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German Pages [301] Year 2018
Diese Studie untersucht das Genre des Patientenporträts und nimmt vor allem ein umfangreiches Bildkonvolut in den Blick; Gemälde, Gouachen und Aquarelle von Tumorkranken aus den Jahren 1835–1850, gemalt von dem kantonesischen Maler Lam Qua. Entgegen bisheriger Verortungen des Genres im Rahmen der freak shows zeigt die Autorin, dass diese außergewöhnlich scheinenden Bildnisse nicht nur ein global verbreitetes Genre waren, vielmehr waren sie aus einer ideengeschichtlichen Konsequenz hervorgegangen. In einem klinischen Kontext angesiedelt, korrespondierten Patientenporträts mit der Porträtmalerei und darüber hinaus mit der populären Disziplin der Physiognomik und verlangten vom Betrachter eine kognitiv fundierte semiotische Lesung ab.
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TUMOR IM BLICK Patientenporträts im 19. Jahrhundert zwischen Kunst, Medizin und Physiognomik
Jadwiga Kamola
TUMOR IM BLICK
Jadwiga Kamola
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Jadwiga Kamola
TUMOR IM BLICK Patientenporträts im 19. Jahrhundert zwischen Kunst, Medizin und Physiognomik
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Gedruckt mit Unterstützung der Axel Springer Stiftung, Berlin.
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. © 2018 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Lindenstraße 14, D-50674 Köln Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Aquarellwerkstatt aus Kanton: Patient mit einem Gesichtstumor. Aquarell. Ca. 1838. Korrektorat: Rainer Landvogt, Hanau Satz: büro mn, Bielefeld Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com
ISBN 978-3-412-51233-0
Inhalt
Einleitung .............................................................................................................
9 12 21 32
1 Lam Quas viele Bilder .................................................................................
35 35 43 51 58 65 72 74 78
Ziele der Arbeit und Methode ................................................................ Spannungsfelder und ihre Ausdehnungen ........................................... Vorgehen .. ....................................................................................................... 1.1 Die Bildkorpora . . .................................................................................. 1.2 Im Auftrag des Arztes ........................................................................ 1.3 Positionierung im Genre des medizinischen Porträts ............... 1.4 Funktionen und Publikum ................................................................ 1.5 Wer war der Urheber? . . ....................................................................... 1.6 Werkstätten und spezifischer Entstehungskontext .................... 1.7 Fluide Motive . . ...................................................................................... 1.7.1 Zeichen der Fluidität . . ..............................................................
2 Der klinisch-christliche Blick ....................................................................
87 2.1 Amputation und Wiederherstellung .............................................. 87 2.2 Das Licht ................................................................................................ 90 2.3 Die Lanzette . . ........................................................................................ 94 2.4 Empathie ................................................................................................ 97 2.5 Das Krankenhaus als Gesamtkunstwerk ....................................... 99 2.6 Po Ashing ............................................................................................... 101
3 Porträt und Krankheit ................................................................................ 107 3.1 „Likeness“ und „representation“ . . ..................................................... 108 3.2 Charakter und Krankheit .. ................................................................. 114 3.3 Stärke ....................................................................................................... 118 3.4 Bilder der Krankheit und der Stärke .............................................. 124 3.5 Charakter-Fälle .. ................................................................................... 126 3.6 „Kuriositäten“ und Dokumente ....................................................... 128 3.7 Vergleichendes Sehen ......................................................................... 131 4 Im Prisma der Physiognomik ................................................................... 135 4.1 Lavater und Zimmermann . . .............................................................. 137 4.1.1 Silhouetten und Porträts . . ........................................................ 138 Inhalt |
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4.1.2 Medizinische Semiotik und Physiognomik ....................... 4.1.3 Die Miene und ihre Farbe .. ..................................................... 4.1.4 Die Sprache der Silhouette ..................................................... 4.1.5 Die Idéologen ............................................................................. 4.2 Essays on the Anatomy and Philosophy of Expression (1824) . . ....... 4.2.1 Das Alphabet des menschlichen Ausdrucks ...................... 4.2.2 Das Symptom ............................................................................. 4.2.3 Der Abdruck ............................................................................... 4.2.4 Die Schichten des Charakters .. .............................................. 4.3 Lam Quas Bilder im Prisma der Physiognomik .. .......................
141 144 154 157 159 161 168 170 177 178
5 Kranken-Physiognomik und für sich stehende Patientenporträts. 187 5.1 Baumgärtners Kranken-Physiognomik (1839) ................................ 187 5.1.1 Die Funktionen der Bilder ...................................................... 192 5.1.2 Magenkrebs ................................................................................. 194 5.1.3 Fallsucht .. ...................................................................................... 198 5.1.4 Ekphrasis und Evidenz ............................................................ 201 5.1.5 Evidenz und Natur .................................................................... 204 5.2 Für sich stehende Patientenporträts (1830 – 1850) ........................ 206 5.2.1 Schott-Bilder .. ............................................................................. 207 5.3 Delamottes Tumorbilder (1841 – 1852) .............................................. 211 5.3.1 Patientenporträts . . ...................................................................... 212 5.3.2 Objektive Bilder? ....................................................................... 215 5.4 The Gentlefolk of Leeds (1818 – 1840) ................................................... 218 5.4.1 Mrs Prince of Corborough Street, Leeds (1840) . . .................... 219 5.4.2 Mrs Broadbent und das Flipbook (1841) . . ............................... 223
5.5 Lam Quas Bilder im Kontext der Kranken-Physiognomik und europäischer Krankenporträts . . ................................................ 225
6 Wider die Physiognomik ........................................................................... 231 6.1 Das „pathologisch Erhabene“ ........................................................... 232 6.2 Das Bild des monströsen Chinesen ................................................ 238 6.3 Der „maßlose“ Körper im Bild ......................................................... 241 6.4 Das Abjekte ............................................................................................. 244 6.5 Eine supplementäre Ration ................................................................. 247 6.6 Das Double und das Simulacrum . . ................................................... 251 6.7 Das Anti-Porträt .................................................................................. 254 6.7.1 Wider die Physiognomik .. ....................................................... 256
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| Inhalt
Schlussbetrachtung und Ausblick auf die Fotografie .. ........................... 259 Schlussbetrachtung . . .................................................................................... 259
Wechselwirkungen zwischen Malerei und Fotografie im späten 19. Jahrhundert und frühen 20. Jahrhundert . . .................. 261 „As life-like as possible“: Handkolorierte Fotoatlanten ................... 266 Fotos aus Kanton ......................................................................................... 268
Bildtafeln .............................................................................................................. 273 Bibliografie . . ......................................................................................................... 281 Online-Q uellen ............................................................................................ 293 Dank ....................................................................................................................... 295 Abbildungsnachweis ........................................................................................ 297 Textabbildungen . . ......................................................................................... 297 Bildtafeln ........................................................................................................ 299
Inhalt |
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Einleitung
1821 beauftragte der Arzt Étienne-Jean Georget den befreundeten Künstler Théodore Géricault, Bilder von sogenannten „Monomanen“ zu malen. Es handelte sich um Personen, die an einem geistigen Defekt in Anbetracht sonstiger geistiger Gesundheit, einer sogenannten „Monomanie“, litten.1 Aus dieser Anfrage resultierten zehn Porträts, von denen heute nur noch fünf erhalten sind.2 Sie zeigen eine „Spielerin“, einen „Kleptomanen“, einen „Kindesentführer“, einen „verwirrten Kriegsveteranen“ sowie eine „krankhaft neidische Frau“. Die Dargestellten wirken geistesabwesend, ihr Blick fixiert einen Punkt in der Ferne. Hier schaut der Betrachter weder auf einen Idealkörper noch auf eine herausragende Persönlichkeit, sondern auf einen anonymen kranken Menschen, der die Verbindung zum Beschauer verweigert. Damit scheinen diese Bilder eine Negation dessen darzustellen, was Kunsthistoriker gemeinhin unter „Porträts“ verstehen, die Darstellung eines bekannten Individuums, eingefangen in einer stillen Ansicht. Dieses Verständnis geht vordergründig auf den neuzeitlichen Porträtbegriff zurück, den der italienische Kunsttheoretiker und Architekt Leon Battista Alberti in seinem Malereitraktat De Pictura (1435) formuliert hat.3
1 Sander L. Gilman: Disease and Representation. Images of Illness from Madness to AIDS . Ithaca und London. 1988, S. 35 – 36, Albert Boime: „Portraying Monomaniacs to Service the Alienist’s Monomania: Géricault and Georget“. In: The Oxford Art Journal. Band 14. Nr. 1. 1991, S. 79 – 91, hier: S. 80. 2 Das Porträt der „Spielerin“ hängt heute im Pariser Louvre, das „Kleptomanen“-Bildnis befindet sich im Museum voor Schone Kunsten in Gent, das Porträt des „Kindsentführers“ ist im Michele and Donald D’Amour Museum of Fine Arts in Springfield, Massachusetts, zu sehen, das Bildnis des „verwirrten Kriegsveteranen“ ist Teil der Sammlung Oskar Reinhart schweizerischen Winterthur, das Bildnis der „krankhaft neidischen Frau“ ist im Musée des Beaux-Arts de Lyon in Frankreich zu finden. 3 Zu Albertis Porträtbegriff siehe Rudolf Preimesberger: „‚Dennoch reißt es die Augen aller Betrachter an sich‘. Leon Battista Alberti zur Wirkung des Gesichts im Gemälde“. In: Gesichter der Renaissance: Meisterwerke italienischer Portrait-Kunst. Ausstellungskatalog der Staatlichen Museen zu Berlin. München. 2011, S. 77 – 84, Gottfried Boehm: Bildnis und Individuum. Über den Ursprung der Porträtmalerei in der italienischen Renaissance. München. 1985, S. 14. Einleitung |
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Georget erhoffte sich, mit den realistischen Bildern zeigen zu können, dass die Monomanie für den Laien nicht zu sehen sei und doch der trainierte Blick des Mediziners Eigenschaften der Krankheit im Gesicht des Dargestellten erkennen könne.4 Lange galten Géricaults Monomanen-Bildnisse als Produkte einer „ungewöhnlichen Zusammenarbeit“ oder als „Studien“, die es noch in seinem Œuvre zu verorten galt.5 Doch wie die Beziehung zwischen Géricault und Georget waren diese Bildnisse keine Einzelfälle. Das 19. Jahrhundert brachte Konvolute solcher Patientenporträts hervor; Ölgemälde, Aquarelle und Zeichnungen, die von der Kooperation zwischen Medizinern und Malern Zeugenschaft ablegen und heute in medizinhistorischen Archiven aufbewahrt werden. Es sind Erzeugnisse der im 19. Jahrhundert omnipräsenten medizinischen Porträtmalerei. Diese korrespondierte mit der Physiognomik, einer mit der medizinischen Anschauungsweise eng verwandten Methode der Gesichtsdeutung, die von dem äußeren Erscheinungsbild des Menschen, der sogenannten „Physiognomie“, auf innere charakterliche Eigenschaften zu schließen glaubte.6 Diese Arbeit handelt von Bildern, die Tumorkranke zeigen. Sie untersucht vor allem eine umfangreiche Serie von Patientenporträts, die für den Arzt Peter Parker (1804 – 1888) gemalt wurde. Im Rahmen amerikanischer Missionsbestrebungen ließ der gelernte Augenarzt Parker im Jahr 1835 ein westliches Krankenhaus in Kanton (heute Guangzhou) errichten. Wie Georget 14 Jahre vor ihm wandte sich Parker an einen Künstler, um Bilder von seinen „interessantesten Fällen“ herstellen zu lassen. Seine Wahl fiel auf Lam Qua oder Guan Qiaochang (1801 – 1860), der sich bereits einen Namen mit Porträts amerikanischer und chinesischer Händler in westlicher Manier gemacht hatte. Diese Bilder entstanden in den Jahren 1835 – 18507 und fallen 4 Boime, S. 88. 5 Ebd., S. 79. 6 Zur Definition der Physiognomik siehe Geschichten der Physiognomik. Text, Bild, Wissen. Hg. Rüdiger Campe und Manfred Schneider. Freiburg. 1996, S. 9. 7 Der von mir angesetzte Zeitrahmen bezieht sich auf die Jahreszahlen der von Peter Parker beschriebenen Tumorfälle in der amerikanischen Zeitschrift The Chinese Repository. Darin gab Parker die Fallnummer und den Namen der Person an. Auf dieser Grundlage gelang es mir, einige der von Lam Qua dargestellten Patienten zu identifizieren und so die Gemälde zu datieren. Grundsätzlich wird die Festlegung eines genauen Zeitrahmens durch die Tatsache erschwert, dass sich die Krankheiten sehr ähneln und die Personen nicht identifiziert werden können. Der Beginn des Zeitrahmens kann grundsätzlich im Jahr 1835, mit der Behandlung der ersten Tumorpatientin Akae, angesetzt werden. Der
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| Einleitung
so in eine Zeit, in der die Fotografie noch nicht zu wissenschaftlichen Zwecken genutzt wurde.8 Eine groß angelegte Dokumentation der Patienten, die offenbar das Krankenhaus seit seiner Errichtung zahlreich aufsuchten, konnte daher nur im Medium der Malerei stattfinden.9 Bericht aus dem Jahr 1836 macht deutlich, dass Akae bereits am 27. Dezember 1835 in die Klinik aufgenommen wurde. Auf dieser Basis ist zu vermuten, dass ihr Bild zeitgleich mit dem Bericht entstand und nicht, wie es die Forschungsliteratur vorschlägt, erst im Jahr 1836 gemalt wurde. Die jüngsten Bilder, die die Patienten Kwo Shí, Chú Hí, Kwan Kin und Liáng Siun darstellen, können auf das Jahr 1850 datiert werden. Damit weitet sich der von der Forschungsliteratur anvisierte Entstehungszeitraum auf die Zeitspanne 1835 – 1850: Die Sinologin Larissa Heinrich hatte die Bilder auf die Jahre 1836 – 1855 datiert und setzte das Ende der Serie auf Parkers Übergabe des Hospitals an Dr. Kerr im Jahr 1855 an. Der Philologe Stephen Rachman setzte die Produktionszeit auf die Jahre 1836 – 1852 fest. Der Kulturwissenschaftler Sander Gilman spricht davon, dass Parker Lam Qua in den 1830ern beauftragt habe, die Bilder zu malen. Zum Entstehungszeitraum äußert er sich jedoch nicht. Der Kunsthistoriker Marcel Finke datiert die Bilder auf die Zeit 1836 – 1851. Zu den Fallberichten zu der Patientin Akae siehe „1st Report of the Opthalmic Hospital in Canton“. In: The Chinese Repository. 1836, S. 461 – 473, zu Kwo Shí, Liáng Siun, Kwan Kin und Chú Hí siehe „16th Report of the Ophthalmic Hospital“. In: The Chinese Repository. 1851, S. 21. Zum Entstehungszeitraum siehe Larissa N. Heinrich: The Afterlife of Images. Translating the Pathological Body between China and the West. Durham. 2008, S. 42, Stephen Rachman: „Memento Morbi: Lam Qua’s Paintings, Peter Parker’s Patients“. In: Literature and Medicine. Band 23. Nummer 1. Frühling 2004, S. 134, Sander L. Gilman: „Lam Qua and the Development of a Westernized Medical Iconography in China“. In: Medical History. Band 30. 1986, S. 62, Marcel Finke: „Von maßlosem Wuchs. Grenzen der Wahrnehmung und Bilder, die Tumore zeigen“. In: Maßlose Bilder. Visuelle Ästhetik der Transgression. Hg. Ingeborg Reichle und Steffen Siegel. München. 2009, S. 321 – 339, hier: S. 322. 8 Erste wissenschaftliche Fotografien entstanden in den 1860er Jahren. Zur wissenschaftlichen Nutzung der Fotografie siehe The Beautiful and the Damned. The Creation of Identity in Nineteenth-Century Photography. Hg. Peter Hamilton und Roger Hargreaves. London. 2001, S. 56 und Michael Hagner: „Mikro-Anthropologie und Fotografie. Gustav Fritschs Haarspaltereien und die Klassifizierung der Rassen“. In: Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft, Technologie und Kunst. Hg. Peter Geimer. Frankfurt a. Main. 2002, S. 252 – 284, hier: S. 256 – 257. 9 Nach der Errichtung sollen so viele Patienten das Krankenhaus besucht haben, dass nicht alle Personen behandelt werden konnten. Nach Parker soll es sich in den ersten drei Monaten um 925 Patienten gehandelt haben. Aus diesem Grund wurden reguläre Empfangszeiten eingerichtet. Siehe „First Einleitung |
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Das Gros der Bilder, bestehend aus 68 Gemälden und 23 Aquarellen, befindet sich heute in der medizinhistorischen Bibliothek der Yale University in New Haven (USA), während kleinere Korpora auf die Wellcome Library und das Gordon Museum in London, das Kunstmuseum der Cornell University (USA), die Countway Library in Boston und das Peabody Essex Museum in Salem (USA ) verteilt sind. Die Porträts zeigen chinesische Patienten verschiedener Alters- und Sozialschichten und stellen jeweils zugleich eine riesige Geschwulst dar, die sich auf ihren Körpern ausbreitet.10 Die vor einem neutralen Hintergrund gezeigten Kranken blicken den Betrachter an, zuweilen schauen sie zur Seite oder zu Boden. Ihre Gesichter verraten keine Regung.11 Je nach Position des Tumors sind die Personen im Sitzen, Stehen oder im Liegen dargestellt. Befindet sich der Tumor an einer für den Betrachter für gewöhnlich nicht sichtbaren Stelle, der Brust oder dem Bauch, drapiert der Dargestellte die Kleidung zur Seite; der riesige Tumor wird enthüllt und dem Blick des Betrachters zur Ansicht gegeben.
Ziele der Arbeit und Methode Diese Arbeit untersucht die Patientenbildnisse im Hinblick auf drei konkrete Fragen: Welchen Zwecken haben die Bilder gedient? Wie wurden sie von den Zeitgenossen verstanden? In welchem größeren Kontext können sie verortet werden? Parker ließ nicht nur Bilder von seinen Patienten malen, er beschrieb die Fälle, so wie es in der zeitgenössischen klinischen Praxis üblich war, indem er zunächst die Patienten namentlich nannte, ihren Herkunftsort, ihren Beruf und ferner ihre „Verhaltensweisen“ auflistete. Abschließend ging er dazu über, die Exstirpation des Tumors detailliert zu schildern. Wir haben es diesen Report of the Ophthalmic Hospital in Canton“. In: The Chinese Repository. 1836, S. 461 – 473, hier: S. 462 – 463. Zur wissenschaftlichen Nutzung der Fotografie siehe The Beautiful and the Damned, S. 56. 10 Zwei Porträts zeigen Mitglieder der in China angesiedelten ethnischen Minderheit der Parsis, die ihren Ursprung im heutigen Iran hat. Siehe dazu Carl L. Crossman: The Decorative Arts of the China Trade. Paintings, Furnishings and Exotic Curiosities. Woodbridge, Suffolk. 1991, S. 101. 11 Dieser Aspekt hat einige Autoren zu der Feststellung verleitet, dass die Krankheit die Dargestellten „gleichgültig“ ließe. Larissa Heinrich sah in diesem Ausdruck sogar eine „paradoxe Ruhe“. Nach Heinrich seien sich die Porträtierten ferner ihrer Krankheit nicht „bewusst“. Siehe Heinrich, S. 58.
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Berichten zu verdanken, dass einige der Dargestellten identifiziert und die Bilder datiert werden konnten. In den Berichten fällt auf, dass Parker wiederholt den Begriff des Charakters, sowohl für den Charakter des Patienten als auch für die Krankheit, verwendet. Parkers Fokus auf den Charakter schlägt eine Brücke zum rezeptionsästhetischen Diskurs um diesen Begriff, der seit dem 18. Jahrhundert in Europa und den USA allgegenwärtig war. Während „likeness“ als ein Bild galt, das nur die Oberfläche des Dargestellten zeigen konnte, war „character“ das favorisierte Ideal, das die innere Verfasstheit des Malers und des Dargestellten vermittelte und gleichzeitig das „Gemüt“ des Betrachters anzusprechen vermochte.12 Ferner war der Begriff des Charakters in den übergreifenden Kontext der Physiognomik eingebettet, wobei er in diesem Zusammenhang als ein Konglomerat aus persönlichen Eigenschaften, Temperamenten, die wiederum mit Krankheiten konnotiert waren, verstanden wurde. Lam Quas Bilder legen daher ein physiognomisches Verständnis nahe, das heißt eines, das anhand des Äußeren Aussagen zum Inneren des Menschen trifft. In diesem Sinne analysiert diese Arbeit die enge Beziehung zwischen der Physiognomik und der medizinischen Semiotik und deren Bildlichkeit. Diese Disziplinen gingen bereits in der Antike vielfältige Wechselwirkungen ein.13 Die medizinische Semiotik, die in die heutige Symptomatologie im Rahmen der Diagnostik überging, war im 19. Jahrhundert neben der anatomisch-klinischen Medizin eine gängige Methode, um Krankheiten zu erkennen, zu deuten, und schien Ansätze zu bieten, um diese Krankheiten zu heilen.14 Die Physiognomik und die medizinische Semiotik verbindet der Fokus auf das Gesicht, das Zeichen eines persönlichen Charakters und eines Charakters der Krankheit ist. In diesem Kontext betont die Arbeit die vielfältige rezeptionsästhetische Bedeutung des Porträtformats, das dem Betrachter das Gesicht zur (kunst)ästhetischen, physiognomischen und zugleich zur klinischen Ansicht präsentiert. Selbst der bekannte Physiognom Johann Caspar Lavater (1741 – 1801) nutzte Porträts als physiognomische
12 Bettina Gockel: Kunst und Politik der Farbe. Gainsboroughs Portraitmalerei. Berlin. 1999, S. 38. 13 Zur Nähe der Physiognomik und der Medizin in der Antike siehe Andreas Degkwitz: „Die pseudoaristotelischen ‚Physiognomonica‘“. In: Geschichten der Physiognomik, S. 23 – 44. 14 Wolfgang Eich: Medizinische Semiotik (1750 – 1850). Ein Beitrag zur Geschichte des Zeichenbegriffs in der Medizin. Freiburg. 1986, S. 9, 37. Ziele der Arbeit und Methode |
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Untersuchungsgegenstände. Dies belegen seine Studienblätter mit zahlreichen Porträts und nebenstehenden Interpretationen.15 Gleichzeitig muss betont werden, dass die zeitgenössische Porträtmalerei auf die Entstehung einer physiognomischen Bildlichkeit in Atlanten und diversen Aquarell- und Gemäldeserien mit einem eher medizinischen Hintergrund großen Einfluss hatte. Die medizinische Semiotik hatte nicht unmittelbar eine konstante Bildproduktion nach sich gezogen.16 Semiotische Schriften, die an praktizierende Mediziner und grundsätzlich an eine belesene Oberschicht gerichtet waren, sind bilderlos. Die Bildlichkeit der Physiognomik kristallisierte sich erst in physiognomischen Atlanten des 19. Jahrhunderts heraus und sprach mit diesen Medien ein breites Publikum an. Diesen Aspekt verdeutlicht die Kranken-Physiognomik (1839) des Freiburger Arztes Karl Heinrich Baumgärtner (1798 – 1886), die neben physiognomischen, einfach gehaltenen Fallbeschreibungen einen großformatigen Atlas mit Krankenporträts enthält. Das Buch richtete sich in erster Linie an praktizierende Mediziner und sprach zugleich ein Laienpublikum an. Für sich stehende Patientenporträts wie Gemälde und Aquarelle wurden hingegen punktuell bereits im 18. Jahrhundert hergestellt und zur medizinischen Interpretation verwendet, wie der Medizinhistoriker Douglas James in seiner Dissertation Portraits of patients and sufferers in Britain, c. 1660–c. 1850 (2013) anhand von vereinzelten aquarellierten Porträts aus dem Hunterian Museum in London gezeigt hat. Meine Forschungsarbeit brachte neben Lam Quas Porträts zahlreiche weitere Patientenbildnisse aus dem 19. Jahrhundert zu Tage; unter anderem Aquarelle des englischen Malers William Alfred Delamotte (1841 – 1852) und die Aquarellserie The Gentlefolk of Leeds (1818 – 1840), deren Produzent nicht identifiziert werden konnte. Diese Bilder eint das Porträtformat und der vorwiegend stille Gesichtsausdruck der Dargestellten, wobei der Bezug zu Lam Quas Bildern und zum ideengeschichtlichen Kontext der Physiognomik naheliegend ist. Diese Parallelen erlauben die Verortung der chinesischen Patientenporträts in der Tradition der medizinischen Porträtmalerei, eines, 15 Siehe auch Hans Richard Brittnacher: „Der böse Blick des Physiognomen“. In: Der falsche Körper. Beiträge zu einer Geschichte der Monstrositäten. Hg. Michael Hagner. Göttingen. 1995, S. 127 – 146, hier: S. 142. Zu Lavaters Studienblättern siehe Johann Caspar Lavater. Die Signatur der Seele. Hg. Ingrid Goritschnig und Erik Stephan. Ausstellungskatalog der Anhaltischen Gemäldegalerie Dessau und der Österreichischen Nationalbibliothek Wien. Jena und Wien. 2001. 16 Eich, S. 4.
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| Einleitung
wie zu zeigen sein wird, global verbreiteten Genres, dessen Beginn auf das 18. Jahrhundert und dessen Höhepunkt auf die Jahre 1830 – 1890 angesetzt werden können.17 Erkenntnistheoretisch relativiert die medizinische Porträtmalerei in diesem Zeitrahmen das epistemische Ideal der von den Wissenschaftshistorikern Lorraine Daston und Peter Galison festgestellten „nichtintervenierenden“ oder „mechanischen Objektivität“, die die Autoren für wissenschaftliche Atlanten des 19. Jahrhunderts hervorgehoben haben.18 Nach Daston und Galison handelt es sich um die Idee, eine perfekte mimetische Kopie eines Dinges bildlich darzustellen und damit die Interpretation und die Wertung des Gesehenen zu unterdrücken. Insofern verstehen Daston und Galison die „Objektivität“ als der „Subjektivität“ ideell entgegengesetzt. Hier wird versucht, die historischen Begriffe des naturwissenschaftlichen Bildes als „representation“ und des Porträts als „likeness“ und „Portrait“ zusammenzubringen. In diesem Zusammenhang wird ferner auf das von Michel Foucault herausgearbeitete Verständnis eines anonymen Körpers, wie Letzterer an der sogenannten „medizinischen Wende“ zur Moderne verstanden wurde, Bezug genommen.19 In der pathologischen Anatomie des Xavier Bichat (1771 – 1802), so schlägt Foucault vor, war der Körper für den Mediziner ein „stummes“ Gewebeaggregat.20 Gegen dieses „Machtdispositiv“ des ärztlichen Blicks, der den Körper epistemisch in Kompartimente zerlegte, positioniert sich gewissermaßen die Person im Porträt. So statuieren die medizinischen Porträts eine Präsenz des Kranken und erzeugen gleichzeitig eine medizinische Evidenz; sie oszillieren stets zwischen einem medizinischen, einem physiognomischen und einem ästhetischen Verständnis. Diese wissenschafts- und medizinhistorischen Positionen, die um die Wahrnehmung des Körpers und die Bedeutung des Bildes in der episteme des 19. Jahrhunderts aufgebaut sind, implizieren die kunsthistorischen Begriffe der Evidenz und der Präsenz, die in den letzten Jahren eine besondere 17 Damit überschneidet sich der grundsätzliche Gebrauch des Genres mit der wissenschaftlichen Fotografie seit den 1860er Jahren, die das Porträtformat fortsetzte. Siehe The Beautiful and the Damned, S. 56. 18 Lorraine Daston und Peter Galison: „Das Bild der Objektivität“. In: Ordnungen der Sichtbarkeit, S. 29 – 99, hier: S. 31 und Lorraine Daston und Peter Galison: Objectivity. New York. 2010, S. 36 – 37. 19 Michel Foucault: Die Geburt der Klinik – Eine Archäologie des ärztlichen Blicks [Naissance de la Clinique, Une archéologie du regard médical, 1963]. Übers. Walter Seitter. Frankfurt a. Main. 2008. 20 Ebd., S. 141. Ziele der Arbeit und Methode |
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Aufmerksamkeit seitens der Forschung erhalten haben. Die Evidenz wird als eine „ästhetische Grundkategorie“ definiert, bezeichnet einerseits Verfahren der „Repräsentation von Wirklichkeit“ und generiert andererseits eine genuine visuelle „Eigen-Präsenz“. In diesem Zusammenhang wird eine „zweifache Bestimmung des Bildes“ festgestellt: als Repräsentation und als Präsenz.21 Der Begriff der Präsenz wird insbesondere mit einer „Agenz“ des Kunstobjekts und damit verbunden mit der Funktion einer Stellvertretung zusammengedacht. In jüngster Forschung hat der Kunsthistoriker Horst Bredekamp auf die „Aktivitätspotentiale“ der Bilder und deren Eigenleben hingewiesen. In seiner „Bildakt-Theorie“ geht Bredekamp von einem Paradoxon des Bildes aus, das eine „aktive Qualität“ und ein „Lebensrecht“ hat.22 Die Wirkung ergibt sich dann sowohl aus der „Kraft“ des Bildes wie aus der Wechselwirkung mit dem betrachtenden oder berührenden Gegenüber. Die Kunsthistoriker Gottfried Boehm und Caroline van Eck verstehen das Kunstwerk explizit als einen „Agenten“ im Kontext sozialer Beziehungen. In Bildnis und Individuum (1985) betont Boehm, dass die Präsenz der Person im selbstständigen Bildnis des 15. Jahrhunderts einen „potentiellen Handlungsmoment“ impliziert.23 Van Eck bezieht sich in Art. Agency and Living Presence (2014) auf Theorien des Anthropologen Alfred Gell, wobei dem Kunstobjekt ausdrücklich die Funktion eines „sozialen Agenten“ zukommt; eines Begriffs, der nach Gell im Rahmen eines performativen „Aktionssystems“ das Kunstwerk substituiert. Kunstobjekte unterliegen demnach keinen formalen oder ästhetischen Kategorien, sie sind auch keine Zeichen oder visuelle Kodierungen, die entziffert werden müssten; vielmehr werden sie performativ definiert und im Zusammenhang antiker rhetorischer Kategorien, beispielsweise der enargeia, einer lebendigen Darstellung, verankert und fungieren als „Stellvertreter“ von Personen.24 In diesem Sinne untersucht diese Arbeit die unterschiedlichen Funktionen der Patientenbildnisse und ihre daraus resultierenden vielschichtigen Evidenzen, die wiederum an eine Präsenz gekoppelt sind; unter anderem die Funktion der Stellvertretung in dem faktischen Raum der Klinik. Die 21 Siehe Programm der Forschungsgruppe BildEvidenz: http://bildevidenz.de/ forschung/ (letzter Zugriff: 5. Juli 2017). 22 Horst Bredekamp: Theorie des Bildakts. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2007. Berlin.2010, S. 52 – 53. 23 Boehm: Bildnis und Individuum, S. 14. 24 Caroline van Eck: Art, Agency and Living Presence. Form the Animated Image to the Excessive Object. Leiden. 2014, S. 19.
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| Einleitung
Arbeit nutzt Evidenz und Präsenz als werknahe bildwissenschaftliche Begriffe und dehnt diese für den medizinhistorischen Kontext aus. So wird ein holistischer Ansatz auszutesten versucht, indem die Physiognomik als eine zeitgenössische „Metadisziplin“ begriffen wird, die einen omnipräsenten Wahrnehmungsmodus generierte. Denn der physiognomische Blick war nicht nur auf Porträts und andere Kunstgegenstände gerichtet, er begutachtete auch reale Menschen, Tiere, Möbel und Gebäude. Dieser breite Anschauungshorizont wird hier rekonstruiert. Vor diesem Hintergrund verstehe ich meine Vorgehensweise als eine „historische Phänomenologie“, nach Maurice Merleau-Ponty als den Versuch einer „direkten Beschreibung aller Erfahrung“, der „Beschreibung des Blicks“, der nicht nur auf Kunstwerke gerichtet ist.25 In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, dass die phänomenologische Methode mit der Semiotik beziehungsweise mit der medizinischen Semiotik und im weiteren Sinne mit der Physiognomik korrespondiert. Im Zentrum der phänomenologischen Betrachtung steht das Subjekt, das in „Leib“ und „Ich“ unterschieden wird. Der Leib ist gleichsam „natürliches Ich“ und das „Subjekt der Wahrnehmung“.26 Merleau-Ponty bezeichnet den Leib als „zur Welt“, das heißt, er gehört der Welt „zu“ im Sinne des französischen Ausdrucks „être-au-monde“; er gibt sich gewissermaßen der Welt hin.27 Der Leib ist eine zweckgerichtete Entität, die im Austausch mit den umgebenden Phänomenen steht. Indem das Subjekt ein Feld von „sich zeigendem Seienden“ betritt,28 „kommuniziert“ es mit der Welt.29 Gleichzeitig ist der Leib der Gesichtspunkt für die Welt und wie jeder andere Gegenstand ein Teil dieser Welt.30 Und doch, so räumt Merleau-Ponty ein, ist der Leib kein gewöhnlicher Gegenstand, er ist vielmehr ein Komplex von 25 Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung [Phénoménologie de la Perception, 1945]. Übers. Rudolf Boehm. Berlin. 1966, S. 3, 9 – 10. 26 Merlau-Ponty verweist aber auf die Tatsache, dass der Leib gleichsam „natürliches Ich“ und das „subjekt der Wahrnehmung“ ist. Siehe Ebd., S. 243 27 Die deutsche Übersetzung hebt hervor, dass der französische Ausdruck „au monde“ ein Dativ enthält und so eine „Hingebung“ des Subjekts an die Welt bedeutet, wobei „sujet“, das französische Wort für Subjekt, im Französischen grundsätzlich heißt: „ausgesetzt“, „abhängig“,, „unterworfen“ und einer „Bestimmung“ „unterliegt“ oder eine „Gestaltung“ „erfährt“. Siehe Merleau-Ponty, S. 7. 28 Ebd., S. 92. 29 Ebd., S. 14. 30 Ebd. S. 95. Ziele der Arbeit und Methode |
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Sinnesqualitäten; „ein für alle Gegenstände „empfindlicher“ Gegenstand, der „allen Tönen ihre Resonanz gibt (…), und allen Worten durch die Art und Weise, in der er sie aufnimmt, ihre ursprüngliche Bedeutung verleiht“.31 Man kann sagen, dass in der Phänomenologie wie in der Semiotik das Subjekt als Teil eines Zeichensystems wahrgenommen wird, während alle Phänomene als zeichenhafte verstanden werden.32 Anders als Merleau-Ponty begreife ich die Phänomenologie jedoch nicht als einen „naiven Weltbezug“, der sich in einem „objektivem Raum“ abspielt.33 Der Blick, der auf einen anderen Körper fällt, hat bereits eine Präkonditionierung erfahren, ist sensibilisiert für physische Abweichungen von einem Idealschema und begutachtet das Gegenüber im Hinblick auf diese Präkonditionierung; im Fall der Physiognomik im Hinblick auf einen „Charakter“, der sich gewissermaßen hinter dem Gesicht verbirgt und aus Konturen extrahiert werden kann. Damit verfährt der physiognomische Blick semiotisch – er versteht im modernen Sinne die Oberfläche als einen Signifikanten eines dahinter befindlichen Signifikats.34 Es handelt sich so 31 Ebd., S. 276. 32 Siehe Thomas Friedrich: Bewußtseinsleistung und Struktur. Aspekte einer phänomenologisch-strukturalistischen Theorie des Erlebens. Würzburg. 1999, S. 31. 33 Merleau-Ponty, S. 3 und S. 95. 34 Dabei muss betont werden, dass sich die Semiotik als eigenständige philosophische Disziplin erst in den Schriften von Charles Sanders Peirce im 19. Jahrhundert herausgeschält hat. Moderne semiotische Arbeiten wurden in der strukturalistischen Linguistik von Ferdinand de Saussure, Cours de linguistique générale (1916), und von Roland Barthes in Éléments de sémiologie (1964) und in L’Empire des signes (1970) vorgelegt. Dabei verstehen sie ihre Theorien im Sinne einer „Semiologie“. Nach Saussure ist das Zeichen eine psychische Entität, die zwei Seiten hat: das Bezeichnende (signans), das als „Abdruck“ des konkreten Lautes (Bild des Lautes) verstanden wird, und das Bezeichnete (signatum), ein „Abdruck“ des konkreten Dinges. Die Kombination dieser beiden Begriffe ist das Zeichen (signum). Ein semiotischer Ansatz ist bereits in den ästhetischen Schriften von Georg Wilhelm Friedrich Hegel zu erkennen. Wie Saussure benutzt Hegel einen strukturellen Begriff des Zeichens (signum), das ein Bezeichnetes (signatum) nach sich zieht. Bei Hegel wird das Zeichen in einem enzyklopädischen System als eine spezielle Anschauung bestimmt, die als Zeichen verwendet wird. Das Zeichen ist eine untergeordnete Entität, die sich selbst aufgibt, um die von ihm bezeichnete Vorstellung darstellen zu können. Hegel verwendet die Ausdrücke von Bezeichnetem und Bezeichnendem nicht, aber er konzipiert eine ähnliche zweifache Struktur des Zeichens: „Eine Erscheinung, die etwas bedeutet, stellt nicht sich selber
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mit um einen Blick, der, um Michel Foucault aus seiner Geburt der Klinik (1963) zu paraphrasieren, sieht und wesensnotwendig liest.35 Die Lesung des Gesehenen wurde dabei mithilfe von präfabrizierten kognitiv gespeicherten Schemata, beispielsweise mit den Silhouetten aus Johann Caspar Lavaters Physiognomischen Fragmenten (1775 – 1778), vorgenommen. Um die näheren Funktionen der Bilder zu analysieren, untersuche ich insbesondere Parkers Fallberichte und beziehe mich auf die Beobachtungen aus der oben genannten medizinhistorischen Studie Portraits of patients and sufferers in Britain. In seiner Dissertation zu den Patientenbildnissen des englischen Chirurgen John Hunter (1728 – 1793) betont Douglas James, dass Porträts als „Stellvertreter“ der Kranken in der klinischen Praxis fungierten. Die kunsthistorische Präsenz des Bildes versteht James wie Caroline van Eck anthropologisch. Hunter soll die Porträts in Abwesenheit des tatsächlichen Patienten genutzt haben; sei es, um das Bildnis mit einem anderen Patienten in der Klinik zu vergleichen, sei es, um dieses Bild – als Stellvertreter des Patienten – einer medizinischen Untersuchung zu unterziehen. Diese Untersuchung wurde zusammen mit anderen Ärzten vorgenommen, wobei die Bildnisse weitergereicht und umhergetragen wurden.36 Eine Funktion im Sinne der Stellvertretung des Kranken ist auch für Lam Quas Bilder anzunehmen. Parkers Berichte, die in dem amerikanischen Missionarsblatt The Chinese Repository erschienen und an eine Leserschaft in den USA adressiert waren, beschreiben eine Hängung und anderweitige Nutzung im Krankenhaus. Dort gelangten die Bilder in die unmittelbare Sicht der chinesischen Patienten, zum Beispiel im missionarischen Kontext der Predigt und als Vorausschau einer quasi göttlichen Heilung. 37 Ferner und das, was sie als äußerste ist, vor, sondern ein Anderes, wie das Symbol.“ Siehe zur Semiotik bei Hegel und Saussure Norbert Makk: „Semiotik einer Metaphysik? Saussure und Hegel über das Zeichen“. In: Hegel-Jahrbuch 2005. Hg. Andreas Arndt, Karol Bal, Henning Ottmann. Berlin. 2005, S. 298 – 302, hier: S. 298. 35 Das Zitat, auf das ich mich beziehe, lautet im Original: „In den Blick des Arztes gehen nun mehrere Sinne ein: es ist ein Blick, der berührt, der horcht, und außerdem – aber nicht wesensnotwendig – sieht.“ Vgl. Foucault: Die Geburt der Klinik, S. 178. 36 Douglas Hugh James: Portraits of patients and sufferers in Britain, c. 1660–c. 1850. King’s College London. 2013. https://kclpure.kcl.ac.uk/portal/files/12723901/ Studentthesis-Douglas%20Hugh_James_2013.pdf (letzter Zugriff: 20. Dezember 2017), S. 171, 191. 37 13th Report. In: The Chinese Repository. 1845, S. 461. Ziele der Arbeit und Methode |
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soll sie Parker während seiner Reisen in die USA und Europa in den 1840er Jahren mitgenommen und einem Publikum, bestehend aus interessierten Laien, praktizierenden Ärzten und Medizinstudenten, präsentiert haben, wobei die Bildnisse die erfolgreich operierten Patienten „substituierten“.38 In diesem Zusammenhang muss angemerkt werden, dass Parker selten das erneute Aufkeimen der Krankheit oder postoperative Komplikationen beschreibt. Er konzentriert sich auf die detaillierte Beschreibung der Operation und die Genesung der Patienten im Krankenhaus. Basierend auf Parkers Berichten hat die Forschungsliteratur den Aspekt der Präsentation in den USA besonders hervorgehoben. Es wurde dargelegt, dass Parker die Bilder nutzte, um Gelder für seine missionarische Tätigkeit in Kanton zu sammeln, wobei die umfassende rezeptionsästhetische Interpretation der Bilder nicht weiter historisch kontextualisiert wurde und die konkrete Bewandtnis im Rahmen solcher Präsentationen unerwähnt blieb.39 Die Gewichtung dieser Arbeit liegt daher auf dem Porträt als Medium der Evidenz im Kontext einer disziplinübergreifenden künstlerischen, klinischen und populären Anschauungspraxis; auf der Tatsache, wie diese Bildnisse hergestellt wurden, welchem spezifischen Blick sie zugänglich gemacht wurden und wie dieser Blick an den spezifischen Orten der Wissensgenerierung das Gesehene verstand.40 Dabei soll ein Vergleich für sich stehender Patientenporträts aus Großbritannien und Deutschland mit Lam Quas Bildern zeigen, dass die Motivik der Bilder, das heißt die Büste des Patienten mit einem neutralen Gesichtsausdruck vor einem leeren Hintergrund, nur geringfügig variierte und zuweilen um Attrappen erweitert wurde, während die Funktionen, der Fokus des Betrachters, die Herstellungsweisen der Bilder und die Medien sichtbar divergieren konnten. Die zum Vergleich herangezogenen Patientenporträts stammen aus den Archiven der medizinhistorischen Bibliothek Whitney/Cushing der Yale University, der medizinhistorischen Wellcome Library in London, der National Library of Medicine in Bethesda (USA) und des Pathologischen Instituts der Ruprecht- Karls-Universität Heidelberg. Die Auswahl der Bilder orientierte sich am 38 „Peter Parker’s Proceedings in Europe and the US“. In: The Chinese Repository. 1843, S. 198 – 199. 39 Siehe Heinrich, S. 44. 40 Dabei muss hervorgehoben werden, dass im 19. Jahrhundert Ärzte häufig als Maler tätig waren und Porträts herstellten. Ein solches Beispiel ist der Arzt und Maler Leonard Portal Mark (1855 – 1930), der in den 1880er–1890er Jahren für das St Bartholomew’s Hospital in London gearbeitet hat.
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Motiv des Tumorkranken beziehungsweise der Darstellung eines Patienten mit einer überdimensionierten Geschwulst. Diese Krankheiten stellen nicht notwendig Krebsgeschwüre dar und würden heute als externe Erkrankungen des Gewebes bezeichnet werden. Wenn von den Dargestellten die Rede ist, dann wird zunächst nicht zwischen „Kranken“, die nicht zwangsläufig einem klinischen Kontext angehören, und „Patienten“, als von einem Arzt behandelte und in der Klinik zu verortende Personen, unterschieden.41 In den ersten Kapiteln werden diese Begriffe synonymhaft verwendet, da die Patientenbildnisse nicht stringent einem klinischen Kontext zuzuordnen sind. Eine Unterscheidung wird erst im fünften Kapitel im Zusammenhang postoperativer Bildnisse virulent, wenn eine Wunde nach dem Eingriff den Dargestellten manifest als „Patienten“ markiert.
Spannungsfelder und ihre Ausdehnungen Die Diskussion zu den Patientenporträts zeigt zwei Spannungsfelder. Das eine umreißt das Verhältnis zwischen der Physiognomik, der Medizin und der Kunst, die historisch und aktuell als Polaritäten konzipiert werden.42 Das andere Spannungsfeld positioniert diese Disziplinen vor dem Hintergrund der internationalen Beziehungen zwischen China, Europa und den USA. Im Rahmen beider Spannungsfelder soll gerade das Porträt diese Disziplinen zusammenbringen und diese internationalen Beziehungen beleuchten. Den umfassenden historischen Rahmen bieten die Missionsbestrebungen der Amerikaner im politisch wie ökonomisch großteils verschlossenen China 41 Siehe beide Definitionen auf https://www.duden.de/ (letzter Zugriff: 25. November 2014). 42 In zahlreichen medizin- und kulturhistorischen Arbeiten werden die Kunst, im Sinne der medizinischen Abbildung, und die Medizin, verstanden als eine kohärente Wissenschaft, als zwei Entitäten begriffen, die zwar praktisch voneinander profitierten, aber nicht methodisch miteinander verschränkbar sind. In diesem Zusammenhang siehe beispielsweise Die Geschichte der Medizin im Spiegel der Kunst. Hg. Albert S. Lyons und R. Joseph L. Petrucelli II. Köln. 1980 und Richard Barnett: The Sick Rose, or: Disease and the Art of Medical Illustration. London. 2014. Zur Überhöhung der Physiognomik als einer distinkten Metadisziplin siehe Johann Caspar Lavater: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Band 1 – 4. Leipzig und Winterthur. 1775 – 1778, hier: Band 2, S. 78. Spannungsfelder und ihre Ausdehnungen |
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sowie die Zuspitzung des Konflikts um den Opiumhandel, den China untersagte und den die westlichen Mächte, insbesondere Großbritannien, vorantreiben wollten.43 Der Konflikt eskalierte in den zwei sogenannten Opiumkriegen in den Jahren 1839 – 1842 und 1856 – 1860. Parker musste unterdessen seine Tätigkeit in Kanton einstellen und in die USA zurückkehren.44 Verglichen mit anderen zeitgenössischen Quellen verbleiben Parkers Berichte zugunsten der Legitimierung der amerikanischen Mission in China zunächst wertneutral. Dafür verzichten sie auf Schilderungen der angespannten politischen Lage und der Schwierigkeiten in der internationalen Kommunikation.45 Es zeigt sich jedoch schnell, dass in den Berichten die Chinesen grundsätzlich dem Arzt Parker unterlegen sind; sie sind diejenigen, die krank sind und in Ermangelung der Chirurgie die Krankheiten nicht heilen können. In diesem Zusammenhang werden sie häufig als „unzivilisiert“ und als „Heiden“ bezeichnet. Die Berichte treiben eine Sicht voran, der zufolge die amerikanische Mission medizinische wie „spirituelle“ Heilung bringe, während zugleich die christliche Religion unter dem Vorzeichen der Medizin in Kanton installiert wurde. Im Zusammenhang der bildlichen Dokumentation der Patienten manifestieren sich ähnliche Machtverhältnisse. Als Lam Quas Auftraggeber hatte Parker Einfluss auf das, was der Maler zeigte, also auch auf die Darstellung der Chinesen, deren Äußeres im 19. Jahrhundert grundsätzlich negativ konnotiert war. So erscheint es naheliegend, dass nicht nur der Auftraggeber, sondern auch das Bild eine gewisse „Macht“ über den Körper des Dargestellten ausübte, weil es als das Instrumentarium eines bestimmten westlich geprägten Diskurses fungierte.46 Es fror gewissermaßen die Person in einem Moment 43 Wolfram Eberhard: Geschichte Chinas. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart. 1971, S. 353 – 354. 44 „Peter Parker’s Proceedings in Europe and the US“, S. 198 – 199. 45 Stuart Creighton Miller: The Unwelcome Immigrant. The American Image of the Chinese 1785 – 1882. Berkeley. 1969, S. 36. 46 In der Kunstgeschichte beginnt der Diskurs um die sogenannte „Macht des Bildes“ in Arbeiten der 1990er Jahre. Im Vorwort zu Macht des Bildes – Bild der Macht. Kunst zwischen Verehrung und Zerstörung bis zum ausgehenden Mittelalter (1993) betont Lutz Lippold, dass die früheste Form der „Aneignung von Welt“ vorwiegend visuell war. Das Bedürfnis nach Gestaltung „dieser Welt“ äußerte sich im Wesentlichen in ihrer bildlichen Darstellung. Indem der Mensch die umgebende Wirklichkeit in ein gedankliches Bild einpasste und gestalthaft darstellte, grenzte er sie in ihrer „nichtfassbaren Bedrohlichkeit“ ein und machte sie „verfügbar“, was einen „Zuwachs von Macht“ bedeutete.
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ihrer Verwundbarkeit ein und gab sie einem Blick zur Ansicht, der das Bild doppelt degradierte: aufgrund der Darstellung des kranken Körpers und der Mit einer zunehmenden „virtuellen Bilderflut“, die die Arbeiten der 2000er Jahre verzeichneten, wuchs die kritische Perspektive der kunsthistorischen Studien, die nun einer „Kritik des Bildes“ gewidmet waren, das heißt einer eingehenden Reflexion auf den (philosophischen) Begriff des Bildes beziehungsweise auf das Phänomen der Bildlichkeit. Simultan dazu formierte sich eine kohärente Disziplin der Bildwissenschaft, die sich fachübergreifend mit dem Phänomen des Bildes beschäftigt. Eine der meistzitierten Anthologien ist in diesem Zusammenhang Gottfried Boehms Was ist ein Bild? (2006). Die Frage nach der „Macht des Bildes“ versuchte der Kunsthistoriker in seinem nachfolgenden Buch Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens (2007) zu klären. In jüngster Zeit haben der Bildwissenschaftler W. J. T. Mitchell und der Kunsthistoriker Horst Bredekamp auf die „Aktivitätspotentiale“ der Bilder und deren Eigenleben hingewiesen. Wenn Bilder Lebensformen sind und Objekte die Körper, die sie beseelen, dann seien „Medien die Lebensräume (…), in denen Bilder lebendig“ würden. Dieser Diskurs, der mit dem Begriff der Macht verschränkt ist, wurde maßgeblich durch eine zunehmende bildwissenschaftliche Lesung nach Michel Foucault verschärft. In Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses (1975) beschreibt der Philosoph Wissen als das Ergebnis von Kräfteverhältnissen und als Zugriff auf die Welt. Macht bringt Wissen hervor und jede Machtbeziehung lässt ein „Wissensfeld“ entstehen, umgekehrt setzt jedes Wissen Machtbeziehungen voraus. In diesem Zusammenhang wuchs die Rolle des Bildes als Instrumentarium von Machtdiskursen. Einer kritischen Untersuchung der Bild-Macht-Beziehung widmet sich hingegen der Philosoph Mark Halawa in seiner Dissertationsschrift Die Bilderfrage als Machtfrage. Perspektiven einer Kritik des Bildes (2012). In Auseinandersetzung mit klassischen und neueren Bildtheorien wird der Zusammenhang von „Bilderfrage“ und „Machtfrage“ als zentraler Topos bildtheoretischen Denkens rekonstruiert. Die Berufung auf eine „Macht des Bildes“ ist nach Halawa in der gegenwärtigen Debatte häufig an eine Kritik der Semiotik gekoppelt, die die „authentische“ Macht des Bildes abseits des Symbolischen begreift. In einer historischen komparatistischen Perspektive versucht Halawa aufzudecken, dass nicht von „einer“ Macht der Bilder oder von „einer“ Macht „des“ Bildes gesprochen werden kann, da beide Begriffe nicht singulär und allgemein geklärt werden können. Siehe Lutz Lippold: Macht des Bildes – Bild der Macht. Kunst zwischen Verehrung und Zerstörung bis zum ausgehenden Mittelalter. Leipzig. 1993, S. 11 – 12, William J. T. Mitchell: Das Leben der Bilder. Eine Theorie der visuellen Kultur. München. 2008, S. 162, Horst Bredekamp: Theorie des Bildakts. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2007. Berlin. 2010, Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a. Main. 1977, S. 39, Mark Halawa: Die Bilderfrage als Machtfrage. Perspektiven einer Kritik des Bildes. Berlin. 2012, S. 10 – 13. Spannungsfelder und ihre Ausdehnungen |
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Darstellung des Chinesen. Allerdings hat Lam Qua keine Karikaturen der Kranken hinterlassen, vielmehr begegnen wir realistisch gemalten Personen, die nicht auf ihre Krankheiten reduziert werden können (Taf. 1).47 Gerade weil Bilder den Körper in unserem Verständnis „modellieren“ können, gilt es, diese Sicht auf das Bild und seine Definitionen, seien sie bildwissenschaftlich, ontologisch oder wissenschaftshistorisch, zu hinterfragen.48 Dabei verweist die obige Erwähnung der „Macht“ von Bildern auf westliche Denkmuster, die um die Malerei als Mittel der Mimesis, das Porträt als Mittel der Individuation im Rahmen einer Rhetorik der „Lebenswahrheit“ und einer Politik der Repräsentation aufgebaut sind.49 In diesem Zusammenhang ergeben sich für die Patientenbildnisse sichtbare motivische Analogien. Parker und Lam Qua teilten ein gemeinsames Verständnis des Porträts. Formal handelte es sich um ein Bild, das die aufrechte Büste des Menschen mit einem stillen Gesichtsausdruck vor einem neutralen Hintergrund zeigt. Sowohl der westlichen als auch der chinesischen Malerei liegt die Idee des Abbilds der menschlichen Person zugrunde, in beiden Künsten ist es Projektionen politischer und sozialer Autorität unterworfen und kann beispielsweise als Medium des Gedenkens fungieren.50 47 Eine berühmte politische Karikatur mit dem Titel „En Chine: Le gâteau des Rois et des Empereurs“ aus der französischen Zeitung Le Petit Journal vom 16. Januar 1898 zeigt die Machthaber der europäischen Staaten, die einen Kuchen, der stellvertretend für China steht, anschneiden. Der Kuchen wird zwischen Königin Victoria, dem deutschen Kaiser Wilhelm II., dem russischen Zaren Nikolaus II., der französischen Marianne und dem japanischen Kaiser Meiji aufgeteilt. Im Hintergrund versucht sie ein monströser chinesischer Beamter mit gelber Haut und langen Klauen aufzuhalten. Die Karikatur sollte die imperialistischen Bestrebungen dieser Nationen gegenüber China verdeutlichen. Siehe http://www.bnf.fr/fr/acc/x.accueil.html (letzter Zugriff: 28. Februar 2015). 48 Einen bedeutenden Einfluss auf die Interpretationen des Körpers und der ihn darstellenden Bilder hatte Foucaults Überwachen und Strafen (1975). Nach Foucault entstand an der Wende zum 19. Jahrhundert ein neues System der Bestrafung: das Panopticon des Jeremy Bentham als ein ideales Gefängnis, das Ausdruck einer veränderten Einflussnahme der Macht auf die Körper war. Foucault zeigt, wie durch diese Einflussnahme gleichzeitig ein Einfluss auf das menschliche Bewusstsein gewonnen wurde. Er beschreibt, wie Routinen und Disziplinen das Denken bestimmen konnten. 49 Siehe Boehm: Bildnis und Individuum, S. 11. 50 Zu chinesischer Porträtkunst siehe Richard Vinograd: Boundaries of the Self. Chinese Portraits, 1600 – 1900. Cambridge. 1992, S. 1.
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Einen entscheidenden Unterschied stellen die kulturellen Konzeptionen des Körpers dar; denn der Körper hatte für Lam Qua, der in westlicher wie in chinesischer Malerei versiert war, grundsätzlich andere Konnotationen und unterlag anderen Darstellungsprozessen.51 In chinesischer traditioneller Malerei, die unter den „Maler-Gelehrten“, den sogenannten Literati, Lyrik und Malerei verband, unterliegt der Körper einer fortwährenden Konstruktion.52 Bildlich wird er nicht mimetisch dargestellt, stattdessen wird er durch Metaphern ausgedrückt; beispielsweise verkörpert der kalligrafische Malgestus die kosmisch-menschliche Energie des qi, eine Landschaft kann ferner stellvertretend für den Körper stehen.53 Chinesische Porträts statuieren ferner nicht die Präsenz des autonomen Individuums, vielmehr wird die Person im Rahmen eines sozialen Gefüges installiert.54 Dabei verzichtet der Künstler auf eine dreidimensionale Modellierung des Körpers, die in der westlichen Malerei für Naturnähe, die Fertigkeit des Künstlers sowie die Qualität des Artefakts steht.55 Im Zusammenhang der sogenannten chinesischen „Exportkunst“, die in Kanton in Form von speziell auf den Export in den Westen ausgerichteten und auf bestimmte Waren, auf Aquarelle, Gouachen, Gemälde, Porzellan, Fächer und Möbel, spezialisierten Werkstätten, (die wiederum in vielen unterschiedlichen westlichen Stilen operierten) florierte, darf der ökonomische Gedanke hinter der Fülle dieser Werkstätten nicht unerwähnt bleiben.56 Denn die Herstellung dieser zahlreichen Artefakte orientierte sich häufig an den Wünschen und der Nachfrage der westlichen Auftraggeber. Die spezifische topografische Lage Kantons am Delta des Perlstroms unweit von Macau und dessen politische Situation als ausländische Enklave und Basisstation der britischen East India Company verband diese Hafenstadt mit den umliegenden Ländern und dem Westen und isolierte sie gleichzeitig
51 Crossman, S. 77. 52 John Hay: „The Body Invisible in Chinese Art?“. In: Body, Subject & Power in China. Hg. Tani Barlow und Angela Zito. Chicago. 1994, S. 44. 53 Ebd. 54 Vinograd, S. 1. 55 Joseph S. P. Ting: „Late Qing China Trade Paintings“. In: Late Qing China Trade Paintings. Ausstellungskatalog Hong Kong Museum of Art. Hongkong. 1982, S. 8 – 9. 56 Zu kunsthistorischen Studien, die die ökonomischen Aspekte im Rahmen einer umfassenden Werkstatttätigkeit betont haben, gehört vor allem Svetlana Alpers: Rembrandt als Unternehmer: sein Atelier und der Markt. Köln. 1989. Spannungsfelder und ihre Ausdehnungen |
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vom chinesischen Landesinneren, das für Ausländer nicht zugänglich war.57 Kanton besaß eine eigene Rechtsprechung, ein eigenes Handelssystem, eine eigene Sprache und eine spezifische soziale Verteilung. Dabei war das von dem amerikanischen Historiker Peter Perdue so bezeichnete „kantonesische Handelssystem“, das von der Manchu-dominierten Ching-Dynastie (1644 – 1911) im 18. Jahrhundert installiert wurde und sich mit der Kapitulation der Chinesen im Ersten Opiumkrieg im Jahr 1842 dem Ende zuneigte, die treibende Kraft der Stadt und die primäre Existenzberechtigung ihrer Bewohner. Neben Baumwolle, Opium und Sandelholz, die in erster Linie von den Europäern und Amerikanern angekauft wurden, wurden auch die oben genannten Luxusgüter, die dort in großer Zahl hergestellt wurden, in den Westen transportiert.58 Die chinesische Händlergilde oder „Co-hong“, zu der die von Lam Qua porträtierten einflussreichen Händler Houqua (Wu Bingjian, 1769 – 1843) oder Mouqua (Lu Guangheng, 1792 – 1843) zählten, besaß das Handelsmonopol, wobei Anteile der Einnahmen in Form von Silber an die Manchu-Regierung flossen. Der Fokus auf den Handel wirkte sich auf die soziale Beschaffenheit der Stadt und auf die Kommunikation zwischen ihren Einwohnern aus; die in Kanton lebenden Chinesen und westlichen Händler teilten keinen gemeinsamen Lebensraum. Die Bevölkerung bestand vornehmlich aus Männern. Frauen war der Zugang zur Stadt grundsätzlich nicht gestattet. Die Ausländer lebten in einer separierten Peripherie der Stadt direkt am Perlfluss, in den sogenannten „factories“ oder „hongs“, in denen Wohnungen, Lagerhallen und Büros untergebracht waren.59 Diese mit einer nationalen Flagge gekennzeichneten und durch Zäune getrennten Parzellen reihten sich entlang des Ufers des Perlstroms.60 Diesen Eindruck vermitteln gerade 57 Peter C. Perdue: „Rise & Fall of the Canton Trade System – I. China in the World (1700 – 1860s)“. https://ocw.mit.edu/ans7870/21 f/21 f.027/rise_fall_ canton_01/pdf/cw_essay.pdf (letzter Zugriff: 28. Februar 2015), S. 2. 58 Ebd., S. 11. 59 Perdue verweist hier auf die altenglische Etymologie der „factory” als „Faktor“ im Sinne eines „Handelsvertreters“, die mit einer „Fabrik“ nichts gemein hat. Siehe Peter C. Perdue: „Rise & Fall of the Canton Trade System – III. Canton & Hong Kong“. https://ocw.mit.edu/ans7870/21 f/21 f.027/rise_fall_canton_01/ pdf/cw03_essay.pdf (letzter Zugriff: 21. Dezember 2017), S. 4. 60 Die Briten waren die Ersten, die eine „factory” errichten ließen, danach folgten die Österreicher, Niederländer, Franzosen, Spanier, Schweden und Amerikaner. Das gesamte Gebiet wurde schließlich als „Thirteen Factories“ bezeichnet. Siehe ebd., S. 4.
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die Kunstprodukte aus Kanton, auf denen solche nebeneinander gereihten Wohneinheiten zu sehen sind. Ferner war es den Ausländern untersagt, die chinesische Sprache zu erlernen, daher bedienten sie sich zunächst solcher Übersetzer, die Kantonesisch und Mandarin sprachen und zwischen den Händlern vermittelten, wobei sich seit den 1730er Jahren zunehmend das Pidginenglisch als Geschäftssprache etablierte, eine Mischung aus einer an das Chinesische angelehnten Syntax und einer aus dem Portugiesischen, Englischen und Malaiischen entnommenen Lexik.61 Im Zusammenhang der kantonesischen Exportkunst ist ferner zu einzuräumen, dass diese für die traditionelle Malerei der Literati, die abseits von Kanton an den weit entfernten Höfen der Manchu praktiziert wurde, keine wesentliche Bedeutung hatte. Dies ist am Beispiel des Jesuiten- Malers Giuseppe Castiglione (1688 – 1766), der am Hof des Kaisers Qianlong (1711 – 1799) in Peking gearbeitet hat, nachzuvollziehen. Castiglione soll sich verpflichtet haben, seine Bilder nicht in Öl, was als westliches Medium diskreditiert war, anzufertigen und auf eine dreidimensionale Ausarbeitung der Figuren zu verzichten. Castigliones Anwesenheit am Hof soll zudem keine wesentliche Veränderung des chinesischen Darstellungsmodus bewirkt haben, vielmehr zeugen seine zweidimensional gehaltenen Porträts von Qianlong von der Appropriation der grafisch wirkenden chinesischen Malweise.62 Gleichzeitig richteten sich die Exportmaler nicht nach den Motiven der Literati wie den ephemer wirkenden Landschaften von Wang Hui (1632 – 1717)63 oder Wang Yuangi (1642 – 1715). Ihre im westlichen Stil gemalten Bilder zeigen zum einen eine stadtspezifische Motivik und zum anderen an europäische Vorlagen angelehnte, im westlichen Stil, das heißt unter Einbezug der Perspektive und der plastisch-räumlichen Ausarbeitung der Figuren, gezeigte Porträts. Aus der ökonomischen Perspektive betrachtet, sprachen diese Bilder ein im Ausland ansässiges Publikum an und fielen aus den ästhetischen Kategorien der elitären Literati-Malerei heraus.64 Diese 61 Siehe ebd., S. 16. 62 Zu Giuseppe Castiglione siehe Ting, S. 8 – 9. 63 In seiner Malerei strebte Wang Hui eine „große Synthese“ zwischen dem deskriptiven Landschaftsstil, der in der Song-D ynastie (960 – 1279) üblich war, und dem kalligrafischen Gestus der Yuan-Dynastie (1279 – 1368) an. Siehe http://www.metmuseum.org/toah/hd/qing_2/hd_qing_2.htm (letzter Zugriff: 15. Januar 2016). 64 Obgleich historische Quellen auf die näheren finanziellen Beziehungen zwischen den Exportmalern und den Mitgliedern der Co-hong nicht eingehen, ist zu vermuten, dass die Maler Anteile von ihren Einnahmen an die einSpannungsfelder und ihre Ausdehnungen |
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Situation erinnert an die Beschreibung der nicht unweit von Kanton im Longgang-Bezirk von Shenzhen gelegenen Stadt Dafen, des heute international größten Herstellungsorts von Gemälden, die primär nach Europa und die USA vertrieben werden. In Van Gogh on Demand. China and the Readymade (2013) schildert die Kunsthistorikerin Winnie Won Yin Wong, wie Tausende Maler in sogenannten „Malfabriken“ jährlich Millionen von Bildern nach westlichen Vorlagen für den Welthandel manuell produzieren, was Dafen die Bezeichnung einer „Kopistenstadt“ eingebracht hat.65 Wie im Fall der Literati-Malerei zeigt sich auch für den Kontext der Medizin, dass Lam Quas Darstellungen der Patientenbildnisse keine Synergien mit der traditionellen chinesischen Medizin, insbesondere der chinesischen Physiognomik, entwickelt haben. Denn die schematischen Bilder des menschlichen Körpers und die Diagramme der chinesischen Physiognomik erinnern entfernt an die Logik der westlichen Physiognomik, mit der die Patientenbildnisse korrespondierten und die gerade realistische Darstellungen der Körper als Stellvertreter der Patienten nutzte, um Charaktere zu extrahieren.66 In Anbetracht der komplexen hier skizzierten historischen Situation versucht diese Arbeit, neue Begriffe für Lam Quas Bilder zu entwickeln und gleichzeitig diesen restriktiven Entstehungshorizont der Patientenbildnisse miteinzubeziehen. Im Zusammenhang der Exportmalerei verwende ich die Bezeichnung einer „hybriden Malweise“. Daran anschließend wird der Begriff der „fluiden Motive“ entwickelt. Damit sind Motive gemeint, die nach gleichen Vorlagen in ähnlicher Form mehrfach und in unterschiedflussreichen Händler, denen die Hongs gehörten, wo einige der Werkstätten untergebracht waren, abgeben mussten. 65 Dabei versteht Wong die „Kopie“ im Sinne des Readymades nach Marcel Duchamp, das als bereits vorhandenes alltägliches – „gefundenes“ – Objekt den ontologischen Status des „Kunstwerks“ hinterfragt und dieses als einen performativen Akt im Sinne der Resemantisierung begreift. Wong führt ferner das Readymade mit dem chinesischen Begriff des gao für die „Kopie“ zusammen und deutet diesen produktiv gegen die Idee des Originals aus. Gao ist das unbetitelte „Ausgangsbild“, das den Malern beispielsweise als Fotografie, auf einem digitalen Träger oder als die aus einem Buch stammende Seite zugeschickt wird, wobei gerade durch die ständige Wandelbarkeit und die wiederholte Verwendung des gao die Polarität zwischen Original und Kopie aufgehoben wird. Siehe Winnie Won Yin Wong: Van Gogh on Demand. China and the Readymade. Chicago und London. 2013, S. 2, 13. 66 Vgl. Wege der Götter und Menschen. Religionen im traditionellen China. Hg. Claudius Müller. Berlin. 1989, S. 104.
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lichen Medien dargestellt werden. In diesem Zusammenhang kann die in der Moderne gefestigte Überhöhung der „Originalität“ und die daraus resultierende Dichotomie zwischen „Original“ und „Kopie“ diskutiert werden, die im Kontext der vielen Dopplungen der Motive der Patientenbildnisse, in unterschiedlichen Medien und changierenden Stilen, virulent wird. Im Sinne der „hybriden Malweise“ beziehe ich mich lose auf den von Homi Bhabha geprägten literaturwissenschaftlichen Begriff der „Hybridität“. Das originär aus der Biologie stammende Konzept einer aus zwei Entitäten bestehenden Mischform verweist auf den Zustand einer „Liminalität“, die, resultierend aus den Prozessen der Globalisierung, das heißt der Migration und der damit einhergehenden fehlenden Verwurzelung, zwischen zwei Kulturen herrscht.67 Bhabhas berühmte Feststellung der Hybridität mündet in der Bemerkung, dass das hybride Individuum einen „dritten Raum“ bewohnt, in dem unterschiedliche Identitäten zusammenkommen, einander anfechten und sich gegeneinander behaupten. Bhabhas Begriff der Hybridität wird für diese Herangehensweise relevant, da er das aus zwei Kulturen hervorgegangene stilistische Spektrum der kantonesischen Malerei und dessen Status als interdisziplinäres Kommunikationsmedium und als westliches Handelsobjekt erfasst. Diese Arbeit ist ferner darum bemüht, die Polarität zwischen der Medizin, der Physiognomik und der Kunst zu nivellieren, indem das Porträt als Untersuchungsgegenstand dieser Disziplinen, gewissermaßen als „Gefäß“ der unterschiedlichen Charaktere der Person, zu denen im 19. Jahrhundert auch die Krankheit zählte, begriffen wird. Im Zuge dessen wird der Ausstellungskontext der Porträts ausdifferenziert und aus dem historischen Rahmen der öffentlichen Schau von Menschen mit außergewöhnlichen Missbildungen, das heißt sogenannter „Monster“ und „Freaks“, und deren Status als „Kuriositäten“ herausgelöst. Die Porträts bewegen sich somit an der Schwelle zwischen Medizin und Spektakel, während die Medizin selbst zwischen der anatomischen Innenschau und semiotischen Prinzipien, die wiederum mit der Vier-Säfte-Lehre korrespondierten, oszillierte.68 Mit der Herausbildung des „Normalen“ wuchs in der Medizin des 19. Jahrhunderts simultan das Interesse am „Anormalen“; Bilder und Präparate des vermeintlich Anormalen gelangten in anatomische Museen, die sich gerade zu dieser Zeit als Institutionen konkretisierten. Begreift man die Medizin nicht als 67 Siehe Homi K. Bhabha: The Location of Culture. London. 1994, S. 4, 13. 68 Elizabeth Stephens: Anatomy as Spectacle. Public Exhibitions of the Body from 1700 to the Present. Liverpool. 2011, S. 88. Spannungsfelder und ihre Ausdehnungen |
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eine abgeschlossene Wissenschaft, sondern als eine, die kohärenter wurde, indem sie ihre Grundlagen zunehmend auf dem Prinzip des Experiments und der Beobachtung fundierte, dann stehen Lam Quas Patientenporträts gewissermaßen als Allegorien für diese Entwicklung der Medizin.69 In diesem Zusammenhang wird die Ästhetik, die die Patientenporträts neben ihrer medizinischen und physiognomischen Evidenz generieren, näher einzugrenzen versucht. In der neueren kultur- und medizinhistorischen Diskussion werden Bilder seltener überdimensionierter Krankheitserscheinungen und Missbildungen im zeitgenössischen Sinne als „Kuriositäten“ klassifiziert und zugleich diskreditiert, da sie vermeintlich eine eindimensionale, rein körperliche Wahrnehmung, das heißt eine nicht näher benennbare „Faszination“ produzieren.70 Diese Faszination, die die konträren Begriffe der Wissensneugier und des Ekels miteinander vereinbart, wird sexuell konnotiert und als „Voyeurismus“ bezeichnet.71 Argumentationen, die um die Begriffe der Neugier, des Ekels und des Voyeurismus aufgebaut werden, verbleiben entweder auf der Ebene einer rein sinnlichen Überwältigung, die offenbar keiner weiteren Ausformulierung mehr bedarf, oder sie schließen einen affirmativen ästhetischen Begriff aus, der mit dem Ekel korreliert beziehungsweise aus diesem resultiert.72 In diesem Zusammenhang erfährt man nicht weiter, welche historischen Diskurse dem Ekel, der Neugier oder 69 Der Erkenntnistheoretiker Ludwik Fleck hebt hervor, dass die Medizin als eine kohärente Disziplin, wie wir sie heute kennen, aus einem Prozess „sozialer Wahrnehmung“ hervorgegangen ist. Nach Fleck sind Krankheiten als fiktive, abstrahierte Bilder zu verstehen und sind ferner das Resultat bestimmter Denkweisen und bestimmter Gruppen, sogenannter „Denkstile“ und „Denkkollektive“. Diesen Aspekt verdeutlicht Fleck am Beispiel der Syphilis, deren Begriffsgeschichte und Verständnis im Sinne der „Lustseuche“ in erster Linie kulturell konnotiert wurde. Siehe Ludwik Fleck: Erfahrung und Tatsache. Hg. Lothar Schäfer und Thomas Schnelle. Frankfurt a. Main. 1983, S. 38 – 39. 70 Siehe beispielsweise den Ausstellungskatalog des Deutschen Hygiene- Museums, Dresden, Blicke! Körper! Sensationen! Ein anatomisches Wachskabinett und die Kunst. Hg. Eva Meyer-Hermann. Göttingen. 2014. 71 Laut dem Duden ist die primäre Bedeutung des Voyeurismus ein „sexuelles Empfinden sowie das Verhalten des Voyeurs“. Siehe https://www.duden.de/ (letzter Zugriff: 28. Februar 2015). 72 Der Komparatist Winfried Menninghaus dokumentiert die Geschichte und die Theorie des Ekels und untersucht Theoretisierungen des Ekels in den letzten 250 Jahren. Während Menninghaus von einer Verschiebung in der „Diskursivierung“ des Ekels spricht, lehnt er gleichzeitig Theorien des Abjekten als unbegründet und als massenmedial wirksam im Rahmen politisch
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dem Voyeurismus vorausgingen und diese strukturierten. Es wird daher hier angenommen, dass eine Klassifizierung und negative Ästhetisierung der Patientenbildnisse im Sinne des „Monströsen“ gerade physiognomischen Wahrnehmungsschemata und der Vormachtstellung des Blicks unterworfen war.73 Neben einer Rekonstruktion des historischen Blicks wird ferner versucht, subversive ästhetische Begriffe für die Patientenbildnisse zu finden und ihre Positionierung im Sinne einer „Ästhetik des Hässlichen“, wie sie die Forschungsliteratur vorgeschlagen hat, zu hinterfragen.74 In Karl Rosenkranz’ Ästhetik des Häßlichen (1853) wird das Hässliche als ein „Moment des Schönen“ erkannt, indem es das Schöne in das Komische transformiert.75 Damit wird die Hegel’sche Dialektik nicht etwa aufgehoben, das Hässliche wird gerade in diesem diskursiven und zugleich polaren Rahmen verankert. Entgegen dieser Interpretation verstand der zeitgenössische Betrachter die dargestellten Kranken nicht als „komisch“, er erfasste zunächst deren Gesichtszüge, wobei die Personen in physiognomischen Rastern positioniert wurden. Zugleich setzte gerade die überdimensionierte Größe der Tumore die physiognomischen Vorgaben außer Kraft. In den zeitgenössischen Quellen ließ der Tumor die Dargestellten zu „Monstern“ werden und brachte sie mit der Ästhetik des Erhabenen beziehungsweise eines „pathologisch Erhabenen“ („pathological Sublime“) in Verbindung.76 Meine Argumentation dehnt das „pathologisch Erhabene“ zu einem Abjekten (vom lateinischen abicere = wegwerfen oder abiectum = weggeworfen) im Sinne des psychoanalytischen Begriffs der Literaturtheoretikerin Julia Kristeva aus. Das Verständnis der Patientenporträts orientiert sich an Kristevas Idee, der zufolge in der Ansicht der Krankheiten gerade die
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aufgeladener Diskurse ab. Siehe Winfried Menninghaus: Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung. Frankfurt a. Main. 2002, S. 9, 516. Damit ist vor allem der Begriff des „Monsters“ in seiner Lesung des 19. Jahrhunderts als „Monstrosität“, das heißt als missgebildeter, devianter und anormaler Körper gemeint, nicht in seinem mittelalterlichen Verständnis als Fabelwesen oder sündhafte Kreatur. Siehe Michael Hagner: „Monstrositäten haben eine Geschichte“. In: Der falsche Körper, S. 7 – 20, hier: S. 8, 16. Vgl. Finke. Karl Rosenkranz: Ästhetik des Häßlichen. Leipzig. 1990 [1853], S. 12. J. B. S. Jackson: A Descriptive Catalogue of the Anatomical Museum of the Boston Society for Medical Improvement. Boston. 1847. Auch erschienen als „Illustrations of Tumor Among the Chinese” In: The Boston Medical and Surgical Journal. Band 32. 1845. Spannungsfelder und ihre Ausdehnungen |
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Subjektwerdung, das heißt eine Schärfung der Wahrnehmung des Körpers inklusive seiner Öffnungen und seines Potentials zur Zersetzung, seiner Permeabilität und Liminalität, vorangetrieben wird. Der Tumor wird dabei zu einem Symptom des abjekten Körpers.77
Vorgehen Die Arbeit widmet sich im ersten Kapitel „Lam Quas viele Bilder“ den zahlreichen Gouachen, Aquarellen und Gemälden, die Parkers Patienten zeigen. Das Kapitel gibt einen Überblick über den Entstehungskontext der Bilder, insbesondere die Arbeitspraxis des kantonesischen Künstlers, der entgegen bisherigen Untersuchungen über eine große Werkstatt verfügte und die Bilder seriell und anhand von westlichen Vorlagen herstellen ließ. Ferner werden die Patientenporträts im Kontext der medizinischen Porträtmalerei verortet. Das zweite Kapitel „Der klinisch-christliche Blick“ untersucht Parkers Berichte, die in The Chinese Repository veröffentlicht wurden, insbesondere die enge rhetorische Verbindung zwischen der Medizin und der Religion. Im Zentrum der Analyse steht die Metapher des Lichts, die auch in anderen Gemälden, die die weiteren Aktivitäten der amerikanischen Mission darstellen, von zentraler Bedeutung ist. Diese Metapher ist um das Licht als göttliches und medizinisches Instrument aufgebaut, wobei die ästhetische „Vision“ mit der Tätigkeit des Chirurgen korrespondiert, das heißt mit dem Schneiden, dem Entfernen und dem Wiederherstellen. Das dritte Kapitel „Porträt und Krankheit“ verfolgt die in Parkers Berichten verwendeten Begriffe des „Porträts“ und der „Krankheit“ und versucht diese kunsthistorisch zusammenzudenken. In diesem Zusammenhang wird Parkers Verständnis von „likeness“ und „representation“, Begriffen, die der Arzt für die Bildnisse verwendet, diskutiert. Auf diesem Wege gelangt das Kapitel zum Begriff des Charakters, der seit der Neuzeit an das Medium des Porträts gekoppelt ist und im 19. Jahrhundert zu einem universell gebräuchlichen Begriff wurde. Das vierte Kapitel „Im Prisma der Physiognomik“ beleuchtet die ideengeschichtlichen Zusammenhänge zwischen der Physiognomik, insbesondere den Lehren von Johann Caspar Lavater, der medizinischen Semiotik und den 77 Julia Kristeva: Powers of Horror. An Essay on Abjection [Pouvoir de l’horreur, 1980]. New York. 1982, S. 53.
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ästhetischen Schriften von Johann Joachim Winckelmann und Johann Wolfgang von Goethe. Die physiognomische Anschauungspraxis war seit dem 18. Jahrhundert sowohl in der populären als auch in der wissenschaftlichen Wahrnehmung tief verankert. Sensibilisiert für physische Abweichungen von einem Idealschema, begutachtete der Betrachter das Gesicht im Sinne einer Polarität. Am einen Ende dieser Polarität stand das Idealbild des westlichen Gesichts, das an griechischen Skulpturen wie der des Apollo orientiert war, am anderen Ende figurierte das Bildnis des „Negers“ oder des „Kalmücken“, des Vertreters der „asiatischen Rasse“, die über eine vermeintlich „defizitäre“ Physiognomie verfügten. Anhand ausgewählter Beispiele von Patientenporträts aus englischen und amerikanischen medizinhistorischen Sammlungen wie der Londoner Wellcome Library zeigt die Arbeit im fünften Kapitel „Kranken-Physiognomik und für sich stehende Patientenporträts“ das breite Anwendungsspektrum der Patientenporträts und statuiert sie als omnipräsentes Genre, dessen Evidenzen je nach medizinischem Fokus divergieren konnten. Das sechste Kapitel „Wider die Physiognomik“ entkoppelt die Patientenporträts aus dem Wirkungsbereich der Physiognomik und widmet sich ihrer zeitgenössischen Rezeption in den USA. Ein einzigartiger Katalogbeitrag zur Ausstellung der Porträts in Boston verdeutlicht eine Lesung im Sinne des „Erhabenen“ beziehungsweise des englischen Begriffs des „Sublimen“. Nach Edmund Burke (1729 – 1797) „sublimiert“ die Weite des Horizonts, als Grenze zwischen Natur und Individuum begriffen, das Bewusstsein des Betrachters in einen rein körperlichen Zustand, der mit Schmerzen, Furcht, Schrecken und Lust einhergeht. Allerdings wird diese ursprüngliche Bedeutung im Rahmen einer rationalistischen Polemik als „pathologisch Erhabenes“ pervertiert. Daran anschließend wird ein affirmativer ästhetischer Begriff des „pathologisch Erhabenen“ im Sinne des Abjekten nach Julia Kristeva erarbeitet. In der Schlussbetrachtung resümiert die Arbeit die zusammengetragenen Ergebnisse und gibt einen Ausblick auf ein Fortleben des Genres in Aquarellen, Gouachen, Zeichnungen und Fotografien des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Dabei gilt der Fokus den medialen und herstellungstechnischen Wechselwirkungen zwischen den gemalten Medien und dem neuen Medium der Fotografie. Mit den vielen „Erfindungen“ der Fotografie im 19. Jahrhundert, so zum Beispiel durch Nicéphore Niépce im Jahr 1839, und deren Einsatz in der Medizin seit den 1860er Jahren, beispielsweise in den fotografischen Serien des Psychologen G.-B. Duchenne de Boulogne, hatte das fotografische Bild das gemalte und gezeichnete PatientenbildVorgehen |
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nis längst nicht ersetzt.78 Die zunächst schwarz-weißen Fotos konnten die Farbe, ein wesentliches Element der Symptomatologie der Krankheit, nicht wiedergeben und wurden häufig von Ärzten handkoloriert. Die Fotografien erschienen in dermatologischen, kriminologischen und ethnologischen Atlanten und korrespondierten mit neuen Ausprägungen der Physiognomik wie der Phrenologie oder der Eugenik.
78 Zur Erfindung des Mediums der Fotografie siehe Neues Licht. Daguerre, Talbot und die Veröffentlichung der Fotografie im Jahr 1839. Hg. Steffen Siegel. Paderborn. 2014.
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1 Lam Quas viele Bilder
1.1 Die Bildkorpora Die Forschungsliteratur hat bisher fünf Bildkonvolute der Patientengemälde identifiziert: das mit Abstand größte Korpus am medizinhistorischen Museum der Yale University mit 86 Gemälden und zwölf Aquarellen, eine Sammlung bestehend aus 23 Gemälden am Gordon Museum des Guy’s Hospital am King’s College in London sowie kleinere Korpora mit fünf Gemälden am Johnson Museum of Art der Cornell University, einem Gemälde an der Bostoner Medical Library (BML ) der Harvard University und einem Gemälde am Peabody Essex Museum (PEM ) in Salem. Als Urheber der in Yale befindlichen Bilder wird der kantonesische Maler Lam Qua identifiziert. Parker, der sein Medizinstudium 1834 an der Yale University abschloss, schenkte die Serie der Tumorenporträts zusammen mit einer beträchtlichen Sammlung von Harnsteinen dieser Universität.1 Die Objekte gelangten durch Moses C. White (1819 – 1900), einen Professor der Pathologie und ehemaligen Missionar, in die medizinische Sammlung und wurden später von der medizinischen Fakultät an die medizinhistorische Bibliothek weitergereicht.2 Das Gros der Gemälde zeigt auf der Rückseite
1 Zur Provenienz der Bilder siehe die Angaben der Yale University unter http:// hdl.handle.net/10079/fa/med.ms.0006 (letzter Zugriff. 28. Februar 2015). 2 Die Sammlung der medizinhistorischen Bibliothek enthält weitere Dokumente, die Aufschluss über die Tätigkeit Parkers in Kanton geben: unter anderem die Manuskripte seiner Predigten, die in einer kleinen Kapelle auf dem Krankenhausgelände (errichtet im Jahr 1847) gehalten wurden, sowie Krankenhausbücher mit tabellarischen Falleinträgen. Außerdem besitzt die Bibliothek zwei Fotoalben. Eines, das von Moses White zusammengestellt wurde, enthält Fotos der Patientenbildnisse, die mit Fallnummern versehen wurden, ein weiteres zeigt Fotos des Krankenhauses in Kanton aus dem frühen 20. Jahrhundert. Darüber hinaus bewahrt das Archiv eine Serie, bestehend aus 98 Glasnegativen, auf, die auf die Jahre 1910 – 1919 datiert werden können. Neben Bildern des Hafens, Kriegsdarstellungen der Bürgerkriege zwischen den sogenannten Warlords sowie Szenen aus dem Kantoner Alltag zeigen sie auch Tumorpatienten. Wie die Gemälde bedienen sich die Glasnegative des Porträtformats, um die überdimensionierten Pathologien darzustellen. Die Serie der Glasnegative wird im letzten Kapitel genauer beschrieben. Die Bildkorpora |
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Fallnummern der Patienten, die mit Parkers ausführlicher Beschreibung in den Fallberichten korrespondieren. Diese Fallberichte erschienen neben Schilderungen der Aktivitäten der christlichen Mission in China zweimal jährlich in dem amerikanischen Missionsblatt The Chinese Repository, das an eine Leserschaft in den USA adressiert war. Vor dem Hintergrund dieser hier skizzierten Situation müssen drei wesentliche Korrekturen vorgenommen werden. Zum einen werden die Gemäldezahlen an die aktuellen Funde angeglichen, zum anderen soll die Gesamtanzahl der Bilder auch Aquarelle und Gouachen, die ebenfalls Parkers Tumorpatienten darstellen, umfassen. Ferner wird der Name „Lam Qua“ als Stellvertreter einer Werkstatt und nicht als einzelne Person verstanden. Im Licht der kleineren Korpora nimmt das Korpus in Yale eine besondere Stellung ein; es dient als Referenz für die kleineren Sammlungen der Aquarelle und Gouachen, die keine Angaben zu den Patienten enthalten, und ermöglicht ihre Identifikation. Auf dieser Grundlage kann die Aussage gemacht werden, dass die Bilder der kleineren Korpora allesamt Parkers Patienten darstellen. Aufgrund dieser Referenzfunktion werden die 86 Gemälde an der Yale University als das „Hauptkorpus“ bezeichnet. Die Ausführungen der folgenden Kapitel beziehen sich daher vor allem auf das Hauptkorpus. In der Forschungsliteratur fluktuiert die Gesamtanzahl zwischen 115 und 116 Bildern.3 Diese Zahl umfasst ausschließlich Gemälde. Diese Arbeit möchte die Zählung auf alle in unterschiedlichen Techniken gefertigten Bilder ausdehnen. Damit erhöht sich ihre Gesamtanzahl auf 174 Bilder. Während die Zahlen der großen Sammlungen der Yale University und des Gordon Museum dem tatsächlichen Bestand entsprechen, müssen insbesondere die Zahlen der kleinen Korpora korrigiert werden. Die Anzahl der Bilder an der BML wird um zwei Gemälde ergänzt.4 Auch die Zahl der Gemälde an der Cornell University, die in der Forschungsliteratur bei vier Gemälden angesetzt wurde, muss auf fünf erhöht werden.5 Die g esamten Unterlagen des Archivs sind einzusehen unter http://hdl.handle. net/10079/fa/med.ms.0006 (letzter Zugriff: 28. Februar 2015). 3 Heinrich, Rachman und Gilman zählten 115 Gemälde. Marcel Finke kam auf 116 Gemälde. Siehe Heinrich, S. 42, Rachman, S. 156, Gilman, S. 61 und Finke, S. 328. 4 Diese Sammlung bleibt von Heinrich und Rachman gänzlich unerwähnt. Gilman und Finke glaubten dort nur ein Gemälde vorzufinden, 5 Da die Autoren die Bilder nicht genau benennen, kann nicht weiter gesagt werden, welches Gemälde in einer ersten Bestandsaufnahme nicht berücksichtigt wurde. Siehe Heinrich, S. 42 und Rachman, S. 156.
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Zudem kommen zu den bereits vorhandenen Korpora zusätzliche Funde hinzu. In der Sammlung der BML und des medizinhistorischen Museums der Yale University kam jeweils ein Album mit zwölf Reispapieraquarellen (10 cm × 12 cm) der Tumorpatienten zum Vorschein.6 Beide Alben haben dekorative Seidenbezüge. Die Aquarelle sind zusätzlich mit einem hellblauen Band befestigt worden. In diesem Zusammenhang muss betont werden, dass die Patienten in den Yale-Aquarellen und den Aquarellen der BML eindeutig mit den im Hauptkorpus dargestellten Personen in Verbindung gebracht werden können.7 Damit können die Aquarelle wie die Gemälde auf die Jahre 1836 – 1838 datiert werden. Die Yale-Aquarelle zeigen grundsätzlich die gleichen Patienten und können ebenfalls auf diese Zeitspanne datiert werden.8 Der Stil dieser Alben scheint nahezu identisch. Dabei fällt auf, dass die Darstellung der Person den Bildraum nicht vollständig ausfüllt; vielmehr scheinen die Patienten, zu einer kleinen Gestalt in der Mitte des Blattes komprimiert, vor einem weißen Hintergrund zu schweben (Abb. 1). Der Kontur der Figuren, der sie sonst fest umreißt, wirkt in diesen Bildern verschwommen. Häufig lösen sich die Unterarme der Dargestellten so auf, dass die Hände nicht mehr zu sehen sind. Diese Darstellung der Büste des Patienten und seiner Krankheit vor einem neutralen Hintergrund erinnert an die Illustrationen aus Jean-Louis Aliberts Traktat zu Hautkrankheiten Traité Complet des Maladies de la Peau aus dem Jahr 1833. In den kantonesischen Aquarellen verweist der verschwimmende Kontur der Figuren auf die Darstellungsweise der Patienten aus Aliberts Atlas. Die Kleidung der Patienten 6 Marcel Finke benennt außerdem ein weiteres Album mit zwölf Aquarellen nach Parkers Patienten. Es befindet sich im Besitz der medizinhistorischen Bibliothek der Mayo Clinic in Rochester, Minnesota. Dieses Album konnte von der Autorin dieser Arbeit nicht untersucht werden. Allerdings kann mit großer Wahrscheinlichkeit gesagt werden, dass es mit den anderen Aquarellalben in Verbindung steht. Siehe Finke, S. 328. 7 Die Aquarelle zeigen Chang Achun (Yale-Inventarnummer 36), Po Ashing vor und nach der Armamputation (Nr. 31 und 32), Yang She (Nr. 86), Lo Washun (Nr. 3), Akae (Nr. 1), Woo Pun (Nr. 40), Lew Akin (Nr. 84), einen Mann mit einem Rückentumor (Nr. 42), einen Mann mit einem Lippentumor (Nr. 39), einen Mann mit einem Tumor auf seiner rechten Gesichtshälfte (Nr. 35) und eine Frau mit einem Nasentumor (Nr. 7). 8 Allerdings ist in diesem Album das Bild des Patienten mit einem Lippentumor durch das Bild eines Hüfttumors des Patienten Wang Keking ersetzt worden. Die Darstellung des Aquarells konzentriert sich lediglich auf die Darstellung des Tumors. Die Bildkorpora |
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Abb. 1 Aquarellwerkstatt aus Kanton: Patient mit einem Gesichtstumor. Aquarell. Ca. 1838.
wurde lediglich angedeutet und löst sich im weißen Hintergrund auf. Auch die Auslassung der Hände kann analog zu den Abbildungen aus dem Atlas gesehen werden, beispielsweise der Lithografie einer an Scharlach erkrankten Frau, deren Oberarme, ohne die Hände, abgebildet worden sind (Abb. 2). Allerdings stehen die Aquarelle der chinesischen Tumorpatienten wie die Patientengemälde für sich, ohne auf einen Text zu verweisen. Des Weiteren liegt der Fokus der französischen Illustrationen auf dem Gesicht der Kranken, während die aquarellierten Gesichter aufgrund ihres kleinen Maßstabs in den Hintergrund rücken. Die Darstellung einer im Verhältnis zum Bildformat kleinen Gestalt, die zudem filigran gemalt ist, erinnert an den Darstellungsmodus der kantonesischen Exportaquarelle, die ebenfalls auf sogenanntem Reispapier gemalt wurden und die Figur in einem kleinen Maßstab zeigen.9 Beispielsweise zeigt ein Reispapieraquarell aus dem Jahr 1790, das heute das Londoner 9 Der in Kanton angesiedelte zeitgenössische Beobachter Toogood Downing bemerkt, dass die zu dieser Zeit gängige englische Bezeichnung „pith paper“ fälschlich als „rice paper“ („Reispapier“) verstanden worden ist. Er beschreibt das Medium jedoch nicht näher. Womöglich handelte es sich um eine Form aus Bambus gefertigter Zellulose. Siehe Patrick Conner: George Chinnery 1774 – 1852 – Artist of India and the China Coast. Woodbridge, Suffolk, S. 263.
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Abb. 2 Scharlach. Lithografie. 1833
Victoria and Albert Museum verwahrt, einen kantonesischen Hinterglasmaler, der einen europäischen Kupferstich auf der Rückseite eines Glases kopiert. Dieses Aquarell ist Teil einer Serie, bestehend aus 100 Bildern, die exemplarisch die vielen Berufe in Kanton abbilden. Auch hier ist die Figur in der Mitte des Blattes positioniert. Sie wirkt im Verhältnis zum Bildformat unproportioniert klein. Damit kann grundsätzlich gesagt werden, dass die Aquarelle der Tumorpatienten auf den Stil kantonesischer Exportkünstler rekurrieren. Es ist erstaunlich, dass die Aquarelle bis dato unerforscht geblieben sind. Denn sie waren der Forschungsliteratur nicht unbekannt. Bereits 1986 bemerkte Sander Gilman, dass Lam Qua die Patienten zunächst auf Reispapier skizziert hat und erst danach das Bild in ein „westliches Porträt“ selbst übertrug oder übertragen ließ.10 Diese Tatsache scheint für den Verfasser so selbstverständlich zu sein, dass er weder den Befund weiter kommentiert noch das Korpus, aus dem die Aquarelle stammen, benennt. Mit dem Verweis auf die Aquarelle versuchte Gilman den Schöpfungsprozess des Malers nachzuvollziehen und identifizierte die Werke fälschlich als „Vorzeichnungen“ der Gemälde. Dennoch ist Gilmans Bemerkung, dass Lam Qua nicht selbst 10 Gilman, S. 62. Die Bildkorpora |
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die vermeintliche Skizze auf die Leinwand übertrug, von Interesse. Denn damit impliziert der Verfasser, dass der Künstler nicht allein gearbeitet hat. Dieser Aspekt wird an weiterer Stelle näher erläutert. Aus vielerlei Gründen müssen die Aquarelle als eigenständige Werke verstanden werden. Auch wenn der untere Bereich des Dargestellten wie skizziert wirkt, haben die Aquarelle nicht den provisorischen Charakter einer Skizze; vielmehr zeigen sie differenziert gemalte, fest umrissene Figuren. Stellenweise enthalten die Bilder Spuren von Vorzeichnungen. Dieser Aspekt deutet darauf hin, dass der aktuelle Zustand des Bildes der intendierte ist; das heißt, dass ein Schöpfungsprozess, bestehend aus mehreren Etappen, dem Skizzieren des Konturs, dem Auftragen der Malschichten sowie dem finalen Ausmalen der Figur, stattgefunden hat. Das dekorative Format des Albums sowie der feste Platz eines jeden Aquarells im Album markieren die Bilder zudem als abgeschlossene Werke. Es ist vor allem der filigrane Malstil eines oder mehrerer Künstler, der nicht mit dem monumentalen Stil der Gemälde aus den genannten Gemäldekorpora in Verbindung gebracht werden kann. Mit ihrem differenzierten Malstil, der dekorativen Hülle und dem blauen Band verweisen die Aquarelle grundsätzlich auf kantonesische Exportalben, die beispielsweise Kompositionen aus Blumen und Insekten vor einem weißen Hintergrund abbilden. Sie wurden als wertvolle Souvenirs von amerikanischen Händlern aus China mitgebracht. Die Identifizierung der Aquarelle als „Vorzeichnungen“, die nicht für sich stehen, und deren möglicher Zusammenhang mit den massenweise produzierten Exportaquarellen erklärt die Nachlässigkeit der Forschung gegenüber diesen Werken. Denn es ist schwer vorstellbar, dass der begrenzten Forschungsliteratur Gilmans frühe Bemerkung nicht aufgefallen war. Als Skizzen diskreditiert oder mit Exportaquarellen konnotiert, wurden die Aquarelle, sowohl seitens der Forscher als auch seitens der Archivare, nicht weiter kommentiert oder aufgearbeitet. Damit zeigt die Forschungslage Spuren eines in der künstlerischen Moderne verankerten Bilddiskurses – der Hegemonie des Gemäldes gegenüber einem anderen Medium, des Originals gegenüber der Kopie, des fertigen Bildes gegenüber der Vorzeichnung –, der Prozessen des Wiederverwendens, Nachahmens oder Replizierens nicht gerecht wird.11 Eine weitere unerforschte Sammlung, bestehend aus 21 Gouachen, die heute in der Londoner Wellcome Library zu finden ist, muss zu den be 11 Siehe Kulturerbe und Denkmalpflege transkulturell. Grenzgänge zwischen Theorie und Praxis. Hg. Michael Falser, Monica Juneja. Bielefeld. 2013, S. 23.
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stehenden Korpora hinzugefügt werden.12 Die Bilder werden einzeln aufbewahrt, und es ist nicht bekannt, ob sie wie die Aquarelle ursprünglich Teil eines Albums waren oder mit einem medizinischen Text korrespondierten. Es ist sehr wahrscheinlich, dass sie wie die anderen Patientenbildnisse für sich stehend waren. Diesen Aspekt unterstreicht die Größe der Gouachen: Die Maße der Hochformate betragen circa 30 cm mal 52 cm, die der Querformate circa 45 cm mal 30 cm. Auch diese Werke, die aufgrund ihrer ausdifferenzierten Malweise als eigenständig zu bezeichnen sind, können ausnahmslos mit den Motiven des Hauptkorpus in Yale in Verbindung gebracht werden.13 Bezug nehmend auf Parkers Berichte werden die Gouachen auf die späten 1830er Jahre datiert. Wie die Aquarelle bilden die Gouachen die Tumorpatienten vor einem weißen Hintergrund ab. Häufig haben die Dargestellten einen überdimensioniert großen, schwarzen Torso, der die Figuren im unteren Bildbereich verankert. Nur in zwei Gouachen scheint der vollständige Körper vor einem weißen Hintergrund zu schweben (Abb. 3). Die Gouachen zeigen eine Disproportion in der Darstellung der Figur, die sich gerade in den überdimensionierten Torsi und den im Verhältnis dazu kleinen Köpfen abzeichnet. Diese Disproportion betont zudem der auffällig große Abstand, der vom Kopf des Patienten bis zum oberen Bildrand besteht. Grundsätzlich bilden die Gouachen den Menschen ohne die Suggestion einer Tiefe ab. In einigen Bildern wird die Illusion eines Raums hergestellt, aber nicht weiter ausdifferenziert: wenn beispielsweise Gegenstände Schatten werfen oder in einer dreidimensionalen Ansicht gezeigt werden.
12 Diese erwähnte auch Finke in einer Fußnote seines Artikels. Der Autor bezog sich allerdings lediglich auf 15 Werke. Siehe Finke, S. 328. 13 Die Gouachen zeigen die Patienten Yang She (Gemälde-Nr. 86), Woo Kinshing (Gemälde-Nr. 71), Wang Waekae (Gemälde-Nr. 49), Po Ashing vor der Armamputation (Gemälde-Nr. 31), Lo Washun (Gemälde-Nr. 3), Leang Ashing (Gemälde-Nr. 33), eine Frau mit einem Tumor der Stirn (Gemälde-Nr. 8), Kwo Pe (Gemälde-Nr. 2), Choo Jihleang (Gemälde-Nr. 43), einen Patienten mit einem Gesichtstumor (Gemälde-Nr. 34), eine Frau mit einem offenen Brusttumor (Gemälde Nr. 27), Low Tansghow (Gemälde-Nr. 45), eine Patientin mit einem Nasentumor (Gemälde-Nr. 9), Yin Youwei (Gemälde-Nr. 41), Chang Achun (Gemälde-Nr. 36), Akae (Gemälde-Nr. 1), Chow Kaetseuen (Gemälde-Nr. 57), Kwan Nanking (Gemälde-Nr. 70), Laeng Yen (Gemälde-Nr. 5) sowie eine anonyme liegende Frau, deren Bild in Zusammenhang mit der Gemälde-Nr. 17 steht. Die Bildkorpora |
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Abb. 3 Gouachen-Werkstatt aus Kanton: Akae. Gouache. Ca. 1830.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass aktuell von einer ursprünglich größeren Anzahl der Patientenbildnisse ausgegangen werden muss. Die weißen Inventarnummern, die an der Seite der Gemälde des Hauptkorpus zu sehen sind, wurden den Bildern erst nach ihrer Ankunft in der Yale University beigefügt. Zwei Bilder mit den heutigen Inventarnummern 83 und 85 wurden nicht mit einer Nummer versehen. Dies lässt vermuten, dass die heute in Yale befindlichen Gemälde nur einen Teil eines größeren Korpus darstellen. Dies kann auch anhand des Albums von Moses C. White geschlussfolgert werden. Dieses enthält die Fotografie eines Gemäldes mit der Nummer 25. Das Gemälde, das heute als verschollen gilt, zeigt eine Frau mit einem überdimensionierten Brusttumor.14 Zwei weitere Gemälde, die den Patienten Chang Achun abbilden und beide die Nummer 36 haben, verweisen weiter auf die Tatsache, dass das Korpus um Bilder, die in den 14 Das Gemälde ist im Katalog des Dr. White zu sehen. Es ist mit der Fallnummer 50496 versehen. Siehe den White-Katalog in der Medical Historical Library. Box 9. Ordner 1. Yale University.
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zeitgenössischen Quellen als „Duplikate“ bezeichnet werden, ausgeweitet werden muss. Gleichzeitig wird deutlich, dass die Gemälde nur den Ausschnitt einer umfangreichen medizinischen Tätigkeit, der über Jahre währenden Behandlung von Tumorkranken, widerspiegeln.15 Zugleich muss davon ausgegangen werden, dass viele Tumorpatienten nicht abgebildet wurden. Dies legen die Berichte nahe, die anonyme Tumorfälle beschreiben.16 Vor dem Hintergrund der hohen Patientenzahlen und der zahlreichen Bilder erscheint die Dokumentation der Tumorkranken als ein umfangreiches Unternehmen, weitaus größer als von der Forschung bisher beschrieben, an dem viele Maler beteiligt gewesen sein müssen.
1.2 Im Auftrag des Arztes Lam Quas Patientenporträts sind Produkte der Kooperation zwischen einem Arzt und einem Maler. Eine solche Zusammenarbeit war keineswegs außergewöhnlich. Das bekannteste Beispiel in der Geschichte der medizinischen Abbildung ist das der Zusammenarbeit zwischen dem Arzt Andreas Vesalius (1514 – 1564) und dem niederländischen Maler und Grafiker Jan Stephan van Calcar (1500 – 1546), der die Kupferstiche für Vesalius’ anatomisches Lehrbuch De humani corporis fabrica (1543) hergestellt hatte. Ärzte griffen auf die Dienste der Künstler zurück, wenn sie beispielsweise ihre Schriften mit 15 „The number of the Chinese, including the patients who have visited the institution is probably not less than 6000 or 7000. They have witnessed the operations and have seen the cures. They are from nearly all parts of the empire; they carry with them the intelligence of what they have seen and heard. Consequently, from provinces more remote, applications are made, and new and anomalous diseases are presented.“ 4th Report. In: The Chinese Repository. 1837, S. 332. Gleichzeitig erwähnen die Berichte zwar andere Kranke, sie widmen sich allerdings ausführlich den Tumorfällen. Im vierten Bericht aus dem Kantoner Krankenhaus aus dem Jahr 1836 listet Parker 452 Patienten. Davon beschreibt er lediglich diejenigen, die an einem Tumor leiden. In: „Brief Abstract of all Successive Reports of the Medical Missionary Society from 1835 to 1840“. In: T. R. Colledge: Reports of the Medical Missionary Society in China, 1840. Kanton. 1840, S. 44. 16 Siehe beispielsweise die Fallnummer 25870 vom 4. Oktober 1847. Der „robuste Mann“ aus der Provinz Hao Shan hatte einen Armtumor. Siehe auch im gleichen Bericht die Erwähnung zahlreicher Bauchtumore (21) und sarkomartiger Tumore (54). Siehe 14th Report. In: The Chinese Repository. 1848, S. 13 – 14, 15. Im Auftrag des Arztes |
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Bildern versehen wollten. Viele medizinische Abbildungen sind daher aus Kunstmotiven hervorgegangen. In der Geschichte der medizinischen Abbildung etablierte sich nahezu ein fester Kanon einer medizinischen Ikonografie, die von Künstlern kontinuierlich aufgegriffen wurde. Ein Beispiel eines solchen Motivs, das in die medizinische Ikonografie eingegangen war, ist das des gehäuteten Körpers in der Darstellung des Marsyas. In Ovids Metamorphosen wird Marsyas im Rahmen eines musikalischen Wettstreits, den er verloren hat, für seine Hybris bestraft und von Apollo gehäutet. In Vesalius’ Fabrica sieht man Marsyas als sogenanntes Écorché, das heißt als „Gehäuteten“, der seine Haut in der Hand hält. Ein Dolch in seiner linken Hand suggeriert, dass er selbst die Haut von seinem Körper abgenommen hat. Dieser Aspekt verweist beispielsweise auf die Darstellung des heiligen Bartholomäus im „Jüngsten Gericht“ aus Michelangelos Fresken (1508 – 1512) in der Sixtinischen Kapelle.17 Während Michelangelo in den Gesichtszügen des Bartholomäus seine Gesichtszüge abgebildet und so sowohl sein Leiden als Künstler thematisiert als auch den Gedanken zum Ausdruck gebracht haben soll, dass erst mit dem Verlust der äußerlichen körperlichen Hülle die Erlösung von den irdischen Qualen erfolgen kann, wird in der Darstellung des Écorchés in der Fabrica dem Betrachter der entblößte Muskelapparat und dessen Funktionieren präsentiert. Die einzelnen Muskelbahnen tragen eine Ziffer und können so identifiziert werden. Das Bild des Marsyas taucht weiter in Academia del corpo humano (1560) des italienischen Arztes Valverde de Amusco (1525 – 1587) auf und wurde ferner von dem französischen Chirurgen Ambroise Paré (1510 – 1590) in seinem Traktat aus dem Jahr 1649 wieder aufgegriffen. Diese darin abgebildeten schwarz-weißen Drucke zeigen häufig einen anonymen, männlichen Idealkörper, der aufgeschnitten und von seiner Haut befreit, aufrecht und intakt dem Betrachter präsentiert wird, seine Haut in den Händen hält oder diese mit den Zähnen aufreißt.18 Im frühen 19. Jahrhundert entstanden zunehmend Abhandlungen, die sich dem kranken Körper widmeten. Bilder, die den kranken Körper dar 17 Siehe Frank Zöllner: „Leonardo und Michelangelo: Vom Auftragskünstler zum Ausdruckskünstler“. https://archiv.ub.uni-heidelberg.de/artdok/178/1/ Zoellner_LDVAE_05.pdf (letzter Zugriff: 21. Dezember 2017), S. 12. 18 Aufgeschnittene Frauenkörper wurden nur im Kontext der Geburt gezeigt. Siehe beispielsweise die Stiche von Adriaan van de Spiegel (Spigelius) „De foetu formatu“. In: Opera quae extant omnia (1645). Wellcome Library. Siehe http://wellcomeimages.org/ (letzter Zugriff: 21. Januar 2015).
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stellten, sind häufig Teil einer medizinischen Abhandlung in einem Atlas. Während anatomische Abbildungen dem Problem der Sichtbarmachung der unter der Haut befindlichen Anatomie mit dem Motiv des Écorchés begegneten, ergaben sich für die Abbildung von Krankheiten zwei Lösungen. Je nach Thematik zeigen Atlanten der pathologischen Anatomie die alleinige Darstellung der sezierten kranken Organe; so zum Beispiel in Matthew Baillies Atlas Series of Engravings Accompanied with Explanations which Are Intended to Illustrate the Morbid Anatomy of the Most Important Parts of the Human Body (1812). Auf der anderen Seite tauchen vor allem in dermatologischen Atlanten Bilder von Patientenbüsten mit Läsionen oder sehr großen Geschwülsten auf, wie im oben erwähnten Traktat zu Hautkrankheiten des Jean-Louis Alibert. Im Licht der neuzeitlichen anatomischen Idealkörper erscheinen Lam Quas Bilder außergewöhnlich, weil sie Porträts von Kranken und damit Bilder von Individuen darstellen. Sie zeigen Männer und Frauen verschiedener Altersgruppen, die aus unterschiedlichen Sozialschichten stammen. Anders als Abbildungen aus Atlanten stehen diese Patientenporträts für sich. Dies gilt vor allem für die Gemälde, die in einen Ausstellungskontext integriert waren. Da Lam Quas Porträts nicht explizit zu einem medizinischen Traktat gehören, liegt eine eindeutige Auftragslage nicht vor. Dennoch wird hier zu argumentieren versucht, dass Parker die Bilder, in welcher Form auch immer, in Auftrag gegeben hatte. Parker äußert sich nur einmalig explizit zu den Bildern; dies im Zusammenhang der Darstellung des Mädchens Lew Akin, das unter einem überdimensionierten Hüfttumor litt: I am greatly indebted to Lamqua, who has taken an admirable likeness of this little girl [Lew Akin] and a good representation of the tumor. The more interesting cases that have been presented at the hospital, he has painted with equal success, and uniformly says that as there is no charge for „cutting“, he can make none for painting.19
Dieses Zitat, das lediglich als eine Nebenbemerkung im Fallbericht auftaucht, ist in mehrfacher Hinsicht von Bedeutung. Zum einen identifiziert Parker „Lamqua“ als den Urheber der Patientenporträts. Er betont, dass Lam Qua diese ausdrücklich „gemalt“ habe. Zum anderen wird eine unmittelbare 19 6th Report. In: The Chinese Repository. 1838, S. 39. Im Auftrag des Arztes |
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Verbindung zwischen den Bildern und den Patienten, die das Krankenhaus aufsuchten, vorausgesetzt. Weiter können wir schlussfolgern, dass auch ein Zusammenhang zwischen den Bildern und den Berichten gegeben ist. Die (nicht kunsthistorische) Forschungsliteratur versteht die Betonung der Tatsache, dass die Bilder „gemalt“ wurden, als ein Indiz dafür, dass es sich bei den Werken grundsätzlich um Gemälde gehandelt haben soll.20 Es ist aber durchaus möglich, dass Parker auch andere „gemalte“ Bilder wie Aquarelle und Gouachen gemeint haben könnte. Des Weiteren macht Parkers Kommentar deutlich, dass die Bilder im Krankenhaus hingen. Eine solche Hängung ist für Gemälde selbstverständlich, für kleinformatige Werke wäre sie ebenfalls denkbar. Die Existenz der Gemälde, aber auch anderer Werke, unterstreicht Parker in einem anderen Bericht: With happy effect he [Liang Afa] had dwelt upon the Saviour’s life and example, and pointing to the paintings and illustrations of cures, suspended around the hall of the hospital, informed his auditors that these were performed by his blessing and in conformity to his precepts and example.21 [Meine Hervorhebung; J. K.]
Parker, der hier die Predigt des ersten christlichen Konvertiten Liang Afa beschreibt, spricht nicht nur von Gemälden, die in der Halle des Krankenhauses hingen, sondern erwähnt im gleichen Zug „Illustrationen“, die sich auch dort befanden. Liang Afa soll während der Predigt auf diese gedeutet haben. Mit „Illustrationen“ könnten die Gouachen gemeint gewesen sein. Dagegen werden die in dekorative Alben eingefassten Aquarelle eher als Souvenirs verständlich. Im ersten Zitat betont Parker, dass der Maler nur diejenigen Patienten gemalt habe, die „interessant“ erschienen, er sei also nicht beliebig vorgegangen. Dass Lam Qua, der grundsätzlich auf die Darstellungen von gewöhnlichen Porträts spezialisiert war, eine solche Auswahl allein getroffen hätte, ist schwer vorstellbar. Vielmehr scheint es naheliegend, dass der Arzt die Tumorpatienten als „außergewöhnliche Fälle“ für die Darstellung aussonderte und dem Maler zeigte. Damit muss Parker maßgeblich darauf Einfluss genommen haben, welche Patienten gemalt wurden.
20 Larissa Heinrich bezieht sich in ihrer Arbeit auf Rachmans Artikel „Curiosity and Cure“ und „Memento Morbi“. Siehe Heinrich, S. 42. 21 13th Report. In: The Chinese Repository. 1845, S. 461.
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Weiter im Zitat fügt der Mediziner hinzu, dass Lam Qua kein Geld für das „Malen“ („painting“) entgegengenommen habe, weil Parker keine Bezahlung für den medizinischen Dienst („cutting“) verlangt habe. Damit wird die Vergütung des Auftrags als entscheidende Bedingung für die Auftragssituation außer Kraft gesetzt. Offenbar scheint es sich um einen gegenseitigen Austausch von Gütern gehandelt zu haben. In diesem Zusammenhang schildert die Sinologin Larissa Heinrich die Situation einer „philanthropischen Mikrokultur“, die ein Geben und Nehmen voraussetzte und die im Kanton des 19. Jahrhunderts zwischen Chinesen und den dort stationierten westlichen Händlern vorgeherrscht haben soll.22 Im Sinne eines solchen Austauschs von Gütern wird in der Forschungsliteratur die Beziehung zwischen Parker und Kwán Ato, einem seiner Lehrlinge, als Impetus für die Produktion der Patientenbildnisse interpretiert. Kwán Ato, dessen Name in den Berichten auch als Kwan Taou figuriert, soll Lam Quas Neffe gewesen sein und für Parker gearbeitet haben. So soll Lam Qua die Gemäldeserie als ein „Dankeschön“ für die Aufnahme Kwan Taous als medizinischen Lehrling gemalt haben.23 Dabei bezieht sich die gesamte Forschungsliteratur unkritisch auf Crossmans Feststellung, dass Kwan Taou der Neffe Lam Quas gewesen sei.24 Dabei erinnere der erste Teil des Namens „Kwan“ an „Guan“, der wiederum mit Lam Quas (hier als Pidginenglisch-Name verstanden) tatsächlichem Namen Guan Qiaochang in Verbindung stehe.25 Crossman hat jedoch keine historischen Quellen vorzuweisen. Parkers Berichte machen lediglich eine professionelle Relation zwischen dem Arzt und seinem Lehrling deutlich; sie verweisen weder auf eine freundschaftliche Beziehung zwischen Parker und Lam Qua noch auf eine Verwandtschaft zwischen Lam Qua und Kwan Taou. 22 Heinrich, S. 51. 23 Heinrich bezieht sich auf ein Argument von Carl Crossman. Versteht man Crossman richtig, war das Gemälde, das Parker und Kwan Taou darstellt – und nicht die Gemälde-Serie – als ein Dankeschön an Parker gemeint. Crossman sieht eine Verbindung zwischen dem Arztporträt und der Serie, die er allerdings nicht weiter ausführt. Siehe Heinrich, S. 49 und Crossman, S. 87. 24 Finke, S. 325, Gilman, S. 62 – 63, Heinrich, S. 49 – 51, Rachman, S. 143. 25 Crossman entwirft eine Generationenkette, die zu früheren Exportmalern wie dem sogenannten Maler „Spoilum“ zurückreicht. Sie basiert auf der Annahme, dass die Maler allesamt miteinander verwandt gewesen seien und den (Vor-) Namen „Guan“ trugen. In diesem Zusammenhang soll Lam Qua eigentlich Guan Qiaochang geheißen haben und der Enkel von Spoilum oder Guan Zuolin gewesen sein. Siehe Crossman, S. 73 und 85. Im Auftrag des Arztes |
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In diesem Zusammenhang bezeichnet Parker Kwan Taou als den „ältesten“ oder „fortgeschrittenen“ seiner Schüler („senior pupil“) und erwähnt gleich zweifach, dass dieser komplette Operationen übernommen habe.26 Er sagt nicht ohne Stolz, dass Kwan Taou einen Tumor in vier Minuten exstirpiert oder eine Operation mit „großer Fertigkeit“ und „Erfolg“ durchgeführt habe. Gleichzeitig erwähnt der Arzt in einem persönlichen Brief aus dem Jahr 1837, dass einer seiner Lehrlinge der Bruder von Lam Qua gewesen sei.27 Allerdings nennt Parker in diesem Zusammenhang keinen Namen. In einem Bericht des China Medical Missionary Journal aus dem Jahr 1888 bezeichnet J. C. Thomson „Kwan A-to“ als „Arzt“ und sagt, dass Lam Qua der Onkel von Kwan Taou gewesen sei und diesen in die Lehre zu Parker geschickt habe.28 Diese inkohärenten Aussagen zu Kwan Taous Verwandtschaft mit Lam Qua verweisen nicht nur auf einen durch die Sprachbarriere bedingten Kommunikationsmangel zwischen dem westlichen Mediziner und seinem chinesischen Lehrling; vielmehr machen sie deutlich, dass die Beziehung zwischen Kwan Taou und Lam Qua keine besondere Bedeutung für die Genese der Bilder haben und somit auch nicht der Ausgangspunkt für diese umfangreiche Serie und die langjährige Zusammenarbeit zwischen Parker und Lam Qua gewesen sein kann. Die Erwähnung von Kwan Taou im Missionarsnarrativ hatte wohl einen strategischen Grund. Kwan Taous Erwähnung unterstrich die erfolgreiche Installierung der westlichen Medizin, das heißt das Gelingen der christlichen Mission. Diesen Aspekt betont auch Lam Quas Gemälde Dr. Peter Parker with his Student Kwan Ato Operating on a Patient (Abb. 4) aus den 1840er Jahren, das die Forschungsliteratur dazu herangezogen hat, die Beziehung zwischen Parker und Kwan Taou affirmativ zu unterstreichen und die Genese der Gemälde im Sinne eines „Dankeschöns“ zu stützen. Denn auch in diesem Fall steht keine freundschaftliche Beziehung im Vordergrund; vielmehr verdeutlicht das Gemälde die Instrumentalisierung der Chinesen. Das Gemälde stellt 26 14th Report. In: The Chinese Repository. 1848, S. 144 und „Minutes of Two Annual Meetings of the Medical Missionary Society in China“. In: The Chinese Repository. 1851, S. 22. 27 Der Brief erschien bei George B. Stevens. Siehe George B. Stevens: The Life, Letters, and Journals of the Rev. and Hon. Peter Parker, M. D., Missionary, Physician, and Diplomatist. The Father of Medical Missions and Founder of the Ophthalmic Hospital in Canton. Boston und Chicago. 1896, S. 132. 28 J. C. Thomson: „Semi-Centennial of the Medical Missionary Society“. In: The China Medical Missionary Journal. Band 2. September 1888, S. 5.
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Abb. 4 Lam Qua/Werkstatt: Dr. Peter Parker with his Student Kwan Ato Operating on a Patient. Öl auf Leinwand. Ca. 1840.
den in der Bildmitte positionierten Parker dar.29 Er hat in einem Stuhl Platz genommen, hält eine an den vertikalen Kolumnen erkennbare chinesische Schriftrolle in seinem Schoß und schaut den Betrachter an. Hinter ihm sieht man den im Stehen operierenden Kwan Taou, der gerade mit einer Augenoperation beschäftigt ist. Sein Blick ruht auf dem Patienten. Damit wird die Konzentration des angehenden Mediziners auf die ihm anvertraute Aufgabe unterstrichen, zugleich wird der Augenkontakt zum Betrachter unterbunden. Obgleich Kwan Taou derjenige ist, der die Operation durchführt, wird dessen besondere Position nicht deutlich gemacht; weder Parker noch der Betrachter sollen den Blickkontakt zu Kwa Taou aufbauen. Stattdessen gilt der Blick des Betrachters Parker. Offenbar im Chinesischen versiert, verkörpert er das Wissen der westlichen Medizin, das er an Kwan Taou weitergibt, aber
29 J. C. Thomson bezieht sich in seinem Bericht aus dem Jahr 1888 auf einen Kupferstich. Möglicherweise wurde ein solcher Kupferstich nach dem Gemälde hergestellt. Siehe Ebd. Im Auftrag des Arztes |
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Abb. 5 Anonym (nach George Chinnery): Robert Morrison Translating the Scriptures into Chinese. Öl auf Leinwand. Nach 1813.
auch die Kenntnis des Chinesischen. Kwan Taou steht hinter Parker als die Verlängerung seiner Person, er agiert als dessen Instrument und bildet das Bindeglied zwischen Parker und dem kranken Chinesen. Eine ähnliche Inszenierung des Wissenstransfers, der von einem westlichen Wissenschaftler ausgeht, ist in einem Gemälde zu sehen, dessen Verbleib heute unbekannt ist. Das Bild mit dem Titel Robert Morrison Translating the Scriptures into Chinese (Abb. 5) ist in Dr. Whites Unterlagen in Yale dokumentiert. Es zeigt den schottischen Missionar Robert Morrison (1782 – 1834) in ähnlicher Position wie die eben erwähnten Parker und Kwan Taou. Morrison hält eine englische Schriftrolle in den Händen. Im Hintergrund sieht man, wie ein junger Chinese sich über einen alten Mann beugt und sich dem Blick des Betrachters entzieht. Er hält ein Blatt Papier in den Händen und schaut zu dem Alten, der ein Manuskript in chinesischer Sprache mit einem Pinsel abfasst. Aus Eliza Morrisons Buch Memoirs of the Life and Labours of Robert Morrison (1839), in dem ein Kupferstich des Gemäldes zu sehen ist, erfahren wir, dass der alte Mann Li Shigong und der junge Chi50
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nese Chen Laoyi geheißen hat.30 Es scheint, als übersetze Chen Laoyi dem alten Li Shigong die englische Schrift und handele in Morrisons Auftrag. So verdeutlicht dieses Gemälde, dass die Darstellung des westlichen Wissenstransfers ein wiederkehrendes Motiv war. Dabei steht der junge Chinese stellvertretend für das Gelingen der Mission. Allerdings wird dieses Machtsignum durch die Tatsache in Frage gestellt, dass das ursprüngliche Bild, das der englische Maler George Chinnery gemalt hatte, von einem kantonesischen Maler erneut angefertigt wurde. Denn das Bild, das in Dr. Whites Album und in Eliza Morrisons Buch zu sehen ist, ist ein anderes als das ursprünglich von Chinnery gefertigte Gemälde, das im Katalog An East India Company Cemetery: Protestant Burials in Macao (1996) zu sehen ist.31 Somit war diese Darstellung wie viele andere westliche Motive im bildlichen Zirkel der kantonesischen Malerei appropriiert und reappropriiert worden. Diesen Aspekt thematisiert ein folgender Abschnitt dieser Arbeit. In diesem Rahmen genügt es zu sagen, dass diese zirkulierende Motivik des Wissenstransfers das Argument der Forschungsliteratur, dem zufolge das Bild Peter Parker with his Student Kwan Ato und somit die gesamte Serie als ein „Dankeschön“ zu verstehen sind, grundsätzlich in Frage stellt.
1.3 Positionierung im Genre des medizinischen Porträts Dass die oben skizzierten Beziehungen zwischen Parker, Lam Qua und Kwan Taou eine Rolle für die Entstehung der Gemälde gespielt haben, können weder das Gemälde noch die vorhandenen historischen Quellen exakt belegen. Doch selbst vor dem Hintergrund dieser spärlichen Beweislage müssen wir davon ausgehen, dass Patientenbildnisse für Parkers medizinische Praxis grundlegend waren; dass also eine Auftragssituation bestanden hat, bei der Parker der Auftraggeber war. In diesem Zusammenhang wird die Arbeit im Folgenden nicht auf obige Entstehungstheorien eingehen, stattdessen verortet sie die Werke in der Tradition des medizinischen Porträts, eines 30 Siehe Eliza Morrison: Memoirs of the Life and Labours of Robert Morrison Compiled by his Widow with Critical Notices of His Chinese Works. London. 1839, Band 2, S. 483 und Sowing the Word: The Cultural Impact of the British and Foreign Bible Society, 1804 – 2004. Hg. Stephen Batalden, Kathleen Cann, John Dean. Sheffield. 2004, S. 128 – 129. 31 Beide Bilder können nicht datiert werden. Siehe An East India Company Cemetery: Protestant Burials in Macao. Hg. Lindsay und May Ride. Hongkong. 1996, S. 45. Positionierung im Genre des medizinischen Porträts |
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Genres, das im Europa des 19. Jahrhunderts omnipräsent war, wobei es mit den Lehren der Physiognomik und der analogen Disziplin der medizinischen Semiotik korrespondierte.32 Die medizinische Semiotik, die später auch „Kranken-Physiognomik“ genannt wurde, gab Anleitungen zur Erkennung von Krankheitszeichen oder signa, die im Gesicht des Patienten sichtbar wurden.33 Die Methode war Teil der alltäglichen klinischen Praxis. Nach James soll der Arzt John Hunter (1728 – 1793) solche Porträts in Auftrag gegeben haben und das diagnostische Verfahren anhand eines Porträts, das die Büste des Kranken zeigte, studiert haben.34 Nach James waren ferner separate, für sich stehende Patientenporträts grundsätzlich in der Klinik gebräuchlich; sie galten als klinische „Aide-Mémoires“, die unter Ärzten weitergereicht und diskutiert wurden, und fungierten somit als Stellvertreter der Kranken.35 Anhand eines Porträts konnte die Diagnose für einen vorliegenden Fall zügig durchgeführt werden. Im Idealfall sollten diese Bilder memoriert werden. Vor diesem Hintergrund ist anzunehmen, dass Parker solche Patientenporträts aus seiner klinischen Praxis beziehungsweise aus seinem Medizinstudium bekannt waren. Parker hätten beispielsweise Bilder aus dem Atlas des oben genannten Jean-Louis Alibert vorliegen können. Aus historischen Quellen zu William Hunters Anatomievorlesungen an der britischen Royal Academy of Arts erfahren wir ferner, dass Modelle und Künstler dem Anatomieunterricht beiwohnten; Bilder wie Johann Zoffanys The Life Class (1722) legen davon Zeugnis ab. Gleichzeitig war der Zeichenunterricht fester Bestandteil des Medizinstudiums. Dass Bilder grundsätzlich zu Parkers Arbeit gehörten, bezeugen dessen Federzeichnungen aus den Krankenhausbüchern, die im Yale-Archiv aufbewahrt werden. Neben der Fallnummer und dem Namen des Patienten, dessen Alter, Geburtsort und Beruf, die auf Chinesisch geschrieben sind, ist der medizinische Befund auf Englisch zu lesen. In einigen Fällen ist dem Befund eine kleine Zeichnung beigefügt. Diese Zeichnungen, die eine schemenhafte Darstellung des Patienten mit seiner Pathologie zeigen, wurden nur für einige wenige Tumorfälle angefertigt. 32 Siehe Karl Heinrich Baumgärtner: Kranken-Physiognomik. Stuttgart und Leipzig. 1839. 33 Siehe Baumgärtner: Kranken-Physiognomik. Zweite Ausgabe. Stuttgart und Leipzig. 1842, S. 8. 34 James, S. 179, 191. 35 Ebd.
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Abb. 6 Scirrhus der Brust. Federzeichnung. 1830 – 50.
In den Tabellen der Krankenhausbücher ergänzen nebenstehende Zeichnungen den Befund, indem sie die Position und die Größe des Tumors darstellen. Darüber hinaus zeigen sie ein bestimmtes Stadium der Krankheit an. Beispielsweise stellt die Zeichnung einer Patientin mit einem Brusttumor (Abb. 6) einen dunklen Tintenfleck im Zentrum der Brust dar. Der Fleck wird aus einem dunklen Klecks zunehmend heller und suggeriert eine tiefe Wunde und ein fortgeschrittenes Stadium der Krankheit. In diesem Zusammenhang korrespondieren die Zeichnungen mit Lam Quas Porträts. Die Skizzen stellen nicht nur den medizinischen Befund dar, sondern bilden das Gesicht oder den gesamten Torso des Patienten zusammen mit seiner Krankheit ab. Zugleich ist eine Parallele zwischen den Einträgen und Parkers Fallberichten erkennbar: So wie die Berichte den Patienten in einer chinesischen Provinz verorten, dessen Alter und Beruf an erster Stelle erwähnen, so listen die Krankenhausbücher genau diese Informationen in komprimierter Form in einer Zeile auf. Die hier erwähnte Federzeichnung spezifiziert und konkretisiert den Eintrag. Damit verhält sie sich analog zu Lam Quas Patientenbildnissen, die mit Parkers Berichten in Verbindung stehen: Sie bilden die Krankheit ab und suggerieren anhand des Porträtformats einen persönlichen und pathologischen Charakter. Ferner stehen die Berichte und die Krankenhauseinträge in direkter Verbindung mit dem Einlasszettel, der Parkers Berichten zufolge Positionierung im Genre des medizinischen Porträts |
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den Patienten bei ihrer Ankunft im Krankenhaus mitgegeben wurde und zur weiteren Aufnahme in die Räume im höher gelegenen Stock berechtigte.36 Diese aus Bambus gefertigten Blätter enthielten den Namen des Patienten, die Bezeichnung der Krankheit, die Fallnummer und die Einlasszeit.37 Auch wenn Parkers Federzeichnungen die Angaben aus den Krankenhausbüchern visualisieren können, so muss doch eingeräumt werden, dass sie mit der Darstellung einer klotzigen Anatomie Parkers Mangel an zeichnerischem Können aufzeigen. Nach James hätten lebensechte Patientenporträts Parker als Vergleichsbilder im Rahmen seiner ärztlichen Tätigkeit und als Gedächtnisstützen dienen können. Wenn Parker solche Porträts herstellen lassen wollte, dann benötigte er einen Maler, der das, was er selbst zu zeigen nicht in der Lage war, ausdifferenzieren konnte: die menschliche Anatomie, das Gesicht des Patienten sowie die spezifische Beschaffenheit der Pathologie. Parkers Federzeichnungen erscheinen nicht nur wegen der unzureichenden Ausarbeitung der Anatomie mangelhaft, es fehlt ihnen zudem an Farbe. Am Beispiel des Tintenkleckses, der ein fortgeschrittenes Krankheitsstadium suggeriert, wird deutlich, dass das farbige Gemälde die offene Geschwulst lebensechter und präziser darstellt. In diesem Zusammenhang muss betont werden, dass Parkers Berichte kontinuierlich die Farben und die Konsistenz des kranken Fleisches schildern.38 Analog dazu zeigen Lam Quas Patientenbildnisse die ausdifferenzierte Physiognomie der Person zusammen mit der genauen Darstellung ihrer Krankheit. Die Gemälde sind mehrfarbig und geben so das Farbspektrum der Pathologie wieder: eitriges gelbes Fleisch, abgestorbenes dunkles Fleisch, entzündetes rotes Fleisch oder den schwarzen Schlund einer tiefen Wunde. Darüber hinaus ermöglicht die mehrfarbige Darstellung des Gesichts eine Aussage zum gesundheitlichen Zustand des Dargestellten: Die Verfärbung des Gesichts oder deren Fehlen signalisierte in der medizinischen Semiotik Fieber oder eine generelle Schwächung beziehungswiese eine Verschlimmerung des gesundheitlichen Zustands.39 In diesem Licht ist es vorstellbar, dass Parker nicht nur auf die Auswahl der Porträtierten Einfluss nahm, sondern auch darauf, wie das Bild auszusehen hatte. Er hätte ähnliche Porträts wie die von Alibert Lam Qua vorlegen oder den Maler darin, wie solche Porträts auszusehen hätten, unterrichten 36 Siehe Stevens, S. 122. 37 Ein solcher Zettel ist beispielsweise im Bild des Patienten Po Ashing zu sehen. 38 Siehe Parkers Bericht zu Po Ashing im 4th Report. In: The Chinese Repository. 1837, S. 329 – 331. 39 Eich, S. 46.
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können. Doch selbst ohne diese Informationen schien das Porträtformat, das den Menschen zusammen mit seiner Krankheit abbildet, dem Maler als Abbildung nicht abwegig zu sein. Lam Qua war auf die Herstellung von westlichen Porträts spezialisiert, zu diesem Zeitpunkt hatte er zahlreiche Porträts in westlichem Stil gemalt. Diese Bilder, darunter zwei Porträts von Parker, wurden in den USA und Großbritannien ausgestellt.40 Laut Carl Crossman, dem Autor des wegweisenden Kompendiums The Decorative Arts of the China Trade. Paintings, Furnishings and Exotic Curiosities (1991), war Lam Qua sogar der erste chinesische Künstler, dessen Bilder in westlichen Ausstellungshäusern gezeigt wurden.41 Zugleich bekundete der Maler Interesse an Parkers medizinischer Tätigkeit.42 Dass der Arzt wiederum grundsätzlich kunstinteressiert war und neben seinen Patienten auch andere Motive zeichnete, belegen seine Skizzen von der Reise nach China aus seinen Tagebüchern.43 In diesem Zusammenhang kann argumentiert werden, dass die Zusammenarbeit zwischen Parker und Lam Qua auf einem gemeinsamen Verständnis des Porträts beruhte. Beide bezogen dieses Verständnis aus ihrer beruflichen Praxis. Es handelte sich grundsätzlich um ein Bild, das die Büste des Menschen darstellte. Wie an Parkers Federzeichnungen zu erkennen ist, zeigt ein solches Bild den kranken Menschen in seiner Gesamtheit. Die
40 Gemeint sind das bereits erwähnte Gemälde, das Parker mit Kwan Taou zeigt, sowie ein weiteres Porträt, das Parker darstellt und heute in der medizinhistorischen Bibliothek der Yale University hängt. Letzteres wird auf das Jahr 1840 datiert. Zu Lam Quas Porträts von westlichen Händlern siehe Crossman, S. 81. 41 Im Jahr 1835 wurde in der Royal Academy Lam Quas Gemälde „Head of an Old Man“ und 1845 „Captain Hall“ gezeigt. Zudem wurde 1841 im New Yorker Apollo Club „Portrait of Moushing, Tea Merchant“ ausgestellt. 1851 listet der Ausstellungskatalog der Pennsylvania Academy of Fine Arts die Gemälde „No 187, Portrait of a Gentleman“, „No 47 Napoleon and his Son“ und „No 416, Sir Henry Pottinger“. Im selben Jahr zeigte das Bostoner Athenæum drei Porträts chinesischer Händler, darunter eines von Houqua und von dem chinesischen Kommissionär Lin Chong, der nach Crossman für den Ausbruch des Ersten Opiumkrieges im Jahr 1839 verantwortlich gewesen war. In: Ebd. 42 Aus einem Brief von Parker aus dem Jahr 1837 zitiert durch Stevens. Siehe Stevens, S. 133. 43 Es entstanden drei Skizzen der Amsterdam-Insel im Indischen Ozean, die die herannahende Insel zeigen. Siehe Stevens, S. 98. Positionierung im Genre des medizinischen Porträts |
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Krankheit wird nicht distinkt dargestellt, sie scheint kein singuläres Phänomen zu sein, sondern wird als Teil dieser Gesamtheit begriffen.44 Ferner kann davon ausgegangen werden, dass Parker das Porträt als ein Medium des menschlichen Charakters verstand. Seit der Renaissance wurde das Gesicht als das pars pro toto der menschlichen Gestalt begriffen.45 Der Charakter, den es im Bild einzufangen galt, wurde zu einem Qualitätsmerkmal für das Porträtgenre, das dem Historiengemälde noch in der Frühzeit der Renaissance unterlegen war.46 Im 18. Jahrhundert zeigen Kunstdiskussionen vermehrt ein Interesse an der Darstellung des Charakters im Porträt auf.47 Im 19. Jahrhundert muss die Kenntnis von der Kopplung von Porträt und Charakter für einen Absolventen der renommierten Yale University selbstverständlich gewesen sein. Zugleich meinte der Charakter in Parkers Verständnis auch die Krankheit. In den Berichten verwendet der Arzt den Begriff des Charakters sowohl im Sinne einer menschlichen Eigenschaft als auch im Sinne der Essenz der Krankheit. Der Charakter der Krankheit und der persönliche Charakter werden in Parkers Texten sogar austauschbar.48 Beide haben grundsätzlich den gleichen Ursprung: die Herkunft des Menschen. Der persönliche Charakter und der Charakter der Krankheit hängen mit der bisherigen Lebensführung und der spezifischen Herkunft der Person zusammen, die wiederum Einfluss auf ihr Verhalten nehmen.49 Die Porträts sollten in der Lage sein, beide Charaktere zu zeigen.50 Damit ist gesagt, dass Lam Quas Bilder nicht nur an ein chinesisches Publikum im Krankenhaus in Kanton, sondern auch an westliche Beschauer adressiert waren. In diesem Zusammenhang gelangen die Bilder in den Wirkungsbereich von Diskursen, die von der heutigen Forschungsliteratur als in Europa und 44 Beispielsweise ist die Krankheit im Sinne des Vitalismus als ein lebendiger Prozess und als Teil anderer vitaler Prozesse zu sehen. Siehe Foucault: Die Geburt der Klinik, S. 160. 45 Preimesberger, S. 78. 46 Ebd. 47 Gockel, S. 38. 48 „A more extensive acquaintance with the disease and with the character of the people may soon enable me to give a different form, a more variety to the reports.“ In: 6th Report. In: The Chinese Repository. 1838, S. 37. 49 14th Report. In: The Chinese Repository. 1848, S. 136 und T. R. Colledge: „The Medical Missionary Society in China. Address with Minutes of Proceedings“. In: Memorabilia Concerning Dr. Peter Parker. 1838, S. 3 – 4. 50 Ebd.
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den USA das 19. Jahrhundert prägend beschrieben werden. Diese Diskurse widmen sich den sogenannten „singulären Phänomenen“. Als solche Phänomene wurden Angehörige anderer Nationen oder Menschen mit seltenen Krankheiten begriffen, das heißt Menschen, deren Äußeres sich grundsätzlich von der Norm, dem weißen, vermeintlich makellosen, europäischen Antlitz, unterschied. Sie wurden einem Publikum auf Jahrmärkten oder auf sogenannten „Freak Shows“ präsentiert. Gleichzeitig verlief die öffentliche Zurschaustellung der „Freaks“ simultan zur wissenschaftlichen Disziplin der Teratologie, der Lehre von den Missbildungen.51 Diese Entwicklungen flossen in die moderne Medizin ein;52 anatomische Museen zeigten nicht nur die „normale“ Anatomie des Menschen, sondern auch das, was zunächst als „anders“ und zunehmend als „deviant“ verstanden wurde.53 Das „Anormale“ wurde einem Publikum zugänglich gemacht und in Form von pathologischen Präparaten, Bildern und Wachsmodellen präsentiert. Zugleich werden Lam Quas Bilder im Sinne des „Anderen“ verständlich: zum einen im Sinne eines weit entfernten „Orients“, zum anderen im Sinne des „Hässlichen“ oder „Monströsen“, das der eigenen Gesellschaft innewohnte.54 Im 19. Jahrhundert trieb die Vorrangstellung des Idealschönen das Interesse an einzigartigen Phänomenen voran, diese stabilisierten wiederum 51 52 53 54
Stephens, S. 88. Ebd., S. 92. Ebd., S. 54. Edward Said beschreibt den Orientalismus als die Herausbildung einer „okzidentalen“ Identität im Gegensatz zum „Orientalen“; einem europäischen Konzept, das bis ins frühe 19. Jahrhundert nur Indien und die „Länder der Bibel“ umfasste. Gleichzeitig existiert der Orientalismus nicht nur als eine „reine Idee“; der Orient „materialisierte“ sich in europäischen Kunstgegenständen und der Literatur. Grundsätzlich handele es sich um einen bestimmten „Willen“, das zu verstehen und zugleich zu kontrollieren, zu manipulieren und der eigenen Sicht einzuverleiben, „was eine deutlich andere (oder alternative oder neue) Welt“ sei. Seit dem 19. Jahrhundert bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges im 20. Jahrhundert verfügten Frankreich und Großbritannien politisch sowie ideell über den Orient und den Orientalismus. Nach Said habe sich Amerikas Sicht des Orients, die die europäische Sicht von damals wiederholte, erst nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt. Dagegen sprechen jedoch die zahlreichen von mir untersuchten Dokumente aus amerikanischen Archiven, die bereits im 19. Jahrhundert die Chinesen – und nicht nur die Völker Indiens oder die „Länder der Bibel“ – als „exotisch“ oder „oriental“ verstanden. Vgl. Edward W. Said: Orientalismus. Frankfurt a. Main. 1981, S. 11, 20 – 21. Positionierung im Genre des medizinischen Porträts |
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dessen höhere Position. Eine solche Entwicklung ist vor allem in philosophischen Schriften zu beobachten. Das Hässliche gelangte zum ersten Mal mit Rosenkranz’ Ästhetik des Häßlichen (1853) in den Blickpunkt einer ästhetischen Theorie. Doch es ist in hohem Maße theoretisch autonom; vielmehr spiegelt Rosenkranz’ Schrift eine an antiker Kunst orientierte Ästhetik wider, die Rosenkranz unter Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770 – 1831) studiert hatte. In diesem Sinne wird das Hässliche in einen „Transformationsprozess“ eingebunden, der das Schöne ins Komische verkehrt.55 Gerade im Licht dieser diversen historischen Diskurse muss Parkers Interesse und auch sein Impetus für den Auftrag der Patientenporträts gesehen werden. Bilder von Chinesen, die von einem Chinesen gemalt wurden und somit eine „Authentizität“ miteinbezogen, waren rar. Dies galt auch für Bilder von Pathologien dieser Größe. Zudem besaßen Werke, die im weitesten Sinne als „Chinoiserien“, als westliche Kunstgegenstände mit chinesischen Motiven, verstanden wurden, ebenfalls einen exklusiven Wert.56 Dabei konnte die einzigartige Erscheinung der Chinesen mit einer überdimensionierten Geschwulst im Porträtformat sowohl für Laien als auch für Mediziner unmittelbar verständlich gemacht werden.
1.4 Funktionen und Publikum Grundsätzlich muss von mehreren Funktionen der Patientenporträts ausgegangen werden. Diese sind eng mit dem Träger und der Größe der Bilder verknüpft. Die großformatigen Gemälde und Gouachen verweisen auf einen (performativen) Präsentations- oder (musealen) Ausstellungskontext, während die Aquarelle aufgrund ihres handlichen Formats und der dekorativen Seidenhülle eher als Geschenke zu verstehen sind. In diesem Zusammenhang wird deutlich, dass die Bilder sowohl an ein lokales chinesisches Publikum als auch an Zuschauer im Westen gerichtet waren. Dass die Aquarelle Geschenke für westliche Geldgeber waren, belegen historische Dokumente aus Boston. Die Werke stehen in Verbindung mit dem Anatomen und Chirurgen John Collins Warren. Nachdem Parker für die Verwirklichung seiner missionarischen Ziele am 17. April 1841 bei einem Treffen der Medical Association in Boston vorgesprochen hatte, sicherte ihm 55 Rosenkranz, S. 12. 56 Siehe Craig Clunas: Chinese Export Art and Design. Ausstellungskatalog Victoria and Albert Museum. Kent. 1987, S. 96.
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Warren, der im Zuge der Veranstaltung in den Vorstand der Bostoner Medical Missionary Society gewählt wurde, seine Unterstützung zu.57 Er hatte zudem 200 Dollar zugunsten des Krankenhauses gespendet. Parker konnte während seines Aufenthalts in Boston die Aquarelle, die er zuvor in Kanton in Auftrag gegeben hatte, Warren als Geschenke überreicht haben. Die Aquarelle gelangten schließlich durch Jonathan Mason Warren, Warrens Sohn, an die medizinhistorische Bibliothek in Boston.58 Gleichzeitig kann für die Aquarelle eine weitere Funktion vermutet werden. Parkers handschriftliche Berichte, die heute in der medizinhistorischen Bibliothek der Yale University aufbewahrt werden, enthalten unbeschriebene Blätter. Diese waren offenbar für Illustrationen vorgesehen. In der unteren rechten Ecke der Blätter sieht man die umklammerte Notiz „[plate and case number]“, die auf eine Bildtafel und eine Fallnummer verweist. Die Berichte sollten in den Annalen der Chinese Repository erscheinen und verlangten daher nach Illustrationen wie den Aquarellen. Für die handschriftlichen Berichte wären die Aquarelle als Abbildungen genauso naheliegend. Warum schließlich Bilder, in welchem Medium auch immer, weder in die handschriftlichen Berichte noch in die gedruckte Fassung der Zeitschrift aufgenommen wurden, kann nicht beantwortet werden. Als mögliche Gründe können eine mangelnde technische Umsetzbarkeit, die Texte zusammen mit den Bildern in der Kantoner Druckerei in einer hohen Zahl publizieren zu lassen, und die hierfür fehlenden finanziellen Mittel vermutet werden. Für die Gemälde kann gesagt werden, dass bereits im Jahr 1838 die Idee der Ausstellung innerhalb eines anatomischen Museums bestand: That this Society form a museum of natural and morbid anatomy, paintings of extraordinary diseases &c., to be called „the Anatomical Museum of the Medical Missionary Society in China“, and to be under the control of the committee of management.59
57 T. R. Colledge: „The Medical Missionary Society in China, Address with Minutes of Proceedings“. In: Memorabilia Concerning Dr. Peter Parker. 1888, S. 19 – 26. 58 Siehe dazu die Korrespondenz der BML mit Stephen Rachman aus dem Jahr 2006 im Archiv der BML. 59 T. R. Colledge, Peter Parker, E. C. Bridgman: „The Medical Missionary Society in China: Address with Minutes of Proceedings“. Kanton. 1838, S. 5. Funktionen und Publikum |
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Die Gründer der Medical Missionary Society (MMS ) beschlossen die Errichtung eines Gebäudes, das die Gemälde von Deformationen und seltenen Krankheitsfällen beherbergen sollte. Dass ein solches Museum tatsächlich in Kanton existiert hat, ist in den Berichten des Dr. John Kerr von der MMS aus dem Jahr 1865 überliefert: [a] museum had been started [at the Canton hospital] where specimens and collection of vesical calculi „as a result of operations“ were kept.60
Als Ausstellungsstücke nennt Kerr lediglich Präparate und Harnsteine, die in großen Körben gesammelt worden sind und so groß wie „Hühnereier“ gewesen seien.61 Lam Quas Patientengemälde werden jedoch hier nicht erwähnt. Der Bericht der MMS betont ferner die Ausbreitung der westlichen Medizin in China sowie die Unterrichtung junger Chinesen in dieser Disziplin. In diesem Sinne konnte das Museum zu Unterrichtszwecken für angehende chinesische Ärzte gedient haben, was das Beispiel von Kwan Taou deutlich gemacht hat. Obgleich die Gemälde ursprünglich für ein anatomisches Museum in Kanton bestimmt gewesen waren, entfalteten sie eine sichtbare Wirkung erst zu einem späteren Zeitpunkt. Circa 1840 hatte Parker Kanton aufgrund des Ersten Opiumkrieges verlassen und die Gemälde auf seine Reisen nach Europa und in die USA mitgenommen. Dort zeigte er die Gemälde im Rahmen seiner öffentlichen Vorträge.62 In einem Bericht schildert Parker, dass er die Bilder beispielsweise in Philadelphia und New York präsentiert habe: At one of the public meetings in Philadelphia, a large number of the medical students of the University of Pennsylvania, and of other medical colleges were present, several of whom were desirous of becoming medical missionaries to 60 John Kerr: Report of the Medical Missionary Society in China for the Year 1865. Kanton. 1867, S. 42 – 45. 61 „If one wishes to know the extent of the work done in the Hospital Clinic, [one] need only have a look at the collection of vesical calculi removed. Two large baskets, weighing about 130 pounds, were to be seen in the museum, and as many more has been taken away by the patients.“ Siehe William Warder Cadbury und Marie Hoxie Jones: At the Point of a Lancet: One Hundred Years of the Canton Hospital, 1835 – 1935. Schanghai. 1935, S. 177 – 178. 62 „Peter Parker’s Proceedings in Europe and the US“, S. 198 – 199. Zu Parkers Vorträgen in Großbritannien siehe Thomson: „Semi-Centennial of the Medical Missionary Society“, S. 17.
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China. (…) Stuyvesant Institute in New York, was numerously attended by medical students of different colleges, by merchants and by many other distinguished citizens. On this occasion, paintings of the more remarkable surgical cases were exhibited (…).63
Das Publikum schien in hohem Maße beliebig. Es waren „ausgezeichnete Bürger“, die sich mit seiner missionarischen Tätigkeit in Verbindung setzten oder davon profitieren wollten. Die anwesenden Medizinstudenten wollten selbst Missionare zu werden. Die Händler waren am Geschäft mit China interessiert und auf Kontakte vor Ort angewiesen. Darüber hinaus bestand das allgemeine Interesse, den amerikanischen Einfluss in dem vom Opiumkrieg geschwächten China auszuweiten. Gleichzeitig richteten sich Parkers Vorträge an mögliche Geldgeber, die bereit waren, das allein auf Spendenbasis finanzierte Krankenhaus in Kanton zu unterstützen. Die MMS erklärte sich schließlich bereit, die Krankenhäuser in China, die Unterrichtung junger Chinesen in westlicher Medizin sowie den Druck des Missionarsblattes zu finanzieren.64 Im Gegenzug verlangte die MMS Gemälde von „außergewöhnlichen Krankheiten“ sowie entsprechende Präparate. Damit zeichnet sich eine deutliche Nachfrage nach solchen Objekten ab. Sie erklärt aber nur teilweise den Antrieb für die massenhafte Herstellung der Werke. Laut der Vereinbarung fungierten die Bilder als „Zahlungsmittel“ im Rahmen eines Güteraustauschs. Im Westen sollten sie in anatomischen Museen, die sich an ein professionelles wie an ein Laienpublikum richteten, gezeigt werden. Eine solche Ausstellung kam beispielsweise bereits im Jahr 1845 in Boston zustande.65 Im dortigen anatomischen Museum wurden 28 Patientenbilder, von denen heute nur zwei in der Countway Library erhalten sind, präsentiert.66 Auf diese Ausstellung wird in einem weiteren Kapitel der Arbeit eingegangen.
63 „Peter Parker’s Proceedings in Europe and the US“, S. 198 – 199. 64 „(…) mature plans and support: and while it will the Society by pecuniary support of its hospitals, and educating Chinese youth of talent, in the healing art, in furnishing periodicals, and keeping this Society informed of the progress of medical and surgical sciences, the improvements in instruments and surgical apparatus & ct, it will expect in return such contributions to materia medica, paintings of remarkable diseases, and specimens of morbid anatomy, as it may be practicable for this Society to furnish.“ Ebd., S. 199. 65 Jackson, S. 316 – 318. 66 Der Verbleib der übrigen Bilder ist unbekannt. Funktionen und Publikum |
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Der Impetus für die Massenproduktion der Bilder kann jedoch nicht ausschließlich vor dem Hintergrund dieser zwischen Parker und der MMS getroffenen Vereinbarung gesehen werden. Wie bereits zitiert, erwähnen Parkers Berichte eine Hängung in einer höher gelegenen Halle des Krankenhauses in Kanton. Diese Hängung wird für die Gemälde wie für die Gouachen angenommen.67 Die Gemälde präsentierten sich nicht nur dem Blick des Besuchers und des Kranken, die Berichte machen ferner deutlich, dass die Bilder einen zentralen Platz in der im Krankenhaus jeden Samstag stattfindenden Messe des Konvertiten Liang Afa einnahmen.68 Dieser erklärte dem chinesischen Publikum, dass die Operationen in Einverständnis mit dem christlichen Gott und dank seiner Hilfe durchgeführt wurden. Im Zuge dessen deutete Afa auf die Bilder. In diesem Sinne fungierten die Bilder als Heilungsexempel des westlichen Arztes, der stellvertretend für den christlichen Gott die Heilungen durchführte, was im nächsten Kapitel näher erläutert wird. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, warum keine postoperativen Bilder von den Patienten gemalt wurden. Solche Gemälde hätten Parkers Position als heilbringender Mediziner und damit die Ziele der amerikanischen Mission in Kanton und in den USA unterstrichen. Diese Frage wird insbesondere vor dem Hintergrund von Parkers Kommentar zu den Patientenbildnissen im Londoner Guy’s Hospital relevant. Nach Edward Gulick hätten die Besucher des Guy’s Hospital nicht verstanden, dass die Patienten von ihren riesigen Geschwülsten befreit worden seien.69 Parker habe darauf hinweisen müssen, dass die Patienten tatsächlich von ihm selbst geheilt worden seien. Auch für das chinesische Publikum kann vermutet werden, dass zunächst nicht klar erkennbar wurde, dass diese Bilder auf Heilungen verwiesen, was dem Publikum aber dann durch einen anwesenden Sprecher vermittelt wurde. Tatsächlich bezeichnet Parker die Bilder ausdrücklich als „Illustrationen der Heilung“ („illustrations of cures“).70 Auch der Arzt J. C. Thomson spricht in seinem Bericht aus dem Jahr 1888 von Bildern, die „zunächst die Person mit ihrer Krankheit zeigen und dann die Erscheinung nach der Operation
67 13th Report. In: The Chinese Repository. 1845, S. 461. 68 14th Report. In: The Chinese Repository. 1848, S. 148. 69 Edward V. Gulick: Peter Parker and the Opening of China. Cambridge, Massachusetts. 1973, S. 105. 70 13th Report. In: The Chinese Repository. 1845, S. 461.
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darstellen“.71 Die Existenz solcher Bilder schildert ferner Dr. William Lockhart in seinen Tagebucheinträgen: Dr. Parker’s more remarkable patients, first showing the malady from which they suffered, and then the appearance after the patient was cured.72
Postoperative Darstellungen sind bis auf die Ausnahme der Bilder, die den Patienten Po Ashing nach seiner Armamputation zeigen, jedoch nicht erhalten.73 Vielmehr ist anzunehmen, dass die Patientenbilder grundsätzlich als präoperative Darstellungen konzipiert und auf die Präsenz eines Sprechers angewiesen waren. Damit korrespondieren sie mit Bildern aus der Kranken-Physiognomik wie den Porträts aus Karl Heinrich Baumgärtners Kranken-Physiognomik (1839), die grundsätzlich präoperative Darstellungen zeigen. Dieser Aspekt wird vor allem im sechsten Kapitel behandelt. In diesem Rahmen muss betont werden, dass Lam Quas Patientenbilder Teil einer Aufführung gewesen sind. Die Berichte legen dar, dass Parker und Liang Afa sich in ihren Vorträgen auf die Bilder sprachlich wie gestisch bezogen haben. Die Bilder waren explizit in ihre Reden eingebunden; Liang Afa deutete auf die Gemälde, wenn er die Heilungen des christlichen Gottes beschrieb, umgekehrt sprach Parker vor einem Publikum im Westen über die Heilwirkungen, die aus seiner Arbeit hervorgegangen waren. So kann vermutet werden, dass Parker die Operationen während seiner Vorträge simulierte. Er konnte seine Hände gebrauchen und den operativen Schnitt gewissermaßen „nachspielen“.74 71 „[F]irst showing the malady and then the appearance after the cure“. Thomson: „Semi-Centennial of the Medical Missionary Society“, S. 5. Solche Bilder erwähnt auch Dr. William Lockhart in seinen Tagebüchern aus dem Jahr 1861. 72 Siehe William Lockhart: The Medical Missionary in China: A Narrative of Twenty Years’ Experience. London. 1861, S. 171. 73 In einem Bericht erwähnt Parker, dass es sich bei dem Fall um die erste Armamputation, die in China durchgeführt wurde, gehandelt habe. Auch im Westen waren erfolgreiche Armamputationen eine Seltenheit, was die einzigartige Darstellung erklären würde. Siehe 4th Report. In: The Chinese Repository. 1837, S. 331. Und Atul Gawande: „Two Hundred Years of Surgery“. In: The New England Journal of Medicine. 2012, S. 1716 – 1723. http://www.nejm. org/doi/full/10.1056/NEJMra1202392 (letzter Zugriff: 28. Februar 2015). 74 In den Berichten ist zu lesen, dass Parker gestikulierte, als er die Operation beschrieb. Siehe den Fall von Leang Yen: „All were agreed that it was advisable to amputate the arm without delay. Though the patient did not understand what was spoken, she learned or surmised, from a gesture inadvertedly made, that Funktionen und Publikum |
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In diesem Zusammenhang dienten die Bilder, ganz im Sinne des Medizinhistorikers Douglas James, als Stellvertreter der Kranken, wenn Parker die Operation mit seinen Worten und Gesten an den Bildern wie an seinen Patienten „ausführte“. Parkers Worte, die die Operation des gewaltigen Tumors beschrieben, waren auf die Entfernung des riesigen Tumors und so auf einen „Überraschungseffekt“ ausgerichtet. In diesem Sinne wird deutlich, dass das Bild allein nicht die medizinische Evidenz kommunizieren konnte, vielmehr war es der anwesende Sprecher, der das Resultat der Operationen effektiv beschrieb. In diesem Rahmen wirken sich die Bilder unterstützend auf das zu dieser Zeit von den Ärzten propagierte Argument der Notwendigkeit der Chirurgie aus, die bis zur Entdeckung der Anästhesie im Jahr 1846 durch den Zahnarzt William Morton eine gefürchtete Methode darstellte.75 Die Bildnisse boten Parker eine „Aktionskulisse“; sie antizipierten den Überraschungseffekt, der in Parkers Worten kulminierte. Postoperative Gemälde hätten diesen Effekt sicherlich gemindert. In diesem Sinne verhielt sich das Wort als die finale Exekutive der göttlichen Heilung analog zu seiner Bedeutung in der Rhetorik der amerikanischen Mission, die die Streuung der christlichen Inhalte über der Installierung der Medizin in China anstrebte.76 Hier bleibt zu betonen, dass die Stellung des Wortes als göttliches Instrument mit der Doktrin der protestantischen Kirche, der Parker angehörte, eng korrespondierte.77 Nach den protestantischen Lehren war die Anbetung von Bildern der Kern der sogenannten „Idolatrie“ oder „Götzenverehrung“ und war damit untersagt. amputation was proposed (…)“. Siehe 9th Report. In: The Chinese Repository. 1839, S. 59. 75 Zur Einführung der Anästhesie in China siehe 14th Report. In: The Chinese Repository. 1848, S. 143. Zur Anästhesie im Westen siehe Jeremy A. Greene, David S. Jones, Scott Podolsky: „Therapeutic Evolution and the Challenge of Rational Medicine“. In: The New England Journal of Medicine. 2012, S. 1077 – 1082. http:// www.nejm.org/doi/full/10.1056/NEJMp1113570 (letzter Zugriff: 28. Februar 2015). 76 „The writer [Peter Parker] explained to them (…) that the healing of their physical maladies, gratuitous and important as it is, holds but a secondary place, the paramount object is to convey to them the knowledge of the Gospel, and its infinite blessings.“ Siehe 14th Report. In: The Chinese Repository. 1848, S. 148. 77 Siehe Richard Williams: „Reformation“ In: Art under Attack. Histories of British Iconoclasm. Hg. Tabitha Barber und Stacy Boldrick. Ausstellungskatalog der Tate Britain. London. 2013, S. 48 – 73, hier: S. 49.
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Infolgedessen wurden in der europäischen Reformation zahlreiche sakrale Bilder und Skulpturen zerstört.
1.5 Wer war der Urheber? In seinem Kommentar zu dem Bildnis von Lew Akin identifiziert Parker „Lamqua“ als den Urheber der Patientenbildnisse. Lam Quas Identität bleibt allerdings in der Forschungsliteratur umstritten. Nach Crossman handelte es sich bei „Lam Qua“ lediglich um einen Rufnamen, der zu Kommunikationszwecken zwischen westlichen Händlern und Kantonesen, vermutlich im kantonesischen Pidgin, verwendet wurde.78 Crossman entwirft eine Generationenkette, bestehend aus insgesamt drei Künstlern, die den Familiennamen Guan hatten.79 Diese waren von 1770 bis 1850 in Kanton tätig. Es handelte sich um die Künstler Spoilum, Lamqua und einen jüngeren Lam Qua. Ich beziehe mich auf den Letzteren und damit auf die getrennte Schreibung des Namens. Den älteren Lamqua identifiziert Crossman als Guan Zuolin. Dieser soll in den Jahren 1805 bis 1825 in Kanton gearbeitet haben. Er soll ferner der Sohn des Malers Spoilum gewesen sein, dessen Schaffenszeit auf die Jahre 1765 bis 1805 datiert wird.80 Der jüngste Lam Qua soll nach Crossman Guan Qiaochang geheißen und in den Jahren 1801 bis 1860 gelebt haben. Dabei wird seine Schaffenszeit in Kanton auf die Jahre 1825 bis 1850 angesetzt und stimmt mit der Entstehungszeit der Patientenporträts überein. Die Identifikation Lam Quas als Guan Qiaochang wurde von der neueren Forschung vollständig übernommen.81
78 In diesem Zusammenhang betont Craig Clunas, dass das Suffix „qua“ an chinesische Namen wie den des Händlers „Houqua“ von Europäern und Amerikanern angefügt worden sei. Es stellte eine Form des Respekts dar, der gleichbedeutend mit der Anrede „Mister“ oder „Esquire“ („Herr“) war. Clunas verweist dabei auf Samuel Coulings Eintrag in der Encyclopaedia Sinica, dem zufolge das Suffix „qua“ nur in Chinas Süden verwendet wurde und etymologisch auf das Wort „kuan“, einen Beamten, zurückging. Siehe Craig Clunas: Chinese Export Watercolours. Ausstellungskatalog Victoria and Albert Museum. Essex. 1984, S. 81. Zur Bedeutung des Namens „Lam Qua“ als Rufname siehe Crossman, S. 73. 79 Crossman, S. 55. 80 Ebd., S. 73. 81 Craig Clunas: Art in China. Oxford. 1997, S. 111 oder Conner, S. 263. Wer war der Urheber? |
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Auch wenn Parker Lam Qua als den Urheber der Patientenporträts identifiziert, kann die Tatsache, dass nur ein Künstler mit der Produktion der Bilder beschäftigt war, ausgeschlossen werden. Die Frage, ob es tatsächlich nur diesen einen Urheber gab, ist für die Forschungsliteratur bisher nicht von Relevanz gewesen.82 Allein mit Blick auf die zahlreichen Gemälde des Hauptkorpus und ferner auf die kleineren Sammlungen, die vermutlich zur gleichen Zeit entstanden, muss davon ausgegangen werden, dass Lam Qua über eine Werkstatt verfügte.83 Dieses Argument wird durch die Tatsache verschärft, dass sich die Gemälde des Hauptkorpus stilistisch untereinander sowie die einzelnen Korpora voneinander unterscheiden, was nachfolgend erläutert wird. Die Möglichkeit einer Massenproduktion der Patientengemälde ergab sich gerade aus dem Kontext der vor Ort ansässigen Künstlerwerkstätten, die Bilder und andere Artefakte in westlicher Manier für den Export in den Westen herstellten. Nach Clunas sollen diese Werkstätten bereits seit dem 16. Jahrhundert in Kanton bestanden haben.84 Seit ihren Anfängen waren die Exportkünstler auf die Anfertigung großer Bildkonvolute spezialisiert gewesen. Europäische Kunstmotive wurden auf der Grundlage von importierten Stichen kopiert und in verschiedene Medien wie Aquarelle, Gouachen und Porzellan übertragen.85 Solche Objekte waren für die Sammlungen westlicher Kuriositätenkabinette von großem Wert, was deren hohe Nachfrage und die Produktion erklärt.86 82 Die Autoren beziehen sich kritiklos auf Parkers Kommentar zum Bild von Lew Akin. Siehe Heinrich, S. 43, Rachman, S. 135, Gilman, S. 60, Finke, S. 324. 83 Parkers Berichten nach zu urteilen, muss Lam Quas Werkstatt über Jahre hinweg die Gemälde produziert haben. Die meisten erhaltenen Bilder können auf die Jahre 1838 und 1850 datiert werden. Damit ergeben sich zwei Produktionsphasen: Die eine fällt in die Zeit vor dem Ersten Opiumkrieg (1839 – 1842) und die andere Phase in die Nachkriegsjahre. Parker gab aufgrund einer britischen Blockade das Krankenhaus am 7. Juni 1840 auf und eröffnete es wieder am 21. November 1842. Siehe dazu Thomson: „Semi-Centennial of the Medical Missionary Society“, S. 18. Die ersten Bilder, die nach dem Opiumkrieg entstanden, wie das Bildnis von Wang I, können bereits auf das Jahr 1843 datiert werden. Der Patient wurde am 6. März 1843 behandelt. Die Beschreibung seines Falls erschien in der Chinese Repository im Jahr 1844. Siehe dazu 12th Report. In: The Chinese Repository. 1844, S. 305 – 306. 84 Clunas: Art in China, S. 196. 85 Ebd. 86 Ebd., S. 197.
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Die Werke richteten sich dezidiert an eine Käuferschaft in Europa und den USA.87 Im amerikanischen Peabody Essex Museum, das weltweit die größte Sammlung chinesischer Exportkunst aus Kanton und Jingdezhen, der sogenannten „Porzellanstadt“, beherbergt, finden sich zahlreiche Exportobjekte: Porzellan, Silberbesteck, Lehmfiguren, Ölmalereien, Lackgefäße und -möbel, Fächer, Seidenmalereien sowie Tapeten. Im westlichen Stil gefertigt, zeigen sie Darstellungen des Kantoner Hafens, vor allem der in Hafennähe befindlichen „Hongs“, die seit dem 18. Jahrhundert von westlichen Nationen zur Aufbewahrung von Gütern in der Freihandelszone genutzt wurden. Dieser Teil der Stadt wurde kaum von Chinesen aufgesucht, und wenn, dann nur, um Handel mit den Ausländern zu betreiben.88 Während die Exportwerke aus dem 18. Jahrhundert unmittelbar an Motive aus europäischer Kunst anknüpfen, zeigt sich am Anfang des 19. Jahrhunderts eine Hinwendung zur Porträtmalerei. Diese ist im Werk des Malers Spoilum zu sehen. Spoilum malte Porträts von kantonesischen und westlichen Händlern sowie von deren Familien, wie zum Beispiel die heute im PEM befindlichen Bildnisse von Martha Goodhue Wheatland und Richard Wheatland aus dem Jahr 1800. Dazu nutzte er das als westlich geltende Medium der Ölfarbe, die auf grundierten Tüchern aufgetragen wurde. Grundsätzlich ist anzunehmen, dass die Exportmaler bereits vor diesem Zeitpunkt Ölbilder herstellten, worauf chinesische Exportgemälde aus dem 17. Jahrhundert in europäischen Sammlungen schließen lassen.89 Als 87 Diesen Aspekt betonen zwei Hinterglasmalereien aus der Sammlung des amerikanischen Peabody Essex Museum. Sie zeigen das Porträt von George Washington sowie dessen Apotheose. Nach dem Tod von George Washington stieg die Nachfrage nach Porträts des ehemaligen Kriegshelden und Präsidenten. Nach Angaben des PEM soll ein amerikanischer Schiffskapitän ein Porträt von George Washington, das ursprünglich von Gilbert Stuart im späten 18. Jahrhundert gemalt wurde, nach Kanton gebracht und dort von einem Exportkünstler in 100-facher Ausführung, auf Leinwänden und in Hinterglasmalereien, beauftragt haben. 1801 soll Stuart in Philadelphia gegen den Verkauf dieser günstigen Werke vor Gericht gezogen sein und den Verkauf gestoppt haben. Siehe Informationstafel zur Hinterglasmalerei von George Washington aus dem Jahr 1800. PEM, Salem, USA. 88 Perdue: „Rise & Fall – I“. 89 Die Kenntnis der Ölmalerei wurde zuerst durch den Jesuiten-Maler Giuseppe Castiglione (1688 – 1766) am Hof des Kaisers Qianlong (1711 – 1799) übermittelt. Obwohl Castiglione chinesische Hofmaler in westlicher Malerei unterrichtet haben soll, sind alle seine erhaltenen Bilder vom Hof des Qianlong in Tinte und chinesischen Pigmenten auf Seide und Papier – nicht auf Leinwänden – Wer war der Urheber? |
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Spoilums nächster Verwandter hätte Lam Qua die westliche Ölmalerei von seinem Großvater erlernen können.90 Damit kann ein hartnäckiger Mythos relativiert werden, dem zufolge Lam Qua der Schüler des englischen Malers George Chinnery (1774 – 1852) gewesen sein soll.91 Dieser war durch seine Darstellungen der chinesischen und indischen Küstenregion bekannt geworden. Dieser Mythos wurde von der Forschungsliteratur wiederholt aufgegriffen, da Lam Quas Porträts der Händler und der Tumorpatienten sichtlich an Chinnerys Stil erinnern. Chinnerys Porträts aus China stellen Händler und westliche Handelsfamilien dar und zeichnen sich durch einstudierte Posen, die Betonung der Beschaffenheit der Materialen, wiederkehrende Hintergrundmotive sowie ein chiaroscuro aus.92 Lam Quas Porträts stellen ebenso ausdrucksstarke Gesichter und voluminöse Körper dar, die häufig in einem kolonialen Interieur gezeigt werden. Auch wenn stilistische Übereinstimmungen zwischen Lam Quas und Chinnerys Werk bestanden, bestritt Letzterer, dass Lam Qua sein Schüler gewesen sei.93 Diese Aussage würde mit seiner späten Ankunft in Kanton übereinstimmen. Denn Chinnery kam erst im Jahr 1825 nach Macao, das circa 100 km von Kanton, dem heutigen Guangzhou, entfernt ist. Es geschah zu einem Zeitpunkt, als Lam Quas Lehrzeit im Atelier seiner Familie vermutlich schon abgeschlossen war. gefertigt worden. Qianlongs Faszination für die westliche Malerei soll sich lediglich auf einige wenige Motive wie die Darstellung der Perspektive beschränkt haben. Grundsätzlich hat der Kaiser das Ölmedium ausdrücklich abgelehnt. Castiglione soll sich verpflichtet haben, seine Bilder nicht in Öl zu malen. Somit hatte die chinesische Malerei die westliche Darstellungsweise wie die Perspektive für ihre Zwecke appropriiert. Castigliones Anwesenheit am Hof soll ferner keine wesentliche Veränderung des chinesischen Darstellungsmodus bewirkt haben. Vielmehr ist anzunehmen, dass die Ölmalerei nicht am Hof des Qianlong in Peking, sondern in den Gemälden der Exportmaler fernab des Hofs in den Hafenstädten wie Kanton oder Macau Anwendung gefunden hat. Die Kunsthistorikerin Winnie Won Yin Wong betont, dass die Exportkünstler bereits seit 1760 die Ölmalerei beherrschten. Als frühestes Beispiel eines in Öl gefertigten Gemäldes nennt sie das Porträt von Matteo Ricci, das im Jahr 1610 entstand und heute in Il Gesù in Rom hängt. Zu Giuseppe Castiglione siehe Ting, S. 8 – 9. Zur Ölmalerei in Kanton siehe Wong, S. 8. 90 Clunas: Art in China, S. 111. 91 Conner, S. 263. 92 Ebd., S. 49. 93 Conner, S. 263.
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Auf die Tatsache, dass Lam Qua eine Werkstatt gehabt hat, weisen zeitgenössische Quellen wiederholt hin. Crossman bezieht sich auf den Zeitgenossen de la Vollée. In de la Vollées Tagebüchern ist zu lesen, dass in Lam Quas Atelier ungefähr 20 Lehrlinge arbeiteten: here were twenty youths copying drawings upon great rolls of white and yellow paper (rice paper). It would take a day to pass in review the pictures, the rolls of drawings and albums heaped up in the shop of LQ. This picture business in China is immense.94
Aus de la Vollées Beschreibung geht hervor, dass die Lehrlinge Zeichnungen auf Reispapier kopierten. De la Vollée bemerkt, dass einige Maler Porträts und Miniaturen auf Elfenbeintafeln herstellten und andere mit der Produktion von Ölbildern von Landschaften des Kantoner Hafens und mit Interieurs beschäftigt waren.95 Die Resultate ihrer Arbeit, die Rollen von Zeichnungen und Alben, stapelten sich in großer Zahl in Lam Quas engem Atelier, das im Erdgeschoss eines kleinen Ladens untergebracht war. De la Vollée macht keine Aussage darüber, ob die Maler europäische Vorlagen in Form von Stichen oder ob sie Lam Quas Zeichnungen kopierten. Seine Schilderung des Ateliers wird um die Beschreibung eines anderen Zeitgenossen, des britischen Chirurgen Toogood Downing, ergänzt. Dieser erwähnt acht bis zehn andere Maler. Auch er beschreibt das Kopieren als die wesentliche Arbeitsweise der Werkstatt und sagt ausdrücklich, dass die Lehrlinge westliche Drucke kopierten und die Motive in Öl, Aquarell oder auf Elfenbein übertrugen.96 Die kleine Größe des Ateliers lässt ferner eine enge Zusammenarbeit zwischen Lam Qua und seinen Lehrlingen vermuten, was zur Schlussfolgerung führt, dass die Lehrlinge eher keine eigenständigen Motive produzierten, sondern ganz im Sinne europäischer Werkstätten nach den Bildern des Meisters malten.97 Die von den Zeitgenossen geschilderte Situation des Kopierens von europäischen Stichen verweist darauf, dass es sich um 94 Crossman, S. 93. 95 Conner, S. 57. 96 Downing betont, dass die englische Bezeichnung „pith paper“ fälschlich als „rice paper“ („Reispapier“) übersetzt worden ist, was Downing nicht näher definiert. Womöglich handelte es sich um eine Form aus Bambus gefertigter Zellulose. Siehe Conner, S. 263. 97 Siehe beispielsweise zu Rembrandts Arbeitsweise Alpers. Wer war der Urheber? |
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eine grundlegende Arbeitsmethode handelte. Diese war mit großer Wahrscheinlichkeit nicht nur in Lam Quas Atelier, sondern auch in anderen Werkstätten in Kanton vorherrschend. Dieser Aspekt wird an dem oben erwähnten Aquarell des kantonesischen Hinterglasmalers aus dem Londoner Victoria and Albert Museum erkennbar. Im Aquarell kopiert der Künstler einen europäischen Kupferstich auf Glas. Das Kopieren von europäischen Stichen als wesentliche und generationenübergreifende Arbeitsweise der kantonesischen Exportmaler lässt ferner vermuten, dass Lam Qua allein von Chinnerys Bildern sich dessen Stil angeeignet haben könnte.98 Im Zusammenhang der Arbeitsmethoden muss betont werden, dass Lam Qua nicht nur den westlichen Stil, sondern auch die chinesische Malerei beherrschte. De la Vollée schreibt, dass über der Eingangstür zu Lam Quas Atelier, das gleichzeitig ein Geschäft war, ein Schild mit der Aufschrift „Lam Qua, English and Chinese painter“ gehangen haben soll.99 Einen Hinweis gibt ein zeitgenössischer Holzschnitt nach dem Stich von Auguste Borget (1808 – 1877), der Lam Qua im Jahr 1838 besucht hatte.100 In Borgets Stich sieht man Lam Qua an einer Staffelei sitzen. Er malt das Porträt eines Mannes. An den Wänden hängen zahlreiche Bilder, die im westlichen und im chinesischen Stil gemalt sind. Der Aspekt einer „hybriden“ Arbeitsweise wird durch die ebenfalls im Bild dargestellten westlichen Utensilien, eine Staffelei und eine Farbpalette, die der Künstler in seiner rechten Hand hält, betont. Bezeichnenderweise hält Lam Qua den Pinsel in chinesischer Manier, zwischen den vier Fingern seiner Hand, der Daumen scheint die Malbewegung seitlich zu dirigieren. Der Aspekt der Hybridität ist ferner in Lam Quas Version der „Grande Odalisque“ zu sehen, die nach Jean-Auguste- Dominique Ingres’ gleichnamigem Gemälde von 1814 entstand, wobei Lam Qua sein Gemälde in chinesischer und englischer Schrift signierte.101 Die Nähe von chinesischen und westlichen Elementen, die in Lam Quas Arbeitsweise und seinen Bildern manifest werden, kann als Ausdruck der tatsächlichen Nähe zwischen seinem Atelier und den westlichen Händlern 98 Chinnery soll sich in den Jahren 1816, 1817, 1828, 1829, 1832 in Kanton aufgehalten haben. Lam Qua und Chinnery konnten sich dort zu dieser Zeit begegnet sein. Doch auch ohne Chinnery unmittelbar getroffen zu haben, hätte Lam Qua dessen Bilder, vor allem die Porträts der kantonesischen Händler, überall in Kanton sehen können. Zu Chinnerys Aufenthalten in Kanton siehe Conner, S. 167. 99 Crossman, S. 77. 100 Conner, S. 57. 101 Crossman, S. 82.
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in der Handelszone des Hafens verstanden werden. Downing bemerkt, dass Lam Quas Atelier unmittelbar am Hafen in der China Street gelegen war.102 Somit befand es sich auch unweit des Krankenhauses von Peter Parker. Dieses war im Hong mit der Nummer 7 untergebracht, das dem Mediziner von dem Händler Houqua mietfrei und zur freien Verfügung übergeben wurde.103 Den engen Kontakt zwischen den Werkstätten und dem Krankenhaus betont eine Anekdote aus Parkers Berichten, die in Analogie zu der Serie der Patientengemälde verstanden werden kann. Der Patient Chúshú, der an einem Rückentumor erkrankt war, habe nach seiner erfolgreichen Operation einen Maler gerufen. Dieser sollte Parker als Dankeschön in einem Aquarell festhalten.104 Das Bild, das nicht erhalten ist, soll neben der Darstellung Parkers einen chinesischen Dankesvers enthalten haben. Damit verweist es auf die chinesische Bildtradition der Literati, die sowohl die Malerei als auch die Dichtung beherrschten und beide Kunstformen in ihren Bildern mischten. Womöglich handelte es sich bei diesem von Chúshú beauftragten Bild um ein Porträt, das an die Literati-Tradition angelehnt war. Doch es ist vorstellbar, dass das Bild in einem hybriden Modus gemalt war. Es könnte das westliche Porträtformat und einen chinesischen Dankesvers enthalten haben. In diesem Sinne können die Patientenbildnisse im spezifischen Kontext Kantons als Ausdruck einer interkulturellen Verständigung begriffen werden, die über einen eigenständigen hybriden Modus verfügte. Dabei waren Bilder fester Bestandteil des Alltags im Krankenhaus, der durch ständige kulturelle Missverständnisse geprägt war.105 Sie kommunizierten Inhalte, die nicht sprachlich ausgedrückt werden konnten. In diesem Sinne kommt eine distinkt kantonesische „hybride“ Bildkultur zum Vorschein, die Bilder zur Kommunikation nutzte. Diese setzte eine „visuelle Intelligenz“ voraus, die an einen hybriden Darstellungsmodus gebunden war. Für den Ausstellungskon 102 Conner, S. 57. 103 In einem Brief erwähnt Parker, dass Houqua ihm den Hong für die nächsten 20 Jahre mietfrei übergeben habe. Siehe dazu Stevens, S. 119 und 121. 104 „Before leaving the hospital the patient made repeated solicitations to be allowed to send an artist and take the portrait of the surgeon; his importunity was at length acceded to, and a portrait taken in watercolors, by the side of which on the same canvas, was the following inscription in poetry, and an account of his case, and what he had seen in the hospital.“ Siehe 15th Report. In: The Chinese Repository. 1850, S. 270. 105 Siehe beispielsweise den Fall der Leang Yen. 9th Report. In: The Chinese Repository. 1839, S. 59. Miller betont zudem, dass die Sprachbarriere chinesisch- amerikanischen Beziehungen ausdrücklich im Wege stand. Siehe Miller, S. 22. Wer war der Urheber? |
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text der Bilder im Krankenhaus ist anzunehmen, dass die Patientenbildnisse westliche Lehren visualisierten und diese gleichzeitig einem chinesischen Publikum nahebrachten.
1.6 Werkstätten und spezifischer Entstehungskontext Die obigen Ausführungen bezogen sich bisher auf Lam Quas Gemälde. Die Genese der Aquarelle und Gouachen der Tumorpatienten wird durch die Tatsache kompliziert, dass zahlreiche andere, auch unbekannte, Werkstätten, die auf bestimmte Medien und Motive spezialisiert waren, in der kantonesischen Handelszone tätig waren. Allein auf der Grundlage der Werke aus dem PEM können folgende Werkstätten, die im 19. Jahrhundert in Kanton tätig waren, identifiziert werden: die Werkstatt des Sunqua, die in den Jahren 1830 – 1870 Ölgemälde von Landschaften herstellte (zum Beispiel View of the Foreign Factories at Canton, 1865), die Werkstatt der Hinterglasmaler um Fatqua,106 tätig um das Jahr 1820,107 die Aquarellwerkstatt des Tingqua oder Guan Lianchang, der der Bruder Lam Quas gewesen soll,108 sowie die Werkstatt des Lam Qua.109 Auch wenn einige Werke darauf schließen lassen, dass sie von einzelnen Künstlern hergestellt wurden, ist anzunehmen, dass die Objekte grundsätzlich innerhalb einer Werkstatt, bestehend aus mehreren, nicht namentlich erwähnten Künstlern, entstanden.110 Beispielsweise sind die Werke aus der Werkstatt des Fatqua mit der Aufschrift „Fatqua Canton pixit“ („gemalt von Fatqua in Kanton“) versehen worden und beziehen sich auf die europäische Tradition der Signatur, die auf einen spezifischen Maler verweist und als Zeichen der Qualität und Authentizität verstanden wird. Damit sind die Aquarelle explizit an einen westlichen Betrachter adressiert. Die 106 Clunas bemerkt, dass das Glas aus dem Westen importiert werden musste. Clunas: Chinese Export Art, S. 116. 107 Crossman, S. 54. 108 Clunas: Art in China, S. 198. 109 Im PEM befindet sich Lam Quas Bildnis von Samqua, einem kantonesischen Händler, aus dem Jahr 1850. Dieses wurde von Augustine Heard (1785 – 1868) beauftragt und neben vier weiteren Bildern im Bostoner Athenæum 1851 ausgestellt. 110 Clunas betont, dass bereits in der frühen Phase der kantonesischen Export- Aquarellmalerei von Werkstätten und nicht von individuellen Künstlern gesprochen werden muss. Siehe Clunas: Chinese Export Watercolours, S. 73.
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quasi individuelle Signatur wird im Kontext der Exportkunst zur Signatur einer ganzen Werkstatt. Befragt man zeitgenössische Quellen nach der exakten Zahl der in Kanton ansässigen Exportkünstler, kann eine einheitliche Zahl nicht festgemacht werden. Einige zeitgenössische Quellen erwähnen 30 Atelier-Läden, die mit Reispapieraquarellen handelten.111 Crossman zählt für die Jahre 1785 bis 1900 35 Maler. Hierbei wird es sich wohl, wie Clunas daran anschließend vorschlägt, um die Namen der Werkstätten gehandelt haben. In diesem Sinne muss von einer höheren Anzahl der Maler ausgegangen werden. Auf eine solche Zahl verweist ein Bericht von S. Wells Williams aus dem Jahr 1848. Die Herstellung der Exportbilder hätte nach Wells zwischen „2000 und 3000 Händen“ in Anspruch genommen.112 Auf der Grundlage dieser Quellen spekuliert Clunas, dass mit Ausnahme der bekannten Werkstätten des Lam Qua und Tingqua viele weitere Werkstätten, die westlichen Besuchern unbekannt waren, existierten. Nach heutigen Angaben des PEM, die für die dort ausgestellten Objekte aus dem späten 18. und 19. Jahrhundert gemacht wurden, sollen insgesamt 250.000 Exportkünstler in Kanton tätig gewesen sein. Diese Zahl umfasst 25.000 Maler sowie eine nicht näher benennbare Anzahl von Bildhauern, Goldschmieden, Juwelieren, Tischlern, Lackmalern, Elfenbeinschnitzern, Fächermachern und Stickern. Vor diesem Hintergrund kann über den Entstehungskontext der Gouachen und Aquarelle nur spekuliert werden. Es ist wohl anzunehmen, dass die Aquarelle der Tumorpatienten aus der Aquarellwerkstatt des Tingqua, des Bruders von Lam Qua, stammen könnten. Darauf verweist das blaue Band der Patientenaquarelle, das auch um die Aquarelle des Tingqua gespannt wurde.113 In diesem Zusammenhang entsteht die Frage, wo die Patientenbildnisse genau produziert wurden. Gilman spricht davon, dass die Gemälde im Atelier des Künstlers entstanden.114 Doch dafür mangelt es in Parkers Berichten an Indizien. Vielmehr erscheint eine solche Praxis umständlich; die schwer kranken Patienten hätten sich durch die Handelszone aus dem Krankenhaus zu Lam Quas Atelier bewegen müssen. Eine solche Annahme 111 Ebd., S. 81. 112 Ebd. 113 Die mir bekannten Aquarelle des Tingqua stellen vor allem Blumen und Tiere dar. Daher können stilistische Übereinstimmungen in der Darstellung der Figuren nicht aufgezeigt werden. 114 Gilman, S. 62. Werkstätten und spezifischer Entstehungskontext |
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erscheint auch im Licht einer Aussage Parkers zur Lage des Krankenhauses abwegig. Denn die Patienten sollten in der Handelszone möglichst nicht bemerkt werden, daher seien die abgeschottete Lage des Hongs und zugleich der direkte Anschluss an eine Straße begrüßenswert.115 So ist eher anzunehmen, dass die Gemälde direkt im Krankenhaus gemalt wurden und dass die Maler im Krankenhaus anwesend waren. Eine solche Situation stünde in Verbindung mit den Arbeitsweisen der für Ärzte tätigen europäischen Künstler. Nach James waren Maler in Krankenhäusern bei der Diagnose anwesend und malten die Krankenporträts vor Ort.116 Grundsätzlich ist es vorstellbar, dass die Gemälde der Tumorpatienten im Krankenhaus gemalt wurden, während die Aquarelle, vermutlich zu einem späteren Zeitpunkt, im Atelier des Tingqua nach Lam Quas Vorlagen hergestellt wurden. Für die Gouachen können die Zugehörigkeit zu einer Werkstatt und der genaue Entstehungskontext nicht bestimmt werden.
1.7 Fluide Motive Im Licht dieser Ausführungen muss die Beziehung zwischen einem Originalbild, das als einzigartig und qualitativ hochwertig wahrgenommen wird, und seiner vermeintlich minderwertigen Kopie hinterfragt werden. Diese Beziehung wurde vor allem von der künstlerischen Moderne aufrechterhalten und muss für die kantonesische Exportkunst neu formuliert werden.117 Die Darstellung eines Menschen im Porträt, das auf dessen Individualität verweist, wird in der Exportkunst zu einem Motiv, das in verschiedenen Medien reproduzierbar wird. Die Singularität des Subjekts ist weiter an ein anderes feststehendes Konzept gebunden: den partikulären und namentlich benennbaren Künstler, der das Bild eines bekannten oder zumindest klar benennbaren Individuums malt und über einen einzigartigen „Stil“ verfügt.118 115 „Its retired situation and direct communication with a street, so that patients could come and go without annoying foreigners by passing through their hongs, or excite the observation of the natives by being seen to resort to a foreigner’s house, rendered it a most suitable place for the purpose.“ Siehe Parker zitiert nach Stevens, S. 121. 116 James, S. 222. 117 Siehe beispielsweise E. H. Gombrich: The Story of Art. New York. 1960, S. 121, 453. 118 Siehe beispielsweise Heinrich Wölfflin: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Das Problem der Stilentwicklung in der Neueren Kunst. München. 1917, S. 2.
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Im Zusammenhang der kantonesischen Exportkunst wird weiter die Signatur, die den westlichen Betrachter schlussfolgern lässt, dass ein spezifischer Künstler ein bestimmtes Bild gemalt habe, von vielen Künstlern gleichzeitig verwendet. Die Signatur, die unter ein Exportbild gesetzt wird, verweist nicht auf die tatsächliche Identität der Person, vielmehr handelt es sich um einen Rufnamen, der in interkultureller Kommunikation, und zwar nur im professionellen Rahmen, verwendet wurde. Im Folgenden soll von den Begriffen des Originals und der Kopie Abstand genommen und fortan die Bezeichnung der „fluiden Motive“ im Sinne eines materiell wie gedanklich, individuell wie im Kollektiv, rekurrierenden und zirkulierenden Bildes verwendet werden. Im Kontext der Patientenbildnisse sind damit Motive gemeint, die in gleicher Form mehrfach, sowohl in einem einzigen Medium als auch in unterschiedlichen Medien, existieren und ferner aus einem vollkommen anderen Kontext entnommen werden. Die Identifikation eines Originals, das einer Serie von „Duplikationen“ vorangegangen wäre, ist nicht mehr möglich, das exakte Ausgangsbild ist nicht mehr klar benennbar. Damit erinnern fluide Motive an postmoderne simulacra, die nach Jean Baudrillard und Gilles Deleuze unendlich wiederholbar sind.119 Diese sind der platonischen Idee von einem „Urbild“ und dem modernen Verständnis des „Originals“ grundlegend entgegengesetzt. Zeitgenössische Quellen und die Forschungsliteratur betonen unterdessen gerade die Bedeutung von „Originalbildern“, die mit den Gemälden aus dem Yale-Korpus konnotiert werden. Sander Gilman hat die Aquarelle in seinem Artikel aus dem Jahr 1986 bezeichnenderweise nicht als einen außergewöhnlichen Fund gedeutet, stattdessen hat er sie als „Vorzeichnungen“ diskreditiert. Damit wurden sie nicht als eigenständige Werke begriffen, sondern als Bilder, die auf andere Bilder verweisen und „Originalen“ untergeordnet sind. Die neuere Forschung hat die Aquarelle nicht weiter beachtet beziehungsweise Ausführungen zu den Aquarellen in Fußnoten verbannt. Zudem versteht die Forschung das Hauptkorpus grundsätzlich als die Sammlung von „Originalbildern“, während andere kleinere Korpora, wie die 23 Gemälde am Londoner Guy’s Hospital, als „Duplikationen“ betitelt werden.120 In diesem Zusammenhang bezieht sich die Forschungs 119 Siehe Jean Baudrillard: Simulacra and Simulation. Übers. Sheila Faria Glaser. Ann Arbor. 1994, S. 3 und Gilles Deleuze: Differenz und Wiederholung. Übers. Joseph Vogl. München. 1992, S. 167. 120 Heinrich, S. 42. Siehe auch die Korrespondenz zwischen Toby Appel (Yale University) und Jack Eckert (BML) vom 22. Oktober 2002 im Archiv der BML. Fluide Motive |
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literatur auf Parkers Bemerkung, die Letzterer während seines Besuchs am Guy’s am 1. Juni 1841 gemacht haben soll. Nach Peter Gulick soll Parker die Patientenbildnisse dort gesehen und sie nicht als Lam Quas Produkte erkannt haben; er bezeichnete sie stattdessen als „Kopien des Originals“.121 Tatsächlich unterscheiden sich diese Gemälde in ihrem Stil wesentlich vom Hauptkorpus und verweisen auf mehrere Urheber. Der Begriff der „Duplikation“ wird gleichzeitig für einige Bilder des Hauptkorpus verwendet, und zwar für die Gemälde, die auf der Rückseite mit einer zeitgenössischen Notiz versehen sind, die das Bild als „Duplikation“ kennzeichnet.122 Diese Gemälde stellen den gleichen Patienten dar. Die Aussonderung von Originalbildern auf der Grundlage einer vermeintlichen „Duplizierung“ wird durch die Tatsache erschwert, dass einige Gemälde, die einzeln vorhanden sind und daher „Originale“ zu sein scheinen, ebenfalls die Aufschrift der „Duplikation“ tragen. Damit verweisen sie auf ein „Original“, das heute nicht mehr existent oder das abhandengekommen ist. Diese Sachlage wird durch die Tatsache kompliziert, dass einige Gemälde, die tatsächlich mehrfach vorhanden sind und als Duplikationen erkennbar werden, keine solche Bezeichnung tragen. Ferner wurden die vermeintlichen Originalbilder aus dem Hauptkorpus weder von Lam Qua signiert noch besitzen sie Angaben zu ihrem Status als einzigartige Werke.123 Und doch wurden sie allesamt als Originale begriffen. Offenbar haben die Mitarbeiter des medizinhistorischen Archivs der Yale University bei der Inventarisierung der Gemälde im späten 19. Jahrhundert zweifelsfrei vorausgesetzt, dass sie Lam Quas Originale in den Händen 121 Diese Darstellung widerspricht den Angaben, die bezüglich der Gemälde vom Gordon Museum gemacht werden. Nach Bill Edwards, dem Kurator der Sammlung, soll Parker die Bilder selbst nach London gebracht haben. Allerdings befindet sich in der Besucherliste des Guy’s, die im 19. Jahrhundert beginnt, weder zu dem von Gulick erwähnten Datum noch zu einem anderen Datum ein Eintrag, der bezeugen könnte, dass Parker dort gewesen ist. Zu Parkers Aufenthalt in London siehe Gulick, S. 105. 122 Die Notizen machte höchstwahrscheinlich Dr. White. 123 Das Fehlen der Signatur scheint nicht üblich zu sein. Beispielsweise besitzen viele Export-Aquarelle, die aus Lam Quas Werkstatt stammen, die Aufschrift „Lamqua pixit“ („Lamqua malte dieses Bild“). Damit ist allerdings nicht gesagt, dass sie eigenhändig von Lam Qua hergestellt wurden. Siehe beispielsweise die Aquarelle von Möbeln, die sich im Metropolitan Museum of Art in New York befinden. http://www.metmuseum.org/search-results?ft=Lamqua&x=0&y0 (letzter Zugriff: 5. November 2014).
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hielten. In diesem Zusammenhang muss Parkers Aussage, der zufolge die am Guy’s befindlichen Gemälde „Kopien des Originals“ seien, erneut hinzugezogen werden. Womöglich war sich der Arzt der Existenz von Duplikaten gar nicht bewusst und war davon ausgegangen, dass Lam Qua grundsätzlich der Urheber der Gemälde sei und nur singuläre Bilder male.124 In diesem Zusammenhang kollidiert die Arbeitsweise der kantonesischen Werkstätten, die sichtlich um die Herstellung möglichst vieler Kopien bemüht waren, mit der im obigen Diskurs figurierenden Idee von der „Originalität“ eines Bildes. Zum zeitgenössischen Bildkonzept der kantonesischen Exportmaler liegen jedoch keine zeitgenössischen Angaben vor. Winnie Wong verwendet im Zusammenhang der heutigen Kopistenmaler aus Dafen den Begriff des gao.125 Dieser bezeichnet die unbetitelten fotografischen oder digitalen Vorlagen von bekannten wie unbekannten westlichen, vorwiegend modernen, Werken, die den Kopisten zur Herstellung des gewünschten Bildes von den Auftraggebern übergeben werden. Wong verweist hier auf den neuzeitlichen englischen Verlagskontext. In diesem Zusammenhang war die „Kopie“ das Originalmanuskript und umfasste zugleich das Recht, von diesem Kopien herstellen zu lassen. In diesem Sinne bezeichnet gao zum einen das Bild, das reproduziert wird, und zum anderen zugleich den Prozess seiner Zirkulation. Auf dieser Grundlage kann vermutet werden, dass ein zeitgenössischer kantonesischer Bildbegriff im Kontext der umfangreichen Werkstattpraxis und der Zirkulation der Bilder existiert hat. Der Begriff des Originals wurde hingegen vom Auftraggeber, von den Archivaren und von den Forschern auf die Patientenporträts übertragen; dies geschah auch angesichts der Bilder, die nicht von Lam Qua signiert wurden. Bedenkt man, dass die Porträts Zeugnisse der überdimensionierten 124 Es besteht die Möglichkeit, dass nicht Peter Parker derjenige war, der die Patientengemälde nach London gebracht hat. Es scheint, als seien die Gemälde bereits vor seiner Ankunft im Jahr 1841 nach London gelangt. Diese Theorie steht allerdings im Gegensatz zu den Aussagen, denen zufolge Parker die Bilder an das Guy’s Hospital gebracht haben soll, beispielsweise den Tagebucheinträgen von Dr. William Lockhart. Der Arzt, der am Guy’s Hospital ausgebildet wurde, assistierte Parker in Kanton im Jahr 1841 und konnte dort die Bilder gesehen haben. Lockhart behauptete, dass Parker die Bilder dem anatomischen Museum des Guy’s übergeben habe. Er nennt jedoch kein genaues Datum. Siehe Lockhart, S. 171. Zu Lockharts Assistenz bei Parker siehe „Report of the Medical Missionary Society“. In: The Chinese Repository. 1842, S. 660. 125 Siehe Wong, S. 17. Fluide Motive |
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Krankheitserscheinungen waren und zugleich die Relevanz der Operationen betonen sollten, wird deutlich, dass der Begriff des Originals für die Patientenbildnisse wesentlich erschien; er bezog eine Authentizität ein und signalisierte, dass die Geschwülste in diesen Ausmaßen tatsächlich vorhanden waren. In diesem Sinne wird im Folgenden nicht die Frage nach Originalbildern zu stellen versucht, sondern vielmehr die Frage, in welcher Beziehung die Korpora zueinander stehen. So gelangen eher Fragen nach der Arbeitsweise der Werkstätten und den Funktionen der Duplikationen in den Vordergrund. Wie sah die „Fluidität“ dieser Motivik konkret aus? 1.7.1
Zeichen der Fluidität
Die im Rahmen dieser Forschungsarbeit gesammelten Funde im medizinhistorischen Archiv der Yale University zeigen, dass das Malen von mehreren Bildern mit demselben Motiv eine gängige Praxis darstellte. Das Hauptkorpus enthält mehrere Motive zweifach: Bilder, deren Motive doppelt vorhanden sind und die gleiche Inventarnummer tragen, wie die Ölbilder von Chang Achun mit der Nummer 36 (Abb. 7 und Abb. 8), und andere, als Duplikationen bezeichnete Bilder, die mit keiner Inventarnummer versehen worden sind, wie das zweite Bildnis des Patienten Yáng Káng mit der Nummer 47. Darüber hinaus sind einzelne Bilder als Duplikationen gekennzeichnet worden, wie das Bildnis der an einem Brusttumor erkrankten Kwan Meiurh mit der Nummer 29. Somit wäre dieses Gemälde die Duplikation eines nicht existierenden „Vorgängerbildes“. Die beiden Gemälde des Chang Achun stellen einen Mann mit einem Gesichtstumor dar. Sein auffällig massiver schwarzer Torso ist frontal ausgerichtet und vor einem hellen Hintergrund gezeigt.126 Der Patient schaut den Betrachter direkt an. Gleichzeitig fällt der Blick auf die Geschwulst, die sich zu einem hängenden Pfropfen auf der rechten Seite seines Gesichts gebildet hat. Eine Gegenüberstellung der beiden Gemälde zeigt, dass die Darstellungen einen unterschiedlichen Malstil aufweisen und höchstwahrscheinlich von unterschiedlichen Künstlern gemalt worden sind. In der Abbildung 18 hat Chang Achun ausdrucksstarke Augen, die durch dicke Augenbrauen unterstrichen werden, was den Blickkontakt zum Betrachter betont. Dieser Aspekt scheint in der Abbildung 18a für den Künstler nicht relevant gewe 126 Das Gemälde, das in der Abbildung 18 zu sehen ist, hat wie die Abbildung 18a den gleichen beigen Hintergrund. Der ursprüngliche Zustand des Bildes ist aufgrund der dunklen Oberfläche nicht zu sehen.
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Abb. 7 Lam Qua/Werkstatt: Chang Achun. Öl auf Leinwand. Ca. 1845.
Abb. 8 Lam Qua/Werkstatt: Chang Achun. Öl auf Leinwand. Ca. 1845.
sen zu sein. Vielmehr liegt hier der Fokus auf der physischen Präsenz des Dargestellten; die Figur erscheint breiter, der Torso füllt das Bild zu beiden Seiten aus.127 Die Augen und die Lippen sind schmäler, der Kopf ist kantiger, das Gesicht wirkt durch die Hervorhebung der Wangenknochen markanter. Während der Künstler für das erste Gemälde warme Inkarnattöne verwendet hat, ist die Haut des Mannes in der Abbildung 18a porzellanfarben. Zudem wird die Geschwulst in dieser Abbildung durch einen distinkten Lichtreflex hervorgehoben. Dieser ist in der Abbildung 18a nicht zu sehen. Erweitert man dieses „Motiv-Set“ um die Gouache aus der Wellcome Library (Abb. 9), die ebenfalls Chang Achun zeigt, wird eine deutliche Ähnlichkeit mit der Abbildung 18a erkennbar.128 Die Eigenschaften des Gemäldes, wie die illuminierte Geschwulst, der prominente schwarze Torso, 127 Das Gemälde wurde in der Abbildung 18a vom Fotografen seitlich beschnitten. Tatsächlich ist der Dargestellte ebenfalls mittig positioniert. 128 In der Sammlung der Wellcome Library wurde Chang Achun fälschlich mit einer anderen Gouache in Verbindung gebracht. Diese Gouache zeigt ebenfalls einen Mann mit einem riesigen Gesichtstumor. Es handelt sich allerdings um einen anderen Patienten mit der Fallnummer 2752. Die Gouache, die Chang Achun zeigt, ist unter „A man with a pendent tumor below his right ear“ auffindbar. Siehe https://wellcomecollection.org/works?wellcomeImagesUrl=/ (letzter Zugriff: 28. Februar 2015). Fluide Motive |
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Abb. 9 Gouachen-Werkstatt aus Kanton: Chang Achun. Gouache. Ca. 1845.
die Frontalität der Darstellung sowie die markanten Gesichtszüge, kommen in übersteigerter Form in der Gouache zum Vorschein: Die Augen sind schmäler, die betonten Wangenknochen dunkler markiert, der Torso ist überdimensioniert groß. Zudem wurde der Abstand zwischen dem Kopf und dem oberen Bildrand deutlich vergrößert. Das beträchtliche Ausmaß des Torsos und der große Abstand zum Bildrand lassen das Gesicht disproportioniert klein erscheinen. Mit diesen Eigenschaften nimmt die Gouache stilistisch von den Gemälden Abstand, insbesondere von dem Gemälde in der Abbildung 18. Betrachtet man nun die beiden Aquarelle des gleichen Patienten (Abb. 10 und Abb. 11), zeigt sich, dass die Werke mit ihrer Betonung der ausdrucksstarken Augen des Mannes auf das Gemälde in der Abbildung 18 Bezug nehmen. Gleichzeitig haben die Aquarelle jeweils einen anderen Stil: Die sanften Gesichtszüge und die schmächtigen Schultern der Figur in der Abbildung 21 stehen im Kontrast zu der eher eckig geformten Gestalt in der Abbildung 20. Auch hier müssen zwei verschiedene Künstler als Urheber der Bilder angenommen werden. Ferner unterscheiden sich die Aquarelle 80
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Abb. 10 Aquarell-Werkstatt aus Kanton: Chang Achun. Aquarell. Ca. 1845.
Abb. 11 Aquarell-Werkstatt aus Kanton: Chang Achun. Aquarell. Ca. 1845.
von den Gemälden und der Gouache. Denn die dargestellten Torsi der Personen verschwimmen im unteren Teil des Körpers im weißen Hintergrund. Die Figuren füllen ferner den Bildraum nicht wie in den obigen Beispielen aus; stattdessen sind sie in einem kleinen Maßstab in der Mitte des Blattes positioniert. Anhand des Motivs des Chang Achun wird ein mögliches Entstehungsmuster nachvollziehbar. Als Ausgangspunkt der Produktion sind die Gemälde denkbar. Sie sind Variationen des gleichen Motivs. Nach dem Gemälde in der Abbildung 18 entstanden die Aquarelle, während die Gouache nach dem Gemälde in der Abbildung 18a gemalt wurde. Gleichzeitig wird durch den distinkten Stil der Aquarelle die Möglichkeit eröffnet, dass eine Aquarellwerkstatt fernab der Werkstatt des Lam Qua, beispielsweise die des Tingqua, mit der Herstellung von aquarellierten Bildnissen beauftragt wurde. Dass die Gouachen und die Gemälde eng in Beziehung stehen, zeigt ein weiteres Beispiel aus dem Hauptkorpus. Es ist das Bild einer liegenden Frau mit einem Brusttumor mit der Inventarnummer 17 (Abb. 12). Die Frau richtet ihren Oberkörper mit dem linken Arm auf. Während der untere Torso und die Beine im Kokon des Mantels verschwinden, legt sie mit ihrem rechten Arm eine nahezu quadratische Brust mit der Pathologie frei. Die Krankheit ist als eine rot umrundete Stelle mit einer darin enthaltenen dicken rot-gelb-weißen Umrandung gezeigt, die wiederum einen Fluide Motive |
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Abb. 12 Malerei-Werkstatt aus Kanton: Liegende Frau mit Brusttumor. Öl auf Leinwand. Ca. 1830.
schwarzen Kern umfasst. Zudem wird eine kleinere schmale Wunde links des Tumors sichtbar. Die Positionierung des Körpers besticht zudem durch einen strengen rechten Winkel des linken Arms, der den Winkel der unteren rechten Gemäldeecke spiegelt, wobei der Eindruck entsteht, dass sich die Person am Gemälderand abstützt. Mit der Darstellung der klotzigen Anatomie und dem puppenhaften Gesicht der Patientin unterscheidet sich dieses Gemälde deutlich von den anderen Ölbildern der Yale-Sammlung. Gleichzeitig sind diese Eigenschaften für einige Gouachen bezeichnend. Die Gouache aus der Wellcome Library, die die gleiche Patientin zeigt, bildet einen ähnlichen rechten Winkel in der Position des Arms ab (Abb. 13). Die Figur ist hier vom Bildrand zur Bildmitte gerückt, was die Stützfunktion des Bildrandes aufgehoben hat. So kann angenommen werden, dass diese Gouache nach dem Yale-Bild entstand. Der rechte Winkel im Gemälde scheint Teil der Bildkomposition gewesen zu sein, während der Winkel in der Gouache funktionsenthoben zu sein scheint, da er die Komposition unvorteilhaft teilt und wie „kopiert“ wirkt. 82
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Abb. 13 Gouachen-Werkstatt aus Kanton: Liegende Frau mit Brusttumor. Gouache. Ca. 1830.
Das Gemälde der liegenden Frau ist stilistisch einzigartig und doch steht es unmittelbar mit anderen Bildern aus dem Hauptkorpus in Verbindung. Ein zunächst unauffälliger, mit dem Hintergrund verschmelzender Vorhang, der in der linken Bildecke zur Seite drapiert ist, stellt hier die Verbindung her. Der Vorhang scheint außerhalb des Bildraumes der Figur angebracht zu sein und bedeckt die Füße der Frau. Somit werden ein bildinterner Außenraum und ein Innenraum kreiert. Dieses selbstreferentielle trompe-l ’œil korrespondiert mit der Tatsache, dass der Gemälderand als Stütze der Person in das Bildgeschehen miteinbezogen wird. Der Außenraum im Bild wie der tatsächliche Gemälderahmen erwecken den Eindruck einer Bühne. Auf dieser Bühne wird die Patientin dem Betrachter zur Schau gestellt. Auch das Gemälde mit der Nummer 20 zeigt einen solchen Vorhang, der in der sehr dunklen Abbildung des Yale-Archivs hinter der Figur zu erahnen ist. Das Bild stellt ebenfalls eine liegende Frau mit einem Brusttumor dar. Die riesige Geschwulst scheint aus der Brust der Frau zu wachsen. In der oberen linken Ecke sieht man den hochgezogenen Vorhang, der die Kranke enthüllt und wie auf einer Bühne präsentiert. Allerdings ist dieser Vorhang nicht als trompe-l ’œil konzipiert, sondern im bildinternen Raum hinter der Figur aufgespannt. Im Hauptkorpus haben nur diese beiden Bilder diese bühnenartigen Elemente. Ein ähnlicher Vorhang taucht wiederum in einem vollkommen anderen Kontext auf, in Lam Quas Gemälde der „Grande Odalisque“, das heute in der Sammlung des PEM zu sehen ist. Lam Qua malte das Bild nach einem Fluide Motive |
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Stich von 1825, der wiederum nach Jean-Auguste-Dominique Ingres’ gleichnamigem Gemälde aus dem Jahr 1814 entstand. Damit kann Lam Quas Gemälde ungefähr auf die 1830er Jahre datiert werden. Wie der Stich ist Lam Quas Bild seitenverkehrt. Im Gemälde liegt die nackte Frau auf einer dick gebetteten Unterlage, ihr Oberkörper ist leicht aufgestützt. Rechts im Bild sieht man einen rosafarbenen Vorhang, der in Ingres’ Gemälde blau ist. Dieser ist zur Seite gezogen und legt sich auf das linke Bein der Odaliske. Es ist vor allem das Format des Stichs, das mit seinem bildbegrenzenden Kontur eine Guckkastenbühne entstehen lässt. Dabei fällt auf, dass ausschließlich die Bilder von liegenden Frauen bühnenartige Versatzstücke enthalten. Sie beziehen sich auf das Motiv der liegenden Frau aus der „Odalisque“, das einen bühnenartigen Raum miteinbezieht. Auf diese Weise rekurrieren die Patientenporträts auf ein kunsthistorisches Motiv aus dem thematisch entfernten Kontext des Frauenakts in einem orientalischen Interieur. Auf diese Weise erinnern sie an Stiche aus europäischen medizinischen Atlanten, die ebenfalls kunsthistorische Motive wie das oben beschriebene Motiv des Marsyas wiederholen. Möglicherweise befand sich dieser oder ein anderer Stich der „Odalisque“ in Lam Quas Atelier, wobei das Motiv vom Meister oder einem Lehrling in die Produktion der Patientenbildnisse übernommen wurde. Diese Beobachtungen erlauben erste Schlussfolgerungen zur Produktion der Patientenporträts, die anhand der „fluiden Motive“ gemacht werden können. Die stilistische und motivische Nähe zwischen den Gemälden und den Gouachen lässt vermuten, dass die Künstler in Lam Quas Werkstatt sowohl mit dem Malen der Gouachen als auch mit der Herstellung der Ölgemälde beschäftigt waren und dass die Künstler, die womöglich auf ein Medium spezialisiert waren, eng zusammenarbeiteten. In der Werkstatt befanden sich westliche Vorlagen wie Stiche, deren Elemente in die Patientenbildnisse übertragen wurden. Zugleich kann angenommen werden, dass die Aquarelle in einer anderen Werkstatt entstanden. Mit der Darstellung einer im Raum schwebenden Person verweisen sie auf Darstellungskonventionen aus der Werkstatt des Tingqua, dessen Reispapieraquarelle sich durch filigrane, im Raum flottierende Figuren und Naturmotive auszeichnen. Damit kristallisieren sich zwei stilistische Modi heraus, die auf zwei unterschiedliche Werkstätten verweisen: der Modus des Lam Qua, der die Figuren durch eine körperliche Präsenz im Raum verankert, und der Modus des Tinqua, der die Figuren im Raum schweben lässt. Ferner macht sich eine rekurrierend-zirkulierende „Fluidität“, die zuvor als Bezeichnung für die Motivik verwendet wurde, auch an Lam Quas 84
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Arbeitsweise bemerkbar. In Borgets Stich von Lam Qua an einer Staffelei ist zu beobachten, dass der Künstler gerade nicht nach einem Stich malt. Er malt auch nicht eine im Atelier physisch anwesende Person, wie es im westlichen Porträtkontext üblich gewesen wäre. Lam Qua scheint das Motiv aus seinem Gedächtnis zu reproduzieren. So kann angenommen werden, dass der Künstler und seine Lehrlinge über ein kognitives Repertoire an Motiven verfügten, die sie kontinuierlich benutzten. Die Motive waren fester Bestandteil ihres Bildgedächtnisses, worauf bereits Winnie Wong im Zusammenhang der heutigen Dafen-Maler hingewiesen hat. Dabei wird das von Wong als gao bezeichnete Ausgangsbild, als Fotografie oder digitaler Träger, hier in Form eines Stichs, der von einzelnen Malern wiederverwendet und auch unter den Werkstätten zirkuliert wurde, verständlich.129 In den kantonesischen Werkstätten des 19. Jahrhunderts, die auf Massenproduktion ausgerichtet waren, konnte durch die Verwendung der „fluiden Motive“ eine zügige Ausführung des Bildes gewährleistet werden. Die Motive zirkulierten zwischen den Malern und den Medien und konnten zugleich im selben Medium in mehrfacher Ausführung auftauchen. Sie wurden ferner aus europäischen Stichen, aus bereits vorhandenen Bildnissen und partiell aus dem Bildgedächtnis der Künstler übernommen und weiter in die Patientenbildnisse übertragen, indem sie zusammengesetzt, versetzt und in einem anderen Maßstab gezeigt wurden. Zugleich offenbaren Parkers Berichte andere mögliche Funktionen der „fluiden Motive“. Eine solche Funktion wird an zwei Darstellungen des Patienten Yáng Káng erkennbar. Die Bilder zeigen die Büste eines Mannes mit einem riesigen Gesichtstumor. Das eine Bild stellt den gleichen Mann in einem größeren Maßstab dar.130 Das Bild wird von den Yale-Archivaren als Duplikation verstanden und ist daher nicht mit einer eigenständigen Inventarnummer versehen worden. Die rundliche Gesichtsform und die Gesichtszüge, die wie skizziert wirken, verweisen auf die Handschrift eines anderen Künstlers. In der Duplikation scheint die gesamte Büste mit dem Tumor in den Vordergrund gerückt worden zu sein. Doch dadurch wird die Darstellung des Tumors nicht etwa exakter, sondern lediglich größer. Die Ar 129 „In a sense, the imagined original always already existed in many circulated forms, including all of its reproducible forms, and all those held within the memory, knowledge, and skill of many painters.“ Wong, S. 20. 130 Das Gemälde trägt auf der Rückseite die Aufschrift aus dem Jahr 1914: „Not numbered by Dr. White. Appears to be the same case as 47 [Yáng Káng] but painted on a larger scale.“ Fluide Motive |
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terien, die die Geschwulst im Ausgangsbild durchziehen, wirken vergrößert und zugleich verschwommen. Die Andeutung der inneren Kompartimente durch Lichtreflexe ist zurückgenommen worden. Der Tumor ist ein nahezu monochromer Koloss. Damit liegt der Fokus des Bildes auf der Größe der Geschwulst und deren Relation zum Körper. Hier wird der Versuch erkennbar, den Tumor in einem späteren Wachstumsstadium und daher in einem größeren Maßstab abzubilden. Zieht man Parkers Fallbericht hinzu, wird jedoch ein anderer Aspekt deutlich. Die Duplikation betont einen Gesichtspunkt, der im zugehörigen Fallbericht lediglich tangiert wird. Im Bericht zu Yáng Káng konzentriert sich Parker vor allem auf die Darstellung der offenen Geschwulst. 131 Er schildert die Farben im Inneren des Tumors, die Flüssigkeit, die im Zuge der Operation nach außen getreten war, sowie die Konsistenz des kranken Fleisches. In einem Nebensatz erwähnt Parker, dass der Tumor eine große Belastung für den Kranken gewesen sei: „His burden, wearisome to bear for an hour, he could not put off for a moment, day or night, from year to year.“ 132 Der Arzt schreibt weiter, dass der überdimensionierte Tumor den Patienten daran hinderte, eine Beschäftigung auszuüben, und ihn zum Betteln zwang. Diese Belastung betont ein weiteres Bild, das, Dr. Whites Aufzeichnungen nach zu urteilen, auch Yáng Káng darstellt. Das Gemälde mit der Nummer 48 stellt den gleichen Patienten in einer Rückenansicht dar. Die Geschwulst steht vom Körper ab und zieht dabei das Ohr in die Länge. Sie wirkt wie eine Dopplung des Kopfes. Das Bild unterstreicht, dass die Geschwulst nicht abgelegt werden kann und eine sichtliche Belastung für den Patienten ist.
131 13th Report. In: The Chinese Repository. 1845, S. 451. 132 Ebd., S. 450.
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2 Der klinisch-christliche Blick
Dieses Kapitel rekonstruiert den klinisch-christlichen Blick des zeitgenössischen Betrachters, indem es die Rhetorik der Fallberichte untersucht und mit Lam Quas Gemälden zusammenbringt. Der aus dieser Zusammenfügung extrahierte Blick wird als klinisch-christlicher bezeichnet, da die Fallberichte und die Patientenbildnisse deutlich auf einen klinischen Kontext Bezug nehmen. Zugleich sind die Medien in eine christliche Rhetorik eingebunden, die um das satzungsgemäße Ziel der amerikanischen Mission, „Blinde“ von ihren Krankheiten zu heilen, kreist. Der Blick soll daher hier als tatsächlicher und als metaphorischer verstanden werden. In diesem Zusammenhang wird vor allem die Analyse einer Metapher des Lichts unternommen.
2.1 Amputation und Wiederherstellung In Parkers Berichten aus der Chinese Repository, die an ein professionelles wie an ein Laienpublikum in den USA adressiert waren, ist die Metapher des Blicks zentral: By the gracious aid of the Savior sight had been restored to the blind; the aneurism threatening speedy death had been healed, limbs had been amputated; the enormous tumor had been extirpated, the torturing stone extracted; whole nights without sleep had been spent in watching the patients; he asks not and receives not their money. His object is to do them present good, and to point them to eternal happiness.1
In Parkers Verständnis wird der „Blick“ („sight“) dem Patienten durch die Operation wiedergegeben; die Glieder werden amputiert, der marternde Stein extrahiert, der riesige Tumor exstirpiert. Die Gesundheit des Patienten wird paradoxerweise durch ein Eindringen und ein Entfernen eines überschüssigen Wuchses, eines kranken Glieds oder eines Harnsteins, wiederhergestellt. Der Körper wird auseinandergenommen, um wieder zusammengefügt zu werden. Der Arzt, der den intakten Körper eigentlich rekonstruieren soll, verletzt den Körper, indem er ihn öffnet. Nur unter Verwendung des
1 14th Report. In: The Chinese Repository. 1848, S. 150. Amputation und Wiederherstellung |
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Skalpells, eines westlichen medizinischen Instruments, kann der chinesische Patient von seiner schweren Krankheit befreit werden. Es ist ein Hergang, der den chinesischen Patienten unbekannt ist.2 In erster Linie beschreibt das Zitat die „Wiederherstellung“ des „Blicks“ („sight has been restored […]“). Es handelt sich zunächst um das faktische Augenlicht, das dem Patienten operativ wiedergegeben wird, zum anderen impliziert dieser Blick ein uneingeschränktes Sehen der christlichen Botschaft. In der Missionarsrhetorik gibt es grundsätzlich diejenigen, die sehen können, und diejenigen, die es nicht können: nicht nur aufgrund ihrer Krankheit, sondern weil sie den christlichen Gott nicht anerkennen; sie sind daher blind, taub und bewegungsunfähig, kurzum als „Ungläubige“ („idolaters“) zu verstehen: But their eyes cannot see, their ears cannot hear, their hands cannot handle, nor their feet walk (…). And for their encouragement they are told that other nations previous to the publication of the gospel were also idolaters (…).3
Zuletzt suggeriert Parker, dass die Krankheit durch die Hinwendung der Ungläubigen zur Bibel aufgehoben werden könne. Das metaphorische Nicht- sehen-Können und der medizinische Befund der Blindheit werden ineinander verschränkt. Die Unfähigkeit, den christlichen Gott zu sehen, wird pathologisiert, da aus der Perspektive des westlichen Autors der christliche Gott eine Selbstverständlichkeit darstellt. Es könne sich daher nur um eine Krankheit handeln, wenn diese quasi naturgegebene Tatsache nicht „erblickt“ werde. Die Wiederherstellung des Blicks ist ferner nicht im Sinne eines individuellen, zuvor vorherrschenden intakten gesundheitlichen Zustands zu verstehen, gemeint ist vielmehr die Wiederherstellung eines einzigen „universellen“ Blicks. Der Patient verinnerlicht diesen Blick, indem er sich für die Operation und damit für den christlichen Gott entscheidet. Der Arzt, der für die Operationen weder Geld verlangt noch entgegennimmt, verweist den Patienten auf sein „unendliches Glück“, das dem Patienten nach der Operation widerfahren könne. Diese Unendlichkeit ist rhetorisch der
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2 Shigehisa Kuriyama betont, dass die Anatomie den Chinesen wohlbekannt war, allerdings spielte sie keine Rolle in der chinesischen Medizin; vielmehr wurde sie im Rahmen des Strafvollzugs wirksam. Siehe Shigehisa Kuriyama: The Expressiveness of the Body and the Divergence of Greek and Chinese Medicine. New York. 1999, S. 155. 3 14th Report. In: The Chinese Repository. 1848, S. 150.
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Endlichkeit der Krankheit und des menschlichen Lebens entgegengesetzt. Selbst wenn die Operation missglückt, wird der Patient „unendliches Glück“ erfahren haben, allein dadurch, dass er sich in die heilenden Hände des westlichen Arztes und so in die Obhut des christlichen Gottes begeben hat. Damit ist der Blick, der wiederhergestellt werden soll, gleichzeitig der, der wiederherstellt; es ist der Blick des Arztes, der für die christliche Mission instrumentalisiert wird. So schildert Parker, dass zwar die Heilung der Krankheiten wichtig sei, aber diese erst an zweiter Stelle komme. In erster Linie gilt es, die Botschaft des christlichen Gottes zu kommunizieren.4 Der klinische Blick erscheint insofern als die Verlängerung des christlichen Gottes. In diesem Sinne wird die Operation als göttliches Instrumentarium lesbar. Mit dem Eingriff sollen den chinesischen Patienten die Augen geöffnet werden, damit sie zur „Wahrheit“ „vordringen“ können.5 Gleichsam dringt der Arzt operativ zum Kern des Patienten vor und „öffnet“ ihn tatsächlich zu dieser Wahrheit hin. Diese Wahrheit – das ist die christliche Botschaft („truth and excellence of Christianity“) und somit auch die Einsicht, dass der eigene Blick, der ohnehin blind ist, ein falscher sei. Der klinisch-christliche Blick penetriert den Patienten allumfassend. Dies tut er, indem er die Biografie des Kranken zergliedert. Die Berichte listen zunächst das Geschlecht, das Alter, die Herkunft, die soziale Stellung, den Beruf des Patienten auf und widmen sich daraufhin einer kurzen Schilderung seines Charakters. Zum anderen beschreiben sie sowohl den klinischen Befund als auch den chirurgischen Eingriff. Sie konzentrieren sich auf das Aussehen des Tumors, dessen Farbe und Konsistenz im offenen Zustand. Somit verfährt Parkers Blick wie der von Foucault formulierte klinische Blick, der mit der modernen Klinik und der pathologischen Anatomie im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert einsetzt. Er beruht in diesem Sinne auf einer Logik von Operationen: Der Blick bohrt sich nun in den Raum ein, den er zu durchlaufen hat. (…) In der anatomisch-klinischen Erfahrung sieht das Auge des Arztes die Krankheit sich ausbreiten und aufschichten, indem es selber in den Körper eindringt, indem es
4 „(…) that the healing of their physical maladies, gratuitous and important as it is, holds but a secondary place, the paramount object is to convey to them the knowledge of the Gospel, and its infinite blessings.“ In: 14th Report. In: The Chinese Repository. 1848, S. 148. 5 Siehe 15th Report. In: The Chinese Repository. 1850, S. 272 und 16th Report. In: The Chinese Repository. 1851, S. 26. Amputation und Wiederherstellung |
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sich zwischen seinen Massen vorarbeitet, indem es sie umgeht oder unterwandert, indem es in seine Tiefen hinabsteigt.6
Der ärztliche Blick will sich nicht nur mit der Feststellung des unmittelbar Sichtbaren begnügen, er will Farben, Variationen und Anomalien im Inneren des Körpers erfassen.7 Auch wenn Parkers ärztlicher Blick in den Berichten durch das Innere des Körpers schneidet, zeigen die Patientenporträts lediglich die Oberfläche des Körpers. Die Bilder zeigen eine Oberflächlichkeit, da die Krankheit scheinbar nur die Oberfläche des Körpers einnimmt.
2.2 Das Licht Die Engführung der Krankheit mit dem Heidentum durchzieht ebenfalls die lyrischen Dankesbriefe der chinesischen Patienten, die, so schildert es Parker, aus dem Chinesischen ins Englische übertragen wurden, um in der Chinese Repository abgedruckt zu werden. Aus der Zeitschrift geht hervor, dass an Parker adressierte Briefe mit Zeichnungen und Gedichten oder auch nur Bilder mit Dankesversen, wie im zweiten Kapitel im Zusammenhang des „Dankesbildes“ an Parker beschrieben, durchaus üblich waren.8 Wie diese Briefe entstanden, ob Parker beispielsweise seine Patienten dazu animiert hat oder gar die Briefe selbst schrieb, kann nicht beantwortet werden. Der Inhalt der Gedichte ist in jedem Fall von der Missionarsrhetorik beeinflusst: A fluid darksome and opaque, long time had dimmed my sight For seven revolving many years one eye was lost to light (…) The other darkened by a film, during three years saw no day High heaven’s bright and gradd’ning light could not pierce it (…) The fragile lens, his needle pierced: the dread, the sting, the pain, I thought on these and that the cup of sorrow I must drain;
6 Foucault: Die Geburt der Klinik, S. 150. 7 Ebd., S. 103. 8 Siehe beispielsweise den in der Chinese Repository veröffentlichten Dankesbrief zusammen mit einem Vers des Patienten Sié Kienhang. Der Brief entstand nach einer geglückten Tumoroperation. Siehe 16th Report. In: The Chinese Repository. 1851, S. 27 – 28.
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But then my memory faithful showed the work of fell disease, How long the orbs of sight were dark, and I deprived of ease. And thus I thought: if now, indeed I were to find relief: ‘Twere not too much to bear the pain, to bear the present grief. Then the word of kindness, which I heard, sunk deep into my soul. And free from fear I gave myself to the foreigner’s control.9
Im Gedicht wird die Krankheit, die das Heidentum des Patienten impliziert, als lichtundurchlässig beschrieben. Die Krankheit hatte zunächst ein Auge des Patienten mit einer dunklen Flüssigkeit blind gemacht und dann das andere mit einer undurchdringbaren Schicht verdunkelt. Die Krankheit ist dem hellen göttlichen Licht entgegengesetzt. Gleichsam operiert das göttliche Licht mit einer Metaphorik, die um die ärztliche Nadel aufgebaut ist. Diese Nadel sticht wörtlich ins Auge und verursacht Schmerzen. Wenn sich der Patient in der zweiten Strophe noch unschlüssig war, ob er die Operation zulassen wolle, so entscheidet er sich in der folgenden Strophe für den Eingriff. Dies geschieht nicht etwa wegen der Krankheit, die ihn so lange blind belassen habe, der entscheidende Impetus sei das „Wort der Güte“ des westlichen Mediziners gewesen. Das Wort, das aus der stechenden Lichtmetaphorik hervorgegangen ist, „sinkt“ in der letzten Strophe in die Seele des Patienten hinab. Mit diesem Wort in der Seele begibt sich der Patient in die Hände und zugleich unter die Kontrolle des westlichen Arztes, der gleichsam mit dem göttlichen „großartigen Mediziner“ („the great Physician“) assoziiert wird.10 Dass das Licht ein wesentlicher Bestandteil der Missionarsrhetorik war, wird auch in der kantonesischen Exportkunst deutlich, nämlich in Chinnerys Gemälde des Arztes Thomas Colledge aus den Jahren 1833 – 1835 (Abb. 14), des Vorgängers von Peter Parker in Macao, und in dem bereits beschriebenen Gemälde von Lam Qua, das Parker und Kwan Taou darstellt (Abb. 4). Beide Gemälde zeigen einen westlichen Arzt mit seinem chinesischen Gehilfen bei der Behandlung eines chinesischen Patienten. Das Geschehen findet jeweils in einem kolonialen Interieur statt. Die Bilder thematisieren die Heilung von Augenkrankheiten und damit verbunden die Installierung der westlichen Medizin und des christlichen Glaubens in China. Der Unterschied: In Lam Quas Bild ist es der chinesische Lehrling Kwan Taou, der
9 Der Brief befindet sich im Archiv der medizinhistorischen Bibliothek Whitney/Cushing der Yale University. Siehe Box 8, Ordner 9. 10 1st Report. In: The Chinese Repository. 1836, S. 468. Das Licht |
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Abb. 14 George Chinnery: Thomas Richardson Colledge, in seinem ophthalmischen Krankenhaus in Macau. Öl auf Leinwand. 1833.
die Operation durchführt. Chinnerys Bild zeigt hingegen den Arzt Thomas Colledge als den obersten Punkt einer Dreieckskomposition, bestehend aus fünf Figuren. Dabei sind die übrigen Figuren Colledge unterstellt; sie beugen sich, sitzen oder knien, sie ersuchen um die Hilfe des Arztes oder scheinen ihm zu dienen. Dabei dominiert die weiße Gestalt des westlichen Arztes das Bild. Aus dieser übergeordneten Position berührt Colledge die Schläfe einer chinesischen Patientin und ist gleichzeitig seinem Assistenten zugewandt. Er diktiert womöglich den Befund und die Methoden der Heilung. Im Vordergrund kniet ein Mann, der dem Assistenten ein Buch mit chinesischen Schriftzeichen, möglicherweise einen Dankesbrief, überreicht. Links im Bild wartet ein auf dem Boden sitzender Mann mit verbundenen Augen auf seine Behandlung. Der Bezug zur missionarischen Lichtmetaphorik ist 92
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frappierend: Der Mann befindet sich fernab des göttlichen Lichts, das im Fenster über ihm den Wolkenhimmel durchschneidet. Er ist diesem Licht mit dem Rücken zugewandt und kann es umso weniger sehen, als seine Augen verbunden sind. Der Patient sitzt auch fernab des Mediziners. Er befindet sich tatsächlich und im übertragenen Sinne im Dunkeln und wird nicht nur als Blinder, sondern auch als Heide gekennzeichnet. Während in Chinnerys Gemälde eine deutlich koloniale Sicht vorherrscht, liegt diese Perspektive in Lam Quas Bild in geminderter Form vor. Wie hervorgehoben, fungiert Kwan Taou als Parkers Verlängerung und als dessen Instrument. Anders als den Chinesen in Chinnerys Bild wird Kwan Taou ein Selbstbewusstsein zugebilligt. Er steht aufrecht und agiert. Gleichzeitig scheint Kwan Taou in die missionarische Lichtmetaphorik eingebunden zu sein. Denn er heilt nicht nur das Augenleiden des Patienten, er oktroyiert ihm wörtlich die westliche Sicht auf. In diesem Zusammenhang spielt das Licht eine wesentliche Rolle; es kommt zum einen aus dem Fenster, in dessen Rahmen es die amerikanische Flagge beleuchtet, zum anderen fällt zugleich ein weiteres Licht innerhalb des Interieurs von oben auf Parker und betont sein weißes Hemd, die Weste und sein helles Inkarnat. Während Lam Quas Gemälde lichtdurchflutet wirkt, ist Chinnerys Bild in ein chiaroscuro getaucht, das zwischen den vermeintlich zivilisierten – illuminierten – Chinesen und dem metaphorisch und physisch blinden – nicht illuminierten – Chinesen unterscheidet. Die Positionierung Parkers in der Bildmitte verdeutlicht, dass die Installierung des Lichts der westlichen Medizin und des christlichen Glaubens, das den Bildraum infiltriert, als sein Verdienst gedeutet werden kann. Wenn in den Berichten und den beiden Gemälden ein göttlich-klinisches, helles Licht offenbar wird, wird im gleichen Zug die chinesische Medizin als entstellende Spur dargestellt: She [the patient Lo Washun] has had a large tumor on the left side of the face for 20 years. As usual the traces of the cautery and escharotics were visible upon it, and the patient stated, that an incision had been made into it, the hemorrhage from which was with difficulty stopped.11
Die chinesische Medizin wird als gegenüber den riesigen Geschwülsten unwirksam beschrieben und bewirkt sogar eine Verschlimmerung des Zustands. Dabei hinterlässt das „Brenneisen“ („cautery“), das offensichtlich zur 11 5th Report. In: The Chinese Repository. 1837, S. 457. Das Licht |
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Entfernung des Tumors genutzt wurde, sichtbare Narben.12 Dagegen zeigt sich die Wirksamkeit der westlichen Medizin in den Berichten gerade in einer Unsichtbarkeit, die mit der Helligkeit des Lichts verschränkt ist. So wie das Licht alles ausleuchten kann, so eliminiert es bis zur Unkenntlichkeit all das, was sich diesem Licht darbietet. In diesem Sinne verfährt es wie die ärztliche Lanzette und hinterlässt keine Narben.
2.3 Die Lanzette Grundsätzlich bedienen sich die Berichte des Motivs des Schneidens, das rhetorisch an das Sehen gekoppelt ist und mit dem Fühlen einhergeht. Diese Rhetorik entfaltet sich vor dem Hintergrund der Tatsache, dass das Krankenhaus in Kanton explizit zur Linderung von Augenkrankheiten errichtet worden war. Es entstand im Rahmen einer missionarischen Zielsetzung, die die Medizin für ihre Ziele vereinnahmt hatte. Somit war das Motiv des Schneidens Teil der Lichtmetaphorik und wurde im Sinne des Sehens verstanden. Die Patientenbildnisse scheinen die Operation zu antizipieren. Im Bild von Yang She (Taf. 2) lässt die riesige Geschwulst einen langen Hautstrang unterhalb des Kinns entstehen. Ein heller Lichtreflex leuchtet das Volumen der Geschwulst, die in die Länge gezogenen Hautbahnen und damit die Distanz zwischen Körper und Tumor aus. Der Kontrast zwischen der ausgeleuchteten Geschwulst und dem vergleichsweise winzigen Gesicht antizipiert das Entfernen des Tumors. Das Gemälde schickt insofern das Bild des Körpers ohne Tumor voraus und lässt den Zustand nach der Operation oder vor der Erkrankung erahnen. Es legt, mit anderen Worten, den operativen Eingriff nahe. Wenn die Bilder die Operationen antizipieren, dann sind es Parkers Worte, die den chirurgischen Eingriff tatsächlich durchführen:
12 Im Bericht zu Leang Ashing spricht Parker ferner von der Anwendung der sogenannten „Moxa”, der Einführung des Rauchs bestimmter Pflanzen in den Körper. Siehe 4th Report. In: The Chinese Repository. 1837, S. 326. Zur Moxa siehe beispielsweise Brian M. Berman, Helene M. Langevin, Claudia M. Witt: „Acupuncture for Chronic Low Back Pain“. In: The New England Journal of Medicine. 2010, S. 454 – 461. http://www.nejm.org/doi/full/10.1056/ NEJMct0806114 (letzter Zugriff: 28. Februar 2015).
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Yang She, aged 20 of Hwanyuen, had a tumor pendulous from the chin and larynx. It commenced ten years since and the last years had been very cumbersome. The attachment beneath the chin was five inches in circumference. Centrally and horizontally it measured two feet three inches, and vertically three feet two inches. It extended below the umbilicus but not so as to rest in the lap; consequently its weight was sustained by the attachment, and the patient had to sit constantly in a bracing posture, to prevent its drawing down her head. The natural features were distorted, the cheeks being drawn tense by the weight of the tumor. The muscles on the back of the neck were preternaturally large, having been in constant action. Being in her fifth month of pregnancy the case was the more critical, but as the urgent request of her friends and with the approbation of several medical gentlemen, the tumor was removed in 12 seconds and the patient dressed and in bed in 20 minutes. With the exception of a single point an inch in diameter, the tumor was distinct from the surrounding parts as an egg in its nest. Seldom has there been less apparent suffering from so serious an operation, as there was manifested by the young woman. The wound healed kindly without any unpleasant symptoms. Her first attempts to walk were awkward, having lost so much „ballast“. (…) On December 17th, she returned, bringing her robust little son, two months old. Her features were assumed very much their natural form. (…)13
Parkers Narration widmet sich in erster Linie der Beschreibung des Tumors. Dabei benennt er zunächst die Position der Geschwulst zwischen Kinn und Kehlkopf. Darauf folgt die Beschreibung ihrer horizontalen, vertikalen und im Durchmesser gemessenen Größe, des Wuchses zum Bauch, aber nicht zum Schoß hin, des widernatürlichen Anschwellens der Nackenmuskulatur, der Deformation der Gesichtszüge. Entlang des Erzählstranges um das Anwachsen des Tumors und die Behinderung des Alltags – die Patientin musste den Tumor stets festhalten, um das Absinken des Kopfes zu vermeiden – widmet sich die Narration mit einem spannungsgeladenen Einschub der fortgeschrittenen Schwangerschaft der Patientin, der sekundenschnellen Entfernung der Geschwulst sowie der minutenschnellen Beförderung ins Krankenbett, die die Rekonvaleszenz beschleunigen sollte. Der Tumor wurde wie ein „Ei im Nest“ distinkt gemacht. Selten, so unterstreicht Parker, ist so wenig Leid bei einer Operation eines Tumors dieser Größe entstanden, wie es in diesem Fall gewesen ist. Nach einer Bestandsaufnahme der Wunde und der ersten Gehversuche der Patientin, die aufgrund des fehlenden Ballasts „seltsam“ erschienen, lässt die Narration 13 7th Report. In The Chinese Repository. 1838, S. 438. Die Lanzette |
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Yang She, nun mit wiederhergestellten Gesichtszügen und ihrem offenbar gesund geborenen, „robusten“ Sohn, erneut im Krankenhaus auftreten. Die Narration, die beschleunigt, um nach der Klimax, der Entfernung des Tumors, anzuhalten, um wieder zu beschleunigen, spiegelt die rapide Bewegung der ärztlichen Lanzette, die eindringt, schneidet, entfernt und wieder schneidet. Die klinische Berichterstattung verfährt wie der operierende Mediziner, der ohne die Anwendung der Anästhesie sekundenschnell agieren musste – mit Turboantrieb.14 Das, was die Lanzette entfernt, besitzt keinen besonderen Namen. Der Tumor, einmal als überdimensionierte Geschwulst, das heißt als der Impetus für den Eingriff, und einmal als separiertes Fleisch, als das Resultat der Operation, ist als medizinische Vokabel inhaltsleer. Die medizinischen Vokabeln, die Parker für den Tumor verwendet, sind an den Wuchs des Tumors und seine klinische Wahrnehmung und Behandlung gekoppelt. „Tumefaction“ oder „aneurysm“ sind im etymologischen Kern Synonyme für den Wuchs der Geschwulst; „tumefaction“ meint „Anschwellung“, „aneurysm“ bedeutet „Streckung“ oder „Erweiterung“.15 Die Vokabeln, die das Anschwellen des Tumors, sein Sich-Dehnen und Sich-Strecken, umschreiben, resultieren aus der Methode der medizinischen Beobachtung und Beschreibung. Auch die Adjektive „enormous“ („enorm“) und „exceeding“ („gewaltig“), die in Parkers Berichten im Zusammenhang des Tumors auftauchen, unterstreichen die gewaltigen Ausmaße und den Wuchs der Krankheit, sie konkretisieren jedoch keinen Inhalt. Dieser wird nur dann relevant, wenn der Tumor exstirpiert auf dem Operationstisch liegt und sein Inneres zum Vorschein 14 In China wurde die Anästhesie erst 1847 durch Parker eingeführt. Siehe 14th Report. In: The Chinese Repository. 1848, S. 143. 15 Der Begriff „tumefaction“ taucht im Englischen bereits im 16. Jahrhundert, in Jacques Guillemeaus The Frenche chirurgerye (1598) auf, während „aneurysm“ erst seit 1656 verwendet wird. Beide Wörter sind Synonyme für den Tumor, dessen Gebrauch im Jahr 1541 vom Oxford English Dictionary belegt wird. In Ambroise Parés chirurgischem Traktat von 1649 scheint der Begriff „tumour“, lateinisch für „Anschwellung“, bereits ein gängiger Begriff gewesen zu sein, der wiederum stellvertretend für den „Krebs“ („cancer“) stand. Nach Paré sei der Krebs ein „harter Tumor, rau, rund, immobil, aschefarben oder lebendig gefärbt, furchtbar zum Anschauen, angeschwollen mit schwarzem Blut.“ Ferner würden die Adern den Tumor so umfassen, dass seine Form an die Beine und Klauen des Krebses erinnere. Siehe die englische Ausgabe der Werke des Ambroise Paré: The Workes of that famous Chirugion Ambroise Parey [Œuvres, 1585]. London. 1649, S. 218 und zur Etymologie von „tumour“ http://www.oed. com/ (letzter Zugriff: 11. November 2014).
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kommt. Doch selbst dann findet die Narration keine konkreten Nomen für das Gebilde. Der Tumor ist ein Fleischstück, er ähnelt zuweilen einem „Schinken“.16 Häufig ist in der Geschwulst Flüssigkeit angestaut. Es handelt sich dann um einen „Ausfluss“ („discharge“), der bei den Operationen frei wird, abgeführt werden muss oder zuvor mit einem Korken am Austreten gehindert wurde.17 Während die oben beschriebenen Gemälde von Parker und Colledge deutlich als Illustrationen der Missionarsrhetorik verständlich werden, werden Lam Quas Patientenbildnisse als die Instrumente dieser Rhetorik wirksam. Die Abbildungen der Geschwülste verdeutlichen in dieser Rhetorik die Wirkungsmacht des göttlich-klinischen Lichts. Die Geschwulst, die in den Bildern zu sehen ist, wird unauflösbar mit einer Ästhetik der Amputation verschränkt. Die gewaltigen Tumore sind die sichtbarste aller Krankheiten. Umso mehr müssen sie entfernt werden. Gleichsam ist das Heidentum die größte Krankheit der Chinesen. Das Licht beleuchtet die Krankheiten und kennzeichnet sie als Anomalien, die entfernt werden müssen. Damit suggeriert das Licht den operativen Eingriff. Die Durchführung der Operation ist, wie im Gedicht des Patienten zu sehen war, rhetorisch dem Wort vorbehalten. Zum einen beschreibt es die Operation, zum anderen wirkt es durch Parker, der die Operationen vor einem Publikum im Westen verbal durchführt.
2.4 Empathie Die klinische Narration bedient sich einer vermeintlich objektiven Erzählperspektive, die durch das Passiv, wie im ersten Zitat des Kapitels zu lesen war, ausgedrückt wird: „Der Blick wurde den Blinden wiedergegeben, das Aneurysma wurde geheilt, die Glieder wurden amputiert, der riesige Tumor wurde exstirpiert“. Grundsätzlich legt der Bericht die Sichtweise des Arztes nahe, der stellvertretend für das westlich-christliche Kollektiv agiert. Der klinisch-christliche Blick wird dem Leser zunächst in der Position desjenigen, 16 „The best representation of the arm after the amputation, so far as shape is concerned, is that of a large ham of bacon.“ In: 4th Report. In: The Chinese Repository. 1837, S. 330. 17 „Woo Pun, aged 41, a shoemaker of Pwanyu, have been afflicted with a large unshapen tumor upon the left side of his neck. (…) it emitted a most offensive discharge. (…) The patient kept it closed with a stopple, every morning evacuating some ounces of offensive fluid.“ In: 7th Report. In: The Chinese Repository. 1838, S. 436. Empathie |
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der begutachtet, aufoktroyiert, dann in der Position desjenigen, der operiert, aktiviert. Dies geschieht durch die Inanspruchnahme der Empathie: zunächst mit dem Patienten als demjenigen, der unseren Augen dargelegt wird, und weiter mit dem Arzt, der die Operationen unentgeltlich durchführt. Damit wird eine bedingungslose Güte als Motivation für sein Handeln suggeriert. Dabei ist die Empathie der Missionarsrhetorik häufig mit einer Fußnote des Philanthropischen und zugleich des Militärischen, insbesondere im Sinne der Annexion, versehen: To restore health, to ease pain, or in any way to diminish the sum of human misery, forms an object worthy of the philanthropist. But in the prosecution of our views we look forward to far higher results than the mere relief of human suffering. We hope that our endeavors will tend to break down the walls of prejudice and long cherished nationality of feeling, and to teach the Chinese, that those whom they affect to despise are both able and willing to become their benefactors. (…)18
Über militärische Metaphern der „Verfolgung“ der eigenen Sicht und des „Abreißens“ der Vorurteile gegenüber den Amerikanern („break down the walls of prejudice“) entfaltet sich in hohem Maße eine philanthropische Vision der Minderung des Leides der Kranken, die hier eigentlich vorausgesetzt wird. In erster Linie will die amerikanische Mission die Chinesen „lehren“, dass diejenigen, die von Letzteren verachtet würden, ihre „Wohltäter“ seien. Auf der Folie des pädagogisch-philanthropischen Tons nimmt der Missionar eine übergeordnete Position gegenüber dem Patienten und der chinesischen Kultur ein. Gleichzeitig wird ein ethisches Argument bemüht: das der „imperativen Verpflichtung“ gegenüber den „nicht aufgeklärten“ Nationen; weil die „aufgeklärten Nationen“ über die Naturwissenschaften und die Philosophie verfügten, stünden sie in der Verantwortung, diese Methoden weiterzureichen.19 Die Mission scheint nicht nur heilen zu wollen, vielmehr will sie unterrichten, um Kontrolle über die Krankheit und die Erkrankten auszuüben. Die 18 T. R. Colledge, Peter Parker, E. C. Bridgman: „The Medical Missionary Society in China: Address with Minutes of Proceedings“, S. 12. 19 „(…) the obligation upon enlightened nations become imperative, to improve the opportunity afforded, of imparting to others the incalculable benefits received from the application of chemistry and natural and inductive philosophy to the subject of health, in the investigation of the causes and phenomena of disease and the means of controlling it.“ [Die obige Übersetzung stammt von der Autorin.] In: Ebd., S. 19 – 20.
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Narration, die sorgfältig in die Biografie des Kranken vordringt, informiert den Arzt über die Lebensumstände der Chinesen und erleichtert die vermeintliche Kontrolle. Die Ärzte sollen ferner die westliche Medizin effektiver propagieren und darin junge Chinesen unterrichten. Diese würden, so prognostiziert es der Bericht, die christlichen Lehren „weiterstreuen“, indem Letztere dann aus den Mündern der Chinesen selbst kämen.20 In diesem Sinne entwickelt die Narration eine auditive Ebene mit einer affektiven Wirkungsmacht. Die Patienten würden nicht nur hören, vielmehr würden sie fühlen, dass die Ausländer aus dem Westen gut seien.21 Dabei ist das Hören stets mit einer visuellen Ebene verschränkt: „Die Augen der Blinden sollen geöffnet, die Ohren der Schwerhörigen frei gemacht werden; die Gelähmten sollen wie Hirsche springen und die Zunge der Stummen soll singen.“ 22 Diese Aussage, die in erster Linie auf die zu heilenden Blinden Bezug nimmt, kann als das Motto eines Krankenhauses verstanden werden, das programmatisch auf die Heilung von Augenkrankheiten und somit auf die vermeintliche „Wiederherstellung“ der Sicht spezialisiert war. Insgesamt infiltriert die Missionarsrhetorik die Sinne: das Sehen, Hören und Fühlen. Sie agiert im Rahmen eines selbstreferentiellen Systems, in dem sie auf die Augen derer, die nicht sehen, und die Ohren derer, die nicht hören können, reagiert. Dabei fügt sie für den mangelnden Sinn ihr eigenes Produkt ein. Die Patientenbildnisse, die für einen Ausstellungskontext konzipiert waren, arbeiten somit gegen den mangelnden Sehsinn. Sie sprechen insbesondere diejenigen an, die faktisch sehen können, aber „spirituell“ nicht dazu in der Lage sind.
2.5 Das Krankenhaus als Gesamtkunstwerk Wie zu sehen war, hatte die Satzung der Medical Missionary Society aus dem Jahr 1838 die Ausstellung und Nutzung der Gemälde zu Unterrichtszwecken in einem anatomischen Museum festgelegt. Dass Lam Quas Gemälde in einen solchen Museum gezeigt wurden, ist nicht explizit belegt.23 Wir können aber als sicher annehmen, dass die Patientenbildnisse im Krankenhaus in
20 Ebd., S. 16. 21 Ebd. 22 Ebd., S. 26 [Übersetzung der Autorin]. 23 Cadbury und Jones, S. 177 – 178. Das Krankenhaus als Gesamtkunstwerk |
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Kanton gezeigt wurden. Sie waren Teil der Predigt des Liang Afa.24 In diesem Zusammenhang wurden biblische Heilungen im Krankenhaus „simuliert“. Nachdem Liang Afa die Heilungsexempel geschildert hatte, deutete er auf die Gemälde. Ferner setzte er seine Zuhörer darüber in Kenntnis, dass sie zweifach krank seien; ihre Krankheiten würden nicht nur ihre körperlichen Leiden betreffen, auch ihre Seele würde kränkeln. Damit legte der Prediger nahe, dass die Geschwülste die Resultate einer Gottlosigkeit seien, die den Anwesenden innewohne. Diese vermeintliche Krankheit könne nur noch der christliche Gott heilen. Die Bilder fungierten während der Predigt als die Stellvertreter der Kranken aus der Bibel. Und doch handelte es sich bei den Dargestellten um Chinesen. So wurde impliziert, dass die Heilungen des westlichen Gottes selbst in Kanton ihre Wirkung zeigen könnten und dass die christliche Botschaft für alle Gültigkeit habe. Wenn die Bilder zunächst ein Mediationsmoment der Bibel waren, bezogen sie sich in einem weiteren Schritt unmittelbar auf ihre Hängung und das Publikum im Krankenhaus. Die Kranken auf den Gemälden fungierten als die chinesischen Stellvertreter der Patienten im Krankenhaus. Zugleich galt Parker, der das Krankenhaus errichten ließ, als der lokale Stellvertreter Christi. Die Bilder richteten sich sowohl an Kranke als auch an Geheilte, die möglicherweise noch im Krankenhaus zugegen waren. Die Aktualität der Gemälde entfaltete sich je nach dem gesundheitlichen Zustand des Betrachters. Aus dem Ausstellungskontext ergibt sich, dass der Zustand des Kranken im Bild als vergangener verstanden wird. Zugleich impliziert das Bild ein Plusquamperfekt: eine Zeit, in der der Körper noch intakt war. Dieses Plusquamperfekt ist gleichzeitig ein Verweis auf die Zukunft beziehungsweise auf den geheilten Patientenkörper. Ferner sah sich der anwesende Kranke im Bild gespiegelt. Zugleich war es seine Anwesenheit, die durch die Präsenz des Kranken im Bild „verifiziert“ wurde. Für den Betrachter antizipierten die Bilder grundsätzlich die Heilung, die des Dargestellten und seine eigene. Dabei vermittelte Liang Afa, dass der Kranke selbst darauf Einfluss nehmen könne, ob er zu den Geheilten gehöre, indem er sich für die Operation und den christlichen Gott entschied. Die Gemälde wurden nicht nur im Kontext der Predigt wirksam, sie begleiteten zudem das Aufnahmeprozedere der Patienten ins Krankenhaus: In addition to the regular services at the Sabbath, since August last Liang Afa, the Chinese evangelist has attended every Monday, the day for admitting new 24 13th Report. In: The Chinese Repository. 1845, S. 461.
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patients, and follows the writer [Peter Parker] in a brief address, to the assembled crowd, of both sexes, and all classes, before they ascend to the hall above, explained to them the order to be observed in the institution and in registering their cases etc., and then stating to them, that the healing of their physical maladies, gratuitous and important as it is, holds but a secondary place, that the paramount object is to convey to them the knowledge of the Gospel, and its infinite blessings. One of the Gospels, or a Christian tract (…), are presented to each, and then they are admitted to the hall, where they are registered and prescribed for.25
Ergänzend zum regulären Samstagsgottesdienst, so schreibt Parker, begleitete Liang Afa montags die Aufnahme der Patienten ins Krankenhaus, die in einem höheren Stockwerk stattfand. Es war die gleiche Halle, die mit den Patientenbildnissen ausstaffiert war. Dort wurden die Krankheiten registriert, Rezepte geschrieben und die Operationen verordnet. Simultan wurde ein Vers aus der Bibel vorgetragen. Die Bilder waren somit das Erste, was derjenige, der zuvor die Verse aus der Bibel gehört hatte, erblickte. Dass die Dargestellten geheilt worden seien, legte vermutlich der Bibelvers nahe. Somit boten die Bilder den Patienten beim Einlass ein Identifizierungsmoment mit den Dargestellten in einer Umgebung, die ihnen grundlegend fremd war. Eine Medizin, die Körperteile abschnitt, war den Chinesen wie das Gebäude, das Kranke beherbergte, unbekannt.26 So verankerten die Bilder den Betrachter als Patienten im Gebäude des Krankenhauses. Sie waren nicht die Klimax der Missionarsrhetorik; vielmehr antizipierten sie die Wirkungsmacht des christlich-klinischen Gottes noch vor dem chirurgischen Eingriff, der quasi göttlichen Heilung.
2.6 Po Ashing Missionarsrhetorisch war das Tun dem Wort vorbehalten. Dabei fungierte das Wort als Instrument des christlichen Gottes. Mit dieser Prämisse wird 25 14th Report. In: The Chinese Repository. 1848, S. 148. 26 Beispielsweise schildert Parker im Bericht zum Fall seiner jungen Patientin Akae, dass der operative Eingriff in „aufgeklärten Ländern“ ohne Weiteres durchgeführt werden könne. Dagegen wurde eine Behandlung, die den Patienten zerstückelte, in China als Stigma empfunden. Siehe 1st Report. In: The Chinese Repository. 1836, S. 468. Po Ashing |
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Abb. 15 Lam Qua/Werkstatt: Po Ashing vor der Armamputation. Öl auf Leinwand. Ca. 1836.
hier die These verfolgt, dass die Gemäldeserie grundsätzlich ohne postoperative Bilder konzipiert war. Innerhalb einer Rhetorik, die um das Wort als letzte Exekutive aufgebaut war, wären solche Bilder redundant gewesen. Sie hätten die Wirkung, die von dem Wort ausging, und die Botschaft, dass die Operation effektiv durchgeführt worden sei, vorweggenommen und diese Rhetorik geschwächt. Nichtdestotrotz ist ein postoperatives Gemälde erhalten. Das Gemälde von Po Ashing ist das Zeugnis der ersten Armamputation in China (Abb. 16), deren erfolgreicher Ausgang zu dieser Zeit eine Seltenheit war. Das Gemälde ist womöglich Teil eines „Diptychons“, das zusätzlich das Bild vor dem Eingriff umfasste (Abb. 15). Das postoperative Gemälde ist nicht nur aufgrund seiner Existenz außergewöhnlich, auch die Motivik ist im Vergleich zu anderen Bildern, die den Patienten vor einem monochromen Hintergrund darstellen, markant anders. Es zeigt den Patienten mit entblößtem Oberkörper stehend vor einer hellen Berg- und Wasserlandschaft. Po Ashing blickt in die Ferne, einen Gebirgszug entlang. Somit reiht sich dieses Gemälde in die wenigen Bilder der Serie ein, die die Erkrankten in einer Landschaft, 102
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Abb. 16 Lam Qua/Werkstatt: Po Ashing nach der Armamputation. Öl auf Leinwand. Ca. 1836.
dies allerdings vor der Operation, darstellen: das Gemälde des Mädchens Akae und das Gemälde mit der Nummer 69. Letzteres zeigt einen namenlosen Mann mit einem deformierten Bein und stellt ihn ebenfalls vor einer Berg- und Wasserlandschaft dar. Der Kranke und Po Ashing stehen am Strand und präsentieren sich seitlich dem Betrachter. Das Bestreben des Malers, die Erkrankung beziehungsweise den Stumpf darzustellen, forciert die Profilansicht der beiden Männer. Doch während die Landschaft im Gemälde 69 lediglich als aufgespannte Aktionsfolie lesbar bleibt, wird die Landschaft im postoperativen Gemälde zum Bedeutungsträger. Dezidiert setzt das postoperative Bild den genesenen Po Ashing in einen offenen Raum außerhalb des Krankenhauses und verankert ihn gewissermaßen im Leben. Dagegen positioniert ihn das Bild vor der Operation im dunklen Interieur des Krankenhauses. Es stellt die Enge des Krankenhauses dar, die mit der körperlichen Behinderung verschränkt wird. Im postoperativen Gemälde blickt Ashing den Gebirgszug entlang, aus dem Bild, und er blickt gleichsam ins Leben, das vor ihm liegt. Diese Landschaft
Po Ashing |
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ist damit keine Staffage, sondern ein tatsächlich erfahrbarer Raum, den ein wiederhergestellter Körper erkunden kann. Versteht man die beiden Bilder als zusammenhängendes Diptychon, das im Krankenhaus zusammen gehängt wurde, muss man von einer Lesung von rechts nach links ausgehen. Denn der genesene Po Ashing schaut aus dem Bild in die vor ihm liegende Zukunft und gleichsam retrospektiv zu seinem vorherigen Zustand, nach links. Dabei suggeriert das Motiv des retrospektiven Schauens eine Diskrepanz zwischen dem, was war, und dem, was ist. Wenn Po Ashing in die Vergangenheit schaut, dann tangiert sein Blick eine Lücke: die Lücke zwischen den Bildern, die zugleich die Operation markiert. In diesem Zusammenhang macht das Format des Diptychons, das das Bild des Kranken und das Bild der Heilung zusammenbringt, den Patienten zum ersten Mal als solchen geltend. Während insbesondere diese beiden Patientenbildnisse sichtbar die Operation auslassen, sieht Parker die Notwendigkeit, gerade diesen Moment mit der Sprache festzuhalten. Im Bericht zu Po Ashing gilt sein Fokus der Amputation.27 Parker schildert, wie das Skalpell am Oberarm eindringt, der Arm aus dem Gelenk gelöst, entfernt und auf den Boden gelegt wird. Die Narration widmet sich dann dem Aussehen der Geschwulst nach der Operation; sie ähnelt einem „Schinken“. Zugleich fächert der Bericht ein Farbspektrum des Körperinneren und seiner Flüssigkeiten auf: On opening the abscess, a dark greenish fluid escaped, with considerable force but soon became darker and more bloody. Sixteen ounces were first discharged, but the character of the fluid was not decisive. (…) Opening the arm at the place where it was punctured the preceding day, a dark coffee-colored fluid gushed out. (…) Opening other cavities, there was a similar discharge and a quantity of matter resembling putrid crassamentum, of a light purplish color, or like the disorganized lungs of persons who have died of pulmonary consumption.28
Bei der Untersuchung wurde zunächst eine grüne Flüssigkeit frei, die zunehmend blutiger wurde. Als am Tag vor der Amputation der Arm geöffnet wurde, floss daraus eine kaffeefarbene Flüssigkeit, an anderen offenen Stellen sprudelte es leicht violett. An dieser Stelle beschreibt der Bericht nicht einen geschlossenen, kranken Körper, sondern den geöffneten, in einem transitorischen Zustand festgefrorenen, der kein individueller mehr ist, lediglich Flüs 27 4th Report. In: The Chinese Repository. 1837, S. 330. 28 Ebd., S. 329 – 330.
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sigkeit und Fleisch. Die klinische Narration ist in den Körper vorgedrungen und hat diesen seziert. Konträr dazu zeigen die Bilder kranke, aber nicht operativ fragmentierte Körper. Die Krankheit ist Teil ihrer (intakten) Gesamtheit. Möglicherweise hatte sich die Produktion weiterer postoperativer Gemälde gerade aus diesem Grund erübrigt. Denn das Bild des zerstückelten Körpers, dem, wie das Bild von Po Ashing zeigt, ein wesentlicher Körperteil abhandenkam, erschien furchteinflößender als das Bild der Krankheit. Ein solcher Körper, selbst in einer hellen und Hoffnung bringenden Landschaft eingebettet, konnte dem Patienten keine Perspektive bieten. Selbst ohne postoperative Bilder ist die Missionarsrhetorik eine totale, die im Raum des Krankenhauses, einem Monument kolonialer Architektur, ein Gesamtkunstwerk entstehen lässt.29 In diesem Gesamtkunstwerk, in dem zunächst gesprochen, gedeutet, gezeigt und operiert wurde, duplizieren die Gemälde den faktisch anwesenden Patienten. Die Bilder antizipieren die Operation und prognostizieren die Genesung, die in der Bibel beschrieben wird. In dieser rhetorischen Totalität des klinischen Interieurs schwindet die Individualität des Patienten, dessen Biografie entsprechend der missionarischen Zielsetzung mit einem alles penetrierenden Licht ausgeleuchtet wird. Sowohl im Krankenhaus als auch in der Rhetorik der klinischen Beschreibungen verkommt er zu einem Bild: dem Bild eines kranken Körpers, einer Staffage der Operation, einem farbigen Bild des Körperinneren, des separierten kranken Fleisches und, postoperativ, einem „Monument der Dankbarkeit“.30
29 Im Archiv der Medical Historical Library sind Fotografien des Krankenhauses in Kanton erhalten. Sie zeigen eine typisch koloniale Architektur: eine klassische Ordnung der Fassade, Säulen und Balustraden. Box-Nr. 9. Ordner-Nr. 3. Yale Medical Historical Library. Yale University. 30 „[Yáng Káng] A living monument of gratitude, witnessed by thousands who come thither. Though mild and gentle, he possesses much natural energy of character, and commands attention when the dense crowd requires him to raise his voice.“ Siehe 13th Report. In: The Chinese Repository. 1845, S. 452. Po Ashing |
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3 Porträt und Krankheit
Dieses Kapitel geht weiter auf Lam Quas Patientenbildnisse ein und untersucht vor allem Parkers Gebrauch der Begriffe „likeness“ und „representation“, die Letzterer bezogen auf die Bilder in den Fallberichten verwendet. Diese Begriffe scheinen zum einen einen künstlerischen Anspruch im Sinne des „Abbilds“ und zum anderen eine erkenntnistheoretische Funktion zu implizieren. In diesem Zusammenhang gelangt das Kapitel zum Begriff des Charakters, der seit der Neuzeit an das Medium des Porträts gekoppelt ist und besonders im 19. Jahrhundert zu einem universell gebräuchlichen Terminus wurde. Anders als in den Patientenbildnissen, die beispielsweise das Mädchen Akae in einer Landschaft und die Patientin Lo Washun in einem Interieur mittig im Bild zeigen, rückt in den meisten Gemälden der hell erleuchtete Torso des Dargestellten in den Vordergrund.1 Der Raum wird zu einer Hintergrundfolie gestaucht. Diese Darstellung erlaubt den Fokus auf die Büste der Person mit ihrer Krankheit. Im Folgenden soll diskutiert werden, inwieweit die Gemälde als medizinische Abbildungen beziehungsweise als Kunstobjekte zu verstehen sind. Angesichts der gleichzeitigen Darstellung der Person und der Krankheit wird versucht, die von Parker konträr verstandenen Begriffe „representation“ (als wissenschaftliche Darstellung) und „likeness“ (als kunstästhetischer Begriff ) zusammenzudenken. In den Bildkorpora kristallisieren sich zwei Motive des Porträts heraus: der teilweise oder vollständig entblößte Oberkörper mit Tumor und das Gesicht mit Tumor. Beide werden vor einer monochromen beigefarbenen Hintergrundplane dargestellt. Im ersten Fall enthüllen die sonst angezogenen Patienten einen von der Geschwulst befallenen Bereich, der für den Betrachter normalerweise verborgen bleibt. Die abgebildeten Personen stehen oder sitzen; nur zwei Gemälde, die Bilder mit den Nummern 17 und 20, stellen liegende Patientinnen dar. Befindet sich die Geschwulst am Bauch oder an der Brust, wird die Kleidung zur Seite drapiert. Zuweilen wird die Kleidung der Porträtierten vollständig abgelegt und offenbart einen nackten
1 Motivisch handelt es sich bei diesen beiden Bildern um Ausnahmen. Möglicherweise hatte sich die Ganzkörperdarstellung als medizinisch ungenügend herausgestellt und ist daher nicht fortgesetzt worden. Nähere historische Angaben liegen jedoch nicht vor. Porträt und Krankheit |
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Oberkörper mit der Krankheit. In einigen Bildern ist die Geschwulst auf einem entblößten Rücken zu sehen.2 In den Bildern, die den Dargestellten mit einem Gesichtstumor zeigen, ist der Patient vollständig angekleidet. Der Blick fällt dann allein auf das Gesicht mit der Geschwulst. Grundsätzlich ist zu beobachten, dass die Position des Tumors die Darstellung der Figur zu bestimmen scheint; ein Tumor, der seitlich des Gesichts wächst, verschiebt den Kopf in eine Dreiviertelansicht oder ein vollständiges Profil, ein Tumor an der Stirn lässt das Gesicht nach unten sinken, ein Tumor des Mundes zeigt den Dargestellten frontal. Obgleich die Dargestellten in vielen Bildern geradeaus blicken, schauen sie häufig am Betrachter vorbei.
3.1 „Likeness“ und „representation“ Parker äußert sich nur einmal zu Lam Quas Gemälden, und zwar als er von dem Bild seiner jungen Patientin Lew Akin (Taf. 3) spricht. In diesem Zusammenhang verwendet er zwei unterschiedliche Begriffe für das gleiche Gemälde: I am indebted to Lamqua (the Chinese artist) for an admirable likeness of the little girl, together with a good representation of the tumor.3
Parker hebt hervor, dass er in Lam Quas Schuld stehe, der ein bewundernswertes Abbild des Mädchens und eine gute „Repräsentation“ des Tumors abgeliefert hat. Es ist nun zu fragen, wie Parker die Begriffe „likeness“ und „representation“ verstand und welche kunst- beziehungsweise wissenschaftshistorischen Traditionen diese Termini miteinbeziehen. Das englische „likeness“, das im Zitat der Darstellung des Mädchens gilt, bedeutet in deutscher Übersetzung „Porträt“ oder „Abbild“; „representation“ bezieht sich einzig auf die Krankheit. Hinter dem ersteren Begriff steht ein künstlerischer Anspruch, der letztere impliziert einen didaktisch-empirischen und daher einen vermeintlich nichtkünstlerischen Ansatz. „Representation“, das aufgrund einer mangelnden deutschen Entsprechung für ein wissenschaftliches Bild nachfolgend im Englischen beibehalten wird, beschreibt im westlichen Dis-
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2 Hier sind die Gemälde des Patienten mit der Fallnummer 3438 und des Patienten Lí Akí gemeint. 3 6th Report. In: The Chinese Repository. 1838, S. 39.
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kurs ein Bild, das einen Raum zur Abbildung eines Dinges konstruiert.4 Ein solches Bild schaltet die Qualitäten der Farbe und der Textur aus beziehungsweise setzt diese Eigenschaften zur Betonung eines bestimmten Aspekts des Dinges ein. Damit erschafft es eine „Objektivität“. Der Begriff der „Objektivität“ ist an die Geschichte der Epistemologie gekoppelt. In der Philosophie des 18. Jahrhunderts war er der Subjektivität entgegengesetzt.5 Nach Lorraine Daston und Peter Galison, den Autoren des wissenschaftshistorischen Kompendiums Objectivity (2010), verschärfte sich die Polarität zwischen Subjektivität und „Objektivität“ im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend. Dies zeigte sich vor allem in den gegensätzlichen Konzepten des Künstlers und des Wissenschaftlers und den von ihnen genutzten oder hergestellten Bildern.6 Künstler wurden dazu angeregt, ihre Subjektivität auszudrücken oder gar offen darzulegen. Um als Kunst klassifiziert zu werden, musste ein Bild die „Persönlichkeit“ des Künstlers in sich enthalten. Dagegen sollte der Wissenschaftler seine Subjektivität verbergen. Nach Daston und Galison resultierten diese Konzepte in unterschiedlichen Bildbegriffen. Dabei beziehen sich die Forscher beispielsweise auf Aussagen der französischen Académie des sciences, die die panoramischen Fotos des Geologen Aimé Civiale von den Alpen als „treue Darstellungen der Begebenheiten“ betitelt hat.7 Eine solche Darstellungsweise sei in der Kunst „schrecklich“, lautete das Verdikt der Akademie. Und doch sei sie für die „bildliche Handhabung“ des wissenschaftlichen Objekts „begrüßenswert“.8 Mit diesen Eigenschaften sprachen das wissenschaftliche und das künstlerische Bild ein unterschiedliches Publikum an und generierten eine unterschiedliche Wahrnehmung. Allgemein gefasst sollte die Anschauung des vermeintlich „objektiven“ wissenschaftlichen Bildes auf einen dinglichen Fokus bezogen sein und so rezeptionsästhetisch emotionsfrei verbleiben, wogegen das Porträt im kunsthistorischen Bilddiskurs die Präsenz der abgebildeten Person statuiert und so dem Betrachter eine Art der emotionalen Auseinandersetzung abverlangt. In Bildnis und Individuum betont der Kunsthistoriker Gottfried Boehm, dass die Präsenz der Person im selbstständigen Bildnis, das sich im 15. Jahrhundert als eigenständiges Genre herausgeschält
4 Siehe Gottfried Boehm: Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens. Berlin. 2007, S. 110 – 111. 5 Daston und Galison: Objectivity, S. 36 – 37. 6 Ebd., S. 37 7 Ebd. 8 Ebd. „Likeness“ und „representation“ |
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hatte, sogar ein potentielles Handlungsmoment enthält, der soziale Beziehungen voraussetzt.9 Dem Porträtierten eröffne sich eine grundsätzliche Möglichkeit zur Handlung. In dieser Möglichkeit, die Boehm als „Handelnkönnen“ bezeichnet, liege die selbstverständliche „Anerkennung des Anderen, in welcher Form auch immer“.10 Nach Boehm manifestiert sich zwischen Abgebildetem und Betrachter demnach eine Kommunikation, die sonst nur in der tatsächlichen Begegnung mit einem anderen Menschen stattfindet. Vor einem Porträt fühle der Betrachter, dass er als Individuum wahrgenommen werde. Er werde über die Darstellung eines Menschen, der ihn anblickt, seiner eigenen Existenz gewahr. Caroline van Eck expliziert mit Bezug auf den Anthropologen Alfred Gell das Kunstwerk genauer als einen „sozialen Agenten“ im Rahmen eines „sozialen Aktionssystems“, wobei die Unterscheidung zwischen einem Agenten und einem nicht lebenden Ding eingeräumt wird; Bilder seien daher nicht lebendig („alive“), sondern „Agenten“ („agents“).11 Es stellt sich die Frage, ob diese beiden von der Wissenschafts- und der Kunstgeschichte als entgegengesetzt aufgefassten ästhetischen Klassifizierungen, die objektive des wissenschaftlichen und die subjektive des künstlerischen Bildes, diametral anders sind. Hier sei erneut auf Gottfried Boehm verwiesen. Für das wissenschaftliche Bild sei nach Boehm der „Anblick“, das heißt die Tatsache, wie das Auge „Einsichten“ gewinne, entscheidend. Der Betrachter erhalte einen „Anblick“, weil seine Sicht der Dinge auf die Oberfläche des Bildes übertragen werde. Er werde Teil des Bildes, das sich auf seine Sicht „hin-ordne“.12 Das bekannteste Beispiel eines solchen Wahrnehmungstransfers ist nach Boehm die Zentralperspektive. Das Modell der Zentralperspektive, das in der europäischen Kultur und Malerei zwischen 1430 und 1900 vorherrschte, habe „eine Anschauungspraxis in eine Darstellungsweise überführt“.13 Daraus folgt, dass wissenschaftliche Bilder intrinsisch die Sicht des Individuums miteinbeziehen, selbst dann, wenn sie kein Subjekt zeigen. In diesem Zusammenhang verweist auch die Etymologie von „representation“ auf die Stellvertretung von etwas oder jemand, darüber hinaus sei in dem Wort eine „Verkörperung“ („re-embodiment“)
9 Gottfried Boehm: Bildnis und Individuum, S. 29. 10 Ebd. 11 „Like real living persons they act upon the viewer.“ Van Eck, S. 20. 12 Boehm: Wie Bilder Sinn erzeugen, S. 100. 13 Ebd., S. 105.
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beziehungsweise eine Anwesenheit von etwas oder jemand enthalten.14 In diesem Sinne fungiert das Porträt als ein Medium einer solchen Repräsentation. Wie das wissenschaftliche Bild praktiziert es eine „Objektivität“; es neutralisiert gewissermaßen den Ausdruck des Dargestellten und mache ihn zum „Statthalter einer Welt“.15 Mit diesen Ausführungen kann die Unterscheidung zwischen einem Porträt und einem wissenschaftlichen Bild nivelliert werden. Denn im Fall beider Darstellungen handelt es sich um Bilder einer Stellvertretung und einer Anwesenheit. So wie der Betrachter durch die Identifikation mit dem Dargestellten im Porträt stets „mit anwesend“ ist, so ist er durch die „Ansicht“ im epistemischen Bild zugegen. Gleichzeitig ist im kunsthistorischen Diskurs der Begriff des Charakters grundsätzlich für die Darstellung einer explizit menschlichen geistigen Disposition reserviert. Diese wird seit der Neuzeit durch das Porträt dargestellt: Der Dargestellte im selbstständigen Bildnis repräsentiert eine Beziehung in seinem Charakter, d. h. der Einheit des besonderen, okkasionellen Moments und des in ihm angelegten allgemeinen Bezugs zur Welt. Am dargestellten Charakter, einem merkwürdig dargestellten Phänomen, das auf die Person zurück und von ihr weg auf die Welt verweist, lesen wir – in eine anschauliche Wahrheit gebracht – Erfahrungen ab, die jeder Mensch macht.16
Boehm betont hier die Existenz eines „okkasionellen Moments“ im Gesicht des Dargestellten. Im Porträt könne der Betrachter potentielle Handlungen des Gegenübers erkennen und mit seinen eigenen Erfahrungen zusammenbringen. Dies geschehe, obwohl wir die abgebildete Person nicht kennen.17 Gerade durch dieses „okkasionelle Moment“ sei uns aber die Person ähnlich, zugleich trägt ihr Abbild universelle Züge, die für alle Betrachtenden geltend gemacht werden können. 14 Das Oxford English Dictionary verzeichnet als wesentliche Bedeutung der „representation“ die Stellvertretung von etwas oder jemand im Sinne eines Handelns: „the action of standing for or in the place of a person, group“. Gleichzeitig wird der Aspekt des „re-embodiment“, der „Verkörperung“, erwähnt. Siehe den Eintrag zu „representation“ im Oxford English Dictionary. http://www.oed.com/ (letzter Zugriff: 28. Februar 2015). 15 Boehm: Bildnis und Individuum, S. 21. 16 Ebd., S. 30. 17 Ebd., S. 28. „Likeness“ und „representation“ |
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Dass der Charakter explizit an eine Person, vor allem an eine bekannte Persönlichkeit, gekoppelt war, zeigt insbesondere der englische Kunstdiskurs. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurden zwei mit dem Porträt konnotierte Begriffe unterschieden: „likeness“, die Ähnlichkeit mit dem Dargestellten, und „character“, die Essenz des Menschen. Diesen Aspekt verdeutlicht eine Diskussion, die in Großbritannien im Zusammenhang des Porträts, das zu diesem Zeitpunkt als Genre dem Historiengemälde unterstellt war, geführt wurde. Auch wenn das Bild die Büste eines Menschen abbildete, hieß dies nicht zwingend, dass es einen Charakter zeigte. Die Diskussion widmete sich der Frage, ob es die Aufgabe des Porträts sei, „likeness“ oder „character“ darzustellen. Diese beiden Positionen wurden durch die Maler Thomas Gainsborough (1727 – 1788) und Joshua Reynolds (1723 – 1792), den Präsidenten der Royal Academy, vertreten. Die Kunsthistorikerin Bettina Gockel bezieht sich in diesem Zusammenhang auf zeitgenössische englische Zeitschriften, die diese Diskussion zum Thema machten: (…) viele unserer gewöhnlichen Maler der Stadt können eine leidliche Ähnlichkeit treffen, aber bestenfalls ist diese Bemühung ihrer Kunst allgemein nicht mehr als oberflächlich. Während Sie mit Reynolds in die Charaktere eingeführt werden. Er arbeitet mit seinem eigenen Gemüt, und seine Porträts, und seine allein, richten sich ihrerseits an das Gemüt des Betrachters, über alle Porträt-Maler der Zeit hinausgehend !18 [Hervorhebungen im Original, Übersetzung aus dem Englischen von Bettina Gockel]
Der Begriff „character“ wurde als Attribut den Bildern Reynolds’ zugeschrieben. Dagegen galt „likeness“ als ein Bild, das, ohne große Anstrengung gemalt, nicht mehr als die Oberfläche des Porträtierten zeigen konnte. Es sei das Produkt gewöhnlicher Maler. Reynolds’ Bilder würden den Geist des Betrachters ansprechen, weil sie den Geist des Dargestellten tatsächlich verkörperten. In seinen Bildern wurden insbesondere die Konturen der Gesichter als die Umrisse des Geistes verständlich: He [Reynolds] „embodies thought“ and drawn into the features of the face, the lineaments of the mind.19
18 Gockel, S. 38. 19 Ebd.
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Mit dieser Eigenschaft korrespondierte die Malerei von Reynolds mit dem populären zeitgenössischen Diskurs der Physiognomik, die den Charakter der (dargestellten) Person insbesondere an den Konturen des Gesichts erkennen konnte. Während Reynolds zum Maler der geistigen Disposition auserkoren wurde, wurde Gainsborough als Maler des Körpers und der Oberfläche, der „Ähnlichkeit“ oder „likeness“, diskreditiert.20 Gockel betont, dass „likeness“ nicht nur wegen der einfachen Herstellbarkeit und Reproduzierbarkeit kritisiert wurde, sondern auch, weil es selbst unbekannte Menschen zeigen und selbst von namenlosen Malern produziert werden konnte.21 Die Ähnlichkeit allein hätte nichts auszusagen. Wenn im Kunstdiskurs des 18. Jahrhunderts „likeness“ eher negativ und ausdrücklich nicht als Charakterträger verstanden wurde, ist zu fragen, ob Parker im 19. Jahrhundert, der Epoche der Reproduzierbarkeit und der Omnipräsenz der portraiture in der Malerei und später in der Fotografie, „likeness“ ebenfalls im negativen Sinne verwendete beziehungsweise Lam Quas Gemälde nicht unmittelbar als Kunstgegenstände verstand. Eine solche Lesung verschärft der etymologische Eintrag zu „likeness“ im Oxford English Dictionary. Eine wesentliche Bedeutung der „likeness“ im 19. Jahrhundert war die der Kopie. Das Malen einer „likeness“ („to take a likeness“) implizierte einen häufigen Vorgang.22 So wird „likeness“ als ein Massenphänomen verständlich. Es ist folglich denkbar, dass „representation“ in Parkers Stellungnahme zum Gemälde der Lew Akin als ein Bild, das ohnehin „charakterlos“ ist, im gleichen Satz die Vokabel „portrait“, als Charakterträger und hochwertiges Kunstprodukt begriffen, ausschloss. Damit könnten „likeness“ als ein Bild, das lediglich eine Ähnlichkeit mit dem Dargestellten, aber nicht dessen Charakter zeige, und „representation“, das grundsätzlich nicht zur Darstellung des Charakters gedacht war, sich semantisch zu einem epistemischen Bild der menschlichen Büste ergänzen.
20 „The aim as well as the power, of these distinguished painters was different, and while the first [Gainsborough] was content to represent the body it was the ambition of the latter to express the mind.“ In: Ebd. 21 „(…) aber du lieber Himmel! Warum sollte jeder perückenbewehrte Kerl, ohne Miene oder Charakter darauf bestehen, seine Pausbacken auf einer Leinwand zu sehen?“ In: Ebd. 22 Siehe den Eintrag zu „likeness“ im Oxford English Dictionary, http://www. oed.com (letzter Zugriff: 3. Dezember 2014). „Likeness“ und „representation“ |
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3.2 Charakter und Krankheit Gemäß dem Kommentar zum Gemälde der Lew Akin sind die Patientenbildnisse „representation“ und „likeness“ zugleich. Damit scheinen sie im Rahmen des damaligen bild- und wissenschaftsgeschichtlichen Diskurses die Darstellung des Charakters auszuschließen. Und doch verweisen Parkers andere Berichte kontinuierlich auf einen Charakter, der den Patienten innewohnt. Insofern sollten die Bilder, auch wenn sie nicht unmittelbar als Kunstgegenstände verstanden wurden, einen Charakter anzeigen. In diesem Zusammenhang ist zu fragen, was Parker unter dem Begriff des Charakters genau verstand. Während Parker den Charakter im Zusammenhang der Bilder oder „likenesses“ semantisch aussondert, überhäuft er mit dem englischen „character“ seine Fallbeschreibungen. Dabei wird „character“ in erster Linie im Kontext der Krankheit gebräuchlich. Es findet Verwendung zum einen im Sinne einer spezifischen Eigenschaft des Tumors, dessen Beschaffenheit oder Konsistenz im Inneren der Krankheit, und zum anderen im Sinne einer universellen Eigenschaft der Krankheit. Dieser Aspekt zeigt sich beispielsweise in dem bereits zitierten Bericht zu Po Ashing. Als Parker Po Ashings Arm öffnete, sei daraus eine grüne Flüssigkeit geflossen, die zunehmend blutiger wurde.23 Diese Eigenschaften summieren sich zu einem „Charakter der Flüssigkeit“ („character of the fluid“). Ein konkreter Charakter des Tumors zeichnet sich in den Berichten nur diffus ab; der Tumor hat grundsätzlich einen „schlechten“ oder einen „anderen“ Charakter. Die Geschwulst, die sich im Gesicht der Patientin Akae erneut gebildet hatte, habe insgesamt einen „anderen Charakter“ gehabt. 24 Der Tumor eines anonymen Patienten, der die Größe eines „Hühnereis“ besessen habe, wird als ein Geschwür mit einem „schlechten Charakter“ beschrieben.25 In diesem Sinne benutzt Parker anthropomorphe Metaphern, um die Gestalt der Krankheit zu beschreiben. Der Tumor erhält einen Nacken – „In the center of the neck of the tumor was a cluster of small arteries, eight of 23 4th Report. In: The Chinese Repository. 1837, S. 329. 24 „The new one [tumor] was altogether of a different character from the former.“ Siehe 3rd Report. In: The Chinese Repository. 1837, S. 188. 25 „A tumor size of a hen’s egg had been eaten away from forehead by some caustic, followed by an ulcer of bad character extending over the temporal muscle.“ Siehe die Berichte von Dr. Moses White, Medical Historical Library, Whitney/Cushing, Box Nr. 9, Ordner Nr. 2.
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which required a ligature.“ 26 – und scheint damit über einen „Körper“ zu verfügen. So wird er zu einer pathologischen persona und wird konzeptuell mit einem menschlichen Individuum verschränkt. Gleichzeitig versuchen die Fallberichte den bestimmten Charakter des Patienten zu erkunden und in diesem Rahmen einen allgemeinen chinesischen Charakter zu induzieren. Die Berichte zeigen in diesem Zusammenhang grundsätzlich die Polarität zwischen einem „liebenswürdigen“ und einem „zweifelhaften“ Patienten. Die Patientin Lí Shí, die vor der Operation den Willen geäußert hatte, Christus ihren Glauben zu schenken, sollte sie die Operation überleben, sei voller „natürlicher Liebenswürdigkeit“ („natural loveliness of character“) gewesen.27 Auch Sié Kienhang, der ein „aufmerksamer Zuhörer der Worte Gottes“ gewesen sei, soll über eine „liebenswürdige Disposition“ („amiable disposition“) verfügt haben.28 Der Patient sei von der „Wahrheit des Christentums“ grundsätzlich überzeugt gewesen. Konträr zur Liebenswürdigkeit des Charakters einiger Patienten, wohlgemerkt derjenigen, die den christlichen Glauben angenommen hatten, oder derjenigen, die besonders dankbar für die Behandlung waren, erscheint der Charakter anderer Patienten „verdächtig“. Parker beschreibt den Fall des Patienten Wang Waekae, der unter zahlreichen Tumoren der Haut litt. Dabei besaß er einen „verdächtigen Charakter“ („doubtful character“).29 Seine „ein 26 8th Report. In: The Chinese Repository. 1839, S. 102. 27 16th Report. In: The Chinese Repository. 1851, S. 20. 28 „This patient was a literary man of good talents, and naturally an amiable disposition. He was a most attentive listener of the truth of the Gospel during his whole stay in the Hospital, and appeared intellectually, at least, convinced of the truth and excellence of Christianity.“ In: Ebd., S. 26. 29 „Tumor of the skin. Wang Waekae of Kaouyaou, aged 45, a man of doubtful character, had numerous small tumors of the skin, of a light flesh color and smooth shining surface, situated about the arms, breast, neck, and head. In the latter position one had attained a great size, hanging pendulous from his left ear, to which it was attached by a peduncle of two inches diameter, to an almost immovable base formed by a similar disease of the skin (…). The patient expressed a wish to have the large mass removed, but was impatient if the others were touched. Considering the age of the man it seemed inexpedient to remove the firm base, but was it easy to excind the unsightly jewel that hung dangling upon his breast, impeding his labor. His wishes were complied with. On the 23d May the operation was performed in a very short time. (…) The singular appearance of this man excited strong suspicions, particularly with his countrymen, that he might belong to a band of ruffians. His eyes were usually fixed upon the ground, his manners were most forbidding, and Charakter und Krankheit |
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zigartige Erscheinung“ habe die Chinesen befürchten lassen, dass der Mann ein „Rüpel“ („ruffian“) sei; seine Augen seien stets auf den Boden gerichtet, sein Benehmen ungehörig, seine Antworten so kurz wie möglich gewesen. Er habe den Verband nach der Operation mit großer Ungeduld getragen und entfernte ihn, entgegen der ärztlichen Verordnung, fortwährend. Obwohl man ihm im Krankenhaus alles Nötige zur Verfügung gestellt habe, sei er dennoch stets abwesend gewesen, bis er schließlich, nachdem der Verband vollständig abgelegt wurde, verschwand. Dem Bericht wohnt eine pathologisierende Logik inne. Der „verdächtige Charakter“ des Mannes, der an erster Stelle und im gleichen Satz mit seiner Krankheit erwähnt wird, steht mit dem Tumor in Verbindung. Sein vermeintlich ungehobeltes Verhalten im Krankenhaus sei das Resultat seines Charakters, wobei dieser Charakter durch die Krankheit, die „vielen kleinen Hauttumore“, spezifiziert wird. Dabei impliziert der Text eine Parallele zwischen der abstoßenden Gestalt der Krankheit, dem Verhalten des Mannes und dessen Charakter. In diesem Sinne wird der Tumor als die materielle Manifestation des Charakters verständlich. Aufgrund seiner „einzigartigen“ äußeren Erscheinung wird der Mann nicht nur als „verdächtig“ wahrgenommen, sondern ferner als kriminell eingestuft, indem der Patient zunächst als „Rüpel“ und zuletzt als (moralisch) „schlechter Mann“ („bad man“) betitelt wird. Im Zuge dessen wird die Krankheit des Mannes amoralisch konnotiert. Das Gemälde des hier beschriebenen Wang Waekae (Taf. 4) konstruiert ebenfalls eine Parallele zwischen dem Gesicht und der Krankheit. Der Patient ist im Profil gezeigt. Die Krankheit ist in das Porträt integriert worden; der Tumor setzt auf der linken Seite unterhalb des Ohres an, expandiert in der Breite des Gesichts zum Brustkorb hin und formt sich zu einer gewaltigen hängenden Geschwulst. Diese besteht aus zahlreichen kleinen Kompartimenten. Sie sind in verschiedenen Variationen des Inkarnats wiedergegeben: Diejenigen, die sich am Ohr befinden, sind hell gefärbt, diejenigen am Brustkorb sind dunkler und verweisen auf ein früheres Wachstumsstadium. Ein his answers to questions brief as possible. He bore with great impatience the necessary dressings upon the tumor, and repeatedly removed them at his option against the strictest injunctions, and was daily restless to be away, though he was provided with things necessary for his comfort. On the tenth day, the ligatures came away and soon after the patient disappeared and has not been heard of since. (…) The manner of his absconding strengthens the suspicions that he was a bad man, and but little accustomed to the civilities he received and witnessed in the hospital.“ In: 8th Report. In: The Chinese Repository. 1839, S. 102 – 103.
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weiterer Tumor macht sich am Hinterkopf des Patienten bemerkbar. Auch dieser Wuchs fügt sich in die Darstellung des Mannes. Die Geschwulst setzt den Kontur des Kopfes fort und leitet in den Zopf über. Es ist auffällig, dass die Tumore nicht über den Kontur des Körpers hinausreichen. Sie werden damit als integraler Bestandteil des Körpers gezeigt. Zugleich scheint die Geschwulst das Gesicht zu spiegeln. Das Bild zeigt damit einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem Gesicht und der Krankheit. Der Tumor ist mit der Person verbunden und rückt in den Vordergrund des Bildes. Mit der Aneinanderreihung des Gesichts und der Geschwulst im Bild und der gleichzeitigen rhetorischen Engführung des menschlichen Charakters und des Tumors wird mitnichten reine medizinische Präzision erreicht; vielmehr werden Person und Krankheit miteinander vermengt und austauschbar gemacht. So wie der Tumor einen „sonderbaren“ Charakter hat, so hat der Patient einen „verdächtigen“.30 Und so wie der Tumor die Gestalt einer „schwammigen Masse“ besitzt, so ist der chinesische Charakter nicht vollends dechiffrierbar und für den Amerikaner Parker nicht immer nachvollziehbar.31 In den Berichten konstruiert die Perspektive des westlichen außenstehenden Betrachters den Tumor zu einer Metapher, die stellvertretend für den chinesischen Charakter steht. In der wiederkehrenden Verwendung der Synonyme „Masse“ und „Substanz“ macht sich außerdem die Schwierigkeit des Arztes bemerkbar, dem Tumor einen genauen Namen zu geben. Sie resultiert aus einer allgemeinen linguistischen Hilfslosigkeit gegenüber einem Ding, das grundsätzlich und während der Operation nahezu abstrakt bleibt; einem Konglomerat, bestehend aus Fett, Eiter, Knorpeln, verfärbtem Fleisch und Blut. In Ermangelung einer klaren Draufsicht auf die Krankheit und so einer genauen Bezeichnung wird der Tumor mit der unklaren Vokabel der „Masse“ versehen. Diese epistemische Unklarheit korreliert mit dem allgemeinen Unverständnis gegenüber den Chinesen. 30 „March 5th (…) Tumor of peculiar character“. Siehe 8th Report. In: The Chinese Repository. 1839, S. 98. 31 In diesem Zusammenhang schildert der Arzt den Fall der Patientin Leang Yen, die nur dann in die Operation ihres Hand-Tumors einwilligen wollte, wenn sie dafür 200 Dollar bekäme. Dieses Verhalten schien mit der Gutmütigkeit des Arztes, der laut den Berichten kein Geld für die Operationen verlangte, unvereinbar gewesen zu sein und stieß auf dessen Unverständnis. Analog dazu beschreibt der Bericht den Tumor der Patientin als eine nicht näher definierbare Masse mit der Konsistenz des Gehirns. Siehe 9th Report. In: The Chinese Repository. 1839, S. 59. Charakter und Krankheit |
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Die Bilder treiben gerade diesen Zusammenhang zwischen Krankheit und Person voran. In den Bildnissen fällt der Tumor zusammen mit dem Gesicht unmittelbar in den Blick. Seine primäre Eigenschaft ist die seiner überdimensionierten Größe. Gleichzeitig scheinen die Tumore die Gesichter der Dargestellten zu spiegeln. Damit werden sie zu den Manifestationen ihrer inneren Eigenschaften. Diesen Aspekt haben der Fallbericht und die dazugehörige Darstellung von Wang Waekae gezeigt. Damit gelangen die Bilder in den Diskurs der im Zusammenhang der Maler Reynolds und Gainsborough erwähnten Physiognomik. Die Bedeutung der Physiognomik für die Medizin, insbesondere für deren Schnittstellen mit der medizinischen Semiotik, die sich gerade im 18. Jahrhundert herauskristallisierten, wird im fünften Kapitel diskutiert.
3.3 Stärke Da grundsätzlich viele unterschiedliche chinesische Charaktere koexistieren und diese nicht ausdifferenziert werden können, macht sich seitens der amerikanischen Mission der Anspruch bemerkbar, einen bestimmten chinesischen Charakter aus der Fülle der individuellen Charaktere zu extrahieren: (…) some more particular notice is subjoined of a few cases, chosen, in general, less from any interest attaching to them in a medical point of view, than from circumstances in them illustrative of Chinese character, customs, and habits of thought and action.32
Die Aufmerksamkeit der Fallberichte gilt einigen Patienten, die nicht vom medizinischen Standpunkt interessant seien, vielmehr wurden sie ausgewählt, weil sie den chinesischen Charakter „illustrierten“. Dieser könne an „den Sitten, dem Denken und Handeln“ erkannt werden. Die Berichte betonen vor allem die Fähigkeit der Chinesen, die Operationen ohne Anzeichen von Schmerzen zu ertragen.33 Grundsätzlich kann gesagt werden, dass vor der Einführung der Anästhesie im Jahr 1846 durch den Zahnarzt William Morton (1819 – 1868) in 32 10th Report. In: The Chinese Repository. 1839, S. 8. 33 „The patient endured the operation with fortitude characteristic of the Chinese. The loss of blood was considerable; she vomited but did not faint.“ Siehe 5th Report. In: The Chinese Repository. 1837, S. 457.
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Boston und 1847 durch Parker in Kanton Patienten unermessliche Schmerzen während der Operationen erleiden mussten.34 In einem berühmten Artikel zur erstmalig geglückten Anwendung der Anästhesie schreibt der Arzt Henry Jacob Bigelow (1818 – 1890), dass die Eindämmung von Schmerzen lange ein zentrales Problem der Medizin gewesen ist. Mortons Applikation des Ethers erlaubte es, Schmerzen zu lindern.35 Dass Schmerzen bei der Operation ohne Anästhesie kaum zu ertragen waren, schildern Patientenberichte wie beispielsweise der des Amerikaners George Wilson aus dem Jahr 1843. Wilson beschreibt seine Amputation, die er ohne die Verabreichung von schmerzlindernden Mitteln bei vollem Bewusstsein erlebt hatte, folgendermaßen: The horror of great darkness, and the sense of desertion by God and man, bordering close on despair, which swept through my mind and overwhelmed my heart, I can never forget, however gladly I would do so. During the operation, in spite of the pain it occasioned, my senses were preternaturally acute, as I have been told they generally are in patients in such circumstances. I still recall with unwelcome vividness the spreading out of the instruments: the twisting of the tourniquet: the first incision: the fingering of the sawed bone: the sponge pressed on the flap: the tying of the blood-vessels: the stitching of the skin: the bloody dismembered limb lying on the floor.36
Wilson nennt vor der Operation ein generelles Gefühl des Schreckens, eine enorme Dunkelheit und ein Verlassensein, das an Verzweiflung grenzt. Es ist 34 Greene, Jones und Podolsky betonen, dass die Einführung der Anästhesie sehr viel langsamer vor sich ging, als heute angenommen wird. Die Ärzte wägten häufig ab, ob die noch unbekannten Nebenwirkungen und Risiken, die bei der Anästhesie entstehen würden, die Linderung des Schmerzes rechtfertigen konnten. Zur Einführung der Anästhesie in China siehe 14th Report. In: The Chinese Repository. 1848, S. 143. Zur Anästhesie im Westen siehe Greene, Jones, Podolsky, S. 1077 – 1082. 35 Bigelow beschreibt, wie Morton seinen Patienten ein Gas verabreichte, das sie schmerzunempfindlich machte. Die Zusammensetzung des Gases hat Morton jedoch nicht preisgegeben. Der Verfasser des Artikels behauptete jedoch, dass er darin Ether gerochen habe, was dazu führte, dass die Methode überall in Gebrauch kam. Siehe Henry Jacob Bigelow „Insensibility during Surgical Operations Produced by Inhalation“. In: The Boston Medical and Surgical Journal. Band 35. Nr. 16. 1846, S. 309 – 317. http://www.nejm.org/doi/full/10.1056/ NEJM184611180351601 (letzter Zugriff: 20. Dezember 2017), hier: S. 310 sowie Gawande. 36 Zitiert nach Gawande. Stärke |
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auffällig, dass sich der Patient in Anbetracht seiner Schmerzen an alle Details erinnern kann: das Ausrollen der Operationsutensilien, das Abschnüren des Gliedes, den Einschnitt, das Heraushebeln des abgeschnittenen Gliedes aus dem Gelenk, das Pressen des Schwamms auf die Wunde, das Abschnüren der Blutgefäße, das Nähen der Haut, die Ansicht seines blutigen Gliedes auf dem Boden. Während Wilson hier nicht explizit sagt, wie er seinen Schmerzen Ausdruck verliehen hat, betont der Medizinhistoriker Atul Gawande, dass die Operationssäle vor der Einführung der Anästhesie grundsätzlich mit „Schmerzensschreien erfüllt“ gewesen seien.37 Anders Parkers Patienten; den Berichten zufolge schienen sie physischen Schmerzen trotzen zu können. Beispielsweise schreibt Parker, dass der Patient Choo Yihleang während seiner Operation, die ohne Anästhesie durchgeführt wurde, nicht einmal angebunden werden wollte.38 Vor der Operation streckte er sogar seine Hand auf dem Operationstisch aus, so als sei er über die Aussicht erfreut, dass er bald von seinem „lästigen Kameraden“ befreit werden würde. Während des Eingriffs, der insgesamt vier Minuten gedauert habe, sei der Patient vollkommen gefasst gewesen und habe keinen Laut von sich gegeben. Angesprochen, antwortete er mit seiner „natürlichen Stimme“ und versicherte wiederkehrend, dass sich der Arzt wegen seiner Verfassung nicht zu sorgen brauche. In diesem Zusammenhang betont Atul Gawande, dass aufgrund der fehlenden Betäubung die Operationen sehr schnell durchgeführt werden mussten. Nach Gawande sind sie kürzer als eine Minute gewesen.39 37 Diesen Aspekt unterstreicht ein seltener Druck einer Brustamputation aus dem 17. Jahrhundert. Die Operation findet in einem häuslichen Interieur statt. Eine Männergruppe hält eine entblößte Patientin fest, während ein Wundarzt die Operation mit einem „tenaculum helvetianum“ durchführt, einer nach dem Mediziner Jean Adrien Helvétius benannten riesigen Zange, die zuvor heiß gemacht wurde. Die Frau scheint zu schreien und gleichzeitig ihr Bewusstsein zu verlieren. Siehe http://wellcomeimages.org (letzter Zugriff: 2. Februar 2015). Zu Schmerzen in den Operationssälen siehe Gawande. 38 „The preceding day he requested not to be tied, assuring me he would not move a limb, or speak a word. When the moment arrived instead of shrinking from the crisis, he put one hand on the table, and skipped upon it with great agility, as if joyful in the prospect of being freed of his troublesome companion. (…) in four minutes [the tumor was] completely out. (…) During the operation the patient was perfectly collected and did not utter a groan; spoke with natural voice when spoken to, and repeatedly requested the operator might not be alarmed.“ In: 8th Report. In: The Chinese Repository. 1839, S. 98 – 99. 39 Siehe Gawande.
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Tatsächlich schildern Parkers Berichte kontinuierlich Schmerzen. Dies geschieht häufig beiläufig. Eine eindringliche Beschreibung solcher Schmerzen gibt der Bericht zu Woo Kinshing, der einen überdimensionierten Tumor an seiner Schulter hatte: The weight of it had become extremely burdensome, and several times a day the patient experienced severe paroxysms of pain, causing him to groan aloud, at which times he had laid the tumor upon the floor, and reclined himself upon it. In this position he spent the principal part of his time day and night. His countenance and furrowed brow expressed unequivocally the calamity he suffered.40
Die Geschwulst, die eine große Last gewesen war, hatte mehrfach am Tag Schmerzanfälle verursacht. Sie zwangen den Patienten, laut aufzuschreien und sich auf den Tumor zu legen. Nur in dieser Position konnte er die Schmerzen ertragen. Der Fokus des Berichts liegt auf der massiven Größe des Tumors, der an eine Bratsche („tenor viol“) erinnere, sowie auf der Eigenschaft, die Schmerzen zu ertragen. So betonen viele Berichte vor der Anwendung der Anästhesie den Aspekt der Unterdrückung der Schmerzen, die die Chinesen zu „veredeln“ scheint. Beispielsweise habe das Mädchen Akae die Operation ihres Gesichtstumors mit der „Stärke einer Heldin“ ertragen.41 Auch die Patientin Lo Washun habe die Operation mit einer „Stärke“ ausgehalten, die „charakteristisch für die Chinesen“ sei.42 Sie hat sich zwar übergeben, ist aber nicht in Ohnmacht gefallen. In diesem Sinne richten sich Parkers Berichte gezielt gegen das im Westen verbreitete Vorurteil einer generellen physischen „Unempfindlichkeit“, die den Chinesen im 19. Jahrhundert zugeschrieben wurde. Man sah die Sinneswahrnehmung der Chinesen, insbesondere deren Fähigkeit, Schmerzen zu empfinden, als biologisch „unterentwickelt“ an.43 Diesem Vorurteil
40 8th Report. In: The Chinese Repository. 1839, S. 100. 41 „The serenity of the sky after several days of continued rain, the presence and kind assistance several surgical gentlemen, and the fortitude of a heroine, with which the child [Akae] endured the operation, call for my most heartfelt gratitude to the Giver of all mercies.“ Siehe 1st Report. In: The Chinese Repository. 1836, S. 468. 42 Siehe 5th Report. In: The Chinese Repository. 1837, S. 457. 43 „There is a very general impression among foreigners that the pain sense of the Asiatic, particularly the Mongolian races, is not nearly so highly developed as in other races of men. The statement is made this is so, not only by laymen, Stärke |
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wurde erst zu Anfang des 20. Jahrhunderts widersprochen, als Experimente gezeigt haben, dass die Hautnerven der Chinesen sich in ihrer Schmerzempfindlichkeit von denen der „weißen Rassen“ nicht unterscheiden würden.44 In Parkers Berichten, die mehrheitlich vor der Einführung der Anästhesie entstanden, wird das Vorurteil einer vermeintlichen sensorischen „Insuffizienz“ korrigiert und zugunsten einer positiv konnotierten Stärke im Sinne der bejahenden Missionarsrhetorik umformuliert. Nach der erstmaligen Anwendung der Anästhesie im Jahr 1847 werden Parkers Fallbeschreibungen sichtbar unspektakulärer. Die Methode war anfangs noch ein Faszinosum, das es ausführlich zu schildern galt. Dabei scheint zunächst der Akt der Verabreichung des Gases und des Sinnesverlusts des Patienten von Interesse zu sein. So beschreibt Parker im Bericht vom 4. Oktober 1847 die erste Operation unter der Anwendung der Anästhesie folgendermaßen: He [the patient] was directed to inhale deliberately with full inspirations the Ether from Dr. Jackson’s apparatus. I had hold of the right arm with one hand and the other behind him, ready to lay him gently down. In forty-three seconds the muscles of his arm suddenly relaxed and he ceased simultaneously to inhale the ether and in a state of insensibility he was laid back upon the table his head being still elevated. His pulse was quickened, and the eyes assumed a dull and vacant appearance. The tumor was then extirpated by Kwan Taou, my Senior Pupil and three arteries tied in four minutes. There was not the slightest apparent consciousness during this part of the operation. (…) By this time the effect of the ether upon the system has begun to subside, and the patient gave signs of sensibility to the prick of the needle (…), and after the wound was dressed and the patient placed in bed, he complained of the tightness of sutures, but had no recollection of the incisions during the operation.45
but widely also by physicians. It is, however, in our estimation based in superficial observation. We believe the facts to be as follows: Physico-psychological experiments have shown that the sensory nerves of the skin and so forth of the Chinese are in all lines as responsive to stimuli as those of the white races.“ In: The Diseases of China. Including Formosa and Korea. Hg. W. Hamilton Jeffreys and James L. Maxwell. London. 1910, S. 8. 44 Ebd. 45 14th Report. In: The Chinese Repository. 1848, S. 144 – 145.
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Der Patient wurde aufgefordert, den Ether aus dem Apparat zu inhalieren, wobei er von Parker festgehalten wurde.46 Nach 34 Sekunden hätten sich seine Muskeln plötzlich vollkommen entspannt. Gleichzeitig habe er aufgehört, das Gas zu inhalieren. In einem Zustand der Besinnungslosigkeit wurde er auf den Tisch gelegt. Der Tumor ist daraufhin von Kwan Taou, dem Assistenten Parkers, entfernt worden, wobei keine Anzeichen von Schmerzen zu sehen waren. Nachdem die Nähte angebracht worden waren, begann der Effekt des Ethers zu schwinden und der Patient reagierte nach einem testenden Nadelstich schmerzempfindlich. Der Fokus der klinischen Narration gilt ferner der Wiedererlangung der Sinne, wobei grundsätzlich befürchtet wurde, dass die Patienten nicht zu Bewusstsein kommen könnten, wie hier im Fall der Patientin Lí Shí: On the 10th April half a drachm of chloroform was administered, and in less than two minutes she was perfectly insensible, when the tumor was extirpated in two minutes. It weighed 2 ¾ lbs. (…) She readily recovered from the effect of the chloroform, and uttered her „many thanks“ to Jesus and her Father in Heaven.47
In dem Bericht ist Lí Shí nach weniger als zwei Minuten komplett unempfindlich gewesen, der Tumor ist in der gleichen Zeit entfernt worden. Die Patientin habe sich ferner schnell von dem Chloroform (ein Stoff aus der Untergruppe des Ethers) erholt und ihren Dank an den „Vater im Himmel“ geäußert. Nebenwirkungen wie Übelkeit, Schwindelgefühl oder eine postoperative Lethargie, wie sie häufig von Ärzten im Westen beschrieben werden, erwähnt Parker generell nicht.48 Es scheint, als fokussiere die Rhetorik, die vor der Einführung der Anästhesie um die Stärke der Patienten angesichts ihrer Schmerzen aufgebaut war, nun den dramaturgischen Moment des Effekts des Chloroforms, den plötzlichen Sinnesverlust sowie damit einhergehende Zustände wie Fantasieren und Singen.49 Somit widmen sich die Texte der Minderung der Schmerzen und scheinen sich zugleich auf den Moment
46 Nach Bigelow war es der Chemiker Charles T. Jackson, der das Gerät zur Verabreichung des Ethers erfunden hatte. Er erhielt darauf ein Patent. Danach trug die Apparatur seinen Namen. Siehe Bigelow, S. 316. 47 16th Report. In: The Chinese Repository. 1851, S. 20. 48 Siehe Bigelow, S. 313 – 314. 49 Siehe 15th Report. In: The Chinese Repository. 1850, S. 267 – 268. Stärke |
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zu konzentrieren, in dem die Stärke des Patienten „gebrochen“ wird, was in jedem Fall gelingt. In den 1850er Jahren werden die Berichte zunehmend lakonischer. So erwähnt Parker im Zusammenhang des Patienten Kwang Su, dass der Tumor unter der Anwendung des Chloroforms, das zu dieser Zeit allgemein als Anästhetikum gebräuchlich war, entfernt worden ist.50 Im sechzehnten Bericht schreibt er kurz, dass der Tumor des Patienten Chú Hí mithilfe des Chloroforms erfolgreich ohne Schmerzen exstirpiert worden ist.51 Ebenso knapp äußert er sich zum Fall von Kwo Shí, die einen riesigen Gesichtstumor hatte: Unter dem Einfluss des Anästhetikums ist der Tumor ohne Komplikationen operiert worden.52 Dabei wird der Eingriff so gängig, dass Parker auf seine üblichen Zeitangaben, die den Vorgang bisher sichtlich dramatisierten, verzichtet und die Verabreichung des Gases nur noch beiläufig erwähnt.53
3.4 Bilder der Krankheit und der Stärke Des Weiteren zeichnet sich in den Berichten eine andere generelle Eigenschaft der Chinesen ab. Es ist ihre offensichtliche Krankheit, die mit ihrer (voranästhetischen) Stärke kollidiert und zugleich korreliert. Tumor und Stärke kollidieren, weil die Krankheit eigentlich eine Schwächung des Körpers verursacht; je größer der Tumor, desto mehr schwinden die Kräfte des Erkrankten. Gleichzeitig wird eine Stärke angenommen, die gerade aus dieser Schwäche resultiert. Je größer der Tumor, das heißt, je mehr er den Patienten schwächt, desto größer ist die Stärke, die gebraucht wird, um die Krankheit dauerhaft zu ertragen. Es handelt sich um eine Stärke angesichts eines generellen Defizits der Kräfte. Dabei wird die physische Stärke zu einem allgemeinen Charakterzug des Menschen. In diesem Sinne machen die Gemälde diese Stärke sichtbar. Sie tun dies, indem sie die Patienten in aufrechter Sitzhaltung zeigen. Die Patienten sitzen gerade, obwohl ihnen der Tumor eigentlich eine andere Position abverlangt. Beispielsweise zog die riesige Geschwulst den Patienten Po Ashing stets
50 51 52 53
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15th Report. In: The Chinese Repository. 1850, S. 273. 16th Report. In: The Chinese Repository. 1851, S. 22. Ebd., S. 21. Siehe weitere Tumor-Fälle aus dem sechzehnten Bericht zu Fung Shí, Kwan Shí und Lú Shú.
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„zur Seite“.54 Im Bild scheint ihn der Tumor nicht aus dem Gleichgewicht zu bringen – Ashing sitzt aufrecht. Auch im Bericht zu Lew Akin schildert Parker, wie das an einem riesigen Hüfttumor erkrankte Mädchen stets vornübergebeugt laufen musste, um das Gleichgewicht zu wahren.55 Im Bild hat der Tumor, der sich zu einer gewaltigen Erweiterung des Gesäßes gebildet hatte, scheinbar keinen Einfluss auf die aufrechte Sitzhaltung des Mädchens. Zudem zeigt das Gesicht keine Anzeichen von Schmerzen, die der Bericht geschildert hatte; überhaupt ist ein emotionaler Ausdruck kaum feststellbar. Gerade weil Lew Akin aufrecht sitzt und ihre Gesichtszüge eines Ausdrucks entbehren, entsteht der Eindruck, dass die Dargestellte ihrer Krankheit trotzt. Die Position suggeriert damit eine innere verborgene „Charakterstärke“. Auf diese Weise verbildlichen die Gemälde die Stärke der Patienten angesichts ihrer Krankheit. Sowohl die Berichte als auch die Bilder treiben eine Lesung voran, der zufolge die Chinesen zwar krank, aber doch zur Stärke fähig seien. In diesem Sinne legitimiert die Darstellung der kranken, aber starken Chinesen die Tätigkeit des Missionars. Denn die Chinesen werden so als „missionswürdig“ gezeigt. Mit der Darstellung der Stärke, die der Krankheit trotzt, manifestiert sich zugleich ein grausamer Aspekt. So wie die Patienten die Operationen ohne Anästhesie ertrugen, so mussten sie das vermutlich langwierige Prozedere des Porträtierens ertragen. Geht man von einer Situation aus, in der die Dargestellten während des Malens vor dem Künstler saßen, dann wurde Lew Akin, die eigentlich nicht aufrecht sitzen konnte, vor den Maler gerade positioniert und so ins Bild geschweißt.56 So behauptet das Bild eine grundsätzliche Unversehrtheit, doch wurde diese lediglich für den Moment des Malens hergestellt. Wenn der Tumor die Patientin im Alltag zu einer gebückten Haltung zwang, dann wurde sie während des Malens in eine ursprünglich aufrechte Haltung zurückgedrängt. Das Porträtformat, das grundsätzlich auf die Darstellung einer Neutralität im Ausdruck abzielt, gab ihr diese Position zurück; eine Position, die jedoch für das kranke Mädchen 54 „Beside of being painful, the weight of it drew him quite to one side (…)“. Siehe 4th Report. In: The Chinese Repository. 1837, S. 329. 55 „Lew Akin, aged 12 years, of Tsunchun, a village of Shuntih district, and the only child of her affectionate parents, had a steatomatous tumor upon her right hip, of a magnitude that required the patient to lean forward when she walked, in order to preserve her balance.“ Siehe 6th Report. In: The Chinese Repository. 1838, S. 38. 56 Nur in zwei Fällen, den Bildern mit den Inventarnummern 17 und 20, werden die Patienten liegend und im Querformat gezeigt. Bilder der Krankheit und der Stärke |
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in diesem Augenblick nicht natürlich, ja vermutlich schmerzvoll, war. In diesem Sinne nimmt der Schaffensprozess des Gemäldes mit der „Intaktmachung“ der Person eine Deformation am Subjekt vor. Damit überlappen sich missionarsrhetorisch die Funktionen des Bildes, das deformiert, indem es die Person aufrecht zeigt, und des Skalpells, das den intakten Zustand wiederherstellt, indem es den Körper zerstückelt. Insgesamt suggerieren die Gemälde, dass die Dargestellten, die den Beschauer eher selten fixieren, den Blick des Betrachters zum Zeitpunkt des Malens eher ertrugen als freiwillig zuließen. Damit implizieren die Bilder eine weitere Stärke, die nun vom Betrachter ausgeht: dem Künstler und dem Arzt, vor dem sich die Porträtierten entblößen mussten und dem sie zum Zeitpunkt der Operation ausgeliefert waren. Nach Foucault ist ihr Blick Teil des klinischen Beobachtungsapparates; es ist ein Blick, der sieht und „wesensnotwendig“ herrscht.57
3.5 Charakter-Fälle Parkers Kommentar zu Lew Akins Bildnis erneut aufgreifend, kann angenommen werden, dass nicht nur die Darstellung der Stärke des Mädchens, sondern auch die Darstellung des Tumors für den Mediziner von Belang war. Im Bericht zu Po Ashing schildert Parker, dass die beste „Repräsentation“ des Tumors, „sofern es die Form anbelange“, ein „großer Schinken“ gewesen sei.58 Daraus lässt sich ablesen, dass der englische Begriff der „representation“ für die Darstellung der Krankheit adäquat erschien und grundsätzlich, wie von Daston und Galison geschildert, im wissenschaftlichen Kontext gebräuchlich war.59 Damit ist in dem Begriff die „Ansicht“ des Arztes, eine nach einer wissenschaftlichen Erkenntnis verlangende Darstellung, inkludiert. In diesem Zusammenhang wird deutlich, dass der Text, der den Tumor zu einem „Schinken“ metaphorisiert, im Sinne einer bildlichen „representation“ verfährt. Denn nach der Satzung der Medical Missionary Society sollten die Berichte die Darstellung einer „chirurgischen Perspektive“ ausdrücklich wiedergeben:
57 Foucault: Die Geburt der Klinik, S. 55. 58 4th Report. In: The Chinese Repository. 1837, S. 330. 59 Daston und Galison: Objectivity, S. 37.
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Some [cases] have been chosen for their interest from the surgical point of view, others as illustrating different shades of the character of the Chinese.60
Analog zum obigen Zitat, das die Beschreibung des chinesischen Charakters hervorhebt, seien hier solche Fälle ausgewählt worden, weil sie die „Schattierungen des chinesischen Charakters“ und die „chirurgische Perspektive“ („surgical point of view”) zeigen würden. Parkers Berichte entsprechen dieser medizinischen Sicht. Der Arzt beschreibt die Operation oder den exstirpierten Tumor möglichst ausführlich, hier erneut im Fall von Po Ashing: The patient was seated supported around the waist by a sheet; the tourniquet was applied, also the subclavian artery secured by an assistant; a single flap was formed as recommended by Liston (…). With a large scalpel two incisions were made, commencing on either side of the acromion process and meeting of the origin of the deltoid muscle, which was immediately dissected up: the capsular ligament divided, the head of the humerus turned out of the socket, and another stroke of the knife upwards, dissevered the arm from the body.61
Parker schildert den operativen Hergang, der von ihm selbst und vier Assistenten durchgeführt wurde:62 wie der Patient mit einem weißen Tuch an der Hüfte stabilisiert, wie das Stauband am Arm angelegt, wie die Schlagader gesichert wurde. Parker hatte die sogenannte Liston-Methode angewandt, bei der für gewöhnlich eine Art „Tasche“, bestehend aus Haut und Fleisch, um den Stumpf gebildet und der Knochen freigelegt wurde.63 Die Ärzte machten zwei Einschnitte an der Schulter, der sogenannte Deltamuskel wurde entfernt. Der Arm wurde schließlich aus dem Gelenk entnommen, wobei der nächste Schnitt das Glied vom Körper vollständig trennte. Die Beschreibung sticht wegen der medizinischen Vokabeln und ihrer Detailgenauigkeit deutlich aus dem Bericht heraus. Denn der Bericht zeichnet sich sonst durch eine Prosa aus, die dem Krankheitsverlauf und der Biografie der Person gewidmet ist. Im Zusammenhang des operativen Eingriffs betont Parker wiederholt, dass die Tumorpatienten „außergewöhnlich“ („extraordinary“) oder die „interessantesten Fälle“ („most interesting cases“) seien. Diese „Fälle“ seien 60 61 62 63
14th Report. In: The Chinese Repository. 1848, S. 136. 4th Report. In: The Chinese Repository. 1837, S. 330. Ebd., S. 329. Gawande, S. 366. Charakter-Fälle
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nicht nur von Interesse, weil die Krankheiten „gewaltig“ und „selten“ seien, sondern weil sie den Chirurgen vor eine praktische Herausforderung stellten. Gerade diese Herausforderung, diese Möglichkeit, in Anbetracht des scheinbar Unmöglichen heilen zu können, wird nicht durch den Text hervorgehoben, sondern durch die Bilder statuiert. Im Krankenhaus in Kanton oder in den Vortragssälen im Westen wurde der Betrachter retrospektiv vor diese Möglichkeit gestellt, indem er das Bild des Patienten mit der überdimensionierten Geschwulst betrachtete. In diesem Zusammenhang legten die Gemälde Zeugenschaft über den präoperativen Zustand der Tumore ab: deren Größe, Farbe und die Situierung am Körper. Und doch entbehren sie einer umfassenden Sicht des Patienten. Sie zeigen nicht, wie der Tumor den Alltag des Kranken beeinträchtigte, wie der Eingriff durchgeführt wurde, wie der exstirpierte Tumor aussah. Die Berichte beschreiben das, was die Bilder nicht zeigen. Somit ergänzen Text und Bild einander: Die Größe des Tumors sowie die Potenz der Medizin wird durch das Bild ausgedrückt, der Text dokumentiert die operative Umsetzung und zeigt so – dem göttlichen Wort gleich – die tatsächliche Wirkmacht der Behandlung.
3.6 „Kuriositäten“ und Dokumente Die Texte waren den Operationen gewidmet und enthielten zusätzlich Einträge zur Biografie des Patienten und zum Krankheitsverlauf. Zugleich waren die Patientenporträts nicht nur „Illustrationen“ der Krankheit, sie zeigen den Menschen als Individuum. Vor diesem Hintergrund ist zu fragen, welche Bezeichnungen für die Medien verwendet und welcher Status ihnen damit zugeschrieben wurde. Denn die Funktionen der Medien überschneiden sich deutlich. In einem Katalogartikel aus dem Jahr 1845, der im Kontext einer Ausstellung der Patientengemälde in Boston erschien, werden den Porträts mehrere Namen gegeben: As illustrations of disease there are in the highest degree curios and instructive, and as works of art they may challenge the admiration of artists themselves.64 [Meine Hervorhebungen; J. K.]
64 Jackson, S. 316 – 317.
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In erster Linie werden die Porträts als „Abbildungen der Krankheit“ („illustrations of disease“) beschrieben. Die Bilder seien ferner „Kuriositäten“ („curios“) sowie Gegenstände, anhand derer man „lernen“ könne („instructive“). Erst an letzter Stelle werden sie als „Kunstwerke“ („works of art“), welche die „Bewunderung für Künstler auf die Probe stellen würden“, bezeichnet. Die Gemälde wurden in goldene Rahmen gefasst einem Publikum im Bostoner anatomischen Museum präsentiert.65 Mit ihrem Status als „Semi- Kuriositäten“ schienen sie Exponate zu sein, die seltene und außergewöhnlich große Krankheiten abbildeten. Sie sprachen damit nicht nur Ärzte, sondern auch ein interessiertes Laienpublikum an, das die sogenannten „Freaks“, Menschen mit seltenen und überdimensionierten Krankheiten oder einer dunklen Hautfarbe, im Rahmen einer öffentlichen Zurschaustellung, eines Jahrmarkts oder einer Ausstellung sehen wollte.66 Die Nachfrage nach solchen Ausstellungsstücken war immens.67 Mit ihrer Betonung des „Interessanten“, „Außergewöhnlichen“ sowie der Einordnung der Bilder als „Kuriositäten“ scheinen sich Parkers Berichte auf die Rhetorik der „Freak Shows“ zu beziehen. In diesem Zusammenhang soll jedoch die Zugehörigkeit der Werke zu einem eher wissenschaftlich geprägten Diskurs betont werden. Die Tatsache, dass die Disziplin der Teratologie, der Lehre von den medizinischen Deformationen, und die Ausstellung ungewöhnlicher Körper im kommerziellen Rahmen des 19. Jahrhunderts nicht eindeutig zu trennen waren, betont die Kulturwissenschaftlerin Elizabeth Stephens in Anatomy as Spectacle (2011).68 Nach Stephens bestand die Teratologie, die ursprünglich auf die Lehre von den sogenannten „Wundergeburten“ der frühen Neuzeit zurückgeht und später in die moderne Pathologie einfloss, simultan zu den „Freak Shows“ und habe sich stellenweise mit ihnen über-
65 „They have been enclosed in handsome gilt frames, at the expense of the members of the Society, and now ornament, the walls of the apartment in which its cabinet is contained.“ Ebd., S. 316. 66 P. T. Barnums Ausstellung ist in ein Museum übergegangen, das von 1841 bis 1865 in Lower Manhattan, New York, nahe des Broadway, situiert war. Das Museum ist 1865 in einem Brand zerstört worden. Zu den Ausstellungsstücken zählten unter anderem die Feejee-Meerjungfrau, zahlreiche Tierpräparate, Wachsfiguren, Gemälde und diverse Memorabilia. Die Dauerausstellung wurde um öffentliche Auftritte der „Freaks“ ergänzt. Siehe www.lostmuseum. cuny.edu (letzter Zugriff: 28. Februar 2015). 67 „Peter Parker’s Proceedings in Europe and the US“, S. 199. 68 Siehe Stephens, S. 88. „Kuriositäten“ und Dokumente |
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schnitten:69 wenn beispielsweise P. T. Barnums außergewöhnliche Körper aus seiner New Yorker Schau im Jahr 1836 von Ärzten öffentlich seziert oder diese Körper präpariert worden seien und in den Besitz der anatomischen Museen übergingen.70 Mit dem Attribut, „instruktiv“ zu sein, wurde Lam Quas Gemälden die Nutzung zu Unterrichtszwecken und zur medizinischen Bildung zugeschrieben. In diesem Sinne suggerierten die Bilder die Abwesenheit der Chirurgie, die zu diesem Zeitpunkt noch nicht etabliert war.71 Die Gemälde betonen die Notwendigkeit des chirurgischen Eingriffs sowie die Intervention der westlichen Ärzte in Ländern, in denen die Methode noch unbekannt war. Als „Kuriositäten“ und „instruktive Gegenstände“ zugleich stehen die Bilder in direkter Analogie zu Parkers Berichten: (…) it is required, that a book should be kept in all the institutions connected with this Society [of the American Mission to China], into which an entry will be made of all important cases, with a notice, not only of the disease and the treatment pursued, but also of the province, habits, and other circumstances bearing upon the history of each individual. Such books will in time be curious and instructive documents, and such as will enable us to glance at the penetralia of domestic and social life in China, which we now can only read of, or view at a distance, from the very outskirts of the country. Another advantage will be the education of young Chinese in those branches of science that belong to medicine.72 [Meine Hervorhebung; J. K.]
Die Berichte oder „Bücher“ werden als „Kuriositäten“ und „instruktive Dokumente“ bezeichnet. Sie sind „Kuriositäten“, weil sie etwas Seltenes und Unbekanntes einem westlichen Leser nahebringen. Damit sind die Krankheit, der Alltag der Chinesen sowie die dortigen Strukturen, die dem Leser unbekannt waren, gemeint. Durch die Dokumentation der ärztlichen Behandlung, 69 Hagner: „Monstrositäten haben eine Geschichte“, S. 7. 70 Elizabeth Stephens beschreibt den Fall von Joyce Heth, einer afrikanischen Sklavin, die 161 Jahre alt geworden sein soll. Eine öffentliche Obduktion, die ihr tatsächliches Alter feststellen sollte, fand im Jahr 1836 statt. Das Publikum setzte sich aus Ärzten, Journalisten und Laien zusammen. Eine solche Inszenierung sei nach Stephens für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht ungewöhnlich gewesen. In: Ebd. 71 Siehe Gawande. 72 T. R. Colledge, Peter Parker, E. C. Bridgman: „The Medical Missionary Society in China: Address with Minutes of Proceedings“, S. 15.
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der Provinz, aus welcher die Patienten stammten, der dortigen Bräuche und anderen Umstände, die „Aufschluss über das Individuum geben“ könnten, wird spezifisch medizinische und allumfassende Erkenntnis gewonnen. Es wird, mit anderen Worten, Wissen generiert. Damit ist die zweite Funktion der Berichte als „instruktive Dokumente“ benannt. Denn das Wissen könne an Generationen von Ärzten weitergegeben werden; einerseits an westliche Mediziner und andererseits an junge Chinesen, die in westlicher Medizin unterrichtet werden. Diesen Aspekt haben die Gemälde des Wissenstransfers durch Parker an Kwan Taou und durch Morrison an Chen Laoyi deutlich gemacht. Wissen erlaubt, legitimiert und kreiert Kontrolle.73 Die „Nationen der Aufklärung“, so heißt es in den Protokollen der Medical Missionary Society in China, stünden in der Verpflichtung, das westliche Wissen weiterzugeben; allein deswegen, weil sie über dieses Wissen verfügten.74 In diesem Sinne ist die Generierung des Wissens an die Niederschrift gekoppelt. Schriftrollen oder andere schriftliche Dokumente wie die in den eben genannten Gemälden waren dabei zentral; die Schriftrolle ist im Gemälde dreifach zu sehen, in den Händen des Missionars, des chinesischen Übersetzers und des Schreibers, der sie ins Chinesische überträgt. In diesem Sinne statuieren die Patientenbildnisse die Potenz der Wissenschaft, scheinen aber der Wissenschaft und der Niederschrift epistemisch untergeordnet zu sein. Der Text schildert, wie diese Potenz wirklich in die Tat umgesetzt werden könne. Wenn in der Missionarsrhetorik der Berichte eine Durchdringung von christlicher Mission und Wissenschaft geschieht, dann werden in den Bildern der Charakter der Krankheit und der Charakter des Menschen miteinander verschränkt. Die Person wird zu einer „Folie“, auf der sich das Wirken der Wissenschaft und das Wirken des christlichen Gottes abspielen.
3.7 Vergleichendes Sehen In Lam Quas Gemälden geschieht ein rezeptionsästhetisches Wechselspiel. Wie beispielhaft am Porträt des Patienten Wang Waekae gezeigt wurde, hat das Bild zwei Punkte, die es als Betrachter zu fokussieren gilt: das Gesicht und den Tumor. Tumore, die nicht unmittelbar am Gesicht des Dargestellten 73 Siehe Foucault: Überwachen und Strafen, S. 39. 74 T. R. Colledge, Peter Parker, E. C. Bridgman, S. 12. Vergleichendes Sehen |
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zu sehen sind, ziehen in ähnlicher Weise den Blick des Betrachters auf sich und koexistieren als Fokusse im Bild. Im Porträt des Mädchens Lew Akin (Taf. 3) leitet die Senkrechte, gegeben aus der teils entblößten Rückenansicht, den Blick vom Gesicht zum Tumor. Dieser zieht die Aufmerksamkeit des Betrachters auf sich. Der Tumor staut sich zu einer Ballung mehrerer Geschwülste, einer gigantischen Erweiterung des Gesäßes, und wird zudem mit einem hellen Lichtreflex illuminiert. Er scheint ferner entlang der Wirbelsäule seitenverkehrt das Gesicht zu spiegeln. Das Gesicht spiegelt wiederum den Tumor. Der Sehvorgang, der sich im Fall des traditionellen Porträts lediglich auf einen Punkt beschränkt, wird hier zweigeteilt. Der Blick des Betrachters pendelt zwischen dem Gesicht und dem Tumor. Im Gemälde von Lew Akin werden Tumor und Gesicht vergleichbar. Der Betrachter wird zu einer Aktivität angeregt, die als „vergleichendes Sehen“ bezeichnet werden kann. Das statische Sehen im Zusammenhang des traditionellen Porträts, das auf das Gesicht und damit auf die Begegnung mit einem Gegenüber fokussiert ist, wird in ein mobiles überführt. Der alleinige Bezug zur Person löst sich auf. Stattdessen vergleicht der Blick das Gesicht mit dem Tumor. Die runde Form des Tumors gleicht der Form des Kopfes. Der Tumor besitzt ein deutlich helleres Inkarnat. Die Krankheit ist zudem wesentlich größer als das Gesicht und alle übrigen Körperteile des Mädchens.75 Der Vergleich der Geschwulst mit dem rosigen und intakten Gesicht impliziert, dass der überdimensionierte Wuchs am Gesäß abnormal sei. Das vergleichende Sehen trennt damit die „normalen“ Formen von ihren Abweichungen. Gesicht und Tumor werden zunächst austauschbar, um wieder distinkt gemacht zu werden. Sie werden aber niemals vollständig separiert. In diesem Sinne kann Foucaults Aussage, der zufolge der Patient in der Klinik zu einem „pathologischen Faktum“ verkomme, widersprochen werden.76 Im Bild ist das Mädchen zur Stellvertreterin ihrer Pathologie nicht etwa anonymisiert worden; vielmehr wurde sie zu einer „klinischen Person“ gemacht. 75 Parkers setzt den Leser darüber in Kenntnis, dass der Umfang des Tumors den Umfang des Körpers des Mädchens deutlich überschreite: „Its circumference (exceeding that of her body) was two feet at the base and much larger at the middle“. Siehe 6th Report. In: The Chinese Repository. 1838, S. 38. 76 „Sie [die Ungewissheit der medizinischen Erkenntnis] hat dem klinischen Feld eine neue Struktur gegeben, in welcher das jeweilige Individuum weniger die kranke Person als vielmehr das pathologische Faktum ist, das bei allen von der gleichen Krankheit Befallenen reproduziert werden kann (…).“ Foucault: Die Geburt der Klinik, S. 111 – 112.
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Gleichzeitig fällt auf, dass Parker durchaus den „absoluten, klinischen Blick“ verinnerlicht hat, wenn er im Rahmen seiner Narration mit dem Skalpell in das Innere der Patientin vordringt. Im Zuge dessen wird Lew Akin im Fallbericht an keiner Stelle unmittelbar als Individuum gekennzeichnet. Es ist die Figur des Vaters, die das Mädchen zu einem Individuum macht. Parkers Bericht unterstreicht die Anwesenheit des Vaters bei der Operation. Der Vater hatte zunächst der Operation beigewohnt, brach während dieser in Tränen aus, verließ den Raum und trat schließlich wieder ein, um seiner Tochter beizustehen.77 Der Vater macht das Mädchen zur Empfängerin seiner Gefühle und damit zu einem fühlenden Subjekt. Als Individuum taucht das Mädchen im weiteren Verlauf des Textes gerade im Zusammenhang von Parkers bildtheoretischer Zuschreibung wieder auf. Denn der Kommentar zum Bild von Lew Akin erfolgt unmittelbar nach der Beschreibung der Gefühle des Vaters. Durch den Gebrauch der Vokabel „likeness“, die eine Ähnlichkeit mit dem Dargestellten voraussetzt und in Parkers Rhetorik auch einen Charakter implizieren kann, wird das Mädchen als Subjekt definiert. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Sehen, das beim Betrachten der Patientenporträts generiert wird, vermengend und vergleichend zugleich ist. Der vermengend-vergleichende Blick scheint die Krankheit zu „beleben“ und lässt die Patienten zu individuellen Trägern ihrer Pathologie werden. Gleichzeitig erhält der Tumor einen Charakter. Dieser scheint per se krankhaft zu sein, weil der Vergleich zwischen dem Gesicht und dem restlichen Körper nahelegt, dass der Tumor ein überdimensionierter Wuchs ist. Ferner wird das Gesicht des Mädchens mit dem Tumor verschränkt. Der Tumor fungiert als die Manifestation der inneren Eigenschaften der Person, während das Gesicht des Mädchens den Tumor aufscheinen lässt. Ihr Gesicht wird damit zum Gesicht der Krankheit, die zu einer allgemeinen chinesischen Krankheit generalisiert wird. Daraus folgt, dass die chinesische Physiognomie im Allgemeinen eine pathologische sei. 77 „The feelings of the father were particularly noticed by the spectators at the time of the operation. He was in the room, but the unsightly wound that presented, as the integuments retracted ten or twelve inches apart, the incision being about ten inches long, was too much for the father to witness without tears. He left the room, but the cry of his little daughter, when the needle was passed through the integuments in applying sutures, soon recalled him, as soon to retreat. His vigilance in his attention to his only child, continually, day and night, have strongly exhibited the strength of natural affections, equaled only by his gratitude for the relief afforded his daughter.“ Siehe 6th Report. In: The Chinese Repository. 1838, S. 39. Vergleichendes Sehen |
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Diese Vermengung kann auch am Status der Bildmedien als „Kuriositäten“ und „instruktive Dokumente“ abgelesen werden. In diesem Sinne verschmelzen die Begriffe „likeness“ und „representation“ zu einem quasi wissenschaftlichen Bild, das nur generell einen Charakter anzeigt. Solche Verschränkungen müssen jedoch kritisch betrachtet werden. Denn indem sich das Bild der Emotion (welcher auch immer) zur Vermittlung einer wissenschaftlichen Tatsache bedient, kommuniziert es die Überblendung von Persönlichkeit und Krankheit. Der emotionale Bezug zum Dargestellten geht aus der Ansicht des Gesichts hervor. Frei nach Boehm „fühlt“ der Betrachter den wissenschaftlichen Inhalt des Bildes, weil dieser in ein blickendes Gegenüber eingebettet ist, und verinnerlicht diesen unmittelbar. Im weiteren Verlauf der Arbeit wird zu zeigen versucht, dass das „Fühlen des Inhalts“ mit einer grundsätzlichen „Lesung“ verzahnt ist. Diese Lesung, die im Sinne einer Ästhetik verstanden werden kann, nimmt im Gesicht ihren Anfang.
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4 Im Prisma der Physiognomik
Dieses Kapitel rekonstruiert den ideengeschichtlichen Kontext der Ästhetik der Patientenporträts und diskutiert dabei die Frage, weshalb gerade das Porträtformat zur Darstellung der Krankheit verwendet wurde. Dabei wird eine enge Verbindung zwischen der Physiognomik und der medizinischen Semiotik aufgezeigt. Physiognomische und medizinische Ansätze waren seit der Antike bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts eng miteinander verknüpft.1 Die Begutachtung des Gesichts war der Ausgangspunkt der physiognomischen wie der medizinischen Analyse. Gemäß der Physiognomik, die ihren historischen Höhepunkt mit Johann Caspar Lavaters Physiognomischen Fragmenten (1775 – 1778) erreichte, konnten die inneren Eigenschaften allein an der Physiognomie des Menschen, insbesondere am Gesicht, abgelesen werden.2 Die parallele Disziplin der medizinischen Semiotik untersuchte unterdessen das Gesicht im Hinblick auf krankhafte Veränderungen. Das Gesicht fungierte dabei als ein „Index“ des Charakters, der anhand von physiognomischen Vorlagen ausdifferenziert wurde. Als solche Vorlagen dienten beispielsweise Lavaters monochrome Silhouetten, aber auch gewöhnliche Porträts, die in seinen Studienbüchern und den Fragmenten auftauchen. Dieses Kapitel untersucht vor allem die ideengeschichtliche Entwicklung des Kerngedankens der Physiognomik, nämlich die Beziehung zwischen dem Charakter und seinem Zeichen und deren Manifestation im Bild. Dabei wurde der Charakter nicht nur als menschliche Eigenschaft, sondern stets auch als die Essenz der Krankheit verstanden. Einen solchen Rückschluss erlaubt die Vier-Säfte-Lehre, die bis zur Entdeckung der Zellularpathologie
1 Die Medizin sollte sich erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts als eine klarer konturierte Wissenschaft herausschälen. Siehe Charles Percy Snow: The Two Cultures and the Scientific Revolution. Cambridge. 1961. Zur Nähe von Physiognomik und Medizin in der Antike siehe Degkwitz, S. 25 und 30. Zur Nähe von Physiognomik und Medizin in den Traktaten des 18. Jahrhunderts siehe Ludmilla Jordanova: „The Art and Science of Seeing in Medicine: Physiognomy 1780 – 1820“. In: Medicine and the Five Senses. Hg. W. F. Bynum und Roy Porter. Cambridge. 1993, S. 123. 2 Ludmilla Jordanova betont, dass die Physiognomik eine Disziplin und zugleich ein kognitiver „Inferenzmodus“ („mode of inference“) sei. Ebd., S. 124. Im Prisma der Physiognomik |
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im Jahr 1859 durch Rudolf Virchow in der Medizin vorherrschend war.3 Die Krankheit stand mit einem krankheitseigenen Charakter in Verbindung, der aus dem menschlichen Charakter resultierte. Als eine Form der „Zeichenlehre“, die die Diagnose antizipierte, wurde die Semiotik vor allem in der alltäglichen Praxis von Ärzten seit dem 18. Jahrhundert bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts angewendet.4 In diesem Zusammenhang konnte die Erkennung von Krankheitszeichen an medizinischen Porträts erlernt werden. Die hier zu skizzierende Verflechtung von Charakter, Krankheit und Gesicht umfasst mehrere Stadien; zunächst richtet sich der Fokus auf Johann Caspar Lavaters Physiognomische Fragmente und Johannes Zimmermanns Von der Erfahrung in der Arzneikunst (1763). Lavaters physiognomische Prinzipien diffundierten in verschiedene Malereitraktate und auf diesem Wege ins 19. Jahrhundert, unter anderem in die Essays on the Anatomy and Philosophy of Expression (1824) des Arztes Charles Bell (1774 – 1842), ein anatomisches Lehrbuch für Künstler, sowie die bebilderte Kranken-Physiognomik (1839) des Freiburger Mediziners Karl Heinrich Baumgärtner (1798 – 1886), die im nächsten Kapitel beschrieben wird.5 In der Mitte des 19. Jahrhunderts, als Parker Lam Qua beauftragte, Bilder von seinen Patienten zu malen, stellten
3 Mit der Erfindung der Zellularpathologie gelang es Rudolf Virchow, die Ursachen der Krankheiten auf anatomische Veränderungen der Zelle zurückzuführen. So konnten Krankheiten nicht nur anhand von klinischen Symptomen charakterisiert, sondern mittels typischer anatomischer Veränderungen erkannt werden. Die Krankheit konnte schärfer ausdifferenziert werden, was weder im Rahmen der Vier-Säfte-Lehre noch in der medizinischen Semiotik möglich war. Siehe http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC2603088/ (letzter Zugriff: 9. Dezember 2015). 4 Das Ende der Semiotik ist nicht klar benennbar. Nach Wolfgang Eich markiert die Zellularpathologie das Ende der medizinischen Semiotik. Eich bemerkt, dass die letzte Auflage eines Lehrbuchs zur Semiotik im Jahr 1852 erschien. Doch legt beispielsweise Michaelis’ 700 Seiten umfassendes Buch Semiotik oder die Lehre von den Krankheitszeichen aus dem Jahr 1907 nahe, dass semiotische Werke noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Umlauf waren. Dass ferner ein Zusammenhang zwischen der medizinischen Semiotik, der Physiognomik und nationalsozialistischen Gedanken besteht, zeigt Richard T. Gray in seinem Buch About Face: German Physiognomic Thought from Lavater to Auschwitz. Detroit, Michigan. 2004. Zur medizinischen Semiotik siehe und vergleiche Eich, S. 4. 5 Zur Verbindung der Fragmente mit Malereitraktaten des 19. Jahrhunderts siehe Ross Woodrow: „Lavater and the Drawing Manual“. In: Physiognomy in Profile. Lavater’s Impact on European Culture. Hg. Melissa Percival und Graeme Tytler. Newark. 2005, S. 71 – 92.
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diese Schriften ein prominentes theoretisches Echo dar. Die Vehemenz, mit der Parker den Begriff des Charakters in seinen Berichten verwendet, deutet darauf hin, dass der Arzt mit der Physiognomik und deren zentraler Verflechtung von Charakter, Gesicht und Krankheit vertraut gewesen sein muss. Die kunsthistorische Brisanz des Kapitels ergibt sich aus der Feststellung, dass das Porträt, als Kunstgegenstand und Anschauungsmittel der Physiognomik, die dank kleiner handlicher Bücher von jedem und überall praktiziert werden konnte, im 18. und 19. Jahrhundert neben einem menschlichen Charakter stets andere Inhalte kommunizierte. Das Porträt wurde zu einem Gefäß, das nicht nur einen Charakter, sondern zugleich mehrere gesundheitliche und nationale menschliche Charaktere fasste. Ausgehend von der neuzeitlichen Lesung des Porträts im Sinne eines Mediums, das einen bekannten Menschen und seinen unveränderbaren Charakter zeigt, wurde es im 19. Jahrhundert zu einem Medium des anonymen Gegenübers, das auch temporäre Zustände darstellte.6
4.1 Lavater und Zimmermann In Lavaters Prototypausgabe Von der Physiognomik (1772), die den vierbändigen Physiognomischen Fragmenten (1775 – 1778) vorausging, bezeichnet der Priester und Theologe Lavater die Physiognomik als diejenige Wissenschaft, die den Charakter des Menschen aus seinem „Äußerlichen“ zu erkennen ermöglicht.7 Der Charakter kann vor allem an den unveränderbaren, „festen Teilen“ des Gesichts – ausdrücklich nicht an den „zufällig auftretenden Zeichen“ – erkannt werden.8 Der Autor betont, dass im Menschen viele Charaktere koexistieren: der intellektuelle, der moralische, der „gesellschaftliche“ und der medizinische.9 Die Physiognomik könne den eigentlichen Ausdruck dieser Charaktere herausfinden und zu einem „Totalcharakter“ zusammenfassen.10 Lavater unterscheidet eine „empirische“ Physiognomik, eine solche, die einen bestimmten Charakter aus dem Äußerlichen extrahieren könne, und eine theoretische oder „transzendente“, die den unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem Gesicht und einem tief liegenden Charakter 6 Siehe Preimesberger, S. 77. 7 Johann Caspar Lavater: Von der Physiognomik. Leipzig. 1772, S. 7. 8 Ebd. 9 Ebd., S. 6. 10 Ebd., S. 8. Lavater und Zimmermann |
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zeigen könne.11 Der Gegenstand der transzendenten Physiognomik ist nach Lavater der entscheidende. Denn er enthält den „Schlüssel“ zur menschlichen Natur, das heißt seine göttliche Herkunft. Gleichzeitig sei es für den Menschen unmöglich, diesen „Schlüssel“ vollends zu ergründen.12 4.1.1 Silhouetten und Porträts
Mit den Physiognomischen Fragmenten, die später im günstigen Taschenbuchformat erschienen, gab Lavater jedem ein Werkzeug, den Charakter seines Gegenübers von der äußeren Erscheinung herzuleiten.13 Im Taschenbuchformat konnten die Bücher stets mitgeführt werden. Auf diese Weise war es möglich, die „empirische“ Physiognomik jederzeit zu praktizieren. Dabei konnten die Eigenschaften des Gegenübers unter Bezugnahme auf „Profil- Silhouetten“ erörtert werden. Die schwarze „Silhouette“ des Menschen war allein auf den Umriss der Person, die Konturen der Nase, der Stirn, der Lippen und des Kiefers konzentriert. Nach Lavater würde man zu der Erkenntnis gelangen, dass die Umrisse des Gegenübers Ähnlichkeiten zu den Umrissen und so zu den Eigenschaften derjenigen Personen, deren Silhouetten bereits erstellt worden waren, zeigten. Damit bezieht sich Lavater auf die rhetorische Stilfigur der Analogie und somit auf die pseudoaristotelische Schrift Physiognomonica und die darin enthaltene Methode des „Zeichenschlusses“. Dieser besteht darin, dass bestimmte „Indizien“ in Analogie zu früherer Erfahrung gesehen und zur Erschließung von Unbekanntem genutzt werden können.14 Da ein bestimmtes Indiz bereits Auskunft über das Vorhandensein eines Phänomens gegeben habe, könne beim nochmaligen Auftreten dieses Indizes auf das gleiche Phänomen geschlossen werden.15
11 Ebd. 12 Ebd., S. 9. 13 Nach Percival hatte die Popularität der Physiognomik nach Lavater zu Anfang des 19. Jahrhunderts insbesondere in Frankreich rapide zugenommen. Aufgrund dessen wurden kleinere und günstigere Ausgaben der Fragmente gedruckt, die die elaborierten großen Bände ersetzten. Siehe Melissa Percival: The Appearance of Character: Physiognomy and Facial Expression in Eighteenth- Century France. Leeds. 1999, S. 165. 14 Siehe Degkwitz, S. 30. 15 Diese Verfahrensweise geht nach Degkwitz auf die Vorsokratiker und frühgriechische Ärzte zurück, wobei gerade die Medizin die Rhetorik beeinflusst haben soll. Siehe ebd.
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Lavater war darauf bedacht, möglichst viele Gesichter zu untersuchen; sie zu dokumentieren, zu sammeln und untereinander zu vergleichen.16 Erst auf der Grundlage einer Fülle von unterschiedlichen Gesichtern und ihrer Silhouetten konnten physiognomische Abhängigkeiten hergeleitet werden. Die Dokumentation der Gesichter geschah mithilfe einer „Schattenrissmaschine“. Sie erlaubte es, „Schattenrisse“ oder „Silhouetten“ zu „ziehen“. Die Apparatur bestand aus einem Brett, das an einen Stuhl befestigt wurde. In den Rahmen des Bretts wurde ein mit Wachs getränkter Papierbogen vor ein Glas gespannt.17 Das Glas konnte mit einem „Schieberchen“ höher oder tiefer gestellt werden.18 Die Person saß seitlich zur Schattenrissmaschine und wurde in dieser Position von einer Kerze beschienen. Auf diese Weise warf das Profil des Gesichts einen Schatten auf das Papier, der Physiognom zeichnete diesen Schatten als Kontur nach. Das Gesicht wurde schwarz gefärbt, der Hintergrund weiß belassen. So konzentrierte die Silhouette die Aufmerksamkeit des Beschauers auf den Umriss.19 Als schwarze Gesichtsfläche erleichterte sie die Deutung und den Vergleich der Gesichtsformen. Durch die Linie vom Haaransatz bis zur Nasenwurzel konnte nach Lavater vor allem der Verstand des Menschen hergeleitet werden. Die Nase verwies auf den Geschmack und die Empfindsamkeit.20 Die Lippen deuteten „Sanftmut“, Zorn, Liebe oder Hass an. Das Kinn zeigte die Sinnlichkeit. Der Nacken und der Hinterkopf standen für die „Reizbarkeit des Charakters“.21 Dabei stellte der Schattenriss eine reine und unverstellte Präsentation der natürlichen Formen dar; er galt als „unmittelbarer Abdruck“ der Natur und war das „getreueste“ Bild.22 Denn die Silhouette wurde mittels der Schattenrissmaschine auf das Papier projiziert, 16 Lavater: Fragmente. Band 4, S. 469. 17 Charlotte Steinbrucker: Lavaters Physiognomische Fragmente im Verhältnis zur bildenden Kunst. Berlin. 1915, S. 167. 18 Ebd. 19 Lavater: Fragmente. Band 2, S. 90. 20 Ebd., S. 98. 21 Ebd. 22 Diese Rhetorik verweist auf die Rhetorik der Fotografie, die im 19. Jahrhundert entwickelt wurde, insbesondere auf deren Metapher vom „Abdruck der Natur“. Die Metapher des „wundersamen Abdrucks“ oder des „Bleistifts der Natur“ geht vor allem auf den englischen Erfinder der Fotografie William Henry Fox Talbot (1800 – 1877) und dessen Schrift The Pencil of Nature (1844 – 1846) zurück. Sie wird im letzten Kapitel näher beschrieben. Siehe Beaumont Newhall: The History of Photography: From 1839 to the Present Day. London. 1972, S. 17, 31. Lavater und Zimmermann |
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der Künstler zeichnete den Kontur „lediglich“ nach. Damit wurde der Stil eines Künstlers im Schattenriss vermeintlich unkenntlich gemacht. Lavater geht in seiner Rhetorik sogar so weit, dass er die bildenden Künste gegen den Schattenriss ausspielt: „Keine Kunst reicht an die Wahrheit eines sehr gut gemachten Schattenrisses“, betont er im zweiten Band der Fragmente.23 Diese Aussage überrascht, denn Lavater unterstreicht an einer vorherigen Stelle im Band, dass die Porträtmalerei „die natürlichste, menschlichste, edelste und nützlichste Kunst“ sei.24 Sie erlaube es, alles, was man von einer einseitigen Gestalt des Menschen sagen, und eigentlich nie mit Worten sagen kann, in einem Momente zu sagen.25
Für Lavater scheint das Porträt einen anderen physiognomischen Stellenwert zu besitzen als die Silhouette. Silhouetten enthalten die wesentliche Aussage zum Charakter in extrahierter und komprimierter Form. Insofern werden sie als „Modelle“ und „Skizzen“, die miteinander verglichen werden können, verständlich.26 Sie stellen das Wesentliche – und zwar nur dieses – auf einen Blick dar. Dagegen zeigen Porträts, die ebenfalls zu einer Lesung des Charakters herangezogen werden, das vollständige gemalte Gesicht, das noch einer Interpretation bedarf. Insofern gelten Silhouetten als Referenzen des Porträts. Lavater begriff Porträts als „Studienblätter“, er fasste sie zu Alben zusammen und versah sie mit kurzen Kommentaren zur Physiognomie der Dargestellten.27 Nach Lavater schienen Porträts mit ihrem Fokus auf den starren und unverstellten Gesichtszügen dem Charakter des Menschen näher zu kommen als das lebendige bewegte Gesicht. In diesem Sinne lehnt Lavater die „Verstellung“ des Gesichts als temporären Zustand und Anzeichen der „Falschheit“ ab.28 Er favorisiert das stille Gesicht, das auf „Aufrichtigkeit“ verweist, gegenüber dem bewegten Gesicht, das der Wissenschaftler Georg Christoph Lichtenberg (1742 – 1799) im Rahmen seiner „Pathognomik“
23 Lavater: Fragmente. Band 2, S. 78. 24 Ebd. 25 Ebd., S. 79. 26 Siehe zum skizzenhaften Charakter der Silhouette Percival, S. 176. 27 Siehe Johann Caspar Lavater. Die Signatur der Seele. 28 Lavater: „Über Verstellung, Falschheit und Aufrichtigkeit“. In: Fragmente. Band 2, S. 55 – 63.
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thematisiert.29 Das Deuten der Porträts war so populär, dass Lichtenberg von einer um sich greifenden „Raserei“ spricht, andere Zeitgenossen sahen darin eine „physiognomische Wuth“.30 Bekannte Persönlichkeiten schickten ihre Porträts an Lavater, der eine Interpretation des Charakters vornahm: Namhafte ältere Männer wurden, wo nicht persönlich so doch im Bilde verehrt; und es durfte auch wohl ein junger Mann sich einigermaßen hervorthun, so war alsbald der Wunsch nach persönlicher Bekanntschaft rege, in deren Ermangelung man sich mit einem Portrait begnügte (…).31
Johann Wolfgang von Goethe, der Verfasser dieses Zitats, macht hier deutlich, dass Porträts als Stellvertreter der Personen in deren Abwesenheit fungierten. So wurden die Bildnisse ihres Status als Kunstobjekte enthoben und zu Untersuchungsgegenständen der Physiognomik instrumentalisiert. Die Tatsache, dass Lavater aus Porträts physiognomische Erkenntnis gewinnen konnte, ist hier wesentlich. Denn damit ist gesagt, dass ein medizinischer Inhalt, den Lavater im unbewegten Gesicht und seinen „festen Teilen“ – und damit auch aus dem Porträt – zu erkennen glaubte, extrahiert wurde. Im nächsten Kapitel wird im Zusammenhang der medizinischen Porträtmalerei in der Mitte des 19. Jahrhunderts auf diese Funktion verwiesen. 4.1.2 Medizinische Semiotik und Physiognomik
Aussagen und Klassifizierungen der Medizin und der Physiognomik waren lange eng miteinander verbunden. In der Zeitspanne 1750 – 1850 überlagerten sich diese Disziplinen besonders.32 Schnittstellen zwischen der Physiognomik und der Medizin sind in Lavaters und Johannes Zimmermanns Schriften deutlich zu sehen. Im sechsten Fragment seines vierten Bandes mit dem Titel „Medizinische Semiotik. Oder etwas von den Kennzeichen der Gesundheit und Krankheit“ betont Lavater die Notwendigkeit einer „medizinischen Semiotik“:
29 Georg Christoph Lichtenberg: Aphorismen, Briefe, Schriften. Hg. Paul Requadt. Stuttgart. 1939 [1770], S. 92 – 94. 30 Brittnacher, S. 142. 31 Goethe zitiert nach Brittnacher, S. 142. 32 Jordanova, S. 123. Lavater und Zimmermann |
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Nicht ich, ein erfahrener Arzt sollte noch eine physiognomische und pathognomische Semiotik der Gesundheits- und Krankheitszustände schreiben; sollte den physiologischen Charakter der Körper die zu dieser oder jener Krankheit vorzüglich Disposition hätten, bezeichnen.33
Die physiognomische Semiotik ermögliche die Erkennung einer körperlichen „Veranlagung“ zu einer Krankheit, die Lavater als „Disposition“ bezeichnet. Damit ist gemeint, dass pathologische Zustände bereits am gesunden Körper, bevor sich eine Krankheit am Körper zeige, erkannt werden könnten. Zugleich spricht Lavater von einer pathognomischen Semiotik, das heißt einer solchen, die gerade dem bewegt-verfärbten, gegenwärtigen Ausdruck einer Krankheit gilt.34 Lavater sah jedoch davon ab, die Methode der Semiotik selbst zu entwickeln; womöglich deswegen, weil seine eigenen Prämissen grundsätzlich einer Pathognomik widersprachen. Vielmehr wollte er den Entwurf einer Semiotik einem „erfahrenen Arzt“ überlassen. Eine „Semiotik“ lag allerdings schon in ausformulierter Form vor; eine „Wissenschaft der Zeichen des innerlichen Zustandes des menschlichen Körpers“ hatte 1756 Ernst Anton Nikolai (1722 – 1802) vorgelegt, den der Medizinhistoriker Wolfgang Eich zum „ersten Zeichentheoretiker“ erklärt hat.35 Zwar zitiert Lavater im vierten Band Nikolai,36 doch der oben zitierte Abschnitt zur medizinischen Semiotik verweist ausdrücklich auf die Schrift Von der Erfahrung in der Arzneikunst (1763) des Arztes Johannes Zimmermann (1728 – 1795).37 In diesem Zusammenhang muss hervorgehoben werden, dass nur dank Zimmermann Lavaters Projekt der Physiognomik überhaupt 33 Lavater: Fragmente. Band 4, S. 365 – 366. 34 Lavater: Von der Physiognomik, S. 6. 35 Eich, S. 42. 36 Lavater: Fragmente. Band 4, S. 185 – 186. 37 Zimmermanns Status als Semiotiker ist nicht eindeutig geklärt. Während Wolfgang Eich Zimmermann nicht zu den Vertretern der Semiotik zählt, versteht Michel Foucault in der Die Geburt der Klinik Zimmermann als einen Semiotiker. Eich nennt im Zusammenhang der Semiotik Nikolai, J. D. Grau (1729 – 1768), C. G. Gruner (1744 – 1815), F. G. Danz (1761 – 1793) und J. C. A. Heinroth (1773 – 1843). Ob Eich Zimmermann nicht kannte oder dessen medizinische Prämissen ihm zu uneindeutig waren, kann nicht gesagt werden. Tatsächlich spricht sich Zimmermann explizit nur an einer Stelle für die Bedeutung einer „Zeichenlehre“ aus: wenn er sich auf Thomas Sydenham, Giorgio Baglivi und Herman Boerhaave bezieht und unterstreicht, dass die Zeichenlehre die „königliche Straße“ sei. Nur aus dieser Bemerkung geht eindeutig hervor, dass er seine Lehren in der semiotischen Tradition verortet.
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erst möglich wurde. Zimmermann ermutigte Lavater zu seinen physiognomischen Studien und veröffentlichte seinen Vortrag vor der Naturforschenden Gesellschaft in Zürich im Hannoverschen Magazin im Jahr 1772.38 Der Vortrag erschien noch im gleichen Jahr als Buch mit dem Titel Von der Physiognomik. Im Abschnitt zur medizinischen Semiotik wird deutlich, dass die Physiognomik die Erkennung von Krankheiten grundsätzlich ermögliche. Lavater schreibt weiter: Ich bin unbeschreiblich unwissend in Anlehnung der Krankheiten und der Kennzeichen der Krankheiten. Indessen darf ich doch meinen wenigen Beobachtungen zufolge mit einiger Zuversicht behaupten: Ich glaube, durch öftere Beobachtung der festen Theile und Umrisse des Körpers und des Gesichtes vieler Kranken lassen sich nicht schwer die Dispositionscharakter der Gesunden zu den gefährlichen Krankheiten auch in dem gesundesten Zustande voraus erkennen. Wie unendlich wichtig wäre eine solche physiognomische Semiotik, oder in der Natur des Körpers und seiner Bauart gegründete Prognostik der möglichen, der wahrscheinlichen Krankheiten! Wie wichtig, wenn der Arzt mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zum Gesunden sagen könnte – „Natürlicher Weise hast du einst diese oder jene Krankheit zu erwarten! Nimm dich vor diesem, von jenem wohl in Acht! Wie das Pockengift in deinem Leibe schlummert, und so und so erweckt wird – so die Hektik! So das hitzige Fieber! So das Kalte!“ – Eine physiognomische Dialektik – Zimmermann! So ein Werk wäre deiner würdig.*39
Lavaters „physiognomische Semiotik“ scheint in erster Linie eine Prognostik zu sein. Diese kann die Krankheit an der „Bauart“ des Körpers erkennen und lässt die Interpretation eines „Dispositionscharakters“ für gewisse Krankheiten zu. Diese könnten gerade nicht an den temporären Verfärbungen oder den Bewegungen des Gesichts im Rahmen einer Pathognomik erkannt werden, vielmehr seien sie bereits in den gesunden „festen Teilen“ inhärent vorhanden. Im Rahmen einer „Dialektik“ könne der Physiognom ferner gewisse krankhafte Charaktere wie die „Hektik“ feststellen. Dieses Thema schließt an Lavaters vorhergehende Diskussion zu Erbkrankheiten an. Die „Ungestalten des Körpers“ kämen von „Erbübeln“, die
Siehe Eich, S. 42 – 81, Johannes Zimmermann: Von der Erfahrung in der Arzneikunst. Zürich. 1763, S. 476 – 477 und Foucault: Die Geburt der Klinik, S. 31 – 32. 38 Percival, S. 161. 39 Lavater: Fragmente. Band 4, S. 366. Lavater und Zimmermann |
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auf schlechte Körpersäfte zurückzuführen seien.40 Dabei behauptet Lavater, erstaunlich modern, dass das „Keimliche“ der Mutter bereits eine „physiognomische Präformation“ erfahren habe.41 Im Zusammenhang der Semiotik will Lavater gerade den „üblen“ Keim im Gesicht erkennen und ein selektives Denken begründet wissen; ein Denken, das gewisse Gesichtsformen per se pathologisiert und aussondert. Damit erinnert Lavaters Vision an die Prämissen der Eugenik, einer Nachfolgedisziplin der Physiognomik, aber auch an heutige Diskussionen zur Früherkennung von Behinderungen am Fötus, insbesondere die Methode der sogenannten Präimplantationsdiagnostik (PID ).42 Anders als die Methode Lavaters, der die medizinische Semiotik nicht weiter ausdifferenzierte, wurden die Methoden der Eugenik und der PID tatsächlich umgesetzt. Die Vision, dass nur gesunde Menschen Nachkommen zeugen dürften, wurde im Nationalsozialismus 1933 mit dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ drastisch umgesetzt, wobei etwa 400.000 Menschen zwangssterilisiert wurden. Auch im Rahmen der PID können gegenwärtig jene Embryos, die Zellmutationen aufweisen und auf Behinderungen schließen lassen, verworfen werden.43 4.1.3 Die Miene und ihre Farbe
In einer Fußnote zitiert Lavater ausführlich aus Zimmermanns Von der Erfahrung in der Arzneikunst, das der Physiognom paradigmatisch als „semiotische Schrift“ versteht: Der Beobachtungsgeist sucht die Physiognomie der Krankheiten. Die Physiognomie ist zwar über den ganzen Körper verbreitet: allein es gibt auch Zeichen der Krankheiten, ihrer Abänderungen und ihres Fortganges in den Zügen und dem Wesen des Angesichtes überhaupt und seiner Theile. Der Kranke hat zuweilen die Miene seiner Krankheit. In hitzigen Fiebern, in Gallenfiebern, in abzehrenden Fiebern, in der Bleichsucht, in der gemeinen und der schwarzen Gelbsucht, in 40 „Da die [Körper-]Säfte von übler Beschaffenheit sind, die sich zu gewissen Teilen hinbegeben sollten, so werden auch diese Teile davon mehr oder weniger übel gebildet, je mehr oder weniger sie eben solcher schlimme Eindrücke fähig sind.“ Lavater: Fragmente. Band 4, S. 333. 41 Ebd., S. 334 – 335. 42 Siehe das Interview mit dem Medizinhistoriker Axel W. Bauer auf http:// www.zeit.de/wissen/geschichte/2010 – 02/geschichte-eugenik-interview (letzter Zugriff: 12. Dezember 2014). 43 Ebd.
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Würmern. (…) in der wütenden Geilheit sieht der schlechteste Beobachter die Miene – wie mehr in hitzigen Fiebern das Angesicht von seiner natürlichen Miene abweicht, desto gefährlicher ist diese Veränderung. Ein Mensch, der mich mit einem roten Angesichte verwirrt und wild anschaut, da seine Blicke sonst sanft und stille waren, verkündigt mir eine Verwirrung. Ich habe aber auch mit einem blassen Angesichte einen unbeschreiblich wilden Blick gesehen, da sich in einer Brustentzündung die Natur einem Anfall näherte, da der Kranke über und über kalt, und sogar sinnlos war. – Ein blöder Anblick, hängende und blasse Lippen werden in hitzigen Fiebern für schlimm gehalten, weil sie eine große Entkräftung bedeuten. Ein Angesicht, das in hitzigen Fiebern plötzlich zusammenfällt, ist höchst gefährlich. Der Brand ist da, wenn in einer heftigen Entzündung die Nase spitzig, das Angesicht blaufarbig und die Lippen bläulich sind. Überhaupt kann in dem Angesichte etwas Fürchterliches liegen, das aus anderen Zeichen nicht erkennbar ist, und doch sehr viel bedeutet.44
Zimmermanns entscheidende Bemerkung, die in direkter Analogie zu Lavater steht, ist, dass der Blick des Arztes nach einer „Physiognomie der Krankheiten“ suche. Diese Physiognomie kann den gesamten Körper umfassen, doch die Anzeichen der Krankheit werden vor allem im Angesicht, seinen „Zügen“ und seinem „Wesen“ erkennbar. Auch sie seien gewissermaßen „prognostisch“, weil sie Auskunft über die Veränderung und vor allem den Fortgang der Krankheit geben. Doch das unverkennbare Zeichen einer gegenwärtigen Krankheit scheint – entgegengesetzt zu Lavaters Untersuchung der unveränderbaren Gesichtskonturen – für die „Miene“, die faktische Gesichtsveränderung, reserviert: „Der Kranke habe zuweilen die Miene seiner Krankheit“. Der Aspekt der „Miene“ fehlt in den Fragmenten vollkommen. Denn der Ausdruck verweist auf das bewegte Gesicht der Pathognomik. Es ist auffällig, dass Zimmermann in der Originalausgabe Von der Erfahrung in der Arzneikunst gerade vom „Gesicht“ der Krankheit im Rahmen der Diagnose spricht.45 Ob Lavater eine andere Ausgabe vorlag oder ob er wissentlich den Begriff des Gesichts durch den der Miene ersetzte, kann nicht gesagt werden. Für die letzte Annahme spricht Lavaters stringente Konnotation des Gesichts mit den „festen Teilen“. Anders als Lavaters unbewegte, häufig monochrome Gesichter wird das Gesicht bei Zimmermann zu einer Folie, die sich verfärben kann. 44 Zimmermann zitiert nach Lavater. Siehe Fragmente. Band 4, S. 366. 45 Zimmermann. 1763, S. 401. Lavater und Zimmermann |
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Für Zimmermann existieren vier Verfärbungen, die auf dem Gesicht erscheinen und auf eine pathologische Veränderung schließen lassen: Rot, Blau und Gelb sowie ein „Blass“, ein helles Inkarnat. Hängende und blasse Lippen werden im Fieber als „schlimm“ interpretiert, weil sie eine „Entkräftung“ bedeuten. Eine bläuliche Verfärbung der Lippen und des Angesichts signalisiert den „Brand“ einer Entzündung. Rot steht für eine Verwirrung im „hitzigen Fieber“. Gelb geht mit der Gelbsucht einher. Mit dem Fokus auf der Analyse der fazialen Verfärbungen distanziert sich der Arzt von den physiognomischen Lehren, obwohl er zuvor noch ganz in physiognomischer Manier verlauten ließ, dass in den „Zügen und dem Wesen des Angesichts“ die Krankheit zu erkennen ist. Für eine medizinische Diagnose ist die Farbe des Gesichts ausschlaggebend. Mit der Feststellung, dass die Krankheit im Gesicht zu erkennen ist, wird der Körper in ein Innen und ein Außen aufgeteilt. Der Körper verbirgt die Krankheit in seinem Inneren, und doch ist er transparent, da er die Krankheit durchscheinen lässt. Für Zimmermann und andere Semiotiker ist die Farbe eine Erscheinung, ein sogenanntes „Signum“, das die Krankheit ankündigt.46 Das Signum manifestiert sich im Gesicht. Damit wird es, ganz im modernen Sinne, zu einem Signifikanten eines dahinterliegenden Signifikats.47 Der Signifikant, das farbige Gesicht, ist zwangsläufig durch eine Transparenz, die die Sichtbarkeit der Krankheit gewährleistet, gekennzeichnet. Die Krankheit schimmert durch den Signifikanten. Diese Unterscheidung in Signifikat und Signifikant scheint nach Foucault ein wesentliches Merkmal der klassischen Medizin zu sein.48 Foucault ordnet Zimmermanns Schrift daher der klassischen Periode zu. In dieser Epoche ist nach Foucault die Krankheit als eine Entität konzipiert, die im medizinischen Tableau nahezu eine „botanische“ Gestalt annimmt und sich am Körper des Patienten bemerkbar macht.49 Die Krankheit geht aber nicht aus dem Körper hervor; sie hat ihre wesentlichen Koordinaten auf dem Tableau, ihre „sinnliche Erscheinung“ findet sie im Körper.50 46 Siehe Ferdinand Georg Danz: Semiotik oder Handbuch der allgemeinen Zeichenlehre zum Gebrauche für angehende Wundärzte. Leipzig. 1793, S. 2. 47 Siehe beispielsweise Jacques Derrida: Die Schrift und die Differenz. Frankfurt a. Main. 1976. 48 Foucault: Die Geburt der Klinik, S. 104. 49 Damit sind beispielsweise die genealogischen Tableaus von Krankheiten, die in der Form eines Baumes dargestellt werden, gemeint. Ebd., S. 16 50 Ebd., S. 26.
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In diesem Zusammenhang verweist Zimmermanns Text auf das Problem der Auslegung der Zeichen, die sich am menschlichen Körper manifestieren. Auch wenn Zeichen und Bezeichnetes unmittelbar verbunden zu sein scheinen, sind sie nicht komplett deckungsgleich. Denn der Kranke nimmt nur zuweilen die Miene seiner Krankheit an. Die am Körper auftauchenden Zeichen sind grundsätzlich beliebig deutbar. Ein rotes Angesicht kann auf eine Verwirrung verweisen; zugleich kann auch das blasse Antlitz einen wilden Blick haben und so eine Verwirrung implizieren. Ferner können die Zeichen die Krankheit nicht spezifizieren. Sie signalisieren lediglich eine „Entkräftung“. Für Foucault ist die Funktion des Signifikanten, der Zeichen und Symptom ist, in der Klassik und der Moderne unterschiedlich konzipiert. In der klassischen Periode lässt das Symptom – Husten, Fieber, Seitenschmerz – die „Figur“ der Krankheit durchscheinen.51 Nach Foucault zeigt das Zeichen an, was eintreten wird, was vorangegangen ist und was sich gerade abspielt; „es ist prognostisch, anamnetisch und diagnostisch“.52 Doch die Lokalisierung der Krankheit im Körper und die physische Überblendung von Signifikat und Signifikant ist noch nicht vollzogen.53 Dies geschieht erst mit der pathologischen Anatomie zur Jahrhundertwende: wenn das Auge des Anatomen „ins Innere des Körpers geschaut“ und diesen als den „krank gewordenen Körper“ anerkannt haben wird.54 Erst dann könne ein Zeichen mit der anatomischen Veränderung im Körper vollends gleichgesetzt werden. Nach Foucault wird sich im Zuge dessen die Beziehung zwischen Signifikat (Krankheit) und Signifikant (Zeichen und Symptom) verändern. Das Signifikat wird restlos im Zeichen zur Erscheinung kommen. Der Signifikant wird zugleich „völlig transparent“ für das Signifikat.55 Für den Arzt wird die Krankheit zur reinen Erscheinung.
51 Ebd., S. 104. 52 Ebd. 53 Ebd., S. 19. 54 „Von ihm [dem Tod] aus nimmt die Krankheit in einem Raum Gestalt an, der mit dem Raum des Organismus eins ist, dessen Linien und Gliederungen sie folgt, nach dessen allgemeiner Geometrie sie sich organisiert und auf dessen Besonderheiten sie eingeht. Sobald der Tod in ein technisches und begriffliches Instrumentarium integriert war, konnte die Krankheit zugleich verräumlicht und individualisiert werden. Raum und Individuum werden zwei einander zugeordnete Strukturen, die sich aus einer Wahrnehmung des Todes notwendig ergeben.“ Ebd., S. 172 55 Ebd., S. 105. Lavater und Zimmermann |
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Im Sinne des Signifikats ist für Zimmermann der Begriff des „Charakters“ für eine partikuläre Krankheit nicht anwendbar; vielmehr stellt er grundsätzlich den unveränderbaren Kern einer ideellen Krankheit dar.56 Die Ursache der Krankheit ist dagegen für das „Temperament“, das dem Menschen innewohnt, reserviert.57 Dieses beschreibt die Beschaffenheit des „Hirns und der Nerven, nach welcher der Mensch empfindet, denkt und handelt (…) und handelt wie er empfindt“.58 Das Temperament, das in jedem Menschen enthalten ist, gibt durch einen unterschiedlichen „Grad der Empfindlichkeit und der Beweglichkeit der Nerven“ Anlass zu einer Krankheit.59 Es handelt sich um eine „physiologische Eigenschaft“ im Sinne der antiken Humoralpathologie, die zur Erklärung allgemeiner Körpervorgänge herangezogen wurde. Nach Hippokrates enthielt der Körper vier Säfte: Blut, Schleim, schwarze und gelbe Galle. Diesen Flüssigkeiten wurde jeweils ein „Temperament“ zugewiesen. Die Flüssigkeiten bestimmten die Konstitution des Körpers, dessen Schmerzen und Gesundheit.60 In Hippokrates’ Über die Natur des Menschen (circa 400 v. Chr.) wird die Gesundheit als der Zustand definiert, in dem die Säfte in der richtigen Proportion zueinander stehen. Schmerz entsteht, wenn eine der Flüssigkeiten im Überschuss vorhanden ist. Das Temperament erlaubt nicht nur die Bestimmung der Krankheit oder der Gesundheit, es verweist zudem auf ein Konglomerat bestehend aus Eigenschaften und Gewohnheiten, die in jedem Individuum zu finden sind.61 Der Humoralpathologie wurde ein Persönlichkeitskonzept abgewonnen; je nach Vorherrschaft einer der vier Flüssigkeiten im Körper bildete sich das damit verbundene Temperament des Menschen besonders hervor. Das Blut wurde mit dem Sanguiniker konnotiert, Schleim mit dem Phlegmatiker, schwarze Galle mit dem Melancholiker, gelbe Galle mit dem Choleriker.62
56 „Jede Krankheit muss von dem Arzte gekannt sein, wie sie sich selbst überlassen fortgeht. Der wahre, beständige und ewige Charakter der Krankheit würde niemals gefunden, wenn man den Lauf der Natur durch eine unschickliche Diät veränderte.“ Zimmermann. 1763, S. 471 – 472. 57 Johannes Zimmermann: Von der Erfahrung in der Arzneikunst. Zweite Auflage. Zürich. 1787, S. 605. 58 Ebd. 59 Ebd. 60 Elizabeth A. Williams: The Physical and the Moral. Anthropology, Physiology, and Philosophical Medicine in France, 1750 – 1850. Cambridge. 1994, S. 57. 61 Ebd. 62 Ebd.
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In diesem Sinne bemerkt Zimmermann, dass wir zu einer Krankheit vermöge unseres Temperaments geneigt seien, wenn die gelegentlichen Ursachen derselben [Krankheit] durch die Empfindlichkeit und Beweglichkeit in unserm Körper eher wirksam werden, als in dem Körper eines andern.63
Das Temperament hat demnach eine Auswirkung auf die physiologischen Vorgänge im Körper. Diese Vorgänge begünstigten wiederum die Entstehung der Krankheit. Damit wird das Temperament grundsätzlich pathologisch konnotiert.64 Der Körper scheint, ganz im physiognomischen Sinne, über ein unveränderbares, potentiell krankhaftes Temperament zu verfügen, während eine Krankheit nur eine „gelegentliche“ Erscheinung ist. Die Krankheit könne entstehen, wenn sie dem Temperament des Körpers „am nächsten“ stehe.65 Damit wird vorausgesetzt, dass auch Krankheiten über ein Temperament verfügten. So wird die Entstehung der Krankheit als die Überschneidung der Eigenschaften des menschlichen Temperaments und des Temperaments der Krankheit verständlich. Ferner betont Zimmermann, dass Krankheiten in einigen Fällen das Temperament des Menschen ändern könnten.66 Vor diesem Hintergrund oszillieren Zimmermanns Ausführungen zwischen den Lehren der Physiognomik und der zu dieser Zeit vorherrschenden Vier-Säfte-Lehre. In diesem Zusammenhang kann nicht eindeutig gesagt werden, ob die Physiognomik des 18. Jahrhunderts ihre Methoden der Medizin zu verdanken oder ob umgekehrt die Physiognomik die Medizin beeinflusst hat. Obwohl einige Autoren betonen, dass die Physiognomik ursprünglich aus der Medizin hervorgegangen ist, ist am Beispiel Lavaters und Zimmermanns zu sehen, dass die Disziplinen stets im gegenseitigen Austausch begriffen waren.67 Zimmermanns Einfluss auf Lavater wird in der von ihm zitierten Textstelle aus der Erfahrung ersichtlich. Zimmermanns Bezug zur Physiognomik wird zugleich in seiner zweiten Auflage der Arzneikunst aus dem Jahr 1787 evident, wenn dieser erläutert, dass die Nase Aufschluss über das Tempe-
63 64 65 66 67
Zimmermann. 1787, S. 605. Siehe Williams, S. 58. Zimmermann. 1787, S. 611. Ebd., S. 628. Degkwitz, S. 27 – 28. Lavater und Zimmermann |
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rament des Menschen geben könne.68 Allerdings verwendet der Mediziner den Begriff des Temperaments, nicht den des Charakters. Er fährt auch nicht im Sinne Lavaters fort, wenn er behauptet, dass in der Nase die „Nerven blos lägen“.69 Doch er gelangt auf einem physiognomischen Wege zu einer medizinischen Schlussfolgerung, wenn er erklärt, dass je mehr die Nase empfindlich sei, umso mehr handele es sich um ein empfindliches Temperament. Es scheint, als habe Zimmermann die physiognomische Methode für die medizinische Lesung instrumentalisiert. Denn im unmittelbaren Fokus seiner Betrachtung stehen die „festen Teile“ des Gesichts.70 Auch Zimmermanns Gebrauch der Vokabel „Miene“ ist pejorativ konnotiert und stimmt mit Lavaters Verständnis des Begriffs überein, wie ihn Letzterer aus der Pathognomik entnommen hatte. Ausgehend von Lichtenberg, der die Pathognomik als eine Disziplin für den Schauspieler versteht,71 über Immanuel Kant (1724 – 1804), der erklärt, dass Mienen „ins spiel gesetzte gesichtszüge“ seien,72 begreift Lavater die Miene als eine künstliche Verzerrung, die der Untersuchung des Charakters in der „festen“ Form zuwiderläuft. Ähnlich sieht Zimmermann die Miene als eine hässliche Verzerrung, die nur dann auftritt, wenn der Mensch krank ist:
68 Zimmermann. 1787, S. 607. 69 Ebd. 70 Diese Betrachtungsweise wird später der von Eich genannte Semiotiker Ferdinand Georg Danz (1761 – 1793) ausdifferenzieren, wenn er die Signa in „diagnostische Zeichen“ und „pathognomische Zeichen“ unterteilt. Die „signa diagnostica“ sind nach Danz diejenigen Zeichen, die auf eine gegenwärtige Krankheit und ihre Ursachen schließen lassen. Die pathognomischen Zeichen zeigen eine generelle Krankheit an. Die diagnostischen Zeichen verzweigen sich weiter in „anamnetische“ und „prognostische Zeichen“. Für die „Signa anamnetica“ werden die Zeichen eines vorhergegangenen Zustandes nicht zu Hilfe genommen. „Prognostische Zeichen“ können weiter über den Ausgang der Krankheit Auskunft geben. Siehe Danz, S. 2 – 3. Siehe auch Michel Foucault zu Broussonet in Die Geburt der Klinik, S. 106. 71 „Für den Schauspieler hätte die Erzählung pathognomischer Zeichen Nutzen, zumal der größten Glieder des Körpers, als zum Exempel des ganzen Kopfes, der Arme, der Beine, denn ob er sie gleich kennt, wenn er sie sieht, so kann er sich doch in einem Affekt, für den er bezahlt wird, nicht finden, und hat er eines gefunden, so geben sich die andern von selbst.“ Lichtenberg, S. 98. 72 Zitiert nach: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Band 6. Leipzig. 1885, Sp. 2172.
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In hitzigen Fiebern, in der Bleichsucht, in der gemeinen und der schwarzen Gelbsucht, in Würmern, in der wütenden Geilheit sieht der schlechteste Beobachter diese Miene.73
Anders als Lavaters Miene, die auf eine Künstlichkeit verweist, versteht Zimmermann die Miene als Ausdruck einer Natürlichkeit, die aus einer physiologischen Veränderung resultiert. Lavater will die „Verzerrung“ ausschließen, weil sie die Beziehung zwischen einem unveränderlichen Charakter und seinem Zeichen entkoppeln würde. Der Fokus auf die „festen Teile“ soll gerade das Problem der Signa überbrücken. Zwar bedient er sich im vierten Band der Fragmente der Vokabel der Pathognomik, indem er, anders als in seiner ersten Schrift, nun einen „bewegten Charakter“ vom „stehenden“ unterscheidet, und doch sondert er die Miene grundsätzlich aus den Büchern aus.74 Für Zimmermann bleibt sie dagegen wesentlicher Gegenstand seiner Untersuchung. Die Miene gilt unmissverständlich als natürliches pathologisches Zeichen. In diesem Zusammenhang nähern sich Zimmermanns Ausführungen eher den Lehren der Pathognomik an. Ein entscheidender Unterschied zwischen der physiognomischen und der semiotischen Untersuchung war vor allem der Fokus der Semiotik auf die gegenwärtige farbliche Veränderung. In diesem Zusammenhang fällt auf, dass neben der Miene auch die Farbe in Lavaters Fragmenten nicht besprochen wird. Der Farbmangel scheint programmatisch zu sein. Dies legt die Lesung der monochromen Silhouette und der farblosen konturenhaften Porträts nahe. Die Fragmente enthalten zahlreiche Porträts von Daniel Chodowiecki (1726 – 1801), schwarz-weiße Nachzeichnungen von Skulpturen, die bekannte Persönlichkeiten darstellen und zur physiognomischen Interpretation herangezogen wurden. Doch noch in Von der Physiognomik (1772) fragt Lavater im Sinne der Vier-Säfte-Lehre, ob nicht ein „medizinischer Charakter“ gerade in der Farbe erkennbar werde: Kann man es nicht der Vernunft dartun, dass die Schwindsucht unserm Angesichte kraft ihrer Natur eine solche Modifikation geben; das die ausgetretene Galle die Haut und Augen so und so färben müsse?75
73 Zimmermann. 1763, S. 401. 74 Lavater: Fragmente. Band 4, S. 35, 39, 119 – 121. 75 Lavater: Von der Physiognomik, S. 6. Lavater und Zimmermann |
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Seine weiteren Ausführungen befassen sich mit den „Krankheiten überhaupt“, insbesondere mit der Farbe des Körpers.76 Die Krankheiten und Zustände des Körpers, die in den Bereich der Physiognomik fallen, listet Lavater in einem gesonderten Kapitel auf; es sind all jene Krankheiten, die vor allem sichtbar sind.77 Die Bemerkungen zum medizinischen Charakter und seiner Erkennung im Gesicht tauchen in den Fragmenten nicht weiter auf. Es stellt sich die Frage, warum der Bezug zur Farbe aus den später erschienenen Fragmenten „ausradiert“ wurde. Wie beschrieben, weist Lavater die medizinische Semiotik von sich zurück; er will sie der Expertise Zimmermanns überlassen. Wenn man das Eingeständnis seiner vermeintlichen Unwissenheit bezüglich physiologischer Vorgänge nicht weiter in Betracht zieht, kann vermutet werden, dass sich der Physiognom durch den Ausschluss der Farbe in einem bestimmten Diskurs positionieren wollte. In diesem Sinne ist der Farbmangel durchaus im Rahmen der zeitgenössischen Diskussion um die Überlegenheit der Linie gegenüber der Farbe in der künstlerischen Darstellung zu denken. Dieser Diskurs begann sich zu dieser Zeit mit Johann Wolfgang von Goethe (1749 – 1832) und Johann Joachim Winckelmann (1717 – 1768) zu formieren. In seinen kunsttheoretischen Aufsätzen zur bildenden Kunst aus den Jahren 1772 – 1808 bewertet Goethe die Plastik und die Linie höher als die Farbgebung in der Malerei.78 Auch Winckelmann hebt die Überlegenheit des „Contours“ gegenüber dem „Colorit“ in der weißen griechischen Skulptur hervor.79 In seinen „Gedancken über die Nachahmung“ (1756) sagt er explizit, dass Krankheiten „Schönheit“ zerstören, und schließt anhand der farblosen antiken Skulpturen, dass Krankheiten den Griechen unbekannt gewesen 76 Ebd., S. 89 – 92. 77 Die von Lavater hier aufgeführten Krankheiten verweisen auch auf den Hörsinn, der in der Physiognomik keine Rolle spielt. Beispielsweise könnten der Puls, die „Hypochondrie“, die Epilepsie, die Gehörlosigkeit, der Hunger, „Todeszeichen“, „Verwerfungszeichen“ und die „Grade des Schmerzes“ nicht nur gesehen, sondern auch gehört beziehungsweise nicht gehört werden. Siehe Von der Physiognomik, S. 92. 78 Siehe Goethes Kunsttheoretische Schriften und Übersetzungen. Hg. Siegfried Seidel. Berlin und Weimar. 1973, S. 55 ff. 79 Johann Joachim Winckelmann: „Gedancken über die Nachahmung der griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst“. In: Frühklassizismus. Position und Opposition: Winckelmann, Mengs, Heinse. Bibliothek der Kunstliteratur. Hg. Gottfried Boehm und Norbert Miller. Band 2. Frankfurt a. Main. 1995, S. 13 – 50.
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seien.80 Es ist anzunehmen, dass beide Denker in diesem Zusammenhang auf die Poetik des Aristoteles rekurrieren. Im sechsten Kapitel unterstreicht Aristoteles, dass das Fundament der Tragödie in erster Linie der Mythos ist, an zweiter Stelle kommen die Charaktere. In diesem Zusammenhang zieht er eine Parallele zur Malerei: Denn wenn jemand blindlings Farben aufträgt, und seien sie noch so schön, dann vermag er nicht ebenso zu gefallen, wie wenn er eine klare Umrisszeichnung herstellt. Die Tragödie ist Nachahmung von Handlung und hauptsächlich durch diese auch Nachahmung von Handelnden.81
Dabei wird deutlich, dass der Umriss in Analogie zu den „Charakteren“ der Tragödie steht; die Charaktere sollten einen bestimmten klar konturierten „Charakter“ im Theater verkörpern. Die Farbe wurde als das „Füllelement“ des Umrisses gedacht und musste sich diesem unterordnen. Denn, wie Aristoteles feststellt, lediglich „blindlings“ aufgetragene Farbe könne nicht „gefallen“. Lavater war mit diesem Diskurs vertraut. Die diagnostische Bedeutung der Farbe und die Entstellung, die sie produzieren konnte, waren ihm bekannt. Als ein pathologisches „Merkmal“ konnte die Gesichtsfarbe als Teil der von Lavater gemiedenen „Miene“ verstanden werden. Sie war eher Stigma als das Anzeichen der reinen Form. In diesem Zusammenhang fällt auf, dass Lavaters physiognomische Studienblätter, die vorwiegend mehrfarbige Aquarelle enthalten, keiner farblichen Analyse unterzogen wurden. In seinen Interpretationen der Gesichter bezieht sich Lavater ausschließlich auf die „festen Teile“.82 Die Farbe ist dabei physiognomisch irrelevant. Dagegen ist der Fokus auf den Gegenstand der Farbe in den semiotischen Schriften im Europa des 18. und frühen 19. Jahrhunderts allgegenwärtig, so zum Beispiel im „Essay über den Gesichtsausdruck in Gesundheit und Krankheit“ (1801/2) des Franzosen François Cabuchet. Der Verfasser klassifiziert Krankheiten ausgehend von der Verfärbung, die sie hervorrufen. Im dritten Band gilt seine Aufmerk-
80 Ebd., S. 17 – 18. 81 Aristoteles: Poetik. Hg. Manfred Fuhrmann. Stuttgart. 1982, Kapitel 6, Zeilen 1450 a–1450 b. 82 Siehe beispielsweise Lavaters Studienblätter in Johann Caspar Lavater. Die Signatur der Seele. Lavater und Zimmermann |
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samkeit ausschließlich der Farbe des Gesichts sowie den Gesichtsmuskeln, die von der Krankheit affiziert werden.83 Vor diesem Hintergrund ist es erstaunlich, dass die semiotischen Schriften keine Bilder enthalten. Die durch Krankheiten hervorgerufenen Verfärbungen werden allein mit der Sprache festgehalten. Man kann vermuten, dass der Verzicht auf Bilder die Reproduzierbarkeit der Schriften vereinfachte. Gleichzeitig verweist der offensichtliche Bildmangel auf die Tatsache, dass gerade die Sprache und nicht das Bild die primäre Funktion in der Beschreibung des medizinischen Phänomens innehatte und dieses naturgetreu beschreiben konnte. Während die Semiotik grundsätzlich darauf fokussiert war, Phänomene zu beschreiben und zu deuten, konnte sie auf der Grundlage der Verfärbung eine spezifische Diagnose nicht vornehmen. Auch Zimmermann kann die am Körper auftauchenden Zeichen lediglich als „gefährlich“ oder „schlimm“ einstufen, die Krankheit lässt sich aber nicht weiter ausdifferenzieren. Damit ist ein generelles Problem der medizinischen Semiotik benannt: Sie erlaubt nur die Feststellung einer „Entkräftung“.84 So bestimmt der Medizinhistoriker Wolfgang Eich das Ende der Semiotik auf das Jahr 1859, die Entdeckung der Zellularpathologie durch Rudolf Virchow (1821 – 1902). Diese führte die Krankheiten auf Zellveränderungen zurück. Dass die Semiotik nach der Erfindung der Zellularpathologie und mit dem Voranschreiten der anatomischen Pathologie vor allem in der klinischen Bildlichkeit überdauerte, wird im nächsten Kapitel im Zusammenhang der für sich stehenden Kranken- und Patientenporträts zu zeigen sein. 4.1.4 Die Sprache der Silhouette
Im Zusammenhang des 18. Jahrhunderts verweist Michel Foucault auf die Affinität der Krankheit zum Porträt und zur Sprache und zitiert den englischen Mediziner Thomas Sydenham (1624 – 1689): Die Krankheit wird grundsätzlich in einem Projektionsraum ohne Tiefe wahrgenommen, in einem Raum der Koinzidenzen ohne zeitlichen Ablauf: es gibt nur eine Ebene und einen Augenblick. Die Form, in der sich die Wahrheit ursprünglich zeigt, ist die Oberfläche, auf der das Relief hervortritt und zugleich verschwindet – das Porträt: „Derjenige, der die Geschichte der Krankheiten 83 Jordanova, S. 129. 84 Eich, S. 124.
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schreibt, muß mit Aufmerksamkeit die klaren und natürlichen Erscheinungen der Krankheiten beobachten, so wenig interessant sie ihm auch scheinen mögen. Er muß hierin die Maler nachahmen, die, wenn sie ein Porträt machen, darauf bedacht sind, bis zu den kleinsten natürlichen Dingen und Spuren auf dem Gesicht der zu porträtierenden Person alles wiederzugeben.“ Die erste Struktur der klassifizierenden Medizin ist der flache Raum des Immerwährend- Gleichzeitigen – das Tableau.85
Um die Notwendigkeit einer präzisen medizinischen Beschreibung mittels der Sprache hervorzuheben, bedient sich Sydenham der Metapher der Malerei. Sydenham kritisiert die Ungenauigkeit der Sprache der zeitgenössischen Mediziner. Es gilt, Phänomene möglichst genau zu beschreiben. Diese sollten nicht einem vorgefertigten Muster entsprechen, vielmehr sollten sie der Natur entnommen worden sein. Indem der Arzt die Maler, die in ihren Bildern die „kleinsten Flecke kopierten“, nachahmt, verfährt er akkurat.86 Die Sprache der Medizin hat sich daher nach dem mimetischen Grundsatz der Malerei zu richten.87 Nach Foucault kommt diese Vorbildfunktion der Malerei der episteme mit dem Fortschreiten des sprachlichen Primats im 19. Jahrhundert abhanden.88 Doch noch im 18. Jahrhundert sind Porträt, Relief und Sprache ideell aufs Engste miteinander verwoben. Diese Verflechtung ist in Lavaters Werk insbesondere in der Silhouette zu sehen. Das von Foucault beschriebene Relief verweist dabei auf das Wechselspiel von Hervortreten (Zeigen) und Zurücktreten (Verbergen) des Konturs des Schattenrisses. Es verweist gewissermaßen auf die Intervalle, das Sprechen und Nichtsprechen, die im Sprechakt entstehen. Das Porträt 85 Foucault: Die Geburt der Klinik, S. 22. 86 Thomas Sydenham: The Entire Works of Dr. Thomas Sydenham, Newly made English from the Originals. London. 1679, S. 15 – 16. 87 Bezug nehmend auf Sydenham wird Jean-Louis Alibert diese Metapher in seinem Traktat zu Hautkrankheiten (1825) erneut aufgreifen: „Ich zeichne die Geschichte einer Familie von Krankheiten, die in dem Jahrhundert, worin wir leben, sehr häufig geworden sind; ich entwerfe das Gemälde einer großen Anzahl krankhafter Erscheinungen, die sich in jedem Alter, in jedem Range, in jeder Lage der zivilisierten Welt äußern (…).“ Siehe Jean-Louis Alibert: Vorlesungen über die Krankheiten der Haut. Übers. Max Bloest. Leipzig. 1837, S. 37. 88 Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge – Eine Archäologie der Humanwissenschaften [Les mots et les choses, 1966]. Übers. Ulrich Köppen. Frankfurt a. Main. 1974, S. 308. Lavater und Zimmermann |
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enthält insofern auch ein semantisches Relief, das jedoch nicht so klar konturiert ist wie die Silhouette. Es zeigt die Eigenschaften des Dargestellten in einen vollkommen flachen Raum und stellt sie auf diesem Wege dem physiognomischen Blick, der auf Oberflächen fokussiert ist, zur Verfügung. Vor diesem Hintergrund ist es erstaunlich, dass Lavater den Aspekt der Sprache in den Fragmenten nicht explizit thematisiert. Grundsätzlich ist die Sprache in Lavaters Werk allgegenwärtig. Nach Lavater ist es die Aufgabe des Physiognomen, eine göttliche Sprache wiederherzustellen, die für jeden universell lesbar ist.89 Gerade in diesem Zusammenhang wird die Silhouette als ein sprachliches System begriffen. Lavater bezeichnet die Abschnitte der Silhouette, vom Scheitel zum Haaransatz, von der Stirn zur Augenbraue, als Buchstaben, Silben und Wörter: Jeder einzelne Teil dieser Abschnitte ist an sich ein Buchstabe, oft eine Silbe, oft ein Wort, oft eine ganze Rede – der Wahrheit redenden Natur.90
Die Tatsache, dass Gesichtskonturen mit Buchstaben in Verbindung stehen, unterstreicht die Physiognomik, insbesondere den „Schattenriss“ als wahre und authentische Sprache. Verstehen und Interpretieren scheint für Lavater gleichbedeutend mit Lesen und Sprechen zu sein. Analog zur Physiognomik manifestiert sich die Krankheit im semiotischen Diskurs des 18. Jahrhunderts in einem semantisch-bildlichen Wahrnehmungsnetz. Die Beobachtung setzt eine Beschreibung der Krankheit voraus. Auch Zimmermann geht es um eine möglichst genaue Beschreibung, die der „Beobachtungskunst“ folge: Wer sich also um die wahre Erfahrung in der Arzneikunst bewirbt, muss sich vorerst um die wahre Geschichte der Krankheiten bewerben, denn diese ist die wahre und unveränderliche Grundlage der Kunst. Nach der Beobachtung der einzelnen Krankheiten ordnet er in die allgemeine Geschichte der Krankheiten jede Erscheinung, wie sie in der Natur bei den meisten Kranken auf die andere folgt. Er bringt dieselbe den Anfang, Fortgang und Ausgang jeder Krankheit, wie sie in den meisten Fällen wahrgenommen wird.91
89 Lavater: Fragmente. Band 4, S. 90. 90 Ebd. 91 Zimmermann. 1763, S. 474.
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Die visuell wahrgenommene Krankheit kann nur vermittels einer genauen Beschreibung in die „allgemeine Geschichte der Krankheiten“ aufgenommen werden. Die adäquate Versprachlichung des pathologischen Phänomens bezieht eine „Geschichte vom Anfang, Fortgang und Ausgang der Krankheit“ mit ein. In diesem Zusammenhang scheint die Beschreibung einen höheren erkenntnistheoretischen Stellenwert zu haben als die Beobachtung. Paradoxerweise wird die Struktur der Krankheit im Rahmen einer Geschichte im Medium des Bildes zugänglich gemacht. Dieses Bild ist ein medizinisches „Tableau“, ein sich verzweigender „Krankheiten-Baum“ oder eine Tabelle.92 Der von Foucault im Zusammenhang der klassifizierenden Medizin des 18. Jahrhunderts hervorgehobene „schöne flache Raum des Porträts“ ist kein wirkliches Bild, vielmehr ist es das tatsächliche Gegenüber, das wie ein Porträt betrachtet und gelesen wird.93 4.1.5 Die Idéologen
Eine Beziehung wie die zwischen dem Physiognomen Lavater und dem Arzt Zimmermann war keine Ausnahme. Die zweite Auflage der Physiognomischen Fragmente, die zwischen 1805 und 1809 in Frankreich als L’Art de connaître les hommes par la physionomie, par Gaspard Lavater erschien, hatte der Arzt Moreau de la Sarthe übersetzt.94 Dieser gehörte in den 1790er Jahren der Revolution den sogenannten Idéologen (idéologues) an, einer Gruppe von Medizinern, die sich für den engen Kontakt zwischen dem Arzt und dem Patienten, sowohl im Hinblick auf die Therapie als auch auf die medizinische Ausbildung, stark machte und zudem die Untersuchung von toten Körpern und damit die Pathologie, das heißt wesentliche Charakterzüge der modernen Klinik, betonte.95 Der oben genannte Semiotiker Cabuchet war ein Schüler Xavier Bichats (1771 – 1802), der ebenfalls zu den Idéologen gezählt wird.96 In der Medizin nach Xavier Bichat wurde der hippokratische Begriff des Temperaments durch den des Charakters erklärt: So wie der unveränderliche 92 Siehe beispielsweise den „Baum der Hautkrankheiten“ („l’arbre des dermatoses“) im Anhang des Traité Complet des Maladies de la Peau (1833) von Jean- Louis Alibert. 93 Foucault: Die Geburt der Klinik, S. 25 – 26. 94 Percival, S. 164. 95 Williams, S. 77. 96 Ebd. Lavater und Zimmermann |
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menschliche Charakter die „Physiognomie der Leidenschaften“ sei, so könne das Temperament als die Physiognomie der inneren Organe verstanden werden.97 Dabei fällt auf, dass Bichat die physiognomische Methode für eine Lesung des Körperinnern nutzte. Der Charakter ergab sich aus der Beobachtung der inneren Funktionen und schichtete sich tiefer ins Innere. Damit wird ein Kern implizit gemacht, der in den Leidenschaften erkannt wurde. In diesem Sinne fungiert der Charakter als die „Physiognomie“ der Leidenschaften. Gleichzeitig überschnitten sich die Vorstellungen von den Leidenschaften, dem Temperament und dem Charakter. Die Physiologie lehrte, dass die Leidenschaften und intellektuellen Fähigkeiten nicht lediglich vom Gehirn gesteuert wurden; vielmehr wurden sie von der „gesamten Organisation“ des Körpers beeinflusst.98 Diese Organisation war dabei im Sinne der Vier-Säfte-Lehre strukturiert. Sie war das Resultat des menschlichen Charakters und der Bewegung der Säfte, zugleich hatte sie ihre Ursache in der Beschaffenheit der Gewebe.99 Ferner zeigen der Gedanke des Charakters sowie der Modus des Sehens, das die Oberfläche des Körpers abtastete, eine unabdingbare Beziehung zwischen der Physiognomik und der Medizin. Im 19. Jahrhundert konnte die physiognomische Methode für die Observation von Hautkrankheiten und „Krankheiten, die den Gesamtorganismus affizieren“, durchaus fruchtbar gemacht werden.100 Im Zusammenhang organischer Erkrankungen konnte 97 Bichat zitiert nach Williams: „The character is (…) the physiognomy of the passions; as the temperament may be said to be of the internal functions: now, both these remaining constantly the same, and having a direction that habit and exercise never discompose, it is manifest that temperament and character must also be withdrawn from the influence of education.“ Williams, S. 101. 98 Ebd., S. 108. 99 Ebd. 100 „Die Krankheiten lassen sich füglich unter zwei Hauptarten bringen. Zu denen der ersteren Klasse rechnen wir alle diejenigen, welchen den Gesamtorganismus affizieren, indess die der zweiten Klasse solche sind, welche nur ein einzelnes Organ zu befallen pflegen. Mit denen der erstern Klasse hat so die pathologische Anatomie gar nichts gemein. So können z. B. alle die verschiedenen Fibergattungen allgemeines Übelbefinden erregen ohne dass, was sehr häufig geschieht, irgendein Organ besonders darunter zu leiden braucht. Daher ist auch die Kenntnis allgemeiner Krankheiten von der der organischen wesentlich unterschieden. Bei jenen ist die blosse Beobachtung hinreichend, bei diesen aber hat man neben der Beobachtung zugleich auch die Leichenöffnung.“ Xavier Bichat: Pathologische Anatomie. Übers. A. W. Pestel. Leipzig. 1827, S. 1.
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sie nur eine Annäherung an eine Diagnose sein. Es war die pathologische Anatomie von Bichat, die in den Körper eindrang und die Ursachen der inneren Krankheiten tatsächlich feststellte.101 Damit wurde die konzeptuelle Diskrepanz zwischen der Krankheit, die sich von außen in den Körper einfügt, und dem Körper, wie sie Foucault für das 18. Jahrhundert benannte, aufgehoben. Mit der Integration des Todes in ein „technisches und begriffliches Instrumentarium“ wurde die klinische Erfahrung zum anatomisch-klinischen Blick, der das Signifikat mit dem Signifikanten vermengt.102 Damit löste sich das Primat der Oberfläche nicht auf; vielmehr staffelte sich diese semiotische Beziehung tiefer ins Körperinnere und strukturierte das Innere im Sinne der Oberfläche.103 Im Zuge dessen wurde der Signifikant zunehmend „transparenter“, das Signifikat verlagerte sich in die tiefsten Schichten des Organismus.
4.2 Essays on the Anatomy and Philosophy of Expression (1824) Das Thema des Charakters und dessen Erkennung im Gesicht beschäftigte weiter die Physiognomik des 19. Jahrhunderts. Ein frühes Beispiel einer von der Physiognomik beeinflussten Schrift sind die Essays on the Anatomy and Philosophy of Expression (1824) von Charles Bell, der am Londoner Middlesex Hospital Arzt war und an der anatomischen Schule des Dr. John Hunter lehrte.104 Es handelt sich um ein anatomisches Traktat, das den Künstler über die Funktionen des Organismus unterrichtete. Darin untersucht Bell die Ursache des menschlichen Ausdrucks und seine sichtbaren Auswirkungen am Körper. Inhaltlich kann das Werk im Sinne einer anatomisch fundierten 101 Bichat zitiert durch Foucault: „Sie können zwanzig Jahre lang vom Morgen bis zum Abend am Bett der Kranken Notizen über die Störungen des Herzens, der Lungen, des Magens machen; all dies wird Sie nur verwirren; die Symptome, die sich an nichts anknüpfen, werden Ihnen eine Folge unzusammenhängender Phänomene darbieten. (…) Öffnen Sie einige Leichen; alsbald werden Sie die Dunkelheit schwinden sehen, welche die bloße Beobachtung nicht vertreiben konnte.“ Foucault: Die Geburt der Klinik, S. 160 – 161. 102 Ebd., S. 159. 103 Michel Foucault spricht von „Bichats Flächenblick“. Siehe Die Geburt der Klinik, S. 142. 104 Siehe das Titelblatt zu Charles Bell: Essays on the Anatomy and Philosophy of Expression. London. 1824. Essays on the Anatomy and Philosophy of Expression (1824) |
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Pathognomik verstanden werden. Damit setzen die Essays an der Stelle an, an der Lavater die Merkmale der körperlichen „Veränderungen“ in die Hände eines „erfahrenen Arztes“ übergibt. Obgleich Bell die Zusammenhänge im Inneren des Körpers beschreibt, bedient er sich der physiognomischen Methode; ausgehend vom Äußeren schloss er auf das Innere. Am Ausgangspunkt der Essays steht die Frage, inwiefern die Veränderungen des Gesichts grundsätzlich mit den inneren Zuständen vereinbar und genauer, welche physiologischen Vorgänge für den menschlichen Ausdruck und für einzelne Emotionen im Besonderen verantwortlich seien.105 Nur dann, wenn der Künstler diese Zusammenhänge begriffen hat, kann er den menschlichen Ausdruck adäquat darstellen. Bells zentrale Antwort beruht auf seiner Beobachtung, dass sogenannte „Nerven der Atmung“ („nerves of respiration“) für die Bewegungen der entsprechenden Muskeln verantwortlich seien. Letztere werden als die „Agenten des Ausdrucks“ („agents of expression“) verständlich und sind Teil eines im Gesicht und in der Brust befindlichen Atmungs- und Bewegungsapparates.106 Der Verfasser definiert zwar einen natürlichen Ausdruck wie Krankheit entgegengesetzt zu einem „natürlich verstellten“ wie Lachen, doch diese Unterscheidung wird mit der Feststellung, dass jeglicher Ausdruck eine Verzerrung und daher pathologischen Ursprungs ist, aufgehoben.107 Die Essays zielen grundsätzlich darauf ab, einen Kern, der unveränderbar ist und von dem aller Ausdruck ausgeht, aufzudecken. Damit ist ein genuin physiognomischer Aspekt benannt: Auf der Suche nach einem fixen Nenner, der Aufschluss über die Ursache des Ausdrucks geben kann, wird von einem Zeichen, das sich auf dem Gesicht manifestiert, auf das Innere geschlossen. Den Ursprung allen Ausdrucks sah Bell in einem zentralen „respirativen
105 „Extract from Dr. Beattie: ‚Descartes, and some other philosophers, have endeavoured to explain the physical cause which connects a human passion with its correspondent natural sign. They wanted to show, from the principles of motion, and of the animal anatomy, why fear, for example produces, trembling and paleness; why laughter attends the perception of incongruity; why anger inflames the blood, contracts the brows, and distends the nostrils; why shame is accompanied with blushing; why despair fixes the teeth together, distorts the joints, and disfigures the features; why scorn shoots out the lip; why sorrow overflows at the eyes; why envy and jealousy look askance; and why admiration raises the eyebrows and opens the mouth.‘“ Ebd., S. xi. 106 Ebd., S. 10. 107 Ebd., S. xv.
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Nerv“ („respiratory nerve“).108 Dieser verband die Nerven und Muskeln mit den Bewegungen des Brustkorbs. In den ersten drei Essays entfaltet Bell seine Theorie von den Ursachen des Ausdrucks. Diesen folgen Essays über die einzelnen Emotionen – Schmerz, Trauer, Glück, Angst, Wut und Wahn – und ab dem achten Essay Abhandlungen über die „unveränderbaren Formen“, die dem Ausdruck entgegengesetzt sind: die Schönheit und die Beschaffenheit menschlicher Schädel und deren Unterschiede untereinander. Der letzte Essay beschreibt den praktischen Nutzen der Anatomie für den Künstler und benennt Fehler, die im Studium der antiken Skulpturen gemieden werden sollten. Dabei fällt auf, dass Bell nicht nur die physiologischen Zusammenhänge des Menschen erklärt, seine Thesen übertrug er gleichermaßen auf Tiere. Damit griff er die pseudoaristotelische Tradition der Physiognomik auf, beispielsweise Giambattista della Portas De humana physiognomonia (1586), die das menschliche Profil in Analogie zum Tier gesetzt hatte. Seine Thesen unterstrich Bell stets durch Bilder, die er selbst gezeichnet hatte. Diese wurden als schwarz-weiße Lithografien von John Murray gedruckt und sind häufig zweifach, von Bell und Murray, signiert. Jedem Essay wird stets ein Bild vorausgeschickt, das Bell im nachfolgenden Text erläutert. Die ersten zwei Bilder zeigen das transparente Gesicht mit offengelegten Nervensträngen und Muskeln, darauf folgen Bilder der einzelnen Emotionen und schließlich Bilder der Schädel und deren Gegenüberstellungen. Die Bilder von lachenden, weinenden und zornigen Gesichtern rekurrieren auf kunsthistorische und literarische Motive, beispielsweise auf Shakespeares Dramen. 4.2.1 Das Alphabet des menschlichen Ausdrucks
Über die Metapher der Grammatik verdeutlicht Bell die Bedeutung der anatomischen Kenntnis für den Künstler: Anatomy stands related to the arts of design, as the grammar of that language in which they address us. The expressions, attitudes, and movements of the human figure, are the characters of this language; which is adapted to convey the effect of historical narration, as well as to show the working of human passion, and give the most striking and lively indications of intellectual power and energy.109
108 Ebd., S. xvii. 109 Ebd., S. vii. Essays on the Anatomy and Philosophy of Expression (1824) |
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In diesem Zusammenhang wird die Anatomie als die „Grammatik“ der Kunst begriffen. Insofern werden die „Ausdrücke“ („expressions“), „Haltungen“ („attitudes“) und „Bewegungen“ („movements“) der menschlichen Figur zu den „Charakteren“ („characters“) dieser Sprache. Der Plural von „character“ verweist auf seine doppelte Bedeutung im Englischen als „Zeichen“ und „Buchstabe“.110 Der menschliche Ausdruck wird mit dem Begriff des Charakters an die Sprache gekoppelt. Dieser wird zum kleinsten semantischen Nenner der anatomischen Sprache, einem medizinischen „Morphem“. Zugleich ist er austauschbar mit „Zeichen“ und fungiert als die kleinste bildliche Einheit der menschlichen Figur im Kunstbild. Die Kunst hat in diesem Zusammenhang den Anspruch einer Narration, die in der Vergangenheit liegt, zu erfüllen, gleichzeitig zeigt sie mit der Darstellung des Körpers die menschlichen Leidenschaften und intellektuellen Fähigkeiten.111 Für Bell besitzen der Kopf und das Gesicht eine übergeordnete Stellung in der Deutung des menschlichen Ausdrucks: By the form of the head we shall presently find that nature has been provident of an excellence in that organ on which the mind and superior intelligence of man depend, so in the muscles of the face there is a provision for a superiority of expression; and thus the very spirit by which the body is animated, and the signs of the various affections of the mind, shine out of the countenance.112
An der Form des Kopfes oder, mit Lavater gesprochen, an dessen „Bauart“ lassen sich laut Bell die mentalen Fähigkeiten, der Geist („mind“) und die Intelligenz („intelligence“), ablesen. Gleichzeitig scheint die Seele durch das Gesicht. Die Gesichtsmuskeln steuern dabei den Ausdruck. Es ist zu beobachten, dass Bell die Innen-Außen-Relation mit dem Dualismus zwischen Seele und Geist, wie ihn René Descartes (1596 – 1650) formuliert hatte, 110 Siehe den Eintrag des Oxford English Dictionary zu „character“: http://www. oed.com (letzter Zugriff: 23. Dezember 2014). 111 Es ist unklar, ob Bell im Zitat von Historiengemälden spricht und daher eine „historische Narration“ erwähnt. Denn sein Fokus auf das Gesicht verweist eigentlich auf das Genre des Porträts und schließt das Historiengemälde, in dem das Gesicht eine untergeordnete Rolle spielt, aus. Vermutlich nimmt Bell an, dass der Künstler die Person ohnehin in einem „historischen“ Rahmen positioniert. Um das Historiengemälde und den damit verbundenen Begriff der „Geschichte“, wie er im Original auftaucht, auszuschließen, habe ich den Ausdruck der „Vergangenheit“ benutzt. 112 Bell, S. 33 – 34.
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vermengt; die Seele, die intrinsisch an die Leidenschaften gekoppelt war, wird im Inneren des Körpers angenommen. Sie scheint durch den Körper und zeigt sich im Antlitz.113 Zugleich werden die mentalen Fähigkeiten ausschließlich mit dem Kopf konnotiert. So befanden sich beide tief in einem Inneren: Die Seele wurde im Körper, fernab des Kopfes, der Geist ausschließlich im Kopf verortet. Beide kommen in der äußeren Erscheinung des Menschen zu Tage und können physiognomisch gelesen werden. Diese Innen-Außen-Relation ist besonders in Bells Abbildungen des Gesichts zu sehen. Im Gesicht, das die Seele durchscheinen lässt, überlappen sich die Bedeutungen des Charakters als semantische und bildliche Struktur. Das erste Essay widmet sich den Funktionen der Nerven im Gesicht. Die dazugehörige erste Tafel (Abb. 17) zeigt den menschlichen Kopf im Profil. Nacken und Kopf sind durch einen sichtbaren Kontur markiert. Dieser umschreibt ein geschlossenes Auge, die Nase, den leicht geöffneten Mund und ein Ohr. Die Kopfhaut ist durchsichtig und gewährt Einblick auf eine Oberfläche, die eine von feinen Nervenbahnen durchzogene weiße Folie darstellt. Das Bild zeigt, dass die „respirativen Funktionen“ des Gesichts im „respirativen Nerv“ („respiratory nerve“) ihren Ursprung haben. Von dem dick markierten Nerv, der mit „A“ gekennzeichnet und unterhalb des Ohres zentral im Bild zu sehen ist, verzweigen sich die Nervenstränge in weitere Bereiche des Gesichts. An den „respirativen Nerv“ schließen weitere Nerven an, die wiederum weitere Funktionen nach sich ziehen. Damit suggeriert das Bild, dass die Nerven erst im Zusammenspiel und ausgehend von dem „respirativen Nerv“ einen Ausdruck ergeben. Mit der Transparenz der Haut macht sich ferner eine neue epistemische Motivik bemerkbar.114 Denn anders als in den Bildern des neuzeitlichen Écorchés von Marsyas, der seine abgezogene Haut in der Hand hält und so tot und gleichsam lebendig erscheint, wird hier mit der Beschreibung der funktionierenden („performing“) Nervenstränge ein lebendiger Körper vorausgesetzt. Handelte es sich bei Marsyas um eine nahezu heroische Enthüllung des Körpers, die aus einem gewaltsamen Akt hervorgegangen ist,115 113 Siehe René Descartes: Les Passions de l’âme (1649) (Die Passionen der Seele) und De homine (1662) (Über den Menschen). 114 Eine solche Motivik der Transparenz zeigen vor allem heutige medizinische Abbildungen, die als Computertomogramm hergestellt wurden. Sie bilden das Skelett oder die Nervenbahnen ab, während die Haut als Kontur zu sehen ist. 115 Nach seiner Häutung durch Apollon übergibt Marsyas seinen noch lebenden Körper der Wissenschaft. Essays on the Anatomy and Philosophy of Expression (1824) |
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Abb. 17 Nerven des Ausdrucks. In Charles Bell: Essays on the Anatomy and Philosophy of Expression. London. 1824.
wird das Wissen bei Bell mit dem Motiv des „Durchscheinens einer Tatsache“ kommuniziert. Der Betrachter gestaltet das Wissen aktiv mit. Denn die Transparenz des durch Bell dargestellten Gesichts ist eine gedachte – keine wirkliche. Die Existenz der Haut, die nicht zu sehen ist, wird implizit angenommen, wenn der Betrachter durch sie hindurchschaut. So „öffnet“ sich 164
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der Körper wie selbstverständlich den Augen des Beschauers. Der Betrachter erhält Einblick auf die freigelegten Nervenstränge, jedoch nicht auf die funktionierenden physiologischen Vorgänge. Die Nerven werden erst im Zusammenspiel mit den Muskeln in den Bildern der einzelnen Emotionen, die bewegte Porträts zeigen, mobil gemacht. Anders als bei Marsyas, der sich gewissermaßen vor den Augen des Betrachters selbst häutet und diesen so über dessen privilegierte Perspektive in Kenntnis setzt, scheint es, als dürfe hier der Betrachter zuschauen. Der transparente Mensch hält dabei seine Augen geschlossen, damit der Blick die Nervenbahnen fokussieren kann. Der dritte Essay, der die Funktionen der Gesichtsmuskeln erklärt, enthält ein Bild des Gesichts mit geschlossenen Augen und offengelegten Muskeln (Abb. 18). Das Gesicht ist wie eine Maske konzipiert; wir sehen nur das Gesicht ohne die Andeutung des restlichen Körpers. Obgleich das Bild mit der Sicht auf die freigelegten Muskeln an die Marsyas-Motivik erinnert, ist es nicht das Gesicht eines Écorchés. Auch hier suggeriert der Text, dass es sich um das Bild eines lebenden Körpers handelt. Unter der nicht zu sehenden und doch vorhandenen Haut manifestiert sich der ruhende Muskelapparat des Gesichts. In der Darstellung werden drei Bereiche hervorgehoben: das Areal um Augen und Stirn, Wangen und Lippen. Feine Muskelstränge umspielen dabei Augen und Mund. Die Muskeln des Mundes verzweigen sich: zum einen innerhalb zusammenhängender Muskelblätter im Bereich des Kiefers, zum anderen münden sie in einzelnen dicken Bahnen im Bereich der Wangen. Diese verbinden die Muskeln der Lippen mit den Muskelformationen um die Augen. Der Muskelapparat ist an die in der vorherigen Tafel gezeigten „respirativen Nerven“ geknüpft. Diese korrespondieren mit der Bewegung des Brustkorbs, der „Quelle des Ausdrucks“.116 Die Muskeln sind durch ihre konturenhafte Darstellung und einen Buchstaben als kleinste Funktionseinheiten gekennzeichnet. Im Zusammenspiel können sie einen Ausdruck bilden und so eine Bedeutung generieren, beispielsweise kann eine gerunzelte Stirn den Ausdruck der Wut entstehen lassen. Nach Bell ist die Augenbraue der wichtigste „Charakter“ („character 116 „When we learn that the muscles about the lips and nostrils are respiratory muscles, and when we know that a respiratory nerve goes purposely to combine these muscles with the motion of the thorax, and above all, when by such investigation of the anatomy, we find that these same motions indicate some powerful emotions of the mind, are we not prepared to be more attentive observers, and to discover such symptoms as must remain obscure to those who have no clew to them?“ Bell, S. xvi–xvii. Essays on the Anatomy and Philosophy of Expression (1824) |
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Abb. 18 Muskeln des Ausdrucks. In Charles Bell: Essays on the Anatomy and Philosophy of Expression. London. 1824.
of expression“). Daran knüpfen weitere Muskeln und somit weitere, der Augenbraue untergeordnete Einheiten beziehungsweise Charaktere an, die zusammen einen übergeordneten „Charakter“ oder einen „Ausdruck“ entstehen lassen.117 In diesem Sinne bezieht sich Bell auf Lavater, der die Augenbrauen in den Fragmenten als „Buchstaben“ bezeichnet. Doch anders als 117 Ebd., S. 35.
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Lavaters physiognomische „Ur-Sprache“ ist Bells Sprache die Anatomie, die dann zur tatsächlichen „Sprache“ wird, wenn sich die Grundeinheiten dieser Sprache, die Nerven- und Muskelbahnen, in Bewegung setzen. Die Bilder des transparenten Gesichts sind die wichtigsten der Essays. Sie zeigen das noch stille Gesicht und markieren den Ausgangspunkt allen Ausdrucks. Diesen Bildern folgen die Bilder der Emotionen, die Teil des Textes sind und nicht auf separaten Tafeln gezeigt werden. Damit stellen die Bilder des ruhenden Gesichts das noch nicht zusammengesetzte Alphabet des menschlichen Ausdrucks dar. In ihnen kann der spätere Ausdruck erahnt werden. Die Bilder der einzelnen Emotionen können dann als ausdifferenzierte Ausdrucksformen – als Wörter – verstanden werden. Sie sind in sich geschlossene „Charaktere“. Der sonst bewegte Ausdruck ist im Bild eingefroren und kann wie Lavaters Silhouette gelesen werden. Die Agenten des Ausdrucks lassen sich einzeln dechiffrieren und zu einem Ausdruck zusammenfügen. Als Konkretisierungen der Basisform scheinen die Bilder der einzelnen Emotionen den Bildern des transparenten Gesichts epistemisch untergeordnet zu sein. Wie die Silhouetten sind sie keine abgeschlossenen Werke, sondern lediglich Skizzen („sketches“), weil sie dem Künstler als Anleitungen zu einer Darstellung dienen. Sie zeigen ferner nur eine mögliche Manifestation des Ausdrucks. In diesem Sinne haben die Bilder des transparenten Gesichts einen deutlich höheren Anspruch auf Allgemeingültigkeit, weil sie den gesamten Muskel- und Nervenapparat darlegen und die einzelnen Agenten aufzeigen. Ihre spezifischen Funktionsweisen beschreibt der dazugehörige Text. Grundsätzlich können Bells Bilder in ihrer epistemischen Funktion und Rhetorik in Analogie zur Sprache gesehen werden. In diesem Zusammenhang entfaltet sich Bells Verständnis des Charakters, wie bei Lavater, als ein sprachlich-bildliches Gefüge: zunächst als die Grundeinheit (Zeichen oder Buchstabe) jeglichen Ausdrucks, dann als der Ausdruck eines einzelnen Agenten (Bewegung) und schließlich als zusammengesetzter Charakter (Wut). Dieser wird dem Leser im Rahmen eines epistemischen Systems, als Bild oder Begriff zugänglich gemacht. Es ist auffällig, dass Bell die „emotionale Sprache“ und die „Sprache der Vernunft“ wiederkehrend als Gegensätze darstellt: Expression is to passion what language is to reason. Without words to represent ideas, by which they are capable of arrangement and comparison, the reasoning faculties could not be fully exercised; and it does not appear that there could Essays on the Anatomy and Philosophy of Expression (1824) |
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be excess or violence of passion on the mind merely, and independent of the action of the body.118
Der Ausdruck verhält sich zur Emotion wie die Sprache zur Vernunft. Der Ausdruck ist demnach die Sprache des Körpers und der Seele. Und so scheint es, als sei nur die tatsächliche Sprache der ratio wirklich in der Lage, Wissen über den Ausdruck zu produzieren. In seiner Einleitung bemerkt Bell, dass die Bilder den Text lediglich „begleiten“ würden. Zugleich gesteht er, dass sie das zeigen, was er mit Worten nicht ausdrücken konnte.119 In diesem Sinne sind die Bilder auch inhaltlich der Sprache entgegengesetzt. Denn sie lassen nur die Möglichkeit einer „Verlautung“ zu, der Hervorbringung von Lauten und Schreien, die mit Emotionen einhergehen und nichts mit Sprache gemein haben. Sie zeigen den Ausdruck, der der Sprache vorausgeht oder, wie Bell es ausdrückt, der die Sprache „ersetzt“.120 4.2.2 Das Symptom
Eine wesentliche These der Essays ist diese, dass der „respirative Nerv“ nicht nur der Ursprung aller Leidenschaften, sondern jeglichen Ausdrucks, auch der Krankheiten, ist: It is repeatedly shown in these Essays that the marks of passion and of bodily suffering are the same, and the respiratory organs are the source of all expression, as well as of a very extensive range of symptoms in disease.121
Die Krankheit zeigt sich auf dem Gesicht durch Zeichen oder „Male“ („mark“). Dabei haben sowohl die Leidenschaften als auch die Krankheiten ihren Ursprung im „respirativen System“. Daraus resultiert ein Verständnis der Leidenschaften als potentiell pathologische Zustände, die sich durch Zeichen auf dem Körper bemerkbar machen. Zugleich ist das Zeichen der Indikator einer Krankheit und daher ein Symptom. Damit wird der „Charakter“ als Zeichen oder Buchstabe zur kleinsten Bedeutungseinheit eines sich im Gesicht manifestierenden pathologischen „Zeichenkataloges“. Darin werden Zeichen als Symptome verstanden: 118 119 120 121
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Ebd., S. 139. Ebd., S. xvii. Ebd., S. 131. Ebd., S. xv.
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The description of a disease is a mere catalogue of signs, if their cause and relation be not understood; and if no cause for certain appearances, and no relation among them be observed, the signs can neither be accurately recorded nor remembered. The motion of one part of the body, produced by the excitement of another, and the movements produced by passion on the frame of the body, become symptoms when caused by disease.122
Die Zeichen müssen dokumentiert und in Relation zueinander gebracht werden, um als Krankheit gedeutet zu werden. Das Zeichen kann dann eine Krankheit signalisieren. Es wird zu einem Symptom. In diesem Kontext beschreibt Foucault, wie Zeichen und Symptome in der Medizin des 19. Jahrhunderts synonymhaft werden. In der klassischen Medizin waren die Bedeutungen des Zeichens und des Symptoms getrennt gewesen; sie hatten sich in ihrem semantischen Wert wie in ihrer Morphologie unterschieden.123 Das Symptom war die Form gewesen, in der sich die Krankheit zeigte. Es manifestierte sich als Husten, Fieber, Atembeschwerden oder Gliederschmerzen und ließ die sichtbar-unsichtbare Krankheit „durchscheinen“.124 Das Zeichen hatte „das Fernste, das Verborgenste und das Künftigste“ gezeigt.125 Das Blauwerden der Nägel hatte beispielsweise den Tod angekündigt. Im 19. Jahrhundert fielen Symptom und Zeichen zusammen und kreierten die Krankheit als „Totalität“.126 Das Symptom wurde Zeichen für einen Blick, der die Oberfläche untersuchte. In Foucaults Verständnis musste das Symptom ein Zeichen sein, damit es für den Arzt lesbar wurde; „das Zeichen „sagt das, was das Symptom ist“.127 Somit wurde das Symptom zum „morphologischen Träger“ des Zeichens. Foucault definiert das Symptom als ein Phänomen im Rahmen eines „Erscheinungsgesetzes“ und verweist auf die Verbindung der Phänomene untereinander: auf die Totalität dessen, was es ist, und dessen, was es nicht ist.128 Denn durch den Gegensatz zu den Zeichen der Gesundheit wurde das Symptom grundsätzlich zu einem pathologischen Indikator. Es wurde von sich selbst bezeichnet und von der Krankheit, die 122 Ebd., S. xiii. 123 Foucault: Die Geburt der Klinik, S. 104. 124 Ebd. 125 Ebd. 126 Ebd., S. 105. 127 Ebd., S. 107. 128 Ebd. Essays on the Anatomy and Philosophy of Expression (1824) |
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es charakterisierte und den nichtpathologischen Formen entgegensetzte.129 Insofern war es sein eigener Signifikant und zugleich Signifikat.130 In diesen semantischen Rahmen fügt sich Bells Verständnis des Ausdrucks als „Syntax“. Auch die Betonung einer „Anatomie des Ausdrucks“ und die damit verbundene Herausarbeitung einer visuellen Transparenz des Körpers, der sich dem Blick des Beschauers öffnet, sind nach Foucault charakteristisch für das 19. Jahrhundert. Die Bilder von Bells transparentem Gesicht forcieren die Überblendung des Charakters, sowohl als einzelner Agent als auch als einzelner Ausdruck, mit dem Zeichen und dem Symptom. Denn der Agent, der in den Bildern des transparenten Gesichts deutlich herausgearbeitet ist, ist für die Formierung des Zeichens, das später auf dem Gesicht zu sehen sein wird, verantwortlich. Er ist Zeichen und Symptom in antizipierter und gefrorener Form. 4.2.3 Der Abdruck
Bell verstand den menschlichen Ausdruck genauer als einen Abdruck. Im zweiten Essay ist zu lesen, dass der Ausdruck dem Menschen wie ein „Stempel“ aufgedrückt wird. Dieser formt sich bereits bei der Geburt als eine „Assoziation“ von Muskeln, die einen Abdruck auf dem Gesicht hinterlässt: „Anger,“ says Lord Bacon, „is certainly a kind of baseness, as it appears well in the weakness of those subjects in whom it reigns – children, women, old folks, sick folks.“ But this I may say, that anger is at no period of life so strongly impressed upon human features as in the first moment of our visiting the light. At that instant an association of muscles is formed, or then put into operation, which stamps a character of expression that continues for life, betraying the wants of the body in early infancy, and the sufferings of the mind in the after period. The frame of the body, constituted for the support of the vital functions, becomes the instrument of expression; and an extensive class of passions, by influencing the heart, by affecting that sensibility which governs the muscles of respiration, calls them into co-operation, so that they become an undeviating and sure sign of certain states or conditions of the mind. They are the organs of expression.131 [Meine Hervorhebungen; J. K.]
129 Ebd., S. 106. 130 Ebd. 131 Bell, S. 28.
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Bell bezieht sich auf den englischen Philosophen Francis Bacon (1561 – 1626), der Zorn („anger“) als eine Emotion „niedrigster Art“ verstanden hatte. Nach Bacon ist Zorn eine „Schwäche“ und zeigt sich daher bei Menschen, die schwach sind. Damit sind Menschen gemeint, die einen niedrigen sozialen Status haben: Kinder, Frauen, ältere und kranke Menschen. Auf Bacon aufbauend behauptet Bell, dass sich Zorn zu keinem anderen Zeitpunkt am Menschen besser „abdrückt“ als in seiner Kindheit. Wie Lavaters Silhouette, die vermeintlich den authentischen Abdruck der Essenz der Person dargestellt hatte, wurde der Ausdruck bei Bell ebenfalls zu einem Abdruck, worauf die Verben „stempeln“ („to stamp“) und „einprägen“ („to impress“) verweisen.132 Dieser Gedanke verhielt sich analog zu den Prämissen der zeitgenössischen Medizin. Die Metapher des Charakters als Abdruck war im frühen 19. Jahrhundert fester Bestandteil der Doktrin der menschlichen Typen. In diesem Zusammenhang behauptete Bichat, dass das physiologische Temperament und der menschliche Charakter durch Bildung nicht beeinflussbar seien. Den Charakter des Menschen verändern zu wollen sei so sinnlos wie die Kontraktionen des Herzens zum Stillstand zu bringen.133 Auf diese Doktrin der Unveränderbarkeit des Charakters bezog sich ebenfalls der Arzt Pierre Jean Georges Cabanis (1757 – 1808) in seinen Rapports du physique et du moral de l’homme (1802), wenn er feststellte, dass der „ursprüngliche Abdruck“ des Charakters tief und fest ist und nur selten getilgt werden kann.134 Während die Zeichen im Gesicht auf einen gegenwärtigen Ausdruck schließen ließen, verstand Bell den menschlichen Charakter im Sinne eines bleibenden Abdrucks, der am Schädel erkennbar wird. Im Rahmen der Diskussion zu den „unveränderbaren Formen“, die dem Ausdruck entgegengesetzt seien, ging Bells Charakterdarstellungslehre zunehmend in eine „Schädelbemessungslehre“ über, die sich bereits bei Lavater im Rahmen seiner Schädelbetrachtungen abzeichnete.135 Die von Franz Joseph Gall (1758 – 1828) 132 Grundsätzlich ist im englischen „character“ eine Metaphorik des Stempelns, Aufdrückens oder Markierens inbegriffen. Solche Metaphern machen sich in der Etymologie des Wortes im 18. Jahrhundert bemerkbar. Siehe den Eintrag des Oxford English Dictionary zu „character“: http://www.oed.com (letzter Zugriff: 23. Dezember 2014). Zum Charakter als Abdruck bei Lavater siehe Fragmente. Band 2, S. 90. 133 Williams, S. 101. 134 Ebd. 135 Siehe beispielsweise die Gegenüberstellung der Schädel eines Holländers, eines Kalmücken und eines „Mohren“ in: Lavater: Fragmente. Band 2, S. 159. Essays on the Anatomy and Philosophy of Expression (1824) |
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im Jahr 1809 entwickelte sogenannte „Phrenologie“ („Seelenlehre“), die an der Wende zum 20. Jahrhundert zu einem intrinsischen Bestandteil der Rassenlehre werden sollte, basierte auf der Annahme, dass der menschliche Charakter an den Formen des Schädels ablesbar sei.136 Für Bell war der Charakter an der Physiognomie des Menschen erkennbar. Doch darüber hinaus hatte er sich bereits unter der Haut, am Schädel abgebildet. Das Gesicht, der Körper und dessen Ausdrücke und Bewegungen gingen insgesamt auf das ursprüngliche und bleibende Zeichen zurück, das sich bei der Geburt am Schädel abgedrückt hatte. In diesem Zusammenhang ging Bell einen Schritt weiter, wenn er am Beispiel des „Neger-Schädels“ mit Gall behauptete, dass der Schädel ein Abdruck des Hirnreliefs sei: My next object of inquiry was to find on what the distinctive character of the Negro face really depends (…) Upon looking attentively to these skulls [the Negro and the European skull], it was evident that there were distinctions to be observed in the form of the cranium itself, independently of the proportions between the face and cranium; that these varieties depended on the form of the brain, and proceeded (I think we may conclude) from the more or less complete development of the organ of the mind (…) In the Negro, besides the greater weakness and lightness observable in the bones of the whole skull, there is a remarkable deficiency in the length of the head forward, producing a narrow and depressed forehead; whereas a large capacious forehead is held to be the least equivocal mark of perfection in the head.137
Der Vergleich des europäischen Schädels mit dem eines „Negers“ habe Unterschiede in der Schädelform gezeigt, die auf die Form des Gehirns zurückzuführen seien. Nach Bell manifestiert sich hier eine Analogie zwischen den „leichten“ und „schwachen“ Knochen des Schädels des „Negers“ und seinem vermeintlich „schwachen“ Hirnvolumen. Die nach vorne gestauchte Stirn verweist auf einen „defizitären“ Inhalt, während eine große und voluminöse Stirn eine „Perfektion“ der intellektuellen Fähigkeiten anzeigt. Diese Gedanken gehen unmittelbar auf die Physiognomik zurück, die das mentale Vermögen am Kontur des menschlichen Profils abzulesen glaubte.
136 Franz Joseph Gall und Johann Kaspar Spurzheim: Untersuchungen ueber die Anatomie des Nervensystems. Hildesheim. 2001 [1809], S. VI. 137 Bell, S. 169 – 171.
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Gerade weil der Charakter in den Essays semantisch stets das Symptom tangiert, ist anzunehmen, dass der Charakter des „Negers“ grundsätzlich als potentiell krankhaft zu verstehen ist. Diese ins Körperinnere, durch die Haut, den Schädel und schließlich zum Hirn vordringende Logik, seziert sich zu einem Kern, der im obigen Zitat unerwähnt bleibt. Diese Logik ist in den Bildern des transparenten Gesichts zu sehen. Die Bilder legen zunächst die Nerven, dann die Muskelstränge bloß und treiben den Gedanken voran, dass eine nächste und eine weitere Schicht freigelegt werden kann. Sie suggerieren letztendlich einen Kern – die der Geburt vorangegangene Abstammung.138 Auch hier zeigt sich eine weitere Parallele zu Lavater, insbesondere dem Gedanken, dass der Keim der Mutter bereits „physiognomisch präformiert“ ist und die „Natur der Knochen, der Muskeln und der Nerven und folglich des Charakters“ bestimmt.139 Bell deutet diesen Kern enger im nationalen Sinne. Obgleich in den Essays der Begriff der „Rasse“, der erst nach Charles Darwins Veröffentlichung On the Origin of Species (1859) zu einem biologischen Konzept heranreifen würde, grundsätzlich nicht auftaucht, wird bei der Untersuchung des „Neger- Schädels“ deutlich, dass ein dem Volk zugehöriger, „unverwechselbarer Charakter“ („distinctive character“) vorausgesetzt wird. Diesen bezeichnet Bell an anderer Stelle als „nationalen Charakter“ („national character“) und will ihn gerade am Schädel ausfindig machen.140 Des Weiteren werden die nationalen Unterschiede mit einer „Normalität“ beziehungsweise „Anormalität“ in Verbindung gebracht. Es sind Begriffe, die Bell ebenfalls nicht ausdrücklich verwendet. Sie werden anhand eines Bildes am Ende der Essays verdeutlicht. Dieses zeigt drei europäische Schädel, die nebeneinandergelegt wurden, so dass ihre Formen, die normalen, die ausgewachsenen und die in der Entwicklung begriffenen, sichtbar werden.141 Die Behauptung eines defizitären Volumeninhalts im Gehirn des „Negers“ wurde dagegen anhand einer auseinanderfaltbaren Tafel (Abb. 19) im Anhang des Buches evident gemacht. Sie zeigt eine Gegenüberstellung dreier Profilansichten: des Merkur- Kopfes, des „Neger“-Kopfes und eines Schädels. Diese Darstellungen sind Kunstmotiven angelehnt: einer nach dem Abguss einer Skulptur Merkurs 138 Siehe den Essay „Of the Natural Characters as Illustrated by the Form of the Skull, and of the Changes from Infancy to Age“. In: Bell, S. 181 – 185. 139 Lavater: Fragmente. Band 4, S. 334 – 335. 140 Bell, S. 150 – 151. 141 Ebd., S. 213. Essays on the Anatomy and Philosophy of Expression (1824) |
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Abb. 19 Das Profil Merkurs, eines „Negers“ und der Schädel des „Negers“. Ausklappbare Tafel. In Charles Bell: Essays on the Anatomy and Philosophy of Expression. London. 1824.
angefertigten Zeichnung und einer exotisierenden Typen-Darstellung des „Negers“ mit einem Ohrring. Die „faziale Linie“, die sich entlang der Profile zieht, suggeriert die Norm und die Abweichung von derselben, die sich in der Schädelform des „Negers“ abzeichnet.142 Die faziale Linie des Merkur- 142 Mit der Darstellung der „fazialen Linie“ bezog sich Bell auf die Studien des holländischen Anatomen Pierre Camper (1722 – 1789). Zwei weitere Bilder im Anhang der Essays sind direkt aus Campers Dissertation physique (1791) entnommen. Camper hatte in seinen Amsterdamer Vorlesungen „Zum Ursprung und zu der Farbe der Schwarzen“ (1768) die Bedeutung des „fazialen Winkels“ für die nationalen Unterschiede hervorgehoben. In einem seiner Gesichtsdiagramme zeigt Camper eine Entwicklung, die beim Kopf des Orang-Utans beginnt, über den Kopf des Negers, des Kalmücken führt und schließlich mit dem perfekten Schädel der apollinischen Skulptur endet. In diesem Zusammenhang behauptete Camper, dass der ideale Winkel der fazialen Linie 100 Grad betrage und nicht einmal in der Natur vorkomme, sondern ausschließlich in griechischer Skulptur auftauche. Eine Abweichung von 10 Grad sei für einen Europäer die Norm; Linien, die in die eine oder andere Richtung über diese
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Kopfes ist eine Senkrechte, während das Profil des „Neger“-Kopfes von zwei sich an den Lippen kreuzenden Tangenten beschrieben wird und sich zu einem Dreieck zusammenfügt. Die Abweichung von der Geraden des Merkur-Kopfes ist ein rechter Winkel. Die gleiche Abweichung ist am daneben dargestellten Schädel zu sehen. Damit suggerieren das Format der Gegenüberstellung sowie die faziale Linie, dass es sich hier um den Schädel eines „Negers“ handeln muss. Die Gegenüberstellung des Merkur- und des „Neger“-Kopfes bezieht sich auf ein in den Essays vorangegangenes Thema, die „unveränderbaren Formen“ sowie die Darstellung des Schönen im Gesicht unter Bezugnahme auf die Anatomie. Bell greift die sogenannten „modernen“ Künstler an und inthronisiert die antiken Künstler als diejenigen, die stets perfekte Formen dargestellt und animalische Formen ausgesondert hätten.143 Die größte Anstrengung des antiken Künstlers sei es gewesen, den Menschen „gottesähnlich und vom groben Charakter der Natur befreit“ darzustellen, was an den antiken Skulpturen der Götter am besten zu beobachten sei.144 Laut Bell sollten Satyrn, Faune und andere Mischwesen beim Studium der menschlichen Formen in der Antike gemieden werden. Im Rahmen dieser Diskussion wird der Satyr-Kopf dem Kopf des Merkur rhetorisch gegenübergestellt. Ein Bild existiert nicht dazu. Dabei fällt auf, dass der Satyr-Kopf, den der Text in unserer Vorstellung entstehen lässt, dem „Neger“-Kopf in der Falttafel ähnelt: Die Stirn ist klein und gedrungen, die Augen liegen nah beieinander, die Nase ist flach, der Mund vorstehend. Der gesamte Ausdruck ist nach Bell der einer „Ziege“ oder eines „Wilden“. Überhaupt zeigt diese Gegenüberstellung den Kontrast aller Proportionen; Merkur verkörpere „noble Ausgeglichenheit“ („noble gravity and stillness“), der Satyr zeige den „niedrigsten Grad menschlicher Leidenschaften“ („an expression certainly of the lowest degree of human passion“). In der Gestalt des Satyrn entdecke man außerdem Formen, die ihn zu einer „halbintellektuellen Bestie“ („half intellectual brute“) machen würden. Damit sei er
Zahl hinausreichen würden, seien als Deformationen zu betrachten. Camper betont weiter, dass sein System ein Aide-Mémoire für den Künstler sei und sich somit an der Bildung von „Schönheitseffekten“ beteilige. Siehe Barbara Maria Stafford: Body Criticism. Imaging the Unseen in Enlightenment Art and Medicine. Cambridge, Massachusetts und London. 1993, S. 111. 143 Bell, S. 156 – 157. 144 Ebd., S. 157. Essays on the Anatomy and Philosophy of Expression (1824) |
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nicht weit vom Monster entfernt.145 In diesem Sinne wird der „Neger“ mit dem Satyr konnotiert und zu einer Bestie oder einem Monster degradiert. Die Sympathie des Verfassers für die Maler der Antike, die die Malerei im Sinne einer Wissenschaft betrieben hätten, verweist auf die pädagogische Absicht der Essays.146 Im Licht anderer Äußerungen, denen zufolge die Künstler von den Ärzten lernen sollten,147 ist zu vermuten, dass Bell nach dem vermeintlichen Vorbild der antiken Künstler die zeitgenössische Kunst, die beispielsweise unter dem Einfluss Thomas Gainsboroughs zum Kruden zu verkommen drohte, wieder an die Wissenschaft anzunähern gedachte.148 Dabei verfolgte Bell das Ziel, die Wissenschaft für die Malerei zugänglich zu machen. Die „modernen Künstler“ sollten sich an Idealdarstellungen, die sie die Akademie lehre, orientieren. Zugleich sollten sie den Körper und die an ihm stattfindenden physiologischen Veränderungen studieren.149 In diesen Zusammenhang bedarf der im Titel von Bell anvisierte Begriff der „Philosophie des Ausdrucks“ einer Erläuterung.150 Bells anatomisch begründete Pathognomik hatte in erster Linie einen praktischen Nutzen. Die Essays waren Anleitungen zu einem gelungenen Bild. In diesem Rahmen verwiesen sie auf eine Funktion, die der Anatom im Sinne einer Philosophie verstand. Es geht um das Verhältnis und die Wechselwirkungen zwischen Körper und Geist, die der Künstler durch die Zeichnung und vor allem durch die Beobachtung erforschte: We mean to examine the relations and mutual influence of mind and body. As it regards the painter this is an inquiry of great importance. It does not teach him to use his pencil, but to be an observer of nature, to see forms in their minute varieties, which but for the principles here elucidated would pass unnoticed – to catch impression so evanescent that without knowing their sources, they would escape him. (…) It is this reducing of things to their principles which elevates his art into a connexion with philosophy, and without which it possesses no character of a liberal art.151
145 146 147 148 149 150 151
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Ebd., S. 162. Ebd., S. 153. Ebd., S, 124. Gockel, S. 37. Bell, S. 124. Ebd., S. 1. Ebd., S. 192 – 193.
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Der Künstler sei mit dem Bleistift in der Lage, die partikulären Formen aus den Dingen zu extrahieren und im Zuge dessen die flüchtigen Eindrücke, die den Dingen inhärent seien, ausfindig zu machen. Doch diese grundsätzlich an den Humanismus angelehnte Prämisse muss im Zusammenhang der Falttafel, die die Gegenüberstellung zwischen dem Merkur- und dem „Neger“-Kopf forciert, problematisiert werden. Denn die Wahrnehmung des Künstlers soll neben den beobachtbaren Charakteristika auch auf die vom Ideal abweichenden Formen gelenkt werden. In diesem Sinne sollten die Essays dem Künstler nicht nur zu einem gelungenen Bild verhelfen, sondern ihn für Abweichungen sensibilisieren und deren Aussondern erleichtern. Somit nahm der Künstler, quasi als antiker Pygmalion, der nicht nur ephemere simulacra, sondern auch Wirklichkeiten erschuf, auf ein gelungenes „Menschenbild“ Einfluss, das nach der Physiognomie des Merkur modelliert wurde.152 Dabei wurde das Format der Gegenüberstellung zu einem manipulativen Bild des physiognomischen Normendenkens. Es zeigte eine Abweichung und verstand diese pejorativ. Das Erkennen des Normalen trieb damit ein Erkennen des Falschen voran, das sich sowohl im Ausdruck der Leidenschaften als auch im Typus des „Negers“ manifestierte. 4.2.4 Die Schichten des Charakters
Insgesamt entfaltet sich in Bells Essays ein Verständnis des Charakters als ein geschichtetes, sprachlich-bildliches Aggregat. Der Charakter wird als die kleinste bildliche und semantische Bedeutungseinheit (Zeichen oder Buchstabe) des menschlichen Ausdrucks beschrieben. Diese Einheit fügt sich, zum Beispiel als Bewegung, zu einem Ausdruck eines einzelnen Agenten zusammen. Auf einer epistemischen Ebene fungiert der Charakter als zusammengesetzter Begriff wie Wut oder ein Bild, das diesen Ausdruck zeigt. In diesem Zusammenhang ist das Gesicht eine Folie, auf der sich die Grammatik der Ausdrücke abspielt. Zugleich präsentieren einzelne Bilder den Ausdruck in „ausformulierter“ Form. Das Gesicht ist in der Lage, den Ausdruck darzustellen, weil es transparent ist. Im transparenten Gesicht, das die Muskeln oder Nerven zeigt, stimmen Signifikat und Signifikant überein. Die grundsätzliche Unsichtbarkeit des Signifikats, wie sie nach Foucault in der klassischen Medizin angenommen wurde, ist gegen die Sichtbarkeit des Signifikats im Signi 152 Siehe Zehntes Buch von Ovid: Metamorphosen. Stuttgart. 2003, Zeilen 245 – 295. Essays on the Anatomy and Philosophy of Expression (1824) |
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fikanten, die Foucault für die Moderne feststellt, eingetauscht worden. Der Signifikant ist für das Signifikat komplett durchlässig und somit eins mit dem Signifikat. Dabei ist der menschliche, unveränderbare Charakter nicht wirklich sichtbar, sondern aus dem Sichtbaren deduzierbar.
4.3 Lam Quas Bilder im Prisma der Physiognomik Lam Quas Gemälde zeigen in den meisten Fällen die Büste des Patienten mit der Krankheit. Damit korrespondieren sie mit der Methode der Betrachtung und Deutung des Gesichts der Physiognomik. In diesem Sinne initiieren sie eine moralische und nationale Lesung. Dies macht sich in Parkers Berichten besonders bemerkbar. Mit seinen wiederkehrenden Bemerkungen zu einem „guten“ oder einem „schlechten“ Charakter eines einzelnen Patienten bezieht sich Parker auf physiognomische Lehren. Denn gemäß der Physiognomik zeigt die äußere Erscheinung, durch gewisse Merkmale, die entweder mit Schönheit oder Hässlichkeit konnotiert wurden, einen „guten“ oder einen „schlechten“ Charakter.153 So scheint es naheliegend, dass die Krankheit, die in den Patientenporträts häufig neben dem Gesicht zu sehen ist, dieses stellenweise überblendet oder gar doppelt, die Assoziation eines „schlechten“ Charakters vorantreibt. In dem oben beschriebenen Bericht zu Wang Waekae schreibt Parker, dass die Augen des Patienten stets auf den Boden gerichtet gewesen seien. Dies und sein riesiger Gesichtstumor ließen andere Chinesen und den Erzähler Parker vermuten, dass der Kranke ein Krimineller gewesen sei. Diese Bemerkung korrespondiert mit Bells Beschreibung des physiognomischen Prototyps des Rachsüchtigen: But the expression may be much varied in the representation: perhaps the eyes are fixed upon the ground; the countenance pale, troubled, and threatening; the lip trembles, and the breast is suppressed, or there is a deep and long inspiration as of inward pain.154
Nach Bell könne die Darstellung des Rachsüchtigen variieren: Seine Augen seien auf den Boden gerichtet, das Antlitz bleich, betrübt und bedrohlich, die Lippen würden zittern, die Brust sei zusammengedrückt. Der Rachsüch 153 Siehe beispielsweise Lavater: Fragmente. Band 4, S. 463. 154 Bell, S. 120.
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tige würde lang und tief atmen, was auf einen inneren Schmerz hindeutete. Parkers Betonung der auf den Boden gerichteten Augen und die daraus resultierende Schlussfolgerung, dass der Mann „schlecht“ sei („strengthens the suspicions that he was a bad man“), verweisen auf einen Topos aus den Physiognomonika des 16. Jahrhunderts, denen zufolge starre Augen einen „schlechten“ Charakter anzeigten. Dieser Charakter korrespondierte mit dem Rachsüchtigen. Eine solche Engführung taucht bereits in Giambattista della Portas Traktat De humana physiognomonia (1586) auf. Darin werden starre Augen mit einem „bösartigen“ Charakter verschränkt: „starre Augen – unerträglicher Mensch (…) starre Augen – schlechte Ratgeber, grausam und bösartig“.155 Eine weitere Parallele zu Bells Essays verdeutlicht Parkers Betonung der Unruhe des Patienten und Bells Feststellung, dass die Lippe des Rachsüchtigen zittere und ein „innerer Schmerz“ in ihm wohne. Wang Waekae habe mit großer Unruhe den Verband getragen und sei täglich „ruhelos“ gewesen. Zugleich enthalten Lam Quas Bilder das ästhetische Moment „physiognomischer Irritation“. Denn obwohl uns ein Mensch mit einer riesigen Geschwulst begegnet, scheint eine eindeutige Zuschreibung des Charakters nicht möglich zu sein. Die Bilder zeigen die Patienten als hässlich und als schön zugleich.156 Dabei erzeugt der Tumor zusammen mit der Physiognomie des Chinesen, die von der europäischen Norm abweicht, den Eindruck des Hässlichen. Und doch wirkt die intakte Erscheinung des Chinesen angesichts der überdimensionierten Pathologie wohlgeformt. Es scheint, als sei der physiognomische Blick, der die Krankheit in allen ihren Ausformungen auskundschaftet, der aufgrund der zahlreichen krankhaften Gebilde mobil bleibt, auf ein Moment der ästhetischen Entspannung angewiesen; im Gesicht, das grundsätzlich intakt ist, erfährt der Blick ausgewogene Formen. Die Patientenbildnisse scheinen die physiognomische Lesung gezielt offenzuhalten; als sei das Moment dieser Spannung, dies insbesondere in einem Bild, das Schönheit und Hässlichkeit vermengt, wesentlich. Diese Spannung korrespondiert durchaus mit der Rhetorik der amerikanischen Mission, die ihre Ziele vor dem westlichen Leser legitimieren musste. In den Berichten behauptet Parker, dass die Chinesen zur Liebenswürdigkeit, die in Gott zu finden sei, fähig sind, zum anderen betont er wiederkehrend, dass sie moralisch „falsch“ sind. Damit wird das Bild des kranken Chinesen 155 Della Porta zitiert durch Jean-Jacques Courtine. Siehe Jean-Jacques Courtine: „Körper, Blick, Diskurs“. In: Geschichten der Physiognomik, S. 228. 156 Jackson, S. 317. Lam Quas Bilder im Prisma der Physiognomik |
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Abb. 20 Anonym: Feodor Iwanowitsch, ein „Kalmück“. Aquarell.
flexibel deutbar: Obgleich die Chinesen hässlich und „falsch“ sind, sind sie durchaus zur Veränderung, das heißt zur Annahme der christlichen Werte, fähig. Parkers Unterscheidung in „gute“ und „schlechte“ Charaktere hing schließlich davon ab, ob die Patienten der Operation zustimmten und den christlichen Glauben annahmen. Eine detaillierte nationale physiognomische Lesung eines Menschen mit asiatischen Gesichtszügen entwirft Lavater in seinen Beschreibungen des Kalmücken. Der Kalmück, eigentlich ein Angehöriger eines „mongolischen“ Volkes, das am Kaspischen Meer angesiedelt war, „steht als Beispiel für die Asiaten“.157 Sowohl Lavaters physiognomische Studienblätter als auch seine Fragmente enthalten ein Bild des Kalmücken und die Interpretation seiner Physiognomie. Das farbige Aquarell aus den Studienblättern zeigt das Porträt von Feodor Iwanowitsch, einem „Kalmücken“ (Abb. 20).158 Der Mann trägt eine Fellmütze, ein weißes Hemd und darüber einen dunkelroten Mantel. Er schaut den Betrachter an. Er hat schmale Augen, eine breite Nase, volle, geschwungene Lippen, eine helle Haut und ein breites Gesicht. Lavater interpretiert seine Physiognomie in erster Linie als „weich 157 Lavater: Fragmente. Band 4, S. 272, 312. 158 Johann Caspar Lavater. Die Signatur der Seele, S. 50.
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lich“ und „phlegmatisch“.159 Doch gleichzeitig glaubt er einen „Feinsinn“ um Nase, Augen und Mund erkennen zu können. In diesem Zusammenhang findet man Feodor Iwanowitsch im Teutschen Künstlerlexikon oder Verzeichnis der jetztlebenden Teutschen Künstler (1789), in dem er als badischer Hofmaler gelistet ist.160 Doch noch bevor Iwanowitsch Malunterricht genommen hatte, soll ihn Lavater auf seiner Durchreise nach Zürich in Karlsruhe gesehen und dessen künstlerisches Talent, einen „Feinsinn“ im Antlitz, erkannt haben. Der Verfasser des Lexikons hebt hervor, dass Lavater ein Bildnis von dem jungen Mann machen ließ und dieses in die Fragmente aufnahm.161 Tatsächlich ist im vierten Band die Silhouette (Abb. 21) eines „jungen Kalmücken“ zu sehen. Das realistische Bild des Mannes in westlicher Kleidung aus den Studienblättern, das das Zeugnis einer solchen Begegnung sein könnte, ist im sechsten Fragment des vierten Bandes der Fragmente zu einer Typendarstellung eines Chinesen, vermutlich eines Mandschu, erkennbar an dem langen Zopf und dem hoch geknöpften Hemd, das typisch für die Mandschu war, stilisiert worden. Daneben ist eine ausführliche Interpretation zu lesen. Lavater erkennt in erster Linie die „charakteristischen Züge seiner 159 Ebd. 160 Im Lexikon ist zu lesen, dass der Mann, „höchstwahrscheinlich Sohn eines tatarischen Fürsten oder Anführers einer großen Horde“ gewesen war. Er wurde „in der großen Tataray und zwar unweit der chinesischen Mauer“ geboren, wie „seine Gestalt beurkundet“. Im Alter von fünf Jahren wurde er von seiner Familie geraubt und an den Hof nach St. Petersburg gebracht. Von dort aus gelangte er als „Geschenk“ der russischen Kaiserin Katharina II. an die Landgräfin von Hessen-Darmstadt nach Darmstadt. Seine einzigartige Erscheinung schien großes Aufsehen zu erregen. Auf der Durchreise nach Darmstadt wurde Friedrich der Große auf ihn in Berlin aufmerksam. Dieser ließ ihn mit dem vierjährigen Sohn des Kronprinzen spielen. Dabei betont der Verfasser, dass sich der „übermächtige Fremdling“ auf „gut kalmückisch“ verhalten habe, da er das Recht des Stärkeren über das Spielzeug ausübte. Feodor kam schließlich in die Erziehung der Erbprinzessin Amalie von Baden nach Karlsruhe. Dort soll ihn Lavater gesehen haben. Der Junge wurde seit 1785 vom Hofmaler Becker in Karlsruhe in Malerei unterrichtet. Danach begleitete er Lord Elgin durch Griechenland und Kleinasien und bildete für Letzteren griechische Denkmäler ab. Schließlich wurde er 1803 in Karlsruhe zum Hofmaler ernannt. Der Verfasser schildert zuletzt, dass Goethe in Winckelmann und sein Jahrhundert (1805) Iwanowitschs Werke, zwölf große Kupfertafeln der Türen des Lorenzo Ghiberti an der Taufkapelle in Florenz, erwähnt. Siehe Johann Georg Meusel: Teutsches Künstlerlexikon oder Verzeichnis der jetztlebenden Teutschen Künstler. Erlangen. 1808, S. 227 – 230. 161 Ebd., S. 228. Lam Quas Bilder im Prisma der Physiognomik |
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Abb. 21 Ein Kalmück (Feodor Iwanowitsch). In Johann Casper Lavater: Physiognomische Fragmente. Zur Beförderung der Menschenkenntnis und der Menschenliebe. 1778.
Nation“. Die Formen dieser Züge sprengten die europäischen Maße: in der „mißproportionierten Breite des oberen Schädels“, der „Höhe der schwachen Augenbraue“, dem „beinah ungeheuer großen Ohr“, der „Unsichtbarkeit des Augenlids“, der „Nähe des Auges zur Nasenwurzel“, der „Kleinheit und dem Aufwärtsgehenden der Nase“, der „Länge der Oberlippe“.162 Mit den aus der Betrachtung gewonnenen Motiven des Zu-Hohen, Zu-Breiten, Zu-Kleinen und Zu-Unsichtbaren kristallisiert sich das übergreifende Motiv des Normüberschreitenden heraus. Diese Merkmale konstituieren die Lesung einer naiven „Wildheit“: „voll Bonhomie, Fertigkeit, Lebhaftigkeit, trug- und bosheitsloser Wildheit“. In diesem Zusammenhang zitiert Lavater in einer Fußnote einen unbekannten Autor, der die vermeintliche Wildheit des Kalmücken näher beschreibt: Der Kalmücke ist ein sonderbares Gemisch der feinsten Fähigkeiten und der untersten Thierheit. Sein Auge verkündigt mit seinem Feuer und Mobilität die reizbare Seele. Er thut im Kriege Wunder persönlicher Tapferkeit, und ist wieder höchst frei. – Kurz es ist keine Stätigkeit in seinen Charakter zu bringen. Er begreift höchst leicht, und ist zugleich spekulativ – hängt gern wie alle Mon 162 Lavater: Fragmente. Band 4, S. 312.
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galen an metaphysisischen Ideen der Kosmogonie – Übrigens gleicht er im niedrigen Moralischen dem Mohren, ist geil, diebisch, rachgierig, Lügner und Schmeichler.163
Das Wesen des Kalmücken zeichnet das Unstetige aus; es oszilliert zwischen „feinsten Fähigkeiten“, einem schnellen Verständnis und der gleichzeitigen Neigung zu „metaphysischen“ Gedanken sowie „unterster Tierheit“. Überhaupt scheint diese „Tierheit“, die auch dem „Mohren“ eigen sei, das Konglomerat allen Übels, des „niedrigsten Moralischen“, zu sein. Sie wird durch Geilheit, Rachgier und Verlogenheit definiert.164 Diese Fußnote bezieht sich wiederum auf eine weitere Fußnote im zehnten Fragment zu den „Auszügen der Anderen“ des gleichen Bandes, die Lavater aus der Beschreibung der Kalmücken durch den Universalgelehrten Georges-Louis Leclerc de Buffon entnimmt. Nach Buffon seien die tatarischen Völker grundsätzlich von „einer kleinen und wunderlichen Gestalt“.165 Ihre „Gesichtsbildung“ sei so wild wie ihre Sitten. Alle Völker dieser „Gegenden“ hätten ein breites und plattes Gesicht, eine stumpfe und breitgedrückte Nase. Buffon bezeichnet sie als „dumm“ und als „Götzendiener ohne Herzhaftigkeit“. Allerdings seien die Kalmücken, die zu diesen Völkern gezählt werden, die häßlichsten, ungestaltesten Leute unter der Sonne. Sie haben ein so plattes und breites Gesicht, daß zwischen ihren beiden Augen ein Raum von fünf oder sechs Fingern ist. Ihre Augen sind überaus klein, und das wenige, was sie von der Nase haben, ist so platt, dass man daran nichts als zwo Öffnungen statt der Nasenlöcher sieht.166 163 Ebd. 164 Ein ähnliches Bild, das sich jedoch explizit auf einen Chinesen bezieht, taucht in Immanuel Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1796/97) auf, in der Kant Lavaters physiognomische Annahmen angriff, nachdem er sie zunächst unterstützt hatte: „Ob ein Hügel auf der Nase einen Spötter anzeige, – ob die Eigenheit der Gesichtsbildung der Chinesen, von denen man sagt, daß der untere Kinnbacken etwas über den oberen hervorrage, eine Anzeige ihres Starrsinnes (…) ein Zeichen eines angebornen Schwachsinns sei u. s. w., sind Conjekturen, die eine nur unsichere Auslegung verstatten.“ Siehe Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht [1798]. In: Kants Werke. Akademie- Textausgabe. Band. 7. Nachdruck Berlin. 1968, S. 117 – 334, hier: S. 299. Zu Kants Verhältnis zur Physiognomik siehe Gray. 165 Lavater: Fragmente. Band 4, S. 271. 166 Ebd., S. 272. Lam Quas Bilder im Prisma der Physiognomik |
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Diese pejorative Beschreibung erinnert an Lavaters Untersuchung des Schädels des Kalmücken im vierzehnten Fragment des zweiten Bandes. Dieser Schädel, der neben dem eines Holländers und dem eines „Mohren“ dargestellt wurde, lässt Lavater auf ähnliche Eigenschaften schließen. Er hat ein „gröberes“ und „rauheres“ Ansehen, ist oben platter, an den Seiten hervorstehend, zugleich „zusammengepresst und fest“.167 Das Gesicht ist breit und flach. Die „Hervorragungen“ über der eingebogenen Nase würden der Stirn ein „wildes und unfeines Wesen“ geben.168 Besonders das Stirnbein unterscheide den Schädel des Kalmücken von dem des Europäers. Der Erstere ist in der Mitte platter; die Stirn ist flach, ähnlich dem „niedergedrückten Nasenbein“. Damit beziehen sich die Adjektive, die für die Beschreibung des Schädels verwendet werden, auf die Motivik des Erhabenen – das Grobe, Raue, Weite –, die sich dem Schönen, das häufig mit dem Kleinen und Glatten konnotiert wird, widersetzt.169 Dieser Aspekt der physiognomischen Lesung wird ausführlicher im siebten Kapitel behandelt. In diesem Zusammenhang kann festgehalten werden, dass dem Kalmücken eine gewisse „spekulative“ Intelligenz zugeschrieben wird, die mit dem „niedrigsten Moralischen“ vermengt wurde. Sie scheint aus einer übersteigerten Sinnlichkeit und einem mangelnden Verstand zu resultieren. Damit wird ein Gegenentwurf zur Intelligenz beziehungsweise zur Rationalität, die an die Physiognomie des europäischen Schädels gebunden ist, konzipiert.170 In diesem Sinne betont Lavater im elften Fragment des vierten Bandes ausdrücklich die „Superiorität eines Menschengesichtes“ gegenüber einem anderen. Der Physiognom soll die Gesichter im Hinblick auf eine „Superiorität und Inferiorität“, eine „Stärke“ und eine „Schwäche“, eines jeden 167 Lavater: Fragmente. Band 2, S. 159 – 160. 168 Ebd., S. 159. 169 Edmund Burke: A Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and Beautiful. London. 1757, S. 115. 170 Damit ist aber nicht gesagt, dass Lavater den aufgeklärten Empirismus des John Locke unterstützt. Im Gegenteil – der Priester Lavater sah Locke, der sich strikt gegen die Religion aussprach, als seinen Opponenten. Dies machen beispielsweise die Studienblätter deutlich. Darin finden sich Zeichnungen von Chodowiecki, die den englischen Philosophen zeigen. Daneben liest man Lavaters lakonische Bemerkung „in dem Ganzen herrscht kein Geist“. Siehe Johann Caspar Lavater. Die Signatur der Seele, S. 46 – 47 sowie William Uzgalis: Locke’s ‚Essay Concerning Human Understanding‘. A Reader’s Guide. London und New York. 2007, S. 7.
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Körpers erkennen. Lavater verzeichnet für das Profil des Westeuropäers eine Überlegenheit, die die Hierarchie einer herrschenden Rasse nach sich zieht: Suche, so wirst du finden das geometrisch bestimmbare Verhältnis der gebietenden und der gehorchenden Stirne! Der königlichen und der slawischen Rasse!171
In diesem Sinne ist auch die Logik der Fragmente zu verstehen: Aus den Gesichtern wird eine vermeintlich allgemeingültige Lesung extrahiert, die zwar positive Elemente zulässt, doch grundsätzlich die Einteilung in „superiore“ und „inferiore“ Charaktere favorisiert. Wenn der westliche Betrachter ein Bild eines kranken Chinesen vor sich hatte, dann muss davon ausgegangen werden, dass er diese Vorurteile, die im 18. Jahrhundert fundiert wurden und seine eigene Überlegenheit bestärkten, reproduzierte. Sein Blick war mitnichten unvoreingenommen. Er schaute nicht nur auf das Antlitz; vielmehr blickte er gewissermaßen durch dieses hindurch auf einen Schädel, dessen Form sich im Gesicht abzeichnete und explizit auf eine nationale beziehungsweise rassische Abstammung verwies. Dass die überdimensionierte Geschwulst die pejorative Lesung des Chinesen im negativen Sinne vorantrieb, kann als selbstverständlich angenommen werden. Doch während Lavater den Betrachter dazu angeregt hatte, seine Überlegenheit gegenüber dem Ausländer bereits mit dem Blick auszuüben, versuchte Parker dieser Betrachtung entgegenzuwirken. Seine Berichte verweigern direkte rassische Zuschreibungen wie sie im 19. Jahrhundert üblich waren. Er betont sogar, dass in den Berichten das Bild des „undankbaren“ Chinesen korrigiert werden soll.172 Parker nimmt die übergeordnete Sicht des westlichen Betrachters als gegeben an und geht davon aus, dass die Physiognomie des Chinesen als Signifikant eines pejorativ konnotierten Charakters verstanden wird. Daher ist er um ein „objektives“ Bild bemüht. In diesem Sinne bedient er sich einer älteren, vermeintlich neutralen physiognomisch- 171 Lavater: Fragmente. Band 4, S. 463. 172 Allerdings steht diese Tatsache im Widerspruch zu seiner Befürwortung der Opiumkriege vor dem amerikanischen Senat in den 1840er Jahren sowie seiner Betonung einer überlegenen „christlichen Rasse“, die in den Entwürfen zu seinen Predigten für die englische Kapelle in Kanton aus dem Jahr 1837 wiederholt zu lesen ist. Siehe 15th Report. In: The Chinese Repository. 1850, S. 254 und Miller, S. 97, 101 – 102, 107. Parkers Predigtentwürfe sind im Archiv der Yale Medical Historical Library, Box 4, Ordner 3, einsehbar. Lam Quas Bilder im Prisma der Physiognomik |
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semiotischen Logik. Diese geht auf Johannes Zimmermann zurück, der in seiner Erfahrung schreibt, dass „manches Volk“ ein eigenes „Temperament“ habe, gleichzeitig könne jeder einzelne Mensch in diesem Volk „durch etwas eigenes in seinem Temperamente eine Ausnahme von der allgemeinen Regel machen.“ 173 Parker verfährt wie Zimmermann, wenn er mit seiner Berichterstattung einen chinesischen Charakter im Sinne einer unveränderbaren Eigenschaft einer Nation extrahiert und doch stets einen individuellen Charakter beschreibt. Dieser Charakter wird mit der spezifischen Erkrankung der Patienten konnotiert.174 Die physiognomische Methode der Betrachtung und der daran anschließenden Lesung kann offenbar nicht durch eine andere Anschauung ersetzt werden; das Äußere zieht stets einen Inhalt und eine Wertung nach sich.
173 Zimmermann. 1787, S. 612. 174 Siehe 10th Report. In: The Chinese Repository. 1839, S. 8 und 14th Report. In: The Chinese Repository. 1848, S. 136.
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5 Kranken-Physiognomik und für sich stehende Patientenporträts
Mit Karl Heinrich Baumgärtners Kranken-Physiognomik macht sich eine neuartige Evidenz der Krankheit in den seriell angelegten Patientenporträts im Atlasformat bemerkbar. Sie zeigen stille, aber auch verzerrte und verfärbte Gesichter, anhand derer eine Krankheit bestimmt wird. In ihrer Grundidee sind die Abbildungen für einen Oberflächenblick konzipiert und doch sollen sie eine „hinter“ der Oberfläche befindliche Krankheit anzeigen. In diesem Sinne sind sie an die von Lavater angesprochene, jedoch nicht weiter ausdifferenzierte Formel der „medizinischen Prognostik“, das heißt das Vermögen, aus gesunden Gesichtern Krankheiten extrahieren zu können, angelehnt. Anhand der Porträts eines Krebskranken und eines Epileptikers wird Baumgärtners Methodik im Näheren untersucht. Anders als Baumgärtners Abbildungen stellen die im Anschluss folgenden für sich stehenden Porträts unmittelbar sichtbare Geschwülste dar. Darüber hinaus zeigt die Serie der Patientenporträts mit dem Titel The Gentlefolk of Leeds neben präoperativen Bildnissen Personen nach der Behandlung und das stufenweise Wachstum der Krankheit. In diesem Rahmen werden die Evidenz der Patientenporträts und der Begriff der „Objektivität“ diskutiert.
5.1 Baumgärtners Kranken-Physiognomik (1839) Baumgärtners Kranken-Physiognomik umfasst eine medizinische Abhandlung und einen Atlas mit 72 farbigen Lithografien von Patienten mit unterschiedlichen organischen, neurologischen und psychischen Leiden. Sie zeigen Porträts von Personen aus verschiedenen Altersschichten und tragen unten die Bezeichnung der Krankheit in deutscher und lateinischer Sprache. Siebenunddreißig der dargestellten Kranken stammen aus Baumgärtners Privatpraxis. Nach Baumgärtners Angaben fertigte der Freiburger Künstler Karl Sandhaas (1801 – 1859) Zeichnungen der Patienten an, die Maler Friedlin, Berge, Blum, Lerch, Oberle, Prevost und Rapp lieferten die Kopien.1 Nach
1 Die Vornamen der Maler werden nicht genannt. Siehe Vorrede in Baumgärtner. 1839, S. 7. Baumgärtners Kranken-Physiognomik (1839) |
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den Zeichnungen stellte schließlich die Freiburger Druckerei Herder die Lithografien her. Gemäß den Lehren der Physiognomik glaubte Baumgärtner (1798 – 1886), leitender Arzt des Freiburger Klinikums und Professor der Medizin, von der äußeren Erscheinung des Kranken, insbesondere seinem Gesicht, auf dessen Inneres schließen zu können: Der Gegenstand dieser Untersuchungen ist die Kunst, aus der äußeren Körperbeschaffenheit der Kranken, namentlich der ihres Antlitzes, die inneren krankhaften Zustände zu erkennen, das ist die Krankenphysiognomik.2
Das Innere meint für Baumgärtner in erster Linie die Krankheit, nicht einen dem Menschen immanenten Charakter.3 Die Krankheit, die sich im Gesicht des Menschen zeigt, kann nach Baumgärtner am besten im Porträt sichtbar gemacht werden. Theoretisch will Baumgärtner die Disziplin der Kranken-Physiognomik, neben der Physiologie, der zeitgenössischen Lehre zu den Körperfunktionen und der anatomischen Pathologie, als ein „wirkliche[s] Studium der Ärzte“ etablieren.4 Dabei bezeichnet er die Kranken- Physiognomik als den „praktischen Blick“: Denn was ist der praktische Blick anderes, als die Krankenphysiognomik? Und selbst der Laie bringt sie in Anwendung, wenn er einen Leidenden sieht, indem er gerne seine Prognose stellt und oft ganz richtig aus dem Anblick des Kranken diagnostiziert (…).5
Dieser „praktische Blick“ ist im Wesentlichen kein exklusiv medizinischer. Baumgärtner betont, dass selbst eine „besorgte Mutter“ Aufschluss darüber geben könne, ob ihr Kind erkrankt sei.6 Es genüge, lediglich auf die Gesichtsfarbe, das Körpervolumen oder auf die Haltung zu achten, um feststellen zu können, ob die Person Fieber habe oder an „Schwindsucht“ leide. Der Schwindsüchtige erscheint beispielsweise als abgemagert, er hat rote Wangen und wankt in seinem Schritt.7 So generiert die Kranken-Physiognomik einen
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2 Ebd., S. 9. 3 Ebd., S. 15. 4 Baumgärtner. 1842, S. 9. 5 Ebd., S. 7. 6 Baumgärtner. 1839, S. 11. 7 Ebd.
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Blick, der grundsätzlich jedem eigen sei. Dabei handelt es sich um den ersten Blick, der einem unbekannten Menschen gilt. Zugleich kann dieser Blick bei einem Mediziner geschult werden. Er kann nach Baumgärtner auf die Krankheit gerichtet und zur Stellung einer Diagnose genutzt werden.8 In diesem Rahmen soll die Kranken-Physiognomik nur Aussagen zum gesundheitlichen Befinden des Menschen treffen und nicht über dessen „Anlagen“. Damit distanziert sich Baumgärtner explizit von Lavaters Lehren: Das Ziel dieser Untersuchungen ist freilich großenteils ein anderes, als von Lavaters Bestrebungen, indem hier vorzugsweise der Ausdruck der während des Lebens vor sich gehenden Veränderungen, dort mehr der der Anlagen, die schon in der ersten Bildung gesetzt werden, hier großenteils nur die Merkmale von materiellen Veränderungen, und dort die der übersinnlichen Eigenschaften des Menschen, des geistigen und moralischen Werthes desselben, aufgesucht werden sollen; es lässt sich daher schon zum Voraus erwarten, dass uns zur Erreichung unseres Zweckes eine größere Menge zuverlässiger Mittel zu Gebote stehen, als Lavater zu dem seinigen, indem Veränderungen, die unter unseren Augen vor sich gehen leichter zu erkennen und zu entziffern sind, als Zustände, die sich, unserer Beobachtung entzogen, früher gebildet haben und indem die materiellen Veränderungen und die Abweichungen vom Normalen sich ohne Zweifel durch handgreiflichere Merkmale ausdrücken, als die feinen Abstufungen der geistigen Fähigkeiten in dem normalen Zustande des Individuums.9
Ganz in der physiognomischen Manier des 18. Jahrhunderts und des frühen 19. Jahrhunderts unterscheidet Baumgärtner zwischen dem Ausdruck, der mit einer „Veränderung“ einhergeht, und den „Anlagen“, die „übersinnlich“ und daher unsichtbar sind. Zwar bezieht er sich auf die Trennung von Physiognomik und Pathognomik, doch seine Ausführungen rekurrieren grundsätzlich auf den von Bell untersuchten Begriff des Ausdrucks. So bedient sich Baumgärtner einer neuen Rhetorik, die um die Bedeutung des Sichtbaren aufgebaut ist. Dabei meint das Sichtbare alles, was im Gesicht zum Vorschein kommen kann, die Verfärbung, aber auch den Ausdruck. Diese Sichtbarkeit bedingt und untersteht einer klassifizierenden Ordnung, insbesondere der Unterscheidung in „Normales“ und „Anormales“. Diese Begriffe waren den Semiotikern und Physiognomen des frühen 19. Jahrhunderts unbekannt. Nach dem Wissenschaftstheoretiker Georges
8 Baumgärtner. 1842, S. 7. 9 Baumgärtner. 1839, S. 9. Baumgärtners Kranken-Physiognomik (1839) |
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Canguilhem schälten sich diese Begriffe erst im medizinischen Diskurs heraus, insbesondere in den Schriften von François Broussais (1772 – 1838) und Claude Bernard (1813 – 1878). Die Begriffe bezeichnen grundsätzlich eine „Polarität“, die Canguilhem jedoch nicht als einen einfachen Widerspruch verstanden wissen will. Die Norm fungiert als ein alle Entitäten umspannendes Netz; sie vereinheitlicht Unterschiede und legt Differenzen bei.10 Dabei gibt gerade die „Übertretung“ der Regel die Gelegenheit, Regel zu sein, indem sie auf die Regel verweist.11 So ist die Übertretung Teil der Norm und steht am Anfang des Normierens. Für Baumgärtner hat das Gesicht bei der Erkennung von Krankheiten eine zentrale Rolle. Es ist ein deutlicher und sicherer „Anzeiger“ des Ausdrucks, der auf eine Krankheit verweist.12 Dabei kann nur das, was sich auf dem Gesicht abspielt und unseren Augen darbietet, Aufschluss über die Krankheit geben. In diesem Zusammenhang ist besonders der mittlere Teil des Gesichts der entscheidende. Baumgärtner begrenzt dieses Areal folgendermaßen: Ziehen wir zwei Linien von den beiden äussern Augenwinkeln in einem leichten Bogen zur Nase hin und auf beiden Seiten der Nase herab schwachgebogen um die Mundwinkel herum bis zum Rande des Unterkiefers, so haben wir den Raum, in welchem vorzugsweise die gastrischen Leiden sich abspiegeln (…)13
Dieser „Raum“ spiegelt die Leiden der inneren Organe, insbesondere des Magens. Diese manifestieren sich als Veränderungen und „handgreiflichere Merkmale“. Jede Verfärbung, die in diesem Bereich stattfindet, kann einen krankhaften Ursprung haben und zeigt „Abweichungen vom Normalen“. Damit wird implizit das Bild eines normalen Körpers als Gegenentwurf zu dem verfärbten Patientengesicht angenommen: das Bild eines farblosen und im Stillstand gefrorenen Körpers, der an eine klassische Skulptur erinnert, wie im Zusammenhang des Diskurses um Winckelmann und Goethe deutlich wurde. Die „Normalität“, das fiktive Bild des gesunden Körpers, wird bei der Betrachtung des kranken Antlitzes stets mitgedacht und mit dem kranken 10 Georges Canguilhem: Das Normale und das Pathologische. Berlin. 2013 [1943], S. 254. 11 Ebd., S. 257 12 Baumgärtner. 1839, S. 15. 13 Ebd., S. 29.
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Körper verglichen. Der Kranke hat zwar einen „anderen“ Körper, dieser wird aber nicht unmittelbar pejorativ besetzt. Insofern verhält sich Baumgärtners „implizite Normalität“ im Sinne Canguilhems. Das Normale fungiert dabei als „Index“. Es agiert im Verborgenen und wird erst dann wirksam, wenn die Norm übertreten wird.14 Dabei geht es Baumgärtner nicht um eine Trennung des „Anormalen“ und „Normalen“, beispielsweise mittels des Bildes einer Gegenüberstellung zwischen einem „Neger-Kopf“ und dem Kopf des Apollon. Baumgärtner definiert keine „Normalität“ entgegengesetzt zu einer „Anormalität“; vielmehr treibt seine Schrift die „Lesung“ der sich im Gesicht manifestierenden Krankheitsmerkmale im Sinne einer „Früherkennung“ der Übertretung voran. In diesem Zusammenhang operieren Baumgärtners medizinische Begriffe im Sinne einer Physiognomik des späten 18. Jahrhunderts. Dieser Aspekt wird vor allem an seiner Vision erkennbar, eine auf der Physiologie basierte Physiognomik zu begründen: Wir müssen suchen, eine auf die Physiologie gestützte Physiognomik uns eigen zu machen, das heißt eine solche, in welcher wir den Zusammenhang zwischen Erscheinung und Ursache klar einsehen, damit dieselbe uns am Krankenbette als eine Führerin dienen kann, die wenigstens in der Regel uns sogleich den Schacht der Wahrheit öffnen wird.15
Baumgärtner versteht das Gesicht als Zentrum der menschlichen Physiologie. Es ist der Ort der Vernetzung der Nerven mit dem Gehirn.16 So betrachtet kann es die Veränderungen des Organismus am besten wiedergeben; beispielsweise ist eine blasse und weiße Gesichtsfarbe dadurch bedingt, dass nur wenige „Blutkügelchen in die Kapillargefäße des Gesichtes gelangen und die Wechselwirkungen zwischen Nerven und Blut in denselben gering sind.“ 17 So wie der ärztliche Blick zunächst den Patienten fokussiert, so soll auch die Kranken-Physiognomik als eine „Führerin“ in der Diagnose dienen. Die Physiognomik erlaubt das Feststellen der Krankheit anhand des Antlitzes, doch sie schließt andere Methoden nicht zwangsläufig aus. Im Gegenteil – sie scheint andere diagnostische Hilfsmittel zu bedingen.18 Zugleich trägt 14 15 16 17 18
Canguilhem, S. 255. Baumgärtner. 1839, S. 23. Ebd., S. 29. Ebd., S. 55. Baumgärtner. 1842, S. 9. Baumgärtners Kranken-Physiognomik (1839) |
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Baumgärtners Kranken-Physiognomik die Züge einer an die Vier-Säfte-Lehre angelehnten Semiotik: wenn beispielsweise Baumgärtner von einem „Charakter der Krankheit“ spricht und einen „Schwächezustand“ oder „Säfteverlust“ diagnostiziert.19 In diesem Zusammenhang kristallisiert sich das Bild eines semipermeablen Körpers heraus. Anders als der von Bell konzipierte Körper scheint der Körper bei Baumgärtner nicht über eine generelle Transparenz zu verfügen. Er öffnet sich nicht dem Beschauer, indem die Epidermis durchsichtig wird, sondern lässt lediglich „Reflexe der inneren Zustände in der äußeren Beschaffenheit“ erkennen.20 Baumgärtners Blick richtet sich allein auf die Oberfläche des Körpers und deren Materialität. 5.1.1
Die Funktionen der Bilder
Die in der Kranken-Physiognomik enthaltenen Bilder zeigen Patienten im Porträtformat. Die Bilder stellen die Patienten vor einem weißen Hintergrund und auf einem Kissen aufgestützt dar, zeigen das verfärbte Gesicht und verweisen damit auf die verschiedenen Formen des Fiebers, Entzündungen, Tuberkulose und Augenleiden. Doch auch neurologische und psychische Leiden sowie bestimmte Haltungen, die mit Psychosen einhergehen, wie die Konvulsionen einer an „Hysterie“ erkrankten Frau, sollen in den Porträts sichtbar werden. Der serielle Charakter des Atlasses verweist auf die Fülle der existierenden Pathologien und zugleich auf den Anspruch des Verfassers, ein möglichst umfassendes Bild dieser zahlreichen Krankheiten in komprimierter Form darzulegen.21 Dabei steht die getroffene Auswahl stellvertretend für Patienten, die an ähnlichen Krankheiten leiden. Da das Gesicht eine grundlegende Rolle in der menschlichen Physiologie spielt und zugleich Leiden widerspiegeln kann, bedarf es Bildern, die diese Gesichter zeigen. Baumgärtner nennt sie „Portraits von Kranken“ und beschreibt ihre Funktion am Anfang seiner Vorrede. Zu den Porträts bemerkt Baumgärtner zweierlei. Zum einen stellt er fest, dass mit seiner Kranken- Physiognomik zum ersten Mal Patientenbildnisse den Lehrern der Semiotik und der „speciellen Krankheitslehre“ zur Verfügung gestellt wurden. Zum anderen betont Baumgärtner, dass die Bilder das Wesentliche und das Neuartige an seiner Kranken-Physiognomik sind.
19 Ebd., S. 11. 20 Baumgärtner. 1839, S. 23. 21 Ebd., S. 3.
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In diesem Zusammenhang entfaltet der Mediziner eine bildbejahende Rhetorik. So wie er dem „Merkmal“ eine diagnostische Eigenschaft zuweist, so übernimmt für ihn das Bild des Mals eine primär epistemische und didaktische Funktion, nämlich die Sichtbarmachung, die Erkennung und die Einprägung der Krankheitsformen. Die Bilder sollen in erster Linie die Diagnose vorantreiben. Krankheiten könnten erkannt und so schneller behandelt werden, als es durch „eine umständliche Erfragung“ des Patienten möglich wäre.22 Diese Aussage impliziert, dass die unpraktische Mitnahme der Atlanten in die Klinik nicht vorgesehen war. Denn die Darstellung von Krankheiten sollte sich, so Baumgärtner weiter, dank der Porträts „tief ins Gedächtnis“ einprägen. Der Student müsste das entsprechende Bild lediglich „aufrufen“. In diesem Sinne gesteht der Mediziner dem Bild eine wesentliche Rolle in der Weise zu, wie wir unsere Welt grundsätzlich begreifen. Nach Baumgärtner ist es nicht die mündliche Belehrung, sondern gerade das Bild einer Rose, das den Menschen lehrt, wie die Farbe Rot aussehe.23 Dabei kann dieses Bild fortwährend generiert werden. Darüber hinaus ist es vorstellbar, dass die Porträts gerade in Abwesenheit der Patienten, beispielsweise im Unterrichtssaal, gedeutet und diskutiert wurden. Dem Argument, dass Baumgärtners Bilder neuartig waren, kann allerdings widersprochen werden. Bereits 1833 erschien Jean-Louis Aliberts Buch zu Hautkrankheiten mit dem Titel Traité Complet des Maladies de la Peau. Es enthielt neben einer medizinischen Abhandlung einen Atlas mit 63 farbigen Patientenporträts. Dass Baumgärtner Aliberts Buch tatsächlich nicht gekannt hat, ist eher zu bezweifeln. Denn die Bilder der beiden Atlanten gleichen sich wesentlich. Die Patienten sind im Porträtformat „im Krankenbette“ und vor einem weißen Hintergrund gezeigt. Die Konturen der Figuren sind im unteren Bereich verwischt und verschwimmen im Hintergrund. In der Vorrede erwähnt Baumgärtner Werke, aus denen er fünf Bilder übernommen hat: Étiennne Parisets Observations sur la fièvre jaune (1820) und Robert Frorieps Symptome der asiatischen Cholera, das 1832 in Weimar erschien.24 Dabei fällt auf, dass diese in den Atlanten gezeigten Lithografien entweder den Porträtierten vor einem farbigen Hintergrund abbilden oder nur auf das Gesicht fokussiert sind. Damit unterscheiden sie sich von Baumgärtners Abbildungen.
22 Ebd. 23 Baumgärtner. 1839, S. 3, 5. 24 Ebd., S. 5. Baumgärtners Kranken-Physiognomik (1839) |
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Es ist erstaunlich, dass Aliberts Buch, das formell einen unmittelbaren Bezug zur Kranken-Physiognomik darlegt und nur ein Jahr nach Frorieps Abhandlung veröffentlicht wurde, in Baumgärtners Aufzählung fehlt. Man kann vermuten, dass Aliberts dermatologische Schrift Baumgärtners Interesse nicht erregt hatte, weil sie einen anderen Ansatz verfolgte. Alibert beschreibt die verschiedenen Krankheiten und klassifiziert sie im Rahmen eines nosologischen Tableaus.25 Baumgärtner geht es hingegen um die reine Anschauungspraxis, insbesondere um die Lesung der Krankheit im menschlichen Antlitz. In diesem Zusammenhang fungierten Baumgärtners Porträts als Stellvertreter der Kranken, die zur Einprägung des Krankheitsbildes und womöglich zur weiteren Übung der pathologischen Inhalte, nicht als bildlicher Annex eines medizinischen Textes, wie es in Aliberts Atlas der Fall ist, verwendet wurden. 5.1.2 Magenkrebs
An den Bildern eines Krebskranken und eines Epileptikers kann Baumgärtners Methode verdeutlicht werden. Im Textband beschreibt der Mediziner das Gesicht eines an „Magenkrebs“ erkrankten Mannes: Weh dir, Unglücklicher, wie düster dein Blick, wie erdfahl und eingefallen dein Gesicht, wie schmerzhaft deine Züge! In der Tat ein charakteristisches Zeichen des Krebses ist ein besonders düsterer, griesgrämiger Blick und Gesichtsausdruck überhaupt. Man erkennt in ihm das schwere schmerzhafte Leiden und ein mit dem Schicksale haderndes Gemüt. Von den Nasenflügeln aus geht eine tiefe, Schmerz ausdrückende Furche um die Mundwinkel und die fest aneinander gelegten Lippen sind auch etwas verzogen. Das Gesicht ist mager, die Wangen sind eingefallen und faltig. Die Gesichtsfarbe ist erdfahl und hat eine Beimengung von Gelb, was nicht dem Krebse angehört, sondern eine in dem vorliegenden Fall stattfinden Mitleidenschaft der Leber anzeigt. (…) Der Kranke befand sich noch in einem Alter, in welchem sonst der Magenkrebs nicht leicht vorkommt, dem 32. Lebensjahre. Es war ein starker Branntweintrinker, und führte überhaupt eine sehr unordentliche Lebensweise. Es stellte sich ein Magenschmerz ein, welcher immer häufiger und heftiger wurde, und welchem zuletzt das den Magenkrebs bezeichnende Erbrechen einer kaffeesatzähnlichen Materie sich hinzugesellte. Der Körper magerte ab; in den letzten Monaten des Lebens gesellten sich auch Erscheinungen von Leberleiden hinzu, und der Kranke starb 25 Siehe Alibert: Vorlesungen über die Krankheiten der Haut, S. 21, 43.
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Abb. 22 Karl Sandhas: Magenkrebs (Carcinoma ventriculi). Lithografie. In Karl Heinrich Baumgärtner: KrankenPhysiognomik. 1839.
an Erschöpfung, indem beinahe alle Lebensmittel hinweggebrochen wurden. Bei der Leichenöffnung fand man drei Finger über dem Pförtner die Magenhäute beinahe im ganzen Umfange des Magens scirrhös verdickt und die Verhärtung auf der inneren Fläche angefressen und in ein großes krebshaftes Geschwür umgewandelt.26
Der Text bezieht sich auf die als „Magenkrebs“ gekennzeichnete farbige Tafel im Atlas. Im Bild (Abb. 22) sieht man die Büste des in eine bäuerliche Latzhose gekleideten, auf ein Kissen gestützten Mannes. Das Tumorleiden macht sich nicht durch sichtbare Auswüchse bemerkbar, es wird stattdessen im Gesicht ablesbar. Der Fokus des vorwiegend weißen Bildes gilt dem braun-gelblich verfärbten Gesicht. Die Augenbrauen sind zusammengezogen, die Lippen eng aneinandergepresst. Der Kranke fixiert den Betrachter. Als entscheidende Merkmale der Krankheit definiert Baumgärtner den „düsteren“ und „griesgrämigen“ Blick des Kranken sowie die „erdfahle“ 26 Baumgärtner. 1839, S. 153 – 155. Baumgärtners Kranken-Physiognomik (1839) |
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Gesichtsfarbe. Diese Aspekte summieren sich zu einem „griesgrämigen“ schmerzvollen Gesamtausdruck. Dabei wird der Schmerz nicht durch eine offensichtliche Miene, wie einen offenen Mund oder eine auffällige Verzerrung, sondern durch eine Linie im eigentlich stillen Gesicht ausgedrückt. Diese „Schmerzlinie“ zieht sich als Furche von den Nasenflügeln bis zu den Mundwinkeln und mündet in den zusammengezogenen Lippen des Mannes. Doch im Bild ist diese Linie nicht eindeutig zu sehen, stattdessen zeichnet sich eine deutliche, tiefe Furche, die Verlängerung des Nasenkonturs, zwischen den zusammengezogenen Augenbrauen ab. Es ist gerade diese Linie, die einen Schmerzausdruck evoziert. Umso mehr erstaunt es, dass Baumgärtner diese Linie nicht beschreibt. Die sich um den Mund formierende „Schmerz-Linie“ verweist weiterhin auf das „mit dem Schicksale hadernde Gemüt“. Warum sich gerade dieser Schmerz als ein Ausdruck des Krebses äußert, erläutert die Gesichtsverfärbung des Mannes. Baumgärtner erklärt, dass das Gelb „nicht dem Krebse angehört“, sondern auf eine zusätzliche Erkrankung der Leber verweist. Er fügt hinzu, dass „die Farbe in dem Magenkrebs“ eigentlich viel blasser ist.27 Basierend auf diesen Beobachtungen werden Symptome, die die Diagnose des Krebses weiter konkretisieren sollen, wie Gewichtsverlust und ein kaffeesatzähnlicher Auswurf, die im Bild nicht präsentiert werden, hinzugezogen. Es ist auffällig, dass Baumgärtner in seiner Beschreibung auf die Gedanken des Charles Bell zurückgreift. Der Aspekt der „Einkerbung“ eines bestimmten „Gemütszustandes“ in der Beschaffenheit des Gesichts verweist auf Bells Idee des Charakters als Abdruck eines „ursprünglichen Gepräges“ sowie auf die Auffassung des Gesichts als Träger einer „Grammatik“ des Ausdrucks. Bei Baumgärtner wird die Metapher des Abdrucks zu einem wesentlichen Kriterium seiner Anschauungspraxis. Der Beschauer untersucht den Bereich um Augen und Mund zuerst im Hinblick auf eine Linie, die sich hier einschreibt. Diese Linie verweist auf einen Schmerzausdruck, dieser wiederum auf eine Krankheit. In einem weiteren Schritt analysiert der Betrachter die Gesichtsverfärbung des Erkrankten. Diese grenzt die Krankheit näher ein. Zugleich sind Baumgärtners Gedanken deutlich mit Lavaters Physiognomik verschränkt. Die Linie, die als Indikator des Schmerzes fungiert, zeigt gerade den Bezug zu Lavaters Lehren. Es ist womöglich auch dessen Einfluss, der es Baumgärtner nicht gestattet, seinen Fokus auf die Stirn auszudehnen und auf die Furche in der Stirn des Mannes Bezug zu nehmen. 27 Ebd., S. 155.
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Denn Lavater verband mit der Stirn intellektuelle Eigenschaften; sinnliche Qualitäten wie das Schmerzempfinden wurden in den Bereich des Mundes und des Kiefers, so wie ihn Baumgärtner definiert, verbannt.28 Ferner scheint der Bezug zur Sprache auch bei Baumgärtner auf. So wie Lavater die Konturen des menschlichen Antlitzes als „Buchstaben“ bezeichnet, so ist für Baumgärtner „jeder äußere Teil“ eine „Schrift“, die „uns unfehlbar die Qualität einer entsprechenden inneren Eigenschaft anzeige“.29 In diesem Sinne glaubt Baumgärtner anhand der linearen Schmerzverzerrung auf ein im Inneren des Körpers befindliches „Gemüt“ schließen zu können. Dabei wird deutlich, dass die Lesung eines vorübergehenden Ausdrucks auf die Innen-Außen-Relation, wie sie die Physiognomik für die Lesung eines unveränderbaren Charakters vorgibt, angewiesen ist. In diesem Zusammenhang bezieht sich Baumgärtner deutlich auf die Bedeutung des Porträts bei Lavater. Dabei bemerkt er, dass Lavater viele ähnliche „Eigentümlichkeiten“ in Porträts festgestellt habe.30 Grundsätzlich scheint die Kranken-Physiognomik aus den Lehren der Physiognomik und der Semiotik des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts zu schöpfen, vermengt diese mit der zeitgenössischen Physiologie und visualisiert sie anhand des Bildes. In diesem Sinne erscheint sie neuartig. Darüber hinaus macht das serielle Format die Bilder untereinander vergleichbar und ermöglicht die Eingrenzung des sich darbietenden Ausdrucks auf eine bestimmte Krankheit. Dieser Aspekt stellt, wie in einem weiteren Abschnitt zu zeigen sein wird, einen wesentlichen Unterschied zu Lam Quas Patientenporträts dar. Denn diese verweigern gerade die Darstellung des Schmerzes. Ferner ist Baumgärtners Methode, wie schon seine Vision, eine auf einer Physiologie basierende Physiognomik begründen zu wollen, stark zeitgenössisch geprägt. Diesen Aspekt zeigt die Diagnose des „Magenkrebses“. Baumgärtner sieht seine Methode des Zeichenschlusses, die die Oberfläche des Körpers fokussiert, paradoxerweise durch die pathologische Anatomie bestätigt. Die „Leichenöffnung“ zeigte, dass der Mann tatsächlich an einem Magentumor erkrankt war. Die Evidenz der Krankheit lieferte zuletzt der geöffnete Körper.
28 Lavater: Fragmente. Band 2, S. 98. 29 Baumgärtner. 1839, S. 15. 30 Ebd. Baumgärtners Kranken-Physiognomik (1839) |
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5.1.3 Fallsucht
In der Beschreibung und im dazugehörigen Bild des Epileptikers kommt Baumgärtners Verfahrensweise noch deutlicher zum Ausdruck. Anhand des stillen Gesichts meint der Mediziner auf eine Krankheit schließen zu können, die sich grundsätzlich durch eine Bewegung, wobei hier der epileptische Anfall gemeint ist, ausdrückt. Er beschreibt den „Fallsüchtigen“ folgendermaßen: Bei vielen Individuen, welche an Fallsucht leiden, sind durch die heftigen Anfälle Züge in das Gesicht eingegraben worden, woran man die Krankheit auch außer dem Anfall mit mehr oder weniger Sicherheit erkennt. Das vor uns liegende Bild stellt solche Züge dar. Wir bemerken, dass die linke Augenspalte kleiner ist als die rechte, das obere Augenlid hängt weiter herab und die Augenbraue steht tiefer. Das linke Auge trifft uns nicht, seine Achse irrt nach der linken Seite und abwärts. Die starken Horizontalfalten der Stirne reichen links bei Weitem nicht so weit als auf der rechten Seite, sondern verwischen sich hier, was nebst dem Herabhängen des linken Augenlides zur Meinung führen könnte, die beschriebenen krankhaften Veränderungen in den Gesichtszügen seien Folgen des Schlagflusses; es fehlen aber die Zeichen dieses Zustandes in der Haltung des Mundes und in der Linie, welche von dem linken Nasenflügel um den Mundwinkel führt, indem hierin entschiedene Haltung und nicht Lähmung ausgedrückt ist. Der beschriebene eigentümliche Zustand des einen Auges kommt sehr häufig bei Fallsüchtigen vor, und findet wohl immer auf der Seite statt, nach welcher der Kranke beim Beginnen des Anfalles sich dreht. (…) Eigentümlich ist auch der düstere Ausdruck in dem Blicke und den Gesichtszügen, welcher nach und nach in gedankenloses Hinstarren übergeht.31
Der Text stellt zunächst den Bezug zum Bild des Kranken (Abb. 23) her. Es ist das Bild eines im Bett aufrecht sitzenden Mannes. Er trägt ein weißes Hemd, das in der Mitte offen ist. Sein Gesicht ist ausdruckslos. Eine Abweichung von einem „normalen“ Gesichtsausdruck macht sich in den Augen des Mannes bemerkbar, nur das rechte Auge fokussiert den Betrachter, das linke schweift zur Seite ab. Wie im Fall des „Magenkrebses“ beschreibt Baumgärtner zunächst die schmerzhaften Züge, die sich linienhaft „im Gesicht eingegraben“ haben. Doch anders als beim Krebskranken haben sich 31 Ebd., S. 193 – 195.
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Abb. 23 Karl Sandhas: Fallsucht (Epilepsia). Lithografie. In Karl Heinrich Baumgärtner: Kranken-Physiognomik. 1839.
diese Züge so „eingegraben“, dass sie die vorhandenen intakten Gesichtszüge „verwischen“. Damit will Baumgärtner den gerade bleibenden Ausdruck einer sich temporär manifestierenden Krankheit ausfindig machen und so das Problem einer grundsätzlich unsichtbaren Krankheit überbrücken. Die wesentlichen Merkmale der Epilepsie seien in den Folgen der „Krämpfe“ zu sehen: in dem herabhängenden Augenlid, der ebenfalls tief sitzenden Augenbraue sowie dem Auge, das den Betrachter nicht fokussieren kann. Darüber hinaus sind die Stirnfalten in der linken Gesichtshälfte nur noch „verwischt“ vorhanden. Diese Aspekte würden eigentlich auf den „Schlagfluss“, der sich durch eine allumfassende Lähmung einer Gesichtshälfte auszeichnet, hindeuten. Doch diese Lähmung ist bei dem Epileptiker nicht zu sehen, stattdessen zeigen die Züge um den Mund eine „Haltung“, die durch die linke Mundfalte ausgedrückt wird. In diesem Zusammenhang macht der Autor den Unterschied zwischen dem Bild der „Fallsucht“ und dem Bild des „Schlagflusses“ deutlich und legt dem Leser einen Vergleich nahe, der sogleich im Atlas nachgeschlagen Baumgärtners Kranken-Physiognomik (1839) |
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werden kann. Das Bild des „Schlagflusses“, das drei Seiten zuvor zu sehen ist, zeigt einen alten Mann nach einem Schlaganfall. Seine linke Seite scheint vollständig gelähmt. Die Züge auf dieser Seite des Gesichts sind ebenfalls „verwischt“. Eine „Haltung“ des Mundes, wie sie sich in einer sich um den Mund ziehenden Falte zeigen würde, ist nicht zu sehen. Im Gegensatz zu dieser Darstellung vollzieht sich die Lähmung des „Fallsüchtigen“ nur teilweise und findet in der Gesichtshälfte statt, zu der sich der Kranke in seinem Anfall „dreht“. Das Resultat dieser Bewegung bezeichnet Baumgärtner als eine „Schwäche“ der Nerven. Ein weiteres Merkmal der Epilepsie ist ein „düsterer Ausdruck“, der bereits dem Krebskranken attestiert wurde und in diesem Fall zu einem „Hinstarren“ wird, was jedoch nicht weiter erläutert wird. Das Porträt des Epileptikers verdeutlicht den Widerspruch, den Baumgärtners Bilder für den heutigen Betrachter haben. Es ist der Widerspruch zwischen der Bewegung oder in Baumgärtners Worten der „Veränderung“, die den epileptischen Anfall auszeichnet, und dem Stillstand der eingefrorenen Person im Porträt, das diese Krankheit zeigen soll. Dieser Widerspruch wird durch das Porträtformat bedingt. Denn nur das stille Bildnis des Menschen, das im Gegensatz zum Historienbild auf Handlung verzichtet, kann Auskunft über seinen Charakter geben.32 Analog dazu könnten die stillen Bildnisse den Charakter der Krankheit zeigen. Gleichzeitig stellen einige Bilder den Kranken bewegt, unter Schmerzen und in einer verkrampften Position dar. In diesem Zusammenhang macht Baumgärtner die entscheidende Einschränkung, dass man vor allem anhand der „Gesichtslinien“, die sich „tief eingegraben hätten“, auf den Charakter des Menschen schließen kann, doch zugleich darf man die Tatsache, dass diese Linien auch das Resultat der „äußeren Verhältnisse“ sind, nicht vernachlässigen.33 Der Gegensatz von Veränderung und Stillstand verweist auf die Dichotomie zwischen der Sichtbarkeit des Mals und der Unsichtbarkeit der Krankheit. Das Mal zieht eine Kausalität nach sich, es ist Anzeichen der Krankheit. Als solches ist es mit der eigentlichen Form der Krankheit nicht deckungsgleich. Daher ist es auch Zeichen einer Inkongruenz von Innen und Außen, die die Krankheit verursacht. Diese Inkongruenz soll mittels der physiognomischen Methode, nicht der Heilung, auf deren Beschreibung Baumgärtner grundsätzlich verzichtet, aufgelöst werden. Die Methode zeigt die Verbindung zwischen Krankheit und Mal und stellt so eine gewisse Wi 32 Boehm: Bildnis und Individuum, S. 27. 33 Baumgärtner. 1839, S. 15.
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derspruchslosigkeit zwischen Innen und Außen her. Das Mal fungiert dabei als die Verlängerung der Krankheit nach außen. Es gewährt gewissermaßen einen Einblick durch den Körper auf die Krankheit. 5.1.4 Ekphrasis und Evidenz
Die von Baumgärtner beschriebenen Phänomene – die unsichtbare, da in der Bewegung begriffene Krankheit, der nicht zu sehende, da im Inneren des Körpers befindliche Tumor – sind in den Bildern nicht unmittelbar erkennbar und doch sollen sie in den Patientenbildnissen erkannt werden. Damit implizieren sie einen durch Gottfried Boehm definierten Dissens, den die „Evidenz“ des Bildes auflösen soll. Ausgehend von Quintilians rhetorischem Begriff evidentia bezeichnet Boehm die Evidenz als ein „Vor-Augen-Stellen“, das von einer Sache überzeugt: Nur im Hinblick auf … wird etwas zur Spur, zum Befund, wird es „sprechend“, weil es Abwesendes aber Erfragtes bezeugt. (…) Wir können nur suchen, finden und erfinden, wenn sich zwischen dem, was sich zeigt und dem, was es zu sein beansprucht, ein Kontrast, ein Dissens, eine Aporie auftut.34 [Hervorhebungen im Original]
Boehm begreift den Ausgangspunkt der Evidenz als eine „Lücke“ zwischen dem, was man weiß, und dem, was man vermutet, was man aber wissen will; eine Lücke, die durch die Evidenz „geschlossen“ wird. Baumgärtners Porträts unterstreichen die Sichtbarkeit der Krankheit, nicht die Wirksamkeit der Medizin, wie es in Parkers Fall zu sehen war. Die Exstirpation, die Parker anhand der Bilder beschreibt, nimmt der Krankheit gewissermaßen ihre Sichtbarkeit. Dagegen verdeutlicht Baumgärtner das eigentlich unsichtbare Wirken der Krankheit. Die Abbildungen tragen dazu bei, die Krankheit zu erkennen, indem sie die Methode des Erkennens, nicht die der Heilung, visualisieren. In diesem Zusammenhang umfasst das Erkennen einen doppelten Vergleich: den Vergleich zwischen Bild und Text und den innerbildlichen Vergleich zwischen den intakten und den krankhaften Gesichtszügen. Zunächst gilt es, die „Schmerz-Linie“, den primären Baustein der Evidenz der Kranken-Physiognomik, im Gesicht zu finden. Diese spezifiziert 34 Gottfried Boehm: „Augenmaß. Zur Genese der ikonischen Evidenz“. In: Movens Bild. Zwischen Evidenz und Affekt. Hg. Gottfried Boehm, Birgit Mersmann und Christian Spies. Paderborn. 2008, S. 16. Baumgärtners Kranken-Physiognomik (1839) |
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die Erkrankung. Die genaue Position wird für die Fallbeschreibung bestimmend. Dieser Vorgang, das Suchen, das Entdecken und das Verfolgen der Linie im Bild sowie das Lesen der Linie, ist ein fortwährender Vergleich zwischen Text und Bild. Der Leser, der zugleich der Beschauer ist, liest und vergleicht das Gelesene mit dem vorliegenden Bild. Dabei übermittelt das Porträt, das einen unversehrten Körper zeigt, die Angaben zur Topografie des gesunden Gesichts, der Text beschreibt die darin erkrankten Stellen. In diesem Sinne handelt es sich nicht um einen einfachen Vergleich zwischen Text und Bild oder die Beschreibung eines sichtbar vorliegenden Falls; der medizinische Text verfolgt eine Ekphrasis, die rhetorische Bemühung, ein Kunstwerk darzustellen. Denn Baumgärtner beschreibt die Bilder im Atlas. Im Zusammenhang des Epileptikers schildert er, dass sich die Anfälle in den Gesichtszügen „eingraben“, und benennt explizit das im Atlas befindliche Bild: „Das vor uns liegende Bild stellt solche Züge dar.“ Er fährt dann mit der Beschreibung des Bildes fort: „Wir bemerken (…)“. Auf diesem Wege bezieht er den Leser in die Betrachtung ein und scheint nun mit ihm gemeinsam die „eingegrabenen“ Linien zu beobachten. Dabei verschmelzen die Blicke des Lesers und des Autors. Beide schauen auf die Stellen im Bild, die die Krankheit affiziert. Wie die literarische Ekphrasis grundsätzlich die Handlung im Bild beschreibt und zugleich die Affekte des Zuhörers anspricht, so appelliert auch Baumgärtner an die Empathie.35 Seine Beschreibung des Magenkrebses beginnt mit einer Anrede des Kranken: „Weh dir, Unglücklicher (…)!“ Er spricht den im Bild gezeigten Mann und zugleich das Bild, den Stellvertreter des Kranken, an. Auf diesem Wege fordert er den Leser auf, der Beobachtung empathisch beizuwohnen. Denn die Anrede bedarf eines weiteren Subjekts, das das Unglück des Dargestellten nachempfinden kann. Zugleich ist Baumgärtners Ton pädagogisch: „Weh dir“ impliziert, dass der Kranke sein Unglück selbst zu verschulden hat, was Baumgärtner mit der Äußerung „[er] führte überhaupt eine sehr unordentliche Lebensweise“ betont. In diesem Zusammenhang sei auf die Sinnverwandtschaft der griechischen Ekphrasis und der lateinischen evidentia verwiesen. Beide sind keine distinkten Kategorien der Rhetorik, sondern Mittel der Veranschaulichung im Rahmen der rhetorischen Kategorie der enárgeia, der Eigenschaft der Rede, 35 Siehe Fritz Graf: „Ekphrasis: Die Entstehung der Gattung in der Antike“. In: Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart. Hg. Gottfried Boehm und Helmut Pfotenhauer. München. 1996, S. 143 – 155, hier: S. 149.
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„Nichtgegenwärtiges“ innerlich präsent zu machen. Die enárgeia macht den Hörer zum Zuschauer. In diesem Rahmen ist die Ekphrasis lediglich eine Beschreibung, während evidentia, als das wesentliche Moment der Ekphrasis, Anschaulichkeit, Klarheit und Deutlichkeit meint.36 In einem weiteren Schritt wird die Evidenz der Krankheit durch den Vergleich zwischen den „normalen“ und den „anormalen“ Gesichtszügen im Bild hergestellt. Diese beschreibt der Text ausführlich. So bemerkt der Verfasser im Gesicht des Epileptikers, dass die linke Augenöffnung kleiner ist als die intakte rechte Öffnung. In diesem Zusammenhang wird das Bild eines „normalen“ Gesichts zwangsläufig vorausgesetzt und in den Abbildungen „mitgesehen“. Damit entsteht die Frage, an welcher Stelle das Anormale eigentlich beginnt. Die Krankheit entfaltet sich auf der Folie des intakten, stillen Gesichts. Dabei wird das fiktive Bild des normalen Gesichts irgendwo zwischen einem entspannten und einem noch nicht gelähmten Gesicht angesiedelt. Auf der Topografie des entspannten (aber nicht gelähmten) Gesichts verdeutlicht die Linie, einmal als Dehnung der intakten Gesichtszüge oder als das Fehlen der Kontinuität dieser Züge, die „Übertretung“, die nach Canguilhem auf das Anormale verweist und das Normale stabilisiert. In diesem Sinne fungiert das Bild des gesunden Körpers in Baumgärtners Abbildungen als eine prominente Folie, während nur gewisse Partien die Übertretung zeigen. So wird die Evidenz des Pathologischen stets über den Vergleich im Bild, zwischen den intakten und den kranken Gesichtszügen und im Rahmen einer alles umspannenden Ekphrase von Bild und Text hergestellt. Zugleich treiben Text und Bild den Vergleich mit den Bildern untereinander im Atlas voran: wenn Baumgärtner beispielsweise das Porträt des „Fallsüchtigen“ beschreibt und mit dem eines Mannes nach dem Schlaganfall vergleicht. Die Bilder beanspruchen grundsätzlich eine medizinische Evidenz. Sie stellen verfärbte, durchfurchte Gesichter dar. Eine generelle Erkrankung wird hier, 36 In seinem Artikel zur Entstehung der Ekphrasis in der Antike bemerkt der Philologe Fritz Graf, dass es sich bei dem griechischen Begriff der Ekphrasis nicht um eine distinkte Gattung gehandelt hatte. Ausgehend von der berühmten Beschreibung des Schildes des Achilles durch Homer, die ins moderne Denken als eine gattungsähnliche Definition der Beschreibung eines Kunstwerks in einem literarischen Text eingegangen ist, definiert Graf die Ekphrasis nicht als eine rhetorische Sonderkategorie, sondern als ein „Instrument“ der Enargeia, der Eigenschaft der Rede, „Nichtgegenwärtiges“ innerlich präsent zu machen. Ekphrasis schildert in diesem Rahmen einen Sachverhalt „anschaulich“ und trifft zudem die Affekte der Zuhörer. Ebd., S. 145. Baumgärtners Kranken-Physiognomik (1839) |
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laut Baumgärtner, für jeden ersichtlich. Doch nur im Zusammenspiel mit dem Text und der darin enthaltenen Rhetorik wird die ikonische Evidenz „klarer“ und kann so gezielt vom Arzt entziffert und angewendet werden. Damit setzt sich die Evidenz des Pathologischen in der Kranken-Physiognomik aus einer ikonischen und rhetorischen Evidenz zusammen. In diesem Zusammenhang zeigt sich eine weitere Analogie zwischen Bild und Text, wie sie bereits für Lavater und Bell festgestellt wurde. Während die Texte Bilder erzeugen, agieren die Bilder, wie die darin gezeigten Gesichter, „schriftlich“.37 Die „Schmerz-Linien“ haben sich in den Gesichtern wie die Buchstaben eines Textes im Papier „abgedrückt“ und müssen vom geschulten Auge des Physiognomen entziffert werden. 5.1.5 Evidenz und Natur
Auf einer weiteren Ebene macht sich in der Kranken-Physiognomik ein genereller und unüberbrückbarer Konflikt der medizinischen Abbildung bemerkbar: Wie kann das Bild evident und zugleich lebensecht, in Baumgärtners Worten „nach der Natur“, sein? In diesem Zusammenhang bemerkt der Arzt im Vorwort zur zweiten Auflage seines Buches: Ich erkenne die Unvollkommenheit dieses Werkes an und weiß sogar, dass ich selbst im Stande wäre, ein besonderes zu liefern, wenn mir genügendes Material zu Gebote stünde und wenn die Kunst das immer treu wieder zu geben vermöchte, was die Natur darbietet.38
Konträr zu der zuvor beschriebenen Lobpreisung des Bildes empfindet Baumgärtner ein Unbehagen an der Kranken-Physiognomik. Dieses Unbehagen gilt nicht seiner Methode, sondern gerade den Bildern. Das durch den Künstler hergestellte Bild gebe die Natur offenbar nur ungenügend wieder. Baumgärtner hinterfragt das Können der Künstler und rezipiert zugleich die uralte platonische Kritik am Vermögen der Kunst, die Wirklichkeit so darzustellen, wie sie sich unseren Augen zeigt.39 Damit impliziert der Mediziner, dass er mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln, den in seiner Freiburger Praxis erschienenen und von Karl Sandhaas abgebildeten 37 Baumgärtner. 1839, S. 15. 38 Baumgärtner. 1842, S. 9. 39 Siehe Zweites, Drittes und Zehntes Buch in: Platons Der Staat (Politeia). Hg und übers. Karl Vretska. Stuttgart. 1982, Zeilen 376c–398b, 595a–608b.
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Patienten, das beste Werk geschaffen hatte. Mit der Kritik des gemalten Bildes und dem darin enthaltenen Wunsch nach einem „treuen“ Bild wird erneut eine Rhetorik vorweggeschickt, die die Erfinder der frühen Fotografie bedienen werden: dass nämlich das fotografische, handkolorierte Bild „lebensechter“ sei als das gemalte, es sei genauso farbig und darüber hinaus sei es „akkurater“ als ein Aquarell oder ein Gemälde.40 Baumgärtners Kritik verweist auf einen intrinsischen Zwiespalt der medizinischen Abbildungen. Da sie zu Übungszwecken verwendet wurden, mussten sie modellhaft sein und gewisse Eigenschaften gezielt anzeigen. Baumgärtners Text stellt eine beispielhafte Diagnose, die das Bild modellhaft visualisieren soll. Gleichzeitig soll das Bild nicht allzu stilisiert und typenhaft wirken. Mit seinem offensichtlichen Bezug zu Lavater, Froriep und Pariset macht sich Baumgärtners Anspruch bemerkbar, explizit auf Porträts zurückzugreifen. Anders als Parker, der die wissenschaftlich konnotierte „representation“ und die im künstlerischen Sinne gebräuchliche „likeness“ verwendet, scheint für Baumgärtner gerade das Porträt, das er genau in diesem Wortlaut benutzt, die Natur vollends, samt ihrer Widrigkeiten, darzustellen. Damit unterscheidet sich sein Ansatz grundlegend von anatomischen Atlanten, die anonyme Körper abbilden. Die Kranken-Physiognomik zeigt dagegen individuelle Gesichter, die das umspannende Bild einer ideellen Krankheit vorausahnen lassen. Dieses ideelle Bild ergibt sich aus dem Format der Serie, das möglichst viele partikuläre Manifestationen der Krankheit präsentiert. Die Porträts können daher als ein Brückenschlag, der zugleich ein Kompromiss zwischen dem Porträtmaler und dem Mediziner sein musste, begriffen werden. Das Bild des Gesichts als Index der wirklichen Person „aus der Natur“ und zugleich als Indiz für die schlecht funktionierende Physiologie, als ein Bild zwischen Normalität und Anormalität, stellt gerade diesen Brückenschlag her.
40 Eine solche Rhetorik macht sich insbesondere in dermatologischen fotografischen Atlanten bemerkbar, die auf die Darstellung der Farbe angewiesen waren. Siehe beispielsweise das Vorwort zu George Henry Fox: Photographic Illustrations of Skin Diseases (1879 – 1880): „It has been the aim of the author to represent in this series nearly all of the rare as well as the common affections of the skin (…); to present their features with photographic accuracy, and to employ color with the utmost care to render the illustrations as life-like as possible.“ [Meine Hervorhebungen; J. K.] Zur wissenschaftlichen Nutzung der Fotografie siehe Michael Hagner: „Mikro-Anthropologie und Fotografie“, S. 256 – 257. Baumgärtners Kranken-Physiognomik (1839) |
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5.2 Für sich stehende Patientenporträts (1830 – 1850) Dieser Abschnitt widmet sich für sich stehenden Porträts von Tumorpatienten mit sichtbaren Geschwülsten: Gemälden, Zeichnungen und Aquarellen aus der Mitte des 19. Jahrhunderts aus Großbritannien und Deutschland, die, anders als Baumgärtners Abbildungen, keinen Ausdruck zeigen. Die Bilder sind häufig mit der Signatur des Künstlers, einer Fallnummerierung und einer kurzen Fallbeschreibung versehen. Die Patienten verbleiben anonym. Der Abschnitt zeigt lediglich eine Auswahl aus einer Fülle von Patientenbildnissen, die heute in medizinhistorischen Bibliotheken in Europa und den USA aufbewahrt werden. Die vorliegenden Bilder stammen aus der Sammlung der medizinhistorischen Wellcome Library in London und dem Pathologischen Institut der Universität Heidelberg. Dieser Abschnitt untersucht vor allem Bilder von Kopf- und Gesichtstumoren. Ferner wird im Zusammenhang der Serie The Gentlefolk of Leeds (1818 – 1840) auf Wunden geschaut, die als Folge von Brusttumorexstirpationen entstanden sind. Zu diesen Bildern ist wenig bekannt. Die historischen Dokumente nennen lediglich den Namen des Künstlers, den englisch- französischen Landschaftsmaler William Alfred Delamotte (1775 – 1863). Letzterer malte am Londoner St Bartholomew’s Hospital Porträts von Tumorkranken sowie Bilder von sezierten kranken Organen. Im Fall der Heidelberger Porträts ist nur der Name des Arztes bekannt, für den die Bilder gefertigt wurden, der im Bild verewigte „Dr. Schott“. Was jedoch mit Sicherheit gesagt werden kann, ist, dass die Bilder für die klinische Nutzung vorgesehen waren. In diesem Zusammenhang beziehe ich mich auf Douglas James’ Betonung der Stellvertretung der Patientenbildnisse für den Arzt John Hunter. Die spärliche Dokumentenlage mag gerade mit der Tatsache zusammenhängen, dass die Porträts als für sich stehende Objekte konzipiert waren und man sie in der alltäglichen klinischen Praxis bei sich trug und weiterreichte. Dazugehörige Notizen oder andere Dokumente, wenn solche überhaupt vorhanden waren, können so abhandengekommen sein. Es ist zu vermuten, dass auf diese Weise auch zahlreiche Patientenporträts verschollen sind.41
41 Laut Dr. med. Felix Lasitschka, dem Leiter der Sammlung des Pathologischen Instituts der Universität Heidelberg, spezialisieren sich viele pathologische Sammlungen auf die Ausstellung von Feucht- und Trockenpräparaten. Papier wurde häufig entsorgt oder verschwand auf anderem Wege.
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Die Auswahl der folgenden Bilder illustriert, dass die Dokumentation der Patienten und die Hinzunahme der Patientenporträts zur Diagnose keine ortspezifische Praxis war, sondern auf eine gesamteuropäische Entwicklung schließen lässt. Ferner wird mit den Patientenporträts die noch zu dieser Zeit vorherrschende Bedeutung der medizinischen Semiotik beziehungsweise der Kranken-Physiognomik in der Klinik unterstrichen. Während das Ende der Semiotik in der medizinhistorischen Forschung auf die Entdeckung der Zellularpathologie im Jahr 1852 angesetzt wird, zeigen Patientenporträts, dass die Gedanken der Semiotik und Physiognomik in der Mitte des 19. Jahrhunderts in der Medizin noch allgegenwärtig waren.42 Thematisch ist hier die Evidenz der Krankheit von Interesse. In diesem Zusammenhang soll der Gedanke einer im 19. Jahrhundert omnipräsenten „nichtintervenierenden“ oder „mechanischen Objektivität“, die die Wissenschaftshistoriker Lorraine Daston und Peter Galison für naturwissenschaftliche Atlanten postuliert haben, relativiert werden.43 Die Fülle der Patientenporträts zeigt eine manifeste „Subjektivität“ des Dargestellten, die einige Bereiche der Medizin, wie die Dermatologie, noch bis ins 20. Jahrhundert fortsetzten. Die Präsenz der Person ist in den Patientenporträts stets gegeben. Hier soll Foucaults Idee eines anonymen Patientenkörpers in Frage gestellt werden. Für Foucault entstand an der Wende zum 19. Jahrhundert – mit der „Geburt der Klinik“ – ein neuartiges Konzept der Krankheit, des Körpers und des Kranken. Die Krankheit wurde im Körper verortet. Dieser war nach Foucault keinem Patienten „zugehörig“, sondern wurde in der pathologischen Anatomie des Xavier Bichat als ein Gewebeaggregat begriffen.44 5.2.1 Schott-Bilder
Die beiden farbigen Zeichnungen von Tumorkranken, die auf das 19. Jahrhundert datiert werden, befinden sich in der Heidelberger pathologischen Sammlung.45 Vor einem weißen Hintergrund zeigen sie die Büsten zweier elegant gekleideter Männer, die an einem Augentumor erkrankt sind (Abb. 24a und 24b).
42 Eich, S. 4. 43 Daston und Galison: „Das Bild der Objektivität“, S. 31. 44 Foucault: Die Geburt der Klinik, S. 141. 45 Ich zitiere Dr. med. Felix Lasitschka, eine genauere Datierung war nicht möglich. Für sich stehende Patientenporträts (1830 – 1850) |
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Abb. 24a Anonym: „Portrait No. 370“ (Patient mit Augentumor). Mischtechnik. 19. Jh.
Abb. 24b Anonym: Patient mit Augentumor. Mischtechnik. 19. Jh.
Das erste Porträt stellt einen Mann mit einer Schwellung des linken Auges dar. Es ist auffällig, dass nur das Gesicht vollständig koloriert worden ist, die Schultern sind lediglich mit einem Bleistift skizziert. Die Geschwulst bildet sich unter dem Lid, so dass dieses die braune Schwellung bis zur Hälfte bedeckt. Der Tumor nimmt den gesamten Augenbereich ein und dehnt sich zur Wange. Mit dem anderen, gesunden Auge schaut der Kranke den Betrachter an. Seine leicht nach unten gedehnten Lippen deuten auf einen missmutigen Ausdruck hin, ein konkreter Ausdruck des Schmerzes ist nicht feststellbar. Das zweite Bild stellt eine Profilansicht der rechten Gesichtshälfte des Mannes dar, wobei nicht gesagt werden kann, ob es sich um den gleichen Patienten handelt. Die mit Adern benetzte Geschwulst hat das gesamte bläulich verfärbte Gesicht bis zum Mund eingenommen und macht so die Identifizierung des Gesichts oder eines Ausdrucks unmöglich. Das Bild verdeutlicht zudem eine weitere kleine Schwellung im Ohr. Im Pathologischen Institut sind keine Angaben zur Identität der Patienten erhalten. Die unter der Büste zu sehende Signatur im ersten Porträt „No. 3, Porträt No. 370, Dr. Schott“ lässt lediglich darauf schließen, dass hier die Fallnummer 3 vorliegt und dass das Porträt Teil einer Serie, bestehend aus mindestens 370 Bildern war, wobei keine weiteren Bilder heute erhalten sind. Damit verweist die einst vorhandene Menge der Zeichnungen eher auf eine ausschließlich klinische 208
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Nutzung als auf einen Ausstellungskontext im anatomischen Museum. Des Weiteren kann vermutet werden, dass „Dr. Schott“ nicht nur der Auftraggeber, sondern auch der hier gesuchte Künstler gewesen sein könnte.46 Da die Personen anonym sind, stellt sich die Frage, ob die Bilder den gleichen Mann in einem anderen Krankheitsstadium darstellen oder ob es zwei unterschiedliche Männer sind, die einen ähnlichen Fall präsentieren. Das Profilbild zeigt den Tumor auf der rechten Seite. Im anderen Porträt ist der Tumor jedoch im linken Auge zu sehen. Dieser Aspekt würde der Annahme, dass es sich um den gleichen Mann handelt, widersprechen. Allerdings legt die Gegenüberstellung nahe, dass sich der Tumor im Laufe der Zeit bis zur anderen Seite ausgedehnt haben könnte. Ob die Porträts nun den gleichen Mann oder zwei verschiedene Individuen zeigen, schien für den Produzenten wie für den Rezipienten nicht von Bedeutung zu sein. Der Fokus der Bilder, die als ein zusammengehöriges „Diptychon“ zusammen betrachtet werden können, liegt in erster Linie auf dem Wachstum der Krankheit, das heißt auf deren Ausdehnung von einer apfelgroßen Schwellung bis zu einer überdimensionierten Geschwulst. Das Porträtformat lässt die grundsätzliche Frage nach der „Objektivität“ der Patientenbildnisse entstehen. Denn mit diesem Darstellungsmodus widersprechen die Abbildungen der sogenannten „nichtintervenierenden Objektivität“ des naturwissenschaftlichen Bildes, die die Wissenschaftshistoriker Daston und Galison festgestellt haben. Sie begreifen die Objektivität als das der Subjektivität entgegengesetzte Konzept („countering of subjectivity“).47 Subjektivität und Objektivität seien im 19. Jahrhundert zwar konträre, doch auch sich gegenseitig bedingende Begriffe gewesen. Dies zeigt sich gerade in dem starken (subjektiven) Willen des Produzenten, subjektfreie Bilder für naturwissenschaftliche Zwecke herzustellen. In diesem Zusammenhang entfalten die Wissenschaftshistoriker die Dichotomie zwischen „subjektiven“ und „objektiven“ Bildern. Erstere sind das Resultat eines „Willens zur Subjektivität“, die im Kunstbild enthalten sei.48 „Objektive“ Bilder seien hingegen einem Willen zur „Willenlosigkeit“ entsprungen.49 Demzufolge
46 Viele Ärzte waren geübte Zeichner. Im 18. Jahrhundert wurde die menschliche Anatomie häufig vermittels der Zeichnung an der Leiche erlernt. Siehe Dr William Hunter at the Royal Academy of Arts. Hg. Martin Kemp. Glasgow. 1975. 47 Daston und Galison: Objectivity, S. 36 – 37. 48 Ebd., S. 38. 49 Ebd., S. 39. Für sich stehende Patientenporträts (1830 – 1850) |
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dürfe ein naturwissenschaftliches Bild keine subjektiven Elemente wie die Darstellung des Gesichts enthalten. Die Schott-Bilder widersprechen dieser Dichotomie. Zum einen steht in den Bildern das Individuum im Vordergrund. Der Beschauer blickt in ein intaktes Auge. Zum anderen gilt der Fokus des Zeichners dem gesamten Gesicht, das komplett koloriert wurde, nicht allein der Pathologie. Im anderen Bild hat die Krankheit die Subjektivität des Mannes zwar überwiegend, aber nicht vollständig getilgt. Der Tumor legt sich über seine Gesichtszüge, doch der Hinterkopf, der Kiefer sowie seine Kleidung, die die Individualität markieren, bleiben erhalten. Zum anderen wird die Krankheit in den Blick genommen. Die Patienten werden vor einem neutralen Hintergrund gezeigt, der die Aufmerksamkeit des Beschauers auf die Krankheit lenkt. Ferner „diktieren“ die Tumore die Position des Kranken und so die Bildgebung. Im ersten Bild ist der Kopf des Mannes leicht nach unten geneigt. In dieser Position sieht der Betrachter die Ausdehnung der Krankheit im Bereich des Lids, insbesondere die Vernetzungen der Arterien. Zudem ist die Person vermutlich in ihrer üblichen Haltung dargestellt. Denn es ist das Gewicht des Tumors, das den Kopf nach unten sinken lässt. Im anderen Porträt ist der Mann im Profil abgebildet. Damit wird das vollständige Ausmaß der Pathologie, von der Stirn bis zum Mund, sichtbar gemacht. Vor diesem Hintergrund liefern die Schott-Porträts das Konzept einer ambivalenten Subjektivität; einer Subjektivität, die im Porträt inbegriffen ist und zugleich für medizinische Zwecke genutzt wird. Auf unobjektivem Wege gibt gerade das „subjektive“ Element des Gesichts nähere Angaben zur Krankheit, das heißt zur Position und zum Ausmaß des Tumors. Dabei wird der Vergleich zwischen der Geschwulst und den intakten Gesichtszügen vorangetrieben. Diese definieren die „anormale“ Übertretung des Auswuchses im Auge. Anders als Baumgärtners Porträts zeigen die Schott-Bilder Krankheiten, die augenscheinlich den Körper deformieren. Zugleich bleibt das Gesicht gemäß den Lehren der Kranken-Physiognomik der Ausgangspunkt der Betrachtung und beeinflusst als Bezugspunkt der Krankheit maßgeblich deren Evidenz. Dabei verdeutlicht die Gegenüberstellung der Krankheitsstadien das zunächst nicht sichtbare und in einer stillen Ansicht kaum visualisierbare exponentielle Wachstum der Krankheit. Das Format der Gegenüberstellung suggeriert dabei eine Zeitlichkeit. Diese Zeitlichkeit, die symbolisch durch die tatsächliche Lücke zwischen den Bildern ausgedrückt wird, wird durch die Vergrößerung des Tumors angezeigt und als Verschlimmerung der Krankheit verständlich. Zugleich treibt 210
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die blaue Gesichtsfarbe die Zeitlichkeit voran. Die Größe des Tumors im zweiten Bild sowie die durch die Gegenüberstellung implizierte Botschaft, dass die Geschwulst sich noch beliebig ausdehnen kann, lassen den Tod des Mannes vorausahnen und setzen dieser Bildzusammenstellung gewissermaßen ein Ende. In diesem Kontext zeigt das zweite Bild einen „entgrenzten“ Körper, der kurz vor seiner finalen Erschöpfung steht. Im Sinne der Kranken-Physiognomik zeigen die Heidelberger Bilder eine semiotische Dopplung von (verfärbtem) Gesicht und Krankheit. Damit überlappen sich die Bedeutungen des Gesichts als Anzeiger einer verborgenen Krankheit und der Krankheit, die hier nach außen getreten ist und auf sich selbst verweist. Durch diese Dopplung wird die physiognomische Lesung redundant gemacht. Wenn Baumgärtners Bilder eine der Krankheit folgende Unvereinbarkeit von Innen und Außen zeigen, dann stellen die hier zu sehenden Patientenporträts gerade eine Vereinbarkeit dar. Damit erhält die Krankheit eine unmittelbare Sichtbarkeit, die nicht weiter gedeutet werden muss. Dabei fällt auf, dass gerade das Porträt diese Oberfläche treffend ausdrücken kann. Es reduziert die Krankheit auf ihre Oberflächlichkeit. Im Zuge dessen wird das Bild, das keine „Charaktertiefe“ mehr ausdrückt, zu einem Bild der Oberfläche. Es wird „selbstsprechend“ und bedarf keines zusätzlichen Textes. Die Schott-Bilder können auch insofern im Sinne der Kranken-Physio gnomik begriffen werden, als sie deren Bilderfolgen im Atlas fortführen. Die Serie verhält sich analog zum exponentiellen Wachstum des Tumors. Das Bild des Tumors wird in den Porträts nicht ausgeschöpft, sondern stellt lediglich eine Manifestation der Krankheit dar. Zugleich macht sich der Anspruch der Kranken-Physiognomik, die Darstellung einer überwältigenden pathologischen Fülle in komprimierter Form zu erfassen, bemerkbar. Die Krankheit wird gewissermaßen bildlich eingegrenzt.
5.3 Delamottes Tumorbilder (1841 – 1852) Während die Schott-Bilder vollständig ausgemalte Gesichter zeigen, richtet sich der Fokus in Delamottes Bildern zunehmend auf den Tumor. Delamotte, der an der Royal Academy studierte, wurde durch seine an William Turner (1775 – 1851) angelehnten Landschaften bekannt.50 Für das Londoner 50 http://www.tate.org.uk/art/artworks/delamotte-waterperry-oxfordshire-t01050 (letzter Zugriff: 28. Januar 2015). Delamottes Tumorbilder (1841 – 1852) |
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Abb. 25 William Alfred Delamotte: Tumor im Nacken eines Mädchens. Aquarell. 1841 – 51.
Krankenhaus St Bartholomew’s malte er zahlreiche Patientenporträts sowie Bilder von sezierten kranken Organen. Die Wellcome Library besitzt mehrere Werke des Malers. Nach den Angaben der Bibliothek entstanden die Werke in der Zeitspanne 1841 – 1852.51 Im Folgenden werden Aquarelle von Patientenbildnissen und von menschlichen Organen behandelt. 5.3.1 Patientenporträts
Delamottes Aquarell (Abb. 25) zeigt ein Mädchen, das an einem riesigen Kopftumor erkrankt ist. Die schlafende Patientin liegt im Bett, das durch die skizzenhaften Konturen einer Decke angedeutet wird. Links unten sieht man die Beschreibung des Falls, die nicht entziffert werden kann. Der Kopf des Mädchens ist zur linken Seite geneigt. Offenbar presst der Tumor den Kopf so zur Seite, dass nur diese Haltung möglich ist. Das Bild betont den Gegensatz zwischen der überdimensionierten Krankheit und dem Kopf. 51 Siehe http://wellcomeimages.org/ (letzter Zugriff: 28. Januar 2015).
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Der Tumor, der am Hinterkopf sitzt, scheint größer zu sein als der Kopf. Die Geschwulst ist farblich aquarelliert, das Gesicht wurde weiß belassen, wobei die Gesichtszüge des Mädchens konturenhaft angedeutet wurden. Die Pathologie besteht aus vielen sich übereinander lagernden Kompartimenten, die in unterschiedlichen Brauntönen dargestellt wurden. Die Aneinanderreihung von Gesicht und Krankheit verdeutlicht zum einen die immense Größe und den Facettenreichtum des Tumors, dessen Auswüchse, Einkerbungen, Verfärbungen sowie die Blässe und Ausdruckslosigkeit des Gesichts. Zum anderen betont zugleich der Vergleich das Fehlen der Gesichtsfarbe. Dieser Aspekt markiert, wie im obigen Bild, eine manifeste Tatsache, die das Bild hervorheben soll. In diesem Sinne suggeriert die Blässe den nahenden Tod des Mädchens, wobei die Geschwulst ein Platzen des Tumors nahezu vorwegnimmt. Das Bild verdeutlicht ein intensives Interesse des Künstlers an der Beschaffenheit, der Konsistenz und der Farbigkeit der Krankheit. Die Farben des Tumors variieren von Grauweiß über Dunkelbraun bis Schwarz. Die Kompartimente, die an der Oberfläche wie behaart scheinen, sind rund, zuweilen haben sie gerade Konturen. Ihre Form verweist auf die Konsistenz der Krankheit: ein festes Fleisch, das sich stellenweise zu einer Flüssigkeit auflöst und den Tumor zu einer Geschwulst modelliert. Ferner deutet das Bild durch die gezackte Linie Schmerz an, ohne dass sich der Ausdruck im Gesicht abzeichnet. Diesen Aspekt impliziert die rote Demarkationslinie zwischen Tumor und Nacken. Sie signalisiert eine Wunde, die durch die ständige Bewegung des Kopfes geöffnet wird und einen wiederkehrenden Schmerz erzeugt. In einer weiteren Aquarellzeichnung (Abb. 26) ist ein älterer Mann mit einer Augenklappe und einem großen fleischigen Tumor des Kiefers zu sehen. Ausgehend von der unteren Lippe dehnt sich die Schwellung zur linken Wange aus. Die Augenklappe, die das linke Auge bedecken soll, gewährt Einblick auf das schwarze Loch eines fehlenden Auges. Das Bild trägt rechts unten Delamottes Signatur sowie eine längere Beschreibung der Krankheit, die auch in diesem Fall nicht entziffert werden kann. Anders als die vorherigen Bilder ist die Büste des Mannes koloriert. Die Vollständigkeit der Zeichnung verweist auf den Anspruch des Malers, nicht nur den Tumor, sondern auch das fehlende Auges zu markieren und somit das gesamte Gesicht zum Vorschein kommen zu lassen. Der schwarze Bereich unter der Augenklappe suggeriert, dass der Mann womöglich bereits an einem Tumor erkrankt war, der entfernt werden musste. Damit würde der hier gezeigte Tumor eine Fortsetzung der Krankheit darstellen. Auf diese Delamottes Tumorbilder (1841 – 1852) |
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Abb. 26 William Alfred Delamotte: Mann mit einem Tumor des Kiefers. Aquarell. 1847.
Weise impliziert das Bild die Krankengeschichte des Mannes, die nur das vollständig kolorierte Porträt zeigen kann. Mit diesen einfachen malerischen Techniken, durch das differenzierte Ausmalen des Tumors einerseits und das Auslassen der Kolorierung andererseits, wird die Evidenz der Krankheit hergestellt. So konnte der Künstler mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln den Fokus des Bildes auf die Pathologie eingrenzen und den Blick des Betrachters auf die Krankheit lenken. Wie in den Schott-Bildern gibt das Gesicht Auskunft zur Position und Größe der Krankheit. Zugleich verweigert es die unmittelbare Darstellung des Schmerzes. Dieser wird lediglich durch ein Detail, eine Linie oder Schraffur, markiert. Auf diese Weise bleibt das Porträt – ein Genre, das Delamotte an der Royal Academy erlernte – „unberührt“. Der Ausdruck, der für Baumgärtners Theorie wesentlich ist und in einigen Bildern deutlich das Gesicht deformiert, wird von Delamotte gemieden. Diese Weigerung, eine Verstellung zu zeigen, scheint den malerischen Fokus auf die Krankheit zu begünstigen.
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Abb. 27 William Alfred Delamotte: Perikarditis des Herzens. Aquarellzeichnung. 1841 – 1851.
5.3.2 Objektive Bilder?
Während Delamottes Patientenporträts das Motiv der Unvollständigkeit zugunsten der Evidenz verinnerlicht haben, zeichnen sich seine Bilder von sezierten kranken Organen durch eine hohe Detailgenauigkeit in der malerischen Ausführung aus. Es sind mehrfarbige Aquarellzeichnungen eines von einem dicken Knoten befallenen Herzens und einer tumorösen Lunge. Die Bilder sind unten mit einer kurzen nicht entzifferbaren Fallbeschreibung versehen. Die Organe liegen auf einer weißen Unterlage und werfen einen Schatten. Das Herz (Abb. 27) wird aus einer Obersicht gezeigt, wobei das Licht von der linken Seite kommt. Der Betrachter befindet sich in einer Position, in der er sich über das Organ beugen und es aus der Nähe anblicken kann. Dieses öffnet sein äußeres Gewebe zu beiden Seiten und gewährt Einblick auf ein rosa Fleisch mit einer vorwiegend glatten Oberfläche. Der runde Körper zeigt auf der linken Seite eine hohe Dichte an Adern. Diese Seite ist grundsätzlich dunkler als der rosafarbene „Kernkörper“. Das anliegende äußere Gewebe ist an dieser Stelle verfärbt. Die Adern führen zu einem Delamottes Tumorbilder (1841 – 1852) |
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dunkelroten Knoten, der fernab des von der Epidermis eingegrenzten Bereichs liegt. Das Bild legt einen Vergleich zwischen dem rosig intakten und dem dunkleren, dicht vernetzten Fleisch nahe. Dabei signalisiert die dunkle Farbe den kranken Körper. In diesem Zusammenhang wird der Knoten als ein Fremdkörper verständlich. Das Fragment der Lunge (Taf. 5) ist in einer Frontalansicht dargestellt. Das Licht kommt ebenfalls von links. Das Organ ist in der Mitte aufgeschnitten. Während die äußere Schicht hellrosa ist, ist das Innere grau verfärbt. Die Farbe variiert von einem sehr hellen bis zu einem sehr dunklen Grau im rechten Teil des Organs. Die dunkle Farbgebung suggeriert, dass gerade dieser Bereich der am längsten und am schwersten erkrankte, womöglich die Todesursache, gewesen ist. Das Innere der Lunge ist wie eine Landschaft beschaffen; sie hat weite Flächen, die zu einem sich windenden „Tal“ führen, sowie Erhebungen im Vorder- und Hintergrund. Dabei scheint die Oberfläche wie von einer geriffelten „Flora“ überzogen zu sein. Der Fokus der Bilder liegt auf der farbigen Fleischhaftigkeit der Krankheit. In diesem Zusammenhang fungiert vor allem die Farbe als der primäre Indikator der Krankheit, der dunkelbraune Knoten des Herzens oder die dunkelgraue Stelle der Lunge. Form und Textur scheinen eine Nebenrolle zu spielen, sie treiben die krankhafte Erscheinung voran. Der Farbkontrast innerhalb des Organs ermöglicht es, die dunkle Farbe als die krankhafte zu deuten. Die pathologischen Eigenschaften werden ferner durch die hier gewählten Perspektiven hervorgehoben. Man könnte sagen, sie seien die „vielsagendsten“, weil sie die vielschichtigen Qualitäten des Objekts so in den Blick nehmen, dass möglichst viele Aspekte in einem Bild zum Vorschein kommen. Dabei betonen die Bilder nicht nur die Pathologie; auf der Folie des Organs zeigen sie vielmehr, wie und an welcher Stelle sich diese gebildet hatte und in welche Bereiche sie vorgedrungen war. Die Bilder präsentieren diese Aspekte vor dem Hintergrund einer Darstellung in doppelter Ansicht. Denn wir sehen sowohl das Gewebe, das das Organ umgibt, als auch das Innere, das sich zum Betrachter öffnet. Mit diesen Eigenschaften scheinen diese auf das Objekt fokussierten Bilder Gegenentwürfe zu den „subjektiven“ Patientenporträts zu sein. Aber sind sie auch „objektiv“? Nach Daston und Galison müssten sie als solche begriffen werden, denn sie entbehren der Darstellung eines Subjekts und sind ferner auf einen naturwissenschaftlichen Gegenstand fokussiert. Dennoch liegt in Delamottes Organbildern keine solche „Objektivität“ vor. Vielmehr kann man von dem durch Boehm formulierten „Anblick“ sprechen. Denn die
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Sache „schließt sich so auf“, dass sie sich zum Betrachter „hinordnet“.52 Die sich zu beiden Seiten öffnenden Körperfragmente implizieren das schauende Auge des Betrachters. Dieser soll so umfassend wie möglich über ihre Farben und Formen in Kenntnis gesetzt werden. Die Organizität des daliegenden Fleisches verweist ferner auf weitere, im Bild nicht unmittelbar sichtbare Subjekte und suggeriert so eine „Subjektivität“. Zum einen deutet das Organ auf den Menschen, dem es entnommen wurde. Der Schnitt der Lunge verweist auf den Schmerz empfindenden Ursprungskörper und auf den Arzt, der den Einschnitt durchgeführt hat. Das wabernde Fleisch der Lunge, das so und nicht anders aufklaffte, suggeriert zum anderen weiter die Geste des Arztes, der das Organ auf den Tisch legte. Da die Leiche des Patienten nicht abgebildet ist, erfährt der Betrachter nichts zur Größe oder zur exakten Position der Krankheit. Damit geschieht eine Eingrenzung des Betrachters. Das Bild vermittelte Informationen speziell für Anatomen, die an der inneren Beschaffenheit der Krankheit interessiert waren. Laut Baumgärtner könnten solche Bilder im Gedächtnis bleiben und das Krankheitsbild während der Operation wiedererkannt werden. Anders als Delamottes Patientenporträts, die mit ihrer Darstellung der Büste die Krankheit lokalisieren und einem laienhaften Betrachter eine Übertretung des „Normalen“ darlegen, kann der Laie im Fall der Organbilder nicht unmittelbar sagen, was genau das Pathologische ist. Da die Krankheit als ein farblicher Kontrast dargestellt ist, kann man lediglich vermuten, dass das „Dunkle“ der Farbe und das „Wuchernde“ der Form, nicht das „Glatte“ oder „Rosafarbene“ sie verdeutlicht. Es sind gerade Delamottes Organbilder, die Foucaults Begriff vom Körper als einem „stummen“ Gewebeaggregat aufscheinen lassen.53 Die Bilder stellen die Überreste eines fragmentierten Körpers dar. Zugleich wird dieser Körper nicht nur als eine Zusammenfügung von Geweben begriffen, er ist zudem ein Formen- und Farbengefüge. Dieses Konzept geht mit der Herausbildung einer bestimmten „klinischen Erfahrung“ einher, die sich als Folge der pathologischen Anatomie herausgeschält hatte. In der Einleitung der Geburt der Klinik schildert Foucault die „Machenschaften“ des klinischen Auges folgendermaßen: Das Auge wird zum Hüter und zur Quelle der Wahrheit; es hat die Macht, eine Wahrheit an den Tag kommen zu lassen, die es nur empfängt, sofern es ihr das 52 Boehm: Wie Bilder Sinn erzeugen, S. 100, 105. 53 Foucault: Die Geburt der Klinik, S. 141. Delamottes Tumorbilder (1841 – 1852) |
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Tageslicht geschenkt hat; indem es sich öffnet, eröffnet es die Wahrheit: diese Wendung markiert den Übergang der „Aufklärung“ von der Welt der klassischen Klarheit zum 19. Jahrhundert.54
In diesem Sinne geben die Organbilder den durch Foucault hervorgehobenen Blick des alles sehenden Auges wieder, das zur Wahrheit vordringen will. Sie zeigen die Entscheidungen und den Vollzug eines Klinikers, der die Operation durchführte und die Organe für den Betrachter zur Ansicht präsentierte. Indem sich die Organe zum Betrachter hin öffnen, zeigen sie die aufgedeckte „Wahrheit“, die zugleich dem Kliniker, der zuvor den Körper bearbeitete, gehört. In diesem Zusammenhang „lauert“ das Auge Abweichungen auf, die in den Farben, Formen und deren Variationen zu sehen sind.55 Damit scheinen die Organbilder einem bestimmten „Anblick“ verpflichtet zu sein und widersprechen umso mehr der von Daston und Galison statuierten „Objektivität“, die nicht interveniert. Das Bewusstsein des Klinkers bestimmt hier die Ansicht des Bildes, das seinen Blick verinnerlicht hat. In diesem Sinne können die Mittel der hier festgestellten Evidenz mit den Methoden des klinischen Auges, das „skalpellartig“ durch den Körper schneidet, zusammengedacht werden. Es wird eine Visualität hergestellt, die einem allwissenden Auge, das über eine bestimmte klinische Erfahrung verfügt, Informationen „zuspielt“. Es ist betont keine objektive Visualität, die eine Ästhetik der Sterilität der Farben und Formen sowie eine Geometrizität in der Ausrichtung des Objekts einfordert und alle am Vollzug dieser Visualität beteiligten Subjekte ausradieren will; die Visualität ist vielmehr einer konkreten „sinnlichen Gegenwart“ verpflichtet.56 Diese Gegenwart ist in den wabernden Geweben in Delamottes Bildern deutlich zu erkennen.
5.4 The Gentlefolk of Leeds (1818 – 1840) Die Serie der Krankenporträts mit dem Titel The Gentlefolk of Leeds besteht aus drei Ölgemälden und fünf großformatigen Aquarellen. Die Bilder stammen aus der englischen Stadt Leeds und entstanden in den Jahren 1818 – 1840. Die Werke werden heute in der Londoner Wellcome Library aufbewahrt, wobei zwei Gemälde im Eingang zur Bibliothek hängen. Die Serie zeigt 54 Ebd., S. 11. 55 Ebd., S. 103. 56 Ebd., S. 133.
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Bilder von Hautkrankheiten, tumorbedingten Verformungen des Gesichts sowie Wunden nach Brustkrebsexstirpationen, die näher untersucht werden. Anders als die vorherigen Bilder, die anonyme Kranke, das heißt potentielle Patienten abbilden, handelt es sich hier um postoperative Darstellungen, die die Dargestellten explizit als Patienten definieren. Ihre Namen und Wohnorte werden auf den Rückseiten der Werke oder unten im Bild aufgeführt. 5.4.1 Mrs Prince of Corborough Street, Leeds (1840)
Die Aquarellzeichnung zeigt Frau Prince aus Leeds (Taf. 6). Man sieht den nackten Oberkörper der Frau vor einem grün aquarellierten Hintergrund. Die Kleidung, ein um die Schultern geworfener gelber Schal und ein lilafarbenes Kleid, legt ein Areal der Brust frei, das sowohl die offene postoperative Wunde der linken Brust als auch einen Teil der intakten rechten Brust zeigt. Die Patientin berührt mit ihrer linken Hand den Saum des Kleides. Mit dieser Geste scheint sie den Stoff am Herabfallen zu hindern. Die Hand scheint dabei als ein Requisit zu fungieren; ein den Vorhang haltendes Stativ, das die Evidenz des Bildes begünstigt. Während der Torso frontal zum Betrachter ausgerichtet ist, wendet sich der in eine weiße Haube gehüllte Kopf vom Betrachter nach links ab. Die Frau schaut in die Ferne und scheint dabei den Blick des Betrachters zu meiden. Ihr Gesicht verrät keine Regung. Ausgehend vom Gesicht senkt sich der Blick des Betrachters zur Wunde. Der runde Einschnitt offenbart einen Graben zu einer dunkelroten und stellenweise blauen Vertiefung in der Brust. Die Wunde enthält weiße Klumpen und wird von einer herabhängenden Haut sowie einer rot-blauen Demarkationslinie am Körper umspielt. Wie in den oben besprochenen Bildern werden auch hier Schmerzen nicht durch einen gesichtsverzerrenden Ausdruck, sondern durch Details markiert; die verfärbte Umrundung verweist auf die Tatsache, dass eine Entzündung vorliegt und dass diese große Schmerzen verursachen muss. Mit dieser postoperativen Darstellung liegt dem Betrachter jedoch kein eindeutiges Bild vor. Wir können nicht mit Sicherheit sagen, ob es sich um das Bild eines Heilungsprozesses oder einer Komplikation handelt. Vielmehr scheint hier die Tatsache im Vordergrund zu stehen, dass die Frau die Operation überlebt hat. Diese Tatsache zieht eine wissenschaftliche Logik nach sich: Die Frau hat die Operation überlebt, weil der Eingriff so und nicht anders, nämlich durch einen runden Einschnitt und weitere chirurgische Maßnahmen, ausgeführt wurde. In diesem Zusammenhang statuiert das Porträtformat die Präsenz der Patientin, die den Eingriff überlebt hat. Ihr The Gentlefolk of Leeds (1818 – 1840) |
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vollkommen aufrechter Körper füllt das komplette Bild aus; der breite Torso reicht bis zu beiden Seiten, während der Kopf nahezu den oberen Bildrand erreicht. Wie die vorherigen Kapitel gezeigt haben, war es im 19. Jahrhundert nicht selbstverständlich, den Operationsaal lebendig zu verlassen. Darauf verweist ein Detail. Die herabhängende Haut um die Wunde signalisiert das Ausmaß der Brutalität und die Schnelligkeit, mit der die Operation mangels Anästhesie durchgeführt werden musste.57 Das Bild scheint die Wirksamkeit des Eingriffs vermittels der Präsenz der Person zu statuieren. Der Medizinhistoriker Douglas James unterstreicht, dass die medizinische Fakultät in Leeds dafür bekannt war, Maler zu beauftragen, um bei der Herstellung von Präparaten zu assistieren und Illustrationen zu Vorlesungen anzufertigen.58 James spricht sogar von einer „Tradition“ der medizinischen Porträtmalerei, die an der medizinischen Fakultät in Leeds lange Bestand hatte und im 19. Jahrhundert prosperierte.59 Das handliche Format und die Faltung in der Mitte des Blattes verweisen auf die Tatsache, dass die Bilder möglicherweise zu Vorlesungen mitgenommen wurden. In diesem Zusammenhang wird auch James’ Begriff der „Stellvertretung“ verständlich. Wenn die Blätter zu Unterrichtszwecken genutzt wurden, dann konnten sie tatsächlich als Stellvertreter der Patienten fungieren. Anhand eines Bildes wurde erklärt, wie die Operation durchgeführt wurde. Eine ähnliche Funktion war im Kontext der Vorträge Parkers zu sehen. Dabei ist es vorstellbar, dass die Aquarelle nicht nur vertikal einem Publikum präsentiert, sondern auch horizontal, eine wirkliche Operation nachspielend, hingelegt wurden. Allerdings unterstreicht James’ Begriff der Stellvertretung nicht zwangsläufig eine im klassischen Porträt enthaltene Individualität der Person, auf die James mit Rückbezug auf Aristoteles anspielt. Das Bild der Person und deren Präsenz werden stattdessen instrumentalisiert, um einen medizinischen Hergang zu verdeutlichen.60 Damit zeigt das Bild den Entwurf einer neuen Identität des Dargestellten, die Identität des Patienten. 57 Gawande schildert, dass die Operationen binnen weniger Minuten durchgeführt werden mussten. In dieser kurzen Zeitspanne konnte es passieren, dass nicht nur kranke, sondern auch gesunde Gliedmaßen des Patienten entfernt wurden. Wenn die Patienten die Operation überlebten, starben sie häufig an den postoperativen Komplikationen wegen der fehlenden Hygiene. Siehe Gawande, S. 366. 58 Siehe James, S. 222 sowie S. T. Anning und W. K. J. Wallis: A History of the Leeds School of Medicine: One and a Half Centuries 1831 – 1981. Leeds. 1982, S. 11, 21. 59 James, S. 222. 60 Ebd., S. 191.
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Der Duden definiert den Patienten als eine von einem Arzt behandelte oder betreute Person.61 Dabei ist die Perspektive des Arztes ausschlaggebend. Mit der Darstellung einer exstirpierten Brust manifestiert sich im Bild der Frau Prince ein „medikalisierter“ Körper, der die Methoden der modernen Technik visualisiert. Diese wird wiederum von einem operierenden Individuum bedient. Zugleich sehen wir das Porträt der Frau. In Baumgärtners Abbildungen eruiert der Betrachter, dass die Bilder Patienten (eines Arztes) darstellen, da ihn ein dazugehöriger Text darüber in Kenntnis setzt. In den für sich stehenden Porträts, die eines solchen Textes entbehren, wird die postoperative Ansicht zu einem wesentlichen Indiz der bildlichen Konstituierung des Patienten. Die Darstellung der Wunde forciert im Bildnis der Frau Prince die Evidenz des Eingriffs und macht damit die Existenz eines behandelnden Mediziners zwingend. Im Rahmen dieser Konstituierung benutzt der Künstler eine Motivik, die uns aus Delamottes Organbildern und den Schott-Bildern vertraut ist – das Motiv des „Sich-Öffnens“ zu einem Betrachter, der über ein wissendes Auge verfügt. Das Gewand der Frau legt die Wunde frei. Dabei eröffnet sich dem Beschauer die Sicht auf die Spuren des Organs, das zuvor amputiert wurde. Diese Sicht wird mit einer Subjektivität, wie sie in den Schott-Bildern zu sehen war und als ambivalent bezeichnet wurde, vermischt. Das Bild zeigt einen fragmentierten Körper, der gleichzeitig einer Person zugehörig ist. In diesem Zusammenhang ist das Gesicht der Frau wesentlich. Denn die Ausdruckslosigkeit scheint die unvoreingenommene Sicht auf die Wunde zu gewährleisten. Die intakte Brust wird zum Vergleich mit der Wunde herangezogen. Da die linke Brust entstellt ist, bietet die rechte Brust eine Fläche für das imaginäre Skalpell des Studenten, der die Operation erneut ausführt. In diesem Sinne wird die Erotik, die mit der Darstellung der intakten Brust aufscheint, durch das Kleid, das die Brust seitlich umspielt, unterbunden. Die Präsenz der Frau und ihr Körper werden stets im Rückbezug auf die Krankheit gedacht. Wie in den Schott-Bildern gibt dieser Patientenkörper Auskunft zu der einstigen Position des Tumors und den Einschnitten und gewährt Einblick ins Innere der Wunde. Dabei wird der fragmentierte Körper ist in seiner Gesamtheit dargestellt. 61 „(…) von einem Arzt, einer Ärztin oder einem Angehörigen anderer Heilberufe behandelte oder betreute Person (aus der Sicht dessen, der sie ärztlich behandelt oder betreut oder dessen, der diese Perspektive einnimmt)“. Siehe https://www.duden.de/rechtschreibung/Patient (letzter Zugriff: 3. Februar 2015). The Gentlefolk of Leeds (1818 – 1840) |
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Diese Aspekte verweisen auf den Ort, an dem die Operation stattgefunden hat. Denn es ist das Krankenhaus, das an der Formierung der Identität des Patienten maßgeblich beteiligt war. Seit der Wende ins 19. Jahrhundert änderte sich die Sicht auf das Subjekt in der Klinik. 1788 war der Bericht des Chirurgen Jacques Tenon zu den Zuständen der Krankenhäuser erschienen. Die Mémoires sur les hôpitaux de Paris waren der Auslöser für eine Neustrukturierung des Spitalwesens.62 Tenon betonte die Notwendigkeit des engen Kontakts zwischen dem Arzt und dem Patienten, im Hinblick auf die Therapie wie auf die medizinische Ausbildung. Zudem arbeitete er die Methode der unmittelbaren Beobachtung heraus, die Untersuchung von lebenden und toten Körpern und damit die Pathologie – wesentliche Charakterzüge der modernen Klinik.63 Vor diesem Hintergrund zeigt das Bildnis der Frau Prince die unmittelbare Begegnung zwischen Arzt und Patient und impliziert ferner den Blick des Anatomen. Gleichzeitig betont das Bild den Dissens zwischen Arzt und Patient, das heißt die partielle Objektivierung der Person, die die Fokussierung auf die Wunde bedingt und dabei eine Erniedrigung des Subjekts miteinbezieht. Im Bild wird der Körper trotz der Präsenz der Person zu Präsentationszwecken genutzt. In diesem Zusammenhang wird der zunächst paradox anmutende Begriff einer „subjektiven Objektivität“ für das Bild naheliegend. Er erschließt sich aus dem Porträt, das grundsätzlich einen Ausdruck verweigert, um einen universellen und unverstellbaren Charakter darzustellen. Daher kann nicht von einer genuin medizinischen „Objektivität“ die Rede sein, die das Porträt begünstigen würde; man muss von einer „Objektivität“ sprechen, die mit dem Porträtformat, das ein Subjekt zeigt, koinzidiert. Der Begriff einer „subjektiven Objektivität“ zeigt sich in einem weiteren Aspekt. Das Bild verdeutlicht keinen Charakter. Es ist vielmehr auf die Oberfläche des flächig dargestellten Patientenkörpers und die Darstellung der Wunde beschränkt. Ein hinter der Oberfläche befindlicher Charakter der Krankheit und der generelle Charakter des Menschen sind mit der postoperativen Darstellung eliminiert worden.
62 Williams, S. 80. 63 Ebd.
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5.4.2 Mrs Broadbent und das Flipbook (1841)
Das Aquarell zeigt die ebenfalls aus Leeds stammende Frau Broadbent nach einer Brustkrebsexstirpation (Taf. 7).64 Sie trägt lediglich eine weiße Haube, die von einem blauen Band festgehalten wird. Der vor einem olivfarbenen aquarellierten Hintergrund platzierte Torso ist nackt und erscheint flächig und klotzig. Die Frau schaut nach links und verrät keine Regung. Ihre Oberarme werden durch einen vertikalen Pinselduktus angedeutet und nicht weiter ausdifferenziert. Im unteren Bereich löst sich die Kolorierung so auf, dass der Eindruck entsteht, dass das Bild unfertig sei. Während die intakte linke Brust als ein praller Ball gezeigt ist, ist die rechte Brust kaum vorhanden. Sie ist in der Mitte bläulich verfärbt, um diesen Bereich gruppiert sich oben ein rötlich-gelbes Areal. Offenbar ist es der in einem finalen Heilungsstadium abgebildete Körper ohne Brust. Diesen Eindruck bestätigt eine tiefe Narbe unterhalb des Arms, vermutlich die Spur eines größeren Einschnitts. Die Frage, die das Porträt der Frau Prince offenhält, nämlich, ob es sich womöglich um das Bild des Heilungsprozesses handelt, beantwortet dieses Patientenbildnis. Denn der Produzent dieses Porträts hat eine Möglichkeit gefunden, den Heilungsprozess vermittels eines Flipbooks darzustellen. Das Flipbook, das dem Bild in der Wellcome Collection beiliegt, entspricht der Größe der Wunde und wird auf die geheilte Stelle im Aquarell gelegt. Dabei zeigen die Blätter auf der Vorderseite die Stadien der Heilung im Inneren der Brust; das Datum sowie eine kurze Beschreibung ist auf der Rückseite zu sehen. Das Flipbook beginnt mit einem späten Heilungsstadium, das letzte Blatt stellt den Zustand nach der Operation dar. Das erste Blatt zeigt ein Aggregat, bestehend aus weiß-roten Klumpen. Auf der Rückseite sind die Nummer 9 sowie das Datum, der 23. Januar 1841, zu sehen. In einer Federschrift ist zu lesen, dass sich die Wunde zunehmend zusammenzieht („the sore continues to contract“). Das Porträt scheint diese Darstellung weiterzuführen und wird als finales Stadium der Heilung verständlich. Da jedes der Blätter auf der Vorder- wie auf der Rückseite betrachtet werden kann, wäre die deutsche Übersetzung „Daumenkino“ des englischen „flipbook“ irreführend. Denn der Prozess der Heilung sollte nicht in einem bewegten visuellen Effekt deutlich werden; vielmehr regte das auf der Vorderseite bemalte und auf der Rückseite beschriftete Flipbook dazu an, die Stadien der 64 Auf der Rückseite des Aquarells ist zu lesen: „Mrs Broadbent of Portland of Leeds. Cancer of the Breast“. The Gentlefolk of Leeds (1818 – 1840) |
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Heilung in Ruhe zu begutachten und den Zustand auf der Rückseite – im Sinne eines tatsächlichen Buches – nachzulesen. Doch das Flipbook war mehr als ein Buch. Wenn das Porträt eine Stellvertreterfunktion für den Patienten beanspruchte, dann war das Flipbook das faktische Fleisch der Wunde, das der Arzt in den Händen halten konnte. Zugleich war er imstande, durch dessen Stadien zu „blättern“. In diesem Zusammenhang bedient sich das Porträt zusammen mit dem Flipbook einer rhetorischen Überzeugungsstrategie. Denn dadurch, dass der Student das Fleisch „hält“, scheint er gewissermaßen in die Rolle des behandelnden Mediziners zu schlüpfen und selbst an der Heilung beteiligt zu sein. Dabei wird die schrumpfende Wunde durch die zunehmend kleiner werdenden Blätter und eine sich nach innen verjüngende Form angezeigt. In diesem Zusammenhang fällt auf, dass die Farbe des Fleisches, die mit der Heilung heller wird, längst nicht mehr die Rolle des Signifikats im Sinne der Kranken-Physiognomik hat; vielmehr verweist sie selbstreferentiell auf sich selbst und auf die Materialität des abheilenden Fleisches. Das Flipbook unterstreicht die offensichtliche Wirksamkeit der chirurgischen Methode, insbesondere die daraus resultierende Heilung. Zudem scheint das Büchlein die Wirkung des „caustic“ zu betonen. Es handelt sich um eine ätzende Flüssigkeit, die dem Patienten verabreicht wird, um die Wunde auszutrocknen.65 Diesen Aspekt beschreiben die Seiten drei und vier. Dabei scheint das „caustic“ stellenweise der Heilung entgegenzuwirken. Die Rückseite des vierten Blattes schildert einen Zustand der Wunde, der sich nach der Verabreichung der ätzenden Medizin verschlimmerte. Die Wunde wurde an den Seiten zwar heller, doch im Inneren verfärbte sie sich dunkel.66 Das fünfte Blatt zeigt hingegen ein sehr helles Fleisch, wobei uns die Rückseite darüber in Kenntnis setzt, dass das „caustic“ entfernt wurde. Mit dem Flipbook gelingt der Versuch, eine physische Veränderung bildlich einzufangen. Ein ähnlicher Ansatz war bereits in den Schott-Bildern zu sehen. Doch die Gegenüberstellung der Krankheitsstadien konnte das Wachstum des Tumors lediglich suggerieren. Das Bild der Heilung wird im Flipbook prozessual aufgespalten und kommentiert. Der Betrachter kann jeden einzelnen Schritt der Heilung verfolgen, ohne dass ein unterrichten 65 Häufig wurde zu diesem Zweck Silbernitrat oder der wegen seines Gestanks so genannte „devil’s dung“ („Teufelsdreck“), ein Extrakt aus der Asant-Pflanze, verwendet. Siehe Greene, Jones, Podolsky, S. 1077 – 1082. 66 Siehe die Rückseite des vierten Blattes: „Outside become darker, fresh caustic applied within the circle, the inside larger as before.“
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der Mediziner die Schritte näher beschreiben müsste. Das Porträt und das Flipbook machen den unterrichtenden Arzt redundant und können so für das selbstständige Studium, in Abwesenheit des Patienten und des Lehrers, verwendet werden. Das Flipbook ist ferner das Resultat einer aufwendigen Dokumentation. Die Patienten mussten wohl zur Abbildung in gewissen Abständen im Krankenhaus erscheinen oder unterdessen interniert bleiben. Dabei ist es naheliegend, dass der Künstler eng mit dem Arzt zusammengearbeitet haben muss. Auseinanderfaltbare Darstellungen der menschlichen Anatomie, die eine interaktive Betrachtung voraussetzten, sind in der Geschichte der medizinischen Abbildung nicht selten. Im frühen 18. Jahrhundert bedienten sich anatomische Atlanten dieses Formats, so die Illustrationen aus Johann Remmelins The Anatomy of the Bodies of Man and Woman (1702). Eine daraus entnommene Illustration zeigt den männlichen Körper, dessen Organe, die auf aufklappbaren Blättern dargestellt sind, geöffnet werden können. Auf diese Weise gewährt der Atlas die Sicht auf das dahinter befindliche Organ. Der Betrachter erhält die Möglichkeit, sich gewissermaßen ins Körperinnere vorzutasten. Womöglich waren solche Illustrationen dem zuständigen Arzt in Leeds bekannt. Und doch scheint das Flipbook einzigartig zu sein. Konträr zu der statischen Ansicht des auseinanderfaltbaren Körpers im Atlas ist das Flipbook auf eine Stelle des Körpers fokussiert und verbildlicht in diesem Rahmen eine Veränderung. Zudem ist der anatomische Homunkulus keinem bestimmten Menschen angehörig. Auch wenn der malerisch kaum ausdifferenzierte Torso von Frau Broadbent wie eine Staffage für das Büchlein wirken mag, wurde die Identität der Patientin bewahrt. Ihr Gesicht, die rosigen Wangen, der schmale Mund, die längliche Nase sowie die blauen Augen wurden mit großer Detailgenauigkeit dargestellt. Damit statuieren sie die ambivalente Identität der Dargestellten als Patientin, zwischen medikalisiertem Körper und Subjekt.
5.5 Lam Quas Bilder im Kontext der Kranken-Physiognomik und europäischer Krankenporträts Der Vergleich mit den oben aufgeführten Beispielen zeigt etliche Überschneidungen und Unterschiede zu Lam Quas Patientenbildnissen im Hinblick auf die Motive, Funktionen und ihre Ästhetik. Zugleich können offene Fragen, wie die nach den vermeintlich fehlenden postoperativen Darstellungen in Lam Quas Serien, geklärt werden. Autoren, die sich bisher zu Im Kontext der Kranken-Physiognomik und europäischer Krankenporträts |
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Lam Quas Bildern geäußert haben, haben festgestellt, dass postoperative Bilder im Sinne des sogenannten Vorher-nachher-Formats „fehlen“ würden.67 Dabei beziehen sich die Forscher auf die beiden Bilder des Patienten Po Ashing (Abb. 15 und Abb. 16), die ihn vor seiner Armamputation in dem einen Bild und nach der Behandlung in dem anderen Bild darstellen.68 Es ist erstaunlich, dass allein diese beiden Gemälde genügen, um das Format des Patientenporträts, das die Serie sonst dominiert, in Frage zu stellen. Entgegen dieser von der Forschungsliteratur vertretenen Meinung und mit Verweis auf die obigen Beispiele kann nun argumentiert werden, dass die Gemälde explizit auf die Motivik der Kranken-Physiognomik verweisen und einen Blick unabdingbar machen, der den Körper im Hinblick auf die Krankheit inspiziert und gleichzeitig den universellen Charakter des Menschen extrahiert. Grundsätzlich verweist das in der Forschung geäußerte Verlangen nach „Nachher-Bildern“ auf unseren heutigen Blick, der die Evidenz des Vorher- nachher-Formats, das in Werbebildern der Kosmetik- und Pharmaindustrie omnipräsent ist, verinnerlicht hat. Im 19. Jahrhundert wurde diese Motivik nur gezielt eingesetzt. Während für sich stehende Bilder nach dem Eingriff, wie die von Frau Prince und Frau Broadbent, vereinzelt zu finden sind, gehörten Werke, die die Sicht vor dem operativen Eingriff und die Sicht danach in einem Bild oder in der Form eines Diptychons darstellen, zu den wenigen Ausnahmen. Als wiederkehrendes Motiv schälte sich das Vorher- 67 Siehe beispielsweise Finke, S. 335, Rachman, S. 154. 68 Mehr noch, Heinrich schlussfolgert, dass die zahlreichen Bilder des Patienten vor der Operation aus der Sicht des Diptychons von Po Ashing allesamt als „Vorher-Bilder“ („befores“) bezeichnet werden müssen. Die Autorin behauptet ferner, dass das Vorher-nachher-Format, das in der medizinischen Fotografie im China des späten 19. Jahrhunderts vermehrt auftaucht, insbesondere auf die Bilder von Po Ashing rekurriert. Dabei lässt sie außer Acht, dass die Motivik eine weitaus kompliziertere Entstehungsgeschichte aufweisen könnte. Diese hängt unmittelbar mit der Geschichte der Fotografie zusammen. Die Fotos aus dem Report of the Medical Missionary Society in China, wohlgemerkt einem amerikanischen Blatt, die die Autorin im letzten Kapitel anspricht, entstanden in den 1890er Jahren, zu einer Zeit, als die medizinische Fotografie im Westen prosperierte, wie die Atlanten von A. Hardy und A. de Montméja, Clinique photographique des maladies de la peau (Paris. 1882), oder George Henry Fox’ Photographic Illustrations of Skin Diseases (1879 – 1880) beweisen. Dabei orientieren sich die von Heinrich aufgeführten Stiche gerade an westlichen fotografischen Vorbildern, die zu dieser Zeit in Umlauf waren. Siehe Heinrich, S. 46, 63, 96 – 98.
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Abb. 28 Die Patientin Clara Jacobi mit und ohne Gesichtstumor. Kupferstich. 1689.
nachher-Format erst in der Fotografie des späten 19. Jahrhunderts heraus.69 Dabei handelte es sich vorwiegend um Bilder von Heilungsprozessen, die eine drastische körperliche Veränderung zeigen. Im Diptychon stellen sie den Zustand vor und nach der Behandlung dar. Im Archiv der National Library of Medicine und der Wellcome Library befinden sich Diptycha von Anorexiekranken, die vor der Behandlung abgemagert und nach der Behandlung deutlich beleibter gezeigt sind. Im 20. Jahrhundert dominierten Bilder von Diabeteskranken mit einer ähnlichen Motivik. Die Patienten sind vor der Insulininjektion in abgemagertem Zustand und nach der Injektion in normalem Zustand abgebildet. Auf diese Weise suggerierten die Bilder die Veränderung, die die Behandlung bewirkt hatte. Dass das Vorher-nachher-Format noch weiter ins 17. Jahrhundert zurückreicht und auch zu dieser Zeit eine Seltenheit war, beweist ein einzigartiger niederländischer Kupferstich aus dem 17. Jahrhundert, heute im Archiv der National Library of Medicine. Das Bildnis der an einem Gesichtstumor erkrankten Patientin Clara Jacobi (Abb. 28) vereint zwei Perspektiven. Es zeigt links die Kranke im Profil samt Tumor und rechts die Patientin in der exakt gleichen Position und Kleidung ohne die Krankheit. Das entfernte kranke Fleisch, das in der Mitte einen tiefen Einschnitt hat, liegt zwischen 69 Siehe http://ihm.nlm.nih.gov/luna/servlet/view/all und https://wellcomecollection.org/works?wellcomeImagesUrl=/ (letzter Zugriff: 2. Februar 2015). Im Kontext der Kranken-Physiognomik und europäischer Krankenporträts |
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den Figuren auf einem Holztisch und verweist auf die Tatsache, dass die Operation stattgefunden hat. Die Darstellung des eigentlichen Eingriffs ist nicht zu sehen. Vielmehr erhält der Betrachter einen Blick auf die nahezu vollständige Rekonvaleszenz der Patientin. Frau Jacobi hat ein makelloses Gesicht, nur das fehlende Ohrläppchen suggeriert die ursprüngliche Position des Tumors. Es ist zu vermuten, dass solche Bilder deswegen selten waren, weil die Wahrscheinlichkeit, einen solchen Eingriff zu überleben, sehr klein war.70 Grundsätzlich stieg mit der pathologischen Anatomie des 19. Jahrhunderts zunehmend das Interesse, das operative Prozedere, die Utensilien und das Resultat der Operation darzustellen. Damit wurde der Patient, insbesondere dessen Antlitz und die Lesung des Charakters, aus dem Blick genommen. Abbildungen in pathologischen Atlanten, wie sie beispielsweise in Matthew Baillies Series of Engravings Accompanied with Explanations which Are Intended to Illustrate the Morbid Anatomy of the Most Important Parts of the Human Body (1812) zu sehen sind, stellen sezierte kranke Organe dar.71 Dabei widmet sich Baillies Werk in erster Linie der Darstellung der Krankheit im Inneren des Körpers und versteht diesen als chirurgisches Material. Was die Funktionen betrifft, beanspruchten für sich stehende Patientenporträts grundsätzlich einen Präsentationskontext. Lam Quas Bilder hingen im Krankenhaus in Kanton und waren für ein dortiges anatomisches Museum und für andere anatomische Museen im Westen wie das Gordon Museum in London bestimmt. Doch anders als die oben besprochenen Patientenporträts wurden sie vielfältig genutzt. Die europäischen Patientenporträts beschränkten sich auf einen klinischen Gebrauch im Rahmen des Studentenunterrichts oder der Ausstellung im Museum. Lam Quas Bilder operierten hingegen in einem kolonialen und missionarischen Kontext; sie 70 1649 spricht der französische Chirurg Ambroise Paré davon, dass der Krebs nahezu unheilbar sei. Es handele sich um eine bösartige Krankheit, wie Lepra, die sich nur dann einstelle, wenn sie sich zu der Stelle, die sie „besitzen“ will, „vorgefressen“ habe. Der „harte“ Krebs könne nur operativ entfernt werden. Überlebenschancen nennt Paré keine. Im Zusammenhang des 19. Jahrhunderts betont der Medizinhistoriker Atul Gawande, dass das Eindringen in den Körper in den meisten Fällen tödlich verlief. Siehe Paré, S. 219 und Gawande, S. 366. 71 Die Bilder entstanden nach Präparaten aus dem Londoner Museum des Dr. Hunter. Matthew Baillie: Series of Engravings Accompanied with Explanations which Are Intended to Illustrate the Morbid Anatomy of the Most Important Parts of the Human Body; Divided into Ten Faciculi. London. 1812, S. 6.
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kommunizierten die Wirksamkeit der westlichen Medizin und sollten dazu verhelfen, den christlichen Glauben in Kanton zu installieren. Im Westen illustrierten sie Parkers Vorträge, die an ein Laien- wie an ein Fachpublikum adressiert waren. In diesem Zusammenhang entfaltete sich ihre medizinische Bedeutung. Denn die Bilder stellten überdimensionierte Krankheitserscheinungen dar, die vermittels der noch hoch riskanten und schmerzvollen Methode der Chirurgie entfernt wurden.72 In diesem Rahmen waren die Gemälde an die Stellvertretungsfunktion der europäischen Patientenporträts angelehnt. Parker konnte anhand der Bilder gewissermaßen unmittelbar am Patienten darlegen, wie groß die Krankheiten waren, auf welche Weise er die Exstirpation vorgenommen und wie lange sie gedauert hatte. Während die Kranken-Physiognomik nahezu ausschließlich auf die Lesung der Krankheit fokussiert war, sprachen Lam Quas Bilder einen Blick an, der auch einen nationalen und einen persönlichen Charakter implizierte. Ein grundsätzlicher Charakterzug der Chinesen schien für Parker die Eigenschaft zu sein, Schmerzen nicht zum Vorschein kommen zu lassen. Analog dazu wird der Ausdruck des Schmerzes in Lam Quas Bildern, anders als in Baumgärtners Atlas, vollständig ausgeklammert. Das Fehlen eines schmerzvollen Ausdrucks angesichts der überdimensionierten Geschwulst konstituiert eine innere Qualität und koinzidiert mit der Haupteigenschaft des Porträts, der Person einen neutralen Ausdruck zu verleihen. In diesem Sinne impliziert die aufrechte Büste des Tumorkranken im Porträt, dass die Chinesen trotz ihrer überdimensionierten Pathologien zur Stärke fähig waren. Ein weiterer gemeinsamer Aspekt ist das Format der Serie. Anders als Baumgärtners Bilderserie, die den Anspruch erhebt, die Abbildungen der Krankheit im Atlas möglichst komprimiert darzustellen, kann Lam Quas Serie beliebig erweitert werden. Baumgärtners Bilder zeigen stets eine Ausformung einer partikulären Krankheit, die stellvertretend für eine ideelle Krankheit steht. Bei Lam Qua können dagegen die Variationen der gleichen Krankheit beobachtet werden. So versinnbildlicht das Format der Serie das exorbitante Wachstum des Tumors, der fortwährend abgeschnitten werden muss. Lam Quas Gemälde widersprechen zunächst der Grundannahme der (Kranken-)Physiognomik, die eine Lesung des Inneren anhand des Außen herleitete. Denn sie zeigen die sichtbarste aller Krankheiten. In den Bildern wirken häufig das Gesicht, der primäre Indikator einer pathologischen Veränderung, und der Tumor wie aneinandergepresst. Damit werden die 72 Siehe Gawande. Im Kontext der Kranken-Physiognomik und europäischer Krankenporträts |
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Bedeutungen des Gesichts als Verweis auf eine im Inneren des Körpers angesiedelte Krankheit und die Krankheit, die an die Oberfläche des Körpers vorgedrungen und neben dem Gesicht zu sehen ist, gedoppelt und außer Kraft gesetzt. Der Tumor und die von Baumgärtner hervorgehobene „erdfahle“ Farbe des Krebses werden nebeneinander gesehen. Zugleich überlagern sich diese Aspekte mit der dunkleren Karnation der Chinesen, wie sie einige Gemälde zeigen. Der Physiognom konnte schlussfolgern, dass der Dargestellte zweifach erkrankt war: aufgrund seiner Krankheit und aufgrund der Zugehörigkeit zur „asiatischen Rasse“. Doch der im Bild zu sehende Tumor relativierte die physiognomische Lesung, die auf die Unterscheidung in Signifikat und Signifikant angewiesen war und die von Parkers Berichten vorangetrieben wurde. Die Bilder zeigen eine Übertretung des normalen Konturs des übrigen Körpers. Doch exakte Angaben, wie sie für die Physiognomik des 18. Jahrhunderts wesentlich waren, das heißt gerade der messbare Übertritt des Konturs, werden aufgrund der generellen Exorbitanz der Krankheit belanglos. Physiognomisch gesehen ist der Tumor ein extrem sichtbares und doch bedeutungsarmes Phänomen. In diesem Zusammenhang produzierten die Bilder eine Ästhetik, die durch die Darstellung des Porträts mit der Physiognomik korrespondierte und gleichzeitig eine physiognomische sprachgebundene Lesung vergessen ließ.
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6 Wider die Physiognomik
Dieses Kapitel untersucht die Ästhetik der Patientenporträts jenseits ihrer physiognomischen Lesung, zunächst im Sinne des „pathologisch Erhabenen“ und des Monströsen, wobei eine seltene Rezeption der Gemälde aus dem Jahr 1847 miteinbezogen wird. Zuletzt wird diese Ästhetik im Sinne des Abjekten nach der Literaturtheoretikerin Julia Kristeva gedeutet. In diesem Zusammenhang wird die Annahme leitend sein, dass der physiognomische Blick angesichts der überdimensionierten Geschwulst kollabierte und den Betrachter sprachlos machte. Die Physiognomie der Kranken überschritt die europäischen Schönheitswerte, der Blick normierte die Tumorpatienten zu „Monstern“. Das Phänomen des Monsters wird hier entgegen der geläufigen Lesung als singuläre Erscheinung, die im ästhetischen Sinne in der Forschungsliteratur nicht ausdifferenziert wurde, gerade als eine ästhetische Kategorie begriffen und zum ersten Mal mit der Physiognomik verschränkt.1 Im Monster, dessen Etymologie auf das lateinische Verb monere für „mahnen“ zurückgeht und auf ein visuelles Phänomen verweist, kollabierte die Sprache und damit die Wirkungsweise der Physiognomik.2 Das Monster zeigte, dass seine Gestalt überdimensioniert war, sein Überschuss wurde aber nicht benannt und war daher unter Zuhilfenahme von physiognomischen Vorlagen weder interpretierbar noch ausdrückbar. So generierte das Monströse eine Ästhetik des Nicht-sprechen-Könnens. Dieser Aspekt war im Zusammen
1 Vgl. z. B. Birgit Stammberger: Monster und Freaks. Eine Wissensgeschichte außergewöhnlicher Körper im 19. Jahrhundert. Bielefeld. 2011, S. 13. 2 Seit dem 16. Jahrhundert wird das „Monstrum“ im Deutschen als Ungetüm, Ungeheuer und Missbildung verstanden. Der Begriff geht auf das lateinische monstrum zurück und meint Mahnzeichen, „Weisung der Götter durch ein widernatürliches Ereignis“. Der Ausdruck entstammt der römischen religiösen Terminologie und ist abgeleitet vom lateinischen monere, „an etwas denken lassen, erinnern oder mahnen“. Seit dem 18. Jahrhundert steht die deutsche Bedeutung unter dem Einfluss des englischen monster, das ebenfalls auf die lateinische Vokabel monstrum zurückgeht. Dabei wurde das englische monster in der Romantik häufig mit dem Grotesken konnotiert. Im 19. Jahrhundert wurde das Monstrum verstärkt als riesig und „von ungeheuren Ausmaßen“ verstanden. Siehe Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, http://www. dwds.de/?qu=Monster, und Oxford English Dictionary, http://www.oed.com (letzter Zugriff: 12. Februar 2015). Wider die Physiognomik |
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hang des „Erhabenen“ der Romantik des 18. Jahrhunderts zentral und zeigt sich in der postmodernen Idee des Abjekten.
6.1 Das „pathologisch Erhabene“ In der Countway Library der Harvard University ist ein Dokument erhalten, das die Rezeption der Patientenbildnisse ausführlich schildert. Der von J. B. S. Jackson, dem Kurator des Museums der Harvard University, im Jahr 1845 verfasste Artikel erschien im Katalog der Boston Society for Medical Improvement (1847) und in The Boston Medical and Surgical Journal (1845) anlässlich der Ausstellung der Patientengemälde in Boston.3 Dem Artikel zufolge hat Dr. Robert Hooper am 14. April 1845 28 Ölgemälde im dortigen anatomischen Museum präsentiert.4 Hooper war einer der Vorsitzenden im Komitee der Bostoner Medical Missionary Society und gehörte zu den Spendengebern Parkers.5 Nach Jackson handelt es sich um Bilder, die verschiedene Tumore zeigen. Die Patienten sind nicht namentlich genannt. Jackson erwähnt lediglich, dass sie aus der Obhut von Peter Parker aus dem Krankenhaus in Kanton stammen.6 Heute befinden sich nur die Ölgemälde der Patienten Lew Akin (Abb. 29) und Kwan Nanking in der Countway Library.
3 Jacksons Artikel bezieht sich thematisch in hohem Maße auf einen vorhergehenden, denn im Mai 1845 veröffentlichten Artikel mit dem Titel „Illustrations of Tumors Among the Chinese“, der ohne Verfasserangabe abgedruckt wurde. Allerdings wird ein „Dr. Holmes“ als Autor des Journal-Artikels genannt. Dabei könnte es sich um Oliver Wendell Holmes (1809 – 1894) handeln, einen Arzt, der auch Schriftsteller gewesen ist. Aufgrund der unklaren Nennung des Autors im Journal wird im Folgenden der Kurator der Ausstellung J. B. S. Jackson als eindeutiger Autor des Katalogbeitrags verstanden. 4 Siehe Jackson, S. 316. Den Ölgemälden lag ferner ein Aquarellband mit 22 Bildern bei, der heute in der Countway Library aufbewahrt wird. 5 „It was voted that Drs. Jackson, Warren, Shattuck, Hooper, and Bowditch, be a committee to carry into effect the sixth resolution.“ Shattuck und Warren spendeten 200 Dollar, Hooper 50 Dollar. In: „Memorabilia Concerning Dr. Peter Parker“. In: The Medical Missionary Society in China. Kanton. 1838, S. 22. 6 „Dr. Robert W. Hooper has recently presented the Society with a series of oil-paintings, twenty-eight in number, representing a great variety of cases of surgical disease, principally tumors, observed at the hospital at Canton under the care of Dr. Parker.“ Jackson, S. 316.
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Abb. 29 Lam Qua/Werkstatt: Lew Akin. Öl auf Leinwand. Ca. 1837.
Der Verbleib der übrigen 26 Bilder ist nicht bekannt. Dabei ist die Beschreibung der Rezeption der Gemälde im Artikel zentral: These monstrous diseased growths are very serious things to our poor fellow- creatures of the Celestial empire. But they are so out of all reasonable proportions, and sprout up in such strange shapes and places – and China is so far off, and a China man is so much of an abstraction to our minds – and the almond-shaped eyes, the pigtail, the brown-sherry complexion and the Oriental environments of the sufferers, so blind us to the naked fact of the existence of an unsightly or devouring malady, that we cannot help looking at them with a little twitching about the levator anguli oris, which if not inhuman is at least highly unbecoming.7
7 Ebd., S. 317. Das „pathologisch Erhabene“ |
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Nach Jackson sind die „monströsen Geschwülste“ ernst zu nehmende Krankheiten. Allerdings würden sie, fernab jeglicher Proportionen, an solchen seltsamen Stellen wachsen, dass der Betrachter nicht anders könne, als die Tumore mit einem „Zucken“ („twitching“) anzuschauen. Diese Wirkung erzeugt die Gesamterscheinung der Dargestellten. Dabei verweilt der Blick des zeitgenössischen Beschauers zunächst auf der überdimensionierten Geschwulst, um dann die mandelförmigen Augen, den langen Zopf und das „kirschfarbene“ Inkarnat der Dargestellten zu betrachten. Die Aufmerksamkeit des Betrachters richtet sich ferner auf die „orientalische Umgebung“ („Oriental environments“), die offenbar im ursprünglichen Korpus zu sehen war, in den heute erhaltenen Bildern sind die Personen nur vor einem neutralen Hintergrund gezeigt.8 Da China weit entfernt und das Bild des Chinesen im Wesentlichen unbekannt war, bestaunt der Betrachter die Krankheit so, wie er die chinesische Physiognomie bestaunt. Beide lassen den Betrachter vor der Tatsache, dass es sich bei den Gemälden um Darstellungen von Krankheiten handelt, „erblinden“. Zugleich scheint die Betrachtung ein Zucken des Körpers, eine körperliche Ablehnung, die mit Ekel verbunden ist, auszulösen.9 Diese Art der Anschauung, die auf die singuläre Erscheinung des chinesischen Patienten gerichtet ist, bezeichnet der Verfasser weiter als das „pathologisch Erhabene“: The truth is, the practised eye kindles at the sight of any very remarkable excrescence, as the traveller’s does at that of lofty mountains or colossal edifices. The pathological sublime and beautiful is so tamed down by the science of highly civilized countries, that the grander and more captivating efforts of nature in that department must be looked for among other people. We nip the most promising growths of disease in the bud. Morbid products stand no better chance among the surgeons, than apples in a school-house yard; they are all picked off long before they are ripe. The largest specimens of our European and Anglo-American cabinets merely show the infancy of the species to which they belong. Science
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8 Der Aquarellband enthält die Bilder von Po Ashing. Daher kann angenommen werden, dass auch die Gemälde von Po Ashing, die ihn nach seiner Amputation in einer Landschaft zeigen, Teil der ursprünglichen Sammlung waren, als sie der Öffentlichkeit 1845 präsentiert wurden. 9 Unter Bezug auf Kant bezeichnet Winfried Menninghaus den Ekel als eine „starke Vitalempfindung“. Das elementare Muster des Ekels ist nach Menninghaus eine Erfahrung, die nicht gewollt wird. Nach Nietzsche ist der Ekel „ein spontanes und besonders kräftiges Nein-Sagen“. Siehe Menninghaus, S. 7.
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takes her daily walk through her hospitals and cuts the last night’s growths, like so many shoots of asparagus, in their very greenest immaturity. Not so in the pathological Eden of the Flowery Land.10 [Meine Hervorhebung; J. K.]
Jacksons überhebliche Polemik lässt sich folgendermaßen übersetzen: Der Blick des Betrachters wird so von den überdimensionierten Krankheitserscheinungen angezogen wie der Blick des Reisenden, der sich zu riesigen Gebäuden oder Gebirgslandschaften öffnet. Er betrachtet sie „mit Interesse“, weil er solche gewaltigen Auswüchse „nicht gewohnt ist“. Denn die westliche Wissenschaft eliminiert Krankheiten, bevor sie eine solche Größe annehmen könnten. Da die Wissenschaft nach China nicht vorgedrungen ist, sind die Krankheiten in diesen Ausformungen zu sehen. Der Verfasser bezieht sich mit seinem Vergleich der Tumore mit riesigen Bergen und Gebäuden auf die Ästhetik des „Sublimen“, das an das Pathologische gekoppelt und so negativ konnotiert wird. Das „Erhabene“ nach Immanuel Kant und das „Sublime“ der englischen Romantik nach Edmund Burke (1729 – 1797) enthält ein Element, gegenüber dem der Verstand „perplex“ wird, weil es „jeden Maßstab der Sinne übertrifft“.11 Eine solche Wirkung riefen beispielsweise die Unendlichkeit des Himmels, des Meeres oder die Höhe der Berge hervor, kurzum: die Natur in ihren gewaltigen Dimensionen.12 Dabei unterschied Burke in A Philosophical Enquiry into the Origin of Our Ideas of the Sublime and Beautiful (1757) das Schöne, das klein, glatt, poliert, leicht und zart ist, von dem Sublimen, das groß, rau, irregulär, dunkel und chaotisch ist.13 Entgegen einer Ästhetik des Schönen, die Freude generiert, produziert für Burke das Sublime einen Effekt, der mit Schmerzen, Furcht, Schrecken und zugleich Lust („pleasure“) verbunden ist.14 Diese Gefühle, die Burke allesamt positiv versteht, sind die stärksten, weil sie ein Zugeständnis an den Tod bedeuten.15 Auf diese Weise „sublimiert“ das Erhabene das Bewusstsein des Betrachters in einen anderen, rein körperlichen Zustand.16 10 Jackson, S. 317. In demi m Mai 1845 veröffentlichten Artikel 11 Siehe Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. Hg. Karl Vorländer. Leipzig. 1948 [1790], S. 94. 12 James B. Twitchell: Romantic Horizons. Aspects of the Sublime in English Poetry and Painting, 1770 – 1850. Columbia. 1983, S. 12. 13 Burke, S. 115. 14 Ebd., S. vii, 3, 13. 15 Ebd., S. 42. 16 Siehe Twitchell, S. 2 – 3. Das „pathologisch Erhabene“ |
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Eine solche Dichotomie kam bei Kant nicht vor: Das Erhabene ist wie das Schöne ein Element der Urteilskraft und damit potentiell denkbar.17 Das Erhabene generiert ferner keine Furcht, sondern eine aus einer anfänglichen Unlust hervorgegangene Lust.18 Es ist wohl anzunehmen, dass Jackson als englischsprachiger Wissenschaftler eher auf die Ästhetik des Sublimen als auf Kants Begriff des Erhabenen im Zusammenhang der Urteilskraft Bezug nahm. Die entscheidende Metapher, die er in diesem Sinne verwendet, ist die der Blendung. Der Betrachter wird von der Physiognomie der Patienten und deren Krankheiten „blind“ gemacht. Das Auge wird zunächst zur Unendlichkeit des pathologisch Erhabenen geöffnet, um sogleich geblendet zu werden. Diese Rezeption mündet im Text in einem finalen ablehnenden Zucken, einer rein körperlichen Reaktion. Diese übergreifende Metapher der Blendung wird von weiteren Metaphern konstruiert: der Krankheit als Nacht und gleichsam als Natur, die nachts ihre wuchtigen Früchte trägt. Dabei liegt das Motiv zügelloser Üppigkeit der Natur zugrunde. In diesem Sinne fungiert die Licht bringende Wissenschaft als Gegenspielerin der Krankheit, der Nacht und der Natur. Die Wissenschaft „spaziert“ täglich durch die Hospitäler und „schneidet” die Früchte der Nacht ab. Daher sind sie wie „Spargelsprosse“ in ihrer „grünsten Unreife” verblieben. Die Nacht, das Dunkle des Sublimen, geht von der Krankheit aus.19 Die Nacht, die das Sehorgan verdunkelt beziehungsweise „blendet“, wird als die Abwesenheit des Lichts und somit als die Abwesenheit der Zivilisation lesbar. Da das „pathologisch Erhabene“ den Menschen „blind“ und krank macht, wird es durch die Wissenschaft, die Licht bringt, unterbunden. Die Wissenschaft erzeugt daher „gesundes“ Licht, das die Krankheit aufdeckt und eliminiert. Sie produziert Erkenntnis und bringt Heilung. Eine solche Lichtmetaphorik, die an das Schneiden der Medizin und an die westliche Zivilisation im Allgemeinen gekoppelt ist, ist uns bereits aus Parkers Fallberichten bekannt. Darin betont Parker, dass die Chinesen „blind“ sind. Damit sind nicht nur ihre Krankheiten gemeint. Die Chinesen sind metaphorisch „blind“, weil sie die westliche Medizin und den christlichen Gott nicht anerkennen würden, womit die „Blindheit“ als Dummheit lesbar wird. Die Polarität zwischen Nacht, Natur und der Blendung einerseits, der Wissenschaft und ihrem operativen Licht der Erkenntnis andererseits spielt 17 Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 114. 18 Ebd., S. 106. 19 Burke, S. 115.
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sich im Artikel explizit auf nationaler Ebene ab. Die Wissenschaft stammt aus dem Westen, die Natur, die Krankheiten verursacht, wird in einem „pathologischen Eden des blumigen Landes“, das für China steht, verortet. Der Verfasser verbindet das Ursprüngliche und Unberührte des Gartens Eden mit dem Überschüssigen und Pathologischen. Dabei wird die genuin christliche Metaphorik, konträr zur missionarischen Rhetorik Parkers, in ihr Gegenteil verkehrt. In diesem Sinne spricht aus dem Artikel ein naturwissenschaftlicher Positivismus, dessen Polemik nicht nur gegen das vermeintlich unzivilisierte China, sondern auch gegen die Religion im Allgemeinen gerichtet zu sein scheint. Dieser Aspekt macht Jackson zu einem Verfechter des religionsfeindlichen englischen Empirismus, wie ihn John Locke in seinem Hauptwerk An Essay Concerning Human Understanding (1689) formuliert hatte.20 Das Motiv des Üppigen verbindet Jackson mit der Religion. So muss, so schreibt er weiter, die Eröffnung des Krankenhauses in Kanton für den „Anbeter des Morbiden“ das gewesen sein, was für den Botaniker das anfängliche Eindringen in den brasilianischen Regenwald gewesen war.21 Folglich trägt nicht nur die Natur das Kranke in sich, auch die Religion ist grundsätzlich krankhaft. In diesem Zusammenhang muss betont werden, dass der Diskurs des Erhabenen im 19. Jahrhundert bereits veraltet war. Damit war die Rhetorik des Positivismus gegen die bedrohliche und unkontrollierbare Natur, gegen Gott und das blendende Gefühl, das unter anderem von der Religion ausging, gerichtet.22 Diese Aspekte, die im Artikel als rückwärtsgewandt verstanden werden, waren zentral für das Erhabene der Romantik und sie waren dem Empirismus der Wissenschaft entgegengesetzt. Ferner diskreditiert Jackson auf ähnliche Weise auch die chinesische Medizin: It is really an instructive sight to see what a bad business Chinese Grahamism and the vis medicatrix together make of it with these poor creatures. And it is truly gratifying to know that after Nature has deformed them with such hideous additions, making China monsters of them, sure enough, a kind and skilful
20 Siehe Uzgalis, S. 7. 21 „The first opening of the Chinese Hospital was to the worshipper of morbid nature what penetrating a Brazilian forest was to the botanist who first explored its depths.“ Jackson, S. 317. 22 Twitchell, S. 12. Das „pathologisch Erhabene“ |
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hand has reached them in their misery, and divorced them from these horrible incumbrances.23 [Hervorhebung im Original]
Jackson unterstreicht, dass die chinesische „Quacksalberei“ („Chinese Grahamism“) und die vis medicatrix die Krankheiten zu verschulden haben. Eine „liebenswürdige“ und „geschickte“ Hand hat die Kranken von ihren „schrecklichen Lasten“ befreit. In diesem Zusammenhang bezieht sich Jackson auf den zeitgenössischen Disput zwischen den medizinischen Parteien, die die invasiven Methoden vorantreiben wollten, und denen, die sich auf die heilende Kraft der Natur, die sogenannte vis medicatrix naturae, besannen, die Jacob Bigelow in dem häufig zitierten Discourse on Self-limited Diseases (1835) betont hatte.24 In diesem Sinne inszenierte sich Jackson als Befürworter der Chirurgie. Gleichzeitig wird deutlich, dass die Natur, gewissermaßen in reiner wie in komprimierter Form in der chinesischen Medizin, grundsätzlich Krankheiten verursacht. Denn nach Jackson ist es in erster Linie die Natur gewesen, die die Patienten zu „chinesischen Monstern” („China monsters“) hatte werden lassen, bevor die chinesische Medizin ihren Zustand verschlimmerte. Auch in diesem Zusammenhang deckt sich der Text mit Parkers Berichten, denen zufolge die Chinesen intellektuell zu schwach sind, um die Natur und die Krankheiten zu besiegen.
6.2 Das Bild des monströsen Chinesen Das pejorative Bild der Chinesen in Jacksons Artikel korrespondierte mit der allgemeinen Rezeption der Chinesen, die in der amerikanischen Gesellschaft im 19. Jahrhundert, insbesondere zur Zeit des Ersten Opiumkrieges (1839 – 1842), vorherrschend war und die Chinesen mit „Monstern“ konnotierte.25 In diesem Zusammenhang war der physiognomische Aspekt, der effektiv in eine rassistische Lesung überging, nach wie vor präsent. Im Folgenden soll nicht auf den Diskurs des Monströsen und Kuriosen eingegangen werden, der das 19. Jahrhundert im Kontext der öffentlichen Schauen der sogenannten „Freaks“ durchtränkte, stattdessen konzentriere ich mich auf den Aspekt des Monströsen im Sinne einer ästhetischen Kategorie. Denn 23 Jackson, S. 318. 24 Siehe Greene, Jones, Podolsky, S. 1077 – 1082. 25 Miller, S. 44, 62.
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die physiognomischen Diskurse, so die These, waren maßgeblich an der Strukturierung des „Monströsen“, „Singulären“ und „Kuriosen“ und an der Engführung dieser Begriffe beteiligt.26 Dabei sensibilisierte die Erforschung der Gesichtskonturen im Hinblick auf eine „Superiorität eines Menschengesichts über das andere“, die Lavater hervorgehoben hatte, den Blick für die Abweichung und trieb eine diskreditierende Lesung voran.27 Dieser physiognomische Aspekt wird in Jacksons Artikel mit der Beschreibung der äußeren Erscheinung der chinesischen Patienten, die wie die Krankheit als Kuriosität begriffen wird, evident. Nach Jackson sind die Geschwülste über „vernünftige Proportionen“ hinausgewachsen und ziehen daher die Aufmerksamkeit des westlichen Betrachters auf sich. Ähnlich verhält es sich mit der chinesischen Physiognomie, den mandelförmigen Augen und dem braunen Inkarnat, die der europäischen Normierung zuwiderliefen. Der an den Maßen griechischer Skulptur orientierte Blick deutete die chinesischen Patienten als Monster. Zugleich ist an dem Motiv der Blendung zu sehen, dass die physiognomische Lesung das Monster nicht weiter ausdifferenzieren konnte. Der Leser erfährt beispielsweise nicht, wie das Monster im Inneren beschaffen war. Im Vordergrund steht die Rezeption des Verfassers, die vor allem auf seine Unkenntnis des Anderen schließen lässt. Das Motiv des Monsters, das in der amerikanischen Rezeption im Hinblick auf die Chinesen im 19. Jahrhundert vor allem im missionarischen Kontext wiederkehrend auftauchte, enthält genuin physiognomische Gedanken. Die Chinesen werden als Monster klassifiziert, weil sie über eine defizitäre Physiognomie verfügten.28 In The Unwelcome Immigrant betont Stuart Creighton Miller, dass die Chinesen und die Tataren, die der zeitgenössische westliche Diskurs zur „mongolischen Rasse“ und so zu Vertretern der Asiaten zusammenfasste, nicht nur in ihrer äußeren Physiognomie, sondern auch in ihrer „intellektuellen Physiognomie“ Monstern glichen. Die negative Lesung des Chinesen, die am Beispiel des Kalmücken für das 18. Jahrhundert gezeigt wurde, war im 19. Jahrhundert deutlich erkennbar: 26 Stephens, S. 88 und Lavater: Fragmente. Band 4, S. 459. 27 Lavater: Fragmente. Band 4, S. 463. 28 Miller zitiert hier aus dem Bericht eines amerikanischen Missionars, der zum ersten Mal einem Chinesen begegnet war: „The monster stares us in the face and defies our power. Never before have we so ardently desired that eloquence that moves – the ability to utter those words that burn. It has startled our whole being to find ourselves fresh as we were from the land of Bibles and Sabbaths, and Christians, placed in the midst of these teeming multitudes who neither fear not know the God whom we love and adore.“ Miller, S. 62. Das Bild des monströsen Chinesen |
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There is a pompous and pedantic land, which boasts supremacy in wisdom and in science from an epoch anterior to all human record save its own – China, the land of many letters, many lanterns, and few ideas. Peopled by the long eared, elliptic-eyed, flat-nosed, olive colored, Mongolian race, it offers a population singularly deficient in intellectual physiognomy; though to its absurd ugliness, the women of the higher classes occasionally offer striking exceptions.29
Miller zitiert hier Charles Caldwell, einen Professor für Naturgeschichte an der University of Pennsylvania und eine führende Gestalt im frühen Diskurs zu rassischen Theorien. Der Verfasser bezieht sich zunächst auf eine alte Rezeption Chinas als das Land der Weisheit und der Wissenschaft, die die Jesuiten im 17. Jahrhundert konstituiert hatten.30 Diese deutet der Autor im nächsten Satz negativ. China ist das Land der Schriften, die nicht entziffert werden könnten, der Laternen und kaum vorhandener Ideen.31 Dieses Land ist von einer mongolischen Rasse bevölkert; sie habe lange Ohren, elliptische Augen, flache Nasen und eine olivfarbene Haut. Damit sind die Mandschu gemeint, die China vom 17. bis ins 20. Jahrhundert regierten.32 Das „Singuläre“, das im Sinne der Neugier („curiosity“) in der Forschungs literatur häufig wertfrei verstanden wird, erhält hier eine negative Konno tation.33 Die Chinesen seien aufgrund ihrer äußeren Physiognomie in ihrer „intellektuellen Physiognomie“ „singulär defizitär“. Mehr noch, das chinesische Volk sei auch physisch defizitär und grundsätzlich von seiner „Konstitution“ her als eine „weichliche“ und daher minderwertige Rasse zu verstehen.34 Nur in einem Punkt wird das Fremde positiv gedeutet: Einige chinesische Frauen, wohlgemerkt die, die aus den höheren Schichten stammten, bildeten „bestechende“ Ausnahmen von der Regel. Damit macht sich im kruden Rassismus ein durch den Literaturtheoretiker Edward Said formulierter Exotizismus bemerkbar. Dieser koppelt das Unbekannte an die Erotik.35 So 29 Ebd., S. 84. 30 Siehe zum Beispiel „Proceedings relative to the formation of a Society for the Diffusion of Useful Knowledge in China“. In: The Chinese Repository. 1834, S. 378 – 384. 31 Die chinesische Sprache, die von den Jesuiten als komplexer Wissensträger begriffen wurde, wurde im 19. Jahrhundert zunehmend pejorativ umgedeutet. Siehe weiter in „Die Geschwulst“. 32 Eberhard, S. 330 ff. 33 Siehe beispielsweise Stephens, S. 96. 34 „They are constitutionally a feeble race of men.“ Siehe Miller, S. 87. 35 Siehe Said.
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werden in dem durchweg unzivilisierten China die chinesischen Frauen für den weißen Mann interessant. Mit dem Aspekt der „Verweichlichung“ sowie den überzeichneten Merkmalen der chinesischen Physiognomie bezieht sich der Verfasser auf die typenhafte Deutung des Chinesen im 18. Jahrhundert, die uns bereits in Lavaters Beschreibung des Kalmücken begegnet ist. Gleichzeitig werden diese Merkmale als „absurd hässlich“ beschrieben. Sie verdeutlichen nicht nur eine Abweichung, sondern einen radikalen Gegenentwurf zu den Proportionen des Schönen: einer „horizontal sich endigenden Stirn“, „kecken gedrängten Augenbrauen“, „Augen von hellblauer oder hellbrauner Farbe“, einer „Nase mit einem breiten, beinahe parallelen, jedoch etwas geschweiften Rücken“, einem „im Ganzen horizontalen Mund“, einem „runden vorstehenden Kinn“.36 Das Monster scheint ein konzeptuelles Gefäß für die Motive des Zu-Breiten, Zu-Hohen und Zu-F lachen zu sein. Damit markierte das Monster den Übertritt, der keiner Ausdifferenzierung bedarf. Dieser Aspekt des Sichtbarmachens der Abweichung schälte sich vor dem Hintergrund der am apollinischen Profil orientierten Schönheit der Physiognomik des 18. Jahrhunderts heraus und ging in die Teratologie ein, die zwischen der öffentlichen Schau und der Medizin oszillierte und später den Kern der modernen Pathologie bildete.37 Mit dem hässlichen Monströsen wurde ferner eine „Anti-Norm“, die von der Norm bedient wurde, konstruiert. Damit handelte es sich nicht um ein „Anderes“, das im Diskurs zum „exotischen Orientalen“ nach Said enthalten ist, sondern um ein „Wesensgleiches“, das am anderen Ende des physiognomischen Kontinuums stand.38 Gerade weil das Monster wesensgleich war, löste es den Schrecken des Erhabenen aus.
6.3 Der „maßlose“ Körper im Bild In den Patientenbildnissen bildet der Tumor den Kern des chinesischen Monstrums. Er wurde wie die Physiognomie des Dargestellten als eine Kuriosität begriffen, weil auch der Krankheit das Moment des Grenzüberschreitenden innewohnt. Während im Moment des Erhabenen der Blick den Horizont als Grenze zwischen Natur und Übernatürlichem auskundschaftete, 36 Lavater: Fragmente. Band 4, S. 463. 37 Zur Beziehung von Teratologie und Medizin siehe Stephens, S. 88. 38 Said, S. 11. Der „maßlose“ Körper im Bild |
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ging der Blick im Moment des „pathologisch Erhabenen“ zur Grenze, die sich zwischen dem intakten und dem kranken Körper abzeichnete.39 Der Philologe James Twitchell betont, dass das Sublime etymologisch auf das lateinische limes für „Grenze“ oder „Schwelle“ zurückgeht und das Präfix sub „über“ und zugleich „von unten her“ bedeutet. Die Sublimierung bedeutet so einen Prozess des Erhebens entlang einer Diagonalen. Während der Sublimierung überschreitet man körperliche und zugleich psychische Grenzen. Der „liminale“ Bewusstseinszustand, den das Sublime erzeugt, konnte im Bild genau an der Grenze, das heißt am Horizont, an dem die Natur auf das Übernatürliche des Himmels traf, erfahren werden. Der Tumor im Bild dehnt den Kontur des Körpers aus. Der intakt-kranke, lebend-sterbende Körper überschreitet eine weitere Grenze zwischen dem Körper und dem Außen und macht sie permeabel. Damit ist der Körper nicht mehr eine individuelle, in sich geschlossene Einheit. Er wird zu einem Kollektivkörper, der sich beliebig dehnen kann. Dabei oszilliert er – namenlos – zwischen Leben und Sterben, zwischen einem klar konturierten menschlichen Körper und einem anderen „monströsen“ Körper. In diesem Zusammenhang verdeutlicht ein weiterer Artikel im Bostoner Ausstellungskatalog, dass angesichts der überdimensionierten Tumore der intakte Körper der Kranken ebenso außergewöhnlich erscheint: The healthy appearance of most of the subjects is also remarkable, for, as in Alibert’s plates of the skin, the individual is represented as fully as the disease.40
Nach Jackson ist die „gesunde Erscheinung“ der Kranken „beachtlich“ und verweist auf den Darstellungsmodus der Lithografien aus dem Atlas zu Hautkrankheiten von Alibert; der Patient wird wie die Krankheit vollständig dargestellt. Was hier den Verfasser verblüfft, ist die gleichzeitige Darstellung eines hässlichen und schönen Körpers. Das Zitat verdeutlicht nicht nur das Staunen gegenüber einem Körper, der „vermengt“ dargestellt wird, sondern auch das Staunen gegenüber einem Bild, das einen solchen Körper zeigt. Die Tatsache, dass der „vermengte“ oder offene Körper ein Anathema der neueren Kunstgeschichte geworden ist, ist dem Aspekt seiner Maßlosigkeit 39 Der Begriff des Sublimen hielt im 19. Jahrhundert daher in die Psychologie Einzug, unter anderem in die Schriften von Johann Friedrich Herbart. Letzterer sprach in diesem Zusammenhang von einem Zustand „unter der Schwelle“. Siehe Twitchell, S. 2 – 3 und 9 – 10. 40 „Miscellaneous Specimens“. In: Jackson, S. 323.
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geschuldet.41 In seiner berühmten Diskreditierung der antiken „Laokoon- Gruppe“ verweist Gotthold Ephraim Lessing (1729 – 1781) auf die „blosse weite Öffnung des Mundes“ des vor Schmerzen schreienden Priesters, der zusammen mit seinen Söhnen von Seeschlangen verschlungen wird. Diese Öffnung ist nach Lessing in der Malerei ein „Fleck“ und in der Bildhauerei eine „Vertiefung“, die die „widrigste Wirkung von der Welt tut.“ 42 Kurzum: Der Blick auf das Körperinnere, dem eine Hülle abhandenkam, soll unter allen Umständen gemieden werden. Für Lessing würde die Skulptur des schreienden Laokoon das Pathos der antiken Tragödie nur verzerren.43 Wie das Beispiel Laokoons zeigt, sind Kunstobjekte in der Lage, alles zeigen zu können, selbst einen maßlosen Körper. Das Bild oder die Skulptur kann in diesem Sinne selbst als „maßlos“ bezeichnet werden.44 In diesem Sinne überschreiten Lam Quas Patientenporträts die Grenzen kunsthistorischer Genres und Motive. Sie zeigen Grenzen an, die zwischen dem intakten und dem kranken Körper verlaufen und zwischen einem Bild, das die Individuation des Subjekts vorantreibt, und einem Bild, das diese Individuation in Frage stellt. Sie scheinen ferner auf eine Angst hinzudeuten, die die westliche Kunst und die Kunstgeschichte im traditionellen Diskurs negieren;45 eine Angst vor dem namenlosen Kollektivkörper, einem Fleischkonglomerat, gegenüber dem der Verstand versagt, weil sich darin der Tod abzeichnet. Damit ist auch eine grundlegende Angst vor dem Bild benannt, das alles, ja selbst die Endlichkeit des Individuums, zu zeigen vermag. 41 Zum Begriff des „Maßlosen“ siehe Maßlose Bilder. Visuelle Ästhetik der Transgression. Im Zusammenhang der Bildnisse Lam Quas thematisiert auch Marcel Finke den Aspekt einer Maßlosigkeit. Siehe Finke, S. 321 – 339. 42 Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie. Stuttgart. 1992 [1766], S. 21. 43 Ebd. 44 In Maßlose Bilder sprechen die Herausgeber von einer „Ästhetik der Transgression“, die maßlosen Bildern innewohne. Mit Bezug auf Alois Hahn beschreiben sie eine Dialektik von „Grenzziehung“ und „Grenzverletzung“, von Ordnung und Unordnung, Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit. Diese Dichotomien verweisen darauf, dass Normen, indem sie übertreten werden, umso nachdrücklicher bestätigt werden. Siehe Ingeborg Reichle und Steffen Siegel: „Gibt es ein Maß für das Maßlose?“. In: Maßlose Bilder. Visuelle Ästhetik der Transgression, S. 9 – 14, hier: S. 13. 45 Ich beziehe mich auf die Kunstgeschichte seit dem späten 18. Jahrhundert bis zum 20. Jahrhundert, wobei die Nachkriegskunst seit den 1950er Jahren, wie Body Art, Abject Art und die aktuelle Bio Art, hier ausgenommen sind. Der „maßlose“ Körper im Bild |
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Entgegen dem Konzept des Individualkörpers, der häufig als permanent- intakter gezeigt wird, ist dieser unser Körper weder unendlich noch geschlossen. Sein Verfall ist unhinterfragbar und doch wird er in der Kunst nur selten gezeigt. Mit seinem Verfall geht ferner ein Verlust der kantischen Vernunft einher, denn gerade in der Angst vor dem „Nur-Körper-Sein“ offenbart sich die Lust am „Nur-Körper-Sein“, wie sie das Erhabene und das Sublime unterstrichen.46 Damit überschreiten Lam Quas Patientenbildnisse nicht nur kunsthistorische Genregrenzen, sondern auch den Aktionsbereich einer traditionellen Ästhetik, die vom Idealschönen ausgeht und Freude beziehungsweise „Wohlgefallen“ generiert.47 Lam Quas Bilder bewirken ein Gefühl zwischen „Körper-Panik“ und „Körper-Lust“, das sich an einer körperlichen Grenze vollzieht. Dieses ambivalente Gefühl drückt gerade das Abjekte der postmodernen Theorie aus.
6.4 Das Abjekte Die Literaturtheoretikerin Julia Kristeva erkennt in The Powers of Horror. An Essay on Abjection (1982), dass ein Zusammenbruch der Sprache, den die Natur im Erhabenen erzeugte, nur im Abjekten zum Vorschein kommen könne.48 Nach Kristeva kann das Abjekte nicht benannt werden. Es steht grundsätzlich „in Opposition“; in Opposition zur Sprache, in Opposition zum „Ich“: When I am beset by abjection, the twisted braid of affects and thoughts I call by such a name does not have, properly speaking a definable object. The abject is not an ob-ject facing me, which I name or imagine. Nor is it an ob-jest, an otherness ceaselessly fleeing in a systematic quest of desire. What is abject is not my correlative, which, providing me with someone or something else as support, would allow me to be more or less detached and autonomous. The abject has only one quality of the object – that of being opposed to I.49
Das Abjekte, das sich aus einem Geflecht aus Affekten und Gedanken zusammenfügt, besitzt kein klar definiertes Objekt. Das Abjekte ist kein Objekt, 46 Burke, S. 13, 115. 47 Siehe beispielsweise Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 48. 48 Die französische Originalfassung erschien unter dem Titel Pouvoirs de l’horreur im Jahr 1980 bei Editions du Seuil. 49 Kristeva, S. 1.
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kein konkretes Ding, welches den Betrachter anblicken und benannt werden kann. Es ist nicht einmal vorstellbar. Es ist auch kein Lust bringendes „Anderes“. Der Betrachter kann sich nicht davon distanzieren. Das Abjekte hat lediglich eine Eigenschaft mit dem Objekt gemein, nämlich die der Opposition zum „Ich“. Gleichzeitig entspricht das Abjekte keinem „Ich“, vielmehr korrespondiert es dem Unterbewussten und ist dessen Objekt.50 Nach Kristeva handelt es sich um das intrinsisch Eigene, das an den „vorsprachlichen“ Zusammenschluss zwischen Mutter und Kind gemahnt, das jedoch stets ausgeschieden und „beiseitegeschoben“ wird. Die Individuation des „Ichs“ geschieht in Kristevas Verständnis mit der „Kultivierung“ des Abjekten. Und doch bedroht das Abjekte stets die Stabilität des „Ichs“, indem es dessen Fragilität andeutet. Nahrung, Blut, Urin, Exkremente, Tränen, die Leiche fallen in das Sammelbecken des Abjekten und stellen eine Gefahr von außen wie innen dar. Diese Gefahr geht unter anderem von der Krankheit, den Exkrementen und dem Menstruationsblut aus. In diesem Zusammenhang zeigt die Leiche, was wir täglich ignorieren, um leben zu können.51 Denn es ist vor allem die Leiche, die eine „Grenze“ andeutet, durch die sich der Körper „befreit“. Durch jeden einzelnen „Verlust“ nähert er sich der Leiche an, bis er über alle Grenzen hinaus „gefallen“ und somit wörtlich zu einer „Leiche“ geworden ist.52 Die „Überreste“ des Abjekten würden nicht auf eine Grenze zwischen Subjekt und Objekt verweisen. Sie sind vielmehr diese Grenze am Übergang von einer Ordnung zu einer anderen. Doch diese Grenze wäre längst nicht so bedrohlich, wäre sie klar definierbar. Diese Grenze deutet Kristeva als „Ambivalenz“, die alle kategorialen Grenzen unkenntlich macht und dem Individuum innewohnt.53 In diesem Zusammenhang findet sich bei Kristeva, unter dem Verweis auf Jacques Lacans Begriff der jouissance oder „Lust“, der Gedanke an Schmerz und Leidenschaft als Ausgangspunkt des Abjekten: It follows that jouissance alone causes the abject to exist as such. One does not know it, one does not desire it, one joys in it [on en jouit]. Violently and painfully. A passion. And, as in jouissance where the object of desire, known as object a 50 Ebd., S. 2. 51 Ebd., S. 3. 52 Kristeva verweist in diesem Zusammenhang auf die etymologische Bedeutung des menschlichen „Kadavers“ (der Leiche), wobei „cadere“ im Lateinischen „fallen“ meint. Siehe Fußnoten in ebd. 53 Ebd., S. 4. Das Abjekte |
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[in Lacan’s terminology], bursts with the shattered mirror where the ego gives up its image in order to contemplate itself in the Other, there is nothing either objective or objectal about the abject.54
Nach Kristeva verursacht allein jouissance das Abjekte. Jouissance ist eine Leidenschaft; man spielt darin, verlangt aber nicht danach. Und damit hat das Abjekte nichts Spiegel- oder Objekthaftes, womit das „Ich“ im „Anderen“ betrachtet werden könnte. Jouissance versetzt das Subjekt vielmehr in einen Zustand, in dem es zwischen Innen und Außen oszilliert, in dem Lust, Schmerz und Gewalt nah beieinander liegen. In den Eingangsbemerkungen zur englischen Ausgabe von Powers of Horror veranschaulicht Kristeva die Wirkungsmacht des Abjekten am Beispiel der Milchhaut: When the eyes see or the lips touch that skin on the surface of milk – harmless, thin as a sheet of cigarette paper, pitiful as a nail paring – I experience a gagging sensation and, still farther down, spasms in the stomach, the belly; and all the organs shrivel up the body, provoke tears and bile, increase heartbeat, cause forehead and hands to perspire. Along with sight-clouding dizziness, nausea makes me balk at that milk cream, separates me from the mother and father who proffer it. „I“ want none of that element, sign of their desire; „I“ do not want to listen, „I“ do not assimilate it, „I“ expel it. But since the food is not an „other“ for „me,“ who am only in their desire, I expel myself, I spit myself out, I abject myself within the same motion through which „I“ claim to establish myself.55 [Hervorhebungen im Original]
Wenn die Augen oder die Lippen die Oberfläche der Milchhaut berühren, die so dünn wie Zigarettenpapier sei, erfährt man ein „knebelndes“ Gefühl, so als wären alle Organe „nach oben“ gezogen worden. Das Gefühl verursacht Tränen, beschleunigt den Herzschlag. Es ist eine die Sicht vernebelnde Übelkeit, die uns vor der Milchhaut zurückschrecken lässt, die uns von Mutter und Vater, die uns mit der Milch versorgten, entfernt. Man verweigert dieses „Element“, dieses „Zeichen ihrer Lust“. Dieses kann nur ausgesondert werden. Da aber die Nahrung kein „Anderes“ für uns ist, sind wir es selbst, die uns ausscheiden würden. 54 Ebd., S. 9. 55 Ebd., S. 2 – 3.
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Vor allem in Kristevas Terminus des „Symptoms“ wird das Subjekt vom Abjekt durchdrungen: The symptom: a language that gives up, a structure within the body, a nonassimilable alien, a monster, a tumor, a cancer that the listening devices of the unconscious do not hear, for its strayed subject is huddled outside the paths of desire. Sublimation, on the contrary, is nothing else than the possibility of naming the prenominal, the pre-objectal, which are in fact only a trans-nominal, a trans-objectal. In the symptom, the abject permeates me, I become abject.56
Das Symptom – das ist nach Kristeva die Sprache, die sich selbst aufgegeben hat, es ist eine dem Körper inhärente Entität; ein nicht „assimilierbarer Fremder“, ein Monster, ein Tumor, ein Krebs, die vom Unterbewusstsein „überhört“ worden seien. Im Symptom durchdringt das Abjekte das „Ich“. In diesem Sinne ist das Abjekte der „Sublimierung“ entgegengesetzt. Denn das Erhabene, dem nach Kristeva auch ein klar benennbares Objekt fehlt, ist der Versuch, das Namenlose des Abjekten zu beschreiben.57 Indem der Betrachter vor dem Erhabenen erschaudert, dieses im Gedächtnis wiederkehrend aufruft und benennt, nimmt er dem Erhabenen seine vormalige Objektlosigkeit. Ferner ist das Abjekte nicht von außen aufoktroyiert wie das Erhabene. Das Abjekte wohnt uns inne. In diesem Zusammenhang erinnert die Verweigerung der Milchhaut an das ablehnende Zucken gegenüber dem Bild der Geschwulst, das Jackson in seinem Artikel beschreibt. Insofern kann das Abjekte als die Ästhetik dieser Bilder verstanden werden. Das Zucken ist eine Reaktion gegenüber einem Bild, das einen Aspekt des Abjekten im Betrachter berührt. Zugleich wird deutlich, dass gegenüber der Geschwulst nicht nur der physiognomische Blick kollabiert, auch die Ästhetik des Erhabenen als das von außen Stammende versagt. Das Bild der Geschwulst lässt uns nicht sublimieren, vielmehr lässt es uns vor der Sicht des eigenen Abjekten erschaudern.
6.5 Eine supplementäre Ration Ist der Tumor überhaupt noch mit Worten fassbar? In diesem Zusammenhang wird das Argument, dem zufolge das Signifikat durch den Signifikanten 56 Ebd., S. 11. 57 Ebd., S. 12. Eine supplementäre Ration |
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scheint, wie es am Beispiel von Charles Bell gezeigt und durch Foucault für die medizinische Erfahrung des 19. Jahrhunderts hervorgehoben wurde, für den Tumor anwendbar. So wie das Wesen des Monstrums auf seine Sichtbarkeit fokussiert ist, so ist das Sein des Tumors zunächst auf seine Oberfläche beschränkt. Mit dem Hervortreten des Inneren an die Oberfläche verbleibt der Körper zunächst als das Signifikat des Tumors, er scheint den Ursprung der Krankheit in sich zu fassen. Gleichzeitig verfügt die Geschwulst selbst über ein Signifikat und einen Signifikanten, die sich jedoch in ihrer Gestalt überlagern. Der Tumor – das ist die sichtbare, nach außen gestülpte Krankheit. Und doch scheint diese Krankheit über einen spezifischen Inhalt zu verfügen, der sich unter dessen Haut abzeichnet. Die Verformungen der Geschwulst lassen Weichteile, feste Körper und Flüssigkeiten erahnen. Die Haut der Geschwulst scheint einen „Inhalt“ einzugrenzen und macht damit ein Innen und ein Außen zwingend. Die Gestalt des Tumors suggeriert eine unerschöpfliche Bewegung, die sich von innen nach außen dehnt und sich außen in einer Geschwulst staut. Diese Bewegung impliziert einen Überschuss. Im semiotischen Sinne scheint es sich um einen Exzess des Signifikanten zu handeln. Der Überschuss des Signifikanten ist nach Jacques Derrida die Folge einer „Endlichkeit“, eines „Mangels“, der supplementiert werden muss.58 Dieser Mangel resultiert aus der Abwesenheit eines Zentrums oder eines Ursprungs. Dabei entsteht eine zirkulierende Bewegung. Die Bewegung des Bezeichnens fügt etwas hinzu, so dass immer ein „Mehr“ vorhanden ist. Diese „Zutat“ bleibt allerdings „flottierend“, weil sie die Funktion der Stellvertretung, der Supplementierung eines Mangels auf Seiten des Signifikats erfüllt.59 Diese supplementäre Ration ist erforderlich, damit Signifikat und Signifikant in einem Verhältnis der „Komplementarität“ verbleiben. Damit ist das Wesen des Überschusses benannt. Es bezeichnet stets ein Mehr gegenüber einer Leere, die in einer unentwegten Bewegung gefangen ist. Diese semiotische Beziehung und Bewegung, die jedoch einer konkreten Lesung entbehrt, zeigt der Tumor an. Diesen Aspekt verdeutlicht die Etymologie des Wortes, die häufig an eine Bewegung beziehungsweise an ein Wachstum, das von einem Arzt beobachtet wird, gekoppelt ist. Denn das Wort „Tumor“ ist ein Synonym für den Wuchs der Geschwulst.60 58 Derrida, S. 439. 59 Ebd., S. 437. 60 Zur näheren Etymologie und Verwendung siehe den Abschnitt „Die Lanzette“ im zweiten Kapitel.
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In den Berichten der Chinese Repository zeichnen sich weitere Motive des Überschusses ab, die stets negativ konnotiert werden. Auf einer Fotografie, die zusammen mit dem Artikel „Address with Minutes of Proceedings“ im Archiv der Yale University aufbewahrt wird, stapeln sich operativ entfernte Harnsteine zu einem riesigen Haufen.61 Dass es sich bei der Fotografie nicht um einen einmaligen Schnappschuss handelt, zeigen weitere Fotos aus den 1920er Jahren mit dem gleichen Motiv, die ebenfalls im Yale-Archiv zu sehen sind. So muss davon ausgegangen werden, dass das Motiv im Rahmen der Missionarsrhetorik eine wesentliche Rolle spielte. Nach der Beschriftung, die dem Foto und dem Artikel beiliegt, ist die Sammlung in einem Jahr entstanden. Die Steine waren einzeln „so groß wie Hühnereier“ gewesen. Damit verhält sich die Steinansammlung analog zum Tumor. Sie zeigt einen Wuchs an, der unendlich scheint und pathologischen Ursprungs ist. Gleichzeitig macht die Fotografie deutlich, dass nur die westliche Wissenschaft diesen Überschuss aufhalten kann. Das Bild impliziert, dass es die westlichen Ärzte gewesen waren, die diese Steine aus den Körpern der Patienten geborgen hatten. In diesem Sinne zeigt die Fotografie nicht nur das unendlich Pathologische, sondern auch das „herausragende“ Verdienst der Mediziner. Es ist ferner die chinesische Sprache, die neben dem Tumor in der Missionarsrhetorik für einen krankhaften Überschuss steht. Das Chinesische, das die Jesuiten als Wissensträger verstanden, wurde im 19. Jahrhundert mit dem Unzivilisierten verschränkt und zu einem Stigma umgedeutet. Die Komplexität der Sprache wurde dabei als Leere umformuliert: The written character adopted by the Chinese has had a very remarkable influence both upon their civilization and their relations with other nations. They have formed an extensive literature, but it is barren in ideas; and in style and manner it is as peculiar as are the people themselves. While the want of variety in its sounds renders the spoken medium monotonous, the numerous strokes and variations in the characters of the written medium, give it a copiousness which is scarcely equaled by any other language in the world. But this system, so congenial to the Chinese mind, renders the acquisition of knowledge very difficult (…). By using 61 Das Foto befindet sich im Archiv der Yale Medical Historical Library (Box 11). Es wurde dem Artikel wahrscheinlich erst später beigefügt. Denn der Import der Fotografie nach China sowie ihre reguläre Nutzung vor Ort werden auf die Jahre 1839 – 1858 angesetzt. Siehe Edwin K. Lai: „A History of the Camera Obscura and Early Photography in China“. In: Brush and Shutter. Hg. Jeffrey W. Cody and Frances Terpak. Los Angeles. 2011, S. 20. Eine supplementäre Ration |
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this character, the Chinese have drawn a strong line of demarcation between themselves and all foreigners. They have virtually excluded others from being benefited by their writings; and at the same time they have closed up the avenues for the introduction of knowledge from abroad.62
Der Autor Charles Gutzlaff beschreibt eine Dichotomie zwischen Leere und Fülle, die der chinesischen Sprache innewohnt. Das Chinesische enthält zahlreiche Töne, doch ist es gleichzeitig monoton. Es hat zahlreiche Striche, die wiederum zahlreiche Variationen haben, und doch sei es leer. Dieser Gegensatz lässt Gutzlaff schlussfolgern, dass die chinesische Sprache in ihrer Fülle „unfruchtbar“ ist. Zugleich spiegelt das Chinesische die Eigenschaften der Chinesen wider. Durch das westliche Prisma wird Chinesisch zu einem leeren, aufgrund seiner Vieldeutigkeit bedeutungslosen Zeichen und ferner zu einem Hindernis in der Kommunikation. Aus der Perspektive der Ausländer betrachtet, ist das Chinesische für die Aneignung des (chinesischen) Wissens „sehr schwierig“. Gutzlaff behauptet sogar, dass die Chinesen mit dem Gebrauch ihrer Sprache eine Demarkationslinie zwischen sich und den Ausländern gezogen hätten; so dass diejenigen, die der Sprache nicht mächtig seien, von ihren Schriften nicht profitieren könnten. Ferner macht das Chinesische die Einführung des westlichen Wissens unmöglich. In diesem Zusammenhang wird das Versagen der westlichen Ratio gegenüber der chinesischen Sprache deutlich. Sprache, die im Allgemeinen Gegenstände und Phänomene konkret benennt, löst sich für den Verfasser wie ein Tumor in einer nicht benennbaren Exorbitanz auf. Ihre Vielschichtigkeit wird durch Leere, das Fehlen der Variation und somit durch Kakofonie und Beliebigkeit ersetzt. Als Hindernis begriffen, generiert das Chinesische Schweigen. In diesem Sinne verdeutlicht der Artikel vor allem die Unfähigkeit des Verfassers, der linguistischen Komplexität des Chinesischen zu begegnen, da er selbst diese Sprache nicht beherrscht. Im Rahmen der denunzierenden Rhetorik wird dieses Unvermögen tatsächlich verschwiegen.
62 Siehe Charles Gutzlaff: „Proceedings relative to the formation of a Society for the Diffusion of Useful Knowledge in China“. In: The Chinese Repository. 1834, S. 378 – 379.
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6.6 Das Double und das Simulacrum Die Beziehung zwischen Signifikat und Signifikant, die der Körper des Menschen anzeigt, wird im Tumor wiederholt. Dabei wird der Tumor zu einem Double des Körpers. Wie der Körper verfügt das Double über ein Innen und ein Außen. Wenn sich die Geschwulst neben dem Gesicht befindet, dann scheint sie das Gesicht zu doppeln. Da sie eigentlich keine konkreten Strukturen hat, assoziiert der Beschauer die Gestalt des Tumors mit den Formen des Körpers; der Betrachter glaubt, darin Augen, Münder und andere Gesichtsstrukturen zu erkennen. Dabei wird der Tumor zu einer Entität, die nur im Bezug zum Körper existieren kann. Daher positioniert sich der Körper semiotisch als Signifikat des Doubles. Der Körper ist Signifikat, weil er den Tumor als ein „Mehr“ definiert. Im Double wird das Sein des Signifikats lediglich vervielfacht, eine eigene Funktion ist dem Double, solange es Teil des Körpers ist, nicht gegeben. In einem Körper, dessen Glieder stets eine Funktion haben, ist der Tumor dysfunktional. Es ist gerade dessen Funktionslosigkeit, die ihn als krank definiert. Auch wenn das Double eine Referenz hat, gleicht es im Rahmen der Vervielfachung einem Simulacrum, das nach Jean Baudrillard keine Referenz besitzt.63 Denn das Simulacrum produziert nach Baudrillard etwas, was eigentlich nicht da ist. Dabei handelt es sich nicht um eine „Täuschung“. Das Simulacrum ersetzt reale Zeichen und positioniert sich im Sinne des Originals als „Hyperreales“.64 In diesem Zusammenhang ist es denkbar, dass der Tumor gar keinen Ursprung im Körper hat. Es scheint sogar möglich, dass er etwas komplett Anderes sei, das nur dem Körper gleiche. Eine solche Lesung zeigt beispielhaft das Porträt des Patienten Woo Kinshing (Abb. 30). Der Patient sitzt aufrecht und präsentiert seinen gewaltigen Tumor. Die Pathologie sitzt auf seiner linken Schulter und der Brust, sie expandiert zum Bauch, verjüngt sich in der Vertikalen zur Schulter und dehnt sich am Torso in die Breite. Der Tumor hat in der Mitte eine tiefe Furche, die sich stellenweise verzweigt und die Geschwulst längs durchzieht. Zudem sieht man im Zentrum zwei runde Einkerbungen, die an der Furche gespiegelt werden. In seinem Bericht zu Woo Kinshing schreibt Parker, dass 63 „Simulation (…) is the generation by models of a real without origin or reality: a hyperreal.“ Weiter heißt es: „It is no longer a question of imitation, nor duplication, nor even parody. It is a question of substituting the signs of the real for the real (…).“ Baudrillard, S. 1, 2. 64 Ebd., S. 3. Das Double und das Simulacrum |
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Abb. 30 Lam Qua/ Werkstatt: Woo Kinshing. Öl auf Leinwand. 1838 – 1839.
der Tumor einer Gambe („tenor viol“) gleicht.65 In diesem Sinne erinnert die sich nach oben verjüngende Form an die Gestalt des Instruments, während die Furche an Saiten, die runden Einkerbungen an Schalllöcher denken lassen. Ferner wächst der Tumor genau an der Stelle, an der der Musiker die Gambe halten würde. Der Tumor simuliert mit seiner Gestalt ein Instrument. Seine abstrakte Erscheinung macht den Tumor zu einem konkreten Ding, das eigentlich nicht da ist, aber durchaus benannt werden kann. Gleichzeitig macht sich hier eine ästhetische Ambivalenz bemerkbar. Denn es kann nicht klar gesagt werden, ob wir ein musikalisches Instrument oder doch einen krankhaft angeschwollenen Körper vor uns haben.
65 „Woo Kinshing, aged 49, a fisherman from Shihszetow, near the Bogue, ten years since had a small tumor, just below the clavicle on the left side. It had now attained a great magnitude resembling in figure a tenor viol.“ 8th Report. In: The Chinese Repository. 1839, S. 99.
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Diese Ambivalenz ist das Resultat der Fantasie, die etymologisch auf das griechische phantasma zurückgeht, das das Äquivalent des lateinischen simulacrum ist. Phantasma ist eines der Wörter, die Platon neben eidolon, eikon und mimema für das Bild verwendet. Anders als bei eidolon und eikon, Platons Lieblingsvokabeln für das Bild, handelt es sich bei phantasma eher um eine Erscheinung im Sinne eines Traumbildes oder Schattenbildes oder eine Vorstellung als um ein Kunstobjekt, das aus der eikastiké, der Bildproduktion des Kunsthandwerkers, hervorgegangen ist.66 Damit ist das phantasma das Produkt der phantastiké, der „Scheinbildkunst“, die auch die Lüge meinen kann.67 Gerade auf diese Bedeutung des simulacrum oder phantasma bezieht sich Gilles Deleuze in seinem Hauptwerk Différence et Répétition (1968), wenn er davon spricht, dass das platonische Urbild gestürzt werden soll.68 Deleuze eliminiert damit eine Reihe von genuin westlichen Ideen, die als Dichotomien aufgefasst werden: „Sein“ versus „Werden“, „Identität“ versus „Differenz“, „Idee“ versus „Sensation“. Das platonische Urbild ist nach Deleuze in einem Kontinuum der unendlichen Wiederholung und Werdung gefangen und verkommt zu einem „Trugbild“, einem Simulacrum, dessen Original nicht mehr identifizierbar ist.69 In diesem Sinne wird das Bild des Tumors zu einem Simulacrum, das im Werden begriffen ist und einer klaren Aussage bezüglich seines Objektstatus entbehrt. Es oszilliert zwischen einem realen und einem gedachten Gegenstand.
66 Platon: Der Sophist (Sophistes). Hg. und übers. Helmut Meinhardt. Stuttgart. 1990, Zeilen 232 a, 236 c–d. Zu Platons Phantasma-Begriff siehe auch David Ambuel: „Platon: In Bildern denken“. In: Denken mit dem Bild. Philosophische Einsätze des Bildbegriffs von Platon bis Hegel. Hg. Johannes Grave und Arno Schubbach. Paderborn und München. 2010, S. 13 – 41, hier: S. 15. 67 Sophistes, Zeile 264 a–c. 68 „Umkehrung des Platonismus meint hier: das Primat eines Originals gegenüber dem Abbild, eines Urbilds gegenüber dem Bild anfechten. (…) Im strengen Sinn bedeutet die ewige Wiederkunft, daß jedes Ding nur als wiederkehrendes existiert, Abbild einer Unendlichkeit von Abbildern, die kein Original und sogar keinen Ursprung fortbestehen lassen. Darum heißt die ewige Wiederkunft ‚parodistisch‘: Sie qualifiziert das, was durch sie ist (und wiederkehrt), als Trugbild. Das Trugbild ist der wahre Charakter oder die Form dessen, was ist – des ‚Seienden‘ (…).“ Deleuze, S. 95. 69 Ebd., S. 12. Das Double und das Simulacrum |
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Abb. 31 Lam Qua/Werkstatt: Laeng Yen. Gouache. Ca. 1838.
6.7 Das Anti-Porträt Im Korpus der Patientenporträts befindet sich ein einzigartiges Bild. Im Querformat zeigt es die Patientin Laeng Yen. Die Frau verdeckt mit ihrer linken Hand das Gesicht. In den Blick gelangt die erhobene rechte Hand mit einer Geschwulst, die die Hand entstellt. Das Motiv ist zum einen in einem sehr dunklen Gemälde im Hauptkorpus in Yale und zum anderen als Gouache in der Wellcome Library zu sehen. Aus der tiefen Dunkelheit des Gemäldes scheint das Inkarnat der Frau hervor, während der übrige Körper von einem dunklen Mantel bedeckt wird. Die Patientin legt die Hand über Nase, Wangen und Mund, die Finger reichen über ihre Augen. Der Betrachter sieht die Konturen des Gesichts, die Stirn, eine Augenbraue. Im Kontrast zum Körper, der verdeckt ist, offenbart sich der Tumor in seiner Abundanz. Er besteht aus mehreren Geschwülsten, die sich über- und nebeneinanderschichten und in unterschiedlichen Brauntönen variieren. Die drei Finger, die seitlich des Tumors abstehen, scheinen die Überreste der intakten Hand zu sein, die die Krankheit verschluckt. Die Gouache aus der Wellcome Library stellt ein farblich differenzierteres Bild dar (Abb. 31). Vor einem hellen Hintergrund liegt die Patientin auf einer felsähnlichen Unterlage. Der in einen hellblauen Mantel gehüllte Körper füllt das Bild 254
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horizontal aus, die Hand mit der Geschwulst rückt links ins Bild. Die Geschwulst und der Kopf der Frau liegen auf Klötzen auf, wobei der Tumor zusätzlich von einem kleinen blauen Kissen gestützt wird. Die Farben des Tumors sind leuchtend und mannigfaltig. Zwei Geschwülste bilden sich im Zentrum des kranken Fleisches. Sie sind rosa, weiß und gelb.70 Während Laeng Yen im Bild ihr Gesicht und vor allem den Mund verdeckt, spricht sie in Parkers Bericht fortwährend; sie willigt in die Operation ein, sie spricht sich gegen die Operation aus, sie hält den Arzt hin, sie fordert, sie willigt erneut ein: The patient still consented; the 5th of Dec. was fixed upon for the operation, and on the previous evening everything was is readiness; but the next morning when visited, she, with a toss of her head, emphatically explained, „No cutting! No cutting!“ and holding up two fingers she added, „give 200 dollars and you may“. (…) It seemed at this time that she thought me anxious to mutilate her, and that I would give her a price to do it.71
Nachdem die Operation schließlich auf einen Tag angesetzt worden ist, hat die Patientin am Morgen vor dem Eingriff wieder verlauten lassen, dass nicht „geschnitten“ werden solle. Nur wenn ihr der Arzt 200 Dollar gebe, dürfe er mit der Operation fortfahren. In einer weiteren Passage erwähnt Parker, dass Laeng Yen die Freundlichkeit, die ihr entgegengebracht worden ist, die Verpflegung und eine persönliche Dienerin, vollkommen missverstanden hat.72 Die Patientin hat wohl geglaubt, dass Parker sie „verstümmeln“ („mutilate“) wolle, und habe dafür einen Preis verlangt. Dass die Operation schließlich stattgefunden hat, erfahren wir in einer finalen Beschreibung des exstirpierten Tumors. Dabei beschreibt Parker die Masse des Tumors als „Gehirn“, das wie ein „Pilz“ gewachsen ist. In den Bildern wird die verbale Vehemenz des doppelt geäußerten „Nicht schneiden!“ – „No cutting!“ – durch die Geste des Verbergens ersetzt. Dabei scheint die Geste im Gemälde bewegter als in der Gouache. Der Oberkörper 70 Es ist anzunehmen, dass das Gemälde aus dem Yale-Korpus deutlich heller war und wegen altersbedingter Verschmutzungen diese dunkle Färbung annahm. 71 9th Report. In: The Chinese Repository. 1839, S. 59. 72 In seinem Katalog, der Fotos der Gemälde enthält, notiert Dr. Moses White neben dem Bild der Laeng Yen, dass ihr jemand vorgeschlagen habe, Geld zu verlangen: „Someone has suggested this to her.“ In Parkers Berichten kommt diese Bemerkung nicht vor. Siehe Katalog des Dr. White. Box 9, Ordner 1 in der medizinhistorischen Bibliothek Whitney/Cushing, Yale University. Das Anti-Porträt
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der Frau ist etwas vornübergebeugt. Der Arm schneidet das Bild diagonal und deutet eine Bewegung an. Es scheint, als hätte die Frau mit dem Arm weit ausgeholt und als wäre diese Geste aus einer heftigen Emotion hervorgegangen. Außerdem liegen ihre Finger nicht nur auf dem Gesicht auf, sie scheinen sich seitlich gegen dieses zu pressen und dieses unter allen Umständen verbergen zu wollen. Damit zeigen diese beiden Bilder etwas, was ein stilles Porträt grundsätzlich nicht zeigen kann – den scheinbar bewegten Ausdruck der Ablehnung. Gleichzeitig verbergen sie das Gesicht, das ein Porträt für gewöhnlich darstellt. Mit diesen Eigenschaften hinterfragen die Bilder die Prämissen des Porträts und werden als „Anti-Porträts“ verständlich. Denn nach Boehm sei gerade eine Neutralität des Ausdrucks, die der Verfasser als „Stummheit“ bezeichnet, das Schlüsselphänomen des Porträtierens.73 Jede Überspitzung lässt den Ausdruck zu einer Grimasse werden, das Bild zu einer Karikatur verkommen.74 In diesem Sinne verweigern die Bilder von Laeng Yen jedweden Ausdruck, der sich im Gesicht manifestieren könnte. Die Patientin verbirgt nicht nur die Augen, es ist vor allem der Mund, der gewissermaßen zum Schweigen gebracht wird. Damit zeigen die Bilder von Laeng Yen eine Form der Stummheit und damit wieder einen Ausdruck. 6.7.1 Wider die Physiognomik
Es ist denkbar, dass es das Bestreben der Maler war, das im Bericht geschilderte „No cutting!“ abzubilden. Doch zu diesem Zweck hätte eine Darstellung des verdeckten Mundes genügt. Es scheint, als würden die Bilder der Laeng Yen die Missionarsrhetorik perpetuieren. Zugleich pervertieren sie diese Rhetorik. Im Sinne der Missionarsrhetorik verschränken sie die Motive des Verbergens (des Gesichts), des Schneidens (des Tumors) und des Zeigens (des Tumors und des Gesichts). Dabei überlagern sich die Motive der Chirurgie und der Malerei chiastisch: die Erstere als diejenige, die heilt, indem sie schneidet, die Letztere als diejenige, die zeigt, indem sie verbirgt. Das Verbergen wird zu einem Schneiden. Das Gesicht und die darin enthaltene Identität der Person wird „abgeschnitten“, die Patientin wird stumm gemacht. Das Schneiden wird wiederum zu einem Verbergen. Im Sinne der Missionarsrhetorik betont das Bild eine von einer Hierarchie geprägte Lesung. Die Patientin, die widersprach, wurde stumm gemacht, sie wurde 73 Boehm: Bildnis und Individuum, S. 26. 74 Ebd., S. 26 – 27.
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gewissermaßen „anästhesiert“, um die Operation und die dazugehörige Darstellung möglich zu machen. In diesem Sinne agiert die Malerei, ähnlich der Chirurgie, aggressiv. Sie schneidet das Gesicht der Dargestellten ab und stellt gegen ihren Willen die Krankheit dar. Mit der Darstellung des „verdeckten Porträts“ beginnt sich jedoch fernab der Missionarsrhetorik eine komplexe Ästhetik zu entfalten. Das Bild stellt sich zunächst metareflexiv in Frage. Wenn der Bericht die Operation als das darstellt, dem widersprochen wird, wird die Geste des Verdeckens im Bild als ein Widerspruch gegen das Porträtieren, gegen das Bild selbst, verständlich. Mehr noch, wenn die Narration Parkers Willen ausführt, wird das Bild auf einem paradoxen Wege zum Fürsprecher der Dargestellten. Denn die Identität der Patientin, die sich der Operation nicht unterziehen wollte, wird nicht offen dargelegt, sie wird gewahrt. Die Hand schützt das Gesicht und blockiert den Blick des Betrachters. In diesem Sinne widersetzt sich das Bild einer physiognomischen Lesung. Die Konturen des Gesichts sind weder sichtbar noch lesbar. Signifikant und Signifikat existieren wie hinter einer Blende. Der Tumor wird neben dem Arm zum alleinigen sichtbaren Objekt, einem physiognomischen Untersuchungsgegenstand, dessen Äußeres diffus ist. Die Geschwulst ist alles andere als konturenhaft. Im Gemälde verschwimmt sie in einem dunklen Außen, während ihr Inneres zu platzen droht. So scheint das Bild nicht nur die Porträtmalerei mit ihrer impliziten Lesung des Charakters zu hinterfragen, auch die westliche Chirurgie, die das Verwunden zum Heilungsprinzip gemacht hat, wird kritisiert. In diesem Sinne wird die Geste des Verbergens als die Angst vor der Verwundung und der Entstellung verständlich. Eine Lesung im Sinne des Abjekten ist ebenfalls naheliegend. Der Tumor wird zum Symptom des Abjekten. Die Geste der Dargestellten äußert den Ekel des Subjekts vor dem Symptom, der Erkenntnis des Abjekten als Bestandteil des Selbst, dem Fortbestehen in der eigenen Zersetzung. Und doch scheint der Moment des Abjekten für den Betrachter auszubleiben. Indem das Gesicht verborgen bleibt, wird die Relation zwischen Subjekt und Abjekt, die einen Rückbezug auf uns selbst erlauben würde, unterbrochen. Das Abjekte wird außer Kraft gesetzt. Das Bild macht die Identifikation mit der Dargestellten, wie sie das traditionelle Porträt vorantreibt, unmöglich. An dieser Stelle beginnt der Tumor wie ein Simulacrum zu „agieren“. Weil das Gesicht hinter der Hand verschwindet, wird der Tumor zu einer Gesichtsprothese. Der Tumor simuliert die Form des Gesichts: Er ist rund, seine Geschwülste ähneln Augen und Mund. Das Vorbild des Simulacrums ist nur noch als Ahnung oder Fiktion, als ein beliebig vorstellbares Gesicht, gegeben. Das Anti-Porträt
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Damit stürzt das Tumor-Simulacrum, nun im Sinne Deleuzes, das Subjekt. Die Tatsache, dass das Gesicht durch den Tumor ersetzt wird, scheint noch ein Moment des Schreckens zu enthalten und so an die Ästhetik des Erhabenen zu gemahnen, doch es ist nicht der Betrachter, der vor dem Anblick des Simulacrums erschrickt, es ist die Dargestellte. Der Verstand „versagt“ nicht vor dem Bild der Laeng Yen. Dem Betrachter offenbart sich der Tumor als Double, das weder Schrecken noch Lust auslöst. Wir betrachten die Angst des Subjekts, die nicht zu unserer eigenen wird. Den Effekt, den das Double auf das Subjekt hat, sowohl als Erhabenes als auch als Abjektes, kann das Double für den Betrachter nicht reproduzieren. Das Bild scheint hier metareflexiv mit den Erwartungen des Betrachters zu spielen, ohne eine bestimmte Ästhetik zu generieren. Im Bildkorpus der Patientenporträts sind die Bilder der Laeng Yen „Anti- Porträts“, die zugleich Simulacra enthalten. Das Simulacrum zersetzt Kriterien, die für die westliche Malerei grundlegend sind. Es untergräbt die Stummheit des selbstständigen Bildnisses und es untergräbt ein festes Subjekt. Damit lässt dieses Patientenporträt an der Tatsache zweifeln, dass Lam Qua und seine Werkstatt grundsätzlich im westlichen Stil malten. Mit der Darstellung eines situativen Moments verweisen Laeng Yens Bilder ferner auf das „unwestliche“ Konzept, die Malerei als ein Medium des Ephemeren zu begreifen, und lassen so multiple Lesungen zu.75 In diesem Zusammenhang bemerkt der Kunsthistoriker Jonathan Hay, dass die chinesische Porträtmalerei aus den Jahren 1600 – 1900 auf die Darstellung einer Flüchtigkeit abzielt. Hay betont, dass Frauen häufig kalligrafisch-flüchtig dargestellt und so zu einem „Seiden-Bündel“ wurden, wobei sich in diesem Zusammenhang eine Metaphorik der bewegten Kleidung und des Haares entfaltete. Dabei wurde der Körper einem ständigen Prozess der Transformation unterzogen – das Fleisch wurde Kleidung – und oszillierte zwischen psychischen und sozialen Zuständen. So zeigte die chinesische Kunst nicht die Dichotomie zwischen Geist und Körper beziehungsweise Geist und Materie, die für das westliche Denken bestimmend ist, und ließ die Möglichkeit einer Koexistenz unterschiedlicher Zustände zu. Der Dargestellte befand sich stets an einem Übergang zu einem anderen Zustand.
75 Siehe Hay, S. 53, 60.
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| Wider die Physiognomik
Schlussbetrachtung und Ausblick auf die Fotografie
Schlussbetrachtung Der Ausgangspunkt dieser Arbeit waren die Fragen nach den Funktionen der Patientenporträts, deren Wahrnehmung sowie dem ideengeschichtlichen Kontext. Um diese Fragen zu beantworten, wurden die Porträts zunächst mit den Berichten von Peter Parker gelesen. Es wurde deutlich, dass sie im Krankenhaus in Kanton, in anatomischen Museen im Westen sowie während der Vorträge Parkers gezeigt wurden. Dabei waren sie in eine Missionarsrhetorik des Wortes und des Lichts eingebunden, die sowohl im Krankenhaus als auch im Westen wirksam wurde. Während das Licht mit der ärztlichen Lanzette und der Wissenschaft assoziiert wurde, war es das Wort, das rhetorisch die Operation durchführte. Parkers und Liang Afas Worte, die in letzter Instanz auf den christlichen Gott zurückgingen, sollten spirituelle und faktische Heilung bringen. Dabei dienten die Bilder der Tumorpatienten als Folien für das Wort, das als zentrales Instrument dieser Rhetorik fungierte. Des Weiteren wurden die Patientenbildnisse im Kontext der europäischen medizinischen Porträtmalerei verortet, wobei gezeigt werden konnte, dass diese aus der Physiognomik und der medizinischen Semiotik hervorgegangen ist. Die Disziplinen einte der Untersuchungsgegenstand des Gesichts, die Anschauungspraxis sowie die Art der Deutung. In diesem Zusammenhang war die semiotische Beziehung zwischen Signifikat und Signifikant, das heißt Charakter und Zeichen, das im Gesicht zum Vorschein kommt und gelesen wird, wesentlich. Hier hielt der physiognomische Blick nach einem Charakter der Person Ausschau und war zudem in der Lage, die Zeichen einer Krankheit zu erkennen und auf deren Basis den Charakter der Krankheit zu bestimmen. Diese semiotische Beziehung wurde als „Kerngedanke“ der Physiognomik bezeichnet und dessen konzeptuelle Entwicklung exemplarisch anhand der Schriften von Johann Caspar Lavater und Johannes Zimmermann für das 18. Jahrhundert sowie Charles Bell und Karl Heinrich Baumgärtner für das 19. Jahrhundert dargestellt. Dabei ist deutlich geworden, dass im 18. Jahrhundert Signifikat und Signifikant zwar grundsätzlich kongruent und gleichzeitig undurchlässig konzipiert waren, deren Beziehung im 19. Jahrhundert aber von einer Transparenz bestimmt war. Diese Transparenz beeinflusste Schlussbetrachtung |
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die Wahrnehmung des zeitgenössischen Betrachters. Indem der Betrachter sein Gegenüber anschaute, konnte er den menschlichen Charakter, eine potentielle Krankheit und darüber hinaus den der Geburt vorausgegangenen Charakter der Nation, der sich am Schädel abzeichnete, erkennen. In diesem Rahmen erklärt sich die im fünften Kapitel festgestellte kunsthistorische Brisanz des vorgestellten Themas. Denn der physiognomische Blick war, wie Baumgärtner es ausdrückte, im Grunde ein alltäglicher und somit ein für alle verfügbarer. Die Physiognomik hatte diesen Blick für Abweichungen von einem Idealschema sensibilisiert und damit eine Wertung des Gesehenen vorangetrieben. Wie im Zusammenhang der Physiognomischen Fragmente gezeigt wurde, konnten neben Silhouetten auch gewöhnliche Porträts zu physiognomischen Untersuchungsgegenständen werden. In diesem Sinne generierten Porträts nicht nur ein aristotelisches Wohlgefallen, sondern vor allem eine Wertung des Gesehenen. Die hier betonte semiotische Beziehung verschränkt die physiognomischen Disziplinen mit der Porträtmalerei: dem Gedanken, dass das stille Porträt einen hinter der Gesichtsfolie befindlichen Charakter zeigt. Während einige wenige Abbildungen aus Baumgärtners Kranken-Physiognomik und Bells Essays on the Anatomy and Philosophy of Expression schmerzverzerrte Gesichter darstellen, das heißt neben der Physiognomik auch die Pathognomik erforschen, eint die für sich stehenden Patientenporträts das grundsätzliche Fehlen eines Schmerzausdrucks angesichts der Krankheit. Diese Eigenschaft stellt eine grundlegende Parallele zwischen Kunstporträts, medizinischen Porträts und Lam Quas Bildnissen im Besonderen dar. Dabei verdeutlichten die aus englischen und deutschen Archiven stammenden für sich stehenden Bildnisse den unterschiedlichen Fokus des klinischen Betrachters sowie die Visualisierungsstrategien des Künstlers, diesem Fokus entgegenzukommen. Während Bilder aus der Kranken-Physiognomik auf einen Text angewiesen waren, kamen für sich stehende Bilder ohne eine dazugehörige Beschreibung aus. Einige Porträts waren zudem Teil einer Aufführung im Vortragssaal, wobei der Arzt am Bild eine Operation „nachspielen“ und das Porträt als Stellvertreter des Kranken nutzen konnte. Andere Porträts legten hingegen eine interaktive Nutzung nahe, die keines Sprechers und keiner Aufführung bedurfte. Die Verortung der Patientenporträts im europäischen Kontext hat deutlich gemacht, dass sie von Seiten der westlichen Betrachter physiognomisch verstanden wurden. Darauf lassen Parkers kontinuierliche Kommentare bezüglich des Charakters des Patienten schließen. Während die Berichte möglichst neutral verbleiben, fiel die Lesung der Chinesen in der Mitte des 260
| Schlussbetrachtung und Ausblick auf die Fotografie
19. Jahrhunderts im Westen zunehmend rassistischer aus; die chinesische Physiognomie wurde als defizitäre, deviante und monströse begriffen, wobei die gewaltige Geschwulst die negative Deutung verstärkte. Die Arbeit ist in diesem Zusammenhang zu der Erkenntnis gekommen, dass das Porträt des Tumorkranken anfänglich eine physiognomische Lesung provozierte, aber die Geschwulst eine Ästhetik des Monströsen, die an das Sublime gekoppelt war, freisetzte. Indem die Patientenbildnisse den Betrachter „blendeten“, machten sie ihn gleichzeitig sprachlos; die semantische Lesung kollabierte und eröffnete ein Verständnis des Bildes allein durch den Körper. Das Bild erzeugte eine von mir so genannte „Körper-Panik“, die in meinem Verständnis mit einer „Körper-Lust“ einhergeht. Darüber hinaus wurde gesagt, dass Lam Quas Bilder für heutige Betrachter metareflexive Eigenschaften entwickeln. Am Porträt von Woo Kinshing wurde beispielhaft gezeigt, dass das Bild des Tumors an der Anschauung des Betrachters zweifeln lässt. Es lässt sich nicht klar sagen, ob wir ein musikalisches Instrument oder eine überdimensionierte Geschwulst vor uns haben. Dabei agiert der Tumor wie ein Simulacrum, das kein Vorbild hat und das Bild in einem ständigen Prozess des Werdens einfriert. Ferner kann das Simulacrum, wie am Beispiel des Bildnisses der Laeng Yen deutlich geworden ist, das Subjekt ersetzen. Da die Patientin ihr Gesicht verbirgt, gelangt vor allem der Tumor in den Blick. In diesem Zusammenhang wurde deutlich, dass die Geste des Verbergens einen Ausdruck, den alle übrigen Patientenbildnisse entbehren, zeigt. Somit wird dieses Bildnis zu einem „Anti-Porträt“ und einem Bild des Ephemeren.
Wechselwirkungen zwischen Malerei und Fotografie im späten 19. Jahrhundert und frühen 20. Jahrhundert Lam Quas Patientenporträts entstanden in einer Zeit, in der die Fotografie noch nicht für wissenschaftliche Zwecke genutzt wurde. Die Fotografie war in der Mitte des 19. Jahrhunderts im Westen in ihren Anfängen begriffen, das Gelingen des ersten fotografischen Prozesses wurde beispielsweise durch Nicéphore Niépce (1765 – 1833) 1839 in Paris vermeldet.1 Während erste Fotos
1 Neuere Arbeiten zur Fotografiegeschichte sprechen von mehreren Erfindungen der Fotografie und hinterfragen ihren einmalig punktuellen Entstehungskontext im Westen durch die wiederholte Hervorhebung von William Henry Fox Talbot oder Nicéphore Niépce. Siehe beispielsweise Neues Licht und PhotoWechselwirkungen zwischen Malerei und Fotografie |
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vor allem für private Alben gedacht waren oder als sogenannte „cartes de visite“ mit Ansichten ferner Länder gesammelt wurden, ist die Nutzung der Fotografie für wissenschaftliche Zwecke zunächst nicht nachweisbar.2 Ferner gelangte das Medium erst im Jahr 1844 durch Jules Itier, einen französischen Zollbeamten, nach China.3 Im vermeintlichen Zeitalter der Fotografie sind Lam Quas Patientenporträts daher nicht die letzten Exemplare ihrer Art; vielmehr verweisen das Gemäldekonvolut und westliche Patientenporträts auf ein Fortbestehen des gemalten medizinischen Porträts im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. In diesem Sinne soll eine Reihe von Behauptungen, die generell über die Fotografie geäußert wurden, relativiert werden. Sie sind das Resultat einer Rhetorik, die um das fotografische Bild als „wundersamer Abdruck der Natur“ oder „der Bleistift der Natur“ aufgebaut wurde. Diese Rhetorik, die vornehmlich auf William Henry Fox Talbots berühmtes Buch The Pencil of Nature (1844 – 1846) zurückgeht, wurde von Fotografen und Wissenschaftlern bereits im 19. Jahrhundert lanciert.4 Der Faszination einiger Philosophen und Kritiker aus dem 20. Jahrhundert, die auf das genuin „Neue“ der Fotografie fokussiert waren, ist entgegenzusetzen, dass sich das fotografische Bild zunächst gegen die Omnipräsenz der Porträtmalerei behaupten musste, weshalb eine vehement bejahende Rhetorik für die Fotografie überhaupt erst nötig wurde.5 Monochrome und häufig schwarz-weiße Bilder schienen für den zeitgenössischen Betrachter steril und unlebendig.6 Ferner war die von Walter Benjamin hervorgehobene Reproduzierbarkeit des technischen Bildes wegen graphy and Its Origins. Hg. Tanya Sheehan und Andrés Mario Zervigón. New York. 2015. 2 Zur privaten Nutzung der Fotografie siehe The Beautiful and the Damned, S. 25, 57. Zu den Anfängen der Fotografie siehe Newhall, S. 13 – 25. 3 Itier machte vor allem Landschaftsfotografien sowie Fotos des Hafens von Whampoa und Kanton. Siehe Edwin K. Lai: „A History of the Camera Obscura and Early Photography in China“. In: Brush and Shutter, S. 20. 4 William Henry Fox Talbot zitiert nach Newhall: „It was during these thoughts that the idea occurred to me – how charming it would be if it were possible to cause these natural images to imprint themselves durably, and remains fixed on paper.“ In: Newhall, S. 17, 31. 5 Siehe beispielsweise Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie. [La chambre claire. Note sur la photographie, 1980] Übers. von Dietrich Leube. Frankfurt a. Main. 1989, S. 12. 6 Siehe das Vorwort zu Fox: Photographic Illustrations.
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der hohen Kosten nur in sehr geringem Maße möglich.7 Daher griff man häufig auf die günstigeren Druckmedien, Lithografien und Kupferstiche zurück, um Abbildungen in größerer Zahl anzufertigen. Die Fotografie trieb zudem nicht per se eine neue Motivik, eine oben beschriebene „Objektivität“, voran; vielmehr orientierten sich viele frühe Fotografien gerade am Porträtformat, das im 19. Jahrhundert in gemalter Form florierte. Solche Fotos zeigen den Menschen im Porträt. Die Dargestellten stehen vor Landschaftstapeten oder einem neutralen Hintergrund und legen ihre Arme auf Attrappen, säulenartige Hocker und Tische, die wiederholt in den Bildern auftauchen. In diesem Sinne kann behauptet werden, dass die Fotografie motivisch aus der Malerei hervorgegangen ist. Diese Nähe zwischen Porträtmalerei und Fotografie hängt sicherlich mit der Tatsache zusammen, dass erste fotografische Studios von Künstlern betrieben wurden.8 Eine solche Situation kann auch im China der 1870er Jahre beobachtet werden.9 In diesem Zusammenhang wird die enge Beziehung zwischen medizinischer Fotografie, der Porträtmalerei und der medizinischen Porträtmalerei im Besonderen nachvollziehbar. Künstler, die medizinische Porträts malten und als Fotografen tätig waren, wurden mit der fotografi
7 Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Berlin. 2010 [1936], S. 16. 8 The Beautiful and the Damned, S. 3, 61. 9 Der Reisende Osmond Tiffany schildert die Eröffnung des ersten Fotografiestudios durch Lai Afong in Hongkong im Jahr 1859: „A sensation was produced when daguerrotypes were first introduced, and an apparatus in working order was placed in a room over a Chinese shop at the corner of New China street (Lam Quas studio like that of his younger brother Tingqua lay close). Some of the solid, old Chinamen were puzzled almost put of their wits and induced to believe that the operator was a wizard.“ Jeffrey Cody und Frances Terpak betonen ferner die Wechselwirkungen zwischen (chinesischen) Malern und (westlichen) Fotografen und verweisen auf einen Austausch, der zwischen Lam Qua und Itier stattgefunden haben soll: Itier soll ein fotografisches Porträt von Lam Qua gemacht und ihm die Daguerreotypie geschenkt haben. Acht Jahre später habe Lam Qua Itier ein nach dem Foto gemaltes Porträt geschenkt. Siehe Jeffrey Cody und Frances Terpak: „Through a Foreign Glass. The Art and Science of Photography in Late Qing China“. In: Brush and Shutter, S. 35, 37, 59. Siehe zu der Beziehung zwischen chinesischen Ahnenporträts und fotografischen Ahnenporträts Jan Stuart: „The Face of Life and Death. Mimesis and Chinese Ancestor Portraits“. In: Body and Face in Chinese Visual Culture. Hg. Wu Hung und Katherine R. Tsiang. Cambridge, Massachusetts und London. 2005, S. 197 – 228, hier: S. 198. Wechselwirkungen zwischen Malerei und Fotografie |
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schen Dokumentation von Patienten betraut. So sind frühe wissenschaftliche Fotografien aus der Zeitspanne 1860 – 1880 mitnichten „objektiv“, vielmehr stellen sie Patienten im Porträt dar. In diesem Rahmen hatte das fotografische Bild das gemalte oder gedruckte Patientenporträt längst nicht ersetzt. Angesichts minutenlanger Belichtungszeiten und schwerer Gerätschaften, die aufgrund ihres Gewichts nicht mitgeführt werden konnten, blieben die handlichen Aquarellfarben oder Zeichenutensilien zur Darstellung von Krankheiten zunächst die unangefochtenen Medien.10 Zudem spielte sich der fotografische Prozess stets in einem Studio ab. Im späten 19. Jahrhundert änderte sich diese Situation. Bessere Linsen und kleinere Kameras ermöglichten die Produktion im wissenschaftlichen Bereich.11 Erste Fotografien erschienen in den 1860er Jahren, beispielsweise im Rahmen der Serie Mécanisme de la physionomie humaine (1862) des Psychologen G.-B. Duchenne de Boulogne.12 Die Fotos zeigen Porträts von Patienten aus einer damaligen Irrenanstalt. Die Patienten tragen helmartige Geräte und Kabel. Duchenne benutzte elektrische Stöße, um einen Ausdruck bei gelähmten Patienten zu provozieren, wobei das fotografische Bild diesen darstellen sollte.13 Dabei unterscheiden sich Duchennes Fotos weder im Format noch in der Lichtführung von fotografischen Kunstporträts.14 Auch wenn das monochrome Bild für die Wissenschaft instrumentalisiert wurde, hatte es die Drucktechniken längst nicht ersetzt. In Objectivity erwähnen Daston und Galison, dass Fotos häufig retuschiert oder anderweitig manipuliert wurden, so dass fotografische Bilder gemalte oder gedruckte Duplikate nach sich zogen, um den Wahrheitsgehalt der Fotografie zu verifizieren.15 In diesem Sinne kann für das späte 19. Jahrhundert behauptet werden, dass Künstler gewissermaßen „gegen Fotografien anmalten“. Es ist 10 Zur Studiosituation in den 1840er Jahren siehe den von Newhall zitierten Bericht eines fotografischen „Opfers“: „for eight minutes, with the strong sunlight shining on his face and tears trickling down his cheeks while … the operator promenaded the room with watch in hand, calling out the time every five seconds, till the fountains of his eyes were dry.“ In: Newhall, S. 21. 11 Ebd., S. 22. 12 In China sind erste wissenschaftliche Fotografien sogar ein Jahr vor Duchennes Serie entstanden. Hier ist die Aufnahme eines an Elefantiasis erkrankten Patienten gemeint, die für das Kantoner Hospital beauftragt und von dem Amerikaner Milton Miller gemacht wurde. Siehe Cody und Terpak, S. 41. 13 The Beautiful and the Damned, S. 56. 14 Ebd., S. 61. 15 Daston und Galison: Objectivity, S. 133.
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Abb. 32 Leonard Portal Mark: Patientin mit Proptosis. Aquarell. 1895.
Abb. 33 Leonard Portal Mark: Patientin mit Proptosis. Fotografie. 1895.
die überwältigende Präsenz der gemalten oder gezeichneten medizinischen Porträts, die in medizinhistorischen Bibliotheken im Zusammenhang des späten 19. Jahrhunderts zu finden sind, die zu dieser Schlussfolgerung führt. Im Archiv der Wellcome Library steigt mit den Fotografien auch die Zahl der per Hand gefertigten Porträts. So hinterließ Thomas Godart, der für das Londoner St Bartholomew’s Hospital tätig gewesen war, ein bemerkenswertes Werk, bestehend aus gezeichneten und aquarellierten Krankenporträts, die auf die 1870 – 1880er Jahre datiert sind. Gleichzeitig kann beobachtet werden, dass medizinische Porträts in beiden Medien, mittels der Fotografie und mittels manueller Verfahren, hergestellt wurden. Diesen Aspekt zeigen ein buntes Aquarell und eine Fotografie eines an Proptosis erkrankten Mädchens (Abb. 32 und 33). Die Krankheit, die die Augenmuskeln anschwellen lässt, löst die Augen aus der Augenhöhle.16 Die Bilder produzierte Leonard Portal Mark (1855 – 1930), ein ausgebildeter Arzt, der als Nachfolger von Thomas Godart am St Bartholomew’s Hospital in den 1880er–1890er Jahren als „patholo-
16 Die Proptosis ist ein Symptom der weiter gefassten Krankheit unter dem Namen Exophthalmos. Siehe An Atlas of Diseases of the Eye. Zusammengestellt von E. S. Perkins und Peter Hansell. Boston. 1957, S. 13 – 14. Wechselwirkungen zwischen Malerei und Fotografie |
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gischer Künstler“ tätig war.17 Beide Bilder stellen das gleiche Mädchen dar. Im Aquarell sitzt die Patientin im Dreiviertelprofil und in der Fotografie im einfachen Profil. Sie hat überdimensionierte hervorquellende Augen und einen vorgeschobenen Kiefer. Nimmt man die von Daston und Galison erwähnte „Angst“ des Naturwissenschaftlers vor dem Retuschieren ernst, dann ist es gerade nicht das fotografische Bild, das das Aquarell „richtigstellt“, es ist das Aquarell, das bezeugt, dass die Fotografie echt ist. Ferner kann das Aquarell die hervorquellenden Augäpfel durch den Kontrast mit dem Inkarnat und den dunklen Augenrändern betonen. Doch damit ist das Aquarell nicht unbedingt „evidenter“ als das fotografische Bild, vielmehr macht das seltene Bilderpaar auf eine Mangelhaftigkeit beider Medien und deren gleichzeitige Komplementarität und medizinische Nutzung aufmerksam. Während das Aquarell den Kiefer des Mädchens grotesk zu überzeichnen scheint und die Darstellung nahezu zu einer Karikatur werden lässt, kann die Fotografie mangels der Farbigkeit einen bestimmten medizinischen Fokus nicht eingrenzen. Zusammen betrachtet, ergänzen sich die Bilder gegenseitig und erzeugen so eine umfassendere Evidenz.
„As life-like as possible“: Handkolorierte Fotoatlanten Die Fotografie schien nicht nur die Motivik und das Format aus der Malerei übernommen zu haben, sie orientierte sich auch an deren Rhetorik. Diesen Aspekt verdeutlichen zwei wegweisende handkolorierte Fotoatlanten zu Hautkrankheiten: Photographic Illustrations of Skin Diseases (1880) des Amerikaners George Henry Fox sowie Clinique photographique des maladies de la peau (1882) der Ärzte A. Hardy und A. de Montméja aus dem Pariser Krankenhaus Saint-Louis. Die Bücher enthalten fotografische Porträts von Personen mit Hautkrankheiten und riesigen Geschwülsten. Wie in Baum 17 „Coming of an artistic family, and being already known for his skill in water colours, he was invited to act as pathological artist at St. Bartholomew’s Hospital upon the resignation of Mr. T. Godart, who had filled the post for many years. Mark accepted, and attended on certain specified afternoons, although he was immediately available if a case was found unexpectedly in the wards, the out-patient room or the post mortem room. The collection of drawings in the hospital museum contains many examples of his skill.“ „Obituary. Leonard Portal Mark, M. D.“. In: The British Medical Journal. Band 2. Nummer 3637. 20. September 1930, S. 500 – 501.
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gärtners Kranken-Physiognomik sind die Bilder zentral. Die Fotografie nimmt jeweils eine ganze Seite ein (Taf. 8), wobei die Fallbeschreibung und die Diagnose der Krankheit auf der darauf folgenden Seite nachgelesen werden können. Der Gebrauch der Farbe, die per Hand auf das sonst monochrome Medium aufgetragen wurde, schien eine wissenschaftliche Sensation zu sein. Denn bis zu diesem Zeitpunkt ist die medizinische Fotografie farblos gewesen. Die Applikation der Farbe kam einem Blick entgegen, der auf die Gesichtsverfärbung fokussiert war und diese diagnostisch deutete. Fox betont, dass Fotos bisher die Krankheit lokalisieren konnten, doch es mangelte ihnen an Farbe, einem Element, das für die Diagnose entscheidend war.18 Zudem seien bunte Lithografien, die nach Fotos entstanden waren, teuer und sie hätten die Natur nicht adäquat darstellen können.19 Grundsätzlich preisen die Verfasser der dermatologischen Atlanten die „fotografische Genauigkeit“ („photographic accuracy“) und unterstreichen, wie Talbot vor ihnen, deren Nähe zur Natur („nature prise sur le fait“).20 Sie betonen zugleich, dass das Medium genauso farbig sein kann wie ein gemaltes Bild: It has been the aim of the author to represent in this series nearly all of the rare as well as the common affections of the skin, with the exception of the Syphilodermata; to present their features with photographic accuracy, and to employ color with the utmost care to render the illustrations as life-like as possible.21 [Hervorhebung im Original]
Die Fotografie vereint die Genauigkeit der grafischen Linie und die Qualitäten der Farbe. Dabei ist es vor allem die Farbe, die die Fotografie lebendig – „as life-like as possible“ – wirken lässt. Es fällt auf, dass Fox in seinen Abbildungen die Farbe, die zuweilen auch Gelb ist, nicht lediglich für die 18 „Photographs, though serving a good purpose in portraying the characteristic location and configuration of the various affections of the skin, have generally lacked an essential element of diagnosis, viz. the color, or have been disfigured by careless daubing, and colored lithographs have not only been expensive, but in too many instances lacked fidelity to nature in both form and color.“ Fox: Photographic Illustrations, S. 5. 19 Ebd. 20 „Nous pouvons dire que ses planches représent la nature prise sur le fait. Elles constituent un recueil des principales maladies qu’on rencontre à l’hôpital Saint-Louis, pendant l’espace de plusieurs moins.“ Hardy und Montméja, S. 1. 21 Fox: Photographic Illustrations, S. 5. „As life-like as possible“: Handkolorierte Fotoatlanten |
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Krankheit anwendet, Farbe taucht auch auf Lippen und Wangen der Patienten auf. Das Kolorit zeigt eine krankhafte Verfärbung an und verweist auf Fieber. Gleichzeitig deutet es eine Lebendigkeit und Echtheit des Dargestellten an, die auf einen alten kunsthistorischen Topos der Farbe als Indiz der Lebendigkeit verweist, das der Maler und Kunsttheoretiker Cennino Cennini in seinem Traktat der Malerei (1400) beschrieben hatte. Cennini koppelte das Farbpigment an die Eigenschaften des Fleisches, insbesondere des Inkarnats, das etymologisch auf das italienische carne für Fleisch verweist, während der Kunsttheoretiker Lodovico Dolce in Aretino oder Dialog über Malerei (1557) die Körper des Tizian wegen ihrer bunten Fleischhaftigkeit lobte. Nach Dolce würde in Tizians Gemälde des heiligen Sebastian (1570 – 1572) das Fleisch „zittern“.22 So überrascht es kaum, dass Hardy und Montméja die Methode ihres neuartigen Atlasses als „iconographie dermatologique“ bezeichnen.23
Fotos aus Kanton Die Beziehung der Anthropologie und der Eugenik, der Nachfolgedisziplin der Physiognomik im 20. Jahrhundert, zur Fotografie war eng. Die Fotografie als das Medium des wahrheitsgemäßen Abdrucks korrespondierte mit dem Ansatz, alles Fremde und vermeintlich Divergente vermessen zu wollen. Dieser Aspekt wird beispielsweise in den Fotografien des Volkes der Zambezi (1858 – 1864) von David Livingstone, die Letzterer vermessen ließ, oder den Porträts von Sträflingen, die der britische Eugeniker Francis Galton (1822 – 1911) machte, sichtbar.24 Galton glaubte den Durchschnitt in Gesichtern durch Übereinanderkopieren von normierten Einzelaufnahmen visualisieren und damit Charakteristika von Menschengruppen ver-
22 „Auf der einen Seite befindet sich eine sehr anmutig wendende heilige Katharina, ihr Gesicht und alles an ihr göttlich, auf der anderen Seite ein nackter heiliger Sebastian, mit einer sehr schönen Gestalt und einer Farbe der Haut, die einer lebendigen so ähnlich ist, dass er nicht gemalt, sondern lebendig scheint. Als Pordenone diesen heiligen Sebastian besichtigte, sagte er: ‚Ich glaube, dass Tizian bei dieser nackten Figur nicht Farbe, sondern Fleisch verwendet hat.‘“ Gudrun Rhein: Der Dialog über die Malerei. Lodovico Dolces Traktat und die Kunsttheorie des 16. Jahrhunderts. Köln. 2008, S. 308, 312. 23 Hardy und Montméja, S. 2. 24 The Beautiful and the Damned, S. 86.
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deutlichen zu können.25 Während der physiognomische Blick der gleiche bleibt, manifestiert sich das Bestreben, das Bild eines normativen Körpers aus der Realität fotografisch zu extrahieren und diesen zu präsentieren. Was im Zusammenhang des 20. Jahrhunderts überrascht, ist die Tatsache, dass semiotische Schriften wie Adolf Michaelis’ Semiotik oder die Lehre von den Krankheitszeichen (1907) weiterhin veröffentlicht wurden und mit ihnen die Tradition der medizinischen Porträtmalerei fortbestand.26 Letzteres belegen die aquarellierten Patientenporträts des Malers Amedeo John Engel Terzi aus dem Jahr 1925, die in der Wellcome Library zu sehen sind. Die darin gezeigten an einer chronischen Hautkrankheit leidenden Frauen sind mit einer Genauigkeit gemalt, die wiederum an Fotografien denken lässt, wobei nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Aquarelle zwecks Präzision der Farbigkeit tatsächlich nach Fotografien entstanden. Für den spezifischen Kontext der chinesischen Handelsstadt Kanton muss ein wichtiger Nachtrag gemacht werden. In The Afterlife of Images betont Larissa Heinrich die Bedeutung der Patientenbildnisse Lam Quas für die Entwicklung der Ikonografie in der chinesischen medizinischen Fotografie. Medizinische Fotos aus dem späten 19. Jahrhundert in China wiederholten, nach Heinrich, das medizinische Porträtformat, das Lam Qua und dessen Werkstatt begründet haben sollen.27 Heinrich sieht in der fotografischen Nachfolge die Bestätigung ihrer Theorie, der zufolge die medizinische Porträtmalerei im westlichen Stil eine lokale Tradition gewesen ist, die, ausgehend von Kanton, die medizinische Fotografie in China grundsätzlich beeinflusst hat. Allerdings rekurrieren die von Heinrich angesprochenen fotografischen Beispiele aus den 1880er Jahren aus Schanghai und die Fotografien aus dem Album The Diseases of China (1910) der amerikanischen Ärzte William Hamilton Jeffreys und James L. Maxwell, die Kranke vor einem neutralen Hintergrund darstellen und von westlichen Fotografen gemacht wurden, auf die fotografische Porträttradition, die zu diesem Zeitpunkt in Europa längst präsent war. Im Kontext des späten 19. Jahrhunderts genügt es nicht, von einer spezifisch lokalen Tradition zu sprechen. Denn die Ent 25 Susanne Regener: „Facial Politics – Bilder des Bösen nach dem 11. September“. In: Das Gesicht ist eine starke Organisation. Hg. Petra Löffler und Leander Scholz. Köln. 2004, S. 213. 26 Damit wäre Wolfgang Eichs Eingrenzung der medizinischen Semiotik bis auf das Jahr 1853, die Erfindung der Zellularpathologie durch Robert Virchow, widerlegt. Vgl. Eich, S. 4. 27 Heinrich, S. 74 ff. Fotos aus Kanton |
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wicklung der Fotografie, auch der medizinischen Fotografie, war wie die kantonesische Exportmalerei globalen Prozessen unterworfen. In diesem Zusammenhang scheint Heinrich eine bedeutende Bilderserie, bestehend aus 62 schwarz-weißen Glasnegativen, übersehen zu haben. Die Glasnegative werden heute zusammen mit Lam Quas Gemälden im Archiv der medizinhistorischen Bibliothek in der Yale University aufbewahrt. Sie stammen ebenfalls aus dem Krankenhaus in Kanton und können circa auf das Jahr 1910 datiert werden, wobei der Fotograf nicht namentlich genannt wird.28 Die Bilder stellen Tumorpatienten unterschiedlichen Alters im Porträtformat dar (Abb. 34). Während die meisten Bilder auf die Büste fokussiert sind, zeigen andere Fotos auch das klinische Interieur; zuweilen mit Krankenschwestern, die die Gliedmaßen der Erkrankten festhalten, um sie für den Fotografen zu fixieren. Einige Kranke sind vor Häuserwänden in Straßenzügen abgebildet. Es scheint, als habe sich der physiognomische Blick aus dem Porträtformat von Lam Quas Bilderserien gelöst und sei mit der Kamera mobiler geworden. So sehen wir nicht nur Patientenbildnisse, sondern auch die ärmliche Umgebung der Dargestellten. Damit korrespondieren diese Fotos mit Parkers physiognomischem Blick, der nicht nur die Krankheiten, sondern auch die Lebensumstände und die Verhaltensweisen der Chinesen zu erfassen suchte. Diese Sicht unterstreicht auch der medizinische Artikel „Tumors in South China. Based upon Records of Operations Performed in the Canton Hospital during the Ten Years 1910 to 1919“, in dem drei Fotos aus dieser Serie erschienen sind. Ähnlich wie Parker beschreibt der in den Jahren 1910 – 1919 am Krankenhaus in Kanton tätige J. Oscar Thomson die von ihm behandelten Patienten. Thomson verankert die Tumore in erster Linie in der Umgebung. Er beginnt seinen Bericht mit der topografischen Beschreibung Kantons, des „subtropischen“ Klimas der Stadt, dann geht er dazu über, die Bevölkerung, deren Lebensumstände und die Ernährungsweisen aufzulisten. In diesem Zusammenhang betont er, dass die Mehrheit der Bevölkerung aus Landwirten besteht und dass sie ferner über keine weitgehende medizinische Kenntnis verfügt, wobei hier die westliche Medizin gemeint ist. Thomson schildert im Folgenden die Krankheiten, die in dem oben genannten Zeitraum im Krankenhaus beobachtet werden konnten. Dazu zählen externe 28 Die Datierung wurde anhand des Artikels von J. Oscar Thomson vorgenommen: „Tumors in South China. Based upon Records of Operations Performed in the Canton Hospital during the Ten Years 1910 to 1919“. In: Annals of Surgery. Band 73. Ausgabe 2. Februar 1921, S. 217 – 222.
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Abb. 34 Patient mit Armtumor. Glasnegativ. 1910 – 20.
Tumore, Abszesse, Geschwüre und Gangräne. Es wurden insgesamt 19.524 Behandlungen durchgeführt, davon 13.761 Operationen, wovon 1560 Tumoroperationen waren.29 Anhand von Fallbeispielen erklärt Thomson die näheren Arten der Tumorleiden. Er unterstreicht, dass die Vererbung und die Lebensweisen der Patienten keine Rolle für die Entwicklung der Krankheit spielen, vielmehr sind es die Umweltbedingungen, die als Gründe für die Tumore angenommen werden.30 29 Thomson: „Tumors in South China“, S. 218. 30 „Heredity does not seem to be a factor, nor does occupation.“ In: Ebd. Fotos aus Kanton |
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Zwar benutzt Thomson den Begriff des Charakters nicht explizit, doch seine Verankerung der Krankheiten in der Umgebung reflektiert eine anthropologisch orientierte Medizin, die einen unveränderlichen physiognomischen Charakter implizit macht. Dieser Charakter, der in Thomsons Fall als auch „Einwirkung“ verstanden werden kann, wird von außen aufoktroyiert und scheint sich wie ein Stempel bei der Geburt des Menschen abzudrücken. Mit dieser Beschreibung ist dieser Artikel symptomatisch für das frühe 20. Jahrhundert. Er zeigt, dass die Physiognomik epistemisch längst nicht anderen Anschauungsmethoden gewichen war, sondern sich vielmehr in andere Disziplinen, wie die auf Messdaten basierenden Rassentheorien der Anthropologie, die Phrenologie oder die Rassenlehren im nationalsozialistischen Deutschland, ausdifferenzierte.31
31 Siehe Gray.
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Bildtafeln
Taf. 1 Lam Qua/Werkstatt: Sitzende Patientin mit einem Bauchtumor. Öl auf Leinwand. Ca. 1850.
Bildtafeln |
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Taf. 2 Lam Qua/Werkstatt: Yang She. Öl auf Leinwand. Ca. 1837.
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Taf. 3 Lam Qua/Werkstatt: Lew Akin. Öl auf Leinwand. Ca. 1837.
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Taf. 4 Lam Qua/Werkstatt: Wang Waekae. Öl auf Leinwand. Ca. 1838.
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Taf. 5 William Alfred Delamotte: Lunge mit Tumor. Aquarellzeichnung. 1847 – 1852.
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Taf. 6 Mrs Prince nach der chirurgischen Entfernung der Brust. Aquarellzeichnung. 1840.
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Taf. 7 Mrs Broadbent mit einem Brusttumor. Aquarell. 1841.
Bildtafeln |
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Taf. 8 Impetigo. Kolorierte Fotografie. 1882.
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| Bildtafeln
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Dank
Diese Arbeit ist als Dissertation an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg entstanden. Für die finanzielle Unterstützung meines Promotionsstudiums, meiner Forschungsreisen sowie meines Fellowships an der University of Chicago danke ich dem an der Universität Heidelberg angesiedelten Exzellenz- Cluster Asia and Europe in a Global Context und der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Den Betreuern des Graduate Programme for Transcultural Studies und meinen Kommilitonen am Cluster danke ich für den Austausch im Rahmen zahlreicher Colloquien. Für die Unterstützung meiner Recherchen an den medizinhistorischen Bibliotheken danke ich an der Yale University der Kuratorin der ikonographischen Sammlung Susan Wheeler, der leitenden Bibliothekarin Melissa Grafe sowie ihrer Assistentin Florence Gillich. An der Wellcome Library in London gilt mein Dank dem Kurator der ikonographischen Sammlung William Schupbach sowie dem Bibliothekar der asiatischen Sammlung Nikolai Serikoff. Für die Betreuung meiner Forschungsarbeit danke ich Prof. Dr. Monica Juneja und Prof. Dr. Henry Keazor. Für die Möglichmachung dieser Publikation gilt mein Dank der Axel Springer Stiftung.
Abbildungsnachweis
Textabbildungen Abb. 1:
Abb. 2:
Abb. 3: Abb. 4:
Abb. 5:
Abb. 6:
Abb. 7: Abb. 8: Abb. 9: Abb. 10: Abb. 11:
Abb. 12:
Aquarellwerkstatt aus Kanton: Patient mit einem Gesichtstumor. Aquarell. Ca. 1838. Yale University, Harvey Cushing/John Hay Whitney Medical Library. Scharlach. Lithografie. In Jean-Louis Alibert: Clinique de l’Hôpital Saint- Louis ou Traité Complet des Maladies de la Peau. Paris. 1833. Yale University, Harvey Cushing/John Hay Whitney Medical Library. Gouachen-Werkstatt aus Kanton: Akae. Gouache. Ca. 1830. 47,5 × 24,3 cm. Wellcome Library, London. Lam Qua/Werkstatt: Dr. Peter Parker with his Student Kwan Ato Operating on a Patient. Öl auf Leinwand. Ca. 1840. 64,8 cm × 52,1 cm. In Carl Crossman: The Decorative Arts of the China Trade. Woodbridge, Suffolk. 1991, S. 91. Privatsammlung. Anonym (nach George Chinnery): Robert Morrison Translating the Scriptures into Chinese. Öl auf Leinwand. Nach 1813. In An East India Company Cemetery: Protestant Burials in Macao. Hg. Lindsay und May Ride. 1996. Hong Kong, S. 45. Yale University, Harvey Cushing/John Hay Whitney Medical Library. Scirrhus der Brust. Federzeichnung. 1830 – 50. In Peter Parkers Krankenhausbüchern. Box 6, Ordner 3. Yale University, Harvey Cushing/John Hay Whitney Medical Library. Lam Qua/Werkstatt: Chang Achun. Öl auf Leinwand. Ca. 1845. Yale University, Harvey Cushing/John Hay Whitney Medical Library. Lam Qua/Werkstatt: Chang Achun. Öl auf Leinwand. Ca. 1845. Yale University, Harvey Cushing/John Hay Whitney Medical Library. Gouachen-Werkstatt aus Kanton: Chang Achun. Gouache. Ca. 1845. Wellcome Library, London. Aquarell-Werkstatt aus Kanton: Chang Achun. Aquarell. Ca. 1845. Yale University, Harvey Cushing/John Hay Whitney Medical Library. Aquarell-Werkstatt aus Kanton: Chang Achun. Aquarell. Ca. 1845. Warren Anatomical Museum in the Francis A. Countway Library of Medicine. Harvard University, Boston, USA. Malerei-Werkstatt aus Kanton: Liegende Frau mit Brusttumor. Öl auf Leinwand. Ca. 1830. Yale University, Harvey Cushing/John Hay Whitney Medical Library. Abbildungsnachweis |
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Abb. 13: Gouachen-Werkstatt aus Kanton: Liegende Frau mit Brusttumor. Gouache. Ca. 1830. Wellcome Library, London Abb. 14: George Chinnery: Thomas Richardson Colledge, in seinem ophthalmischen Krankenhaus in Macau. Öl auf Leinwand. 1833. 84 × 84 cm. Peabody Essex Museum, Schenkung von Cecilia Colledge. F. R. C. S., 2003 M23017. Abb. 15: Lam Qua/Werkstatt: Po Ashing vor der Armamputation. Öl auf Leinwand. Ca. 1836. Yale University, Harvey Cushing/John Hay Whitney Medical Library. Abb. 16: Lam Qua/Werkstatt: Po Ashing nach der Armamputation. Öl auf Leinwand. Ca. 1836. Yale University, Harvey Cushing/John Hay Whitney Medical Library. Abb. 17: Nerven des Ausdrucks. In Charles Bell: Essays on the Anatomy and Philosophy of Expression. London. 1824. Tafel Nr. 1. Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Abteilung Historische Drucke. Signatur: 4" Nn 11780 . Abb. 18: Muskeln des Ausdrucks. In Charles Bell: Essays on the Anatomy and Philosophy of Expression. London. 1824. Tafel Nr. 2. Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Abteilung Historische Drucke. Signatur: 4" Nn 11780 . Abb. 19: Das Profil Merkurs, eines „Negers“ und der Schädel des „Negers“. Ausklappbare Tafel. In Charles Bell: Essays on the Anatomy and Philosophy of Expression. London. 1824. Tafel Nr. 6. Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Abteilung Historische Drucke. Signatur: 4" Nn 11780 . Abb. 20: Anonym: Feodor Iwanowitsch, ein „Kalmück“. Aquarell. Sammlung der physiognomischen Studienblätter von Johann Caspar Lavater. Österreichische Nationalbibliothek Wien. ÖNB/Wien, LAV XVIII/235/9774. Abb. 21: Ein Kalmück (Feodor Iwanowitsch). In Johann Casper Lavater: Physiognomische Fragmente. Zur Beförderung der Menschenkenntnis und der Menschenliebe. Leipzig und Winterthur. 1778. Band 4, S. 312. Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Abteilung Historische Drucke. Signatur: 4" Nn 11692 – 4: R. Abb. 22: Karl Sandhas: Magenkrebs (Carcinoma ventriculi). Lithografie. In Karl Heinrich Baumgärtner: Kranken-Physiognomik. Freiburg und Stuttgart. 1839, Tafel 37. Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Abteilung Historische Drucke. Signatur: 4" Jf 920-Text: R. Abb. 23: Karl Sandhas: Fallsucht (Epilepsia). Lithografie. In Karl Heinrich Baumgärtner: Kranken-Physiognomik. Freiburg und Stuttgart. 1839, Tafel 58.
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| Abbildungsnachweis
Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Abteilung Historische Drucke. Signatur: 4” Jf 920-Text: R. Abb. 24a: Anonym: „Portrait No. 370“ (Patient mit Augentumor). Mischtechnik. 19. Jh. 40 × 45 cm. Institut für Pathologie. Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Abb. 24b: Anonym: Patient mit Augentumor. Mischtechnik. 19. Jh. 40 × 45 cm. Institut für Pathologie. Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Abb. 25: William Alfred Delamotte: Tumor im Nacken eines Mädchens. Aquarell. 1841 – 51. St Bartholomew’s Hospital Archives & Museum. Wellcome Collection. Abb. 26: William Alfred Delamotte: Mann mit einem Tumor des Kiefers. Aquarell. 1847. St Bartholomew’s Hospital Archives & Museum. Wellcome Collection. Abb. 27: William Alfred Delamotte: Perikarditis des Herzens. Aquarellzeichnung. 1841 – 1851. St Bartholomew’s Hospital Archives & Museum. Wellcome Collection. Abb. 28: Die Patientin Clara Jacobi mit und ohne Gesichtstumor. Kupferstich. 1689. 28 cm × 25 cm. National Library of Medicine. Bethesda, USA. Abb. 29: Lam Qua/Werkstatt: Lew Akin. Öl auf Leinwand, ohne Rahmen. Ca. 1837. Warren Anatomical Museum in the Francis A. Countway Library of Medicine. Abb. 30: Lam Qua/Werkstatt: Woo Kinshing. Öl auf Leinwand. 1838 – 1839. Yale University, Harvey Cushing/John Hay Whitney Medical Library. Abb. 31: Lam Qua/Werkstatt: Laeng Yen. Gouache. Ca. 1838. 31.4 × 46.9 cm. Wellcome Collection, London. Abb. 32: Leonard Portal Mark: Patientin mit Proptosis. Aquarell. 1895. St Bartholomew’s Hospital Archives & Museum. Wellcome Collection. Abb. 33: Leonard Portal Mark: Patientin mit Proptosis. Fotografie. 1895. St Bartholomew’s Hospital Archives & Museum. Wellcome Collection. Abb. 34: Patient mit Armtumor. Glasnegativ. 1910 – 20. Yale University, Harvey Cushing/John Hay Whitney Medical Library.
Bildtafeln Taf. 1:
Taf. 2:
Lam Qua/Werkstatt: Sitzende Patientin mit einem Bauchtumor. Öl auf Leinwand. Ca. 1850. Yale University, Harvey Cushing/John Hay Whitney Medical Library. Lam Qua/Werkstatt: Yang She. Öl auf Leinwand. Ca. 1837. Yale University, Harvey Cushing/John Hay Whitney Medical Library.
Abbildungsnachweis |
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Taf. 3: Taf. 4: Taf. 5:
Taf. 6:
Taf. 7:
Taf. 8:
300
Lam Qua/Werkstatt: Lew Akin. Öl auf Leinwand. Ca. 1837. Yale University, Harvey Cushing/John Hay Whitney Medical Library. Lam Qua/Werkstatt: Wang Waekae. Öl auf Leinwand. Ca. 1838. Yale University, Harvey Cushing/John Hay Whitney Medical Library. William Alfred Delamotte: Lunge mit Tumor. Aquarellzeichnung. 1847 – 1852. St Bartholomew’s Hospital Archives & Museum. Wellcome Collection. Mrs Prince nach der chirurgischen Entfernung der Brust. Aquarellzeichnung. 1840. Aus der Gemälde- und Aquarellserie The Gentlefolk of Leeds. 1818 – 40. Wellcome Collection, London. Mrs Broadbent mit einem Brusttumor. Aquarell. 1841. 37 × 45 cm. Aus der Gemälde- und Aquarell-Serie The Gentlefolk of Leeds, Blatt 56 – 57. Wellcome Collection, London. Impetigo. Kolorierte Fotografie. 1882. In A. Hardy und A. de Montméja: Clinique Photographiques des Maladies de la Peau. Paris. 1882. Yale University, Harvey Cushing/John Hay Whitney Medical Library.
| Abbildungsnachweis