseits aber war es für die Polizierten riskant, die Einhaltung dieser Leitlinie einzufordern und eine Nicht-Einhaltung zu kritisieren. Kaum war der Vorwurf der Parteilichkeit geäußert, wurde er vom Appellationsgericht evaluiert – mit dem Ergebnis, es handle sich im vorliegenden Fall nicht um legitime Kritik an der Amtsführung, sondern um eine Beleidigung des Amts. Es ging sehr schnell, und die Polizierten waren entwaffnet. Wollte der Angeschuldigte den Actuar Hüftlein perhorreszieren, so müßte er solches unter Anführung der Gründe hierfür bei dessen Vorgesetzten thun, allein die Vorwürfe einer Pflichtwidrigkeit jemandem machen, ohne damit die [Schritte] zu verbinden, sein Recht
40 Zimmermann, Polizei [1845–1849], S. 1119f.
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dadurch zu sichern, involviert offenbar die animum injuriandi, und zwar hier um so mehr als auch die Wahrheit der Vorwürfe nirgends ex actis [hervorgeht].
Vom Vorwurf der Parteilichkeit freigesprochen, blieb die Frage des allgemeinen Verhaltens Hüftleins gegenüber dem Buchhändler. Die Kreisregierung hielt es für angebracht, diesbezüglich zumindest eine Ermahnung auszusprechen. Natürlich, so gestand man nachsichtig und verständnisvoll zu, war Hüftlein vom Buchhändler provoziert worden. Aber dennoch: Gerade dann, wenn sein Gegenüber das nötige Benehmen vermissen lasse, bestehe für einen Polizeidiener, „umso mehr die Nothwendigkeit sich mit Ruhe und Besonnenheit“ zu verhalten und „sich keiner Empfindlichkeit hinzugeben“. Damit scheinen alle wesentlichen Elemente des polizeidienerlichen Charakters versammelt zu sein. Beschwerden über Molitor, Hüftlein und andere Angehörige der Polizeimannschaft zogen ein Schreiben der Kreisregierung an den Magistrat nach sich, der darin aufgefordert wurde, Stellung zu den sich häufenden Vorfällen zu nehmen. Der Magistrat verteidigte seine Aktuare und Polizeidiener in aufschlussreicher Weise. „Unter den vielen schwierigen Seiten des Polizeidienstes“, so hob man an, „tritt nun zugleich die delikate Stellung hervor, in welcher die Polizeibeamten leider […] jähzornigen, halbgebildeten und darum hochmüthigen, doch nicht selten höchst [lauten] und nicht belohnungsfähigen Personen gegenüber sich befinden.“ Es seien diese Eigenschaften bestimmter Teile des Publikums – „und ihrer ist leider die Mehrzahl“ –, die dazu führten, dass Einzelne auch bei unbestreitbar rechtmäßigem Einschreiten von Polizeidienern „von dem Wahn befangen“ waren, der Polizeidiener wäre „dem einen Theil zugetan, dass er partheisch sey, und bedenken alsdann jeden Schritt des Beamten mit Vorurtheil und Gehäßigkeit“. Diese Individuen legten bei der Beurteilung des Polizeidieners denselben Maßstab an, „der ihnen zur Richtschnur ihrer gesetzes- oder rechtswidrigen Handlungen dient“. Zahlreiche Beschwerden gründeten darin, dass die Beschwerdeführer es nicht vermochten, sich „auf jenen höheren Standpunkt zu stellen, die dem Beamten kraft seiner Gerichtsausbildung“ gegeben ist. Die Beschränktheit und Leidenschaftlichkeit solcher Personen verleitet sie daher […] zu den größten Anstrengungen, Grobheiten und Rohheiten gegen die Polizeibeamten, und es ist dann eine […] Folge, daß diese, gedrängt von Passion und der Zeit nicht immer denjenigen Gleichmuth behalten, den allein sie solchem Übermuth und Umständen entgegensetzen sollten, sondern daß sie ihre aufs höchste gereizten Empfindungen in Acte kleiden, die den Richter veranlaßten, sie selbst als Mitschuldige zu betrachten. […] Wer aber jene menschliche Schwächen, wenn sie noch dazu durch die höchste Leidenschaft und Rohheit hervorgerufen wurden, nicht mild beurtheilen will, vergißt […], daß es etwas ganz anderes ist, Vergehen und Verbrechen aus Papieren zu beurtheilen und zu richten, als schreienden Menschen gegenüber zu stehen [Meine Hervorhebungen].
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In der Beurteilung der Polizeidiener sollte daher der Grundsatz zur Anwendung kommen: Kein Mensch ist ohne Fehler! Man könne versichern, dass die auffällig gewordenen Polizeidiener, „wenn sie auch in den obliegenden Fällen gefehlt haben sollten, sie, bey übrigens größter Verschiedenheit des Temperaments, beide als gleich tüchtige und besonnene Polizeibeamte zu handeln gewohnt sind“. Gegen den einen, mit „lebhaftem Temperament“, wurden in der Vergangenheit überhaupt nie Beschwerden vorgebracht; dem anderen, „mit ganz ruhigem Temperament“, setze gegenwärtig der Tod seiner Gattin, der Mutter seiner Kinder, erheblich zu. Damit war also die grundlegende Herausforderung für Polizeidiener ausgesprochen: die Fähigkeit, sein Temperament zu zügeln, privaten Kummer nicht allzu sehr in den Dienst zu tragen usw. Einen Polizeidiener zeichnete die Fähigkeit aus, sich in Situationen zu beherrschen, also mit Ruhe und Besonnenheit und nicht mit leidenschaftlicher Aufwallung zu agieren, in denen anderen das nicht gelang. Art und Ausmaß gelungener Affektkontrolle werden so zu einem Distanzierungshebel. Freilich drohten immer wieder Umstände, in denen die Distanz zusammenbrechen konnte. Polizeidiener hatten sich – diesen Eindruck erwecken die Einschätzungen des Verhaltens der Aktuare Molitor und Hüftlein pars pro toto – zwar in der Regel im Griff, waren aber nie davor gefeit, sich gehen zu lassen. Als Polizeidiener unterschieden sie sich zwar in Sachen Gleichmuth von den Polizierten; als Menschen unterlagen sie aber denselben Schwächen wie alle anderen auch. Kühle Professionalität mochte das Ideal jener sein, die Vergehen und Verbrechen aus Papieren zu beurtheilen und zu richten gewohnt waren. Es brachte für jene, die gezwungen waren, schreienden Menschen gegenüber zu stehen, aber erhebliche Belastungen mit sich. Eine weitere Schwierigkeit ergab sich, auch das zeigen die Vorkommnisse um Molitor und Hüftlein, aus dem polizeilichen Selbstverständnis als unparteiisch, meinte das aus polizeilicher Perspektive doch nicht Passivität im Angesicht von Konflikten zwischen Polizierten, sondern eine Abwägung des Sachverhalts und eine anschließende Parteinahme für diejenigen, die man ‚im Recht‘ sah. Faktisch ergriffen Polizeidiener stets und ständig Partei, während die Art ihres Eingreifens Unvoreingenommenheit und Neutralität gegenüber der Person der Beteiligten (der höhere Standpunkt) signalisierten sollte. Diese subtile Unterscheidung entging – aus Sicht der Polizeibehörden – einigen Polizierten und wohl auch manchem Polizeidiener.
9.4 Andreas Öttinger, der Mann am Tor Mahnungen, dass in einer Polizeibehörde für jeden Dienst „specifisch zubereitete Persönlichkeiten“ (Gustav Zimmermann) vorhanden sein und entsprechend ihrer Fähigkeiten eingesetzt werden müssen, hatten ihren Grund. Einerseits rekurrierten sie auf die Unterschiede zwischen schreibendem und zupackendem (auswärtigem)
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Dienst, andererseits spielte eine Rolle, dass Magistrate ihre Polizeidiener für alle möglichen Aufgaben und Dienste heranzogen. Zum auswärtigen Polizeidienst gehörten auch die Aufgaben eines Examinators an diesem oder jenem Stadttor. Dort waren Aufzeichnungen „über die ankommenden und abgehenden Fremden“ anzufertigen und täglich bei der Polizeidirektion einzuliefern.41 Die Anforderungen des auswärtigen Diensts umfassten seit Anfang des neunzehnten Jahrhunderts die an Polizeidiener gerichtete Forderung, „an den Orten, wo sie postiret sind, sich ruhig, friedsam, und bescheiden aufzuführen, unter sich selbst keine Händel, und Zänkereien anzufangen, Niemanden mit Grobheit, oder anderer beleidigenden Unart zu begegnen“.42 Vorausgesetzt, man machte sich in Nürnberg in den 1830er Jahren darüber überhaupt Gedanken, dürfte man irgendwann zwischen 1833 und 1836 zu der Erkenntnis gelangt sein, dass es vielleicht nicht die beste Idee war, Polizeidiener Andreas Öttinger mit dem Posten eines Examinators am Laufertor zu betrauen. In zahlreichen Verwicklungen erscheint Öttinger, je nach Interpretationsrichtung und persönlichen Sympathien, als tragische Figur oder König der Querulanten. Öttinger bestätigt auf seine Art die polizeisoziologische Vermutung, dass selbst innerhalb einer auf Homogenität zielenden Polizeikultur „ein gewisser Spielraum für Rollenausgestaltung bleibt“, also auch „Exoten in der Polizei einen Platz“ haben, „soweit sie die kulturellen Grundannahmen teilen“.43 Der Fall Öttinger, der im Folgenden auch aufgrund der umfangreichen, dichten und multiperspektivischen Überlieferung detailliert analysiert wird44, umkreist den Typus der „nicht-reputierlichen Kollegen“ (Rafael Behr), die in einer Polizeimannschaft zwar mitgezogen werden, in der Innensicht aber kaum als vollwertige Polizeidiener gelten. Der Fall zeigt einerseits die Brüche und Reibungen innerhalb von Polizeimannschaften auf. Andererseits kann der Umstand, dass es sich bei Andreas Öttinger um einen Polizeidiener im Dienst eines Torexaminators handelte, einen Aspekt der Beziehungen zwischen Polizei und Publikum sichtbar machen, der bisher nur am Rande thematisiert wurde: eine institutionalisierte und routinierte Form der Begegnung, die stabile Erwartungen begründete, deren Unterbrechung sensibel registriert wurde. 41 42 43 44
Vgl. Instruktion der Polizei-Direktionen in den Städten [1808], Sp. 2515. Instruktion Polizeydiener zu München [1800], S. 3f. Behr, Polizeikultur [2006], S. 41f. Der Bestand (Dienstverfehlung des Polizeisoldaten und Examinators Andreas Öttinger, StAN, C6, 177) umfasst einen umfangreichen Schriftverkehr zwischen dem Nürnberger Magistrat, dem Hauptzollamt, dem Wöhrder Distriktvorsteher, der Straßengeldstation des Laufertors, dem Stadtkommandanten und der Polizeidirektion. Hinzu kommen Beschwerden, Stellungnahmen und Zeugenaussagen von Öttinger selbst, verschiedenen Torschreibern, Pflasterzollwächtern und Wachsoldaten. Die überlieferten Dokumente umfassen den Zeitraum von 1833 bis 1836. Die folgende Fallkonstruktion stützt sich auf diesen Bestand. Auf Einzelnachweise wird im Dienst der Lesbarkeit verzichtet.
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Erster Auftritt. Am 23. August 1833 beschwerten sich zwei Holz- und Pflasterzollwächter beim Magistrat über Torexaminator Öttinger. Dieser, so sagten sie aus, welcher einen persönlichen Haß auf uns hat, weil wir auf die von ihm ausgemachten unbilligen Forderungen nicht eingegangen, schikaniert uns fortwährend und schadet uns in unseren Gehaltseinnahmen, indem er die reuigen Fuhrleute, welche schuldig sind, ein Accord sofort abzugeben und dieses auch freiwillig thun wollen, auffordert, uns dasselbe zu verweigern.
Dass Öttinger Fuhrleute aufforderte – aufgefordert habe sollte – den fälligen Accord zu verweigern, hatte insofern direkte und spürbare Auswirkungen auf die Gehaltseinnahmen der Zollwächter, als dass es sich bei ihnen nicht um städtische Angestellte handelte, die für ihren Dienst vom Magistrat ein Gehalt bezogen. Vielmehr handelte es sich um Pachtstellen, das heißt, die Zollwächter zahlten der Stadt eine Pacht und erhielten dafür das Recht und die Möglichkeit, ihren Lebensunterhalt aus den anfallenden Gebühren zu bestreiten. Über die Höhe der Gebühren entschieden sie freilich nicht. Ihr Einkommen hing also empfindlich davon ab, wie viele Fuhrwerke sie abkassierten, während die Stadtkasse davon weniger berührt wurde. Um allerdings bei einer hohen Zahl Abgabepflichtiger am Tor bestehen zu können, bedurften sie der Unterstützung des jeweils als Torexaminator abkommandierten, in magistratlichem Dienst stehenden und vom Magistrat entlohnten Polizeisoldaten. Und genau daran schien es zu hapern. Über die Rechtmäßigkeit der Gebühren, die den beiden durch Öttinger entgangen waren, bestand, wie der Wöhrder Distriktvorsteher in einem Begleitschreiben unterstrich, kein Zweifel. Besonders dringlich schien die Angelegenheit aus Sicht des Magistrats allerdings nicht zu sein. Der Distriktvorsteher hatte zwar zur Unterstützung des Anliegens der Zollwächter angedeutet, Öttinger bei weiteren Beschwerden von seinem Posten enthoben sehen zu wollen, bis Anfang September geschah aber nichts. Zollwächter Schroll wurde ungeduldig und drang nun auf eine Resolution. Er beklagte sich über den Hass, den Öttinger täglich gegen ihn zeige. Ständig hetze Öttinger die Wachsoldaten am Tor und einfahrende Fuhrleute gegen den Zollwächter auf, „während es seine Pflicht wäre, mich in der Erhebung des Pflaster-Zolls zu schützen und zu unterstützen“. Schroll bat darum, jemand anderes mit Öttingers Aufgabe zu betrauen. Zwei Wochen später kündigte er an, keine Stellenpacht mehr zu zahlen, sollte niemand etwas unternehmen. Jetzt wurde es Zeit, sowohl Öttinger als auch verfügbare Zeugen zu befragen. Öttinger selbst war „von diesem Falle noch nicht das Mindeste bekannt“. Er erinnerte sich aber an einen Streit vor einiger Zeit, der vielleicht gemeint sein könnte. Ein Bauer und seine Magd hatten damals den Pflasterzoll mit der Bemerkung verweigert, diesen schon bezahlt zu haben. Es kam zu einigem Gezeter, auch um die Höhe des zu entrichtenden Zolls. Öttinger schritt ein und überprüfte die Ladung
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des bäuerlichen Fuhrwerks. Er stellte fest, dass für die Ladung sechs Kreuzer zu zahlen waren, nicht acht Kreuzer, wie es die Magd des Zollpächters angeblich verlangt hatte. Gebühren eigenmächtig auszusetzen, käme ihm nicht in den Sinn; mitunter müsse er aber eingreifen, um eine schleunige Abwicklung der Zahlung und ein rasches Weiterfahren der Fuhrwerke sicherzustellen. Die Vorwürfe Schrolls führte Öttinger auf einen Groll zurück, den der Zollwächter auf ihn hätte, weil er als Polizeidiener auf die Einhaltung der korrekten Erhebungsart achte und nicht zulasse, dass zum Beispiel die Magd die Arbeit erledigt. Des Zollwächters Magd bestätigte den Streit mit besagtem Bauern, bestritt aber, jemals mehr als sechs Kreuzer gefordert oder erhalten zu haben. Unter anderen Bedingungen wäre die Sachlage damit erschöpfend ermittelt gewesen, auch wenn das Ergebnis unbefriedigend geblieben wäre. Es stand Aussage gegen Aussage, Interessenlagen und Befangenheiten lagen offen zutage. Und man bekam erste Hinweise darauf, dass persönliche Animositäten im Spiel waren. Ein im Verlauf der Vernehmungen befragter Torschreiber, der zur Sache zwar nichts zu sagen wusste, berichtete von immerwährenden Streitigkeiten zwischen Torexaminator und Zollpächter: „Indessen ist nicht zu verkennen, daß man sich gegenseitig feindselig behandelt.“ Dem Magistrat wäre unter diesen Voraussetzungen wahrscheinlich nichts übriggeblieben, als auf die salomonische Allzweckwaffe in Situationen, die nicht abschließend zugunsten einer Seite zu klären waren, zurückzugreifen: die Ermahnung aller Beteiligten, sich angemessen zu benehmen. Bei einem Konflikt an einem Stadttor lagen die Dinge jedoch anders. Streitigkeiten, die sich dort abspielten, waren öffentlich. Und das hieß: Die Befragungen konnten weitergehen. In einer Garnisonsstadt wie Nürnberg befand sich an den Toren eine militärische Stadtwache. Neben Reisenden und allgemeinem Publikum waren also stets auch Soldaten anwesend. Ihre Aufgabe bestand darin, dass „innerhalb ihres Wirkungskreises nichts vorgehe, was die nöthige Ruhe nur auf irgend eine Art zu stören im Stande ist“. Torwachsoldaten sollten nicht zuletzt „Streitigkeiten und öffentliche Schlägereien in Güte und im Ernste verwehren und nicht gestatten, daß die gebildeten Menschen anständige Ordnung verletzt werde“.45 Es kann daher nicht überraschen, dass ein anhaltender, lautstarker Streit zwischen Bauern, Mägden, Zollwächtern und polizeidienerlichen Torexaminatoren über die Höhe des zu entrichtenden Zolls das Einschreiten oder zumindest die Aufmerksamkeit der Stadtwache nach sich zog. Die folgerichtig zum Vorfall befragten Soldaten erwiesen sich nicht als Freunde Öttingers. Wenn Kollegialität und Korpsgeist eine Rolle spielten, dann offenkundig nicht zwischen Wachsoldaten auf der einen und Polizeidienern und Torexaminatoren auf der anderen Seite, zumindest nicht, wenn der Polizeidiener und Torexaminator Andreas Öttinger hieß. Zurück zum Ort des Geschehens: Ein Soldat, der zur Unterstützung des Zollwächters den einfahrenden Bauern zur Entrichtung des Zolls aufgefordert 45 Meinert, Soldat [1807], S. 72.
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hatte, musste sich von Öttinger sagen lassen, er solle sich darum nicht kümmern und die Leute einfach durchlassen. Inzwischen hatte die Magd des Zollwärters begonnen, die Ladung zu kontrollieren. Sie forderte, jedenfalls wollte das ein weiterer Wachsoldat so gehört haben, sechs Kreuzer, die verweigert wurden. Öttinger reagierte laut Zeugenaussage zunächst überhaupt nicht auf ihre Bitte, die Zahlungspflicht durchzusetzen, kontrollierte dann aber die geladenen Güter und bestätigte, dass es mit den geforderten sechs Kreuzern seine Richtigkeit hatte. Der Bauer bezahlte, wandte sich dann aber mit den Worten zur Magd: „Warum hat sie denn anfangs 8x von mir verlangt?“ – worauf die Magd entgegnete, nicht mehr als sechs Kreuzer verlangt zu haben. Währenddessen drängten sich die Fuhrleute bereits ganz gewaltig an der Zollstation. Öttinger, so ein weiterer soldatischer Zeuge, mahnte zur Eile, „fluchte zwar, allein die Aufforderung: ‚nun wird ein Donnerwetter den Zoll samt dem Pächter erschlagen‘ vernahm ich nicht.“ Diese Aussagen überzeugten den Magistrat nun immerhin davon, dass Öttinger seinen Dienst tatsächlich verletzt hatte. Weder hätte er dem soldatischen Posten die Erhebung des Zolls untersagen noch ruhig stehenbleiben dürfen, als die Magd ihn um Beistand bat. Dieses Vorgehen und die offenkundig wiederholt feindselige Haltung gegenüber dem Zollwächter brachten ihm einen zweitägigen Arrest ein. Zweiter Auftritt. Anfang August 1835 beschwerte sich Torschreiber Popp beim Nürnberger Magistrat über das „grobe Betragen“ unseres Manns am Tor: Der Examinator Öttinger hat trotz dem, daß er seinen Dienst nachlässig versieht, sich erstens betrinkt und Weibsbilder mit auf die Wachstube nimmt, ein sehr brutales Wesen an sich und begegnet mir als wenn er mein Vorgesetzter wäre. Gestern war er die meiste Zeit von der Wache weg und trieb sich, besonders des Nachmittags, in den Wirths-Häusern herum. Er kam etwas vor 9 Uhr auf die Wachstube, obgleich er dort nichts zu thun und keinen Nachtdienst hatte.
Nach einem kleinen Wortwechsel mit der Frau des Schreibers, die sich gerade auf der Wache aufhielt (hatte der Torschreiber nicht soeben Öttinger dafür denunziert, Weibsbilder mit auf die Wachstube zu nehmen? Aber nun ja, Ehefrauen und Weibsbilder waren in dieser Welt zweierlei.), „fing er in seinem Buche zu schreiben und zu lärmen an, so daß sich die Leute vor der Wachstube versammelten“. Der wachhabende Soldat mahnte zur Ruhe, zog damit aber nur Öttingers Grobheiten auf sich und musste sich anhören, er hätte ihn nicht zu belehren. Als der Torschreiber Öttinger Trunkenheit vorwarf, schimpfte der noch mehr und behauptete, er allein wäre hier der Herr und hätte sich nichts befehlen zu lassen. Popp schickte daraufhin nach der Polizeiwache und wollte Öttinger arretieren lassen. Öttinger bestritt das alles. Nichts wäre bewiesen. Es sei nachweislich um vier Uhr von der Wache weggegangen und habe sich nicht im Wachhaus herumgetrieben. Torschreiber Popp und Torexamina-
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tor Öttinger unterhielten offenkundig nicht jenes enge Kooperations- und Unterstützungsverhältnis, das sie hätten unterhalten sollen. „Thorschreiber“ waren laut offiziellen Bestimmungen, „zu dem Zwecke angestellt, um die Sicherheit an den Thoren handzuhaben“. Sie sollten „die Polizei-Behörde von den hinein und hinaus passirenden Fremden, dann von den abreisenden und ankommenden Einwohnern“ unterrichten und der Polizei dadurch ermöglichen, „den Aufenthalt der Fremden, und die An- und Abwesenheit der Einheimischen zu controlliren“.46 Ob das vor Ort in ein Befehlsverhältnis zu übersetzen war, blieb freilich offen. Jedenfalls lässt sich nicht entscheiden, ob der vom Torschreiber skandalisierte Umstand, dass Öttinger ihm begegnete, als wenn er mein Vorgesetzter wäre, nicht vielleicht dem angedachten Verhältnis nahekam. Als Konfliktherde lassen sich in jedem Fall aber – jenseits persönlicher Antipathien – die konkrete Abgrenzung der Aufgaben und der Umstand identifizieren, dass nur einer der beiden, nämlich Öttinger und nicht Popp, Polizeidiener war. Das warf geradezu zwangsläufig das Problem von Befehlsgewalt und Subordination, aber auch von unterschiedlicher Wertschätzung auf. Diese Konstellation scheint bereits in den 1820er Jahren als problematisch erkannt worden zu sein. Zumindest kann man diesen Schluss ziehen, liest man die weiteren Erläuterungen aus dem eben zitierten Handbuch. Darin heißt es nämlich, dass „an vielen und großen Orten die Thorschreiber ganz aufgehoben“ worden waren und ihre Verrichtungen inzwischen „durch Individuen der Polizeiwache im Turnus versehen“ werden. Die zentrale Verrichtung, die dann angesprochen wurde, ist genau jene, deren Erfüllung am Laufertor andauernde Querelen verursachte: die „Einnahme des städtischen Pflaster-Zolles“, bei der sich Torschreiber und die „ihre Stelle vertretenden Individuen der Polizeiwache“ koordinieren sollten.47 Zweiter Auftritt. Fortsetzung. Gut zwei Wochen nach dem Geplänkel mit Torschreiber Popp ging beim Hauptzollamt eine Beschwerde der Straßengeldstation am Laufertor ein. Wieder hatte Öttinger, ohne dass irgendein Grund für dieses Vorgehen vorlag, einen ankommenden Wagen – gerade als der Zollwächter Werner ihn kontrollieren wollte – bis zum Wachposten weiterfahren lassen und dem Fuhrmann bedeutet, eine Zollbehandlung wäre nicht nötig. Offenbar, so mutmaßte der Zollwächter, sei Öttinger ihm nicht mehr zugeneigt. Warum? Nun, wohl deshalb, weil er es vor einiger Zeit ablehnte, dem Polizeidiener Geld zu leihen. Der befragte Wachkommandant schilderte den Vorgang indes anders: Die Zollabfertigung dauerte einfach zu lange, die Fuhrwerke stauten sich bereits – und da habe er in seiner Funktion als Kommandant der Torwache Öttinger aufgefordert, den Wagen zum Weiterfahren anzuhalten. Erst zu diesem Zeitpunkt kam der Zolleinnehmer aus seinem Häuschen und belegte Öttinger mit Grobheiten. Als Wachkommandant wies er 46 Barth, Handbuch [1821], S. 127f. 47 Ebd., S. 130.
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Werner an, zukünftig sofort zu erscheinen, weil die Wachsoldaten nicht wissen könnten, wen er schon kontrolliert habe. Nach einer gewissen Zeit müsse man die Wagen sonst eben ohne Abfertigung durchwinken. Auf Grundlage dieser Aussagen schätzte das Hauptzollamt Öttingers Verhalten als nicht gar so rücksichtslos ein. In interessanter Umkehrung des ursprünglichen Arguments des Zolleinnehmers über die abgelehnte Geldleihe als Grund einer Verstimmung schloss die Behörde, auf so schlechtem Fuße könnten die beiden ja nicht stehen, wenn Öttinger sich habe Geld borgen wollen. Man ging offensichtlich davon aus, dass man sich von Feinden kein Geld lieh und sie auch nicht darum bat. Darüber hinaus sei ein Torexaminator so oder so befugt, Fuhrleute zur Abwicklung des Zolls auf einen geeigneten Platz zu dirigieren, und es liege vollkommen in seiner Kompetenz, Wagen weiterzuschicken und ein Anhalten im Hof hinter dem Torhäuschen zu veranlassen. Man tadelte den Zolleinnehmer, weil er sich „unanständiger Ausdrücke bedient habe“, und hielt ihn zu einem „anständigen Benehmen“ an. Das Agieren des Zollamts macht klar, dass Öttinger zu diesem Zeitpunkt nicht als ständiges Ärgernis oder habitueller Querulant galt, sondern man ihm durchaus zutraute, seine Aufgaben und Pflichten zu kennen und gewissenhaft zu erfüllen. Noch galt Öttinger bei Reibereien am Tor nicht automatisch als der Schuldige. Die Angelegenheit wurde allerdings weiterverfolgt. Eine Vernehmung der Beteiligten sollte noch einmal im Detail Klarheit verschaffen. Nun wurde es wirklich persönlich. Der frühere Versuch des Zollamts, die Möglichkeit eines grundsätzlich und irreparabel zerrütteten Verhältnisses der zwei Männer herunterzuspielen oder absichtlich zu übersehen und sich stattdessen mit konkreten Zuständigkeiten zu befassen, war hoffnungslos. „Werner“, so stellte Öttinger zunächst fest, „ist der größte Lügner, wenn er behauptet, daß ich je Geld bei ihm entlehnen wollte und ich ihm wegen Verweigerung ungünstig gestimmt sei.“ (Was er damit vor dem Hintergrund der ersten Einschätzung des Zollamts, unausgesprochen, auch sagt: Sein Verhältnis zu Werner war nie gut!) Der Fuhrwagen, um dessen Abfertigung es ging, hielt mitten auf der Brücke, er habe ihm zugerufen, bis zum Torhof weiterzufahren, keinesfalls aber gesagt, der Wagen unterliege keiner Zollpflicht. Werner präzisierte in seiner Aussage dagegen, Öttinger hetze fortgesetzt alle zur Wache kommenden Unteroffiziere auf, so dass diese ihm die Unterstützung bei der Erhebung des Zolls verweigerten. Auch pflege Öttinger allgemein keinen guten Umgang mit ihm und sei als „streitsüchtiger Mensch“ bekannt. Das Hauptzollamt revidierte seine erste Einschätzung nun doch ein wenig. Die Begründung ist aufschlussreich: Wenn wir gleich den Chausseegeldeinnehmer Werner vom Lauferthor nicht zu den verträglichen Personen rechnen, so muß uns doch der Umstand, daß er sich in der anliegenden Beschwerde zum Beweis einiger facta erbietet, veranlassen, solche mit dem Ersuchen mitzutheilen, den Examinator Öttinger im Allgemeinen anweisen zu wollen, der Aus-
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übung des allerhöchsten Dienstes nicht nur nicht hindernd entgegenzutreten, sondern für denselben [beizustehen].
Für Öttinger war die Beschwerde weiterhin aus der Luft gegriffen. „Werner“, so führte er aus, „ist selbst voller Arroganz und will sich weder um Anordnungen des Stadtmagistrats noch der Kgl. Stadtkommandantschaft kümmern.“ Außerdem ist Werner mit dem Torschreiber Popp befreundet, der nun wiederum, man erinnert sich, Öttingers Feind war. Werners Beschwerde konnte so in Öttingers Augen nichts anderes als eine Gefälligkeit zugunsten Popps sein, weil dessen eigene Beschwerde keinen Erfolg hatte. Freundschaften, Feindschaften, Gefälligkeiten, Revancheakte allerorten – für die Vorgesetzten in der Polizeibehörde, die darüber zu entscheiden hatten, wer wem was wie warum verweigert, vorgeworfen usw. hatte, dürfte die Sache mit jeder Aussage nur undurchsichtiger geworden sein. Aber man musste entscheiden und man entschied: Öttinger wurde angewiesen, Reibereien zu vermeiden und Aufhetzungen zu unterlassen. Gleichzeitig bat man das Hauptzollamt, „den Werner ebenfalls in seine Schranken zu weisen“. Der Polizeisenat sprach am 14. Dezember 1835 gegenüber Öttinger eine Verwarnung aus. Zwar seien die Anschuldigungen gegen ihn nicht erwiesen, zwischen ihm und Werner müsse aber auf ein beiderseitig angemessenes Benehmen gedrungen werden. Gerade am Tor müssten sich die verschiedenen Behörden gegenseitig unterstützen. Zwei Wochen später eröffnete das Zollamt Werner dasselbe. Dritter Auftritt. Am Abend des 20. Februars 1836 traf ein Königsberger Kaufmann auf Andreas Öttinger, der ihm – mit „ungeeignetem Benehmen“ begegnete. Öttinger verlangte Pass und weitere Papiere, bekam diese auch, zeigte sich dabei aber ungeduldig und erklärte eine abendliche Abfertigung für unmöglich. Die Wachsoldaten, die das beobachteten, sagten aus, Öttinger habe von Anfang an „in barschem Ton“ und dann „in noch barscherem Ton“ gesprochen, weil der Kaufmann seinen Pass erst heraussuchen musste und dafür um kurze Geduld bat. Öttingers Benehmen sei wirklich unanständig und beleidigend gewesen. Er selbst, so Korporal Kalb, habe dem Fremden gegenüber bemerkt, es sei Öttingers Art, so mit Menschen umzugehen und einen solchen Ton anzuschlagen. Der Soldat hatte offenbar eine abweichende Einschätzung davon, wie ein angemessener Umgang mit einreisenden Fremden auszusehen hatte und bezog sich dabei auf die Anweisungen und Beschreibungen des soldatischen Tordiensts, wie sie sich in zeitgenössischen Ratgebern fanden und von Vorgesetzten kolportiert wurden. Wachsoldaten hatten demnach „jeden Fremden (dem man es gewöhnlich auch zugleich ansieht), auf eine bescheidene Art anzuhalten, und dem Offizier Meldung zu machen“: Man benehme sich dabei mit dem Militärgeschäften eigenen Ernste und verfahre mit der gegen alle Menschen nöthigen Schonung, und belehre besonders Fremde von der Nothwendigkeit einer genauen und richtigen Beantwortung der angebrachten Fragen.
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Artigkeit mit gehörigem Ernste verbunden, kann niemanden beleidigen, sondern sie zwingt auch den Fremden, sich auf eine gleiche Weise zu betragen. Ferner sorge man dafür, daß auch Fremde und Einheimische von dem gemeinen Wachpersonale auf eine anständige Art behandelt werden, und daß der Ein- und Auspassierende von jeder möglichen Beleidigung oder Chikane von seiten der Soldaten sowohl, als auch von Seiten des Civils am Thore befreit bleibe, denn jeder Ein- und Auspassirende ist zwar der Wache Achtung, Rede und Antwort schuldig, kann aber auch mit Recht den Schutz der Wache verlangen, und auf eine seinem Stande oder seiner Würde gemäße Behandlung Anspruch machen.48
Genau diese Richtschnur scheinen die Wachsoldaten an Öttingers Verhalten angelegt und festgestellt zu haben, dass sein Benehmen nicht dem entsprach, wozu sie selbst angehalten waren. Die Wachsoldaten kritisierten mithin ein polizeidienerliches Verhalten, das im Rahmen der Kooperation von Militär und Polizei, die bereits diskutiert wurde, eigentlich eher ihnen selbst zugeschrieben wurde: ein ruppig-barsches, ungestümes Vorgehen gegenüber ‚Zivilisten‘. Diesmal blieb es – ausnahmsweise – bei einer Beschwerde und einer kurzen Aufnahme des Sachverhalts ohne weitere Folgen. Vierter Auftritt. Anfang Mai 1836: Andreas Öttinger geht zum Angriff über. Diesmal wartet er nicht auf neue, gegen ihn gerichtete Vorwürfe, sondern beschwert sich selbst über Werner. Das mag eine klassische Retourkutsche gewesen sein. Wiederholt, so Öttinger, stört Chausseegeldeinnehmer Werner die examinatorischen Dienstgeschäfte und erweckt gegenüber Fuhrleuten den Eindruck, als verhielte Öttinger sich unrechtmäßig und stoppte Fuhrwerke aus Schikane. Erst kürzlich hatte Werner anlässlich einer Kontrolle verlauten lassen: Wenn Öttinger sich wieder so verhält, „so werft ihn ohne weiteres in den Stadtgraben“. Daher Öttingers Bitte, „dem Werner schnellstens zu bedeuten, daß er sich durchaus um die Dienstesfunktion des Examinators nichts zu kümmern habe“. Das Hauptzollamt bedeutet Werner entsprechendes, doch Werner widerspricht den Anschuldigungen. Das Zollamt schiebt weitere Konsequenzen auf. Öttinger soll Zeugen benennen, die man dann befragen will. Öttinger ist unzufrieden mit dieser Zögerlichkeit. Er legt nach. Er habe gehört, Werner verhielte sich auch bei anderen Gelegenheiten – etwa gegenüber dem Polizeisoldaten Faber – einmischend. Dazu könnte man diesen und Polizeidiener Fretter befragen. Faber will allerdings von all dem nichts wissen. Er könne nicht sagen, dass sich Werner angesichts einer Holzbeschlagnahmung „auf eine anmaßende Weise benommen hätte“. Sie standen lediglich zusammen und der Chausseegeldeinnehmer erläuterte dem betroffenen Bauern nebenher das Verfahren. Als Einmischung empfand er das nicht. Polizeisoldat Fretter fügt dem nichts hinzu, bemerkt aber, nicht gehört zu haben, dass irgendwer irgendwem drohte, ihn in den Stadtgra48 Meinert, Soldat [1807], S. 80 [meine Hervorhebungen].
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ben zu werfen. Öttingers Zeugen entpuppen sich also eher als Zeugen der Verteidigung, nicht der Anklage. Öttinger wird zur „Verträglichkeit mit dem übrigen Thorpersonal ermahnt“. Im Zuge dieser Verhandlung – die Verantwortlichen in der Behörde hatten nun sicher langsam gemerkt, dass sie immer und immer wieder denselben Namen lasen – wurde ein Auszug aus Öttingers Strafregister der Jahre 1833–1835 erstellt. Darin finden sich verschiedene Arreststrafen wegen Verletzung der Dienstpflicht und dienstwidrigen Betragens, Dienstvernachlässigung und Insubordination, Beschimpfung eines Kollegen im Dienst, Begünstigung und Beleidigung – und schließlich im Dezember 1835 eine Verwarnung wegen „Nichtbeachtung eines dienstfreundlichen Benehmens“. Spätestens mit diesem Verfahrensschritt verwandelte sich eine Kette individueller Reibereien in eine Frage des Charakters und der Diensteignung eines Polizeidieners; es sagt im Rückblick viel aus, dass die doch beachtliche Anhäufung von Vergehen zwar immer wieder verschiedene Behörden beschäftigt, nach wie vor aber nur bescheidene Konsequenzen nach sich gezogen hatte. Fünfter Auftritt und das Ende der Angelegenheit. Öttinger beschwert sich am 30. Juni 1836 erneut; diesmal über den Torexaminator Michael Glanz wegen Beleidigung und eines körperlichen Angriffs. Dieser habe wohl geäußert, der Öttinger käme erst nach dem „Scheißdreck“ – und ihm dann einen Faustschlag versetzt. Glanz bestreitet das. Als er zur fraglichen Zeit am Tor ankam, war Öttinger betrunken (wenn auch nicht als einziger auf der Wache). Glanz wies ihn in einer Passangelegenheit „wohlmeinend“ auf ein fehlerhaftes Vorgehen hin, doch Öttinger schimpfe ihn sogleich „Ochs, Esel“, redete ihn mit „Er“ an, fuhr ihm „mit der Hand unter die Nase“ und „schwadronierte noch immer fort“. Glanz reagierte, wohl auch, wie er eingestand, begleitet von Beleidigungen, indem er Öttinger leicht zurückdrängte. Letztlich aber habe er sich unter Öttingers anhaltendem Schimpfen entfernt – ohne ihm einen Schlag zu versetzen. Natürlich widerspricht Öttinger. Er sei nicht betrunken gewesen, schließlich war er noch im Dienst. Über den Nachmittag trank er lediglich zwei Maß Bier. Glanz hatte zudem, so Öttinger, an „meinem Thor […] keinen Beruf “. Das sagte er ihm auch so – ohne ihn Ochs oder Esel zu nennen, ohne mit der Hand unter seiner Nase herumzufahren. Glanz habe ihm dagegen an den Kopf geworfen, er wäre „der letzte bei der Polizeimannschaft, [der] erst nach dem Dreck komme“. Aussage gegen Aussage also. Es braucht Zeugen. Einer von ihnen ist Torschreiber Popp, Öttingers Nemesis. Popp berichtet von Reibereien bei der Passkontrolle als ein Reisender um schnelle Abwicklung bat. Öttinger, der dortmals etwas durch Trunk exaltiert war – er und der Unteroffizier hatten einige, ich weiß nicht wie viele Maas Bier den Nachmittag über miteinander getrunken, wollte den Fremden-Pass nicht noch zum Bureau befördern, vorgebend daß die Amtszeit vorbey sey.
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Dann der Streit zwischen Öttinger und Glanz. Popp hatte ihn nicht genau beobachtet, bekam aber mit, wie beide sich beschimpften. Glanz zu Öttinger: „Du bist betrunken, mit dir mag ich nichts zu sprechen haben“, den Polizeidiener dabei zurückschiebend, weil dieser mit den Armen wedelte und unter Glanz’ Nase herumfuhr; beide warfen sich gegenseitig vor, ihren Dienst nicht zu verstehen; Öttinger nannte Glanz Ochs und Esel; Glanz verglich Öttinger mit Dreck. Chausseegeldeinnehmer Werner – eine weitere Öttinger’sche Nemesis – bestätigt diese Aussage. Aus Popps einige, ich weiß nicht wie viele Maas Bier werden nun „wenigstens 8–10 Maaß Bier“, die Öttinger und einer der Wachsoldaten im Verlauf des Nachmittags „miteinander getrunken“ haben sollen. Die Wachsoldaten, die hier nun schon mehr oder weniger denunziatorisch ins Gespräch gebracht worden waren (es handelte sich um Joachim König, Johann Kreuzer und Johann Kretsch), werden erst zwei Monate später für eine Aussage zur Verfügung stehen. Dann aber ergreifen sie Partei für Öttinger: Öttinger behandelte die Reisenden rasch und korrekt, während Glanz sich einmischte, schimpfte und äußerte, „der Öttinger wäre der Allerletzte und käme erst nach Dreck“. Öttinger schimpfe zwar auch, hätte aber nicht damit angefangen. Dass sich Öttinger in irgendeiner Weise drohend verhielt oder gar betrunken gewesen sein soll, bemerkte keiner der befragten Wachsoldaten. Allerdings hatte man noch etwas über Glanz nachzutragen: „Im Weggehen von der Wache hat Glanz auch anzügliche Worte gegen die Wachmannschaft ausgesprochen, indem er sagte, daß die ganze Wache besoffen sey und er uns schon kriegen werde.“ Der Magistrat muss abwägen. Die gegenseitige Beleidigung scheint erwiesen. Dafür werden beide mit 36-stündigem Arrest bestraft. Anders verhält es sich mit dem Vorwurf der Einmischung in den Examinatorendienst und dem behaupteten körperlichen Angriff. Ersteres schließt man aus, „weil auch Öttingers Dienst schon vorüber war und Öttinger sich nur deshalb auf dem Wachhause aufgehalten hatte, um mit den Soldaten zu trinken“, letzteres „weil durch unpartheiliche Zeugen nicht feststeht, daß Glanz den Öttinger gestoßen habe“. Öttinger wäre nicht der König der Querulanten, wenn er nur einen Konflikt gleichzeitig hätte handhaben können. Eine Entschließung in der Auseinandersetzung mit Glanz lag noch nicht vor, da beschwert er sich – offensichtlich immer noch und nun an allen Fronten im Angriffsmodus – über die uns ebenfalls bereits bekannte Magd des Zollpächters, die ihn in einem neuerlichen Streit um das Abkassieren des Pflasterzolls einen „Sau-Polizeidiener“ genannt haben soll (er gab zu, das mit „SauMensch“ quittiert zu haben). Öttinger bittet den Magistrat, die Magd zu „belehren“. Katharina Koch, die denunzierte Pflasterzollmagd, sagt aus, Öttinger hätte ihr den Beistand verweigert und Reisende aufgefordert, weniger als den festgesetzten Pflasterzoll zu zahlen – und sie „Sau-Mensch“ genannt. Erst daraufhin reagierte sie mit „Sau-Kerl“; nicht aber mit „Sau-Polizeidiener“. „Und erst als der Öttinger mich einigemal eine elende Magd hieß, schimpfte ich ihn einen elenden Polizeidiener.“ Zwei Soldaten bezeugen den Wortwechsel, identifizieren allerdings ebenfalls Öttin-
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ger als Urheber. „Auf einmal“, so einer der beiden, „vernahm ich ein Schimpfen und hörte, daß der Examinator Öttinger die Pflasterzollmagd ein Saumensch hieß, worauf diese ihn einen Saukerl schimpfte.“ Der Magistrat bestraft Öttinger wegen „Dienstfleißverletzung“ und Beleidigung mit dreitägigem, Katharina Koch wegen Beleidigung mit 36-stündigem Arrest. Öttinger habe schließlich – das zur Rechtfertigung des Strafmaßes – „bereits hinlänglich gezeigt“, dass „er mit dem übrigen tüchtigen Personal am Thor sehr unverträglich ist“ und nach den Zeugenaussagen im verhandelten Fall „als Urheber“ identifiziert werden könne. „Dagegen erscheint auch die Beleidigung der Koch dadurch erschwert, daß sie den Öttinger während seiner Dienstverrichtung beleidigte.“ Kurz darauf wurde Öttinger versetzt, bat allerdings, an seinem Tor bleiben zu dürfen. Er war sich „durchaus keines Dienstfehlers bewußt“. Er habe zwar Strafen erhalten, diese wären aber disziplinarischer Natur gewesen und keine wegen „dienstlicher Vergehen“. „Die Versetzung“, so schrieb er, „ist mir umso kränkender, als ich nicht ohne Grund zu glauben berechtigt bin, daß sie Folge von Verleumdungen ist.“ Von Werner wurde er des „Betruges in magistratischen Gegenständen“ beschuldigt, die Untersuchung ergab aber, dass sich das nicht halten ließ. Natürlich konnte ich mit einem so verleumderischen und lügenhaften Menschen, als welcher er selbst bei seiner vorgesetzten Behörde längst anerkannt ist, nicht in einem solch guten Benehmen stehen, als es eigentlich zwischen den Polizei- und Zollbediensteten bestehen sollte.
Im Umgang mit dem neuen Zolleinnehmer Schuster glaubte er, bewiesen zu haben, „daß ich mich mit Personen zu benehmen weiß, die bloß ihrem Dienst nachgehen und hinterlistige Verleumdungen verachten“. Nicht zuletzt würde die Versetzung aufgrund seiner nachweislich angegriffenen Gesundheit nachteilige Folgen für ihn haben. Seine Wohnung sei vom neuen Posten aus nachts schwer zu erreichen, weshalb er nach dem Dienst auf der (unbequemen) Wache bleiben müsste; außerdem wüsste man, „daß das braune Thor nicht zu den ruhigsten Dienststationen gehört“.49 Angesichts der am Laufertor angehäuften Strafen blieb der Magistrat jedoch bei seiner Entscheidung. Damit kam eine Kette von Vorkommnissen an ihr Ende, in der immer und immer wieder mit immer neuen Akzenten verhandelt wurde, wie ein Polizeidiener zu sein hatte – und ob Andreas Öttinger ein solcher war. Als polizeidienerliches Subjekt bewegte sich Öttinger an der Grenze zum „nicht-reputierlichen 49 Öttinger hatte seit einiger Zeit gesundheitliche Probleme. Bereits Anfang März 1836 hatte er darum gebeten, ihm „wegen Unpäßlichkeit, welche er schon vor ein paar Tagen durch gerichtsärztliches Zeugniß nachgewiesen habe, mit Bestehung seiner Arreststrafe noch 14 Tage Nachsicht zu schenken.“ Das Gesuch wurde „stillschweigend genehmigt“.
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Kollegen“ (Rafael Behr); und teilweise überschritt er die Grenze. Individuelle Charakterzüge, die Art der Erledigung der Dienstaufgaben sowie persönliche Sympathien und Antipathien unter Kollegen – all das wirkte auf polizeidienerliche Selbstbildung und das Bemühen ein, sich selbst zum reputierlichen Polizeidiener zu machen und von anderen als solcher anerkannt zu werden. Diese Anerkennung konnte verweigert werden. Die Querelen um den Polizeidiener und Torexaminator Andreas Öttinger gewähren einen selten detaillierten Einblick in diese Zusammenhänge. Am Stadttor hieß es – vielleicht noch mehr als an anderen Orten –, mehrere Dinge zu leisten: Haltung, Ruhe, Geduld und Höflichkeit auch angesichts einer hektischen Situation wahren (in der andere den Überblick verlieren mochten); verschiedene Vorgänge und das Agieren zahlreicher Beteiligter gleichzeitig im Blick haben; abwägen, wann welches Vorgehen angemessen war. Hinzu kam die für jedes, nicht nur Öttingers, polizeidienerliche Selbstverständnis zentrale Frage, ob er, der Polizeidiener – oder wer sonst – (wenigstens) an ‚seinem‘ Tor der Herr und souverän über die Ausübung ‚seines‘ Diensts war. Darin wäre dann auch der Grund zu suchen, warum sich alle Beteiligten permanent dagegen verwahrten, dass ihnen irgendwer auch nur andeutungsweise oder gefühlt in irgendetwas hineinredete, sich Kompetenzen anmaßte, Zuständigkeit und Fähigkeiten des Gegenübers implizit anzweifelte oder gar offen herausforderte. Die endlosen Streitigkeiten am Laufertor zeigen die Welt der Polizeidiener zudem als einen sozialen Mikrokosmos, in dem alle möglichen persönlichen Beziehungen wie selbstverständlich präsent waren und in den Dienstalltag hineinragten: Wer hatte sich von wem Geld leihen wollen oder nicht? Deutete das auf einen freundschaftlichen, vertrauten Umgang – oder war es Ursache von Groll und Feindschaft? (Die soziale Dimension von Geldbeziehungen trieb, das wurde an anderer Stelle bereits ausführlich diskutiert, die Magistrate und Polizeibehörden regelmäßig um.) Am Bemerkenswertesten an den zahlreichen Aussagen der Beteiligten in all den Öttinger’schen Streitfällen ist tatsächlich die wiederholte Feststellung, dass irgendwer einen Groll oder Hass auf jemanden hatte und die Reibereien darauf zurückgeführt wurden. Dieser Umstand macht es möglich, die großen und kleinen Vorkommnisse am Nürnberger Laufertor nicht nur als Kompetenzstreitigkeiten und Hierarchiekämpfe unter den Bedingungen unklarer Aufgabentrennung miteinander zu verknüpfen (oder sie Öttingers ‚schwieriger Persönlichkeit‘ anzukreiden). Vielmehr lässt sich die allgemeine Bedeutung von Freundschaften, Feindschaften und Allianzen für die alltägliche Dienstausübung erkennen. Offenkundig wies das soziale Gewebe in den 1830er Jahren noch Konturen auf, die eine längere Tradition hatten. Was David Sabean, vorzüglicher Kenner frühneuzeitlicher Herrschaftspraktiken, für die dörfliche Welt um 1700 konstatiert, wirkt geradezu wie eine Beschreibung der kleinen Welt eines Stadttors im Jahr 1835: „All das macht deutlich, welch zentrale Stellung die Kategorie Feindschaft in dieser Gesellschaft einnahm und wie selbstverständlich es war, mit Leuten zu tun zu haben, die in einen Machtkampf verwickelt waren. Zu
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sagen, daß man verfolgt wurde, war nach allgemeinem Verständnis kein Anzeichen für eine klinische Paranoia.“ „Nichts“, so schreibt Sabean, „war selbstverständlicher als die Erwartung, von der anderen Seite verfolgt zu werden.“50 Unter solchen Umständen war es ein Akt der Notwehr, die bösen Absichten der Feinde öffentlich zu demaskieren. Die Aussagen einiger Beteiligter im Fall Öttinger lassen sich in diese Richtung interpretieren, während die Behörden, die wohl ahnten, die Ursachen von Groll und Hass nicht beseitigen zu können, zumindest die Wogen glätten wollten.
9.5 Nächtliche Ruhestörung, Antisemitismus und die Presse Die Straße und die Nacht waren stets besondere Orte für jeden Polizeidiener. Sie waren in besonderer Weise Gegenstand polizeilicher Aufmerksamkeit, und sie stellten besondere Anforderungen an die Ausübung des Diensts. Nachts und auf der Straße stieg die Wahrscheinlichkeit für Konflikte, und es stieg die Wahrscheinlichkeit, beobachtet zu werden. Aus Sicht der Polizeidiener bestand stets die Gefahr, dass es Zeugen geben konnte, die in einer nachträglichen Befragung zu einem Vorfall die Aussagen der Polizeidiener konterkarierten konnten. Diese Situation wird uns im Fall der beiden nächtlichen Ruhestörer Allgeyer und Held, um die es nun gehen wird, begegnen. Da in diesem ausgewählten Fall zudem der Vorwurf im Raum stand, einer der Polizeidiener habe sich bei der Verhaftung der Ruhestörer antisemitischer Formulierungen bedient, landete der Fall in der Lokalpresse und erreichte so eine noch einmal erweiterte Öffentlichkeit. Und so lässt sich im Folgenden nachvollziehen, wie aus einer scheinbar harmlosen nächtlichen Ruhestörung ein kleiner Presseskandal wurde und sich dabei die Publika, denen sich Polizeidiener gegenübersahen, verschoben: zwei unmittelbar zu polizierende Ruhestörer, eine Reihe von Zeugen, die Presseöffentlichkeit. Der Fall zweier nächtlicher Ruhestörer, den ich ausgewählt habe, um die bereits kurz skizzierte Konstellation zu veranschaulichen, kreist, wie andere Fälle auch, um einen eigentümlichen Gegensatz der Räume. Nahezu alle an der zu schildernden Geschichte Beteiligten drücken in ihren Aussagen zur Sache eine Spannung von drinnen und draußen aus: Das „Spektakel“ auf der Straße zwang die Polizeidiener, ihr Wachzimmer zu verlassen; von außen eindringender Lärm setzte polizeiliches Handeln in Gang; Lärm und Gesang störten erst, als sie das Wirtshaus verließen und nur so lange, wie sich nicht im Haus eines der Ruhestörer langsam ausklangen. Im Verlauf des neunzehnten Jahrhunderts, so der langfristige Trend, der das konkrete Handeln von Polizeidienern vor Ort sicher mitprägte, wurde die Aufrechterhaltung von Ruhe, Ordnung und Sicherheit auf der Straße zur exklusiven polizeilichen Auf50 Sabean, Schwert [1986], S. 140, 161.
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gabe. Die Polizei sollte, darin bestand eine wesentliche Neuerung, die Straßen nicht mehr sich selbst überlassen. Lagebeherrschung wurde zum zentralen Topos, der eine stete Kategorisierung der Polizierten wie auch ihrer Handlungen verlangte. Die Ausführung dieser Aufgabe umfasste die Bekämpfung von Trunkenheit, Ruhestörung, Bettelei, Obdachlosigkeit, Unsittlichkeit, Straßenauflauf, Landfriedensbruch, groben Unfug usw. Bei der Regulierung unterschiedlichster Straßenaktivitäten bewegten sich Polizeidiener auf einem schmalen Grat zwischen Toleranz und Intervention.51 In der Regel hatten Polizeidiener mit nächtlicher Ruhestörung zu kämpfen, zumeist hieß das: mit Menschen, die sich aus einem Wirtshaus auf den Heimweg machten und lärmend oder singend durch die Straßen zogen. Der „gesellige Nachhauseweg“ am Ende eines gemeinsamen Wirtshausbesuchs erwies sich traditionell als kritischer Punkt.52 Für Polizeidiener war es durchaus nicht leicht zu entscheiden, ob und wann man einzugreifen hatte. Hätten die Polizeidiener, die sich im hier ausgewählten Fall für ein Eingreifen entschieden, einen Blick in eines der zeitgenössischen Handbücher riskiert, wären sie vielleicht gar nicht in die Versuchung gekommen, zu dem Zeitpunkt, als sie es faktisch taten, überhaupt noch tätig zu werden, schließlich standen die Ruhestörer, als es zur Konfrontation mit den Polizeidienern kam, bereits vor ihrer Haustür. Über das nächtliche Eingreifen der Polizei hieß es in dem fraglichen Handbuch nämlich: Nur Excesse, welche die Ruhe und Ordnung wirklich stören, und weitere Folgen nach sich ziehen können, dann wirkliche Unsittlichkeiten, liegen demnach in dem Bereiche ihres desfalligen Wirkens; im übrigen lasse [die Polizei] jedem seine Freiheit, beschränke sein Vergnügen nicht, und übersehe kleinere Ausbrüche oder Vorfälle, die den Gang der Ordnung nur augenblicklich unterbrechen, wenn dieselbe sogleich wieder in ihr gehöriges Geleise zurücktritt.53
51 Vgl. Lindenberger, Thomas: Straßenpolitik. Zur Sozialgeschichte der öffentlichen Ordnung in Berlin 1900 bis 1914, Bonn 1995, S. 67; für Frankreich: Merriman, Police Stories [2006], S. 142f., 151. 52 Zum Nachhauseweg: Schindler, Ruhestörung [1992], S. 235; zur Polizierung der Nacht vgl. Schlör, Stadt [1994]. Der Polizei des neunzehnten Jahrhunderts, so heißt es da (ebd., S. 16), „gilt die Stadtnacht als ‚terrain interdit‘, als verbotenes Gelände, und sie kämpft verzweifelt um jede Minute Zeit und um jeden Zentimeter Raum, den sie kontrollieren kann – und der ihrer Kontrolle nach und nach entgleitet.“ 53 Barth, Handbuch [1821], S. 503. Spätere Polizeihandbücher wiesen explizit darauf hin, dass es hier auch um die bereits diskutierten Ermessensspielräume ging: „Aber nicht jede grobe ungebührliche Handlung, die das Publikum in seiner Allgemeinheit unmittelbar belästigt oder gefährdet, begründet die Strafbarkeit, vielmehr muß als weiteres Erfordernis hinzutreten, daß die Handlungsweise des Täters sich zugleich als eine Störung oder Gefährdung des äußeren Bestandes der öffentlichen Ordnung darstelle, ähnlich wie es bei ungebührlicher Erregung ruhestörenden Lärms der Fall ist“ (Retzlaff, Friedrich: Das kleine Polizeihandbuch, Recklinghausen 1912, S. 54f.).
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Begegneten Polizeidiener und nächtliches Publikum einander, provozierte das eher häufig als selten grobe Rede und ruppige Körperlichkeit, so auch im Fall der beiden nächtlichen Ruhestörer Allgeyer und Held. Die Frage, wann diese Ruppigkeit – in beide Richtungen – das Maß überschritt und damit skandalisierbar wurde, wurde von allen Beteiligten stets sehr unterschiedlich beantwortet. Oft ging es nur um Nuancen. Verstärkt wurden Konflikte oft auch durch den Tonfall: durch höhnische, spöttische Redeweisen, auf die immer irgendjemand allergisch reagierte, die aber auch zeigen, dass jeder wusste, wie der andere verbal zu verletzen war, schließlich kannte man sich oft persönlich. Spott ging in der Regel mit einem demonstrativ selbstbewussten Auftreten einher, in dessen Folge zwei angetrunkene Arretierte – davon wird gleich im Detail zu reden sein – noch sehr genau anzugeben wussten, was ein einfacher Polizeidiener durfte und was dagegen lediglich Sache des Rottmeisters gewesen seyn dürfte. Zum Fall selbst. Im Abendrapport der Regensburger Polizeimannschaft für die Nacht vom 25. auf den 26. Januar 1851 tauchte ein Eintrag auf, wonach die Polizeisoldaten Bengl, Lex senior und Kirsch zwei Personen wegen nächtlicher Ruhestörung verhaftet hatten. Die beiden Ruhestörer wurden zum Arrest gebracht „und waren sehr ungezogen auf dem Wachzimmer“.54 Die Arretierten, Ludwig Allgeyer und Sigmund Held, 19 und 26 Jahre alt, befanden sich nach eigener Aussage gegen zwei Uhr nachts auf dem Nachhauseweg aus dem Wirtshaus. Dabei sangen sie, „wobei sie gar nicht übermäßig schrien“ und auch „von Exzessen wäre keine Sprache“. Ebenso müssten sie den Vorwurf eines unanständigen Benehmens auf dem Wachzimmer zurückweisen, und dagegen anbringen, daß sie der arretierende Polizeysoldat Lex sen. schon bei der Arretierung grob behandelt und auf dem Wachzimmer vom Einsperren geredet habe, [welches] ihres Erachtens lediglich Sache des Rottmeisters gewesen seyn dürfte und worüber sie auch den Polizeisoldaten Lex sen. aufmerksam machten.
Bei der Arretierung benahm sich auch Rottmeister Watter „höchst spöttisch und äußerte sich in ganz höhnischer Weise“. Er agierte grob und gewalttätig (einem der beiden griff er bei der Durchsuchung „auf eine äußerst ungestüme Weise in die Taschen“). „Es wäre der ganze Vorfall unbedeutend gewesen und wahrscheinlich nicht so weit gekommen“, so vermerkte das Protokoll, „hätten sie nicht etwas zu viel getrunken gehabt.“ Freilich, die Arretierten glaubten nicht, „das amtliche Ansehen so sehr beleidigt zu haben“, dass das Vorgehen der Polizei gerechtfertigt gewesen wäre.
54 Die folgende Fallstudie stützt sich auf: Magistrat Regensburg: Angebliche Dienstes-Exzesse der Polizeimannschaft, 1851, StAReg, ZR I 10785. Wenn nicht anders vermerkt, stammen alle Zitate aus den Vernehmungsprotokollen sowie dem dazugehörigen Schriftverkehr dieses Bestands.
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Die Aussagen der Polizeidiener liefern ein anderes Bild als die im Protokoll verzeichnete Schilderung der arretierten Ruhestörer oder der später befragten Zeugen. Dabei fällt das hohe Maß an Kohärenz und Redundanz auf. Diese Redundanz hatte nun wiederum eine Funktion: Polizeidiener zielten mittels der immer gleichen Aussage(n) darauf, einen umstrittenen Sachverhalt in eine unumstößliche Tatsache zu verwandeln. Und gehen wir ruhig davon aus, dass sie ihre Aussagen entlang der Erwartungen modellierten, die sie bei ihren Vorgesetzten vermuteten. Im Versuch, eigene Verfehlungen herunterzuspielen oder abzustreiten, bleibt so doch immer auch sichtbar, wie ein Polizeidiener – eigentlich – hätte sein sollen. Polizeisoldat Ziegler, so beginnt der Reigen, wollte in der fraglichen Nacht gerade zur Patrouille aufbrechen, als wir einen auffallenden Lärm durch Singen u. Schreien [bis ins] Wachzimmer hörten. Gleichzeitig kam Polizeisoldat Lex sen., der den Wachposten vor dem Rathhaus hatte, u. forderte uns auf mitzugehen, um der Ruhestörer, die wir ihrem Geschrei nach für betrunkene Rabauken hielten, habhaft zu werden. Wir treffen nun auf der Strasse 4 junge Leute, die vor dem Rathhaus singend vorbeizogen und bei einem Haus gegenüber dem Kgl. Gendarmeriegebäude stehen bleiben, wo wir sie einholten. […] Den einen nahm Lex bey seinem Mantel u. forderte ihn auf, mit ihm zu gehen, wobei er bemerkte, dass dies ein Betragen sei wie von Gassenbuben.
Auf der Wache erkannte er einen der beiden, Herrn Held, und eröffnete ihm, dass er wegen Nachtruhestörung aufgegriffen worden sei. Rottmeister Watter trug Namen und Vergehen in das Arrestbuch ein und ließ die beiden abführen. „Watter hat sich hierbei nicht spöttisch benommen.“ Die Arretierten wurden vorschriftsmäßig durchsucht und aufgeklärt, welche Gegenstände abzugeben waren, „ungestümes Benehmen konnte ich jedoch hierbei nicht wahrnehmen.“ Er und Polizeisoldat Bengl führten beide in den Arrest. Man glaubte die Zelle leer, bemerkte aber, dass schon jemand einsaß. Daher brachte man Held und Allgeyer ins Bürgerarrestlokal. „Beim Eintritt in dasselbe verlangten sie einen Stuhl, ein Licht und einen Tisch, auch beantragten sie, daß sogleich geheizt werde.“ Tisch und Stuhl standen ohnehin bereit, die Beheizung wurde veranlasst, ihnen aber mitgeteilt, „daß auf ihr Ersuchen, ihnen Licht zu lassen, nicht eingegangen werden kann“. Diese Aussage für sich genommen gibt eine doch recht anschauliche Vorstellung des Ablaufs, lässt aber bereits erkennen, wo potentielle Bruchlinien der Wahrnehmung verlaufen. Bezieht man nun die Aussagen der Polizeidiener Bengl und Lex senior sowie des Rottmeisters Watter in die Analyse ein, dann entsteht rasch der Eindruck, man liest ein und dasselbe Drehbuch, nur eben aus der Sicht verschiedener Figuren. Auch Polizeidiener Bengl spricht von gewaltigem Lärm durch Singen und Schreien; von Polizeidiener Lex’ Bitte, ihn bei der Arretierung von vier jungen Leuten zu
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unterstützen, die für den Lärm verantwortlich waren; von der Arretierung der Ruhestörer. Bengl präzisiert freilich: Man ergriff lediglich zwei der eigentlich vier Ruhestörer, die anderen beiden entwischten. Lex erkennt einen der beiden Arretierten als Sigmund Held und wundert sich über das Benehmen des ihm bekannten jungen Manns. „So gehen nur Gassenbuben nach Haus“, sagt er zu ihm. Spöttische Bemerkungen fallen nirgends und von niemandem; nur kann man natürlich auf das Ansinnen Allgeyers und Helds, entlassen zu werden, nicht eingehen, schließlich, so belehrt Rottmeister Watter die Arretierten, sah man doch, dass „die nächtlichen Exzesse zu Jahr überhand nehmen u. die Polizeymannschaft deshalb zur Verhütung derselben die schärfsten Aufträge habe“. Die beiden werden vorschriftsmäßig durchsucht, „aber nicht grob oder ungestüm behandelt“. Sie werden zuerst ins Arrestlokal gebracht, dann aber, weil die Arrestzelle inzwischen anderweitig belegt war, ins Bürgerarrestlokal. Dem Hausmeister wird aufgetragen, die Räume zu heizen. Das verlangte Licht kann man aufgrund der bestehenden Vorschriften nicht geben. Liest man das Vernehmungsprotokoll nun in der Rolle des Polizeidieners Franz Lex senior, entdeckt man kaum Abweichungen, eher einige Konkretisierungen. Lex hält, als es zur Verhaftung kommt, den Allgeyer am Mantel fest und fordert ihn auf, ihn zur Wache zu begleiten. Lex’ Dialogzeile: Das sei ein Betragen „wie von Gassenbuben“. Lex’ Interpretation des Gesagten und Gemeinten: „Daß ich sie direkt Gassen- oder Hirtenbuben hieß, ist unwahr.“ Auch Lex hört keine spöttischen Bemerkungen seitens des Rottmeisters. Auf der Wache werden die Personendaten der Arretierten auf- und ihnen laut Vorschriften zu beanstandende Dinge abgenommen. „Da sie sich anfänglich weigerten“, so beschreibt Lex sein Vorgehen, „habe ich ihre Taschen untersucht, muß aber auf das [schärfste] widersprechen, daß ich grob und ungestüm hierbey verfahren bin.“ Im Gegenteil, er gibt ihnen Barschaft und Mäntel wieder zurück, nachdem er sich vergewissert hat, dass keine gefährlichen Gegenstände darin waren. Rottmeister Watters Auftritt in der Szene entspricht diesen Schilderungen. Als er „den Held“ sieht, kann er seine „Verwunderung darüber, daß er eines solchen gewöhnlichen Exzesses fähig sei, nicht unterdrücken und äußerte: ‚Sie hier, Herr Held, das hätte ich […] nicht vermutet, daß sie nächtlicher Weile einen Spektakel machen, den man bis ins Wachzimmer rein hört!‘“ Bei der Erhebung der Personendaten geben die beiden Ruhestörer nur ihre Namen an, benehmen sich „forsch“, nehmen ihre Kopfbedeckung nicht ab, laufen auf und ab. Die Frage nach Religionszugehörigkeit bleibt unbeantwortet. Aus der Aussage, er sei der Allgeyer von Furth, schließt Rottmeister Watter, er müsse Israelit sein, und schreibt das so in den Rapport. Die Ruhestörung war zu groß, um die Sache auf sich beruhen zu lassen, also schickt Watter die beiden in den Arrest. Sie in eine Zelle zu stecken, in der bereits ein unter Tötungsverdacht stehender Arretierter einsaß – diese Anweisung steht nicht in seinem Drehbuch. Nach und neben den Polizeidienern stand die Vernehmung von Zeugen an. Im vorliegenden Fall hatten diese eine durchaus andere Einschätzung als die Polizeidie-
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ner. Die von den Polizeidienern und den anderen Beteiligten geschilderten Szenen sind nicht identisch. Das mag einerseits Ausdruck eines strategischen Parteiergreifens für die Angeklagten und Arretierten sein (mit denen man immerhin zusammen unterwegs war), andererseits verweist es möglicherweise aber doch auf unterschiedliche Wahrnehmungen, wann laut ‚zu laut‘ war, wann also ein normaler Geräuschpegel zu Ruhestörung wurde. Die beiden Arretierten und ihre zwei Begleiter, Simon Baumeister und Ludwig Thiem, singen zwar auf dem Nachhauseweg, aber „ohne auffallenden Lärm zu machen“. Jedenfalls veranstaltet man nicht einen derartigen Lärm, wie die Polizei hinterher behaupten sollte. Als das Lied endet, stehen sie schon vor der Tür zu Allgeyers Wohnung gegenüber dem Gendarmeriegebäude. Allgeyer sucht bereits seinen Schlüssel aus der Tasche, als ihn die drei Polizeidiener am Mantel packen. Unangemessen verhalten sich also die herbeistürmenden Polizeidiener, „wovon der eine mit vielem Geschrei den Allgeyer anpackte […]. Hierbei schrie dieser Polizeysoldat ungestüm, daß dadurch eine größere Störung der Nachtruhe entstand als durch das Singen des Liedes“. Dann sagt jemand: „Gassenbuben und Hirtenbuben“. Niemand hört aber, ob gemeint war, man benähme sich wie solche, oder ob Allgeyer direkt als Gassen- und Hirtenbube angesprochen wurde. Diese Zeugenaussagen dokumentieren, was James C. Scott als negative Solidarität bezeichnet und als Voraussetzung selbst der minimalsten Widersetzlichkeit identifiziert hat: Wenn man nicht bereit war, direkt und offen Partei zu ergreifen oder gar gemeinsam zu handeln, dann verzichtete man zumindest darauf, dem anderen in den Rücken zu fallen.55 Durch feine Akzentsetzungen in den Zeugenaussagen entstand so ein Bild der Szenerie, das mit den polizeidienerlichen Schilderungen konkurrierte. Ein Nachspiel hatte der Vorfall, den Polizeidiener, Beteiligte und Zeugen so unterschiedlich nuancierten, weil er in der Zeitung landete und damit ein anderes Publikum erreichte. Im Regensburger Tagblatt erschien am ersten Februar 1851 ein Artikel, in dem der Polizeimannschaft im Allgemeinen sowie zwei namentlich genannten Polizeidienern im Besonderen nicht nur Bedrückungen des Publikums, sondern zudem antijüdische Ressentiments vorgeworfen wurden. Dieser Zeitungsartikel wurde vom Magistrat als Beeinträchtigung der Dienstausübung der Polizeibehörde gedeutet; als Angriff auf die Behörde selbst, nicht nur auf die beiden Polizeidiener, da schließlich die Behörde für Aufsicht und Kontrolle der Polizeidiener verantwortlich war. Der Magistrat machte das vor allem daran fest, dass gegenüber dem Magistratsreferenten der – vermeintlich – wahrheitswidrige Vorwurf erhoben wurde, er hätte die Untersuchung nicht unparteiisch durchgeführt. Unmut verursachte vor allem die Unterstellung, „daß die Vernehmung wahrscheinlich nur aus dem Grunde verspätet wurde, weil man ‚gegen Juden‘ die Rücksichten der Schicklichkeit, des Anstandes und der Gerechtigkeit nicht beachten zu dürfen glaubt“. 55 Vgl. Scott, Weapons [1985], S. 261.
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Die Sensibilität für Fragen des Antijudaismus, zumal dann, wenn ein solcher Vorwurf an die Behörden gerichtet und öffentlich verhandelt wurde, war, so kann man vermuten, eine Nachwirkung der Hepp-Hepp-Unruhen: einer Kette antijüdischer Tumulte, die ihren Ausgang 1819 in Würzburg nahm und zahlreiche süddeutsche Städte erfasste. In Würzburg zogen am 2. August 1819, so die behördlichen Berichte, „Gassenjungen und sonst verdorbenes Gesindel“ (die Gassenjungen scheinen dann doch zum polizeilichen Jargon gehört zu haben) unter dem Spott- und Hetzruf Hepp-Hepp von einer jüdischen Wohnung zur anderen. Es kam zu Einbrüchen, Plünderungen, Beschimpfungen und körperlichen Übergriffen, die erst am dritten Tag von Polizei und Militär unterdrückt werden konnten. Die Kette derartiger Vorkommnisse riss, vor allem auch in Bayern, bis in die Revolutionsjahre nicht ab.56 Vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen dürfte dem Magistrat die Gefahr und Sprengkraft eines unwidersprochenen und unwiderlegten Vorwurfs antijüdischer Ressentiments vor Augen gestanden haben, und so ersuchte man einerseits den Staatsanwalt, aufgrund des Gesetzes gegen Missbrauch der Presse ein Verfahren gegen die Redaktion des Regensburger Tagblattes einzuleiten, und ließ sich andererseits von einem Referenten über die Hintergründe des Vorfalls informieren. Im Verhaftungsprotokoll, so erfuhr man, waren Allgeyer und Held als „die beiden Juden“ beschrieben worden. Ihnen wurde dann bey ihrer Vernehmung […] der Inhalt des Rapportes nicht ad verbum sondern mit Umgehung der Worte ‚die beiden Juden‘ eröffnet. [Ihnen] wurde aber auch [auf ] Verlangen der Rapport gezeigt und vorgelesen, wodurch auch die Betheiligten Allgeyer und Held Kenntnis von dem fraglichen Ausdrucke erhielten, den Niemand billigen wird, u. bezüglich dessen ich mir weitere [Schritte] vorbehalte.
Allerdings, so erläuterte der Referent, hatte die verzögerte Entlassung erst am Folgetag damit zu tun, dass zeitgleich jemand wegen Totschlags verhaftet worden war, man also wenig Zeit für die beiden Ruhestörer hatte. Die Auskunft scheint den Magistrat beruhigt und genügt zu haben. Zu weiteren internen Nachforschungen kam es nicht. Lediglich das Vorgehen gegen das Regensburger Tagblatt verfolgte man weiter, freilich ohne den gewünschten Erfolg. Acht Wochen später teilte der Staatsanwalt mit, dem Ansinnen einer Verfahrenseinleitung wurde nicht entsprochen, weil die veröffentlichten Anschuldigungen eben keineswegs – wie der Magistrat meinte – eine implizite Denunziation der Behörde als solcher beinhalteten und die Kritik am Vorgehen eines Magistratsreferenten nicht in den 56 Vgl. Rohrbacher, Stefan: Deutsche Revolution und antijüdische Gewalt, in: Alter, Peter (Hg.), Die Konstruktion der Nation gegen die Juden, München 1999, S. 29–47; ders.: Gewalt im Biedermeier. Antijüdische Ausschreitungen in Vormärz und Revolution (1815–1848/49), Frankfurt/M. 1993.
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Bereich des angesprochenen Gesetzes falle. Unzufrieden mit dieser Entscheidung, wandte sich der Magistrat an das Ministerium – mit der Bitte, man möge mit dem Staatsanwalt „in Communikation treten“, da die städtische Behörde mit dem staatsanwaltlichen Schreiben „nicht beruhigt werden“ konnte. All das fruchtete nicht, und so schrieb der Magistrat an die Redaktion des Tagblatts – und kündigte unter Bezug auf den kritischen Artikel eine Untersuchung der zur Last gelegten Disziplinarverfehlungen der Polizeimannschaft an, ohne dass das zu greifbaren Ergebnissen führte.
9.6 Rückenhiebe am blauen Montag Im Umgang mit dem Publikum kam es regelmäßig zu Misshandlungen und Übergriffen. Dabei zeigt sich, so Alf Lüdtkes Beobachtung, dass die bis dahin „vergleichsweise unspezifische Disziplinierungsaufgabe“ seit dem Vormärz eine „wesentlich schärfere soziale Kontur“ erhielt.57 Zwar, so hieß es in einer polizeiwissenschaftlichen Abhandlung aus dem Jahr 1848, wäre zu erwarten, dass mittels erfolgreicher Polizeiarbeit „die Zahl derer sich vermehren müßte, welche in selbständiger Beschäftigung ihre Lebens-Subsistenz suchen und finden“, doch bliebe selbst dann „noch eine beträchtliche Zahl übrig, der es nicht so bald oder gar nicht gelingt, dieses Ziel zu erreichen“. Diese „Klasse von Menschen“ sei es, der die Polizei volle Aufmerksamkeit widmen müsse, „um die Versuchungen zu Eingriffen in fremdes Eigenthum, zu Rechtsverletzungen überhaupt, um den Drang der Noth mit seinen rechtsgefährdenden Wirkungen bei ihnen nicht eintreten zu lassen“. Gefahren gingen also von denjenigen aus, deren Subsistenzgrundlage prekär war, die sich in unterschiedlichen Stellungen durchschlagen mussten; von jenen, denen – um solchen Versuchungen, solchem Drange der Noth zu entgehen – nichts übrigblieb, als „im (mannichfaltigsten) Dienste für 57 Besitz- und Arbeitslose, aber auch abhängige Beschäftigte, gerieten nun besonders in den Blick. Unterschiede zwischen diesen Gruppen wurden eingeebnet. „Verwischt wurde aber auch die Besonderheit der ‚flottanten Massen‘ derer, die nicht nur materiellen Besitz entbehrten, sondern auch höchst selten ihre Arbeitskraft direkt vermarkten konnten – die sich die Mittel zum täglichen Überleben vielfach auf ‚gesetzlose‘ Weise beschaffen und aneignen mußten“ (Lüdtke, Gemeinwohl [1982], S. 175). Dieser neue Blick auf die zu Polizierenden entlang eines sozialen Bias zeigt sich im Mannschaftsbuch der Regensburger Polizei. Da ist die Rede von Körperverletzungen und Misshandlungen von Lehrlingen, Schneidergehilfen, Bauernburschen, Gärtnergehilfen usw. Die Einträge, die sich auf körperliche Übergriffe und Misshandlung beziehen, sind zeitlich weit gestreut und umfassen die Jahre 1836 bis 1855. Ihre Zahl ist zudem nicht signifikant hoch. Körperliche Übergriffe und Misshandlungen stellen eher eine Art Hintergrundrauschen dar, das immer wieder einmal in den Vordergrund trat, ohne dabei alles andere dauerhaft zu übertönen. Allerdings bleibt unklar, wann und wo die Schwelle zwischen härterem Zupacken, Disziplinarmaßnahmen und Misshandlungen, die eine Untersuchung rechtfertigten, überschritten wurde (vgl. Polizeimannschaft Regensburg: Mannschaftsbuch, 1851, StAReg ZR I 10792–94).
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andere, als Gewerbsgehülfen, Fabrikarbeiter, Dienstboten u. s. w., und überhaupt durch Lohnarbeiten ihre Subsistenz zu fristen“. Die „Scheu“, solches zu tun, führte einige „Individuen dieser Klasse“ dann „auf Abwege“.58 Mit Blick auf das andernorts diskutierte Bewerberfeld für den Polizeidienst könnte man aus dieser Beschreibung auch folgern: diejenigen, die es unter bestimmten Umständen durchaus in den Polizeidienst verschlagen konnte – um eine bereits mehrfach zitierte Beschreibung aufzunehmen: die Schiffbrüchigen aus den stürmischen Wogen des Lebens diesseits und jenseits der öden Klippe der Polizeimannschaft. Was in der zitierten Passage mit einem gewissen Gespür für einen einschneidenden ökonomischen und sozialen Wandel geschildert wurde, präsentierten andere Polizeiwissenschaftler der Jahrhundertmitte als kaum aufzuhaltende Flut der Armut und des Verbrechens. Alle Länder hätten inzwischen „einen Überfluß an Individuen, die das Eigenthum bedrohen, und die großen Städte zählen ein Heer von gefährlichen Personen in ihren Mauern“.59 Die Schwierigkeit des Polizeidiensts liege darin, gleichzeitig mit ehrbaren Leuten und Verbrechern umgehen und entsprechend differenzierte Verhaltensweisen entwickeln zu müssen: Mit Gesindel und Verbrechern muß der Agent ernst, gemessen und kurz verfahren: hier ist Derbheit häufig am richtigen Orte. Nur liegt eine weite Kluft zwischen derber Festigkeit und anderseits Rohheit, Mißhandlung und Brutalität. Unmenschlich, höhnisch und schadenfroh verfahren, heißt teuflisch sein.60
An dieser Stelle lohnt ein genauer Blick auf ein Vorkommnis in Nürnberg.61 Am 27. Juli 1858 meldete sich der mittelfränkische Amtsvorsteher beim Nürnberger Bürgermeister, weil ihm zu Ohren gekommen war, dass während seiner Abwesenheit einem Arretierten, der wegen nächtlicher Ruhestörung und Trunkenheit am blauen Montag in einer Zelle saß, „eine körperliche Züchtigung von 12 Ruthenhieben von kurzer Hand und ohne Beschlußfassung ertheilt worden ist.“ Der blaue Montag, von dem das Schreiben spricht, war kein Zufall, sondern verweist auf ein in hohem Maß symbolisches und ritualisiertes Geschehen. Der Aufbau einer modernen Polizei reflektierte schließlich gerade einen neuen Konsens unter den besitzenden Klassen, diszipliniertes Verhalten im öffentlichen Raum – vor dem Hintergrund fragwürdiger Vergnügungen der Unterschichten – durchzusetzen.
58 59 60 61
Behr, Polizei-Wissenschaftslehre [1848], S. 126. Zimmermann, Polizei [1845–1849], S. 673. Ebd., S. 1116f. Dazu und zum Folgenden: Überschreitung der Grenze der Polizeigewalt, dann dienstliche Exzesse der Polizeibeamten, 1858, StAN, C7/I, 2720. Auf Einzelnachweise wird verzichtet.
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Die moderne Polizei war von Anfang an als Institution sozialer Kontrolle konzipiert.62 Der Kampf gegen den blauen Montag gehört in diesen Kontext. Der Strukturwandel des Handwerks seit den 1830er Jahren wurde dabei unter dem Aspekt drohender „Entsittlichung“ und „Demoralisation“ beklagt. Im Wechselspiel mit dem Vordringen „eines bürgerlichen, säkularisierten Arbeitsgedankens“ führte das zu einem verstärkten Angriff auf die „Bestandteile ‚gemütlicher‘ handwerklicher Lebenswelt“.63 Der blaue Montag machte dabei selbst einen Wandel durch. Bis in die späten 1830er Jahre, so die Beobachtung für England, waren Kneipenbesuche und bestimmte Spiele (Boxkämpfe, Hundekämpfe usw.) – oft in den Hinterhöfen der Wirtshäuser – die bevorzugten Montagsaktivitäten. Danach wurde der blaue Montag schrittweise als arbeiterlicher ‚Feiertag‘ umgedeutet, der zu Ausflügen, sportlichen und Bildungs- oder Vereinsaktivitäten genutzt wurde.64 Die Misshandlung des Handwerkers Schlicht ereignete sich an einem blauen Montag, und von behördlicher Seite wird mit der Erwähnung dieses Umstands zumindest suggeriert, Schlicht könnte sich auf eine nicht ganz so untadelige Weise vergnügt haben. Der Vorfall kam ans Licht, weil Schlicht darüber klagte, „daß er Tags zuvor nach seiner Einlieferung im Brummstalle von Polizeisoldaten im Beisein eines Offizianten mit Rückenhieben gezüchtigt worden wäre.“ Als dem Amtsvorstand bei der Durchsicht des Protokollbuchs dieser Eintrag auffiel, ordnete er eine Untersuchung an. Der wachhabende Rottmeister sagte aus, Schlicht führte sich 62 Robert D. Storch hat diese Konstellation am englischen Fall als wesentliche Triebkraft der vor allem in den 1830er und 1840er Jahren virulenten Polizeifeindschaft identifiziert (vgl. Storch, Plague [1975]; ders., Domestic Missionary [1975–1976]; aber auch: Weinberger, Barbara: The Police and the Public in Mid-Nineteenth-Century Warwickshire, in: Bailey, Victor (Hg.), Policing and Punishment in Nineteenth Century Britain, New Brunswick/NJ 1981, S. 65–93). 63 Husung, Hans-Gerhard: Protest und Repression im Vormärz. Norddeutschland zwischen Restauration und Revolution, Göttingen 1983, S. 136; vgl. auch: Kriedte, Peter: Eine Stadt am seidenen Faden. Haushalt, Hausindustrie und soziale Bewegung in Krefeld in der Mitte des 19. Jahrhunderts, Göttingen 1991, S. 249; Boch, Handwerker-Sozialisten [1985], S. 107, 126. 64 Facharbeiter und gutsituierte Handwerker gingen in der zweiten Jahrhunderthälfte allerdings auf Distanz. Es war diese Distanzierung, die erhebliche Auswirkungen auf die Wahrnehmung und Bewertung hatte. Der blaue Montag verlor als „ehrwürdiges und zentrales Element der Überlieferungen der Arbeiterklasse“ an Bedeutung und wurde zunehmend „mit derjenigen Schicht der Arbeiterschaft in Verbindung gebracht, die man des ‚Leichtsinns‘, der ‚Planlosigkeit und Pflichtvergessenheit‘, ja des ‚moralischen Verfalls‘ bezichtigte und für die der einstmals geliebte Brauch nun zu einer Zuflucht vor Resignation wurde. Resignation erfaßte vor allem die Angehörigen der aussterbenden Gewerbezweige. […] Die meisten von ihnen waren an den Rand der Gesellschaft geraten oder standen bereits außerhalb von ihr. Daß sie am Brauch des Blauen Montags festhielten, hatte auch mit Widerstand zu tun, mit Trotz und einem letzten Aufflackern von Freiheitsbegehren“ (Reid, Douglas A.: Der Kampf gegen den „Blauen Montag“ 1766 bis 1876, in: Puls, Detlev (Hg.), Wahrnehmungsformen und Protestverhalten. Studien zur Lage der Unterschichten im 18. und 19. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1979, S. 265–295, Zitat: S. 284f.).
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so ungezogen und exzessiv auf, daß Gewaltmaßregeln durch den Schließer ergriffen werden mußten, welche jedoch nicht fruchteten. […] [U]nd hier mag es vorgekommen seyn, daß Schlicht mehrere Puffer wegen seines ungezogenen Benehmens erhielt, von einer […] Aufzählung von Rückenhieben habe ich jedoch nichts gesehen. Erst heute morgen machte mir der Polizeisoldat Rausch die Mitheilung, daß Schlicht so viel er sich erinnere […] Morgens ohngefähr 10 oder 12 förmlich aufgezählte Rückenhiebe erhalten habe. Weiter kann ich nichts angeben, was ich hiermit auf meinen Diensteid versichere.
Hier deutet sich eine Linie an, die auch die folgenden Aussagen durchzieht: die feine Nuancierung in Sachen körperlicher Züchtigung. Es ist ratsam, genau auf die Wortwahl zu achten. Dass körperlich gegen Schlicht vorgegangen worden war, bestritt niemand. Vielmehr ging es darum, welcher Art die gewaltsamen Handlungen waren. Es hing einiges davon ab, ob es sich – so die variierenden Bezeichnungen in den Aussagen – um Ruthenhiebe von kurzer Hand beziehungsweise förmlich aufgezählte Rückenhiebe oder um bloße Rückenhiebe, mehrere Stockschläge auf den hinteren, beiläufige Stockschläge beziehungsweise einfach um mehrere Puffer handelte. Die Aussagen der Polizeidiener zeigen ein beachtliches Maß an Korpsgeist wie auch ein kollektives Bewusstsein für das Sagbare; und das, obwohl der Umgang untereinander keineswegs immer freundlich oder gar freundschaftlich war.65 Sie waren hier schließlich unter sich und auf Augenhöhe, ohne dass Zollwächter, Soldaten usw. beteiligt waren. Nichts sehen, sich auf Hörensagen und Gerüchte zurückziehen und die Verantwortung weiterreichen – so verliefen die Aussagen nahezu aller befragten Polizeidiener. Einer verwies auf den anderen als Quelle der Information. Polizeidiener Rausch sah nichts, „was darauf hindeuten würde, daß Schlicht 12 förmlich aufgezählte Rückenhiebe erhielt“. Die Kollegen Denninger und Steinlein hätten ihm allerdings von Rückenhieben berichtet. Steinlein war aus eigener Wahrnehmung freilich auch nichts bekannt, allerdings habe Polizeidiener Karl ihm gegenüber erwähnt, er hätte gehört, jemand wäre auf der Polizeiwache geschlagen worden. Mit Polizeidiener Rausch habe er nicht direkt darüber gesprochen, es könnte aber sein, dass Rausch in der Nähe stand, als Karl über die Sache sprach. Denninger war „von der ganzen Sache gar nichts bekannt“. „[D]aß ich am Morgen gesagt haben soll, Schlicht hätte gestern Rückenhiebe erhalten, ist mir nicht bewußt, ich konnte gar nicht von dieser Sache berichten, da ich von derselben nichts wußte.“ Polizeidiener Meyer hatte zwar Dienst, „aber nicht gesehen, daß Schlicht durch Schläge mißhandelt wurde, 65 Polizeidiener drohten sich schon einmal gegenseitig mit Schlägen, wurden von ihren Vorgesetzten „schreiend mit geballten Fäusten empfangen“ usw. (vgl. Polizeimannschaft Nürnberg: Verfahren gegen Polizeidiener Helbel wegen Dienstvernachlässigung und subordinationswidrigen Betragens, 8.7.1811, StAN, C2, 56). Auch in Mannschaftsbüchern finden sich solche Einträge, etwa über eine „förmliche Balgerey“ (vgl. Polizeimannschaft Regensburg: Mannschaftsbuch, 1851, StAReg, ZR I 10793–94).
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oder daß derselbe förmliche Rückenhiebe erhielt“. Polizeidiener Moll sah nichts, Polizeidiener Wack hatte auch später „nichts davon erfahren, daß Schlicht 12 Rückenhiebe aufgezählt erhalten haben soll“. Rottmeister Volkert wusste nur, dass Schlicht inhaftiert, nicht aber, ob er gezüchtigt worden war. Ein anderer hatte „an diesem Tag viel zu laufen und war auf der Wachstube wenig anwesend“, sah Schlicht erst, als er von der Wache weggebracht wurde, und „bemerkte bloß, daß dessen Rock zerrissen war“. Polizeidiener Engelhardt meinte: Es geht zwar das Gerede unter der Polizeimannschaft, daß Schlicht wirklich Rückenhiebe erhalten haben soll und zwar am Montagnachmittag, Polizeisoldat Helbig soll sie angesetzt haben. Ob er in eigenem Willen gehandelt hat, oder ob er hierzu beauftragt wurde, von dem weiß ich nichts.66
Neben dem Weiterreichen der Verantwortung (sicher im Wissen darum, dass die Kollegen die Verantwortung ebenfalls weiterreichen konnten) rückte die Aufführung des Verhafteten in den Blick. Thematisiert wurde dessen ungebührliches, gewalttätiges Verhalten, das als Rechtfertigung für Übergriffe herhalten musste, die eigentlich niemand gesehen haben wollte. In den Aussagen der Polizeidiener war einhellig die Rede von „Schreien im Brummstall“; davon, dass Schlicht „tobte und lärmte“, und zwar von „der Art, daß Rottmeister Schacht […] den Auftrag ertheilte, diesen Menschen krumm zu schließen“. Seitens der Polizeidiener wäre keine Gewalt vorgekommen, Schlicht „dagegen schlug mit Händen und Füßen, soweit er sich regen konnte, um sich“. Polizeidiener Moll wollte gehört haben, wie Schlicht gegenüber einem anderen Polizeidiener bereits gegen das Krummschließen protestierte. Um dieses zu vermeiden, versprach er sich zu benehmen, was er aber nicht tat. Daher wurde die Maßnahme vollzogen. Kollege Wack bemerkte, „daß Schlicht einmal seinen Fuß zwischen die Thüre des Brummstalls steckte, um dadurch zu verhindern, daß dieselbe zugemacht werden kann“. Polizeidiener Helbig kam „erst dann dazu, als Schlicht auf der Pritsche lag, und an Händen und Füßen gehalten wurde. Schlicht bat, ihn nicht zu schließen mit der Versicherung, er wolle ruhig sein“. Die Schließung wurde daraufhin unterlassen. Polizeioffiziant Vollrath kam dazu und „machte ihm bemerklich“, dass er, wenn nicht Ruhe einkehrte, „Anzeige machen müßte […]. Erst dann wurde Schlicht auf 66 Beim Verweis auf das umhergehende Gerede handelte es sich um einen etablierten Topos. „In der häufig gebrauchten Formulierung ‚es geht die Rede‘ ist das Gerede zum Subjekt geworden. Schon in den sprachlichen Formulierungen klingt der Kern dessen an, was ‚die Rede‘ ausmacht: das informelle, verdeckte und nicht an Personen gebundene Verbreiten von Vertraulichkeiten über einzelne Personen“ (Gleixner, Mensch [1994], S. 181). Auch hier wurde das Gerede – wie im Fall des Polizeidieners Schneider und der sechzehnjährigen Magd, der weiter oben geschildert wurde – erst dann zum Problem, als sich mit dem Amtsvorsteher eine offizielle, vorgesetzte Stelle dafür zu interessieren begann.
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Befehl des Offizianten Vollrath wirklich geschlossen.“ Man drückte Schlicht beim Schließen fest, schlug oder stieß ihn aber nicht. „Auf das entschiedenste“, so Polizeidiener Helbig, „muß ich in Abrede stellen, daß ich es gewesen sein soll, der die Rückenhiebe an Schlicht vollzogen“ hat. Weiteres wusste Helbig nicht, hatte er sich doch zu diesem Zeitpunkt vom Ort des Geschehens entfernt und kam erst gegen zwei Uhr nachts zurück. Schlicht tobte und lärmte zu dieser Zeit immer noch und wurde wegen dieses Verhaltens zum Turm verbracht. Auf dem Weg berichtete Schlicht von Schlägen, erinnerte sich aber nicht, wo und von wem er diese erhalten haben könnte. Polizeidiener Helbig versicherte, die Polizei könne es nicht gewesen sein. Eher schon könnte er die Schrammen und Schläge „leicht aus einem Wirthshause davon getragen haben“. Daraufhin fing Schlicht „im Allgemeinen über die Polizei an zu schimpfen“. Als Polizeidiener Helbig erneut befragt wurde, gab er an, Schlicht sprang von der Pritsche und baute sich im Brummstall vor dem Polizeioffizianten Vollrath auf – worauf dieser mit einer knappen Ansprache reagierte: „Vergessen Sie sich nicht, ich bin der Offiziant.“ Man kann nur spekulieren, welche Wirkung es hatte, als sich Vollrath – wahrscheinlich mit festem Auftritt (zu dem Polizeihandbücher rieten), vielleicht mit arrogantem Tonfall und sicher mit leichter Empörung in der Stimme, weil sein Rang von einem lärmenden und tobenden, offenkundig angetrunkenen Arretierten nicht sofort erkannt worden war – sich vor dem Handwerker aufbaute und ihm diese Ansprache hielt. Ob die Worte genauso gefallen sind, lässt sich nicht klären. Vollraths eigene Aussage bestätigt oder korrigiert sie nicht. Ganz sicher ist davon auszugehen, dass Vollrath glaubte, bereits die Nennung dieses Rangs erheischte Respekt, galt der Polizeioffiziant doch fast schon als Beamter, nicht bloß als subalterner Polizeidiener, an den ganz andere Anforderungen gestellt wurden. Schlicht schien davon nicht beeindruckt zu sein, denn er entgegnete laut Aussage des Polizeidieners Helbig: „Ihr seid alle Lausen!“, worauf Vollrath einen Polizeidiener damit beauftragte, seinen Stock zu holen. Nach Anweisung gab Helbig „dem Schlicht allerdings mehrere Stockschläge auf den hinteren. Ich mag dem Schlicht 6–7 beiläufige Stockschläge gegeben haben, als derselbe sich auf die Pritsche nieder setzt und so auf diese Weise von dem Offizianten Vollrath wegkam“. Die Untersuchung warf am Ende der Vernehmungen die Frage auf, was davon (nicht) auf Befehl geschah. Polizeidiener lebten in einer Welt der Befehle; Befehle, die man zu befolgen hatte, denen man aber auch ausweichen konnte, die interpretationsfähig und interpretationsbedürftig waren. Formal, so Elias Canetti, darf ein Befehl, „nicht diskutiert, nicht erklärt oder angezweifelt werden. Er ist knapp und klar, denn er muß auf der Stelle verstanden werden“.67 Klar war im vorliegenden Fall, dass Offiziant Vollrath einem Polizeidiener den Auftrag gab, einen Stock zu holen. Ob Polizeidiener Helbig bei der Züchtigung „in eigenem Willen gehandelt hat, oder 67 Canetti, Elias: Masse und Macht, Frankfurt/M. 1980 [1960], S. 336f.
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ob er hierzu beauftragt wurde“, wusste ein befragter Kollege allerdings schon nicht mehr anzugeben. Auf Diensteid versicherte er, dass „Offiziant Vollrath eine Anzahl von Rückenschlägen nicht dictierte, sondern mir nur den Auftrag ertheilte, dem Schlicht einige [Schläge zu erteilen]“. Der von Helbig namentlich ins Spiel gebrachte Offiziant Vollrath, der überhaupt nur als potentieller Befehlsgeber in Frage kam, bestätigte, er habe seinen Stock holen lassen, das aber nur, um den Arretierten „zu schrecken.“ Er drohte wohl, Schlicht Hiebe erteilen zu lassen, falls er sich nicht beruhigte, „allein förmlich befohlen habe ich es nicht“. Wenn nun einer oder der andere der Polizeisoldaten diese Drohung für einen Befehl angesehen und dem Schlicht für sein exzessives Benehmen mehrere Stockschläge angesetzt hat, so kann ich hierfür nichts. Ich stand dabei wie er die Stockschläge bekommen hat, es war [eher] eine Balgerei, denn es waren 5 Mann über dem Schlicht bis sie ihn gebändigt haben, ich kann deshalb auch nicht verhehlen, daß ich es sogar gerne gesehen habe als Schlicht für sein exzessives Benehmen diese Züchtigung erhalten hat [meine Hervorhebungen].
Die Eindeutigkeit eines Befehls ist nur eine scheinbare; zumindest bot die Praxis des Befehlens genügend Spielraum für nachträgliche Ausreden der Befehlenden wie auch der Befohlenen. Diesen Aspekt, die Entlastungs- und Rechtfertigungsfunktion des Befehls für den Befohlenen, berührt der Theoretiker des Befehls, Elias Canetti, freilich nicht. Gerade der Umstand, dass es im hier diskutierten Fall umstritten war, ob ein Befehl erteilt worden war, macht seine enorme Bedeutung im polizeidienerlichen Alltag deutlich. Darüber hinaus, und das wird in der Regel überhaupt nicht thematisiert, wenn Befehlssituationen verhandelt werden, öffnet sich die Möglichkeit, die Welt der Polizeidiener als eine solche zu interpretieren, in der jedes Wort, jeder Hinweis, jeder Kommentar eines Vorgesetzten als Befehl interpretierbar war. Wo der wohl häufigere Fall darin bestanden haben dürfte, sich unliebsamen Befehlen durch Verschleppen oder Falschverstehen zumindest temporär zu entziehen68, da ging es hier darum, etwas als Befehl verstanden haben zu wollen, das der vermeintlich Befehlende als gar nicht an den Polizeidiener selbst gerichteten Befehl, sondern als an den Arretierten gerichtete Drohung formuliert zu haben behauptete. In Vollraths Eingeständnis klammheimlicher Freude angesichts einer Bestrafung, die er nicht förmlich 68 Das ging immer nur so lange, bis der Befehl deutlich vorgetragen wiederholt wurde oder schriftlich vorlag. „Es wird ganz einfach schwieriger, einen schriftlichen Befehl mit einer behördlichen Unterschrift zu umgehen“ (Goody, Jack: Die Logik der Schrift und die Organisation von Gesellschaft, Frankfurt/M. 1990, S. 207). Waren die Möglichkeiten des Verschleppens und Falschverstehens ausgeschöpft, bestand immer die Gefahr der Bestrafung wegen Insubordination. In der Regel zogen kleinere Fälle eine kurze Arreststrafe nach sich (vgl. Polizeimannschaft Regensburg: Mannschaftsbuch, 1851, StAReg, ZR I 10792–94). Zur Entlassung führte erst eine „gröbliche Verletzung der Subordination“ (vgl. Magistrat Schwandorf: Ratsprotokoll, 30.4.1896, StAS, Akte des Stadtmagistrats).
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befohlen haben wollte, aber gern sah, diese Lesart scheint möglich, spiegelt sich ein Verständnis von Polizeidienst als einer Form schwarzer Erwachsenenpädagogik, in der der Stock Benehmen lehrt.69 Hätte man einen zeitgenössischen Polizeitheoretiker zu diesem Verständnis von Polizei befragt, wäre er gegenüber dem Offizianten Vollrath möglicherweise zu einer kritischen Bewertung gekommen, galt es für Gustav Zimmermann doch als ausgemacht, dass die „Kenntniß der Erfahrungen“ einen Polizeidiener „vor unedlen Formen und vor der Anwendung von gewaltthätigen Mitteln“ bewahrt. „Ich habe gefunden“, so schrieb Zimmermann in den 1840er Jahren, „daß unter den Polizeimännern diejenigen am leichtesten zu brutalen, widerrechtlichen Mitteln greifen, welche am wenigsten vertraut sind mit dem Vorrathe der bereits vorhandenen polizeilichen Erfahrungen.“70 Unbestritten wäre die Anwendung von gewaltthätigen Mitteln dann gerechtfertigt gewesen, wenn der Polizeidiener nicht nur verbal, sondern körperlich bedroht worden wäre. Dass das wiederum im Fall des Handwerkers Schlicht so war, versuchten die befragten Polizeidiener zu vermitteln. In der abschließenden Befragung des Polizeidieners Helbig bekräftigte dieser, Schlicht sei „in aufgeregtem Zustande und drohender Haltung“ auf Vollrath zugegangen. Er habe „zwar den Off. Vollrath nicht angerührt, allein seine Haltung war allerdings eine drohende.“71 Die Frage körperlicher 69 Dazu materialreich: Rutschky, Katharina: Schwarze Pädagogik. Quellen zur Naturgeschichte der bürgerlichen Erziehung, Berlin 1977. 70 Zimmermann, Polizei [1845–1849], S. 1221. 71 Die Frage, was als Drohung und Angriff zu gelten hatte, setzte in den Folgejahrzehnten eine regelrechte Kasuistik in Gang. Als tätlicher Widerstand, so Gaißert, Leitfaden [1909], S. 27, habe demnach zu gelten: „Festhalten, Loßreißen, Gegenstemmen, Versperren des Wegs durch den eigenen Körper (aber nicht durch sachliche Hindernisse)“; als tätlicher Angriff ausschließlich die „Ausübung von Gewalt, in der Absicht, einer Person eine Körperverletzung beizubringen“. Gewalt gegen Polizeibeamte, so Geyger, Polizeidienst [1909], S. 43f., sei jede „auf die Person des Beamten ausgeübte Kraftäußerung (z. B. Festhalten des Beamten, Sichlosreißen von dem Beamten, Gegenstemmen gegen den Beamten, das Zuhalten einer Tür von innen, die der Beamte von außen zu öffnen bemüht ist, das Entreißen eines Gegenstandes oder einer Person – eines Gefangenen – die der Beamte erfaßt hat, oder schon der Versuch dazu durch Ergreifen des Gegenstandes oder der Person, so daß ein Zerren entsteht, das Vordiefüßewerfen eines Gegenstandes, um den Beamten zum Straucheln zu bringen, das Einhauen auf die Pferde, denen der Beamte in die Zügel gefallen ist, das Festhalten der Pferde, auf welche der Beamte einhaut, u. dgl. m.).“ Hinzu kämen indirekte Formen der Gewalt: sich an Gegenständen oder dritten Personen festhalten, wenn man abgeführt werden sollte oder diejenigen Gegenstände festhalten, „welche der Beamte fortnehmen oder fortführen will“. Passiver Widerstand erfülle dagegen nicht den Begriff der Gewalt gegen die Person. „Eine Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben“, darin war man sich einig, „kann ebensogut durch Handlungen, Mienen und Gebärden wie durch Worte zum Ausdruck kommen, z. B. jemand läuft, als der Polizeibeamte eine Durchsuchung bei ihm vornehmen will, mit wütenden Gebärden in eine Ecke und greift nach einer Axt. Die ist hier bereits gegenwärtig, noch bevor der Widerspenstige die Front nach dem Beamten genommen hat. Steht jemand in seiner Haustür
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Züchtigung hatte also zahlreiche Facetten. Sie konnte gerechtfertigte oder ungerechtfertigte Reaktion auf eine Drohung oder einen Angriff sein, war aber auch – und diese Einsatzmöglichkeit war heikler – als Strafe denk- und ausführbar, freilich nicht von jedem und nur unter bestimmten Umständen. Diese Facette war es letztlich, die am 15. März 1858 zur Eröffnung eines Verfahrens gegen den Polizeioffizianten Vollrath wegen des Verdachts des Missbrauchs der Amtsgewalt führte. Der verantwortliche Untersuchungsrichter konstatierte in seiner Begründung, daß – abgesehen von der Frage, ob überhaupt körperliche Züchtigung als Ungehorsamsstrafe gegen Gefangene gesetzlich als zulässig erscheint – jedenfalls den Polizeisoldaten nicht die amtliche Befugnis zukommt, selbständig solche Züchtigung zu verfügen und vollziehen zu lassen.
Vollrath wurde verurteilt und mit einem Verweis sowie einer Geldbuße in Höhe eines Monatsgehalts bestraft. Die Entscheidung über Einleitung eines Verfahrens gegen Schlicht wegen Widersetzlichkeit und Amtspersonenbeleidigung wurde dagegen an die zuständige Militärbehörde verwiesen, da Schlicht weiterhin Soldat und zum Zeitpunkt des Vorfalls lediglich beurlaubt war. Schlichts pauschalierende Beleidigung gegen die Polizei („Ihr seid alle Lausen!“) und sein wenig beeindrucktes Auftreten, das als Fazit, deuten an, wie sich das Verhältnis von Polizei und Publikum um die Jahrhundertmitte gestalten konnte. Die Polizei war aus dieser Sicht keineswegs eine unantastbare Institution. Die faktisch spärliche Polizeipräsenz hatte zur Folge, dass im Alltag Spielräume für einen „offensiven Charakter im Umgang mit Obrigkeit“ blieben.72 Herausfordernde Redeweisen waren hier und droht, dem sich nähernden Beamten den Schädel einzuschlagen, falls er es wage, sein Haus zu betreten, so ist das zweifellos eine Bedrohung mit Gewalt. Es liegt aber nur dann eine gegenwärtige Gefahr für Leib oder Leben des Polizeibeamten und damit ein tätlicher Widerstand gegen ihn vor, wenn des letzteren Dienstpflicht es tatsächlich erfordert, sich den Eintritt behufs Vornahme einer Vollstreckungshandlung zu erzwingen und mithin seinerseits zum Angriff überzugehen. […] Gegenwärtig ist mithin der tätliche Angriff schon dann, wenn eine Körperverletzung unmittelbar zu erwarten steht. Nicht mehr gegenwärtig, sondern der Vergangenheit angehörig ist er, sobald der Stoß, Schlag, Schuß usw. gefallen, die beabsichtigte Körperverletzung ausgeführt ist. Er bleibt aber gegenwärtig, wenn und solange der Angreifer durch seine Haltung zu erkennen gibt, daß er den Angriff fortzusetzen beabsichtigt. Gänzlich unzulässig ist es daher, wenn der Polizeibeamte einen unversehens erhaltenen Schlag erwidert, es sei denn, daß der Gegenschlag erforderlich war, um einen neuen Schlag abzuwehren oder einem solchen zuvorzukommen.“ (ebd., S. 44–46). 72 Blasius, Kriminalität [1978], S. 32f. So hieß es in einem, gemessen am Fall des Handwerkers Schlicht, etwas älteren Bericht der Nürnberger Polizeidirektion: „Obgleich öffentliche wörtliche und thätige Beleidigungen schon im Entstehen beseitigt, wenigstens dergleichen Unwesen alsbald kräftiger Einhalt gethan worden ist, so haben sich doch mehrere Individuen aus der gemeinen Volksklasse deshalb verdiente Bestrafung zugezogen. […] Das unschickliche Benehmen vor Amt
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Die verschiedenen Classen des Publikums
oft der erste Schritt einer Eskalation, Begleitmusik zu körperlichen Auseinandersetzungen oder Waffe der Schwachen zwecks Delegitimierung individueller Polizeiarbeit. In dem Maß, wie Herausforderung und Provokation zum etablierten Verhaltensrepertoire der Polizierten gehörten, wurde es für die Polizeidiener immer unerlässlicher, Fassung und Haltung zu bewahren. Das gelang nicht immer, wie die eine oder andere Ermahnung zeigt, „daß Polizeibeamte bei Ausübung ihres Amtes aus ihrer Stellung in leidenschaftlicher Aufbrausung heraustretend, die Partheien zur Widersetzung und Amtsperson-Beleidigung gleichsam reitzen“.73 Polizeiwissenschaftler forderten immer wieder, ein Polizeidiener sei „artig und bescheiden gegen das Publicum“ und „leide auch nicht an jener hitzigen mürrischen Stimmung, die leicht zum Zuschlagen oder sonstigen Gewaltthätigkeiten reizt“. Angesichts der „unzähligen Anreize zu Aufwallungen und Zornesergießungen im Verkehre mit dem Volke“ sei es unumgänglich, dass ein Polizeidiener versteht, „seine individuellen Gefühle unterzuordnen und die Affecte zu zähmen“. Und so wäre kaum zu überschätzen, welch großen Wert „beim Polizeimann feste Ruhe und Kälte gegenüber der Gewaltthätigkeit oder sonstiger Herausforderung“ hat, „wie sie ihm fast täglich begegnet“; denn: „es gibt fast nichts, was mehr einschüchtert und geeigneter ist, Angriffe abzuschlagen, als entgegengestellte kalte Festigkeit“.74 Vor dem Hintergrund derartiger Stellungnahmen steht zumindest die Möglichkeit im Raum, die in den Vernehmungen zum Fall Schlicht nahegelegten Kausalitäten zu hinterfragen. Die nachträgliche Entscheidung, wer wen zuerst herausgefordert oder provoziert haben mochte, wird dadurch freilich unmöglich. Die Mahnung jedenfalls, der Polizeidiener möge sich von Beleidigungen nicht aus der Ruhe bringen lassen, kehrte in unterschiedlichen Situationen immer wieder. Affektkontrolle und Arbeit am Temperament wurden zum Charakter- und Unterscheidungsmerkmal von Polizeidienern. In beidem – den wiederholten, aber unsystematischen Ermahnungen hinsichtlich des Publikumsverkehrs im neunzehnten Jahrhundert wie auch den ausbuchstabierten Verhaltenslehren des frühen zwanzigsten Jahrhunderts, um die es im abschließenden Kapitel gehen wird – wird greifbar, wie Polizeidiener zu Polizeidienern gemacht werden mussten und selbst permanent zur Interpretation der Vorgaben sowie zur Einpassung ihrer Verhaltensweisen gezwungen waren. Dieser Prozess wurde entscheidend dadurch vorangetrieben, soziale Nähe durch Verhaltensdistanz zu relativieren. Sich zu fünft in eine Balgerei mit einem angetrunkenen Handwerker zu stürzen und es als Offiziant gerne sehen, dass jemand für sein exzessives Benehmen eine Züchtigung erhält – das kam sicher regelmäßig vor, galt aber immer weniger als polizeidiener-like. und Widersetzlichkeit gegen die Polizeimannschaft ist an 6 Personen gehörig geahndet worden“ (Polizeidirektion Nürnberg: Quartalsbericht, III.1815, StAN, C2, 48). 73 Appellationsgericht Ansbach, an Bezirksregierung Mittelfranken, 3.11.1852, StAN, C7/I, 2720. 74 Zimmermann, Polizei [1845–1849], S. 1115, 1125f.
10. Polizeidienerliche Verhaltenslehren um 1900 Da endlich der polizeiliche Neuling, sich selbst überlassen, gemeinlich nicht darauf kömmt, die richtigen Regeln des nöthigen Anstandes zu finden und sie sonderlich zu beachten, sondern sich eher noch auf Unarten etwas zu gute thut: – so muß besonderer Fleiß darauf verwendet werden, ihn darüber zu belehren, wie er sich benehmen soll in seiner amtlichen Thätigkeit; wie er zu gehen und zu stehen hat bei der Umschau; wie er die Leute anredet; wie er erwidert; wie verbietet, droht, abwehrt. Ruhe, Festigkeit in jeder Bewegung und im Thun; Artigkeit und Bescheidenheit – kann man hierbei nicht genug empfehlen.1 [D]ie polizeiliche Hemmung oder Bekämpfung umfaßt die ganze Stufenleiter von der höflichen, in Form der Bitte gekleideten Aufforderung zum Thun oder Lassen bis zur rücksichtslos zwingenden Gewaltthätigkeit, von der freundlich-ernsten an einen Verdächtigen oder Angeschuldigten gerichteten Mahnung bis zur Anwendung von drastischen Mitteln, über welche der Scharfsinn verfügt.2 Im Verkehr mit dem Publikum höflich und gefällig zu sein, ist seine weitere Pflicht, die zu erfüllen ihm leicht fallen wird, wenn er sich vergegenwärtigt, daß er zu Schutz und Hilfe des Publikums bestellt ist; diese Auffassung wird ihm auch das richtige Augenmaß für die Ausübung des Dienstes, der ihm häufig weitgehende Befugnisse überträgt, verleihen.3
Die drei diesem abschließenden Kapitel vorangestellten Zitate – aus den Jahren 1849, 1896 und 1912 – heben darauf ab, wie ein Polizeidiener sich benehmen soll in seiner amtlichen Thätigkeit. Sie rücken in heutiger Terminologie soziale und kommunikative Kompetenzen ins Zentrum: die Regeln des nöthigen Anstandes; Artigkeit und Beschei1 Zimmermann, Polizei [1845–1849], S. 1129f. 2 Ackermann, Polizei [1896], S. 48. 3 Roscher, Großstadtpolizei [1912], S. 37.
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denheit, aber auch Ruhe und Festigkeit in der Art, wie er die Leute anredet; Höflichkeit und Gefälligkeit im Verkehr mit dem Publikum usw. Der Umgang mit der Forderung nach Affektkontrolle, nach Zügelung des Temperaments bei gleichzeitiger Bereitschaft zur Anwendung drastischer Mittel war ein wichtiger Bestandteil polizeidienerlicher Selbstbildung wie auch der Techniken sozialer Distanzierung. Die im vorangegangenen Kapitel analysierten Fallstudien haben verschiedene Facetten dieses Zusammenhangs zum Vorschein gebracht. Dabei wurde allerdings auch erkennbar, dass die Anforderungen und Erwartungen während des neunzehnten Jahrhunderts oft nur indirekt zu greifen waren. Sie erfuhren kaum eine systematische Ausformulierung. Es waren in gewisser Weise Verhaltenslehren, die sich in actu ergaben. Konturen einer ‚fertigen‘ polizeidienerlichen Verhaltenslehre lassen sich erst im frühen zwanzigsten Jahrhundert erkennen, wenngleich ihre einzelnen Elemente in weiten Teilen des neunzehnten Jahrhunderts bereits wirkmächtig waren. Im Folgenden wird daher ein Sprung in die 1910er Jahre unternommen, um – im Rückblick – vom Standpunkt ausformulierter Verhaltenslehren den Polizeidienern des neunzehnten Jahrhunderts schärfere Konturen zu verleihen. Worauf es hinauslief und hinauslaufen sollte, zeigt sich vollumfänglich erst in Polizeilehrbüchern des frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Polizeidienerliche Verhaltenslehren bildeten sich schrittweise im Wechselspiel mit den bereits diskutierten polizeiwissenschaftlichen Diskussionen um den mitunter pedantischen Charakter des Polizeidiensts und den damit verbundenen Warnungen heraus, die Polizei möge den Bürgern nicht lästig werden. Sie dienten zudem als Distinktionsmechanismus, indem sich die Vorstellung des Polizeidieners als jemand verfestigte, der sich (im Gegensatz zu bestimmten Teilen des Publikums) trotz erheblicher Zumutungen und Provokationen im Griff hat. Die damit gefassten Verhaltenslehren waren geschlechtergeschichtlich durch eine Spannung zwischen harter, körperbetonter und gewaltbewehrter Männlichkeit – also der Identifizierung handfester Executionen als eigentlichem Kern des Polizeidiensts – und dem sowohl im Bürgertum als auch unter Handwerkern und Arbeitern geteilten Ideal des ganzen Manns gekennzeichnet.
10.1 Kein „vollwertiger Schutzmann“ 1911 sah sich ein in der oberpfälzischen Provinz als Polizeidiener beschäftigter ehemaliger Schuhmachermeister im Alter von 54 Jahren und nach fünfzehnjähriger Dienstzeit einem Disziplinarverfahren ausgesetzt. Ein Königlicher Hauptmann hatte ihm Untätigkeit anlässlich eines Zusammentreffens mit Prinz Heinrich von Bayern vorgeworfen. Hauptmann und Prinz waren als automobile Herrenfahrer aufgetreten. Sie hatten ihre Fahrt kurzzeitig unterbrechen müssen, weil ein Fuhrknecht auf enger Straße die Durchfahrt versperrte. Im sich anschließenden Disziplinarverfahren beteu-
Kein „vollwertiger Schutzmann“
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erte der Polizeidiener, er habe keineswegs die Partei des Fuhrknechts ergriffen, sondern lediglich auf die Unmöglichkeit hingewiesen, den Fuhrwagen angesichts der örtlichen Gegebenheiten aus dem Weg zu schaffen.4 Das Interessante an dieser Begebenheit ist, dass alle Zeugen den Polizeidiener unterstützten. Im Konflikt mit einem Königlichen Hauptmann ergriffen ein Stadtbraumeister, ein Glasermeister, ein Kaufmann sowie ein Bäckermeister Partei für ihren Polizeidiener, obwohl die Beziehungen zwischen diesen Personengruppen ansonsten – das wurde inzwischen zur Genüge gezeigt – keineswegs unproblematisch waren. Dem Polizeidiener wurde ein Verweis erteilt, denn erwartet wurde nicht nur, Straßen passierbar zu machen, sondern auch die jeweilige Situation zu erfassen und angemessen zu reagieren, je nachdem, wem er sich gegenüber sah. Polizeidiener Anton Jäger, um den es hier geht, besaß diese Fähigkeit offensichtlich nicht; und zwar deshalb, so erklärte der Magistrat, weil er „vermöge seiner Vor- und Ausbildung nicht als vollwertiger Schutzmann angesehen werden kann“. Allerdings gestand man zu, dass der Vorfall sich „so schnell abspielte, dass Jäger auch wenn er die Sachlage sofort richtig erfasst hätte, kaum in der Lage gewesen wäre, mit Erfolg einzugreifen“. Man erwarte, so schrieb der Magistrat an den abgestraften Polizeidiener, „dass Sie mit größtmöglichster Sorgfalt und Umsicht Ihren Dienst versehen, widrigen falls Ihre Zuweisung für einen minderwertigen und verantwortungsgeringeren Arbeitsposten ins Auge gefasst werden müsste.“ Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts konnte man sich den Mangel bestimmter Fähigkeiten selbst in einer oberpfälzischen Kleinststadt offenkundig nur noch als Abweichung von der Regel erklären. Anton Jäger erscheint als Relikt vergangener Tage. Unter diesen Umständen mochte ein Verweis als Bestrafung genügen, zumal sich Jäger im Winter seines Erwerbslebens befand.5 Auch wenn man dem alten Schuhmachermeister, der sich in seinen letzten Berufsjahren als Schutzmann verdingte, vielleicht etwas viel aufbürdet, so möchte ich doch die These wagen, dass mit ihm eine polizeigeschichtliche Epoche zu Ende ging. Im Folgenden wird ausgeführt, wie der Weg aussah, an dessen Ende nicht nur Jäger zu einem polizeilichen Relikt geworden war, sondern vor allem, wie es dazu kam, dass soziale und kommunikative Gewandtheit und Auffassungsgabe systematisch zu polizeilichen Kompetenzen gemacht wurden. Es geht um die Genealogie polizeidienerlicher Verhaltenslehren, die Jäger, wäre er ein vollwertiger Schutzmann gewesen, Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts hätten 4 Dazu und zum Folgenden: Personalakte Anton Jäger, 1911, StAS, VII-5777; sowie zu Jägers Einstellung: Magistrat Schwandorf: Ratsprotokolle 6.9.1894, 18.6.1896, StAS, Akte des Stadtmagistrats. 5 Nur wenige Monate nach dem Zwischenfall wurde er mit Rücksicht auf seinen Gesundheitszustand zunächst vom Nachtdienst befreit und nur noch zur Patrouillenbegleitung eingesetzt. Kurz darauf teile man Jäger mit, dass seine Pensionierung bewilligt worden sei und er sich zukünftig als Magistratsbote verwenden zu lassen habe (Magistrat Schwandorf: Ratsprotokolle, 27.10.1911; Magistrat Schwandorf, an Anton Jäger, 16.12.1911, StAS, Akte des Stadtmagistrats).
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Polizeidienerliche Verhaltenslehren um 1900
geläufig sein müssen, die er aber – und darin war er seinen Kollegen des vergangenen Jahrhunderts sehr viel ähnlicher – nicht ohne weiteres beherrschte, jedenfalls nicht habitualisiert hatte; schließlich handelte es sich 1911 um eine Zeit, in der selbst ein gestandener Fräser und Schraubendreher, der als Hilfsschutzmann erfahren war, sich für den Polizeidienst als geeignet empfand, weil er sich durch „7jährige Thätigkeit am Apollotheater in Nürnberg die höflichsten Umgangsformen mit jeder Classe des Publikums angeeignet“ hatte.6
10.2 Polizeischulen und Lehrmeister aus der Praxis Die Formalisierung polizeidienerlicher Verhaltenslehren vollzog sich zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts innerhalb eines neuen Rahmens. Die Bedingungen polizeilicher Sozialisation veränderten sich. Um 1900 wurden erste Polizeischulen etabliert.7 Die in dieser Zeit intensivierten Debatten um eine Reform der Polizei waren im Kern Debatten um die Reform der Ausbildung. Offenkundige Missstände wurden auf mangelhafte Ausbildung in fachlicher Hinsicht sowie charakterlicher Eignung zurückgeführt. Die einsetzende Verschulung, so Ralph Jessen, war auch eine Reaktion auf die Entmilitarisierung der Polizei, weil angehende Schutzleute nun nicht einmal mehr zwingend eine militärische Ausbildung erfahren hatten. Hinzu kamen neue Anforderungen, etwa Kenntnis der zahlreicheren Gesetze und Verordnungen. Ziel der Kampagnen für eine Reform des polizeilichen Ausbildungswesens war ein neues Leitbild: der zivile Polizist. Gelehrt und gelernt werden sollten zivile Umgangsformen im Publikumsverkehr. Mit den Polizeischulen kam die Zeit der Lehrbücher. Verfasst wurden sie in der Regel von Polizeihauptleuten oder -inspektoren, die nach ihrer Verabschiedung aus dem aktiven Dienst als Direktor (oder auch nur als Lehrkraft) einer Polizeischule eingesetzt worden waren. Die Lehrbücher griffen das neue Leitbild auf und formulierten einen entschiedenen Praxisbezug. Die Ausführungen sind mehr oder weniger austauschbar. Man stellte die eigene Erfahrung als Praktiker heraus; ließ sich bitten; betonte einen Mangel an praktisch Brauchbarem auf dem Feld der polizeilichen Ausbildung. In meiner früheren Dienststellung als Polizeikommissar in Gelsenkirchen war mir der Dienstunterricht der dortigen Polizeibeamten und die Hilfslehrerstelle an der Polizeischule des Regierungsbezirks Arnsberg übertragen. Bei der Erfüllung dieser Aufgaben mußte ich immer den Mangel eines für unsere Polizeibeamten bestimmten Leitfadens emp6 Leitz, Johann, an Magistrat Stadtamhof, 23.3.1911, StAReg, ZR I 10852. 7 Vgl. Jessen, Polizei [1991], S. 200–209.
Polizeischulen und Lehrmeister aus der Praxis
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finden. Meine Unterrichtsweise fand den Beifall meiner Vorgesetzten, auf deren Anregung ich dann das für den Polizeiunterbeamten Wissenswerte an Gesetzesbestimmungen usw. zusammenstellte und, wo nötig, bearbeitete. Ich war bemüht, alles Überflüssige fortzulassen und nur das zu bieten, was der Unterbeamte zur Ausübung seines Dienstes dringend bedarf. […] [So] darf ich hoffen, daß diese neue Auflage sich auch als Leitfaden für den Dienstunterricht durch die Vorgesetzten eignet und bewährt, indem der Unterbeamte sich nach ihr vorbereitet, der Vorgesetzte sie durch seinen Vortrag für die örtlichen Bedürfnisse ergänzt und der Unterrichtete sich dann das Gehörte mit ihrer Hilfe wieder in das Gedächtnis zurückruft.8
Auch ein anderer Leitfaden präsentierte sich als explizite Unterrichtsanleitung. Der Autor gab zu erkennen, dass er einem „von Vorständen größerer Polizeiverwaltungen und von Kollegen“ an ihn herangetragenen Wunsch entspreche und seine „für den Unterricht in der Polizeischule zusammengestellten Manuskripte, welche den gesamten Lehrplan einer Polizeischule umfassen“, nun in veröffentlichter Form vorlege. Es soll das vorliegende Werkchen als ein dem praktischen Dienst des ausführenden Beamten angepaßtes Hilfsbuch für den Unterricht in Polizeischulen, Polizeifortbildungsschulen und Instruktionsstunden dienen und den Beamten der Ortspolizei für ihre Amtstätigkeit als Nachschlagebuch und steter Begleiter gute Dienste leisten.9
Ludwig Bartels stellte seinem Polizeilehrbuch 1913 eine ähnliche Bemerkung voran: Er habe sich entschlossen, „ein Lehrbuch für den Unterricht an Polizeischulen, sowie für die Aus- und Fortbildung von Polizeibeamten zusammenzustellen“, um einer von zahlreichen Seiten und namentlich von maßgebender Stelle aus gegebenen Anregung zu entsprechen und eine vorhandene Lücke zu schließen, die darin besteht, daß die vorhandenen Fachwerke sich entweder aus dem Grunde für den Neuling nicht eignen, weil sie zu kurz gefaßt sind und bei ihm zu viel voraussetzen, oder aber des lehrhaften Charakters entbehren. Der Zweck der vorliegenden Bearbeitung soll darin liegen, daß der Schüler sich durch ihr Studium den im Unterricht vorgetragenen Lehrstoff fest einprägt und seine ständige Fortbildung fördert.10
Hinsichtlich Themen und Aufbau unterscheiden sich die Lehrbücher nicht grundsätzlich. In der Regel finden sich eine Einführung in das politische System und die Struktur der Behörden im Deutschen Reich samt einer Verortung der Polizei, eine 8 Geyger, Polizeidienst [1909], S. IIIf. [meine Hervorhebungen]. 9 Gaißert, Leitfaden [1909], S. III [meine Hervorhebungen]. 10 Bartels, Polizeilehrbuch [1913], S. V [meine Hervorhebung].
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Polizeidienerliche Verhaltenslehren um 1900
Darstellung der Polizeibehörden und Verantwortlichkeiten sowie ihrer gesetzlichen Grundlagen, Ausführungen zum Zweck der Polizei im Allgemeinen sowie ihrer einzelnen Zweige (Sicherheits-, Straf-, Ordnungs- und Sittenpolizei) im Besonderen.11 Mitunter liefern die Lehrbücher eine Sammlung der polizeirelevanten Gesetzestexte. Im Zentrum steht dann aber doch eine umfangreiche Ausführung der Berufspflichten und Dienstvorschriften. Die Polizeilehrbücher der Jahrhundertwende widmen sich detaillierter als ihre Vorgänger den Eigenschaften und Verhaltensweisen eines Polizeibeamten, wenden sich explizit an den Polizeiunterbeamten und reflektieren dessen Erfahrungen und Schwierigkeiten bei der (praktischen) Dienstausübung. Die zentralen Achsen der neuen Verhaltenslehren gilt es nun vorzustellen.
10.3 Geschwätzig und verschwiegen Die Beziehungen zum und der Umgang mit dem Publikum entschieden sich exemplarisch an der Frage, wann und wie viel geredet werden sollte. Verschwiegenheit in dienstlichen Angelegenheiten gehörte zu den wesentlichen Eigenschaften eines Polizeidieners. Allerdings dürfe man das nicht mit – für den Polizeidienst kontraproduktiver – wortkarger Verschlossenheit verwechseln. Ein Polizeidiener sollte eine aufgeschlossene Freundlichkeit an den Tag legen und „ein im Allgemeinen geschwätziger Mann“ sein – nur eben nicht über Vertrauliches plaudern.12 Aufgeschlossene Freundlichkeit oder unverfängliche Geschwätzigkeit, also Kommunikationsbereitschaft und kommunikative Kompetenzen, galten als Teil des Polizeidiensts. So stellte Friedrich Retzlaff in seinem Kleinen Polizeihandbuch 1912 ebenso lakonisch wie genial fest: „Im allgemeinen empfiehlt es sich, daß die Polizeibeamten das, was sie vom Publikum wünschen oder auszuführen beabsichtigen, dem Publikum vorher bekannt geben.“13 Zugleich handelte es sich aber um eine kontrollierte Gesprächigkeit. Erforderte es die Sache, hatte sich der aufgeschlossen-plaudernde Gestus zu verflüchtigen: In irgendwelche Erörterungen mit dem Publikum lasse sich der Polizeibeamte grundsätzlich nicht ein. Seine Anordnungen und Weisungen treffe er kurz und bestimmt und vermeide jede unnötige Redensart. Je wortkarger er beim Einschreiten ist, desto mehr Erfolg wird er erzielen, besonders wenn das Publikum erst weiß, daß er seine Forderungen auch 11 Die Normierung der Themen war allerdings noch nicht bis ins kleinste Detail fortgeschritten, konnte sich doch nach wie vor jeder der Autoren eine persönliche Schrulle leisten. Retzlaff trieb die Frage des Aberglaubens um. Bartels regte als einer der ersten in Deutschland an, systematisch Jiu Jitsu in die Ausbildung zu integrieren. Geyger lag die Rolle des Polizeibeamten als Hundeführer am Herzen. 12 Vgl. Zimmermann, Polizei [1845–1849], S. 1116f., 1152f. 13 Retzlaff, Polizeihandbuch [1912], S. 48.
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mit Nachdruck durchführt. […] Dann beherzige er aber den Ausspruch: ‚Ein gutes Wort findet einen guten Ort.‘ Häufig wird er bei Aufläufen usw. durch eine vernünftige Aufklärung oder ruhigen Hinweis auf die Folgen mehr erreichen, als wenn er mit eingebildetem Schneid schroff vorgeht.14
Der Polizeidiener musste befähigt werden, zwischen untersagten „außerdienstlichen Unterhaltungen“, „Vertraulichkeit mit dem Publikum im Dienst“ und dem Erteilen von Auskünften „in der bereitwilligsten und zuvorkommendsten Weise“ zu unterscheiden. Es ging darum, distanziert aufzutreten und gleichzeitig bei „jedem Verhandeln mit dem Publikum“ eine „korrekte Haltung zu bewahren, grüßende Personen in höflicher Weise durch Anlegen der Hand an die Kopfbedeckung wieder zu grüßen, besonders wenn Personen mit irgendeiner Frage an ihn herantreten“.15 Polizeidiener hatten also zu lernen, wann und wie sie zu reden und zu schweigen hatten. In Anleitungen wie den zitierten wurde die Kontrolle der eigenen Rede zum wichtigen Bestandteil der zu leistenden Selbstbildung. Da die Worte eines Polizeidieners Konsequenzen hatten, durfte er nichts einfach so dahinsagen, sondern musste lernen, seine Zunge zu hüten und diese gewissermaßen zum polizeilichen Werkzeug zu machen. Das war ein Balanceakt, schließlich wurde nicht nur der Verrat von Dienstgeheimnissen bestraft, sondern ebenso Klatsch und Tratsch.16 Es galt immer wieder abzuwägen, welche Art des Umgangs angemessen war.
10.4 Ganze Männer – ruhig, freundlich, fest im Auftritt Polizeidienerliche Verhaltenslehren verlangten um die Jahrhundertwende ein Austarieren des Auftritts: auf der einen Seite „ruhige und ernste Freundlichkeit“ in der Behandlung des Publikums und Vermeidung „jeder unnötigen Härte“, da man durch „freundliches Zureden in kurzer und knapper Form“ leichter zum Ziel komme „als durch einen barschen Befehlston, der nur Widerstand und Widerspruch hervorruft“; auf der anderen Seite dürfte der Polizeibeamte es aber im Fall „offener Widersetzlichkeit“ niemals „an der erforderlichen Bestimmtheit und Energie fehlen lassen.17 14 Geyger, Polizeidienst [1909], S. 274f. [meine Hervorhebungen]. 15 Ebd., S. 288. 16 Klein, Men [2010], S. 201, hat für die britische Polizei allerdings beobachtet, dass Beschwerden nur selten von offizieller Seite ausgingen. Mehrheitlich wurden sie von Angehörigen der Mittel- und Oberschicht vorgetragen, die das öffentliche Schwätzchen für unprofessionell hielten. Polizeidiener und wohl mehrheitlich auch deren Vorgesetzte betonten eher, dass eine gewisse Vertrautheit – und das schloss ein Mindestmaß an Konversation ein – mit den zu Polizierenden in der jeweiligen Nachbarschaft eine Voraussetzung erfolgreicher Polizeiarbeit war. 17 Bartels, Polizeilehrbuch [1913], S. 11.
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Da ist es so recht Sache des tüchtigen Beamten, sich nicht durch wenig entgegenkommendes Wesen, durch heftige Reden usw. zu unüberlegten Äußerungen oder Schritten hinreißen zu lassen, sondern in solchen Fällen erst recht die größte Gelassenheit zu bewahren und auf das erregte Temperament des Betroffenen die weitgehendste Rücksicht zu nehmen. Zu große Empfindlichkeit eines Polizeibeamten ist immer von Übel. […] Selbst in den kritischsten Lagen bewahre er eine unerschütterliche Ruhe und lasse sich nicht durch spottende oder höhnische Bemerkungen zu unüberlegten Handlungen hinreißen. […] Für irgendwelche kleinlichen Nörgeleien und Spöttereien sei er taub; wird ihm aber in beleidigender Form entgegengetreten, so wahre er auch das Ansehen seiner Stellung. […] So wird er ungehörige Redensarten eines Betrunkenen nicht beachten und immer bedenken, daß Betrunkene ihrer Sinne nicht mächtig sind und in den wenigsten Fällen für ihre ungehörigen Reden verantwortlich gemacht werden können. In den Augen des Publikums wird er mit dieser Handlungsweise durchaus nichts von seiner Autorität einbüßen, besonders wenn er z. B. äußert: ‚Sie scheinen sich der Folgen Ihrer Reden nicht bewußt zu sein‘ oder ‚Morgen werden Sie Ihre ungehörigen Reden bedauern‘. Der vernünftig denkende Mensch wird dem Beamten recht geben; auf das Urteil der schlechten Elemente soll letzterer aber kein Gewicht legen.18
Polizeidiener hatten also abzuwägen, wann welche Reaktion nötig war, und sie waren es, die Unbeherrschtheiten des Publikums in Rechnung zu stellen, zu beruhigen und in geordnete Bahnen zu lenken hatten. Damit wurden ihnen idealerweise Fähigkeiten und Eigenschaften zugeschrieben, die dem Publikum fehlten. Gleichzeitig wurde in Ausführungen wie der zitierten energisch darauf verwiesen, dass der Polizeidiener diesen Unterschied in Auftreten und Haltung zu kultivieren hatte und sich darüber definierte. Ruhig, freundlich, kommunikativ und sozial gewandt, gleichzeitig aber beherrscht, selbstbewusst und fest im Auftritt – so zeigte sich der ganze Mann in polizeidienerlicher Übersetzung. Der geforderte Balanceakt im Auftreten hatte also Auswirkungen auf polizeidienerliche Männlichkeitsentwürfe. Mit dem auch im Polizeidienst – etwa in der Betonung von Offenheit, Freundlichkeit, Gesprächigkeit – greifbaren Ideal des ganzen Mannes, gerät ein Männlichkeitsentwurf in den Blick, der die „Polarisierung der Geschlechtercharaktere“ (Karin Hausen) unterlief und die Integration von Eigenschaften ermöglichte, die in einem strikt dichotomischen Modell als weiblich konnotiert waren (also bestimmte Aspekte von Emotionalität und Soziabilität).19 Der ganze Mann, diese Position wurde zunächst als bürgerliches Ideal formuliert, sollte 18 Geyger, Polizeidienst [1909], S. 273–276; ähnlich auch: Gaißert, Leitfaden [1909], S. 17. 19 Vgl. Kessel, Man [2003]. Zu primär bürgerlichen Versuchen einer „Angleichung von Mann und Frau“ seit dem achtzehnten Jahrhundert vgl. Trepp, Anne-Charlott: Sanfte Männlichkeit und selbständige Weiblichkeit. Frauen und Männer im Hamburger Bürgertum zwischen 1770 und 1840,
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weder mürrisch und verschwiegen noch langweilig und pedantisch sein. Die bisher umfangreich zitierten Hand- und Lehrbücher lassen sich durchaus in diesem Sinn als Umformatierung der dominierenden Männlichkeitsvorstellungen interpretieren. Ein bestimmtes Verhalten und eine bestimmte Haltung signalisierten Nähe und Distanz unterschiedlicher sozialer Gruppen oder zumindest die Teilhabe an deren kulturellen Kodes und Verhaltensstandards. Polizeidienerliche Verhaltenslehren wurden als Instrument sozialer Distanzierung in Anschlag gebracht, die hier eben auch mittels einer Differenzierung verschiedener Männlichkeitsentwürfe erreicht werden sollte. In der Folge hat man es mit verschiedenen Formen von Männlichkeit zu tun, die in vielfältigen Beziehungen zueinander standen.20 Die Fähigkeit etwa, ruhig und gelassen auf Provokationen zu reagieren und sich selbst zu beherrschen, rekurrierte auf ein zunächst vermeintlich bürgerliches Ideal.21 Selbstbeherrschung gehörte aber auch zum Repertoire der Arbeiterbewegung: „die ‚colossal ruhige‘ und ‚würdige‘ Haltung bei der Versammlung war eine männliche Eigenschaft, ebenso wie das ‚entschiedene‘ Eintreten für die Sache“. Ernsthaftigkeit, Rationalität, Affektkontrolle auf der einen, Hingabe und Leidenschaft auf der anderen Seite fügten sich innerhalb arbeiterlicher Männlichkeitsentwürfe ineinander: „Getreu der Vorstellung von der Ganzheitlichkeit des Individuums bildeten sie nur verschiedene Facetten einer idealisierten harmonischen Persönlichkeit.“22 Was als Tugend und zentrale Verhaltensanforderung für Polizeidiener galt (und teilweise ein Echo bürgermännlicher Ideale war), nämlich: sich unter keinen Umständen provozieren zu lassen, nahmen Sozialdemokraten für sich in Anspruch – und das, ironischerweise, gern in Abgrenzung zu den wenig geschätzten Polizeidienern, die (wie im vorangegangenen Kapitel an verschiedenen Fallstudien gezeigt wurde) immer wieder die Beherrschung fahren ließen. Bedeutsam wurde das deshalb, weil sich das bereits geschilderte Geflecht wechselseitiger Provokationen zwischen Polizeidienern und dem handwerkerlichen oder arbeiterlichen Teil des Publikums als gegenseitige Herausforderung und Infragestellung von Männlichkeit interpretieren lässt.23 Gerade wenn Gewalt ins Spiel kam, wurden schichtenspezifische Männlichkeitsvorstellungen
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Göttingen 1996. Der ganze Mann im Polizeidienst ist ganz und gar nicht identisch mit diesen bürgerlichen Entwürfen empfindsam-sanfter Männlichkeit. Konzeptionell dazu: Connell, Raewyn W./Messerschmidt, James W.: Hegemonic Masculinity. Rethinking the Concept, in: Gender & Society 19 (2005), S. 829–859; Connell, Robert W.: Der gemachte Mann. Konstruktionen und Krise von Männlichkeiten, Opladen 1999. Vgl. Tosh, Männlichkeit [1998], S. 168. Bürgerliche Konzepte von Mäßigung und Selbstbeherrschung gründeten in der Angst „vor dem Verlust des Gleichgewichts und vor dem Exzess“. Für den Bürger wurde hier ein Raum „subjektiver Freiheit“ und im Wortsinn „selbstverantwortlichen“ Handelns eröffnet (vgl. Sarasin, Maschinen [2001], S. 20–25). Welskopp, Banner [2000], S. 335, 602. Zu diesem Interpretationsvorschlag vgl. Klein, Men [2010], S. 168.
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relevant. In der Art und Weise, wie Rangeleien ausgetragen wurden (zum Beispiel im bereits analysierten Fall des Handwerkers Schlicht: ein lärmender und tobender Arretierter, der sich ungezogen und exzessiv aufführt, der einen Fuß zwischen die Tür stellt und mit Händen und Füßen um sich schlägt; Polizeidiener, die den Arretierten auf eine Pritsche drücken, sich zu fünft über ihn beugen und bändigen und sich in eine Balgerei verwickeln), zeigt sich unter Polizeidienern die Tendenz, die eigenen Männlichkeitsideale denjenigen der Polizierten aus dem handwerklich-arbeiterlichen Milieu anzupassen. Mitunter musste ein Polizeidiener einfach handfest zupacken und körperliche Härte demonstrieren. Die Herausforderung bestand darin, der harten, körperlichen und gewaltaffinen Männlichkeit der zu Polizierenden entschlossen entgegenzutreten, sich aber nicht davon ‚anstecken‘ zu lassen.24
10.5 „Schutzmann im wirklichen Sinne“ Bei der Suche nach angemessenen Formen polizeidienerlicher Männlichkeit bot sich die Figur des (auch für Ordnung) sorgenden Vaters an. Interpretationen von Polizeiarbeit als väterliche Sorge verwiesen zudem auf einen Aufgabenbereich, der über die bloße Durchsetzung der Gesetze hinausging.25 Diesem polizeidienerlichen Rollenverständnis waren Ambivalenzen eingeschrieben, die im Fortgang des neunzehnten Jahrhunderts deutlich zum Vorschein kamen. So hat Simona Mori (allerdings für die italienische Polizei der 1860er Jahre) die Überlagerung zweier semantischer Felder beobachtet: auf der einen Seite das für das bürgerliche Zeitalter typische maskuline Paradigma, auf der anderen Seite ein fast schon an der mütterlichen Rolle ausgerichtetes Modell. In den Erwartungen an die Polizeidiener als Staatsdiener liefen Ideale wie Würde im öffentlichen Auftreten, Selbstachtung, Mut, Festigkeit, Unparteilichkeit und Pflichterfüllung mit der Forderung zusammen, Bedürfnisse, Interessen, Bildungsstand und soziale Lage der Polizierten zu ermitteln und zu kennen. Gerade in diesem sorgenden Aspekt, der im neunzehnten Jahrhundert nicht zwingend klassisch männlich konnotiert war, unterschieden sich polizeidienerliche und militärische Männlichkeit.26 Praktiken der Subjektivierung verliefen im Polizei24 Vgl. Dodsworth, Francis M.: Men on a Mission. Masculinity, Violence and the Self-Presentation of Policemen in England, c.1870–1914, in: Barrie, David G./Broomhall, Susan (Hg.), A History of Police and Masculinities, 1700–2010, London u. a. 2012, S. 123–140, hier: 137f. 25 Vgl. Garrioch, David: The Paternal Government of Men. The Self-Image and Action of the Paris Police in the Eighteenth Century, in: Barrie, David G./Broomhall, Susan (Hg.), A History of Police and Masculinities, 1700–2010, London u. a. 2012, S. 35–54. 26 Vgl. Mori, Simona: Becoming Policemen in Nineteenth-Century Italy, in: Barrie, David G./ Broomhall, Susan (Hg.), A History of Police and Masculinities, 1700–2010, London u. a. 2012, S. 102–122, hier: S. 108.
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dienst zweigleisig, und das brachte eine Doppeldeutigkeit der Bilder des Polizeidieners als einerseits unnahbarer Staatsdiener und andererseits gemütvoll-behäbiger Schutzmann hervor.27 Zupackende (oft genug direkt repressive) und fürsorgliche Aspekte des Diensts griffen ineinander. Der sorgende Aspekt wurde in gewisser Weise auch institutionalisiert; etwa im Rahmen des seit den 1890er Jahren wieder anwachsenden wohlfahrtspolizeilichen Engagements. Gerade weil die Polizei nicht nur polizeiliche Aufgaben im engeren Sinn erledigte, sondern als „ein Theil der allgemeinen Orts- und Bezirksverwaltung“ etwa im Schul- und Armenwesen unterstützend wirkte, böten sich Ansatzpunkte zur Imagekorrektur, würden dadurch doch „gewisse Schroffheiten und Einseitigkeiten der Polizeimannschaft, wie sie sich bei ausschließlich polizeilichem Thun im Verkehr mit dem Publicum leicht ausbilden, […] wenn nicht immer verhindert, so doch gemildert“.28 Die Forderung, der Polizeidiener habe sich den Schwachen und Hilfsbedürftigen, namentlich Frauen und Kindern, in besonderer Weise anzunehmen29, war fester Bestandteil polizeidienerlicher Verhaltenslehren. „Verunglückten, Hilflosen, Frauen und Kindern, gebrechlichen Personen“, so hieß es 1909 in einem Leitfaden, ist „ganz besonders Schutz und Beistand zu gewähren“. Auch die Waffe ist niemals zu gebrauchen gegen „Frauen, Kinder, Hilflose und am Boden Liegende“.30 Waffengebrauch sollte „mit möglichster Schonung“ erfolgen, nachdem „gelinde Mittel fruchtlos angewandt worden sind, und nur, wenn der Widerstand so stark ist, daß er nicht anders als mit gewaffneter Hand überwunden werden kann“.31 Auch in anderen Fällen muten bestimmte polizeiliche Handlungen geradezu fürsorglich an, etwa vorbeugende Beschlagnahmen, „wenn einer angetrunkenen Person eine Waffe, einem Kinde Feuerwerkskörper, einer seelisch augenscheinlich stark niedergedrückten Person Gift fortgenommen wird usw.“.32 All diese Aspekte verdichteten sich in der Figur des Schutzmanns. Im polizeilichen Alltag agierte der Schutzmann oft sicher ähnlich und hatte ähnliche Aufgaben zu bewältigen wie sein Vorgänger aus dem neunzehnten Jahrhundert (der Polizeidiener oder Polizeisoldat). In der Vorstellungswelt, oder besser: in der polizeibehördlichen 27 Vgl. Lüdtke, Policey [2005], S. 27–29. 28 Ackermann, Polizei [1896], S. 47; vgl. dazu auch: Jessen, Polizei [1994], S. 166f. 29 Es ist allerdings nicht unwahrscheinlich, dass es die in besonderem Maß Schutzbedürftigen waren, die gleichzeitig besonders gefährdet waren, Opfer polizeidienerlicher Übergriffe zu werden – daher vielleicht auch die wiederkehrenden Mahnungen. Der faktische Umgang mit Frauen, das wurde bereits gezeigt, folgte lange Zeit und oft einem anderen Skript als die dienstoffiziellen Verlautbarungen. 30 Gaißert, Leitfaden [1909], S. 17, 228. 31 Geyger, Polizeidienst [1909], S. 37f. 32 Bartels, Polizeilehrbuch [1913], S. 14, 219f.
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Imagepolitik des frühen zwanzigsten Jahrhunderts wurde er aber zu weit mehr als ein Faktotum, dem Magistrate und Behörden schlicht alles zuwiesen, was gerade zu erledigen war. Und so kommt also der Schutzmann ums Eck: Es sind ihm in gewissen Fällen das Leben und die Gesundheit seiner Mitmenschen, das Glück und Unglück ganzer Familien in die Hand gegeben. […] Schutzmann im wirklichen Sinne des Wortes ist derjenige Beamte, der für seine Mitmenschen überall hilfsbereit eintritt. Hierbei darf er vor allen Dingen keinen Unterschied zwischen arm und reich, zwischen anständigen und schlechten Elementen machen. In sachlicher Weise hat er jedem die erbetene oder erforderliche Hilfe zu leisten. Gerade der einfache Mann kommt zu dem Beamten, zu dem er einmal Vertrauen gefaßt hat, oft mit allerlei nichtigen Sachen, auch mit solchen, die gar nicht zur Zuständigkeit der Polizei gehören. Der Beamte muß es dann verstehen, die Ratsuchenden zufriedenzustellen. Schon durch das geduldige Anhören ihrer Beschwernisse, durch den Rat, sie möchten sich nur an den Vorgesetzten wenden, wird er in den meisten Fällen beruhigend wirken. Kann er aber nicht helfen, so weise er niemanden schroff ab, sondern belehre ihn in sachlicher Form über den richtigen Weg. […] Ein Haupterfordernis für den Exekutivbeamten in seinem Benehmen gegen das Publikum ist die Höflichkeit und Zuvorkommenheit. Er muß stets eingedenk sein, daß er des Publikums wegen, nicht aber das Publikum des Beamten wegen da ist. Grüße erwidere er in angemessener Weise, beim Verhandeln mit irgend jemand bewahre er eine korrekte Haltung; Anfragen beantworte er sachgemäß und mit der notwendigen Formengewandtheit. Jedes schroffe Anfahren, unnötige Redensarten vermeide er auf das peinlichste und bewahre selbst unhöflichen Personen gegenüber die größte Höflichkeit.33
Neben der mit Blick auf die Polizeigeschichte des neunzehnten Jahrhunderts, so wie sie in der vorliegenden Arbeit aus einer bestimmten Perspektive analysiert wurde, sicher etwas kühn und optimistisch, vielleicht aber auch auf einen Wandel hindeutenden Behauptung, der einfache Mann komme zu dem Beamten, zu dem er einmal Vertrauen gefaßt hat, oft mit allerlei nichtigen Sachen, lohnt ein abschließender Vergleich mit dem Bild des idealen Polizeidieners, wie er sich Mitte des neunzehnten Jahrhunderts aus Perspektive von Polizeiwissenschaftlern dargestellt hatte. Da hieß es 1848 bei Wilhelm Joseph Behr, in der Einleitung der vorliegenden Arbeit bereits zitiert: Polizeidienern solle in ihrem Wirkungskreis keines der tausendfältigen Details entgehen. Sie sollten ohne den mindesten Verzug ihrem Zwecke entsprechend sich zu benehmen wissen und gleich weit entfernt von Willkür, Parthei- und Bestechlichkeit, wie von konventionellen Rücksichten, ängstlicher Verlegenheit und Kleinlichkeitsjagd, schon durch ihre Persönlichkeit mächtig wirken. In einigen Punkten sind die Überlegungen gar nicht so verschieden. Dennoch macht es einen Unterschied, ob etwas in einer 33 Geyger, Polizeidienst [1909], S. 272–276.
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Polizei-Wissenschaftslehre oder einem Handbuch für den Unterricht platziert wird. Vor allem aber wird deutlich, wie sehr viel umfangreicher und elaborierter die Beziehungen zum Publikum in der späteren Veröffentlichung ausformuliert und reguliert wurden – und zwar über bestimmte Verhaltensstandards, die ganz anders anmuten, als Behrs karge Bestimmung, der Polizeidiener möge gegenüber den Bürgern die feinste Grenzlinie des zulässigen Freiheitsgebrauchs mit zartem Gefühle und gewissenhafter Berücksichtigung seiner Schranken bewachen.
11. Schluss
Im Verlauf der vorangegangenen Kapitel habe ich versucht, Antworten auf die Frage zu finden, wie Männer, die über Jahre als Handwerker, Gerichtsdiener, Boten usw. gearbeitet hatten, im neunzehnten Jahrhundert zu Polizeidienern wurden. Dabei sind zahlreiche Themen verhandelt und unterschiedliche Kontexte herausgearbeitet worden, in denen sich polizeidienerliche Selbstbildung vollzog. Um diese Themen und Kontexte zusammenzufassen, möchte ich abschließend dazu einladen, der imaginären Biographie eines idealtypischen Polizeidieners des neunzehnten Jahrhunderts zu folgen, wie sie aus den analysierten Quellen destilliert werden könnte. Der Polizeidienst des neunzehnten Jahrhunderts markiert dabei nicht eine anonyme Verkörperung einer abstrakten Staatsgewalt, die ‚der Gesellschaft‘ gegenüberstünde, sondern er wird als Teil eines sozialen, ökonomischen und alltäglichen Kontinuums verständlich. Unser idealtypischer Kandidat kam irgendwann in den 1830er Jahren zu dem Entschluss, sich um eine Stelle als einfacher Polizeidiener zu bemühen. Er hatte zu diesem Zeitpunkt, in den Worten des englischen Romanciers Thomas Hardy, „jenes Lebensalter erreicht, in dem das Wort ‚jung‘ aufhört, dem ‚Mann‘, wenn man von einem solchen spricht, vorangestellt zu werden.“1 Vielleicht galt auch für ihn, was Hardy einem nicht mehr als jung qualifizierten Mann zuschrieb: „Er befand sich in den vielversprechendsten Mannesjahren, denn sein Intellekt und seine Emotionen waren deutlich voneinander getrennt; er hatte die Jahre hinter sich, in denen der Einfluß der Jugend durch ihr impulsives Wesen beides unwillkürlich vermengt; und er hatte noch nicht das Stadium erreicht, indem sie sich durch den Einfluß einer Frau und einer Familie in Gestalt vorgefaßter Meinungen wieder vereinigen. Kurz gesagt, er war 28 und noch Junggeselle.“2 Nach allem, was er gehört und gelegentlich in Stellenausschreibungen gelesen hatte, kam unser Kandidat zu der Überzeugung, den Anforderungen des Polizeidiensts zu genügen: Er war im richtigen Alter, unverheiratet, hatte seinen Militärdienst geleistet, war körperlich rüstig, konnte lesen und leidlich schreiben, wenn auch nicht mit geübter Hand. Ein Gesuch um Verleihung einer entsprechenden Stelle an den Magistrat seiner Heimatstadt schien also nicht aussichtslos, zumal bekannt war, dass die städtische Polizeimannschaft immer wieder taugliche Subjecte3 suchte, weil ständig einige 1 Hardy, Thomas: Fern vom Treiben der Menge, Berlin 1999 [1874], S. 9. 2 Ebd., S. 10. 3 Bei den kursivierten Begriffen und Textpassagen handelt es sich in der Regel um Auszüge aus bereits zitierten Quellen, die hier nicht erneut nachgewiesen werden.
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Polizeidiener aus dem Dienst ausschieden, um ihr Glück anderweitig zu versuchen, oder entlassen wurden, weil sie letztlich doch nicht geeignet oder nach langen Dienstjahren schlicht erschöpft und ausgezehrt waren. Außerdem wuchs die Stadt. Mancher Ort war bereits eingemeindet, und die Stärke der Polizeimannschaft musste Schritt halten. Bereits während seiner Militärzeit hatten einige Mitsoldaten unseres Kandidaten laut darüber nachgedacht, diesen Weg einzuschlagen. Schließlich musste jeder sehen, nach seiner Verabschiedung ein Auskommen zu finden. Einige waren direkt nach ihrem Militärdienst in eine Polizeimannschaft eingetreten; aber das waren eher diejenigen, die kein Gewerbe erlernt und keine Aussicht auf irgendeine andere Beschäftigung hatten. Auf unseren Kandidaten traf das nicht zu. Er war Schneidergeselle und wollte nach der Militärzeit sein eigener Herr sein. Nach gut zwei Jahren hatte das immer noch nicht geklappt. Immer, wenn er sich selbständig machen wollte, stellte er fest, das von ihm beseßene Betriebskapital war zu wenig der hiesigen Conkurrenz auch nur das Gleichgewicht halten zu können. Nach wie vor arbeitete er mit einigen anderen Gesellen im Geschäft eines gutsituierten Meisters, der sie nicht übermäßig bezahlte und sie rund um die Uhr spüren ließ, wer das Sagen hatte. Aber was sollte man machen? Das Schneiderhandwerk war nun einmal übersetzt: Es gab genug Gesellen und auch einige Meister auf der Suche nach Arbeit und einem anderweitigen Auskommen; die Aussichten auf ein eigenes Geschäft standen schlecht, und selbst diejenigen, denen dieser Schritt in letzter Zeit gelungen war, hatten ihr Geschäft inzwischen wieder aufgeben müssen oder fristeten ein klägliches Dasein – selbständig zwar, aber kaum in der Lage, sich zu ernähren. Unser Kandidat wäre nicht der erste, der sein erlerntes Gewerbe aufgab und etwas anderes suchte. Einige der Polizeidiener, denen er hin und wieder auf der Straße begegnete, waren bis vor kurzem noch Müller, Brauer, Bäcker oder Metzger, Nagelschmied, Steinhauer, Maler oder Tischler, Schuhmacher, Hutmacher, Weber oder Schneider wie er. Er war hinund hergerissen, was er davon halten sollte. Natürlich, wer Polizeidiener wurde, war in seinem Gewerbe daran gescheitert, sich eine selbständige Existenz aufzubauen. Allerdings wusste er auch, wie bedrückend die Lage für bestimmte Handwerke inzwischen war. Die meisten, die es nicht geschafft hatten, waren nicht selbst schuld, sondern Opfer der Zeitstürme. So viel Verständnis hatten nicht alle. Unser Kandidat kannte genug Handwerksgesellen, die einen regelrechten Hass auf die Polizei hatten (freilich, auch das wusste er, nicht gänzlich unbegründet) oder zumindest keine Gelegenheit ausließen, Polizeidiener zu verspotten und zu provozieren. Gerade Schneidergesellen hatten eine gewisse Reputation; nicht als Rabauken, aber als politische Unruhestifter, die in ihren Vereinen bei Bier, Spiel und Gesang gern radikale Forderungen nach einer Gesellschaft der Freien und Gleichen diskutierten. Und wenn man dann einem dieser ‚Polizeiknechte‘ begegnete, „der sich seinen sinistren Dienst mit einem Exzess an ‚Brutalität‘, ‚Schindereien und Bedrückungen‘ würzt“,
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dann konnte man als Handwerksgeselle oft nur noch „Abneigung und Ekel“ empfinden.4 Aber, was soll’s, dachte sich unser Kandidat. Von irgendetwas muss man leben; ein ehrliches und anständiges Leben führen, nicht täglich mit Nahrungssorgen kämpfen müssen. Also ein Schreiben an den Magistrat aufsetzen. Eine Ausschreibung hatte er in letzter Zeit nicht gesehen, dafür aber im Wirtshaus die Unterhaltung zweier Magistratsboten über die schwere Krankheit eines Polizeidieners mitgehört. Vielleicht verschaffte es unserem Kandidaten einen Vorteil, wenn er nicht abwartete, sondern sein Glück sofort versuchte. Das Aufsetzen eines Schreibens traute er sich ganz ohne Hilfe nicht zu, also wandte er sich an seinen früheren Kompagnieschreiber, der nun beim Landgericht beschäftigt war. Der schreibkundige Freund half gern. Unser Kandidat bekam einige wichtige Tipps, wie ein Schreiben an Behörden auszusehen hatte und was es zu beachten galt. Zur Sicherheit lieh er sich vom Schreiber noch einen dickleibigen Ratgeber, um zu Hause noch einmal nachzuschlagen. Rammler’s Universal-Briefsteller wusste für jedes Problem eine Lösung. Er mahnte zum „Gebrauch eines reinen, weißen und ordentlich beschnittenen Papieres, so wie einer guten schwarzen Tinte“. Rammler riet zum „kleinen Folioformat“ und beschrieb – zum Glück – sehr genau, wie man diese Bögen vollschreiben sollte: Das ganze, zu einem Briefe bestimmte Papier vollzuschreiben, wäre eine große Unhöflichkeit, aber ganze halbe Seiten leer zu lassen, ist auch unnöthig. Wenn man die Anrede oder den Titel drei bis vier Finger breit unter dem oberen Rande des Papiers anfängt, einen gleichen, allenfalls etwas kleineren Raum auf der linken Seite und am Rande des Bogens läßt, so wird man sicher Respect-Platz genug gelassen haben. […] Man trachte, mit der Ende-Titulatur nicht zu weit hinunter zu kommen, damit zwischen dieser Titulatur und der Namensunterschrift ein verhältnismäßiger Raum bleibe. Je tiefer man den Abstand vom Empfänger des Schreibens bezeichnen will, desto größer muß der Zwischenraum bleiben. […] Vor der Namensunterschrift setzt man gewöhnlich noch ein Beiwort, das nach Verhältnis des Abstandes zwischen uns und dem Empfänger des Briefes gewählt werden muß, z. B. gehorsamer, ergebener, gehorsamster, ergebenster, dankbarer u s. w.5
Mit den ausufernden und komplizierten Regeln der Anrede und Titular befasste sich unser Kandidat nicht im Einzelnen, hatte ihm doch der befreundete Schreiber bereits diktiert, wie er das handhaben sollte. Er folgte dem Rat des Schreibers, freilich ohne Begeisterung. Sich unterthänigst an den hochwohllöblichen Magistrat zu wenden und um Verleihung einer Polizeidienerstelle zu bitten – das war nicht die liebste Rolle, in 4 Eiden-Offe, Poesie der Klasse [2017], S. 84, die Position des Schneidergesellen Wilhelm Weitling paraphrasierend. 5 Rammler, Universal-Briefsteller [1838], S. 96f.
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die er sich als selbstbewusster Handwerker begab. Unwillkürlich musste er an die Betrachtungen eines deutschen Arbeiters denken, die sie sich bei einer ihrer Gesellenversammlungen gegenseitig vorgelesen hatten: Ob der deutsche Arbeiter ein Mensch oder ein Esel ist, das fragt sich Jeder, der die schimpfliche Behandlung kennt, welche tagtäglich von Seiten seiner Regierung er erduldet, und welche nun endlich so weit gestiegen ist, daß man ihm verbietet, in fremden Landen seine Nahrung zu suchen, und sich dort von dem Elende und den Mißhandlungen zu erholen, die ihn von dem Boden seiner Heimath und aus den Armen seiner Angehörigen vertrieben. Nach Deutschland sollen wir zurück! Und was für Freuden verheißen uns unsere Landesväter etwa denn dort? Etwa das Anschnauzen schäbiger Polizeiknechte und die Rippenstöße kosackischer Gendarmen.6
Solche Überlegungen musste unser Kandidat beiseiteschieben. Er wollte Polizeidiener werden und musste wohl oder übel über kurz oder lang lernen, wie ein Polizeidiener zu denken und sich so zu verhalten. Im Moment galt es aber erst einmal, ein Schreiben – ein Bittschreiben – aufzusetzen, das den Magistrat – den hochwohllöblichen Magistrat – davon überzeugte, dass ein Schneidergeselle ein geeigneter Polizeidiener sein würde. Unser Kandidat musste also überlegen, welches Bild von sich er dem Magistrat präsentierte; und dazu musste er sich überlegen, welche Erwartungen der Magistrat haben mochte. Er erinnerte sich an die eine oder andere Ausschreibung im Intelligenzblatt oder in den Vakanzlisten für Militärbewerber, die er gegen Ende seiner Militärzeit ab und an zur Hand nahm. Darin hieß es immer, als Polizeidiener seien nur solche Personen aufzunehmen, die ihren Militärdienst geleistet hatten, nicht älter als dreißig oder 35 Jahre (genau erinnerte er sich nicht mehr), ohne körperliche Mängel und Gebrechen und des Lesens und Schreibens wohl kundig waren und sich einer tadellosen Aufführung befleißigten. Das traf alles auf ihn zu, natürlich. Und so beschrieb er sich für den Magistrat als vollkommen gesund und tauglich und ohne Gebrechen. Er betonte seine Fähigkeiten im Lesen und Schreiben, rühmte sich eines guten Leumunds und schmeichelte sich, im Civilstande den Ruf eines ordnungsliebenden, fleißigen Menschen zu besitzen. Erfahrung im Sicherheitsfache hatte er nicht, aber das sollte nicht weiter ins Gewicht fallen. Überhaupt, irgendwelche besonderen Kenntnisse oder Qualifikation schien ein Polizeidiener nicht zu brauchen. Was ‚die‘ von einem verlangten, dürfte fast jeder Handwerker oder Dienstbote gekonnt haben. Unser 6 Betrachtungen eines deutschen Arbeiters über die neuesten Maßregeln der deutschen Bundesregierungen, in: Grandjonc, Jacques, u. a. (Hg.), Wolfgang Strähl: Briefe eines Schweizers aus Paris, 1835–1836. Neue Dokumente zur Geschichte der frühproletarischen Kultur und Bewegung, Berlin 1988, S. 498–500, Zitat: S. 498.
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Schneidergeselle beendete sein Gesuch, indem er als unterthänigst Unterzeichneter seiner Hoffnung Ausdruck verlieh, dass er bei den genügenden Fähigkeiten zur ernsten Erfüllung der obliegenden Dienstes-Pflichten als vollkommen tüchtig befunden werden wolle. Wenige Tage nach seinem Gesuch wurde unser Schneidergeselle tatsächlich Polizeidiener. Offenkundig war es ihm gelungen, sich in die Rolle eines Polizeidieners hineinzuschreiben. Nun musste er diese Rolle ausfüllen. In der vierwöchigen Probezeit gab es keine Schwierigkeiten oder besonderen Vorkommnisse. Er erledigte, was ihm aufgetragen wurde, und begleitete regelmäßig einen älteren Polizeidiener, dessen Auftreten und Verhalten unser Neuling mehr oder weniger aufmerksam beobachtete, um sich das eine oder andere abzuschauen. Das alles hielt keinem Vergleich mit seiner Lehrzeit im Schneiderhandwerk stand. Polizeidiener, zu diesem Schluss kam er, mussten sich die Kniffe des Diensts offenkundig selbst zusammenreimen und ihre Handlungen und Verhaltensweisen regelmäßig damit abgleichen, was die Vorgesetzten erwarteten. Man bekam kaum gesagt, wie man etwas zu erledigen hatte, dafür aber fing man sich schnell eine Rüge ein, wenn einem Vorgesetzten etwas nicht passte. Das nächste Mal war man schlauer. Mit Dienstantritt war ihm eingeschärft worden, sich bei den Dienstverrichtungen stets wachsam, tüchtig und fleißig zu zeigen und die ertheilten Aufträge mit Attention und Pünktlichkeit zu vollziehen, und überall Bescheidenheit zu beobachten – bevor ihm der Diensteid abgenommen wurde (Treue dem König, Gehorsam den Gesetzen und Beobachtung der Staatsverfassung … das Amthsgeheimnis jederzeit strengstens wahren … die Dienstinstruktion für die Polizeimannschaft gewissenhaft beobachten, … an den genauen Wortlaut erinnerte er sich bereits am nächsten Tag nicht mehr). Mit Dienstantritt bekam unser Polizeidiener eine wohlfeile und dem Zweck entsprechende Amtstracht, um, wie es ein Offiziant ausdrückte, von dem gemeinen Haufen unterschieden werden zu können. Diese dreiste Frechheit! Ein Schneidergeselle brauchte ganz bestimmt keine Uniform, um sich von dem gemeinen Haufen zu unterscheiden. Die Uniform machte aber für jedermann sichtbar, dass aus ihm – zumindest äußerlich – ein Polizeidiener geworden war, den es zu respectieren galt. Da stand er nun: Mit Tschako, bis zur Schenkelmitte reichendem Waffenrock mit zwei Reihen von je acht weißmetallenen Knöpfen, aus blauem Tuch mit stehendem Kragen, Halbstiefeln und dunkelblauen, langen Beinkleidern, Handschuhen von gleicher Farbe und dunkelblauem Mantel, nahm auch er selbst sich als Teil der Polizeimannschaft wahr. Beschaffen (und bezahlen) musste er sich die Uniform freilich selbst. Zum Glück war er mit dem erforderlichen Vermögen versehen, seine Equippierung aus eigenen Mitteln bestreiten zu können. Für den kleinen Betrag, der am Ende fehlte, fand er einen Freund, der ihm so viel vorstreckte, als er zur Beschaffung der nothwendigen Uniformstücke gebrauchte. Noch waren die Beziehungen zu seinen Handwerkerfreunden gut genug, um sich Geld zu leihen. Bisher hatte es nur ein paar milde Spötteleien über seinen Eintritt in
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die Polizeimannschaft gegeben. (Er hoffte, das würde so bleiben, war sich aber nicht sicher.) Seine neuen Kollegen hatte unser Polizeidiener bereits in der Probezeit ein wenig kennengelernt. Er war nun Polizeidiener unter Polizeidienern und musste sich ‚wie einer von ihnen‘ verhalten und ‚einer von ihnen‘ werden. Er war nicht der einzige Neuling. Einige Kollegen waren in seinem Alter (oder nur ein paar Jahre älter), andere schon ergraut. In der Mannschaft versammelten sich Männer jeden Alters, nur eben keine ganz jungen (zu denen unser Polizeidiener schließlich auch nicht mehr gehörte) und nicht die ganz alten. Das war schon etwas anderes als das Militär und die Gesellenvereine, in denen man mit mehr oder weniger Gleichaltrigen unter sich war. Viele seiner neuen Kollegen kamen ebenso aus dem Handwerk wie er. Gute Voraussetzungen, sich zu verstehen. Sie alle wussten, was es hieß, das erlernte Gewerbe aufgeben zu müssen, um anderweitig über die Runden zu kommen. Für die meisten lag die Zeit als Handwerker freilich lange zurück, einige waren vor dem Eintritt in die Polizeimannschaft bereits bei der Gendarmerie gewesen. Das Gehalt war in Ordnung, mehr aber auch nicht. Er verdiente etwas mehr als in seiner Zeit als Handwerker (das war ja ein Grund für seinen Eintritt in die Polizeimannschaft), vor allem aber wusste er im Vorhinein, wie viel er verdienen würde; und es war ein regelmäßiges Gehalt. Im Handwerk war das anders. Außerdem war er ein Neuling und hatte keine Familie zu ernähren. Ältere Polizeidiener, sogar die Rottmeister, klagten dagegen regelmäßig untereinander, aber auch gegenüber dem Magistrat, dass ihr Gehalt in keinem Verhältnis zur Dienstanstrengung stünde. Auch wenn er also im Moment zufrieden war, so wusste er auch, das Einkommen konnte knapp werden. In der Polizeimannschaft kursierten ab und zu regelrechte Schreckensgeschichten, etwa von einem Polizeidiener aus einer kleinen Stadt in der Nähe, der so wenig Gehalt hatte, daß es unmöglich reichte, um mit ehrlicher Kleidung zu erscheinen, und die nothwendigsten Lebensbedürfnisse zu befriedigen, nicht Schulden machen zu müssen; ein Polizeidiener, der mehrere Monate seiner selbst unbewußt umherirrte und dann beinahe besinnungslos aufs Krankenlager geworfen wurde. Es wirkte einigermaßen beruhigend, Kollegen von regelmäßigen Gehaltserhöhungen, Sonder- und Bonuszahlungen, Zuschlägen und Prämien reden zu hören. Das zusammengenommen bot dann doch ein etwas besseres Polster als ein Leben als Schneidergeselle. Natürlich wusste unser Polizeidiener, dass die Magistrate, die hochwohllöblichen, und die Polizeibehörden solche Zahlungen einsetzten, um die Polizeimannschaft auf Linie zu halten und sich ihrer Treue und Dienstwilligkeit zu versichern. Jedes Mal, wenn er unterthänigst um eine Teuerungszulage, einen Wohnungszuschuss oder Uniformgeld bat, erinnerte er sich daran, dass er als Handwerker zwar oft Subsistenzsorgen hatte, aber auch weniger abhängig von anderen war. Dennoch ermöglichten diese Zahlungen, die ihm meistens gnädigst gewährt wurden, einen Lebensstandard, den seine ehemaligen Handwerkskollegen gerade in Krisenzeiten nicht oder nur unter erheb-
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lichem Aufwand halten konnten. Ihnen blieb im Zweifelsfall nichts übrig, als sich im Umfeld ab und an etwas zu leihen. In der Polizeibehörde hatte man hier und da mit über alle Maßen verschuldeten Subjecten zu tun. So manchen Aktuar packte bei der Feststellung des Schuldenstands und ausstehender Forderungen gegenüber Schuhmachern usw. eine tiefe Frustration. Immer wieder gab es Schuldner, die man noch nicht einmal dazu bringen konnte, das materielle Ausmaß der Forderungen zu begreifen.7 Auch unser Polizeidiener hatte als Schneidergeselle oft und gern, wann immer es nötig und möglich war, mit kleinen Summen ausgeholfen – und konnte sich darauf verlassen, dass ihm im Notfall auch geholfen wurde (es war noch nicht lange her, dass ihm einige Gesellenfreunde etwas liehen, damit er sich die Polizeiuniform anschaffen konnte). Fraglich war, ob das so blieb – ob es so bleiben konnte –, nun, da er Polizeidiener war. Die Polizeidirektion, das hatte man ihm gleich bei Dienstantritt zu verstehen gegeben, sah das nicht gern. Dort glaubte man, dass das Gehalt der Polizeisoldaten zu deren ordentlichen Auskommen hinreicht, somit selbige, ohne Schulden machen zu müssen, ihre Bedürfnisse bar bezahlen können – und erinnerte daher jedermann daran, keinem Pol.Soldaten ohne Vorwissen und Genehmigung des Unterzeichneten etwas zu borgen. Als unser Polizeidiener in den späten 1830er Jahren den Dienst antrat, lernte er schnell, dass er nicht nur den Anforderungen und Vorgaben seines Magistrats und seiner Polizeibehörde zu genügen hatte. Erfahrenere Polizeidiener hatten mehrfach erlebt, wie die Land- oder Appellationsgerichte sich in die städtischen Polizeiangelegenheiten einmischten und das Verhalten einzelner Polizeidiener in bestimmten Situationen kritisierten (ohne natürlich auch nur die geringste Ahnung von den Diensterfordernissen vor Ort zu haben!). Mitunter war es schwer, es allen recht zu machen. Fast jeder konnte Geschichten erzählen, wie er von einer Behörde gerügt wurde, weil er im Dienst exakt das erledigte, was eine andere Behörde ihm aufgetragen hatte. Außerdem war nicht die Polizei allein mit der Aufrechterhaltung von Ruhe, Sicherheit und Ordnung befasst. Solange unser Polizeidiener als Schneidergeselle die Polizei von außen betrachtete, war für ihn ein Polizeidiener wie der andere. Von innen sah das nun ganz anders aus. Da gab es Polizeipraktikanten, Hilfspolizeidiener, Nachtschutzleute und was noch alles. Wann immer einer dieser halbkunstfertigen Diener irgendetwas falsch machte, fiel es sofort auf alle zurück. Und ständig, wann immer irgendwer glaubte, die Polizeidiener würden mit einer Sache nicht fertig, tauchte die Gendarmerie oder das Militär auf. Ständig wurde er, wie alle Polizeidiener, mit Gendarmen und Soldaten verglichen. Als ob die immer alles besser könnten. Dabei traten doch gerade die Soldaten immer nur bei besonderen Anlässen auf und hielten sich aus dem sogenannten kleinen Dienste der Polizei raus. Die Dinge, mit denen er sich täglich herumzuplagen hatte, hielten die Herren Soldaten für unter ihrer Würde, 7 Vgl. Suter, Rechtstrieb [2016], S. 195f.
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applaudierten sich dann aber dafür, hier und da einen Tumult zerschlagen zu haben – in Kompaniestärke hätten er und seine Kollegen das auch gekonnt! (Wenn man als Polizeidiener mit dem Militär zusammenarbeiten musste oder Soldaten auf der Straße begegnete, vergaß man schnell, dass man vor nicht allzu langer Zeit auch einer von ihnen war – und war nur noch froh, nicht mehr zu diesem Haufen zu gehören.) So, wie die sich außerhalb der Kaserne aufführten, hatten sie wahrlich keinen Grund, gerade den Polizeidienst für unehrenhaft zu halten. Fragte man einen beliebigen Polizeidiener nach seiner Meinung über Soldaten, nun ja, Raufbolde, die sich auf den Straßen und in den Wirtshäusern kaum vom gemeinen Pöbel unterschieden. Und wenn man dann gemeinsam auf Nachtpatrouille ging? Polizeiliche Kenner wussten, dass die vollständige Bewaffnung zu viel Aufsehen erregt und die Soldaten selbst bey der Verfolgung von verdächtigen Individuen dadurch verhindert werden. Das kümmerte die Militärs aber nicht. Sie stolzierten herum und störten das polizeiliche Vorgehen, obwohl der Stadtkommandant ihnen wieder und wieder erklärte, bei Kontrollen in Gasthäusern nur als Begleitung der Polizeidiener in die Gastzimmer zu treten und bei der Thüre mit Gewehr beim Fuß stehen zu bleiben. War man gezwungen, gemeinsame Patrouille mit der Gendarmerie zu machen, war das mitunter noch ärgerlicher. Nach ihrem herablassenden Auftreten zu schließen, mussten die Gendarmeriekommandanten ihren Untergebenen tagein, tagaus vermitteln, dass sie etwas Besseres waren. Das ärgerte selbst den Polizeidirektor, der immer wieder durch die Bezirksregierung Beschwerden weitergeleitet bekam, in denen sich der Gendarmeriekommandant arrogant darüber ausließ, dass die „Ortspolizeidiener […] meistens für ihren Dienst ganz ungeeignete Leute“ seien, „schlecht bezahlt, häufig nicht dienstmäßig gekleidet“, ohne irgendeine „Art von Ansehen“ zu genießen. Wie kam der Gendarmeriekommandant nur auf die Idee, Polizeidiener seien „in vielen Orten nicht montiert und bewaffnet oder so, daß es ins Lächerliche geht, anstatt zu imponieren; die Auswahl der Subjecte ist mitunter von der Art, daß sie selbst der Beaufsichtigung brauchen können. Man findet Leute, die taub, uralt, halb lahm, schwächlich und mehr betrunken als nüchtern sind.“8 Nicht genug, dass man sich als Polizeidiener mit Soldaten und Gendarmen herumärgern musste; nein: Dazu kam noch die anmaßende Haltung einiger Bürger (früher hätte unser Polizeidiener das anders gesehen), die doch tatsächlich der Meinung waren, ein paar Freiwillige in einer nächtlichen Sicherheitswache oder eine Bürgerwehr könnten genauso gut für Ruhe, Sicherheit und Ordnung sorgen wie eine ordentliche Polizeimannschaft. Erst kürzlich, als andernorts Barrikaden gebaut wurden, kamen sie nicht auf die Idee, ordentliche Polizeidiener einzustellen, sondern verstiegen sich darauf, man könnte sich hinsichtlich der Überwachung der Sicherheit für Person und Eigenthum im allgemeinen Interesse der Einwohnerschaft dabei nicht beruhigen, daß sie bloß den dazu disponierten Polizei8 Zitiert nach: Eibach, Staat [1994], S. 62f., 87.
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Soldaten anvertraut ist. Das sollten sie ruhig mal versuchen. Es würde ihnen sicher gefallen, nachts bei Wind und Wetter durch die Straßen zu schleichen, statt gemütlich zu Hause im warmen Bett zu liegen! (Einmal davon abgesehen, dass einige sich zwar gern in Uniform und Bewaffnung sahen, aber kaum rüstig genug waren, um den strapaziösen Dienst tatsächlich zu versehen.) Zum Glück hatte sich diese Idee rasch zerschlagen – die einsichtigeren Bürger hatten gerade zur rechten Zeit protestiert. Unser Polizeidiener war froh und sah es als Zeichen der Wertschätzung, dass der Magistrat, die Polizeibehörde und die Mehrheit der Bürger den Polizeidienst den Polizeidienern überließen. Ruhe, Ordnung und Sicherheit war ihre Aufgabe, und sie konnten sie auch am besten erfüllen. Unser Polizeidiener nahm sich vor, ein tüchtiger Polizeidiener zu werden; zu tun, was ein Polizeidiener tun und sich zu verhalten, wie ein Polizeidiener sich verhalten sollte. Er brauchte allerdings eine Weile, bis er einigermaßen verstand, was das hieß. Die Magistrate behandelten ihn und seine Kollegen als Faktotum. Ständig sollten sie irgendwelche Dinge erledigen, die zufällig gerade anstanden und für deren Erledigung gerade kein anderer Diener oder Bote zur Verfügung stand. Mit den Jahren ärgerte ihn das immer mehr. Er war doch kein x-beliebiger Büttel, sondern Polizeidiener. Das war doch ein Unterschied! Wer sollte denn die eigentliche Polizeiarbeit versehen, für Ruhe, Sicherheit und Ordnung sorgen, wenn sie ständig zum Kommunaldienst eingesetzt wurden? Die Dienstaufgaben uferten auch so schon aus. Polizeidiener wurden mit Aufgaben überhäuft, ohne dass ihnen jemand sagte, wie sie diese Aufgabenfülle bewältigen sollten – und am Ende beschwerten sich Bürger und ein paar Gelehrte noch über die Kleinlichkeitsjagd und Pedanterie der Polizeidiener, dabei taten sie nur, was getan werden musste. In der warmen Stube schrieb es sich leicht, dass dem Polizeidienst keine festen Bestimmungen zu geben und keine absoluten Grenzen zu ziehen sind. Im Dienst musste er aber eine Grenzlinie ziehen. Alles konnte er nicht gleichzeitig erledigen. Zum Glück griffen die Kreis- und Bezirksämter seit einiger Zeit immer wieder ein, wenn der Magistrat ihn und seine Kollegen zum Kanzleidienst oder dergleichen verwenden wollte. Unter denen, die etwas vom Alltag der Polizei verstanden, setzte sich nun endlich die Erkenntnis durch, wie falsch es war, die Polizeibranche wiederum zu einem Asyl für allerlei Functionen zu machen. Dort hatte man scheinbar eher verstanden, dass Sicherheits- und Kommunaldienst zweierlei waren – auch wenn die geizigen Gemeindebevollmächtigen nie einsehen wollten, warum die von der Gemeinde bezahlten Polizeisoldaten, während sie keinen Sicherheitsdienst haben, nicht zu derlei gemeindlichem Dienste herangezogen werden sollen. Je weniger unser Polizeidiener willkürlich zu allerlei magistratlichen Aufgaben herangezogen wurde und je mehr er sich auf den eigentlichen Polizeidienst konzentrieren konnte, desto bewusster wurde ihm, dass Polizeidienst eine besondere Aufgabe war und er als Polizeidiener eine entsprechende Verantwortung hatte. Die Behörden bemühten sich nun häufiger darum, den Polizeibeamten für eine vernünftige Selbst
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täthigkeit Raum zu geben. Unser Polizeidiener begrüßte das, schließlich konnte er vor Ort am besten ermessen, wann und wie er einzuschreiten hatte. Gerade auf Patrouille genoss er diese Freiheit und freute sich klammheimlich, wenn er sah, was die Vorgesetzten sich alles überlegten, um die Polizeimannschaft beim Patrouillieren zu überwachen – und das nie völlig funktionierte. Noch immer schmunzelten er und seine Kollegen, wenn sie daran dachten, wie die Behörde anordnete, den patrouillierenden Polizei-Soldaten eigene Marken mitzugeben, welche sie zur festgesetzten Stunde an die Districts-Vorsteher, deren Bezirk sie bei der Patrouille berühren, bei den Wachen, oder an bestimmten Orten abzugeben haben. Das gab so ein Durcheinander und so einen Aufwand, dass es rasch wieder, stillschweigend, abgeschafft wurde. Schließlich wusste man irgendwann, wie man sich kleine Pausen und vielleicht auch einmal das eine oder andere Bier gönnen konnte, ohne gleich eine Strafe wegen Dienstvernachlässigung zu riskieren. Was unseren Polizeidiener aber wirklich störte, war die lästige Vielschreiberei im Dienst. Aus seiner Zeit als Schneidergeselle kannte er das nicht. Natürlich konnte er schreiben, aber es fiel ihm nicht immer leicht. Ihm lag das handfeste Zupacken mehr. Auf der Straße fühlte er sich wohler als in der Schreibstube. Die alten, abgelebten und fußlahmen Polizeidiener mochten sich aus gutem Grund nach den bequemen Sitzämtern sehnen. So weit war er aber noch lange nicht. Außerdem: Wozu gab es denn in der Polizeimannschaft Aktuare und Offizianten, die besser bezahlt wurden als er und die sich so viel auf ihre Bildung und Schreiberlingskarrieren einbildeten? Sollten die doch die Schreibereien erledigen. (Selbst die Gelehrten spotteten doch inzwischen über diese Bürogestalten, welche das ganze Leben und Treiben der Polizei im eigensten Sinne des Wortes in die Tinte gebracht haben und selbst nur in Tinte leben, weben und sterben, ohne je einen frischen Athemzug, ohne je einen herzerquickenden Blick in das helle, schöne, klare Leben der reichen Menschenseele und der herrlichen Gottesnatur gethan zu haben.) Was er und alle einfachen Polizeidiener immer schon wussten, setzte sich nun auch an der Behördenspitze durch: Der eigentliche Polizeidienst bestand aus handfesten Executionen. Polizeidiener mussten zupacken und sich körperlich ins Getümmel stürzen, wenn es nötig war. Wie sollte man sonst dem gemeinen Pöbel (inzwischen hatte er zur Genüge übel berüchtigte Männer kennengelernt, bei denen eine zarte Sicherung nichts einbrachte) klarmachen, aus welchem Holz die Männer der Polizei geschnitzt waren? Warum auch sollten Männer wie er in der Stube sitzen zum Schreiben und Protocolliren, wo sie doch inzwischen den auswärtigen Polizeidienst kunstmäßig erlernt hatten und trefflich verstanden? Irgendwo hatte er kürzlich aufgeschnappt, der Polizeidiener müsse als Amboß dienen in den polizeilichen Kämpfen gegen Raufbolde und Excedirende. Das gefiel ihm. Außerdem erledigten sie doch die wirklich notwendigen Schreibarbeiten. Auch wenn nicht alles immer völlig korrekt war, wichtig war doch das Ergebnis. Wen interessierte da schon, ob man das richtige Formular verwendete oder einen Zettel ans Vigilanzbrett heftete?
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Die Gendarmerie machte das ja auch, wenn jemand schnell ergriffen werden musste. Im Dienstalltag waren, das hatte ihr Stationist einmal einem überkorrekten Magistratsschreiber diktiert, schriftliche Mittheilungen ziemlich oft sehr langsam und dem Recht oft nachfolgend, wenn auf die mündlichen Mittheilungen Verhaftungen vorgenommen sind. Die meiste Zeit musste unser Polizeidiener sich freilich mit dem Publikum herumärgern (manchmal, notgedrungen, auch herumschlagen). Es hatte mit seinen Befürchtungen recht: Das Verhältnis zu seinen alten Handwerkerfreunden (und deren neuen Freunden) hatte sich verändert. Seine Vorgesetzten taten viel dafür, dass er von ihnen und sie von ihm abrückten. Die früher üblichen kleinen Kredite in Notsituationen kamen bereits nicht mehr vor, jedes gemeinsame Bier im Wirtshaus wurde argwöhnisch beäugt und jede kleine Geste stand unter Verdacht. Es war doch keine Bestechung, wenn ihm jemand aus Dankbarkeit für gute Arbeit ein Halbguldenstück zusteckte oder ihm ein Fläschchen Likör nach Hause brachte. Und was sollte schon dabei sein, wenn einem ein alter Bekannter ein Bier ausgab? Man ermahnte den Bekannten schließlich trotzdem, wenn er sich etwas zu Schulden kommen ließ. Alles in allem war in dieser Hinsicht der nächtliche Patrouillendienst gar nicht so schlecht. Gelegentlich konnte unser Polizeidiener seinen gehabten Durst in dem einen oder anderen Wirtshaus stillen oder im Vorbeigehen eine Maß mitnehmen. Natürlich wusste er, dass er eigentlich kein Bier im Dienst trinken durfte, aber Durst war Durst, und solange man nicht allzu betrunken in die Wachstube kam oder betrunken nach Hause getragen werden musste (er wäre nicht der erste, dem das passiert), war der Rottmeister nachsichtig (er hatte ja schließlich auch hin und wieder Durst). Das ließ sich ganz gut damit verbinden, dass er damit beauftragt war, die Einhaltung der Polizeistunde zu überwachen. Meistens trank er an einem abgesonderten Tisch ein oder zwei Bier und wies den Wirt beim Verlassen des Lokals darauf hin, daß die Erlaubnis-Zeit abgelaufen sey und jetzt Feyerabend werden muß. In der Regel gab das keine Probleme. Die meisten Wirte und Gäste kannte unser Polizeidiener; und sie kannten ihn. Ein Wirt, bei dem er regelmäßig einkehrte – natürlich um zu schauen, ob alles ordentlich zuging – unterstützte ihn, weil sie sich mochten, für die Kost, die er bei ihm hatte, mit Geld noch und noch. Auch die Gesellschaft war angenehm. Viele kannte er noch von früher. Ärger gab es nur einmal, als einige Handwerksburschen und Tagelöhner von diesem Forstkontrolleur angestachelt worden waren und sich von ihm – dem Polizeidiener! – nicht mehr sagen lassen wollten, dass sie von der Polizeystunde an ruhig seyn müssen. Manchmal war der gemeine Pöbel so ausgelassen. Noch frecher waren diese angeblich ordentlichen Leute, wenn sie nachts, auf dem Nachhauseweg lärmend durch die Straßen zogen. Wenn man dann einschritt, sagten sie einem dreist ins Gesicht, sie hätten doch gar nicht übermäßig geschrieen und von Exzessen wäre keine Sprache. Dabei musste jeder sie ihrem Geschrei nach für betrunkene Rabauken halten, die sich aufführten wie Gassenbuben. Es war ja nicht seine Schuld, wenn die
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nächtlichen Exzesse zu Jahr überhandnehmen und die Polizeymannschaft deshalb zur Verhütung derselben die schärfsten Aufträge hatte. Und hinterher wollten immer alle gesehen haben, dass die Polizeidiener ungestüm waren und die Ruhestörer mit vielem Geschrei anpackten – geradeso, als wäre das polizeiliche Einschreiten eine größere Störung der Nachtruhe. Ganz zu schweigen vom gelegentlichen Dienst an einem der Stadttore. Wer sich da immer alles rumtrieb! Letztens erst, dieser junge Bursche, der einen Stadtsoldaten so lange reizte, bis es nicht mehr ging – und dann noch munter die städtischen Blumen pflückte und hinterher ein paar Verse daraus machte: Und die vollsten Dolden Hatt‘ ich bald mit abgeknickt, Aber von unholden Augen ward ich angeblickt. Sieben Stadtsoldaten, Deren einen ich gekränkt, Mir entgegen traten, Ihre Spieß‘ auf mich gesenkt. Und es sollt‘ ein Sträußchen, Das ich mir in Unschuld nahm, Mich ins Wachstubhäuschen, Bringen, wenn kein Retter kam.9
Als der Bursche abgeführt werden sollte, kam der alte Pax, den hier in der Stadt jeder kennt, dazu und sang sein Liedchen: ’S ist ein Amtmannbube Droben aus dem Haßbergsland, Der bei Kraut und Rube Nicht gelernt hat Stadtverstand.10
All das und mehr kannte unser Polizeidiener. Dabei wusste jeder polizeiliche Anfänger, dass man mit Gesindel und Verbrechern ernst, gemessen und kurz verfahren muss und in solchen Fällen Derbheit häufig am richtigen Orte war. Das Gleiche galt ja auch in der Wachstube und im Arrestzimmer. Wer sich ungezogen und exzessiv aufführt, 9
Rückert, Friedrich: Erinnerungen aus den Kinderjahren eines Dorfamtmannsohns (1829), Göttingen 2016, S. 20f. 10 Ebd., S. 21.
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muss mit Gewaltmaßregeln rechnen. Da mag es hier und da vorkommen, dass ein Handwerksbursche mehrere Puffer wegen seines ungezogenen Benehmens erhält. Darüber muss man sich doch nicht beschweren. Sie wussten alle, dass den Polizeisoldaten nicht die amtliche Befugnis zukommt, selbständig solche Züchtigung zu verfügen und vollziehen zu lassen. Aber darum ging es meistens auch nicht. Im Gegensatz zur Kreisregierung und diesem Appellationsgericht, das sich in alles einmischte, wusste der Magistrat wenigstens, womit es die Polizeidiener zu tun hatten. Der Magistrat wusste, dass unser Polizeidiener sich ständig jähzornigen, halbgebildeten und darum hochmüthigen, doch nicht selten höchst lauten und nicht belohnungsfähigen Personen gegenüber fand. Auch Polizeidiener waren nur Menschen, die gedrängt von Passion und der Zeit nicht immer denjenigen Gleichmuth behalten, den allein sie solchem Übermuth und Umständen entgegensetzen sollten, sondern daß sie ihre aufs höchste gereizte Empfindungen in Acte kleiden, die den Richter veranlaßten, sie selbst als Mitschuldige zu betrachten. Unser Polizeidiener, der Ende der 1830er Jahre den Dienst angetreten hatte, war inzwischen seit vielen Jahren dabei. Größere Probleme hatte es nicht gegeben. Bei seiner Einstellung als Polizeidiener III. Klasse hatte man ihm bedeutet, bei regem Eifer und dann, wenn er vom Anfänger zum Geübten würde geworden sein, aufzusteigen. In den letzten Jahren war er von der III. in die II. und schließlich in die I. Klasse aufgestiegen. Jede dieser Beförderungen war mit einer bescheidenen Gehaltserhöhung verbunden. Der Magistrat sah darin eine Belohnung, während unser Polizeidiener glaubte, sich das verdient und einen Anspruch auf Beförderung zu haben. Als er vor zwei Jahren zum Polizeidiener I. Klasse wurde, hatte er sich schließlich bereits zehn Jahre im Dienst aufgeopfert – im Gegensatz zu manch anderen, die eben leisteten, was sie thun müßten und denen es vollständig an eigener Initiative mangelte. Er war da ganz anders. Jetzt, da er Mitte fünfzig war, wollte er die Chance nutzen und Rottmeister werden. Die Gelegenheit schien günstig. Überall in Bayern drängen die Bezirksregierungen auf eine Reorganisation der Polizeimannschaften. Und aus Erfahrung wusste er, dass so etwas meistens mit Entlassungen, Neueinstellungen und Beförderungen einherging. Sein Magistrat war angewiesen, Sorge zu tragen, daß die nicht vollkommen diensttauglichen verheirateten Polizeydiener nach und nach anderweitig im städtischen Dienste verwendet und durch neu aufzunehmende rüstige und gutbeleumundete Polizeidiener ledigen Standes ersetzt werden. Er machte sich natürlich keine Sorgen, aus dem Dienst entfernt zu werden. Seit einigen Monaten vertrat er bereits eine vakante Rottmeisterstelle, und der Magistrat hatte signalisiert, ihn dauerhaft zu befördern. Es traf unseren Rottmeisteraspiranten wie ein Schlag, als die Bezirksregierung ihm die Beförderung verweigerte – mit dem empörenden Argument, er sei im Alter schon ziemlich vorgerückt, dabei zu schriftlichen Arbeiten wenig brauchbar, wegen Excessen bereits abgestraft worden und stehe mit der übrigen Polizey-Mannschaft in bekannter Familiarität, so daß er sich zum Polizey-Rottmeister durchaus nicht
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eignet. Was dachten die sich eigentlich? Ein Rottmeister musste doch über Erfahrung verfügen und durfte kein polizeilicher Neuling sein! Wäre es besser, wenn er den übrigen Polizeidienern, die er schließlich als Rottmeister anzuleiten hatte, in Feindschaft verbunden wäre? Gab es nicht genug Kollegen, die einen Groll gegeneinander hegten und sich Leben und Dienst schwermachten, sich beleidigten, bedrohten und manchmal sogar handgreiflich wurden? Sein Magistrat bot zum Glück Paroli. Sein Magistrat wusste, dass er inzwischen dreizehn Jahre diente, ohne jemals bestraft worden zu sein und es gewiß zu den Seltenheiten gehört, daß ein Soldat, Gendarm, oder Polizeisoldat während einer so langen Dienstzeit ganz ohne Strafe bleibt. Mit seinen 55 Jahren hielt ihn der Magistrat schließlich für noch völlig rüstig und befähigt, alle seine schriftlichen Arbeiten vorzunehmen, die von einem Polizeyrottmeister verlangt werden. Es kam ihm entgegen, dass der Magistrat sich nicht beeilte, die Stelle auszuschreiben und anderweitig zu besetzten (jeder in der Polizeimannschaft wusste um die angespannten Beziehungen von Magistrat und Bezirksregierung). Am Ende sprach die Staatsregierung ein Machtwort. Es stimmte ihn zufrieden, dass man dort seine Leistungen und Fähigkeiten richtig beurteilte und anerkannte, dass er seit einiger Zeit bereits als Rottmeister fungiert und gegen sein Verhalten seit dieser Zeit kein Anstand sich ergeben hat. Natürlich obwaltete gegen seine Befähigung für den Dienst eines Rottmeisters im Allgemeinen kein erhebliches Bedenken. Nun war er Rottmeister. Seine Karriere fand den verdienten Abschluss. Dass unser Rottmeister völlig rüstig war, stimmte, wenn er ehrlich zu sich war, nicht mehr ganz. Der lange Dienst hatte ihn nicht nur ergrauen lassen, sondern erschöpft. Damals, als er seinen Dienst antrat, war sein Körper vollkommen und gesund, und fehlerfrey, so daß er jede fatigue zu ertragen im Stande war. Nun aber, in vorgerücktem Lebensalter, fiel es ihm immer schwerer, die Strapazen des Wachdienstes, besonders der Nachtwache, zu ertragen. Über die Jahre litt er immer wieder an Gicht (die stetig schlimmer geworden war), und er bekam zunehmend Atemprobleme. Das machte sich bemerkbar, wenn er hohe Treppen oder Anhöhe rasch bestieg und oft auf der Stelle stehen bleiben musste, um wieder Athem zu bekommen. Und ihn überraschte das auch nicht, mussten sie doch stets bei Wind und Wetter draußen zu Fuß unterwegs und auch nachts auf den Beinen sein. Das hatte auch ihn ausgezehrt. Inzwischen war er vielleicht doch „eine jener gemüthlichen Invaliden-Gestalten, welche damals […] in Anerkennung früher geleisteter Unteroffiziersdienste den Posten eines Bettelvogtes, d. h. Polizeiers, übertragen bekamen“11 – und über die dieser Johann Most, der von Sachsen aus Agitationsreisen auch nach Bayern unternahm, immer so gern spottete (unter dem Beifall vieler seiner ehemaligen Handwerkerfreunde, die es inzwischen
11 Most, Johann: Memoiren. Erlebtes, Erforschtes und Erdachtes, Hannover 1978 [1903–1905], S. 21.
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teilweise in die Fabriken verschlagen hatte; er als Polizeidiener wusste natürlich, was so geredet wurde). Unser ehemaliger Schneidergeselle, der es nach vielen Jahren als Polizeidiener zum Rottmeister gebracht hatte, gehörte zu den wenigen, die in den Genuss einer Pension kamen (viele, mit denen er in den ersten Jahren zusammen Polizeidienst tat, waren längst ausgeschieden, einige im Dienst mit Tod abgegangen). Jeder bayerische Polizeidiener wusste um die seit längerem geregelte Möglichkeit einer Pension (sie waren keine Staatsbeamten, die einen Anspruch hatten). Die erforderlichen Dienstjahre hatte er längst zusammen. Körperlich, das spürte er, würde die Dienstuntauglichkeit bald eintreten, vielleicht war sie es auch schon. In Beratung mit seinem Arzt und mit Unterstützung des Gerichtsarztes unternahm er einen ersten Vorstoß, denn seit einiger Zeit hatten seine Kräfte ihn so stark verlassen, daß er seinen Wunsch, länger unter der Polizeywache zu dienen, unerfüllt sehen musste. Der Magistrat unterstützte sein Ansinnen und ersuchte bei der Kreisregierung um Gewährung einer Pension. Die Angelegenheit verlief überraschend reibungslos und flott, wohl auch, weil er bereits in fortgeschrittenem Alter war. Kollegen, deren Körper bereits mit Ende dreißig nicht mehr mitmachten, hatten es schwerer. Zwar war es nicht so leicht, von einem reduzierten Ruhegehalt zu leben, aber im Zweifelsfall gewährte der Magistrat seinen altgedienten Polizeidienern den einen oder anderen Zuschuss. Und vor allem: Er bekam überhaupt eine Pension. Für Schneidergesellen war das keine Selbstverständlichkeit. Als er als unterthänigst Unterzeichneter dem hochwohllöblichen Magistrat seine Bitte um Gewährung einer Pension vortrug, wusste er das natürlich – und für den Moment blendete er aus, dass die spärliche Pension ihn wieder jenen Subsistenznöten aussetzte, denen er als Schneidergeselle damals entkommen wollte. Aber immerhin, er würde nicht in Dürftigkeit versterben.
12. Verzeichnisse
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Verzeichnisse
C6, 74, Wiederbesetzung der durch den Tod des Polizeiaktuars Worack freigewordenen Stelle, 1822–1826. C6, 81, Aufrechterhaltung der Sicherheitsmaßnahmen in Nürnberg und Wöhrd, 1819 und 1845–1866. C6, 122, Gehälter an das vom Magistrat nicht übernommene vormalige Personal der PolizeiDirektion, 1819–1820. C6, 159, Besetzung Polizeiaktuarsstellen, 1826–1827. C6, 160, Vermehrung des Polizeipersonals, 1825–1832. C6, 162, Entlassungen aus der Polizeiwache, 1826–1830 und 1845–1847. C6, 165, Entlassung des Polizeisoldaten Georg Michael Roth aus der Polizeiwache und Anstellung des Gendarmen Johann Faber, 1820–1830. C6, 166, Pensionsgesuch des Polizeisoldaten Johann Weil, 1821–1825. C6, 169, Pensionsgesuch des Polizeisoldaten Paulus Schäfer, 1824. C6, 170, Schulden des Polizeisoldaten Johann Caspar Neudecker, 1823–1827. C6, 173, Pensionierung des Polizeirottmeisters Stephan Meyer – Pensionsgesuch seiner Witwe, 1826–1833. C6, 174, Pensionierung von Polizeisoldaten, 1826–1840. C6, 177, Dienstverfehlungen des Polizeisoldaten und Examinators am Laufertor Andreas Öttinger, 1833–1837. C6, 178, Beschwerde gegen den Polizeisoldaten Schneider wegen Verführung der Gutmannschen Magd und dessen Abberufung von der Polizeiwache zu Wöhrd, 1822. C6, 181, Anstellungsgesuch Johann Caspar Neudecker, 1817. C6, 183, Dienstverfehlungen der Polizeisoldaten Johann Weber und Peter Probst im Wirtshaus Kohlenberger zu Glockenhof, 1826. C6, 200, Urlaubsgesuche und Reisebewilligungen, 1820–1836.
Bestand Generalregistratur C7/I, 2711, Patrouillen der Polizeimannschaften, 1824–1873. C7/I, 2718, Generalien in Polizeisachen, 1830–1872. C7/I, 2720, Überschreitung der Polizeigewalt, dienstliche Exzesse der Polizeibeamten, 1832– 1892. C7/I, 2745, Bestechung der Beamten, 1847–1885. C7/I, 2755, Bildung von Distriks-Schutzwachen, 1848–1849. C7/I, 2756, Einführung der nächtlichen Sicherheitswache, 1858–1851. C7/I, 2776, Vollzug des Polizei-Strafgesetzes, 1862–1872. C7/I, 2802, Erstattung der Anzeigen durch die Schutzmannschaft, 1870–1889. Stadtarchiv Regensburg (StAReg) Bestand Magistratsregistratur
Archive
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Verzeichnisse
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Dank
Bei der vorliegenden Studie handelt es sich um die überarbeitete Fassung meiner im Sommer 2017 an der Philosophischen Fakultät der Technischen Universität Chemnitz angenommenen Habilitationsschrift. Ich danke Rudolf Boch, Frank-Lothar Kroll und Friedrich Lenger für ihre Bereitschaft zur Begutachtung. Rudolf Boch, dessen Assistent ich von 2009 bis 2016 war, hat die Entstehung der Arbeit von Anfang an nicht nur begleitet und mich dabei in jeder Hinsicht unterstützt, sondern durch pointierte Kritik und zahllose Anregungen immer wieder zur Schärfung der Konturen beigetragen. Vor allem möchte ich ihm dafür danken, dass er jemandem, der – wie ich – ein Buch zum zwanzigsten Jahrhundert geschrieben hatte, dazu ermutigte, das neunzehnte Jahrhundert zu entdecken. Danken möchte ich den (ehemaligen) Kolleginnen und Kollegen der Chemnitzer Wirtschafts- und Sozialgeschichte – ein Arbeitsbereich, den es mit der Emeritierung Rudolf Bochs so nicht mehr geben wird – für die angenehme und freundschaftliche Zusammenarbeit in allen Belangen, namentlich Manuel Schramm, Yaman Kouli und Heidrun Homburg. Vor allem danke ich mit Blick auf den (ehemals) Chemnitzer Kontext Christopher Degelmann für epochenübergreifende Diskussionen, die zwar manchmal von unser beider Themen weg-, dafür aber immer in eine ähnliche Richtung führten. Im Verlauf der letzten Jahre hatte ich mehrfach Gelegenheit, Argumente und Thesen der Arbeit zur Diskussion zu stellen – beispielsweise in Kolloquien und Workshops in Frankfurt/M., Berlin, Trier, Bielefeld, Basel, Gießen, München, Tübingen und wiederholt in Chemnitz. Den Veranstalterinnen und Veranstaltern sowie den Diskutantinnen und Diskutanten danke ich ohne Einschränkung für die freundliche Aufnahme und konstruktive Kritik. Jörn Eiben, David Kuchenbuch, Anette Schlimm und Thomas Etzemüller haben – nicht zum ersten Mal und mehr als einmal – die Mühe der Lektüre einzelner Kapitel und des ganzen Manuskripts auf sich genommen. Danke beziehungsweise mit der in diesen Fällen üblichen Konvention gesagt: Wo immer eine Verbesserung des Manuskripts und eine Schärfung der Argumente in Aussicht standen, habe ich Eure Anregungen stillschweigend übernommen oder produktiv ignoriert – für verbliebene Irrtümer seid natürlich Ihr verantwortlich! Wolfgang Knöbl und Friedrich Lenger haben mit ihren Gutachten die Studie für die „Industrielle Welt“ empfohlen. Ihnen und den Herausgeberinnen und Herausgebern danke ich für die Aufnahme in die Schriftenreihe des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte.
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Dank
Zumindest implizit gewidmet ist die Arbeit Angela Taeger, von der ich vor inzwischen doch längerer Zeit in jedem Seminar aufs Neue ein bestimmtes Verständnis von Geschichtswissenschaft lernen konnte – und vielleicht auch das Interesse an der Geschichte der Polizei, auch wenn es etwas dauerte, bis letzteres zum Tragen kam. First and last and always, ein Buch für Annika.
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HERAUSGEGEBEN VON ANDREAS ECKERT UND JOACHIM RÜCKERT Band 90: Regina Finsterhölzl Kommerzielle Werbung im kolonialen Afrika Die Werbebranche und der politische Wandel in Ghana 1930–1970 2015. 399 Seiten, 51 s/w-Abb., gebunden ISBN 978-3-412-22309-0
Band 87: Joachim Rückert (Hg.) Arbeit und Recht seit 1800 Historisch und vergleichend, europäisch und global 2014. 389 Seiten, gebunden ISBN 978-3-412-22278-9
Band 89: Stephanie Schlesier Bürger zweiter Klasse? Juden auf dem Land in Preußen, Lothringen und Luxemburg
Band 86: Frank Wolff Neue Welten in der Neuen Welt Die transnationale Geschichte des Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbundes 1897–1947
2014. 600 Seiten, 7 s/w-Abb. und 4 Tab., gebunden ISBN 978-3-412-22362-5
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2014. 238 Seiten, 33 s/w-Abb., gebunden ISBN 978-3-412-22352-6
2014. 516 Seiten, gebunden ISBN 978-3-412-20986-5
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HERAUSGEGEBEN VON ANDREAS ECKERT UND JOACHIM RÜCKERT Band 96: Fabian Lemmes Arbeiten für das Reich Die Organisation Todt in Frankreich und Italien 1940-1945 2019. Ca. 720 Seiten, ca. 10 s/w-Abb., gebunden ISBN 978-3-412-51390-0
Band 95: Gleb J. Albert Das Charisma der Weltrevolution Revolutionärer Internationalismus in der frühen Sowjetgesellschaft 1917–1927 2017. 631 Seiten, gebunden ISBN 978-3-412-50754-1
Band 94: Marco Swiniartzki Der Deutsche MetallarbeiterVerband 1891–1933 Eine Gewerkschaft im Spannungsfeld zwischen Arbeitern, Betrieb und Politik 2017. 470 Seiten, 11 s/w-Abb., gebunden ISBN 978-3-412-50750-3
Band 93: Clelia Caruso Befristete Migration und transnationaler Lebensstil Italienerinnen und Italiener in einer wallonischen Bergbaugemeinde nach 1945 2019. Ca. 736 Seiten, gebunden ISBN 978-3-412-50116-7
Band 92: Sabine Rudischhauser Geregelte Verhältnisse Eine Geschichte des Tarifvertragsrechts in Deutschland und Frankreich (1890–1918/19) 2016. 896 Seiten, gebunden ISBN 978-3-412-50536-3
Band 91: Willibald Steinmetz (Hg.) Semantiken von Arbeit: Diachrone und vergleichende Perspektiven 2016. 413 Seiten, gebunden ISBN 978-3-412-50280-5